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German Pages 320 Year 2019
Stefan Hauser, Roman Opiłowski, Eva L. Wyss (Hg.) Alternative Öffentlichkeiten
Edition Medienwissenschaft | Band 35
Stefan Hauser (Prof. Dr. phil.) ist Leiter des Zentrums Mündlichkeit an der Hochschule Zug (CH). Roman Opiłowski (Dr. habil.) ist Leiter der Forschungsstelle für Medienlinguistik am Institut für Germanistik an der Universität Wrocław (Polen). Eva L. Wyss (Prof. Dr. phil.) ist Universitätsprofessorin für deutsche Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Universität Koblenz-Landau.
Stefan Hauser, Roman OpiŁowski, Eva L. Wyss (Hg.)
Alternative Öffentlichkeiten Soziale Medien zwischen Partizipation, Sharing und Vergemeinschaftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: JiSign / Fotolia.com Korrektorat: Julia Bauer, Bielefeld Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3612-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3612-7 https://doi.org/10.14361/9783839436127 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Alternative Öffentlichkeiten in sozialen Medien – einleitende Anmerkungen Stefan Hauser, Roman Opiłowski und Eva L. Wyss | 7
Diskurspragmatische Perspektiven auf neue Öffentlichkeiten in Webforen Steffen Pappert und Kersten Sven Roth | 19
Medien, Wahrnehmung, Öffentlichkeit Wahrnehmungs-Gemeinschaften und deren Interaktion als Gegenstand der Medienlinguistik Gerd Antos | 53
Medien als Schutz vor Interaktionen Ruth Ayaß | 81
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel Konstanze Marx | 109
Der #MeToo-Protest Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit Birte C. Gnau und Eva L. Wyss | 131
Meso-Kommunikation zwischen Stadt/Netz: Zur Struktur alternativer Kommunikationswege Christine Domke | 167
Webvideos als Medien öffentlicher Wissenschaft Eine exemplarische Analyse audiovisueller Strategien der Wissenschaftskommunikation Thomas Metten | 191
Formen der Partizipation online Dissens in der Leserrezension Françoise Hammer | 219
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren zum Terroranschlag in Nizza im Juli 2016 Roman Opiłowski | 237
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards Das Internet-Meme als multimodaler Kommunikationsakt in alternativen Öffentlichkeiten Andreas Osterroth | 269
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands – am Beispiel des Facebookauftritts von Vodafone Nadine Rentel | 287
Autorinnen und Autoren | 315
Alternative Öffentlichkeiten in sozialen Medien – einleitende Anmerkungen Stefan Hauser, Roman Opiłowski, Eva L. Wyss
Mit der rasanten Entwicklung und Ausdifferenzierung der Kommunikationsmöglichkeiten in den sozialen Medien geht ein Strukturwandel der öffentlichen und privaten Kommunikation einher, der nicht nur für die Mediennutzenden selbst weitreichende Folgen hat, sondern auch verschiedene theoretisch-analytische Herausforderungen mit sich bringt. Die aktuell beobachtbaren »Verschiebungen in der Tektonik von Öffentlichkeit« (Hahn et al. 2015, 13) stellen einen äußerst vielschichtigen und kontrovers diskutierten Themenkomplex dar und entsprechend drängt sich die theoretisch anspruchsvolle Frage (erneut) auf, was Öffentlichkeit eigentlich ist. Wie die lebhafte Diskussion zeigt, wird die Frage auf höchst unterschiedliche Art und Weise beantwortet, was mit den »praktischen Interessen, theoretischen Fragen und systematischen Imperativen« (Kohler 2011, 1664) von Akteuren verschiedener diskursiver Felder erklärbar ist. Einigkeit besteht aber zumindest darin, dass sich mit der Verbreitung einer stetig wachsenden Anzahl an Social-Software-Anwendungen die Mediennutzungs- sowie Kommunikationsformen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen grundlegend verändert haben. Die zunehmende Vernetztheit und der Anstieg der mobilen Mediennutzung tragen dazu bei, dass sich neue Handlungsspielräume eröffnen, die neuartige Formen der Partizipation an Öffentlichkeit ermöglichen. Die folgenden Überlegungen basieren auf zwei Annahmen, nämlich dass Öffentlichkeit stets Bestandteil sozialer Praktiken (gewesen) ist und dass sich die Praxis des Öffentlichen in der modernen Gesellschaft jeweils auch in Abhängigkeit von den medialen Bedingungen zeigt, denen sie unterliegt (vgl. Wagner 2013, 54). Aus einer solchen, an den Praktiken interessierten Perspektive stellt sich die Frage, wie und mit welchen Folgen heute (d.h. unter den Bedingungen der Digitalisierung) Öffentlichkeit hergestellt wird und wie sich digitale und nicht-digitale Verfahrensweisen der Herstellung von Öffentlichkeit zueinander verhalten. In diesem Kontext ist auch von Interesse, welche neuen und alten sozialen Praktiken sich in digitalen Öffentlichkeiten beobach-
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ten lassen. Mit Bezug auf das öffentlichkeitskonstitutive Potential von sozialen Medien, auf die das Hauptaugenmerk hier gerichtet werden soll, lassen sich also auf einer allgemeinen Ebene zwei komplementäre Blickrichtung unterscheiden: Was machen die Menschen mit den sozialen Medien und was machen die sozialen Medien mit den Menschen? Wer sich einen Überblick über die verschiedenen Öffentlichkeitsmodelle verschaffen möchte, die in der aktuellen Theoriedebatte bedeutsam sind, wird sich bald mit einem »Überangebot an konzeptionellen Schwerpunktsetzungen« (Wimmer 2007, 37) konfrontiert sehen. Auch für Wagner (2013) präsentiert sich Öffentlichkeit in theoretischer Hinsicht als »unterbestimmter Imaginationsraum« (ebd., 49). Dies hat sich in jüngerer Zeit dadurch noch akzentuiert, dass die Zielfolie der Öffentlichkeitsforschung einem beschleunigten Wandel unterliegt, was mit Adolf (2015, 59) zur Frage führt: Wonach suchen wir (heute), wenn wir nach Öffentlichkeit suchen? Trotz teilweise fundamental verschiedener Auffassungen von Öffentlichkeit scheint zumindest in einer Hinsicht weitgehende Einigkeit zu bestehen, nämlich dass Öffentlichkeit als ein komplexes Phänomen zu verstehen sei, dem letztlich nur eine mehrperspektivische Herangehensweise gerecht werden kann: Wer die Frage – was ist das eigentlich: Öffentlichkeit? – sachgemäß beantworten will, der merkt bald, dass die durch den einen, umfassenden Ausdruck geweckte Erwartung, auf so etwas wie einen einzigen Kerngedanken zu stoßen, falsch ist; zu komplex ist das durch das Wort erschlossene Feld inhaltlicher Bezüge. (Kohler 2011, 1663)
Für die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der verschiedenen Öffentlichkeitskonzeptionen sind unterschiedliche Faktoren ausschlaggebend: Erstens machen sich in der Modellierung von Öffentlichkeit sehr deutlich die disziplinären Schwerpunktsetzungen und Erkenntnisinteressen bemerkbar. Zweitens ist eine deutliche Divergenz beobachtbar hinsichtlich der Frage, wie die normative Aufladung des Öffentlichkeitsbegriffs zu konstatieren ist. Dies macht sich insbesondere in demokratietheoretischen Konzeptionen bemerkbar, wo Öffentlichkeit als emphatischer Begriff und als politische Forderung verwendet wird (vgl. dazu Jarren/Donges 2011, 96). Drittens spielen in fast allen Öffentlichkeitstheorien die publizistischen Massenmedien eine wichtige Rolle. So hält Münker (2009) fest, dass Medien »konstitutive Bedingungen für die notwendigen Selbstgespräche von Gesellschaften ebenso wie kontinuierliche Anlässe für gesellschaftliche Streitgespräche« (ebd., 29) sind. Ausgehend von dieser traditionellen Rolle des Journalismus für die Herstellung von (politischer) Öffentlichkeit wird heute vermehrt auch die Bedeutung der sozialen Medien – insbesondere die zunehmende Vermischung von massenmedialer und interpersonaler Kommunikation – ins Zentrum öffentlichkeitstheoretischer Überlegungen gestellt (vgl. Bonfadelli 2010, 138).
Alternative Öffentlichkeiten in sozialen Medien – einleitende Anmerkungen
Ähnlich vielfältig wie die theoretischen Konzeptionen von Öffentlichkeit präsentieren sich auch die Begrifflichkeiten im Bereich der »neuen« Medien. So ist von online-Kommunikation und von digitaler Kommunikation die Rede, aber auch von Web 2.0 und von den sozialen Medien etc. Für die vorliegenden Überlegungen wird der – zugegebenermaßen eher schillernde – Begriff der sozialen Medien verwendet. Dabei gilt es zu beachten, dass die Begriffe »Web 2.0« und »soziale Medien« (social media) im allgemeinen Sprachgebrauch oft als bedeutungsgleich behandelt werden, obwohl sie andere Aspekte eines ganzen Bündels von Phänomenen und Neuentwicklungen in den Vordergrund rücken.1 Während in der Bezeichnung »Web 2.0« der Vorstellung eines klar identifizierbaren qualitativen Sprungs in der Entwicklung der digitalen Medien Ausdruck gegeben wird, vermeidet der Begriff »soziale Medien« die Assoziation eines abgrenzbaren Entwicklungssprungs beziehungsweise eines Systemwechsels. Der Plural »soziale Medien« verweist zudem darauf, dass mit dem Begriff eine Reihe ganz unterschiedlicher Gattungen zusammengefasst wird. Soziale Medien soll im Folgenden als ein Sammelbegriff verwendet werden »für bestimmte Angebote und Formen digital vernetzter Medien, die das onlinebasierte Bearbeiten und Veröffentlichen von Inhalten aller Art sowie die Beziehungspflege und den Austausch zwischen Menschen erleichtern« (Schmidt 2013, 16). Auch den in diesem Sammelband verwendeten Begriff der alternativen Öffentlichkeiten gilt es theoretisch zu verorten. In Abgrenzung zur Habermas’schen Vorstellung einer bürgerlichen Öffentlichkeit sind verschiedene andere Konzeptionen entworfen worden, etwa die Idee einer proletarischen Öffentlichkeit (vgl. Negt/Kluge 1972). Fraser (1990) hat diese Idee aufgegriffen und eine feministische Perspektive in den Öffentlichkeitsdiskurs eingebracht. Auch mit dem Konzept »Gegenöffentlichkeit« (vgl. dazu Asen/Brouwer 2001, Wimmer 2007) wird in der Regel eine gegen eine hegemoniale Öffentlichkeit gerichtete Teilöffentlichkeit bezeichnet, die um einen spezifischen gesellschaftlichen Diskurs oder Standpunkt herum strukturiert ist (Wimmer 2007, 1 | Die aus dem Jargon von Software-Entwicklern stammende Bezeichnung »2.0« suggeriert, dass mit dem Web 2.0 eine grundlegend neue und technisch avanciertere Fassung einer Vorgängerversion vorliege. Die verschiedenen Entwicklungen, die zum Angebot des Web 2.0 geführt haben, sind jedoch nicht mit dem zeitlich klar definierbaren Übergang eines Softwareprogramms oder eines Betriebssystems zur nächsthöheren Generation vergleichbar. Zwar wurden um die Mitte der 2000er Jahre innerhalb kurzer Zeit zahlreiche neue Angebote auf den Markt gebracht, was dem Eindruck eines technisch bedingten Systemwechsels Vorschub leistete. Letztlich folgten die Entwicklungen aber dennoch nicht alle den gleichen Gesetzmäßigkeiten und sie gingen schrittweise beziehungsweise mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten über die Bühne (vgl. Schmidt 2013, 15).
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13). Mit dem hier verwendeten Begriff der »alternativen Öffentlichkeit« soll eine etwas andere Nuancierung zum Ausdruck gebracht werden, als sie dem Konzept der »Gegenöffentlichkeit« zugrunde liegt: Es soll dabei weniger (bzw. nicht ausschließlich) der hegemoniale Aspekt in den Vordergrund gestellt werden, sondern eher die Tatsache, dass digitale Öffentlichkeiten auch durch nicht-institutionelle Akteure geschaffen werden können und mit teilweise anderen Produktions- und Rezeptionslogiken verbunden sind, als dies bei journalistischen Massenmedien (unter den Rahmenbedingungen des vordigitalen Zeitalters) der Fall war. Wie das Konzept der Gegenöffentlichkeit referiert auch der Begriff der alternativen Öffentlichkeit auf die Idee von Teilöffentlichkeiten. Im Unterschied zum Massenpublikum, wie es im Rahmen von Konzeptionen von Massenkommunikation etabliert ist, ist das Publikum dieser neuen Öffentlichkeiten in der Regel nicht (oder höchstens teilweise) dispers im Sinne von verstreut und unverbunden (vgl. dazu die klassische Definition von Maletzke 1963). Typischerweise bestehen auf den Plattformen sozialer Netzwerke nicht nur Beziehungen zwischen einem User und seinen Kontakten, sondern zumeist auch zwischen einzelnen Kontakten eines Users. Insofern handelt es sich bei vielen Plattformen nicht um ein disperses, sondern um ein »vernetztes Publikum« (Schmidt 2013, 27).2 Dabei kann es auch zu Mischformen von ehemals getrennten Sphären kommen: Was man auch als »Influencer Marketing« bezeichnen kann, ist ein Hybrid zwischen quasi-privater (oder vielleicht besser: pseudo-privater) und kommerzieller Kommunikation. Wie bereits angedeutet wird in der Debatte um die Neuordnung von Öffentlichkeit den sozialen Medien ein großer Einfluss auf die etablierten journalistischen Massenmedien attestiert. Entsprechend gehört es zu den vieldiskutierten Fragen, ob (und wann) das Ende des Journalismus bevorstehe. Als Tatsache unbestritten ist, dass die publizistischen Massenmedien nicht mehr über das einstige Informationsmonopol verfügen und dass ihr ehemals »exklusiver Weltbeschreibungs- und Welterklärungsanspruch« (Münker 2009, 48) massiv relativiert worden ist. Dass die gegenwärtigen Entwicklungen nicht ohne Auswirkungen auf die Ordnung von Informationen und auf das gesellschaftlich verfügbare Wissen bleiben werden, ist wohl kaum zu bestreiten. Aber ob diese Entwicklungen mit dem Ende des Journalismus einhergehen, muss vorerst noch als eine ergebnisoffene These behandelt werden. Denn angesichts der zunehmenden Zahl an verfügbaren Informationen und des Überschusses an Meinungen darf angenommen werden, dass die Orientierungsfunktion, die der Journalismus traditionellerweise übernommen hat, wohl auch in Zukunft noch gefragt sein wird. Die Aufgabe des Journalismus, 2 | Inwiefern dabei tatsächlich von einem »Publikum« die Rede sein kann, ist insofern fraglich, als es keine institutionalisierte komplementäre Rollenverteilung mehr gibt, die die Beteiligten systematisch in Anbieter und Nutzer aufteilt.
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die Reduktion von Fakten wie von artikulierten Meinungen und das Herausarbeiten wichtiger Themen und Positionen, ist angesichts dieser neuen Vielfalt vielleicht sogar wichtiger denn je. Die Frage ist nur, wie groß bei den Nutzern die Bereitschaft sein wird, dafür zu bezahlen. Was das Verhältnis von publizistischer und nicht-publizistischer Kommunikation betrifft, präsentiert sich die Situation so, dass in sozialen Medien auch »klassische« Medienangebote, also journalistisch-redaktionell erstellte Inhalte, weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Wenn Nutzer auf journalistische Inhalte reagieren – etwa indem sie andere Nutzer durch Verlinken darauf aufmerksam machen oder indem sie die Inhalte bewerten (zum Beispiel durch Anklicken des »like«-Buttons oder durch verbale Kommentare) – werden publizistisch auf bereitete Angebote in die persönlichen Netzwerke getragen. Diese Form der Dissemination basiert auf Mediennutzern als wichtigen Multiplikatoren von journalistischen Inhalten (vgl. Schmidt 2013, 53). Gleichwohl ist es unbestritten, dass zu den etablierten journalistischen Massenmedien, die in demokratietheoretischer Terminologie oft als vierte Gewalt bezeichnet werden, im digitalen Zeitalter eine so genannte fünfte Gewalt hinzugekommen ist, die aus den vernetzten Vielen besteht und zu einer eigenen öffentlichkeitswirksamen Macht geworden ist. Über die Akteure der fünften Gewalt wird oft gesagt, dass sie ein Agendasetting »von unten« betreiben: Sie publizieren auf unterschiedlichen Kanälen und erschaffen gut informierte alternative Öffentlichkeiten, treten als Medienkritiker und als Meinungskorrektiv in Erscheinung, bilden Protestgemeinschaften, machen bei Bedarf Entlarvungs- und Enthüllungsarbeit und können so politische Akteure wie auch Unternehmen in Bedrängnis bringen. Ein weiteres Thema, das im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Entwicklungen oft angesprochen wird, ist das sich verändernde Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Schulz (2011) weist in diesem Kontext darauf hin, dass sich öffentliche Kommunikation nicht nur von privater, sondern auch von vertraulicher oder geheimer Kommunikation unterscheidet. Was die Herstellung verschiedener Reichweiten von Öffentlichkeit mit und in den sozialen Medien betrifft, gilt es die nutzerseitige Bestimmung des Adressatenkreises zu erwähnen, die für verschiedene Gattungen sozialer Medien zu den Basisfunktionen gehört. So ist es bei etlichen Social-Media-Anbietern mit Hilfe von »Privatsphäreeinstellungen« möglich, zu definieren, ob die veröffentlichten Inhalte nur für die eigenen bestätigten Kontakte oder uneingeschränkt, das heißt plattformweit, zugänglich sein sollen.3 Damit sind zwar gewisse techni3 | Eine andere Möglichkeit der nutzerseitigen Mitbestimmung des Öffentlichkeitsgrades findet sich auf YouTube, wo sich Videos aus den gängigen Suchabfragen ausschließen lassen, sodass nur diejenigen Personen auf ein bestimmtes Video Zugriff haben, die über die eindeutige Web-Adresse verfügen.
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sche Optionen vorhanden, die es erlauben, die Reichweite der veröffentlichten Inhalte mitzubestimmen. Allerdings bieten die Möglichkeiten, aus den Personen seines Kontaktnetzwerks selbst definierte Gruppen zu bilden und damit unterschiedlich strukturierte persönliche Öffentlichkeiten zu gestalten nur bedingt eine Kontrolle über die Daten. Dies kann sich mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte der Nutzer als ein weitreichendes Problemfeld erweisen. Die – auf den ersten Blick – widersprüchliche Tatsache, dass sich Internetuser einerseits Sorgen um ihre Privatsphäre im Netz machen, andererseits aber oft sehr großzügig auch potentiell heikle Informationen teilen, bezeichnen Strathoff/ Lutz (2015, 205) als »Privacy Paradox«. Es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass sich über die Kontakt- und Kommunikationsnetzwerke hinaus kommerziell relevante Aspekte der »sozialen Verortung« (Schmidt 2013, 91) generieren lassen. Indem die Nutzungsdaten an Dritte weitergegeben werden (können), ohne dass die Nutzer selbst dies kontrollieren können, wird die Selbstbestimmung der Nutzer stark tangiert. Dies wirft Licht auf ein anderes Merkmal, das man auch als generelles Partizipationsparadox bezeichnen kann: Soziale Medien bieten einerseits vielfältige Möglichkeiten, sich an gesellschaftlichen Themen zu beteiligen, andererseits verfolgen viele Anbieter sozialer Medien kommerzielle Interessen und haben eher wenig Interesse daran, die Nutzer an Entscheidungen über die Organisationsformen des Angebots mitreden zu lassen. Unter dem Aspekt der Partizipation erweisen sich soziale Medien in dieser Hinsicht zumeist nur als »einseitig offen« (Schmidt 2013, 91): Sie ermöglichen das Hochladen, Teilen und Bewerten/Kommentieren von Inhalten aller Art, aber sie sträuben sich dagegen, diese Daten auch wieder »loszulassen« (ebd.).
Z u den B eitr ägen dieses B andes Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind nicht einem einheitlichen Konzept von alternativer Öffentlichkeit verpflichtet, sondern bilden ein Spektrum verschiedener Zugänge zum Themenfeld ab. Gemein ist den Beiträgen jedoch, dass sie von der Frage ausgehen, wie sich die jüngeren Entwicklungen der Nutzung und sprachlichen Gestaltung der »neuen« Kommunikationsmöglichkeiten auf die Tektonik von Öffentlichkeit(en) auswirken. Im Beitrag von Steffen Pappert und Kersten Sven Roth werden vorwiegend kommunikationswissenschaftliche Öffentlichkeitsmodelle im Hinblick darauf diskutiert, inwiefern sie als theoretischer Rahmen für die linguistische Analyse von Webforen (insbesondere: Kommentarforen) geeignet sind. Dabei gehen die Autoren von der Annahme aus, dass Foren mit den digitalen sozialen Medien im engeren Sinne (Facebook, Twitter etc.) die Eigenschaft teilen, dass sich in ihnen eine neue Art der Öffentlichkeit etabliert, sie selbst also ge-
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wissermaßen Grenzgänger zwischen den klassischen Formen von Öffentlichkeit sind. Hintergrund der angestellten Überlegungen ist ein Vorhaben, das im Sinne einer »Angewandten Diskurslinguistik«, wie sie seit einigen Jahren gefordert wird (vgl. Roth/Spiegel 2013), untersucht, inwieweit und warum in Foren Aspekte und Formen von Diskurswissen zu bestimmten Themen »sagbar« werden, die es in dieser Form weder im Face-to-Face-Gespräch noch im Rahmen massenmedialer Publikationen sind. Infrage steht also, ob die Beiträge der Online-Foren einen eigenständigen Typus von Diskursrealisationen (im Sinne von Roth 2015) darstellen. Im zweiten Teil des Beitrags wird auf der Basis eines heuristischen Modells aus drei diskurspragmatischen Bedingungsachsen skizziert, in welcher Weise die vorfindlichen Öffentlichkeitsmodelle Grundlage sein könnten für die konkrete linguistische Analyse empirischer Daten aus Kommentarforen. Gerd Antos geht in seinem Beitrag von der Feststellung aus, dass Medienangebote schon immer Kristallisationspunkte für Gemeinschaften waren, in denen Kommunikationsvorgänge rezipiert, diskutiert, kritisiert und bewertet wurden (bis hin zur Stimulierung von Anschlusskommunikation). In Bezeichnungen wie Fans, Follower, Beobachter, Kritiker oder Publikum werden bestimmte Gruppen innerhalb dieser sogenannten Wahrnehmungs-Gemeinschaften auch sprachlich charakterisiert. Der Verfasser macht darauf aufmerksam, welche Rolle Wahrnehmungs-Gemeinschaften anfangs in religiöser und literarischer Kommunikation gespielt haben und wie mit dem Aufkommen der Presse eine publizistische und bildungsbürgerliche Öffentlichkeit entstanden ist. Mit den Massenmedien, vor allem aber mit den sozialen Netzwerken, haben sich Formen und Funktionen von Wahrnehmungs-Gemeinschaften zum Teil grundlegend gewandelt. Zugleich ist ihr Einfluss sowohl in und auf die Medien, aber auch auf ihre öffentliche Wahrnehmung deutlich gestiegen. Der Beitrag thematisiert drei sehr unterschiedliche Wahrnehmungs-Gemeinschaften in und außerhalb von sozialen Netzwerken, die dabei sind, zu Kristallisationspunkten und Foren für ›alternative Öffentlichkeit‹ zu werden: Mit ›Leichter Sprache‹ macht sich eine Selbsthilfegruppe besser wahrnehmbar. (Latente) Erregungs-Gemeinschaften werden unter anderem durch den medialen ›Mob‹ bzw. ›Pöbel‹ sichtbar. Der Zugang zu Big-Data-Metadaten und deren Instrumentalisierung schafft schließlich eine neue, weitgehend unsichtbare Form von alternativer Öffentlichkeit, deren Macht womöglich den Einfluss medialer Öffentlichkeit dereinst faktisch außer Kraft setzen könnte. Wie Ruth Ayaß ausführt, ist es die wesentliche Eigenschaft alter und neuer Medien, Kommunikation dann zu ermöglichen, wenn sich die Individuen nicht in wechselseitiger Reichweite zueinander befinden. In dieser klassischen Vorstellung dienen Medien dazu, eine Verbindung zwischen zwei oder mehr Individuen herzustellen. Medien können jedoch auch dazu verwendet werden, Kommunikation zu unterbinden. Der Beitrag diskutiert systematisch die ver-
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schiedenen Möglichkeiten von Medien, mittels derer die Akteure Zugänglichkeit und Nicht-Zugänglichkeit herstellen und anzeigen können. Die Analyse zeigt, dass die Verwendung von Medien und die Teilhabestrukturen, die sie gestatten, nicht einfach mit den Begriffen Anwesenheit oder Abwesenheit erfasst werden können. Vielmehr ermöglichen Medien unterschiedliche Grade an Zugänglichkeit, die besser als ein Kontinuum zu beschreiben sind. Der Beitrag zeigt anhand ethnographischen Materials, wie Bücher, Mobiltelefone etc. in privaten wie öffentlichen Kontexten als »involvement shields« (Goffman) verwendet werden. Mit den Mitteln einer photographischen Ethnographie wird illustriert, wie Medien in öffentlichen Kontexten als »involvement shields« eingesetzt werden. Diese Verwendungen tragen zu einem mediatisierten Verhalten in der Öffentlichkeit bei, welches im Wesentlichen auf Interaktionsvermeidung beruht. Zugleich ist diese Interaktionsvermeidung nur durch wechselseitige Wahrnehmung möglich. Gegenstand des Aufsatzes von Konstanze Marx sind die Ergebnisse einer Fallbeispielanalyse, die Rückschlüsse auf eine neue Konzeptualisierung von Trauer(arbeit) im Zeitalter des WorldWideWeb zulassen. Dabei spielt die enge Verschränkung zwischen privater und öffentlicher Kommunikation auf Sozialen-Netzwerk-Seiten und Mikroblogging-Plattformen eine besondere Rolle. Die Reaktionen der Netzgemeinde auf den Absturz des Germanwings-Flugzeuges 4U9525 legen die Vermutung nahe, dass sich der Umgang mit Tod und Trauer wieder »nach außen« wendet. Anhand des entworfenen Themenspektrums zeichnet die Autorin nach, wie die Netzgemeinde gegen eine für Trauersituationen typische Sprachlosigkeit ankämpft, die das Web schlicht nicht akzeptieren würde. Dabei rücken die mit Trauer assoziierten Gefühle Wut und Zorn in den Vordergrund, die einen medienkritischen Metadiskurs initiieren. Birte C. Gnau und Eva L. Wyss befassen sich mit der Debatte über Machtmissbrauch und Sexismus, wie er im Internet und darüber hinaus geführt wird. Ausgangspunkt ihrer Analyse bildet die Massenbewegung, die durch den im Oktober 2017 in US-amerikanischen Printmedien in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geratenen Weinstein-Skandal angestoßen und den dadurch initiierten Tweet Alyssa Milanos konkretisiert wurde. Die Autorinnen verweisen auf die enge Verknüpfung mit dem Vorläuferblog »Me too« von Tarana Burke aus dem Jahr 2006. Damit hat sich, in den traditionellen und den sozialen Medien abwechselnd, teilweise auch gleichzeitig, aber nicht immer gleichgewichtig, ein Hashtag-Protest und ein Diskurs etabliert, mit dem die Debatte über sexuelle Gewalt, Machtmissbrauch und den zugrundeliegenden strukturellen begünstigenden Gegebenheiten zunächst in einem Bereich der alternativen Öffentlichkeit manifest wurde. Am Beispiel von #MeToo, einer Hashtag-Protestgemeinschaft mit internationaler Ausdehnung, wird untersucht, wie Diskurswandel beschrieben werden kann, welche Elemente des Diskurses sich verändern und inwiefern dieser mit dem Wandel der Öffentlichkeit, insbeson-
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dere der kommunikativen Praktiken der sozialen Medien in Zusammenhang gebracht werden kann. Ausgangspunkt von Christine Domkes Beitrag ist die Feststellung, dass die Suche nach gegenwärtigen Möglichkeiten, alternative Öffentlichkeiten zu generieren, oftmals digitale Kommunikation und damit sogenannte soziale Netzwerke fokussiere. Was dabei nicht (ausreichend) in den Blickwinkel gerät, ist einerseits das Potential analoger Kommunikationsformen zur Bildung von nicht klassischen Teil-Diskursen, andererseits die kommunikationsstrukturelle Spezifik der digitalen Kommunikation, die die Genese von alternativen Meinungsbildungsprozessen besonders unterstützt. Der Beitrag setzt an diesem Punkt an und rückt mit dem Konzept der »Meso-Kommunikation« den Typus von Kommunikation in das Zentrum, der sowohl offline als auch online in besonderer Weise spezifische und neue Formen der Diskursprägung ermöglicht. Ausgehend von ortsgebundenen Texten in der Stadt wird systematisch herausgearbeitet, worin die Besonderheiten dieser Kommunikation liegen und was sie mit Kommunikation in sozialen Netzwerken gemeinsam haben. Wie die Verfasserin hervorhebt, liegt ein großes Potential in der intertextuellen Verbindung zwischen Stadt/Netz und damit auch in Bezug auf Meso-Kommunikation als kommunikationsstruktureller Basis gegenwärtiger – alternativer – gesellschaftspolitischer Prozesse. Der Beitrag von Thomas Metten zeigt auf, wie neue Formen der Wissenschaftskommunikation an der Schnittstelle gegenwärtiger medialer, sozialer und institutioneller Entwicklungen entstehen. Wie der Verfasser festhält, konstituieren neue Medien alternative (Wissenschafts-)Öffentlichkeiten, in denen sich unter anderem neue und anderen Formen der Darstellung und Vermittlung von Wissenschaft herausbilden. Im Falle von Science Web Videos gehen diese einher mit medienspezifischen Formen des Erklärens, der Evidentialisierung und der Objektivierung, die aus dem komplexen Zusammenspiel von Bewegtbild, Schnitt und Montage, Graphik- und Schrift-Inserts sowie voice-over-Kommentaren resultieren. Dabei zeigt sich, dass die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft nicht medienunabhängig ist, da das vermittelte Wissen direkt an die medialen Darstellungspotentiale gebunden ist. Françoise Hammer befasst sich in ihrem Beitrag mit Leserrezensionen, die als Ausdrucksform einer alternativen Öffentlichkeit verstanden werden. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Kundenrezensionen von Waren und Dienstleistungen von Onlinehändlern und -dienstleistern als wichtige Form der Kundenbeziehung verstanden (und teilweise instrumentalisiert) werden. Kundenrezensionen eröffnen, neben den eher neutralen und standardisierten Produktinformationen, eine Ebene subjektiver und personalisierter, öffentlicher Meinungsäußerung. Die sich auf dem Web eröffnenden, partizipativen Räume kommen je nach Zielsetzung und Argumentation des Textes unterschiedlich zur Geltung. Die Untersuchung negativer Leserrezensionen auf amazon zeigt,
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dass aufgrund der Veröffentlichungsbedingungen und der unterschiedlichen Adressaten Dissens ein bevorzugtes strategisches Verfahren evaluativer Textsorten darstellt. Dabei beobachtet die Verfasserin, dass oft weniger die sachgemäße Bewertung von Produkten oder Angeboten als vielmehr die Selbstinszenierung der Schreibenden im Vordergrund steht. Roman Opiłowski nimmt Bezug auf die Beobachtung, dass in alternativen Öffentlichkeiten umfangreiche Diskussionen über politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschehnisse geführt und diese insofern zu immer wichtigeren Einflussgrößen werden, die den Verlauf der realen Prozesse in vielen Lebensräumen beeinflussen können. Die Analyse befasst sich mit dem Terroranschlag vom 14. Juli 2016 in Nizza, einem Ereignis, das zu einer Vielzahl an Kommentaren in den sozialen Medien führte. Der Verfasser befasst sich aus diskursiver, multimodaler und kontrastiver Sicht mit thematischen Feldern, die von der deutschen und polnischen Online-Öffentlichkeit im Facebook-Profil der führenden Nachrichtenmagazine Der Spiegel und Polityka konstruiert werden. Im Beitrag wird auch dargelegt, welche Ausprägungen konvergenter und divergenter Themenfelder in den deutschen und polnischen Kommentaren zu finden sind. Der Beitrag von Andreas Osterroth befasst sich mit dem Phänomen Internet-Meme und mit der Frage, welche Funktion Memes in Bezug auf die Etablierung alternativer Öffentlichkeiten haben (können). Der Verfasser macht darauf aufmerksam, dass bestimmte soziale Gruppen als Teilöffentlichkeiten ihre Entstehung der Kommunikation über Memes verdanken und er hebt hervor, dass die Bild-/Textsorte Meme in die traditionelle Öffentlichkeit überführt werden könne, wo sie neue Funktionen übernehme. So können Memes in der tradierten Öffentlichkeit zum Beispiel subversive Wirkungen entfalten, die verschiedene Entscheidungsträger gerne reglementiert sehen würden. In Nadine Rentels Beitrag werden auf der Basis einer qualitativ orientierten Analyse von 50 Kundenbeschwerden aus dem Bereich des Mobilfunks sprachliche Strategien herausgearbeitet, mit deren Hilfe die Kunden den Service des Anbieters auf dessen Facebook-Auftritt in der Öffentlichkeit negativ bewerten. Im Rahmen der Beschreibung sprachlicher Strategien, die der Intensivierung der negativen Bewertung dienen, treten Fragen auf, wenn Kunden dem Mobilfunkanbieter das Verletzen moralisch-ethischer Standards vorwerfen. Wie die Verfasserin darlegt, ermöglichen es Metaphern und Phraseolexeme den Usern, mittels bildhafter Formulierungen auf bestehende Missstände zu verweisen. Angeführte Zitate von Servicemitarbeitern dienen als Legitimation, die Beschwerdekommunikation in den öffentlichen Raum zu verlagern, wobei zu beobachten ist, dass Textmustermischungen usuelle Ausdrucksressourcen durchbrechen. Den BeiträgerInnen sei hier abschließend herzlich gedankt für ihre Bereitschaft, sich an dieser Diskussion um alternative Öffentlichkeiten zu beteiligen.
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Ein ganz besonderer Dank geht auch an Melanie Lange und Birte C. Gnau für ihre wertvolle Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts.
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Diskurspragmatische Perspektiven auf neue Öffentlichkeiten in Webforen Steffen Pappert und Kersten Sven Roth
This paper discusses the potential of media and communication science models for the linguistic analysis of the public sphere, such as web forums (in particular chat forums). We act on the assumption, that similar to mainstream social media (such as Facebook, Twitter etc.) the forums also provide a frame for a new kind of public sphere, thus allowing their users to interact across the borders of classical public spheres. The discussion is linked to a research project, which – according to the idea of an »applied discourse analysis« (e.g. Roth/Spiegel 2013) – asks, to what extent and for what reasons some aspects and forms of discoursive knowledge become realizable in forums, that aren’t realizable in face-to-face-interaction as well as in interaction via mass media. We ask, if contributions to web forums constitute their own type of realization of discourse (»Diskursrealisationen« as defined by Roth 2015). In the second part of the paper we suggest a heuristic model consisting of three axes of discourse pragmatic conditions, which could help transform the theoretical ideas of the nature of public spheres into an empirical linguistic analysis. Keywords: publics – types of public communication – realizations of discourse – internet forums – discourse pragmatics
1. O ffline - und O nline -Ö ffentlichkeiten Trotz seiner Allgegenwart ist der Begriff Öffentlichkeit kaum klar umrissen. Vor allem im Alltagsverständnis finden wir eine Vielzahl von Konzepten, die dem Ausdruck zugeschrieben werden. Bezug genommen wird sowohl auf die öffentlichen Angelegenheiten, die vom Staat geregelt werden (sollen), als auch auf die öffentliche (freie) Meinung, die in heutigen Zeiten allenthalben mittels Umfragen ermittelt wird, um herauszufinden, welche Meinung zu gesellschaftlich wichtigen oder weniger belangreichen Themen vorherrschend ist. Die Ergebnisse dieser Rankings wiederum werden vermittelt durch die Mas-
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senmedien, denen im Zusammenhang mit Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zukommt, womit eine dritte im Alltag übliche Bedeutung des Ausdrucks angesprochen wäre, die massenmediale Öffentlichkeit. Die im alltagssprachlichen Umgang wohl häufigste Umschreibung wäre die, die davon ausgeht, dass alles, was nicht privat sei, eben als öffentlich aufgefasst werden muss. Das heißt, immer wenn mithörende/mitlesende Dritte sich im gemeinsamen Kommunikationsraum1 aufhalten, ist die Angelegenheit nicht mehr privat.2 In all diesen Bedeutungsfacetten wird deutlich, dass dem Begriff Öffentlichkeit zumindest in seinem Kern etwas Wertendes, mitunter Normativ-Deontisches innewohnt. Der Staat soll seine Aufgaben wahrnehmen, die öffentliche Meinung soll gehört und von den Massenmedien verbreitet werden – und niemand soll sich in unsere Privatangelegenheiten einmischen. Diese alltagsweltlichen Sichtweisen finden ihre Widerspiegelung in sozialwissenschaftlichen Öffentlichkeitsbegriffen, die sowohl normativ als auch empirisch-analytisch fundiert sind, wobei normative Vorstellungen der Mehrzahl der Konzepte zugrunde liegen, so dass sich die dahinterstehenden Theorien vor allem in ihren normativen Ansprüchen unterscheiden.
1.1 Offline-Öffentlichkeiten Ausgehend davon, dass Öffentlichkeit als ein Kommunikationssystem zu konzipieren sei, »in dem Themen und Meinungen (A) gesammelt (Input), (B) verarbeitet (Throughput) und (C) weitergegeben (Output) werden« (Neidhardt 1994: 8), lassen sich nach Neidhardt für die genannten Prozesse verschiedene normative Ansprüche formulieren: • Transparenzfunktion: »Öffentlichkeit soll offen sein für alle gesellschaftlichen Gruppen sowie für alle Themen und Meinungen von kollektiver Bedeutung.« 1 | Kommunikationsraum umfasst alle gemeinsamen Wahrnehmungsräume, also auch virtuelle, denen im Zusammenhang mit der Online-Öffentlichkeit zweifellos eine besondere Bedeutung zukommt. 2 | So trivial diese Feststellung ist, so überaus bedeutungsvoll ist sie für Menschen, die in Diktaturen leben und kommunizieren. So zeigt beispielweise die Aufarbeitung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, dass auch der privateste Bereich vor dem Zugriff Dritter in der DDR nicht sicher war und jedes falsche Wort Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Nicht nur in dieser Hinsicht unterscheiden sich die ge- und erlebten Öffentlichkeiten in demokratischen und diktatorischen Systemen. Dahinter stehen Öffentlichkeitskonzepte, die in diesem Rahmen nicht eingehender behandelt werden. Einblicke in die durch sie evozierten Bedingungen öffentlicher Kommunikation und deren Auswirkungen auf den Sprachgebrauch liefert Pappert 2003.
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• Validierungsfunktion: »Öffentlichkeitsakteure sollen mit den Themen und Meinungen anderer diskursiv umgehen und ihre eigenen Themen und Meinungen unter dem Druck der Argumente anderer gegebenenfalls revidieren.« • Orientierungsfunktion: »Öffentliche Kommunikation, die von den Öffentlichkeitsakteuren diskursiv betrieben wird, erzeugt ›öffentliche Meinungen‹, die das Publikum als überzeugend wahrnehmen und akzeptieren kann.« (Neidhardt 1994: 8-9) Hinsichtlich der Relevantsetzung solch normativer Ansprüche lassen sich verschiedene Modelle von Öffentlichkeit differenzieren, deren Konzeptualisierungen nicht nur unterschiedliche Befunde hinsichtlich der traditionellen Offline-Öffentlichkeit hervorbringen. Vielmehr liefern sie auch Ansatzpunkte für etwaige Erwartungen, die an die Potenziale der Online-Öffentlichkeit geknüpft werden.
a) Diskursmodelle Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten. (Habermas 1992: 436)
Diskursmodelle öffentlicher Meinungsbildung in der Tradition Habermas’ sind stark normativ ausgerichtet. Die drei Funktionen von Öffentlichkeit spielen eine zentrale Rolle. So fordert Habermas »neben der allgemeinen Zugänglichkeit das diskursive Aushandeln von Themen und Meinungen in einem ›herrschaftsfreien Raum‹, der hierarchische Machtstrukturen und die Übervorteilung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Akteure ausschließt« (Fraas et al. 2012: 31). Betont wird von Habermas (1992) der prozessuale Charakter von Öffentlichkeit, deren Vernetztheit zur Ausbildung verschiedener themenabhängiger Meinungen führt. Voraussetzung dafür ist grundsätzlich ein von Herrschaft freier Diskurs, der offen ist für alle Themen und zugänglich für alle Akteure (Transparenzfunktion), die sich nun ohne Zwang und ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung auf einen rationalen Konsens einigen, der auf den jeweils besten Argumenten fußt (Validierungsfunktion). Dieser Konsens bildet dann als öffentliche Meinung die Grundlage für gesellschaftliches und politisches Handeln (Orientierungsfunktion) (vgl. Beck 2006: 221-222).
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b) Systemtheoretisches Spiegelmodell Wir begreifen Öffentlichkeit als ein Kommunikationssystem, in dem die Erzeugung einer bestimmten Art von Wissen stattfindet: Es entstehen öffentliche Meinungen mit mehr oder weniger allgemeinen Einstellungen zu bestimmten Themen. Dabei verstehen wir unter »öffentlicher« Meinung eine Meinung, die in öffentlichen Kommunikationen mit breiter Zustimmung rechnen kann, eine Meinung, die sich in den Arenen öffentlicher Meinungsbildung durchgesetzt hat und insofern »herrschende« Meinung darstellt. (Gerhards/Neidhardt 1990: 12)
Normativ weniger anspruchsvoll und wohl auch realistischer erweist sich das Öffentlichkeitskonzept des Spiegelmodells, in dem lediglich die Transparenzfunktion hervorgehoben wird. Demnach dient Öffentlichkeit »der Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch die Veröffentlichung von Themen« (Beck 2006: 222). Hinsichtlich Validierung und Orientierung werden keine Forderungen erhoben. Vielmehr wird betont, dass die verschiedenen Akteure relevante Themen und Positionen, an denen sie ihr Handeln orientieren (können), durch Selbst- und Fremdbeobachtung – bspw. in den Massenmedien – einerseits aufspüren. Andererseits sind sie bemüht, für »ihre« Themen und Handlungen Zustimmung zu finden, was auch größtenteils nur über die Massenmedien realisiert werden kann. Entscheidend für diese Auffassung von Öffentlichkeit ist lediglich, dass »alle Akteure und Meinungen abgebildet werden, und nicht durch Ausschluss einzelner Gruppen oder Meinungen die Selbstbeobachtung beeinträchtigt wird« (Jarren/Donges 2011: 98). Der Öffentlichkeitsprozess führt somit »nicht mehr zur Bildung einer rational begründeten, konsensuellen öffentlichen Meinung, sondern allenfalls zu Anschlusskommunikationen« (Beck 2006: 222). Die in den beiden Ansätzen zugrundeliegenden Funktionen bzw. Phasen lassen sich ergänzen durch weitere Strukturen, die vor allem in Bezug auf die Online-Öffentlichkeit von Bedeutung sind. Wenn wir davon ausgehen, dass Öffentlichkeit einen Prozess darstellt, der netzwerkartige Strukturen ausbildet, ist danach zu fragen, auf welche Weise die Rhizome entflochten werden können. Als offenes Kommunikationssystem stellt Öffentlichkeit eine weitgespannte und diffuse Größe dar. Sie umfaßt eine Vielzahl kleiner und großer Foren, die nur teilweise miteinander vernetzt sind. Darüberhinaus scheint es nützlich, sich Öffentlichkeit als ein in mehreren Ebenen differenziertes System vorzustellen, die sich in zweierlei Hinsicht unterscheiden: zum einen nach der Menge der Kommunikationsteilnehmer, zum zweiten nach dem Grad der strukturellen Verankerung der Ebenen. (Gerhards/Neidhardt 1990: 19)
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Vor diesem Hintergrund haben Gerhards/Neidhardt (1990) ein Drei-Ebenen-Modell entwickelt, das nicht nur mehr oder weniger spontan hervorgebrachte Öffentlichkeiten berücksichtigt, sondern auch die verschiedenen kommunikativen Rollen der Akteure auf und zwischen den Ebenen im Blick hat. Die untere Ebene ist die sogenannte Encounter-Ebene. Charakteristisch für diese Ebene ist »der fließende Übergang zwischen privater Kommunikation mit wechselseitig hoch selektiven Publikumsbezügen und öffentlicher Kommunikation gegenüber einem prinzipiell unbegrenzten Publikum« (Jarren/ Donges 2011: 104). Es handelt sich demzufolge um die vielen zufälligen Kommunikationsereignisse in unserem Alltag, so vor allem die Gespräche von zwei oder mehreren Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln, in gastronomischen Einrichtungen, am Arbeitsplatz oder in vergleichbaren Situationen über öffentlich belangreiche Themen oder Einstellungen. Derlei Gespräche weisen kaum Strukturen auf, zumindest bezüglich der Sprecher-Hörer-Rollen, die nicht von vornherein festgelegt sind. Auch die behandelten Themen ändern sich mitunter sprunghaft, und mit hinzukommenden Teilnehmern ändert sich bisweilen auch die eine oder andere Meinung. Die Rolle des Vermittlers wird im Unterschied zur Massenkommunikation nicht gebraucht. Die unterste Stufe von Öffentlichkeit ist sehr offen, flexibel und diskontinuierlich, infolgedessen auf ihr »weder eine Verarbeitung von Themen noch die Synthetisierung von Meinungen« (Fraas et al. 2012: 33) stattfindet. Des Weiteren sind die verschiedenen parallel stattfindenden Kommunikationsereignisse untereinander nicht vernetzt und sie sind auf die jeweils Anwesenden beschränkt. Die räumlichen, zeitlichen und sozialen Begrenztheiten dieser Ebene führen in der Konsequenz dazu, dass die Möglichkeiten zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung auf dieser Ebene als marginal einzuschätzen sind. Die zweite Ebene ist die der Themen- oder Versammlungsöffentlichkeit. Kommunikationen auf dieser Ebene sind orts- und zeitgebunden, d.h. wie auf der Encounter-Ebene ist die Anwesenheit der Beteiligten erforderlich. Im Unterschied zu letzterer sind die Interaktionen hier jedoch thematisch eher zentriert, und auch die Rollenverteilung ist meist von vornherein festgelegt, so dass in der Regel eine asymmetrische Sprecher-Hörer-Verteilung vorliegt. Dies trifft vor allem für Veranstaltungen zu, die einen hohen Organisationsgrad aufweisen, wie beispielsweise Versammlungen, Tagungen oder Podiumsdiskussionen zu einem oder mehreren vorher bestimmten Themen. Daneben zählen aber auch spontane Demonstrationen zu dieser Ebene, die sich freilich auch in den meisten Fällen infolge eines ganz bestimmten Anlasses resp. Themas bilden. Unabhängig davon finden wir auf solchen Veranstaltungen meist eine organisierte Rollendifferenzierung, die der jeweiligen Veranstaltung ihre Struktur verleiht (Leistungsrollen übernehmen beispielsweise ModeratorInnen (Vermittler) und RednerInnen (Sprecher), die Publikumsrolle überneh-
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men die TeilnehmerInnen).3 Die Äußerungsmöglichkeiten letzterer sind eher beschränkt, aber unter Umständen durchaus wirksam (Beifall, Ausrufe und/ oder Gesten des Missfallens, mitunter das ostentative Verlassen der Veranstaltung). Auch wird in vielen Veranstaltungen das Recht auf Diskussion eingeräumt, die sich dann jedoch – im Normalfall – auf den jeweiligen Redebeitrag zu beziehen hat, und somit thematischen Restriktionen unterliegt. Aufgrund ihrer größeren Stabilität ist die Chance, dass die Interaktionen auf dieser Ebene eine über die Veranstaltung hinausgehende Aufmerksamkeit erlangen, zumindest eher gegeben als auf der Encounter-Ebene. Voraussetzung dafür ist zweifelsfrei die gesellschaftliche Relevanz bzw. Brisanz der behandelten Themen, die das Interesse der Massenmedien wecken. Werden die Themen Gegenstand der journalistischen Berichterstattung, handelt es sich um Interaktionsereignisse der dritten Ebene. Die Ebene der Medienöffentlichkeit ist die Ebene, auf der die Kommunikation am weitesten funktional ausdifferenziert, strukturiert und institutionalisiert ist. Medienöffentlichkeit ist dauerhaft stabil und arbeitsteilig organisiert. Die Produktion von Medieninhalten obliegt ausschließlich den dafür speziell ausgebildeten und nach bestimmten Selektionsregeln (Nachrichtenwert von Themen) arbeitenden JournalistInnen. Gleichsam auf der anderen Seite verfügt die Medienöffentlichkeit über ein mehr oder weniger konstantes, vom Produktionsprozess ausgeschlossenes Publikum, das mit zunehmender Reichweite der einzelnen Medien quantitativ zunimmt, aber auch abstrakter und diffuser wird. Die Interaktionsrollen sind also prinzipiell festgelegt, und somit auch die wechselseitigen Erwartungen. Zur Abbildung dieses Verhältnisses zwischen Kommunikatoren und Publikum wird häufig die Arena-Galerie-Metapher verwendet, die eine passive Rolle des Publikums vorsieht. Dies muss zumindest insofern relativiert werden, als das Publikum auf der Galerie den Erfolg der Arenenakteure immer auch mitbestimmt. Hektische Betriebsamkeit und Relaunches als Reaktionen auf sinkende Abo- und Leserzahlen sind sicherlich ein Hinweis auf solche Zusammenhänge. Für uns aber bedeutender sind die Handlungen des Publikums, die aus Unzufriedenheit oder sonstigen Gründen resultieren, mit denen unter Umständen alternative Öffentlichkeiten konstituiert werden, denn während die durch die journalistischen Routinen strukturierte massenmediale Arena Themen und Informationen der gesellschaftlichen Kommunikation bereit stellt, werden in den kleinen Öffentlichkeiten auf der Galerie Bewertungen und Interpretationen vorgenommen. Dabei kommt den sozialen Netzwerken der Nutzer eine wichtige Rolle zu. (Katzenbach 2008: 59) 3 | Zur Differenzierung zwischen Akteuren und Rollen in der Öffentlichkeit vgl. Jarren/ Donges 2011: 106-107; ausführlich zu Interaktionsrollen Adamzik 2002.
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Angesprochen wird hier die Rolle der interpersonalen Anschlusskommunikation im Prozess der Massenkommunikation, die in hohem Maße Einstellungen und Meinungen prägt (vgl. Fraas et al. 2012: 34-35). Diese findet traditionell auf der Encounter-Ebene statt, die – wie oben gezeigt – durch ihre zeitliche, räumliche und soziale Begrenztheit eher als eine Anhäufung zusammenhangsloser Episoden zu charakterisieren ist, die jeweils an dem Punkt enden, an dem die Kommunizierenden die gemeinsame Gesprächssituation verlassen. Um eine (nachhaltige) Wirkung auf die anderen Ebenen oder gar die öffentliche Meinung ausüben zu können, müsste diese – und jede andere – Art der Kommunikation verstetigt und vernetzt werden. Mit dem sogenannten Web 2.0 steht seit einiger Zeit eine Medientechnologie zur Verfügung, die nicht nur beides realisierbar macht, sondern darüber hinausgehend neue Formen von Öffentlichkeiten ermöglicht, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
1.2 Online-Öffentlichkeiten Das Internet, lange Zeit ein Netzwerk4 zur grenzenlosen Informationsvermittlung, das vor allem der One-to-many-Kommunikation diente, wurde mehr und mehr zu einer dynamischen Plattform, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass es sich »von einer Angebotsfläche zu einer Anwendungsumgebung« (Münker 2009: 21) entwickelte. Diesem Phänomen, dessen Genese bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, wurde durch die Bezeichnung Web 2.0 ein Name gegeben, dem die neue Qualität eingeschrieben scheint, bezeichnet er doch einen abrupten Versions-Sprung vom sogenannten Web 1.0, den es so freilich nicht gegeben hat (vgl. dazu Schmidt 2009). Nichtdestotrotz ist er neben vielen anderen die wohl am weitesten verbreitete Bezeichnung, mit der im Allgemeinen auf Folgendes Bezug genommen wird: Das Schlagwort Web 2.0 spielt auf eine Dimension von Kommunikation und Interaktion im Internet an, die Formen der Zusammenarbeit, der Beziehungspflege und des Teilhabens betrifft. Web 2.0-Angebote werden deshalb auch als Social Media (soziale Medien) bezeichnet, denn sie beruhen auf Interaktivität, Zusammenarbeit und Eigenaktivität der Nutzer. Auf diese Weise produzieren, bearbeiten und veröffentlichen Nutzer einen bedeutenden Teil der Inhalte im Netz. […] Typische Social Media-Angebote sind Foren, Chats, Blogs oder auch Foto- und Video-Communities. (Fraas et al. 2012: 222)
4 | Die damit angesprochene technische Infrastruktur ermöglicht es, »fast alle bisherigen (analogen) Medien und die entsprechenden Kommunikationsformen in digitaler Version auf ein und derselben technischen Plattform auszuführen, nämlich auf weltweit vernetzten Computern« (Schmitz 2015: 35).
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Hinsichtlich der Spezifik der auf diesen Anwendungen basierenden Online-Öffentlichkeiten und deren Potenzialen für die Herstellung einer alternativen oder einer »neuen« Öffentlichkeit gibt es unterschiedliche Positionen. Die euphorische Position geht davon aus, dass mit dem Netz gleichsam das Habermas’sche Öffentlichkeits-Modell verwirklicht werden könne, zumal die von ihm formulierten Kriterien quasi zu den Spielregeln des Web 2.0 gehörten. Postuliert wird, dass das Internet prinzipiell jedem User zugänglich ist, der/die dann als TeilnehmerIn an der Netzkommunikation erwarten darf, als gleichberechtigt wahrgenommen und behandelt zu werden. Unter diesen Voraussetzungen ist es weiterhin möglich, alle denkbaren Themen zu diskutieren, und zwar mit einer Vielzahl von Menschen, die in der analogen Welt nur durch die Massenmedien erreichbar ist (vgl. Münker 2009: 74-76). Auf diese Weise scheint das Netz »die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen« (Habermas 2008: 21), weil das Publikum die Möglichkeit habe, seine Anliegen in ungefilterter Weise in die Willensbildungsprozesse einzubringen. Die so skizzierte Öffentlichkeit zeichnet sich also durch die Möglichkeit direkter ungefilterter Kommunikation u.a. auch mit den politischen Eliten, und zwar ohne Vermittler aus, wobei diese Art von Kommunikation es – zumindest theoretisch – durchaus erlaube, deliberative Konsensbildungen zu bewerkstelligen.5 Andererseits führen die durch das Internet geschaffenen Bedingungen, so Habermas, zu einer »Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums« (Habermas 2008: 21). Er selbst bleibt also eher skeptisch bezüglich der öffentlichkeitsstiftenden Potenziale des Netzes, womit er sich in die Reihe jener Netzpessimisten stellt, die den traditionellen Massenmedien weiterhin eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit zuweisen, da allein sie in der Lage seien, die zersplitterten öffentlichen Meinungen zu sammeln, zu bündeln und als Vermittler zu verbreiten. Zwar ermögliche das Netz in Folge der niedrigen Zugangsbeschränkungen, dass alle über alles diskutieren können, aber dieser mannigfaltige Austausch von Themen und Meinungen führe einerseits zu einer unüberschaubaren Fragmentierung, und widerspräche damit dem Transparenzgebot, andererseits werden diese Kommunikationen nur von einer mehr oder weniger begrenzten Anzahl an Netznutzern wahrgenommen und können eben nicht als allgemein bekannt betrachtet werden, außer sie erlangen die
5 | Die Frage, inwieweit die Onlinekommunikation den von Habermas postulierten Kriterien tatsächlich entspricht, oder ob man eher davon ausgehen muss, dass das Internet eben doch weitgehend nur ein Abbild der in der analogen Welt herrschenden Kommunikationsverhältnisse ist, ist damit freilich nicht beantwortet. Einen kurzen Einblick in erste Untersuchungen und deren Ergebnisse gibt Beck 2006: 223-226.
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Aufmerksamkeit der Massenmedien.6 Erst diese sind in der Lage, die Themen auf die für die öffentliche Meinung maßgebliche Ebene der Medienöffentlichkeiten zu heben. Aus dieser – skeptischen – Perspektive wird weniger Wert darauf gelegt, welches Maß an gleichberechtigter Diskursivität erreicht werden kann, entscheidender sei, »welche Relevanz die in der elektronischen Öffentlichkeit stattfindenden Kommunikationen für ihre Leistung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft aufweisen« (Jarren/Donges 2011: 113). Jenseits dieser mehr oder weniger theoriegeleiteten Einschätzungen – teils empirischer, teils prognostizierender Natur – zu den Potenzialen (alternativer) Online-Öffentlichkeiten, scheint es fruchtbarer, das oben vorgestellte Ebenenmodell zur Beantwortung der Frage heranzuziehen, was das Internet zur Herstellung von Öffentlichkeiten leisten kann. Aus dem Modell wird ersichtlich, dass jede Ebene sich durch charakteristische Kommunikationsformen bzw. Medien auszeichnet,7 die auf den anderen Ebenen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im »Hybridmedium« Internet (Höflich 1997) nun werden all die ebenenspezifischen Kommunikationsformen in einem Medium vereint. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht dabei von der klassischen Massenkommunikation bis hin zu synchronen dialogischen Interaktionen. Dazwischen finden wir eine Vielzahl von anderen Kommunikationsformen, die sich in manchen Eigenschaften unterscheiden, die aber im Normalfall eines vereint: Sie sind miteinander vernetzt. Diese Vernetzungen eröffnen weitreichende Optionen, die es nicht nur erlauben, die Offline-Öffentlichkeit um einfache und komplexe Öffentlichkeiten zu erweitern, sondern sie können die gesellschaftliche Öffentlichkeit auch nachhaltig verändern (vgl. Schmidt 2013: 36-37). Zwei Aspekte sind dabei hervorzuheben: Einerseits die Ausweitung und Ergänzung professionell hergestellter Öffentlichkeiten (politische Kommunikation und Journalismus) und andererseits die Hervorbringung persönlicher Öffentlichkeiten, die aufgrund ihrer medialen Distribution und Verflechtung im Internet nicht nur eine bis 6 | Der Fragmentierungsthese ist entgegenzusetzen, dass auch und gerade das Internet, »weil es die unterschiedlichen Ebenen von Öffentlichkeit in einem Medium vereint und sie damit durchlässiger und vernetzbar macht« (Neuberger 2009: 43), die Bildung einer integrierten Öffentlichkeit durchaus ermöglicht. So erinnern sich anlässlich der 10. Internetkonferenz re:publica im Mai 2016 in Berlin die Initiatoren des ersten Treffens an ihre Beweggründe, und zwar mit dem Hinweis auf folgende Entwicklung: »2006 hatten sich deutsche Blogs so weit etabliert, dass sie nicht nur selbst in die öffentliche Wahrnehmung vorgedrungen waren, sondern auch eigene Themen an deren Oberfläche spülten« (www.fr-online.de/digital/re-publica--das-digitale-ist-politisch,1472406,34166126.html; 03.05.2016). 7 | Zu den Kategorien Kommunikationsform und Medium vgl. Dürscheid 2005; Holly 2011; Pappert 2016; zu Kommunikationsmodi bzw. Kommunikationsformen der Online-Kommunikation vgl. Fraas et al. 2012: 19-29; Pentzold et al. 2013.
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dahin unabsehbare Reichweite, sondern auch eine andere Qualität insofern aufweisen, als sie dem Persönlichen eine neue Bedeutung einschreiben (ausführlich zu beiden Öffentlichkeiten: Schmidt 2009).
1.2.1 Er weiterung professionell hergestellter Öffentlichkeit im Bereich Journalismus Die Entstehung der Online-Öffentlichkeit bewirkt vor allem Veränderungen im Bereich der Medienöffentlichkeit, wie wir sie oben im Ebenenmodell kennengelernt haben. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um einen »Übergang vom Gatekeeper- zum Gatewatcher-Paradigma« (Schmidt 2009: 143), der dadurch gekennzeichnet ist, dass die bisherige Praxis der Massenmedien, in der den Redaktionen eine Monopolstellung hinsichtlich Auswahl, Verarbeitung und Vermittlung von Inhalten zukam, insofern revidiert wird, als neue Akteure die Bühne der Informationsbeschaffung und -vermarktung betreten und auf diese Weise das Spektrum der Öffentlichkeiten verbreitern. Voraussetzung für diese Entwicklung ist der durch das Internet vereinfachte kommunikative Zugang zur Öffentlichkeit, d.h. »technische, ökonomische, kognitive und rechtliche Barrieren für das Publizieren« (Neuberger 2009: 37), die der Logik herkömmlicher Massenmedien inhärent sind, können relativ problemlos umgangen werden. So wird nicht nur einer vermehrten Partizipation Vorschub geleistet. Vielmehr verschiebt sich im Rahmen dieser alternativen Öffentlichkeit auch das Verhältnis von Leistungs- und Publikumsrollen. Prinzipiell kann im Internet jede/r seine Inhalte mühelos veröffentlichen und dabei kann er/sie oftmals zwischen einer Vielzahl von Angeboten wählen. Die Palette an Möglichkeiten reicht über den Beitrag im Kommentarforum über das Verfassen von Tweets auf Twitter bis hin zur Einrichtung eines eigenen Weblogs. Durch derlei partizipative Formen der Informationsauf bereitung verändert sich die Herstellung von Öffentlichkeit von einer »sozial selektiven, linearen und einseitigen zu einer partizipativen, netzartigen und interaktiven Kommunikation« (Neuberger 2009: 39).8 Im Einzelnen ist diese alternative Netzöffentlichkeit gekennzeichnet vor allem durch folgende Eigenschaften (vgl. Neuberger 2009: 39-40: • Individuelle wie kollektive Akteure können ohne Umweg über Redaktionen Inhalte veröffentlichen oder mit ihren Bezugsgruppen (PolitikerInnen, Verbände etc.) direkt interagieren. Es kommt zu einer sogenannten Disintermediation, d.h. Vermittler verlieren an Bedeutung, die Filterung, Selektion und Verbreitung der Inhalte obliegt nicht mehr ausschließlich 8 | Neben diesen Formen des personal publishing gibt es aber auch technisch unterstützte Anwendungen der Selektion und Aggregation von Informationen, z.B. Google News oder Social-News-Plattformen (vgl. Fraas et al. 2012: 39-40).
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den Massenmedien; die spezifischen Vermittlungsleistungen im Internet basieren dabei »oft auf partizipativer ( folksonomies, social bookmarking, Rankings auf sozialen Netzwerkplattformen) oder schlicht technischer Vermittlung (PageRank bei Google)« (Fraas et al. 2012: 36); • das (traditionell) passive disperse Publikum beobachtet das Mediengeschehen, stößt suchend oder zufällig auf bestimmte Themen und vernetzt diese beispielsweise durch Verlinkungen, d.h. die Anzahl und die Bedeutung individueller sowie kollaborativer Nachrichtenangebote steigt; • die Grenzen zwischen Produzenten und Rezipienten verschwimmen, da die Nutzer immer auch die Möglichkeit haben, selbstständig Beiträge zu verfassen, und zwar unabhängig davon, ob sie als Experten oder Laien an der Kommunikation teilnehmen; dieses aktive Nutzerverhalten wird durch die Bezeichnungen Prosumer bzw. Produser erfasst (Bruns 2008); • die Kommunikation in der Netzöffentlichkeit ist potenziell reflexiv, d.h. durch die Möglichkeit der Veröffentlichung der Anschlusskommunikation wird der Journalismus u.U. in die Adressatenrolle gedrängt und darüber hinaus in Zugzwang gesetzt. Die partizipativen Formen der Präsentation und Veröffentlichung von Informationen (personal publishing) haben neben den technisch unterstützten Formen des Informationsmanagements (vgl. hierzu Fraas et al. 2012: 40; Schmidt 2009: 26-27) einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf bestehende (massenmediale) Öffentlichkeiten. Das zeigt sich zum einen darin, dass die meisten massenmedialen (Online-)Angebote neue Publikationsformen integrieren (bspw. Weblogs, Videocasts oder Twitter). Zum anderen werden die im Netz bereitgestellten Inhalte auch sehr aufmerksam von den Massenmedien wahrgenommen und kommentiert, was vice versa natürlich auch für die alternativen Angebote gilt, die ihre Themen immer noch vorrangig aus den Massenmedien beziehen. Das Verhältnis von Massenmedien und partizipativen Formen ist also geprägt von gegenseitigen Beobachtungen, Bezugnahmen und Verwertungen. Vor diesem Hintergrund lässt sich bezogen auf das Ebenenmodell konstatieren, dass Themenentwicklungen im Internet in hohem Maße zwischen den verschiedenen Öffentlichkeits-Ebenen verlaufen, wobei die Richtung keineswegs festgelegt ist. Darüber hinaus können sich Themenkarrieren natürlich immer auch zwischen Offline- und Online-Öffentlichkeiten entfalten. Die verschiedenen Öffentlichkeiten einschließlich ihrer Ebenen konstituieren auf diese Weise ein vielschichtiges Kommunikationsnetzwerk, dessen Bestandteile sich hochgradig komplementär zueinander verhalten. Tatsächlich wird online auf allen drei Ebenen von Öffentlichkeit über Themen und Meinungen kommuniziert, die auch in der Face-to-face- und der traditionellen Medienkommunikation kommuniziert werden. Und umgekehrt gilt: Auch die Themen und Meinun-
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1.2.2 Persönliche Öffentlichkeiten Eine zunehmende Bedeutung in der Online-Öffentlichkeit erlangen mediale Konstruktionen persönlicher Öffentlichkeiten. Auch die werden in erster Linie durch die niedrigen Zugangsschranken und die mannigfaltigen Möglichkeiten zur Vernetzung begünstigt. Persönliche Öffentlichkeiten unterscheiden sich von der Medienöffentlichkeit vor allem darin, dass die zugänglich gemachten Informationen verschiedenster Ausprägung sich auf die eigene Person beziehen oder nach subjektiver Bedeutsamkeit selektiert werden. Dabei geht es den Beteiligten weniger »um den Anschluss an Themen und Prozesse von gesellschaftlicher Relevanz, sondern um Öffentlichkeit im Sinne von öffentlich sichtbarem und zugänglichem Identitäts- und Beziehungsmanagement sowie um das Veröffentlichen selbst erstellter Medienprodukte (Texte, Bilder, Videos, Musik usw.)« (Fraas et al. 2012: 43). So werden einem mehr oder weniger überschaubaren Adressatenkreis persönliche Einstellungen, Erfahrungen, Erlebnisse, aber auch Ergebnisse ausgedehnter Netzrecherchen bereitgestellt. Verbreitet werden die Informationen in Abhängigkeit von den benutzen Kommunikationsformen gruppenbezogen aber auch interpersonal, daneben auch in Form des klassischen Publizierens. Sprecher- und Publikumsrollen sind dabei kaum voneinander zu trennen, d.h. es findet normalerweise ein wiederkehrender Wechsel zwischen den Rollen statt: Informationen werden gewöhnlich (im Netz) gesammelt und veröffentlicht. Die bekanntesten Kommunikationsmodi sind Plattformen, also Angebote, »die einer Vielzahl von Nutzern eine gemeinsame Infrastruktur für Kommunikation oder Interaktion bieten« (Schmidt 2009: 22), wie facebook und MySpace. Neben diesen dienen aber auch Weblogs oder Microblogging-Dienste wie Twitter der Hervorbringung persönlicher Öffentlichkeiten. Schmidt definiert jene als »Geflecht von online zugänglichen kommunikativen Äußerungen zu Themen von überwiegend persönlicher Relevanz […], mit deren Hilfe Nutzer Aspekte ihres Selbst ausdrücken und sich ihrer Position innerhalb sozialer Netzwerke vergewissern« (Schmidt 2009: 105). Als Sonderform online-basierter, vernetzter Öffentlichkeit weisen persönliche Öffentlichkeiten eine charakteristische Struktur auf, die sie vor allem von Face-to-Face-Kommunikationen unterscheidet. Gekennzeichnet ist diese durch folgende Merkmale (Schmidt 2009: 107-108):
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• sie sind persistent, d.h. Informationen, die im Internet veröffentlicht werden, sind nicht flüchtig, sondern mehr oder weniger dauerhaft gespeichert; • sie sind duplizierbar, weil die Informationen digital gespeichert sind; somit können sie 1:1 kopiert, übertragen, modifiziert aber auch dekontextualisiert werden, was unter anderem zum Missbrauch dieser Inhalte führen kann, wenn z.B. Fotos oder persönliche Daten aus Profilen zum Cybermobbing oder Cyberbullying verwendet werden; • sie sind skalierbar, denn trotz überschaubarer Adressatenkreise, die oftmals persönlich bekannt sind, ist die Reichweite prinzipiell nicht eingeschränkt; wenn ein Beitrag (bspw. auf YouTube) besondere Beachtung findet, kann eine große Zahl von Zugriffen und Verlinkungen die Folge sein; • sie sind durchsuchbar, denn im Internet veröffentlichte Informationen sind über Suchmaschinen auffindbar, persönliche Identitäten lassen sich gezielt recherchieren und bspw. vergleichen, wenn sie aus unterschiedlichen Datenquellen stammen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Merkmale wird die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit weitgehend diffus, denn die offengelegten persönlichen Öffentlichkeiten sind vor dem Zugriff unintendierter Publika nur in wenigen Fällen gefeit. So ist wohl kaum zu entscheiden, ob persönliche Öffentlichkeiten zur Privatsphäre (worauf viele der publizierten Inhalte und Bilder deuten) gehören oder, vor allem hinsichtlich ihrer Merkmale, eben nicht. Diese Unschärfe führt – nun wieder bezogen auf das Ebenenmodell – dazu, dass die persönlichen Öffentlichkeiten zwar prinzipiell ein Phänomen der Encounter-Ebene darstellen, jedoch die dort behandelten Inhalte ohne weiteres ebenso in die Themen- und bisweilen auch in die Medienöffentlichkeit wandern können.9 Dass Informationen aus der Medienöffentlichkeit geschöpft werden, die anschließend bis in die Encounter-Ebene durchsickern können, auf der sie als Wissensressource zur Begründung privater Meinungen und Einstellungen dienen, dürfte eher die Regel als die Ausnahme darstellen.10 Inwieweit Fragen zu den Grenzen und deren Überschreitung relevant werden, hängt auch mit anderen strukturellen Merkmalen persönlicher Öffentlichkeiten zusammen. So lassen sich diese sowohl nach »Größe und Zusammensetzung des Publikums« als auch »in zeitlicher, räumlicher sowie sozialer Hinsicht« differenzieren (Schmidt 2009: 111). Sind erstere Kriterien selbsterklärend, sollen die anderen abschließend kurz erläutert werden. Zeitlich können persönliche 9 | Ein Beleg für solche Karrieren sind fatalerweise die verschiedenen Netzaktivitäten der islamfeindlichen GIDA-Gruppierungen, die bis in die analoge Medienöffentlichkeit vordringen konnten. 10 | Das hier angesprochene Wissen wird in unserem Vorhaben durch die Interferenzanalyse systematisch erfasst und beschrieben.
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Öffentlichkeiten über teils sehr lange Zeiträume stabile Merkmale aufweisen. So ändern sich beispielsweise die allgemeinen Angaben zur Person auf einer Plattform oder in einem eigenen Weblog nur ausnahmsweise. Daneben gibt es aber auch stark dynamische Varianten wie Status-Updates (Motto: was mache ich gerade?) oder Twittereinträge. Die räumliche Dimension bezieht sich darauf, »dass die persönliche Öffentlichkeit einer Person an unterschiedlichen Stellen im Internet verortet sein kann« (Schmidt 2009: 112). In sozialer Hinsicht gibt dagegen die unterschiedliche Intensität der in den Öffentlichkeiten mehr oder weniger gepflegten Beziehungen den Ausschlag für entsprechende Differenzierungen (enge Freunde, Freunde, Bekannte etc.). Zusammenfassend lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die hier vorgestellten Online-Öffentlichkeiten in der Tat neue Formen von Partizipation erlauben. Diese sind vor allem durch ihre Interaktivität und Vernetzung geprägt, so dass eine klare Trennlinie zwischen den beiden Online-Öffentlichkeiten nicht gezogen werden kann. Sie treffen und überschneiden sich nicht nur thematisch, sondern teilen auch eine Reihe von Kommunikationsformen (Weblogs, Twitter, Foren), die das Internet zur Verfügung stellt. Auf diese Weise können kleine (persönliche) und große (massenmediale) Öffentlichkeiten in ein und demselben Medium integriert und vernetzt werden, was laut Neuberger (2009: 41) der Netzwerköffentlichkeit den Status einer dritten Dimension von Öffentlichkeit verleiht. Dass durch die ungehinderte und ungefilterte Kommunikation auf allen Kanälen die Visionen von einer allumfassenden Partizipation Wirklichkeit werden, ist dennoch zu bezweifeln. Vor allem in jüngster Zeit ist zwar ein reger Kommunikationsbetrieb in den sozialen Medien zu verzeichnen. Schaut man sich die Inhalte aber genauer an, wird schnell deutlich, dass Vieles von dem, was dort publiziert und diskutiert wird, nicht ansatzweise Merkmale konstruktiver Auseinandersetzungen aufweist. Vielmehr überwiegen Debatten im Stammtisch-Modus (Roth 2017). Die im Netz frei verbreiteten und geteilten Meinungen von jedermann sollten – zumindest in der Vorstellung der Netzeuphoriker – im Idealfall Indizien für ein demokratisch geprägtes Miteinander liefern, in dessen Rahmen gemeinsam argumentativ nach gesellschaftlichen Lösungen gestrebt wird. Durch die Beobachtung des tatsächlich stattfindenden Austausches entsteht jedoch oftmals der Eindruck, dass die Habermas’sche Idee eines herrschaftsfreien Diskurses vielmehr ad absurdum geführt wird. Das liegt vor allem daran, dass das Internet offen für alle Inhalte und Meinungen ist und infolgedessen »nicht nur emanzipatorisch-aufklärerische Gegenöffentlichkeiten vom Senken der Publikationsund Distributionshürden profitieren« (Schmidt 2013: 47). Mit der durch das Netz begünstigten Ausweitung und Aufwertung des Stammtisch-Modus, also einer Melange aus verbalisiertem Halbwissen, Vorurteilen und Wut, gehen Gefahren für die demokratisch-pluralistische Öffentlichkeit einher, die im Moment nur bedingt kalkulierbar sind. So ist es durchaus naheliegend, dass
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die allenthalben veröffentlichten Hasstiraden gegen »das System« oder die »Flüchtlingsströme« nicht unwesentlich zum Aufschwung rechter Gruppierungen bzw. Parteien beitrugen. Die sich abzeichnende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Online-Öffentlichkeit bringt der Blogger Lobo Anfang 2016 in einem seiner SPIEGEL-Blogs auf den Punkt: […] dank sozialer Medien bekommt man zu allem, was geschieht, eine Dreingabe, nämlich die Reaktion des Publikums darauf. Eigentlich etwas Wunderbares, eine wirklich neue Dimension des Internets – den Kommentierenden beim Verfertigen der Gedanken in den Kopf schauen zu können. In einzeln aufblitzenden Momenten in sozialen Netzwerken ergeben sich großartige Diskussionen. Meistens aber nicht. Besonders jetzt nicht. Denn intensiv diskutierte Ereignisse sind für viele Millionen Menschen in diesem Land eine fantastische Gelegenheit zum Schnauzehalten, die sie sämtlich verpassen. Es ist ein Segen, dass sich alle öffentlich äußern können, und eine Ernüchterung, auf welche Weise dieses Recht wahrgenommen wird. (www.spiegel.de/netzwelt/web/lobokolumne-hilferuf-an-die-mindestens-durchschnittlich-begabten-a-1072955.html; 05.05.2016)
Im Großen und Ganzen dreht sich die Debatte – linguistisch gewendet – um Diskursrealisationen unter den spezifischen Bedingungen des Internets. Aufgrund der dort geltenden pragmatischen Bedingungen weisen diese Realisationsformen auf verschiedenen Ebenen spezifische Merkmale auf. Unser Ziel ist es, diese Bedingungen und die daraus resultierenden Konsequenzen systematisch herauszuarbeiten, und zwar am Beispiel der Webforen.
2. W ebforen als G renzgänger z wischen den Ö ffentlichkeiten 11 Wie wir gesehen haben, ist die Online-Öffentlichkeit als ein Prozess zu konzipieren, in dem sich netzwerkartige Strukturen ausbreiten, die die Grenzen der herkömmlichen Öffentlichkeitsebenen weitgehend durchdringen (können). Nichtsdestotrotz gibt es einige Kommunikationsformen, die eher der einen oder der anderen Ebene zugeordnet werden können. In der Sprachwissenschaft und der Medienlinguistik gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Untersuchungen, die sich einzelnen Kommunikationsformen gewidmet und diese umfassend beschrieben haben. Die von uns fokussierten Webforen spielen in der Literatur zur Online-Öffentlichkeit eine eher marginale Rolle. Anknüpfungspunkte für unsere Untersuchung liefern im Wesentlichen zwei Richtungen. Einerseits die Online-Forschung, die der diskurssemantischen 11 | Vgl. zum folgenden Kapitel Pappert/Roth 2016.
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Perspektive nahestehende Ansätze (z.B. framesemantischer oder sozialsemiotischer Natur) verwendet und dabei auch Foren-Kommunikation berücksichtigt. In den Untersuchungen der Gruppe um Claudia Fraas zu Online-Diskursen (u.a. Fraas/Pentzold 2008; Fraas et al. 2012; Fraas et al. 2013) wurden verschiedene Kommunikations(platt)formen der Internetkommunikation in den Fokus der Diskursanalyse gerückt. Damit wurde (aufgrund der Bedeutung und Reichweite des Internets mehr als plausibel) dem Umstand Rechnung getragen, dass neue Kommunikationsformen im Netz nicht nur individuelles und gesellschaftliches Handeln auf neue Weise miteinander verknüpfen, sondern sie vielmehr »die etablierten Diskursbedingungen [verändern], indem sie bestehende Öffentlichkeiten ergänzen und sich als neue Diskursplattformen, die neue Diskurspraktiken ermöglichen, in den bestehenden Medienverbund einfügen« (Fraas/Pentzold 2008: 289). Auch Foren fungieren in diesem Zusammenhang als »Resonanzraum« (Lorenz-Meyer 2005: 47), in dem »massenmedial hergestellte Meinungen und Informationen aufgegriffen und verstärkt werden« (Schmidt 2006: 136). Foren sind vor diesem Hintergrund privilegierte Räume für kommunikative Aktivitäten zur Be- und Verarbeitung der massenmedialen Diskurse (Medienöffentlichkeit) und bilden so ein wesentliches Verbindungsglied zwischen den verschiedenen Ebenen der Online-Öffentlichkeiten, wobei Übergänge zu den Offline-Öffentlichkeiten nicht von vornherein auszuschließen sind. Dass Forenkommunikation zur Hervorbringung von Öffentlichkeiten beitragen kann, lässt sich jedenfalls mitnichten bestreiten, vor allem wenn man darin übereinstimmt, dass die Konstitution von Öffentlichkeit an die Anschlusskommunikation, also an das kommunikative Handeln derjenigen geknüpft wird, »die, primär in einer Publikumsrolle und in der Regel vermittelt über mediale Angebote, mit den Aussagen institutionalisierter Kommunikatoren in Kontakt kommen« (Hasebrink/Hölig 2014: 16). Foren bieten genau einen solchen, wenn auch virtuellen, Ort, an dem Wissen vermittelt und zur Disposition gestellt wird, darüber hinaus aber eben auch Einstellungen und Meinungen eine nicht zu vernachlässigende Größe darstellen. Ob dabei große oder kleine Öffentlichkeiten entstehen, ist eine Frage der Art, der Zusammensetzung und der Reichweite des Forums und hängt im Wesentlichen vom jeweils zur Debatte stehenden Thema ab. Hinsichtlich ihrer Art lassen sich im Wesentlichen zwei Arten von Foren unterscheiden. Zum einen die freien bzw. unabhängigen Foren, die zu jedem nur denkbaren Thema i.w.S. gegründet und gepflegt werden können. Diese werden in der Regel von Usern aufgesucht, die sich für das entsprechende Thema interessieren, bisweilen gar begeistern (bspw. Fanforen, vgl. Klemm 2012). Im Laufe der Zeit entwickeln sich Forengemeinschaften, die u.U. eine hierarchische Struktur ausbilden. So übernehmen vorzugsweise die GründerInnen oder auch die aktivsten NutzerInnen Administratoren- oder Moderatoren-Rollen, die mit ganz bestimmten Rechten verknüpft werden, die wiederum in den jeweils geltenden Forenre-
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geln verankert sind. Oft sind diese Foren auch auf der thematischen Ebene hierarchisch organisiert. Auf diese Weise entstehen kleinere virtuelle Räume, in denen spezifische Unterthemen oder Aspekte des Forengegenstandes verhandelt werden können. Zum anderen finden wir Foren, die in bestimmte Webangebote integriert sind. In unserem Zusammenhang von Belang sind vor allem die Kommentarforen, die von den meisten Online-Massenmedien in großer Zahl zur Kommentierung einzelner ihrer Kommunikate (Artikel, Sendung usw.) eingerichtet werden. Diese entwickeln bisweilen eine Eigendynamik, die sie von ihren analogen Vorgängern, den Leserbriefen, in erheblichem Maße unterscheidet. Das betrifft einerseits die relevant gesetzten Themen, die teilweise mit dem forumsinitiierenden Beitrag nur noch bedingt zusammenhängen. Andererseits entwickeln sich im Verlauf eines Forums immer wieder auch dialogische Sequenzen, die große Ähnlichkeiten mit solchen in herkömmlichen Diskussionsforen aufweisen. Dem Rechnung tragend formulieren Fandrych/Thurmair (2011) ihre Definition, der wir uns anschließen: Diskussionsforen sind Webseiten, auf denen Internetnutzer zu bestimmten Themen, z.T. auch als Reaktion auf bestimmte Nachrichten (z.B. in Online-Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften), Weblogs u.ä. eigene Diskussionsbeiträge einschicken können, die dann (oftmals gefiltert durch Moderatoren) – entweder sequenziell oder nach Subthemen (Threads) geordnet auf der jeweiligen Webseite veröffentlicht werden. (Fandrych/ Thurmair 2011: 136)
Abhängig vom Foren-Typ lassen sich Foren nach ihrem Zweck und ihrer Themengebundenheit – zumindest prinzipiell – verschiedenen Öffentlichkeitsebenen zuordnen. Freie Foren – vor allem die mit festgeschriebenen Interaktionsrollen – operieren auf der Ebene der Themen- bzw. Versammlungsöffentlichkeit, mit offenen Grenzen nach oben und unten. Kommentarforen hingegen oszillieren zwischen der Ebene der Medienöffentlichkeit, an die sie ja explizit, und zwar sowohl technisch als auch thematisch gebunden sind, sowie der Encounter-Ebene. Gegen eine Verortung auf der Themenebene spricht – trotz der thematischen Gebundenheit – vorrangig die fehlende Hierarchie bei der Rollenverteilung. Die Redaktionen haben zwar das Recht und die Mittel, Beiträge infolge grober Verstöße gegen Mindeststandards zu entfernen, greifen aber abgesehen von solchen Fällen in das Kommunikationsgeschehen nicht ein. Die hier vorgenommene Zuweisung zu den Ebenen sagt jedoch noch nichts über die spezifischen pragmatischen Bedingungen aus, denen die Forenrealisation unterliegt, denn diese entsprechen weder den Bedingungen in massenmedialen noch in interpersonalen Diskursrealisationen. Forenrealisationen sind wie alle online-medialen Texte »konstituiert und charakterisiert durch mediale Affordanzen, d.h. durch mediale Ermöglichungs-
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strukturen einerseits, durch textstrukturelle Elemente, semantische Faktoren und durch Textumgangsweisen andererseits« (Pentzold et al. 2013: 87). Foren-Kommunikation ist unabhängig von ihrer spezifischen Ausprägung als schriftliche, asynchrone Kommunikation im Distanzbereich zu bestimmen, die sowohl aus one-to-many-conversations als auch aus one-to-one-conversations besteht (Schuegraf/Meier 2005). Die (anonyme) Schriftlichkeit in Forenrealisationen schafft eine Differenz zu Gesprächen insofern, als »die Nutzer nicht mit Personen, sondern mit Texten bzw. symbolischen Repräsentationen interagieren« (Sutter 2010: 95). Asynchrone Kommunikation, wie sie für Foren typisch ist, liegt vor, weil Produktion und Rezeption eines Beitrages zeitlich versetzt erfolgen. Die an der Kommunikation Teilnehmenden müssen weder zeitlich noch räumlich kopräsent sein. Hieran ist ein weiterer Unterschied zu Face-to-Face-Interaktionen festzumachen, denn die einzelnen Beiträge werden eben nicht unter den Beteiligten interaktiv ausgehandelt und kollaborativ produziert, sondern sie sind immer erst nach dem Übermitteln für den Rezipienten sichtbar. Diese Übermittlung geschieht nicht zeichenweise, sondern en bloc, d.h. der Produktionsprozess entzieht sich der Wahrnehmung und somit auch dem Einfluss der anderen Beteiligten (vgl. Beißwenger 2016: 282-283). Diskussionsforen zu einem bestimmten massenmedialen Beitrag sind in den meisten Fällen sequentiell chronologisch nach Eingang der jeweiligen Postings präsentiert, in manchen Fällen aber auch nach Subthemen (Threads). Die Postings nehmen entweder Bezug auf den Initialbeitrag oder auf Vorgängerkommentare, wobei durch die zitierende Übernahme aus dem jeweiligen Bezugstext die betreffenden Sequenzen nicht nur in den eigenen Text integriert, sondern auch jeweils neu kontextualisiert werden. Es entsteht also eine spezifische Art von Dialogizität bzw. Diskursivität. In den sich so etablierenden Diskussionssträngen, die teilweise in erheblichem Maße thematisch vom jeweiligen journalistischen Beitrag abweichen, beziehen sich die Postings auf Vorgängeräußerungen – und zwar relativ unabhängig von deren chronologischen Eingang – und animieren bisweilen auch zu Folgehandlungen, auch wenn die damit in Kraft gesetzten Zugzwänge als eher schwach anzusehen sind. So ist es keine Seltenheit, dass (erwartbare) Anschlusskommentare erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erfolgen. Für die Kohärenzbildung über mehrere Beiträge hinweg ist es in solchen Fällen notwendig, den Diskussionspfad transparent zu machen, beispielsweise dadurch, dass auf die Bezugsäußerung erkennbar verwiesen wird (vgl. Burger/Luginbühl 2014: 464). Dies wird in vielen Fällen vom technischen System realisiert, das eine Art Baumstruktur generiert, die oft mit Veränderungen der »Sehfläche« (Schmitz 2011) verbunden ist (zu grafischen Interfaces vgl. Pentzold et al. 2013: 87-89). So finden wir Einrückungen oder der Zusammenhang zwischen den Beiträgen wird durch den Gebrauch verschiedener Zeichen in unterschiedlicher Anzahl, bspw: >, >>, >>>, visualisiert (für weitere Varianten vgl. Burger/Luginbühl 2014: 465-
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467). Sprachlich-kommunikativ werden konkrete Bezüge zu Forenbeiträgen in erster Linie durch das namentliche Adressieren mittels direkter Anrede bzw. durch die Formel @+(Nick)Name bewerkstelligt. Als eine – teilweise auch vom Online-Angebot generierte – Praktik des spezifischen Bezugs hat sich darüber hinaus das Zitieren etabliert (vgl. Beißwenger 2016: 295-298). Durch die Übernahme von Passagen aus bzw. des gesamten Postings – was in der gesprochenen Sprache nicht nur unüblich, sondern auch unkooperativ sensu Grice wäre – wird der Bezug sofort sicht- und nachvollziehbar. Vor allem an solchen Sequenzen wäre die Applikabilität eines methodischen Vorgehens, das zur Analyse teilnahmeorientierter Diskursrealisationen verwendet wurde (Roth 2015) zu überprüfen, zumal es zu den dialogischen Prozessen in Foren nur wenige Untersuchungen gibt.
3. (D iskurs -)P r agmatische B asisbedingungen von F orenkommunik ation Das von uns verfolgte Projekt bewegt sich im diskurssemantischen Paradigma und interessiert sich entsprechend für das in den Foren realisierte kollektive Diskurswissen zu einem bestimmten Thema. Dabei folgt es dem Kerngedanken des diskurspragmatischen Ansatzes (Roth 2015), demzufolge es für die Beschreibung eines Diskurses neben der reinen Inventarisierung versprachlichten Wissens und der typischen Formen dieser Versprachlichung auch wichtig ist, zu erfassen, unter welchen pragmatischen Bedingungen diese Realisation erfolgte (und unter welchen anderen dies nicht geschieht). Wir gehen dabei davon aus, dass die pragmatische Grundkonstellation der Forenrealisation sich grundlegend von der in alltäglichen Face-to-Face-Gesprächen (»Teilnahmeorientierten Realisationen« – TOR) und denen, die klassischen Massenmedien entstammen (»Massenmediale Realisationen« – MMR) unterscheiden, an denen der Ansatz entwickelt und bislang erprobt wurde (Roth 2015; teilweise auf Online-Daten angewandt in Pędzisz 2013).12 Vor dem Hintergrund des in diesem Beitrag bislang Skizzierten erscheint es sinnvoll, diese spezifischen pragmatischen Bedingungen der Foren-Realisationen als Folge – oder je nach Sichtweise auch als Ursache – des hybriden Öffentlichkeitscharakters der Forenkommunikation aufzufassen. Eine linguistische Analyse würde somit den Anspruch verfolgen, in den konkreten Daten zu zeigen, wie sich in der Art und Weise der Diskursrealisationen in den Foren das tatsächlich empirisch 12 | Eine eingehende Begründung dieser Begrifflichkeit sowie eine ausführliche Auseinandersetzung mit den strukturellen Unterschieden zwischen TOR- und MMR-Realisationen liegt in Form der theoretischen Grundlegung und methodischen Erprobung des diskurspragmatischen Ansatzes vor in Roth 2015.
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beschreibbar festmachen lässt, was die theoretischen Öffentlichkeitsmodelle auf einer weitgehend abstrakten Metaebene nahelegen. Im Sinne eines heuristischen Analyserasters gehen wir im Projekt von drei Achsen pragmatischer Basisbedingungen aus, auf denen sich die Foren-Realisationen relational zu TOR und MMR charakterisieren lassen. Diese drei Achsen im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit lassen sich nun in vielfacher Weise ins Verhältnis setzen zu den referierten Öffentlichkeitskonzepten und dürfen von daher in gewissem Maße als deren Operationalisierung für die Zwecke einer empirischen linguistischen Analyse aufgefasst werden (vgl. ausführlich Pappert/Roth 2016): 1. Grad an lokaler Interaktionalität:13 Man kann auch massenmediale Kommunikate als interaktiv aufeinander bezogen betrachten, indem man den Gedanken der Intertextualität so interpretiert, dass einzelne mediale Texte gewissermaßen aufeinander antworten (vgl. zu dieser Sichtweise auf mediale Diskurse als »Gesellschaftsgespräch« u.a. Wichter 1999). In der Regel ist das einzelne Kommunikat aber nicht das kollaborative Produkt mehrerer Sprachproduzenten im Rahmen eines interaktionalen Geschehens, wie das bei den TOR typisch ist, deren Prototyp eben die Äußerung im Face-to-Face-Gespräch ist. Stehen also auf einer Achse der Interaktionalität TOR und MMR an den beiden Polen, ist aufgrund der erwähnten Eigenschaft der strikten Sequentialität für die Foren-Realisationen anzunehmen, dass sie sich zwischen beiden befinden. Den Interaktionalitätsgrad von Gesprächen erreichen sie zwar nicht, das Forum als Ganzes wird jedoch aus auf einer Zeitachse aufeinander folgende Posts konstituiert, die auf diese Weise immer mit einer Vor- und einer Nachgeschichte interagieren. Entscheidend ist nun mit Blick auf den Öffentlichkeitsstatus der Foren-Kommunikation, dass die – bis auf sehr sporadische Moderatoreneingriffe als »Ultima ratio« – ungeregelte, in gewisser Weise natürliche Interaktion in sequentieller Ordnung das einzige Organisationsprinzip in den Kommentarforen ist. Damit zeigen diese auf dieser Achse eine große strukturelle Nähe zu den Encounter-Öffentlichkeiten, die ja ihrerseits durch das Fehlen strukturierender Prinzipien und regelnder Instanzen sowie ein damit einhergehendes sehr geringes Maß an Kohärenzzwang über die Zeit hinweg geprägt sind. Sofern sich unsere heuristische Einordnung der Foren-Realisationen auf dieser Achse also als empirisch verifizierbar erweist, wäre dies auch als ein Hinweis darauf zu werten, dass die Kommunikation in den Foren 13 | Der Terminus »lokal« kann sich im Falle von Webforen natürlich nur auf den virtuellen Ort beziehen, der durch die jeweilige URL als »Adresse« konstituiert wird. In der Entstehungszeit des Internets schon früh aufgekommene räumlich-metaphorische Ausdrücke wie Homepage und Navigation verweisen darauf, dass dieses Verständnis einem etablierten kognitiven Muster auch der Produser entspricht.
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trotz ihrer rein technisch nahezu unbegrenzten Zugänglichkeit zumindest in dieser Hinsicht strukturell eher den lokalen ad hoc-Öffentlichkeiten der Encounter-Ebene gleicht. 2. Grad an Trialogizität: Ein wichtiger pragmatischer Unterschied zwischen den strukturellen Kommunikationsbedingungen der TOR und denen der MMR besteht darin, dass massenmediale Kommunikation grundsätzlich »trialogisch« (im Sinne von Dieckmann 1981) ist: Auch dort, wo sich massenmediale Äußerungen unmittelbar auf andere beziehen, ist letztlich nicht das dezidiert angesprochene und benannte Gegenüber primärer Adressat, sondern ein anonymes und disperses Publikum, das das Medienprodukt rezipiert und für das es überhaupt produziert wird. Mit anderen Worten: Ein für die Akteure physisch nicht anwesendes Publikum ist konstitutiv für die Kommunikation, sie würde ohne dieses nicht stattfinden. Da das bestimmende Merkmal der TOR dagegen gerade die Kontrollierbarkeitsannahme ist, das Sprechen unter uns und damit der Rezipientenzuschnitt auf das physisch anwesende Gegenüber, sind auch auf dieser Achse wieder TOR und MMR an den Polen anzusetzen. Foren-Realisationen werden sich auch hier zwischen ihnen befinden, weil sie zwar einerseits durch eine unbeschränkte Öffentlichkeit rezipierbar sind, andererseits aber nur eine überschaubare Rezeptionschance und -wahrscheinlichkeit haben. Beide Tatsachen zusammen machen den charakteristischen hybridöffentlichen (Bittner 2003) Charakter des Web 2.0 aus. Er besteht eben darin, dass die Foren-Kommunikation auf dieser Achse changiert zwischen den Bedingungen der Encounter- und denen der massenmedialen Öffentlichkeiten. So kann davon ausgegangen werden, dass die Existenz von Mithörern (oder in diesem Falle: Mitlesern) angesichts der schriftlichen Übermittlung und dauerhaften, oft technisch nicht zeitlich begrenzten Speicherung der Realisationen deren Produzenten regelmäßig bewusst und einkalkuliert ist. Obwohl die Forenkommunikation, wie wir sie auffassen, interaktional angelegt ist oder zumindest ein großes interaktionales Potenzial beinhaltet, werden die Äußerungen eben auch dann nicht face to face realisiert, wenn ausdrückliche Bezüge vorgenommen werden: Die Basisbedingung der TOR, dass der Rezipientenkreis der Realisation vom Produzenten überschaut werden und die Äußerung insofern nur an den ratifizierten Teilnehmern der Interaktion orientiert werden kann, fehlt. Das grundsätzliche Vorhandensein von Mitlesern wird den Beteiligten also bewusst sein. In gewisser Weise ähnelt diese Konstellation durchaus den Öffentlichkeitsbedingungen wie sie in massenmedialem Rahmen dort gelten, wo nicht-professionelle Äußerungsproduzenten die Gelegenheit zu Äußerungen erhalten (etwa in Phone-In-Sendungen des Rundfunks). Auf der anderen Seite fehlt dem sequentiellen Interaktionsverlauf in den Foren jede Form der systematischen Inszenierung und des professionellen Rollenarrangements, die im Rahmen massenmedialer Öffentlichkeit üblicherweise Grundlage trialogischer Kommunikation sind (etwa in Talkshows,
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in denen Gesprächsteilnehmer a priori als Vertreter bestimmter Parteien oder Institutionen gesetzt sind). Von daher – und auch angesichts des real zu erwartenden Rezeptionsradius’ dieser im Sinne Habermas’ »fragmentierten Öffentlichkeiten« – ähneln die Foren auf der Ebene der Trialogizitätsachse also eher den Bedingungen von Encounter-Öffentlichkeiten. 3. Grad an kommunikativer Verantwortlichkeit: Die Interaktion im Face-toFace-Gespräch, in die TOR eingebettet sind, ist basal geprägt von einem primären lokalen Kooperationsgebot. Dieses wiederum führt den konkret anwesenden Gesprächspartnern gegenüber zu sozialen Rücksichten, die nach Goffman (u.a. 1997) mit dem Konzept des negativen und positiven »Face« (oder auch des »Images«, vgl. Holly 1979) beschrieben werden. Die hohe Verpflichtung auf dieses Prinzip ergibt sich unmittelbar aus einer allgemeinen sozialen und im Speziellen kommunikativen Verantwortlichkeit, die der Sprecher als soziales Ich für seine Äußerungen übernimmt. Verletzungen des Images anderer Interaktanten führen zu unmittelbaren Sanktionen und können zum Scheitern der Interaktion als Ganzes beitragen. In MMR ist diese kommunikative Verantwortlichkeit geringer, weil im massenmedialen Kontext Sprecher häufig im Rahmen von Inszenierungen und mit diesen Inszenierungen verbundenen Rollen agieren, was sich wiederum aus der strukturellen Trialogizität ergibt. Das Verhältnis von TOR und MMR auf dieser Achse ist aber nicht polar, sondern das eines Mehr und Weniger. Tatsächlich stehen den TOR am einen Ende der Achse am anderen vielmehr die Foren-Realisationen gegenüber. Diese sind geprägt von einem weitgehenden Fehlen kommunikativer Verantwortlichkeit und es ist gerade dieser Aspekt, der in kritischen Blicken auf die »neue Öffentlichkeit« im Web 2.0 (vgl. Schmidt 2013) immer wieder im Vordergrund steht: Dadurch, dass Identitäten im Netz letztlich immer virtuell sind, bleiben auch alle denkbaren Sanktionen (etwa der Ausschluss aus einem Forum durch einen Administrator) virtuell. Kommunikativ-soziale Verantwortung gibt es damit letztlich nicht. Mit Blick auf die Frage nach dem Öffentlichkeitscharakter der Kommentarforen ergibt sich damit auch hier ein ambiges Bild: Auf der einen Seite kann man diese spezifischen kommunikativen Rahmenbedingungen als eine Übersteigerung der Inszenierungsmöglichkeiten in massenmedialer Kommunikation auffassen. Auch dort ergibt sich aus dem strukturell gegebenen Rollen-Handeln der Akteure eine relativierte kommunikative Verantwortlichkeit, indem etwa das auf der Inszenierungsebene scheinbar harte konfrontative, unter Umständen sogar verletzende Gesprächsverhalten des Teilnehmers einer politischen Talkshow insofern als unproblematisch empfunden – und sogar erwartet – wird, als die Rollenaufgabe des Sprechers genau dieses Verhalten geradezu erforderlich macht. Andererseits war als Kennzeichen der strukturellen Bedingungen auf der Ebene massenmedialer Öffentlichkeiten auch das Vorhandensein institutioneller und sogar juristischer Regelungen des professionellen journalistischen Handelns genannt worden. Diese sorgen
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in erster Linie aufgrund des großen Rezipientenradius von massenmedialen Kommunikaten für sehr weitgehende Sagbarkeitsbeschränkungen. Dass Restriktionen solcher Art in den Kommentarforen für den einzelnen Beiträger nun nicht existieren, bedeutet für diesen, dass das kommunikative Setting, aus dem heraus er seine Äußerungen abgibt – ungeachtet der zeitlichen Verstetigung durch Schriftlichkeit und digitale Speicherung – eher den von Flüchtigkeit und höchst begrenzter Rezeption geprägten Bedingungen der teilnahmeorientierten Realisationen im Rahmen der Encounter-Öffentlichkeiten entspricht. Auch hier erweist sich die strukturelle Anlage der Webforen also in gewisser Weise als eine Kreuzung aus den Eigenschaften der Encounter- und denen der massenmedialen Öffentlichkeiten. Die geringsten Übereinstimmungen lassen sich dagegen zur Versammlungsöffentlichkeit annehmen, die aufgrund des persönlichen Einstehens in einem physisch gegebenen Raum, idealtypisch auf der Bühne mit ihren Sanktionen von Applaus und Buhrufen, ein Höchstmaß an kommunikativer Verantwortlichkeit mit sich bringt.
4. E xempl arische S kizze Inwieweit das vorgeschlagene Modell der diskurspragmatischen Bedingungen von Foren-Realisationen als Operationalisierungsbasis dafür taugt, den spezifischen und in dieser Form eben neuartigen Öffentlichkeitscharakter dieser Kommunikationsform in der linguistischen Analyse sichtbar zu machen, wird in den Korpusanalysen des Projekts zu erproben sein. An dieser Stelle werden wir uns darauf beschränken, am Beispiel eines Kommentarforums – und schließlich noch weiter eingegrenzt am Fall einer thematischen Sequenz aus diesem Forum – für jede der drei Achsen jeweils einen Aspekt zu skizzieren, der für die entwickelte Fragestellung relevant sein könnte. Bei dem Beispiel handelt es sich um das Kommentarforum eines Artikels eines der bedeutendsten, redaktionell selbstständigen deutschen Online-Medien: SPIEGEL ONLINE. Der Artikel stammt aus dem exemplarischen Korpus zum Diskurs über Ostdeutsch/Westdeutsch und ist am 22.07.2015 unter dem Titel »25 Jahre Deutsche Einheit: Kinder, Autos, Religion – der Ost-West-Vergleich« erschienen.14 Thema war eine damals aktuell erschienene Metastudie des »Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung«. Referiert werden, in knappen Absätzen und teilweise ergänzt um Infografiken, die aus Sicht des Journalisten wesentlichen Befunde zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland im Jahr 2015. Das Kommentarforum umfasst 274 Posts aus fünf Tagen ab Erscheinen des Artikels (22.07.-27.07.2015). 14 | w w w.spiegel.de/politik/deut schland/wieder vereinigung-so-haben-sich-os ten-und-westen-veraendert-a-1044749.html (letzter Abruf 8.6.2016).
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4.1 Interaktionalität Die große Bedeutung der lokalen Interaktionalität für das, was in den Kommentarforen öffentlich verhandelt wird, war weiter oben unter anderem am Fehlen aller regulierenden und strukturierenden Instrumente (redaktionelle Steuerung, Moderation mit Einfluss auf die Vergabe von Äußerungsrechten und Aufgaben der Themenentwicklung und Steuerung usw.) festgemacht worden. Daraus abgeleitet war angenommen worden, dass die Foren von einem strukturellen Mangel an thematischer Kohärenz geprägt sind und ein thematisches Ausfransen zu beobachten sein wird, wie es für die TOR beziehungsweise eben für Äußerungen unter den Bedingungen von Encounter-Öffentlichkeiten typisch ist. Zwar weist im Falle des hier gewählten Beispiels bereits der redaktionelle Text als professionell-journalistischer Impulsgeber eine recht große thematische Bandbreite auf, indem er die verschiedenen referierten Aspekte (Geburtenrate, Religionspraxis, Rauschmittelgenuss usw.) mehr oder minder unverbunden nebeneinander stellt und in keiner Weise zueinander in Verbindung setzt. Dennoch wird auch dieses weite Spektrum im Kommentarforum tatsächlich noch massiv ausgeweitet und es werden beispielsweise auch solche Themen hier intensiv verhandelt, die aufgrund der teilweise deutlich früheren Datenerhebung weder in der Studie noch im Artikel eine Rolle gespielt haben können, aber von großer unmittelbarer Aktualität waren: Der Umgang mit der großen Zahl an Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, etwa oder die parallel erstarkende sogenannte PEGIDA-Bewegung mit ihrem Schwerpunkt in Ostdeutschland. Für unser Interesse relevant sind jedoch weniger solche eher abstrakten Inventarisierungen von Sektoren, 15 die in den Foren berührt werden, sondern die Art und Weise, wie es zu solchen Ausfransungen im sequentiellen Verlauf der Forenentstehung konkret kommt. Hier nämlich zeigt sich erst, dass es tatsächlich nicht in erster Linie so ist, dass die einzelnen Beiträger die Foren im Sinne eines digitalen Gästebuchs nutzen, um gewissermaßen auf eine neue »leere Seite« ihren Kommentar zur Sache (oder zum Impulstext) abzugeben, sondern dass dort häufig (jedoch nicht immer) teilweise mehrschrittige Interaktionsverläufe zustande kommen, aus denen sich die schnelle thematische Öffnung ergibt. Dies kann an einer kleinen Teilsequenz verdeutlicht werden, deren Ausgangspunkt ein Post ist, der unmittelbar auf die folgenden Sätze Bezug nimmt, 15 | Unter »Sektoren« sind mit Roth 2015 subthematische Bereiche eines Diskursthemas zu verstehen, die in Realisationen einer Interaktion über dieses Thema von den Interaktanten berührt werden können (aber nicht müssen). Ihre Auftretenswahrscheinlichkeit ist aufgrund unterschiedlich hoher pragmatischer Hürden sehr verschieden und lässt sich als Ergebnis empirischer Korpusanalyse, auch im Zusammenspiel mit anderen Sektoren, systematisch »kartieren« (vgl. Roth 2015: 179-245).
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die im SPIEGEL ONLINE-Artikel im Absatz mit der Zwischenüberschrift »Wohlhabend im Westen« zu finden sind: Grundsätzlich boomen viele Regionen im Westen, während der Wohlstand in der früheren DDR kaum wächst. Deutlich zeigt sich dies etwa an der Verteilung teurer Autos: Die Marke Skoda ist im Osten beliebt, BMW-Modelle rollen vor allem durch die alten Bundesländer.
Die folgende Übersicht zeigt sämtliche direkt oder indirekt auf diese Passage bezogenen Beiträge aus dem Forum in der sequentiellen Reihe ihres zeitlichen Erscheinens (das heißt auch in der Reihenfolge, in der sie graphisch als Gesamttext erscheinen, wenn ein Rezipient das Forum als Ganzes liest). Die Beiträge sind dabei nicht gekürzt, womit ersichtlich wird, dass es tatsächlich der zitierte Randaspekt aus dem Artikel ist, der auf diese Weise ein komplexes Eigenleben erhält: Beispiel Skoda vs. BMW:16 11. BMW versus Skoda Kuhndi 22.07.2015 Dass in den alten Bundesländern mehr BMW gefahren werden im Vergleich zu den neuen Bundesländer, und daraus abzuleiten wie der Reichtum verteilt ist, das finde ich gelinde gesagt dumm. Ich bin Schweizer und würde hier niemals BMW fahren, das sind vor allem Türken und Leute aus dem Balkan, die niedrige Einkommen haben, billige Wohnungen mieten und zur Stärkung des Ego einen BMW fahren, selbstverständlich nicht bezahlt sondern geleast. Und in DE sind alle bezahlt??? 16. Liebe Eidgenosse, Central Park 22.07.2015 bei uns gibt es TÜV-Untersuchungen und scharfe Abgas-Grenzen. Die BMW der Türken und Balkan-Bewohner, die bei Ihnen durch die Schweiz fahren, sind die Altautos, die bei uns ausgesondert wurden. Die meisten BMW in Deutschland sind auch nicht bezahlt, sondern Firmenwagen mit Privatnutzung.
16 | Die Foren-Beiträge werden im Original, das heißt ohne grammatische oder orthographische Korrekturen zitiert. Die Einrückungen zeigen die gestuften Ebenen der inhaltlichen Bezüge an (wobei links jeweils der Bezugs-Post und rechts der beziehende Post steht). Die Nummerierung ist dem Forum selbst entnommen, wo sie vom System automatisch vor einem eventuell vom User vergebenen »Betreff« angezeigt wird. Steht ein Pfeil vor der Zahl, wurde im Forum der jeweilige übergeordnete Bezugstext als direktes Zitat angezeigt.
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Steffen Papper t und Kersten Sven Roth 31. assiwichtel 22.07.2015 Na dann bringen Sie Ihr Auto mal hier zur MFK, die haben sich bei meinem trotz bestehendem TÜV ganz schön angestellt!! 45. Amadís 22.07.2015 Nee, der @kuhndi hat schon nicht ganz Unrecht. Gerade die 3er BMW sind bei bestimmten Bevölkerunggruppen sehr beliebt. Wenn ein BMW mit jaulendem Motor über die Straße heizt, da kann ich mir sicher sein: Der Fahrer hat garantiert ausländische Wurzeln. Und selbst bezahlt ist der garantiert auch nicht, da hat die ganze Verwandschaft Geld zusammengelegt. 25. BMW versus Skoda yedi 22.07.2015 Das mag aus ihrer Schweizer Sicht heraus dumm erscheinen. In Starnberg aber zB, eine der reichsten Gegenden (wenn nicht die reichste) Deutschlands, ist gefühlt jedes dritte Auto ein BMW der Oberklasse. Und garantiert bezahlt. BMW genießt – soweit ich weiß zumindest in Bayern – durchaus einen guten Ruf und es ist keineswegs so, wie Sie es für die Schweiz darstellen. 75. Hahaha BMW ein-berliner 22.07.2015 BMW und Oberklasse ? Da hat der Schweizer schon Recht, Oberklasse beginnt bei den üblichen Ferraris. Wie gesagt – beginnt – als Zweitwagen. 88. Mal ganz ohne Witz: distel61 22.07.2015 Ferraris sind qualitativ oftmals eher so lala. Viel schöner Schein. Das wissen nur so wenige, weil die Dinger so teuer sind, dass sie kaum jemand fährt und die, die es doch tun, geben es meist nur ungerne zu. Außerdem hat man sehr häufig wechselnde Händler, weil die häufig pleite sind. Alles in allem verursacht Ferrarifahren eine Menge Stress und am besten kauft man gleich einen zweiten Ferrari als Ersatzwagen dazu, wenn man es trotz allem tun möchte. Für mich hat sich das Thema jedenfalls erledigt. Wenn Sportwagen, dann Porsche. Von mir aus auch Lambo, aber kein Ferrari.
Diskurspragmatische Perspektiven auf neue Öffentlichkeiten in Webforen 53. rational_bleiben 22.07.2015 Ich finde es, gelinde gesagt, dumm, von BMW-fahrenden Balkan-Proleten auf die Verteilung der sozioökonomischen Stellung der BMW-Fahrer im alten Bundesgebiet zu schließen. Ich bin vom Balkan – und mein VW ist so alt, dass ich auch eine sexuelle Beziehung mit ihm eingehen dürfte (wenn ich denn wollte). Es horten ja auch nicht alle Schweizer ’ne halbe Million auf’m Konto. 91. distel61 22.07.2015 Ich glaube, Einwanderer bzw. deren Nachfahren aus der Türkei oder aus Ex-Jugoslawien haben, allen Unkenrufen zum Trotz, in Deutschland mittlerweile einen recht guten Ruf. Jedenfalls würde ich das für Baden-Württemberg so sehen. Und leider muss ich sagen, dass ein Freund von mir, in Deutschland aufgewachsen, mit jugoslawischen Wurzeln übel aus der Schweiz rausgeekelt wurde. Und das scheint seinen Recherchen zu folge kein Einzelfall gewesen zu sein. Von daher frage ich mich schon, wer hier in der Oberklasse spielt und wer nicht!? 108. sojetztja 22.07.2015 >An der Verteilung teurer Automarken zeigt sich die geografisch ungleiche Verteilung des Vermögens in Deutschland< Gewagte These, wenn man bedenkt, dass in z.B. der Region Stuttgart massig fette Autos mit dem Stern rumfahren. Die Besitzer sind aber keineswegs zwangsläufig reich – sondern stehen oft beim ortsansässigen Daimler am Band und kommen deswegen günstig an einen Jahreswagen ran. Die Autos taugen folglich nicht als Indikator (auch wenn im Fall Stuttgart unterm Strich natürlich stimmt, dass es eine florierende Region ist) 125. _derhenne 22.07.2015 Ähhm, wer »beim Daimler« am Band steht und Tariflohn kassiert, der geht hier in Ostdeutschland dicke als »reich« durch! Da sehen Sie wie unterschiedlich die Vorstellungen von Reichtum und Vermögen in den beiden Teilen Deutschlands sind
Das Beispiel lässt die Konsequenz von lokaler Interaktionalität als einzigen Mechanismus der diskursiven (und hier zunächst der diskursthematischen) Steuerung in zumindest dreifacher Weise erkennen: 1. Diskursthematische Grenzen sind in den Foren analog zu den traditionellen Interaktionsformen der Encounter-Öffentlichkeiten nicht gegeben. Die Sektorenwechsel bis hin zur Verhandlung der Frage, von welcher substanziellen Qualität Ferrari-Modelle sind (Beitrag 88), erfolgt in wenigen interaktionalen Zwischenschritten und ohne jeglichen Begründungs- (von Seiten des Beiträgers selbst) oder Akzeptanz- (von Seiten der anderen Foristen) Aufwands. 2. Die kollektive Konstitution des thematischen Feldes, das die Artikel bearbeiten, ist selbst in einer im Forum insgesamt eher randständigen Sequenz von verhältnismäßig geringem Umfang durchaus komplex und umfasst immerhin bis zu drei Bezugs-
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ebenen. Sowohl im Rahmen traditioneller Versammlungs- als auch klassischer massenmedialer Öffentlichkeiten würde eine solche Komplexität, etwa durch Moderation oder durch redaktionelle Zuschnitte, entweder verhindert oder zu einer neuen Grundlage der gemeinsamen weiteren Interaktion geordnet. Dies fehlt hier. 3. Der Impulstext hat durchaus eine nachweisbare diskursthematische Bindungskraft für das Geschehen im Forum, die jedoch sehr schwach ist. Sie scheint sich aus der Sicht der Beiträger selbst als eher optional darzustellen: Ein Bezug auf die Aussagen des Impulstexts ist dort, wo explizite (z.B. durch graphisch dargestelltes Zitieren) Bezüge auf andere Foren-Beiträge vorliegen, obsolet. Andererseits ist zu jedem beliebigen Punkt im sequentiellen Verlauf des Forums auch ein nicht begründungspflichtiger unmittelbarer Bezug auf den Impulstext möglich (wie hier im Beitrag 108). Der Beiträger ignoriert hier – sei es absichtlich oder weil er den Vorlauf im Forum gar nicht gelesen hat – sämtliche vorangegangenen Posts dieses subthematischen Strangs vollständig, was – etwa durch den reaktiven Beitrag 125 – auch nicht reklamiert wird. Einige dieser Eigenschaften der Interaktionalität in den Foren werden in der graphischen Darstellung der Beiträge im Sequenzverlauf unmittelbar erkennbar: Abbildung 1: Interaktionalität der Forenbeiträge im Sequenzverlauf
4.2 Trialogizität Mehrere der interaktional aufeinander bezogenen Beiträge weisen auf der sprachlichen Oberfläche explizit Dialogizitätsmarker auf, etwa die in vielen Posts verwendete Anredeform »Sie«. Diese suggeriert eine direkte Ansprache des Autors desjenigen Beitrags, auf den man sich bezieht und simuliert damit den Austausch einer Face-to-Face-Interaktion. Will man demgegenüber den Niederschlag des grundsätzlich zu unterstellenden Bewusstseins von der all-
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gemeinen, nicht kontrollierbaren Zugänglichkeit der Äußerung in den Daten nachweisen, erweist sich dies allein anhand eines einzelnen Beispiels als eher schwierig. Schließlich müssten dafür in den Daten selbst Hinweise ermittelt werden, was vermutlich erst auf der Ebene transtextueller Muster sinnvoll wird. Eine mögliche Spur wären jedoch die auch in dieser Sequenz deutlich nachweisbaren Versuche verschiedener Beiträger, mit der Interaktionsmodalität zu spielen, vor allen Dingen humorige Äußerungen zu produzieren, teilweise gar mit kabarettistischen Beiträgen en miniature für Aufmerksamkeit und Zustimmung zu sorgen. Als solche kann unter Umständen der gesamte Beitrag 88 (bezeichnenderweise überschrieben mit »Mal ganz ohne Witz«) gelesen werden, was hier aber These bleiben muss, da eine unmittelbare Reaktion ausbleibt, die direkte und indirekte Verstehensdokumentation zugänglich machen würde. Eindeutig in diesem Sinne zu lesen ist beispielsweise die Formulierung »mein VW ist so alt, dass ich auch eine sexuelle Beziehung mit ihm eingehen dürfte (wenn denn wollte)«. Solche offenkundig kalkulierten Erwartungsbrüche zur Steigerung der Attraktivität des eigenen Beitrags (und eventuell auch des in ihm steckenden Widerspruchspotenzials) könnten durchaus Versuche zur aktiven Adressierung der mitlesenden Dritten sein. Nachzuweisen wäre dies, wie gesagt, nur in systematischen Korpusanalysen.
4.3 Kommunikative Verantwortlichkeit In der zuletzt angesprochenen Möglichkeit zur trialogischen Profilierung innerhalb der Foren könnte natürlich nicht zuletzt auch ein potenzielles Motiv für User stecken, das weitgehende Fehlen von kommunikativer Verantwortlichkeit in der Forenkommunikation auszunutzen. Wenn schon im Rahmen massenmedialer Realisationen, die wir auf dieser Achse ja relational in der Mitte angesiedelt hatten, Provokation eines der am meisten naheliegenden Mittel zur Sicherung von Aufmerksamkeit ist, so gilt dies für die Forenkommunikation umso mehr. Provokation wiederum kann im Wesentlichen auf zwei Weisen erfolgen: Entweder durch das Betreten eines auf der massenmedialen Ebene tabuisierten (oder von Teilen der Kommunikationsgemeinschaft als tabuisiert empfundenen) diskursthematischen Sektors oder der Realisation einer entsprechenden Aussage unter Verzicht auf distanzierende oder anderweitig absichernde sprachliche Mittel oder aber durch direkte Angriffe auf das persönliche Face konkreter Personen. Gerade hierin, in der ›Sagbarkeit‹ solcher Äußerungen mit Blick auf die kommunikativen Konsequenzen liegt ja aufgrund der erwähnten Strukturunterschiede der vielleicht entscheidendste Unterschied zwischen TOR auf der Ebene der Encounter-Öffentlichkeit und MMR in den Massenmedien. Für die spezielle Sprecherattitüde, die auf der oft expliziten Inanspruchnahme des für Face-to-Face-Gespräche typischen Rechts auf unbedingt freies Sprechen basiert, gibt es alltagssprachliche Konzepte und
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Begriffe wie das des Stammtischs, die sich in ihrer Komplexität linguistisch betrachtet am ehesten als Interaktionsmodalität beschreiben lassen (vgl. Roth 2017). Es wird eine wesentliche Aufgabe des anvisierten Projekts sein, die Übersetzung und Neukonstitution dieser Modalität in den Kommentarforen systematisch zu erfassen und zu beschreiben. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auch den typischen Eskalationsstrukturen gelten müssen, die diese Kommunikationsform regelmäßig und – was entscheidend ist – ganz themenunabhängig mit sich bringt. So weist die hier zitierte thematische Sequenz zwar ein eher geringes Maß an Ausnutzung der mangelnden kommunikativen Verantwortlichkeit auf, entscheidend ist aber, dass sich provokative Keime, aus denen sich zum Beispiel in einem längeren sequentiellen Verlauf solche Eskalationen ergeben können, auf verschiedenen sprachlichen Ebenen doch auch hier bereits zahlreich vorhanden sind. Dies beginnt mit der klar kontrastiven Kategorientrennung zwischen »Schweizern« und »Türken und Leuten aus dem Balkan, die niedrige Einkommen haben« schon im ersten Post (11). In ihr steckt (in welchem Maß auch immer kalkuliert) eine ethnische Argumentation (oder die Möglichkeit zur entsprechenden Lesart) mit großem Potenzial zur Eskalation, das sich in der Sequenz zwar nicht vollständig entfaltet, aber sich doch immerhin andeutet: Der Post 91 greift die rassistische Lesart des ersten Posts explizit auf und weist nun wiederum der kategorialen Selbstidentifikation von dessen Autor (»Ich bin Schweizer …«) einen abgewerteten Status zu (»… frage mich schon, wer hier in der Oberklasse spielt und wer nicht!?«). Auch in kleineren lexikalischen Einheiten wie dem »gelinde gesagt dumm«, das der Eingangspost 11 noch auf den redaktionellen Artikel bezieht, Post 53 aber später wiederum auf dessen Autor selbst bezieht, zeigen sich solche Provokationskeime. Auch das Mündlichkeit emulierende Signal völligen Unverständnisses Ähhhm, mit dem in Beitrag 125 gleich eingangs markiert wird, für wie grundsätzlich unhaltbar der Inhalt der vorangegangenen Realisationen gehalten wird, lässt sich in diese Richtung lesen.
5. A usblick Die vorliegenden Modellierungen von Öffentlichkeit und theoretischen Differenzierungen verschiedener Öffentlichkeiten scheinen als Grundlage für die linguistische Analyse neuer digitaler Kommunikationsformen wie den Kommentarforen, die wir eingehender untersuchen wollen, vielversprechend. Der Theorierahmen, den sie konstituieren, bedarf für die Zwecke empirischer linguistischer Forschung jedoch einer Operationalisierung, die auf die Ebene konkreter pragmatischer Realisationsbedingungen führt. Wir haben dafür in diesem Beitrag und an anderer Stelle (vgl. Pappert/Roth 2016) ein heuristisches
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Modell vorgeschlagen, das aus den drei Bedingungsachsen der lokalen Interaktionalität, der Trialogizität und der kommunikativen Verantwortlichkeit besteht, auf denen Foren-Realisationen relational zu den teilnahmeorientierten (TOR) und den massenmedialen (MMR) charakterisiert werden können. Die beschränkte Anwendung auf ein begrenztes Beispiel zeigt, dass ein solches Vorgehen zielführend sein könnte. Zu bewähren hat es sich aber freilich im Rahmen systematischer Korpusanalysen.
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Medien, Wahrnehmung, Öffentlichkeit Wahrnehmungs-Gemeinschaften und deren Interaktion als Gegenstand der Medienlinguistik 1 Gerd Antos Media offerings have always been focal points for communities, in which communication processes are received, discussed, criticized and evaluated, engendering a communal reflective communication. Designations such as fan, follower, observer, reviewer or audience serve to pick out certain groups within these perception-communities, that is communities that share a certain awareness and perception of their world. In this article I will show the role played in the beginning by awareness-communities in religious and literary communication and how a journalistic public sphere evolved with the advent of the press. The advent of mass media, particularly social networks, fundamentally changes the form and function of these awareness-communities. At the same time, the latter’s influence on media, their offerings, but also on public awareness has increased considerably. In this article I will discuss three very different awareness-communities within and outside of social media, which are about to become focal points and fora for an »alternative public sphere«: With the help of »Easy (German) language«, a self help group gained a greater visibility. Latent »commotion-communities« become visible through »mob« networking effects. Access to big data metadata and their instrumentalization creates a completely new, mostly invisible form of alternative (counter-)public sphere, whose power may greatly reduce the impact of the media public sphere. Keywords: Social media, perception, awareness-community, audience/fan-community, alternative public sphere
1 | Für Anmerkungen und Kritik danke ich Stefan Hauser (Zug, Schweiz), Anne Großheim (Halle), Mark Dang-Anh (IdS, Mannheim), Matthias Meiler (Chemnitz) und Eva L. Wyss (Koblenz).
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Gerd Antos
1. P roblemstellung Medienangebote können nicht nur Kommunikationsprozesse auslösen, sondern auch Gemeinschaften konstituieren und stabilisieren. Darauf beruht offenbar nicht unwesentlich die Faszination von sozialen Netzwerken. Wenn computervermittelte Medienangebote (Blogs, Tweets, SMS, Mails etc. bis hin zu ganzen Texten, Videos, Filmen oder Musikstücken) gepostet und dadurch mit anderen »geteilt werden«, verändern sich dadurch sowohl individuelle wie kollektive Wahrnehmungsprozesse ebenso wie Formen der Gemeinschaftsbildung2 bis hin zur Konstitution digitaler Öffentlichkeit(en). In den Medienwissenschaften ist medial-induzierte Öffentlichkeit(sbildung) inzwischen zu einem Gegenstand der Forschung geworden (Adolf 2015, Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015a/2015b). Eine zentrale Fragestellung: Löst die computervermittelte Komunikation tradierte Konzepte von Öffentlichkeit auf und/oder ersetzen insbesondere soziale Medien sie schrittweise durch andere Formen der Gemeinschaftlichkeit? Eine sich dabei abzeichendne Antwort: Das Internet mitsamt seinen Formen computervermittelter Kommunikation hat zu einer Fragmentierung der Öffentlichkeit geführt. Als Tatsache ist dies unumstritten, über die Folgen der digitalen Teil- bzw. Nischenöffentlichkeiten etwa für die gesellschaftliche Integration herrscht dagegen Uneinigkeit. Die Frage, ob solche ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ sozialer Netzwerke zur Atomisierung des Publikum führen, wird derzeit unterschiedlich beantwortet. (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015a)
In der Medienlinguistik gibt es u.a. im Kontext von Forschungen zu »Sehflächen« (Schmitz 2011) und zu »öffentlichen Räumen« (Pappert/Michel 2018) Ansätze zu einer »Linguistik der Wahrnehmung«.3 Kaum ins Blickfeld gekommen sind aber unterschiedliche strukturierte Wahrnehmungs-Gemeinschaften von bestimmten Medien (Bücher, Theater, Radio, TV, Smartphone, PC) und Medienangeboten. Typisch für sie sind so genannte Fans, Follower oder ein Publikum, das zu den Medienangeboten in einer besonderen Beziehung steht. Über die Rezeption und Interpretation von Medienangeboten hi2 | Dabei lehne ich mich an Max Weber an: »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« (Weber 1922: § 9). Wie Medienkommunikation und der damit einhergehende Medienwandel in modernen Medien zu »translokalen Vergemeinschaften« führen kann, wird in Hepp (2009) näher ausgeführt. 3 | Vgl. Schmitz (2011), sowie mit Blick auf das Verhältnis von Linguistik und Öffentlichkeit (Antos 1996, Antos/Missal 2017, Bock/Antos 2018, Cuonz 2014) und Antos/Niehr/ Spitzmüller (2019).
Medien, Wahrnehmung, Öffentlichkeit
naus können diese Gruppen zum Kristallisationspunkt für die Bildung von temporären, translokalen aber auch von mehr oder weniger »festen Wahrnehmungs-Gemeinschaften« werden.4 Hinzutreten können externe Beobachter dieser Medienangeboten (SozialwissenschaftlerInnen, JournalistInnen, PublizistInnen, heute auch NGOs). Sowohl Publikum als auch externe Beobachter verfolgen, thematisieren und bewerten in medialen Communitys u.a. den Umfang, die Relevanz, die Resonanz oder die Wirkung von Medienangeboten ebenso wie die (Entwicklung der) damit befassten Kommunikations- bzw. Medien-Akteure. Solche auf eine bestimmte Agenda hin fokussierten Wahrnehmungs-Gemeinschaften machen Kommunikationsvorgänge dadurch nicht nur (weiter) bekannt und mitunter »popular«, sondern können darüber hinaus auch Einfluss auf die »Öffentlichkeit« nehmen oder selber zu einer (Teil-)Öffentlichkeit werden.5 Im folgenden Artikel soll das Verhältnis von Medien, Wahrnehmung in »kommunikativen Räumen« (Pappert/Michel 2018) und ihr Einfluss auf die Bildung von Öffentlichkeit(en) behandelt werden. Konkret geht es um die gemeinschaftsbildende Funktion von Medienangeboten, die Bildung von Wahrnehmungs-Gemeinschaften durch Kommunikation, besonders um solche in so genannten sozialen Netzwerken bzw. Medien, sowie um deren Auswirkung auf die Öffentlichkeit6 bis hin zur Bildung von alternativen oder (Gegen-) Öffentlichkeit(en). Der Artikel analysiert drei sehr unterschiedliche Wahrnehmungs-Gemeinschaften in und außerhalb von sozialen Netzwerken, die dabei sind, zu Kristallisationspunkten und Foren für »alternative Öffentlichkeit« zu werden: i) Mit »Leichter Sprache« macht sich eine wichtige Selbsthilfegruppe, nämlich Menschen mit Behinderung, sowohl nach innen wie nach außen besser und 4 | Matthias Meiler hat zu Recht darauf verwiesen, dass solche Wahrnehmungs-Gemeinschaften auch »Praxis-Gemeinschaften« sind oder sein können. Offen bleibt aber die Frage nach dem Verhältnis beider. 5 | Paradigma dafür wäre z.B. die Wikipedia-Wahrnehmungs-Gemeinschaft, vgl. Gredel (2017). 6 | Zur Problematik dieser Begriffe im begrifflichen Umfeld von »Netzwerköffentlichkeiten« vgl. Adolf (2015). In diesem Artikel soll allerdings nicht der weitere Begriff einer sozialen »vergemeinschaftungsorientierten« Öffentlichkeit von einem im engeren Sinne politisch »debattenorientierten« Öffentlichkeitsbegriff unterschieden werden (vgl. Adolf 2015: 60). Ein Grund dafür: Medienvermittelte Kommunikation lässt sich heute kaum mehr von öffentlicher Kommunikation unterscheiden. Alternativ dazu könnte überlegt werden, ob und wie man in der digitalen Ära den Öffentlichkeitsbegriff stärker an die Erzeugung und Verbreitung von (temporären) Relevanzstrukturen koppelt, die durch kommunikative Prozesse gesteuert werden, aber deren Echos im Web nach kurzfristigen »Hypes« auch wieder abklingen können.
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wirkungsvoller wahrnehmbar. ii) (Latente) Erregungsgemeinschaften7 werden insbesondere durch den medialen Shitstorm-»Mob« (früher: »Pöbel«) sichtbar. iii) Der Zugang zu Big-Data-Metadaten und deren Instrumentalisierung schafft schließlich eine ganz neue, weitgehend unsichtbare Form von alternativer (Gegen-)Öffentlichkeit, deren Macht womöglich ausreicht, den Einfluss tradierter journalitischer Öffentlichkeit faktisch abzuschaffen oder ihn grundlegend zu verändern.
2. H istorische W ahrnehmungs -G emeinschaf ten Einflussreiche Wahrnehmungs-Gemeinschaften im europäisch geprägten Kulturraum entstanden in allen vorreformatorischen Kirchen mit den so genannten ›Laien‹, deren Blick sich auf die Kleriker und auf die von ihnen präsentierten Vorgänge richtete. Neben und nach religiösen WahrnehmungsGemeinschaften waren seit dem Mittelalter Dichtung und Literatur, aber auch unterschiedliche Rechtssysteme8 Kristallisationspunkte für WahrnehmungsGemeinschaften. Gefördert durch den Buchdruck, die Reformation/Gegenreformation9 und die Renaissance entwickelten sich ab dem 17. Jahrhundert neue Wahrnehmungs-Gemeinschaften, anknüpfend an die deutschsprachige Aufklärung und Literatur, die sich durch eine (groß-)bürgerliche Brief- und Salonkultur miteinander vernetzten (Linke 1996). Drei Wahrnehmungs-Gemeinschaften im 18. und 19. Jahrhundert haben die Bildung von Foren und Formen überregionaler Öffentlichkeit besonders maßgeblich mitbeeinflusst: • Enzyklopädisten (1751-1765): In 17 Textbänden mit 71.818 Artikeln auf rund 18.000 Seiten versuchten 144 Beiträger aus allen Schichten, das damalige wissenschaftliche und künstlerische Wissen10 angemessen wahrzunehmen, zu bewerten und es kompetent nach bestimmten Kriterien zusam7 | Archetypisch dafür sind kurzlebig agierende Gemeinschaften, die aufgrund von Gerüchten, von »Hetze« oder von spektakulären Ankündigungen oder Ereignissen (z.B. spontane »Aufläufe«, Flash-Mobs oder Demonstrationen, sich spontan einer Einkaufsschlange anschließen, ohne – wie z.B. in der DDR – oftmals genau zu wissen, warum sich diese Schlange überhaupt gebildet hat). 8 | Vgl. den »Sachsenspiegel« als ein Forum des mündlich-germanischen Rechts versus dem in den Kanzleien herrschenden Römischen Recht und seine Durchsetzung durch Landesfürsten seit dem 15. Jahrhundert. 9 | Eine besondere Rolle spielten dabei offenbar Flugblätter, vgl. Klug (2012). 10 | Vgl. dazu die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.
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menzufassen. Hervorzuheben sind die vielen Beschreibungen von Berufen, die einen überblicksartigen Eindruck von der damaligen Arbeitsteilung in Europa vermittelten. Die Enzyklopädisten schufen mit der Encyclopédie so einen Kristallisationspunkt für eine überregional-europäische Öffentlichkeitsbildung, die nicht unwesentlich das im 19. Jahrhundert maßgebliche »Bildungsbürgertum« mit begründete. • Bildungsbürgertum und Publizistik: Ausgehend von Sprach- und Literaturgesellschaften im 17. Jahrhundert11 entwickelte sich im Laufe des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (Johann Christoph Gottsched, Heinrich Heine, Georg Gottfried Gervinus) eine national gesinnte Wahrnehmungs-Gemeinschaft, die durch Beobachtung, Bewertung und Verbreitung von Literatur nicht zuletzt die Publizistik mitbeförderte. Voraussetzung für diese erste Form der Öffentlichkeit war eine Standardisierung der deutschen Sprache.12 • Schulbildung und nationale Identität: Mit der Schulpflicht entstanden in den verschiedenen Kulturen national gesinnte Wahrnehmungs-Gemeinschaften. Ihre zunächst selbstbestimmte Aufgabe bestand seit der Renaissance darin, an die Antike anknüpfend deren Literatur- und Wissenskanon für die Neuzeit nutzbar zu machen. Daraus entstand seit dem frühen 17. Jahrhundert die Beobachtung, Bewertung und tradierende Verbreitung des historischen und nationalen Schrifttums Europas. Unter dem Einfluss des Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelten sich neue Wahrnehmungs- und Kommunikations-Gemeinschaften, die Einfluss auf Literatur, Publizistik, Politik und auf eine sich zunehmend ideologisierende Öffentlichkeit nahmen.
3. S pr achliche W ahrnehmungs -G emeinschaf ten Eine besondere Rolle bei der Herausbildung von Wahrnehmungs-Gemeinschaften spielten Konfessionen (z.B. durch die Übernahme oder Ablehnung des Luther-Deutsch) und die Entstehung von (National-)Sprachen und sich darin entwickelnde Stile sowie deren Beobachtung und Kommentierung durch Gelehrte. Diese trieben einerseits Standardisierungstendenzen etwa des Deut-
11 | Die bekanntesten deutschen Sprachgesellschaften waren: Fruchtbringende Gesellschaft (1617), Deutschgesinnte Genossenschaft, (1643), Pegnesischer Blumenorden (1644), Elbschwanenorden (1660), vgl. Gardt (1994). 12 | »Öffentlichkeit in dem Sinne, dass möglichst viele Menschen sich untereinander über ›öffentlich relevante Themen‹ verständigen können, ist nur dann zu erreichen, wenn diese Menschen auch die gleiche Sprache sprechen« (Schiewe 2004, 99).
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schen voran (Justus-Georgius Schottelius).13 Andererseits kamen durch diese Beobachter zunehmend bislang kaum beachtete (Fach- und Sonder-)Sprachen und Sprachstile ins Blickfeld und damit zugleich die mit ihnen verbundenen sozialen Gruppen. Die gemeinschaftsbildende Funktion von Sprachen/Stilen spiegelt sich u.a. in (sprach-)wissenschaftlichen Bezeichnungen wie Kaufmannssprache, Wissenschaftssprache, Jugendsprache, Jägersprache, Juristensprache, Gaunersprache, pastoraler Stil oder Behörden-Jargon etc. Wer die heutige mediale Kommunikation in und zwischen Foren sozialer Netzwerke berücksichtigt, für den ist die gruppenbildende Funktion von Interaktionsgemeinschaften ebenso wenig überraschend, wie die Rolle, die Wahrnehmungs-Gemeinschaften in sozialen Netzwerken spielen. Fans, Follower oder ein bestimmtes Publikum können in ihrer Eigenschaft als Community Einfluss auf die Rezeption und Interpretation von Medienangeboten gewinnen. Durch Formen von Anschlusskommunikation, aber auch durch die Verwendung von spezifischen Stilen, Registern und/oder durch (Sonderund Fach-)Sprachen können diese Communitys zusätzlich sprachlich sichtbar gemacht und sozial konturiert werden. Dies ist besonders vorteilhaft, wenn sie sich gegen konkurrierende Wahrnehmungs-Gemeinschaften in einer Gesellschaft durchzusetzen versuchen. Mitunter steigt damit auch der Versuch, so etwas wie eine sprachliche, kulturelle oder politische »Öffentlichkeit« oder »Gegenöffentlichkeit« herzustellen und damit als ›Öffentlichkeit‹ womöglich sogar ideologisch motivierten Einfluss auf weitere Medienangebote und deren Rezeption oder auf eine ganze Gesellschaft zu gewinnen.14 Beispiele für aktuelle Kontroversen zwischen Wahrnehmungs-Gemeinschaften sind mit Blick auf den Sprachgebrauch z.B. die Anglizismen-Diskussion (Spitzmüller 2005, 2019), Kontroversen um einen geschlechtergerechten sowie minderheitenachtsamen Sprachgebrauch (z.B. ›Leichte Sprache‹), aber auch um die Deutungshoheit von Wahrnehmungs-Gemeinschaften über die
13 | Dass die individuelle wie kollektive Wahrnehmung der eigenen Sprache und des Sprachgebrauchs ein zentraler Kristallisationspunkt für die Identitätsbildung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist, zeigt der dazu einschlägige Artikel von Gardt (1998), in dem der Bogen bis in die Gegenwart geschlagen wird. 14 | In bestimmten sozialen Systemen stehen sich mitunter unterschiedliche Wahrnehmungs-Gemeinschaften gegenüber, im Rechtssystem die Fachwelt der Juristen auf der einen Seite und Laien auf der anderen Seite, vgl. Eichhoff-Cyrus/Antos (2008), Antos/Missal (2017). Verallgemeinert man dies, so lässt sich auch die Entstehung nationaler Identität in den hier diskutierten Zusammenhang rücken, vgl. dazu Gardt (2004). Die Wahrnehmung nationaler Wahrnehmungs-Gemeinschaften findet in den klassischen Massenmedien wie Presse, Radio und Fernsehen seine gemeinschaftsbildende Widerspiegelung.
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»richtige« Rechtschreibung oder über »politisch korrekten« Sprachgebrauch (Antos/Niehr/Spitzmüller 2019).
4. M ediale W ahrnehmungs -G emeinschaf ten Mit dem Aufkommen von Massenmedien Anfang des 20. Jahrhunderts (Film, Radio, Fernsehen und Videos)15 entstanden neue Wahrnehmungs-Gemeinschaften, die als Publikum sogar bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von journalistischen Medien und deren Agenda gewannen. Mit ihnen gewannen auch publizistische und wissenschaftliche Beobachter an Bedeutung, die z.B. als »Kritiker« Kommunikationsvorgänge kommentierten und bewerteten. Mit der Verbreitung des Internets und da vor allem: mit der Verbreitung sozialer Netzwerke wie Facebook, YouTube, Twitter oder Instagram entstanden ab ca. der Jahrtausendwende kaum mehr überschaubare Formen und Foren von fluiden und »granularen«16 Wahrnehmungs-Gemeinschaften. Dass soziale Netzwerke mit ihren Posts, Blogs oder Foren nicht nur eine allen Usern zugängliche, schnelle, offene, komfortable und entgrenzende Interaktion ermöglichen, sondern auch zur Entstehung von Interaktions-Gemeinschaften beitragen, ist inzwischen keine neue Erkenntnis mehr. Verbunden war dies anfänglich mit der »digitale(n) Utopie« (Firnkes 2015), wonach offene, einfache und transparente Kommunikation zu mehr sozialer Partizipation führe. Triebfeder dieser medialen Vernetzung sind neben dem wechselseitigen Austausch von Meinungen, Erfahrungen, Interessen, Informationen, Hobbys oder dem Wunsch nach gemeinsamen Spielen zunehmend Werbung, politische und sonstige Propaganda sowie die Präsentation von persönlichen oder organisatorischen Profilen. Angesichts der Entwicklung von sozialen 15 | Matthias Meiler (private Korrespondenz) hat dankenswerterweise zu Recht darauf hingewiesen, dass sich Gemeinschaftlichkeit aus dem praktischen Umgang mit dem semiotischen Material ergibt. »Sprache spielt hier keine ausschließliche, natürlich aber eine entscheidende Rolle« (ebd.). Das verstehende Wahrnehmen sprachlicher Kommunikation ist mithin an den praktischen Umgang mit dieser semiotischen und medialen Materialität gebunden. »Diese Materialität setzt Bedingungen (Möglichkeiten und Grenzen) für die Verständigungsprozesse. Ihre Konfiguration verändert sich historisch gesehen immer wieder umfänglich. Man denke an die wechselhafte Geschichte der (vor-)technischen Medien« (ebd.). 16 | Vgl. die interessanten Beobachtungen zum Phänomen der (vermeintlichen) Individualisierungen von Christoph Kucklick (2014). Dass Individualisierung als Massenphänomen von den sozialen Medien gefördert wird (und sich im Übrigen nicht ausschließen), zeigt, dass der Begriff der Masse in Big-Data-Gesellschaften neu definiert werden muss, dazu theoretisch mehr Reckwitz (2017).
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Netzwerken werden inzwischen aber Zweifel an diesen »digitalen Öffentlichkeiten« laut.17 Zum einen wird eine »Krise des Wir« (Lobo 2017) beklagt: »Die Krise des Wir hat viele Ursachen und bahnt sich seit Jahrzehnten an, schwindende Solidarität, Generationenkonflikte, fehlende Konzepte des Ausgleichs der Globalisierungseffekte von Migration bis Wohlstandsverteilung«. Statt die Welt zusammenzubringen, »haben soziale Medien, allen voran Facebook und Twitter, eher für Polarisierung gesorgt. Präziser: Soziale Medien haben eine zuvor seltener sichtbare Polarisierung offenbart. Polarisierung aber gehört zu den Phänomenen, die umso größer werden, je sichtbarer sie sind.« (Lobo 2017)18 Spätestens seit ins Blickfeld geraten ist, dass Online-Kommunikation auch zur Bildung von Wahrnehmungs-verweigernden-Gemeinschaften und zu Parallelwelten führen kann, wird über die Rolle und den Einfluss von sozialen Netzwerken auf die Bildung und Steuerung sozialer Gruppen19 diskutiert. Eine Position aus der journalistischen Netzwelt: Soziale Netzwerke seien »etwas völlig Neues, bisher nicht Existierendes, wofür ich einen Begriff vorschlagen möchte: soziale Infrastruktur« (Lobo 2018). Wie die öffentliche Sicherheit oder die Gesundheitsversorgung haben sich mit den sozialen Netzwerken infrastrukturelle Parallelwelten mit Ressourcen und Aufgaben herausgebildet, die die klassischen gesellschaftlichen Systeme (etwa im Sinne von Luhmann also Wirtschaft, Liebe, Erziehung, Wissenschaft, Recht usw.) ebenso durchdringen wie den Sozialstaat und seine Verwaltung. Dass diese »Kooperation« für beide Bereiche nicht immer unproblematisch und folgenlos ist, zeigt sich unter anderen an aktuellen Diskussionen über Datenschutz bzw. -mißbrauch. Dass inzwischen soziale Netzwerke aufgrund ihrer Geschäftsmodelle sowohl das Konzept von Wahrnehmungs-Gemeinschaften als auch von medialer Öffentlichkeit ansatzweise pervertiert haben, fasst z.B. Jaron Lanier, immerhin ein »Vordenker des Internets«, in einem 2018 erschienenen Buch zu der pro17 | »In diesem Zusammenhang erhalten Fragen nach der Macht der Medien eine neue und zunehmend ethisch relevante Bedeutung. Während man früher Medien als »Meinungsmacher« kritisierte, so muss man heute etwas breiter nach der Kontrollfunktion von Medien über unsere jeweilige soziale Wirklichkeit fragen. Allzu häufig wird das Netz als Ort der Freiheit und der politischen Partizipationsoptionen gesehen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die so wahrgenommenen Prozesse unter Umständen hochgradig selektiv und technisch gesteuert sind« (Dang-Anh/Einspänner/Thimm 2013: 75). 18 | www.spiegel.de/net z welt/web/soziale-medien-und-demokratie-twit ter-hattwitter-nicht-verstanden-kolumne-a-1177006.html [18.11.2017]. 19 | »Was nämlich bedeutet es für die Konstruktion sozialer Realität, wenn diese schon im Prozess der Wahrnehmung durch Filterprozesse gesteuert sind, die wir nicht dekodieren können? Was heißt es für unsere Meinungsbildung, wenn wir in einer meinungskonformen Umwelt nur noch bestätigende Informationen erhalten und das Widerständige außen vor bleibt?« (Dang-Anh/Einspänner/Thimm 2013: 75)
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grammatischen und so auch betitelten Forderung zusammen: »Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst«. Lanier diskutiert dabei das momentan »Undenkbare«, nämlich Gründe, warum man sich massenhaft aus den sozialen Netzwerken zurückziehen müsse, nicht zuletzt, um die ursprünglich angedachten Vorteile von sozialen Netzwerken erhalten zu können.20
5. S truk turwandel medialer Ö ffentlichkeit 5.1 Öffentlichkeit zwischen Machbarkeit und Selbstorganisation »›Öffentlichkeit‹ muß ›gemacht‹ werden, es ›gibt‹ sie nicht mehr« (Habermas 1971: 239). Diese Empfehlung, die zugleich als Diagnose für das Wechselverhältnis bei der Erzeugung von Diskursgemeinschaften und Öffentlichkeit zu verstehen ist, stammt nicht aus einer Beschreibung der Funktionsweise in sozialen Medien, sondern aus dem epochalen Buch »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1961) von Jürgen Habermas. Darin beschreibt Habermas ausgehend vom 19. Jahrhundert die Erzeugung und Transformation der bürgerlichen Öffentlichkeit durch die Publizistik und darin die Rolle der ›öffentlichen Meinung‹ als konstitutive Idee und Ideologie von sozialen Gruppen. Mit ›Öffentlichkeit‹ lässt sich in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften zunächst einmal jener gesellschaftliche Bereich bezeichnen, »der über den privaten, persönlichen, relativ begrenzten Bereich hinausgeht, für die Allgemeinheit offen und zugänglich ist« (Schubert/Klein 2007, 230). Zentral für den heutigen Begriff und das Phänomen ›Öffentlichkeit‹ ist also der ungehinderte und ›offene‹ kommunikative Austausch in größeren gesellschaftlichen Foren. Damit einher geht heute eine durch Massenmedien hergestellte Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten, beispielsweise bei politischen Entscheidungen. ›Öffentliche Kommunikation‹ kann mit Blick auf den Gegensatz »öffentlich – privat« als diejenige allgemein zugängliche Kommunikation gefasst werden, in der die Akteure und Adressaten sozial relativ unbestimmt bleiben. Überschneidungsbereiche gibt es aber auch mit ›offizieller Kommunikation‹ 20 | Der Netz-Wissenschaftler Christian Stöcker weist darauf hin, dass das bisher »Undenkbare« inzwischen diskutiert wird: »Die augenscheinlich konzertierte Aktion aller großen Plattformen außer Twitter gegen Jones (einem US-amerikanischen Verschwörungstheoretiker, der u.a. Trump unterstützt, G.A.) könnte ein Wendepunkt sein: Vielleicht ist man im Silicon Valley jetzt doch zu dem Schluss gekommen, dass man nicht Leuten beim Geschäftemachen helfen sollte, zu deren Geschäftsmodell es gehört, das Leben anderer Menschen mit Lügen zu zerstören« (Stöcker 2018).
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– sofern sie in der Öffentlichkeit stattfindet. Hier treten sich die Kommunizierenden öffentlich etwa als Amtspersonen und Institutionen in einer offiziellen Rolle gegenüber, beispielsweise als Politiker, als Vertreter einer Behörde oder als Geschäftsmann. Die Bezeichnung ›Öffentlichkeit‹ verleitet allerdings mitunter zu dem Fehlschluss, es gäbe nur eine Öffentlichkeit. Heutige pluralistische Gesellschaften erzeugen jedoch eine Vielzahl von Teil-Öffentlichkeiten (Schubert/Klein 2007: 230). Dies macht in den sozialen Netzwerken paradoxerweise Öffentlichkeit einerseits sichtbar, insbesondere wenn diese sich in aggressiver oder spektakulärer Form inszenieren. Andererseits verschwimmt und verschwindet Öffentlichkeit zusehend hinter der Unüberschaubarkeit des medialen Angebots.21 Historisch betrachtet hat bereits in den vergangenen Jahrhunderten ein Wandel des Bedeutungsgehalts von ›Öffentlichkeit‹ stattgefunden. Unser heutiger Begriff von ›Öffentlichkeit‹ entwickelt sich bekanntlich erst seit dem 19. Jahrhundert (Schiewe 2004: 34ff.). Während um 1800 mit ›Öffentlichkeit‹ meist noch die bloße Übersetzung von ›Publizität‹ gemeint war, also der gesellschaftliche Rahmen, in dem die Rezeption von Kunst und Literatur erfolgt, bekommt das Wort im Zuge des Liberalismus nach 1815 die zusätzliche Bedeutung von »Raum, in dem sich die öffentliche Meinung bildet und mit dem Anspruch eines Gegengewichtes zur staatlichen Herrschaft auftritt« (Schiewe 2004: 61). Im 19. Jahrhundert findet eine weitere funktionale und soziale Ausdifferenzierung der Sprache statt. Im 20. Jahrhundert erhält Öffentlichkeit durch Massenmedien ein zusätzliches Bedeutungsmoment: das der Beeinflussbarkeit und sogar Manipulation (Schiewe 2004: 59f.). ›Öffentlichkeit‹ steht nun in einem grundlegenden Zusammenhang zu Sprache und zu medial geprägter Kommunikation. Deutlich wurde dies u.a. durch Formen der ›Gegen-Öffentlichkeit‹. Dazu gehören seit der 68er-Protestbewegung in Deutschland 22 die Entstehung von Umwelt-, Anti-Atom und Ökogruppen sowie die Frauenbewegung, die u.a. mit neuen Vermittlungsformen (Demonstrationen, Filme, Videos, Straßentheater und zunehmend durch Social Media-Foren und -Formen)
21 | Vgl. Bezeichnungen von Social-Media-Öffentlichkeiten als ›ad-hoc-publics‹ oder ›ad-hoc-mini-publics‹, vgl. Einspänner-Pflock/Anastasiadis/Thimm (2016). 22 | Scharloth hat in seiner bemerkenswerten Studie 1968. Eine Kommunikationsgeschichte die Entstehung bzw. mediale Erzeugung von Gegenöffentlichkeit herausgearbeitet. Am Beispiel von Frisuren, Kleidung und anderen Formen der nichtsprachlichen wie sprachlichen Inszenierung liest sich sein Buch auch als Beleg dafür, wie sich unterschiedliche Wahrnehmungs-Gemeinschaften (z.B. APO, »Studenten«, Kommune I, »empörte Bürger«) mediengerecht stilisieren und dabei z.B. politische »Inhalte« bisweilen in den Hintergrund treten oder sie durch visuelle Inszenierungsformen überformen.
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Alternativen zur schweigenden oder ›veröffentlichten‹ Meinung herstellen wollten.
5.2 Neuere Entwicklungen der Öffentlichkeit Heute scheint der Begriff der ›Öffentlichkeit‹ gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch geworden zu sein: In Zeiten der Massenmedien wie Radio, Fernsehen und einer klassischen Presse wurde der ›Öffentlichkeit‹ häufig die ›veröffentlichte Meinung‹ gegenübergestellt. Mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke scheint das Konstrukt, um nicht zu sagen: die Fiktion einer Öffentlichkeit zusehend obsolet zu werden. An ihre Stelle scheinen viele, sehr unterschiedliche und damit sehr heterogene Formen von fragmentierter Öffentlichkeit zu treten. Ohne weiterer sozialwissenschaftlicher Forschung vorzugreifen (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015b), lassen sich mit Blick auf ihre kommunikative Präsenz in idealtypischer Weise drei Gruppen von Öffentlichkeits-Formen unterscheiden: • Singularisierung: Der Soziologe Andreas Reckwitz hat eine neue Art der Individualisierung in seinem 2017 erschienenen Buch Gesellschaft der Singularitäten ausgemacht, die in scheinbarem Gegensatz zur Idee von Öffentlichkeit zu stehen scheint: »Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.« (Reckwitz 2017: 7) Was in einer »Massengesellschaft« heute fasziniert, ist zunehmend die »Außeralltäglichkeit« – angefangen von »Brot- und Kaffeesorten« bis hin zu den »imaginären Welten der Computerspiele« (ebd.). • Solche Formen der Individualisierung fördern ein soziales »Drift«-Verhalten von »flexiblen Menschen« (Sennett),23 das sich in voneinander abgrenzenden emotional-kognitiven Stilen, aber auch in ihrer medialen Web-Präsenz manifestiert. »Singularisierung«, also »das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit« (Reckwitz 2017: 9), führt in sozialen Netzwerken paradoxerweise zu ausgesprochen kollektivistischen Moden, Lifestyle- und Lebensentwürfen, die in ihrer selfiehaften Selbstbezüglichkeit und Selbstzuwendung die Ideen einer ›klassischen‹ Öffentlichkeit paradoxerweise von sich weisen bzw. sie durch mediale Inszenierung zu kaschieren und ersetzen versuchen. • Polarisierung und personalisierte Kommunikation: Der mediale Wettbewerb um Aufmerksamkeit (Franck 1998) schlägt sich im Web einerseits in Pluralität, andererseits in Formen personalisierter Kommunikation nieder, 23 | Vgl. die Resonanz auf die Studie von Richard Sennet (1998) über den flexiblen Menschen.
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die in Gruppen verstärkt zu kommunikativer und sozialer Polarisierung führen kann. Nach Eli Pariser (2012) entstehen und verstärken sich Rezeptionsgemeinschaften in so genannten meinungs-verstärkenden ›Echoräumen‹ oder gar in ›Echobunkern‹. Solche Echoräume scheinen zwar kaum strukturiert und zudem kurzlebig zu sein, unterscheiden sie aber von tradierten Vorstellungen einer soziologisch fassbaren ›Öffentlichkeit‹ deutlich. Andererseits führen neue Formen des ›Sharing‹ oder der computerbasierten Kooperation zu neuen Formen der digitalen Kommunikation und Partizipation, sowie letztlich auch zu Formen und Foren ›alternativer Öffentlichkeit‹. Aufmerksamkeit erringen sie insbesondere durch polarisierende Formen der Selbstermächtigung oder der inszenatorischen Selbstverherrlichung in sozialen Netzwerken (Pörksen 2018) – bis hin zu desinformativer Tarnung, Täuschung und Selbsttäuschung. • Big Data und Metadaten: Erst ansatzweise wahrgenommen wird der Einfluss von Big Data auf den Strukturwandel von digitaler Öffentlichkeit. Damit können nicht nur soziale Prozesse präzise analysiert, sondern Verhalten auch in einem kaum bekannten Ausmaß prognostiziert werden. Es entsteht das, was man die »Gesellschaften der Metadaten« nennen könnte (Lobe 2018).24 Das Besondere an dieser instrumentalisierten Nutzung von Formen der emergenten Selbstorganisation qua Kommunikation: Nur wer Zugang zu diesen Metadaten hat und sie entsprechend auswertet, kann die für die analysierten Subjekte intransparenten Muster transparent machen. Das bedeutet, dass für Digitalkonzerne ganz neue Zugangsformen zur Web-Öffentlichkeit entstehen, »deren aggregierte Daten Rückschlüsse über den Gefühlshaushalt der Gesellschaft« (Lobe 2018) ermöglichen.
6. U nterwanderung und A uflösung von » Ö ffentlichkeit« Tradierte Vorstellungen von Öffentlichkeit, wie sie selbst noch in den Massenmedien vorherrschend waren, scheinen durch die Macht der sozialen Medien in die Krise zu geraten. Die Veränderungen der digital konstituierten Öffentlichkeiten können in der folgenden Frage zusammengefasst werden: »Nach was suchen wir, wenn wir nach Öffentlichkeit suchen?« (Adolf 2015: 59). Dazu drei illustrierende Beispiele:
24 | Dazu ausführlicher der Abschnitt 10.
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6.1 Astroturfing und gekaufte Social Bots Exemplarisch für die Unterwanderung, ja Auflösung von klassischer ›Öffentlichkeit‹ scheinen zwei Strategien der Erzeugung von Desinformation im Web zu sein. Es sind dies u.a.: »Astroturfing« und gekaufte »Social Bots«: Der Begriff Astroturfing, […] bezeichnet […] politische Public-Relations- und kommerzielle Werbeprojekte, die darauf abzielen, den Eindruck einer spontanen Graswurzelbewegung vorzutäuschen. Ziel ist es dabei, den Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäußerung über Politiker, politische Gruppen, Produkte, Dienstleistungen, Ereignisse und Ähnliches zu erwecken, indem das Verhalten vieler verschiedener und geographisch getrennter Einzelpersonen zentral gesteuert wird. (https://de.wikipedia.org/ wiki/Astroturfing)
Mit dem Astroturfing wird also in irreführender Weise suggeriert, dass eine gepostete Meinung von einer (größeren) Öffentlichkeit geteilt würde. Dazu ein bekanntes Beispiel: Obwohl alle wissenschaftlich seriösen Indizien einen gefährlichen Klimawandel bezeugen, wird durch bezahltes Astroturfing sogar sehr systematisch gerade das Gegenteil vorgetäuscht. Verstärkt wird dies durch den massenhaften (und billigen) Einsatz von Social Bots: Social Bots sind von Menschen programmierte Software-Roboter. Sie sammeln Informationen und Daten, setzen aber auch bewusst Trends und Topthemen in den sozialen Medien, ohne dass der Nutzer davon Kenntnis hat. […] Es wird immer schwerer, Bots von Menschen zu unterscheiden. Bots betreiben Fake-Profile und geben somit vor, Menschen zu sein. Sie mischen sich bewusst in die öffentliche Diskussion in den sozialen Medien ein. (Hegelich 2016)
Mit der »Invasion der Meinungs-Roboter« (Hegelich 2016) können Algorithmen nicht nur »bedeutsame performative Effekte« (Seyfert/Roberge 2017: 14) bewirken, sondern sind damit auch in der Lage, qua maschineller Kommunikation kulturellen Sinn zu erzeugen, der dann in Wahrnehmungs-Gemeinschaften geteilt und womöglich verstärkt wird. Mehr noch: Desinformation – sei es durch Astroturfing oder durch gekaufte Meinungsroboter – kann das Selbstverständnis von Communitys schleichend diskreditieren. Im Extremfall wird dadurch aus einer Wahrnehmungs-Gemeinschaft eine getäuschte bzw. manipulierte »alternative Öffentlichkeit«, die womöglich ihrerseits ›verschwörungstheoretisch‹ die Öffentlichkeit in die Irre zu führen versucht.
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6.2 Fake People-Öffentlichkeit(en) Funktionierende Demokratien beruhen bekanntlich auf dem Konzept einer sich selbst regulierenden Öffentlichkeit. Eine besondere Rolle spielen dabei freie und sich daher wechselseitig kritisierende und kontrollierende Medien als pluralistische Meinungsmacher. Daher können Medien (Filme, Radio, TV oder das Internet) zu Kristallisationspunkten neuer Formen von Öffentlichkeit werden. Mit dem Einfluss ›digitaler Öffentlichkeiten‹ scheint sich dieser Mechanismus zu wandeln: »Es wimmelt nur so von Fake People, in unbekannter, aber riesiger Zahl und sie bestimmen die Atmosphäre. Bots, KI-Systeme, Agenten, Fake-Reviewer, Fake-Freunde, Fake-Follower, Fake-Poster, automatisierte Catfisher – eine riesige Menagerie von Gespenstern« (Lanier 2018: 55). Insbesondere der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat daraus eine offenbar erfolgreiche Strategie gemacht,25 die dabei ist, von anderen übernommen zu werden. Das Muster: Man polemisiere pauschal gegen Medien als FakeNews-Media. In Deutschland ist diese Desinformations-Strategie anknüpfend an den Faschismus als »Lügenpresse« bekannt geworden. Wenn also im öffentlichen Raum systematisch und bedenkenlos »Fake News« verbreitet werden (vgl. Antos 2017c), dann weckt und bedient das nicht nur Erwartungen von Fans und Followern. Fake-Akteure zwingen damit zugleich die freie und seriöse Presse, ihrem Auftrag gemäß fortwährend diese Fake News zu dementieren. Damit werden sie aber ungewollt im Gedächtnis einer sehr viel breiteren Öffentlichkeit immer tiefer verankert. Verstärkt wird dieser Verwirreffekt, wenn Politiker wie Trump auf die Entlarvung von Lügen mit dem Gegen-Vorwurf reagieren, sie stammen von »Fake News-Medien«, seien also »Lügenpresse«. Mit dieser Verwirrtaktik schart Trump und sein ihn stützender Propaganda-Apparat nicht nur seine Anhänger um sich, sondern fördert die Bildung einer angeblich von Fake-News-Medien verfolgten »Gegenöffentlichkeit«, die sich dann ihrem Selbstbild entsprechend zunehmend von seriösen Medien immer weiter abschottet. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen dabei Trolle und Desinformationskampagnen, die selbstständig oder gesteuert über Social Media ein breites Publikum erreichen. Bleibt die Frage: Wie kann eine solche Strategie im Zeitalter des Wissens überhaupt aufgehen? Einen bislang offenkundig noch nicht analysierten Priming- oder Vorbereitungs-Effekt dürften PR und die Werbung haben. Was gerne übersehen oder verdrängt wird: Ohne PR und Werbung gibt es keine digitalen Medien, aber auch keine finanziell gut ausgestattete Presse. Zudem: Ohne kommerzielles Sponsoring gäbe es heute in weiten Teilen der Welt keine Kultur! Dabei ist klar: PR und Werbung ist ihrem Wesen nach geschönte 25 | Vgl. Berichte von Cassidy (2018), Medick (2017), Pitzke (2018) oder Stöcker (2018).
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Wirklichkeit und interessengeleitete Sinnstiftung. Wer daher mit ständiger Inszenierung und (Selbst-)Indoktrination aufwächst, der muss sich bei diesen sozialen Rahmenbedingungen schwer tun, Fakten von Fiktionen und Fiktionen noch von Fakes unterscheiden zu können. Werden diese dann in Wahrnehmungs-Gemeinschaften geteilt und verstärkt, dann wird erklärlich, warum »Wahrheit« zu einem umkämpften Gut in der Öffentlichkeit geworden ist.
6.3 Gefühls-Communities Das Web ist nicht nur ein globales Forum entgrenzter und scheinbar transparenter Kommunikation. Was Milliarden von Nutzern zumindest in sozialen Netzwerken suchen, ist offenbar nicht primär Information, sondern der Wunsch nach einer zumindest gefühlten ›Dazugehörigkeit‹. Insofern zielt Kommunikation in sozialen Netzwerken emotional und sozial vor allem auf Partizipation in (wechselnden) Communities. Lobo hat soziale Netzwerke daher treffend als »vernetzte Gefühlsmaschinen« (Lobo 2018) diagnostiziert, die durch Bequemlichkeit und Komfort ebenso locken wie durch eine ungehinderte, ungehemmte und scheinbar anonyme Manifestation von Gefühlen. Damit wird einem »Gefühls-Fundamentalismus« Vorschub geleistet, der die Erzeugung von sozialem Sinn an der wechselseitigen Bekundung geteilter Gefühle festmacht. Dieser auf meinungs- und gruppenbildende Gefühls-Fundamentalismus scheint dabei auf der Prämisse zu beruhen: ›Nur was im Web geteilt wird, ist wirklich wahr!‹. Wenn aber damit medial präsentierte »Gefühls-Fundamentalismen« zum letzten Fundament sozialer Gewissheit und Bindung werden, werden digital geteilte Gefühle selbstevident nicht nur zu wirklichkeits-konstituierenden ›Wahrheiten‹, sondern stimulieren darüber hinaus missionarische »Öffentlichkeitsarbeit«. Eine zentrale Konsequenz, die Meinungs- und Gefühls-Fundamentalismen begünstigt: Mit der Reichhaltigkeit von Online-Angeboten wächst der Selektionsdruck auf die Wahrnehmung von potentiellen Rezipienten. Daher wird Imagekommunikation in und zwischen Wahrnehmungs-Gemeinschaften offenbar immer wichtiger, weil z.B. so genannte ›Images‹ die Wahrnehmung von Medienangeboten selektiv und vorgängig steuern, d.h. auch: verhindern, verzerren oder verstärken können (u.a. in ›Echokammern‹).
6.4 Darknet-Communities Die Bildung und Etablierung von medialen Communities basiert paradoxerweise nicht unerheblich auf medialer Intransparenz. In diesem Sinne wird das Internet von vielen Darknet-Communities bevölkert. Diese sind nicht immer mit Cyberkriminalität in Verbindung zu bringen. So verweisen z.B. Menschenrechtsorganisationen, aber auch der Chaos Computer Club (CCC) auf verdeckt
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arbeitende Journalisten, auf Whistleblower oder auf Menschen, die gezwungen sind, sich kommunikativ schützen zu müssen. Paradox formuliert: In nicht freien Gesellschaften ermöglicht ausgerechnet Intransparenz ungefilterte und freie Informationen über Formen von Öffentlichkeit, die sich aufgrund von Repressionen gezwungen sehen, bewusst intransparent zu agieren. Davon einmal abgesehen ist das Darknet ebenso wie das Web jener Ort intransparenter digitaler Öffentlichkeit, in der die Chancen ungehinderter Online-Kommunikation leicht pervertiert werden können – nicht nur von Trollen, Verwirrten oder cyberkriminellen Einzelpersonen. Eine ganz neue Art von verdeckter globaler Öffentlichkeit sind offenkundig weltweit agierende Scharen von Darknet-Communities, die oftmals von Staaten und Geheimdiensten gefördert oder geschützt versuchen, funktionierende Öffentlichkeiten zu unterwandern, zu diskreditieren, zu erpressen oder zu zerstören. Bleibt die Frage: Welche Rolle spielen bei diesen Prozessen die Wahrnehmung, insbesondere die kollektive Wahrnehmung von Information und Kommunikation in und außerhalb von Wahrnehmungs-Gemeinschaften?
7. W ahrnehmung in der L inguistik Warum und wie werden Medienangebote überhaupt wahrgenommen? Wie kommt es überhaupt zur Bildung und Etablierung von medialen Wahrnehmungs-Gemeinschaften? Hilfreich bei der Beantwortung dieser Fragen ist zunächst die aus dem Alltag bekannte Unterscheidung von ›hören‹ bzw. ›sehen‹ und ›zuhören/lauschen‹ bzw. ›zusehen/beobachten‹. Während ›zuhören/ lauschen‹ bzw. ›zusehen/beobachten‹ eine intentionale, auf ein Objekt gerichtete Form des sinnerzeugenden Wahrnehmens ist, ist ›sehen‹ oder ›hören‹ abhängig von Wahrnehmungsangeboten, -kontexten und/oder -bedingungen. Zudem ist dieser Wahrnehmungs-Modus anders als ›zuschauen‹ oder ›hinsehen‹ oftmals zufällig, selektiv und flüchtig. Nicht unähnlich dem »Zappen« bei einer Fülle von Fernsehangeboten, holen sich Rezipienten teils zielgerichtet, teils wahllos das, was sie gerade brauchen (Schmitz 1996). Was aus einer (wissenschaftlichen) Beobachter-Perspektive (etwa im Sinne Luhmanns) dabei irritiert, ist dass es in der Vor-Social-Media-Ära neben aktiv-planvollem Zappen auch ein wildes und passiv-süchtiges Zappen gab. Dieses wilde und passiv-süchtige Wahrnehmen ähnelt bisweilen dem Surfen im heutigen Internet bzw. dem suchtverwandten Konsum von Angeboten in sozialen Netzwerken: Es ist ein oftmals nur wenige Sekunden oder Minuten langes Wahrnehmen von Angeboten mit einer mitunter zufälligen und fragmentarischen Rezeption. »Macht Zapping überhaupt Sinn und wenn ja, welchen?« fragt daher Ulrich Schmitz (1996: 11) in einem Artikel, der als Vorläufer einer Linguistik der Wahrnehmung verstanden werden kann.
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Darauf gibt es mindestens zwei erklärende Antworten: Zum einen hängt die Bereitschaft sowie die Art und Weise einer jeden Rezeption von einer vorgängigen Wahrnehmung ab. Diese kann ihrerseits durch ein bestimmtes Image, durch Neugierde, aber auch durch Gewohnheit oder durch Langeweile usw. gesteuert sein. Zum anderen kann sich aber auch der Anbieter von Medienangeboten vorgreifend auf Wahrnehmungswünsche einstellen. Zum Beispiel dadurch, dass er wie in der Rhetorik seinen Beitrag interessant bis persuasiv gestaltet. Bei sich selbst optimierenden Algorithmen geschieht dies heute bekanntlich dadurch, dass man im Hinblick auf Werbeeinnahmen die Aufmerksamkeit des bzw. der Wahrnehmenden unter allen Umständen wachzuhalten versucht (Franck 1998, Leistert 2017, Antos 2018). Aus dem, was Ulrich Schmitz mit Blick auf das kommerzielle Fernsehen als Zappen diagnostiziert hat, ist inzwischen eine mediale Praktik entstanden, in der Wahrnehmung, Rezeption und Anschlusskommunikation kaum mehr unterscheidbar ineinander fließen: Netzwerkplattformen, Twitter oder RSS-Feeds vermitteln Informationen nicht mehr in der Form von ›Sendungen‹ oder ›Ausgaben‹, sondern als ›stream‹ oder ›feed‹: In diesen dynamischen, ständig aktualisierten Informationsfluss gehen die entbündelten, also aus redaktionell zusammengestellten Angeboten herausgelösten Informationen genauso ein wie andere Neuigkeiten, die aus dem eigenen Netzwerk stammen. Nutzer können gezielt einzelne Inhalte aus dem Stream aufgreifen und einfach weiterverbreiten, kommentieren, empfehlen o.ä. So können sich Inhalte, die besonders spektakulär, informativ oder humorvoll sind, innerhalb von kurzer Zeit weit verbreiten. (Schmidt 2013: 45)
Hinter diesen Strategien der Wahrnehmungsweckung und -erhaltung schimmert eine konstruktivistische Auffassung der Wirklichkeitserzeugung durch: Anknüpfend an das Diktum von Berkeley (1710) »esse est percipi!« gilt heute für alle Medienangebote und deren Rezeption: ›Real ist das, was an Kommunikation wahrgenommen wird!‹ Seine präzisere kommunikationstheoretische Bestimmung klingt etwa wie folgt: Nicht mehr die Theorie der Kommunikation, vielmehr die Theorie der Wahrnehmung als eine Theorie des Erscheinens […] gibt nun den Rahmen konzeptueller Erfassung des Performativen ab; nicht mehr auf das Sagen, sondern auf das Zeigen liegt jetzt das Gewicht. Die Aufmerksamkeit hat sich also vom Kommunizieren auf das Wahrnehmen verschoben. (Krämer 2004: 20)
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Diese provokativ erscheinende Akzentverschiebung hat Auswirkungen auf die Einschätzung der kommunikativen Wirksamkeit von Medien26 in der Linguistik: Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit performativen Vollzügen des Sprechens, aber auch verstärkt durch den visual turn in der Linguistik hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten so etwas wie eine Linguistik der Wahrnehmung etabliert. Wichtige Impulse dazu hat einerseits die Bildlinguistik (Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011, Fix/Wellmann 2000), andererseits die multimodale Textlinguistik mit ihren Text-Bild-Ton-Kollagen geliefert (Opiłowski 2006). Zudem hat sich der traditionelle Textbegriff deutlich gewandelt: Man denke an Online-Diskurse (Opiłowski 2018), an Texte auf Waren oder auf die »Betextung des öffentlichen Raumes« (Domke 2014), an nicht-lineare Hypertexte, an »Cluster-Texte« oder an Chats bis hin zu geposteten WhatsApp-Interaktionen mit Piktogrammen und Bildern. Zu einer Linguistik der Wahrnehmung hat sicherlich auch die Rückbesinnung auf die sprachliche »Oberfläche« (Linke/Feilke 2009) einen Beitrag geliefert u.a. mit der »skripturalen ›Sichtbarkeit‹« (Spitzmüller 2013, Dürscheid 2016,) oder mit semiotischen Formen der visuellen Kommunikation (Gebärdensprache, Design, Leichte Sprache, Meme). Impulse für eine Linguistik der Wahrnehmung kommen heute auch von der so genannten Perzeptionslinguistik. Neben der zunehmenden Wahrnehmung und Berücksichtigung von Sprecherurteilen – etwa in der Mehrsprachigkeitsforschung – werden zunehmend Spracheinstellungen samt den ihnen zugrunde liegenden ›Sprachideologien‹ (Spitzmüller 2019) berücksichtigt. Gleiches gilt für die so genannte Laien-Linguistik (Antos 1996) in der gefragt wird, wie sprachliche Akteure z.B. Dialekte, Fachsprachen, Anglizismen die Rechtschreibreform oder Gender-Formen wahrnehmen, wie sie darauf sprachlich reagieren und diese Wahrnehmungsformen sozial bewerten und durchzusetzen versuchen. Diese wenigen Hinweise zeigen bereits, dass die Linguistik dabei ist, einen bislang eher verschatteten Aspekt sprachlicher Kommunikation in das Blickfeld ihres Interesses zu rücken. Offen bleibt allerdings bislang in der Forschung, wie kommunikative Wahrnehmung bei Kollektiven funktioniert und welche Auswirkungen dies auf bestimmte Formen medialer und damit öffentlicher Kommunikation hat.
26 | Dang-Anh/Rüdiger (2015) zeigen am Beispiel der Twitter-Kommunikation, wie die Wahrnehmung von Kommunizierenden in Social Media zu bestimmten Bewertungen (Likes, Retweets, Shares etc.) führt und diese so erzeugte Salienz die perzeptorische Aufmerksamkeit steuert – gemeinsam mit der technisch-distributiven Funktionalität des Mediums. Auch diesen Hinweis verdanke ich Mark Dang-Anh.
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8. D ie W ahrnehmungs -G emeinschaf t der ›L eichten S pr ache ‹ Der Zugang zu Informationen und Wissen in Medien sollte für alle gesellschaftlichen Gruppen prinzipiell barrierefrei sein, sofern nicht die dargestellten Sachverhalte unangemessen vereinfacht werden oder andere Gründe dem entgegenstehen. Dass solche Forderungen nur schwer umzusetzen sind, hat bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (so die selbstgewählte Bezeichnung von Menschen mit geistiger Behinderung) zu der Selbsthilfeaktion ›Leichte Sprache‹ geführt. Die Folge: Behörden, beispielsweise der Deutsche Bundestag, verwenden auf ihren Webseiten seit einigen Jahren diese schriftliche Sprachpräsentationsform.27 Neben amtliche Mitteilungen wird inzwischen auch mit anderen Texten kommunikative Barrierefreiheit angestrebt und damit mediale Öffentlichkeit hergestellt. So übersetzt (zum Teil durchaus aufwendig) das Wirtschaftsmagazin brand eins seit August 2016 jeden Monat Reden von Politikern, Gesetzestexte und Anlegerinformationen in ›Leichte Sprache‹. Ein nicht untypischer Nebeneffekt der administrativ verbindlichen Einführung der ›Leichten Sprache‹: Da sie u.a. Behörden mit ›Behinderten‹ kommunikativ zusammenbringt, ist die ›Leichte Sprache‹ ein medialer Kristallisationspunkt für die Entstehung einer in die breite Öffentlichkeit hineinreichende Wahrnehmungs-Gemeinschaft. Zudem fördert sie nicht nur die öffentliche Wahrnehmung der sehr heterogenen Gruppen der ›Menschen mit Behinderung‹ nach außen, sondern stellt für diese auch ein Katalysator für die Schaffung einer gemeinsamen (Behinderten)Identität dar. Mit der Verbreitung der ›Leichten Sprache‹ werden auch andere Formen barrierfreier Kommunikation, z.B. die so genannte ›Einfache Sprache‹, ins Licht der breiten Öffentlichkeit gerückt. Sie fördern damit neben den Menschen mit Lernschwierigkeiten auch die Selbsthilfeanstrengungen anderer gesellschaftlicher Gruppen (Ältere, funktionale Analphabten, Migranten). Gerade weil solche Formen sprachlicher Diversität kontrovers diskutiert werden28 – durchaus vergleichbar mit Diskussionen um die so genannte ›gendergerechte Sprache‹ – zeigt das Beispiel der ›Leichten Sprache‹, wie Wahrnehmungs-Gemeinschaften aus der Bildung und Durchsetzung bestimmter Stile bzw. Sprachformen entstehen können und wie diese in Enzelfällen sogar zu einer ›alternativen Öffenlichkeit‹ werden können. Eine entscheidende positive Rolle kommt dabei dem Internet zu. Ohne dieses mediale Forum würden viele vereinzelt lebende Menschen weder miteinander kommunizieren, noch sich sozial organisieren können. Insofern ist die Bildung der Wahrnehmungs-Ge27 | Mehr zur aktuellen Diskussion Bock/Lange/Fix (2017) und zu den Regeln der ›Leichten Sprache‹ BMAS (2014) und Bredel/Maaß (2017). 28 | Vgl. Bock (2015), Antos (2017a), Diekmannshenke (2017), Zurstrassen (2017).
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meinschaft rund um die ›Leichte Sprache‹ eine wichtige Grundlage zur Bildung einer ›alternativen Öffentlichkeit‹.
9. »P öbel«/»M ob« oder die F r agmentierung von »Ö ffentlichkeit«? Mobbing ist hierzulande einer der häufigsten Suizidgründe unter Kindern und Jugendlichen und hat fast immer eine digitale Komponente. 1,4 Millionen Jugendliche wurden in Deutschland bereits Opfer von Cybermobbing, ein Viertel davon hat Suizidgedanken. Es sterben auch in Deutschland im Jahr 2018 Menschen, weil sie den Druck von Mobs in sozialen Medien nicht mehr ertragen. Das geschieht subtiler als in Indien, aber am Ende sind die Opfer ebenso tot. (Lobo 2018c)
Soziale Netzwerke werden heute nicht zufällig in Verbindung mit Cyber-Mobbing bzw. mit Cyber-Bullying oder Cyber-Stalking gebracht. Zusammen mit anderen Formen der Hass-Kommunikation (Marx 2017), mit Verschwörungstheorien bzw. mit öffentlich geduldeten bis geförderten ›Fake-People‹-Aktionen begünstigen sie einen ›unsichtbaren, sozialen Vandalismus‹, der zur Herausbildung von Wahrnehmungs-Gemeinschaften führt, die durch ihre zumindest latente Gewaltbereitschaft zivilgesellschaftliche aushebelt und mehr noch: wie im Faschismus ›alternative (Gegen-)Öffentlichkeit‹ unmissverständlich etabliert. Die inzwischen bereits etablierten Formen von Skandalisierungen (Detel/ Pörksen 2012) legen nahe, dass Wahrnehmungs-Gemeinschaften ausgerechnet das fördern, was man früher als ›Pöbel-Herrschaft‹ und heute vielleicht als ›Mob‹ bezeichnet. »Mobmaschinen« nennt Lobo (2018c) jene sich ganz bewusst als Wahrnehmungs-Gemeinschaften stilisierende Gruppen, die heutige Gesellschaften zu dominieren versuchen. Dass aus diesen »digitalen Mobs echte Mobs« werden können, zeigen Beispiele, »bei denen vor Publikum vermeintliche Kindesentführer gelyncht wurden: wegen Gerüchten auf WhatsApp« (Lobo 2018c). Generell scheint zu gelten: Das Internet macht Wahrnehmungs-Gemeinschaften und deren Praktiken sichtbar. Soziale Medien fördern sie, vor allem wenn sie zu temporären oder stabilen Erregungsgemeinschaften werden. Die Auswirkungen dieser »Emotions- und Erregungsindustrie« beschreibt Bernhard Pörksen (2018) in seinem Buch Die große Gereiztheit. Darin analysiert er den Übergang von der »Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie« (Pörksen 2018: 62ff. und 92ff.) u.a. durch »die Ausweitung der Beobachtungszone« sowie durch einen fortwährenden »Clash der Codes« (Pörksen 2018: 16).
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10. M e tadaten und die A tomisierung von Ö ffentlichkeit Die Herstellung von ›Öffentlichkeit‹ bzw. ›Gegenöffentlichkeit‹ verbinden wir mit dem, was man emphatisch als ›die Moderne‹ zusammenfassen könnte. Dazu gehört die Versammlungsfreiheit, das Demonstrationsrecht, das Streikrecht, eine freie Presse bzw. eine auf Unabhängigkeit beruhenden Medien sowie die im Prinzip ungehinderte Bildung von Vereinen und Parteien. Zentraler Mittelpunkt dieser Rechte ist dabei die Möglichkeit, sich ungehindert zu artikulieren und durch Diskurse öffentliche Meinungen zu bilden. Werden in demokratischen Staaten diese Rechte beschnitten oder gar bedroht, hat das Auswirkungen auf die Herstellung von Öffentlichkeit. Was aber, wenn ausgerechnet durch die Instrumentalisierung von Big-Data soziale Diskurse wie das Wetter prognostizierbar werden? Was, wenn die genannten Rechte zwar nicht beschnitten, aber banal und folgenlos werden? Was also, wenn sich ›Öffentlickeit‹ als Forum sozialer Interaktion und damit als Akteur von politischer Interessenswahrnehmung gleichsam selber atomisiert (Hahn/Hohlfeld/ Knieper 2015a: 11)? Dies gleich in einem doppelten Sinn: Einerseits scheinen Öffentlichkeiten zu fragmentieren oder gar zu zerfallen, andererseits werden sie gleichsam als relevante gesellschaftliche Kraft von einer Seite marginalisiert, die als Machtinstanz erst allmählich bewusst wird. Es sind die ganz wenigen Eigentümer von Big Data, insbesondere Eigentümer (oder Zugangsberechtigte) von sowohl psychologisch wie sozial relevanten Big Data-Metadaten. Vor diesem Hintergrund hat der Medientheoretiker Matteo Pasquinelli die These aufgestellt,29 dass mit der Datenexplosion eine neue Steuerungsform eine »Gesellschaft der Metadaten« möglich wird: »Mit Metadaten könnten neue Formen der biopolitischen Steuerung zur Kontrolle der Massen und Verhaltenssteuerung etabliert werden, etwa Online-Aktivitäten in Social-Media-Kanälen oder Passagierströme in öffentlichen Verkehrsmitteln« (Lobe 2018). In einer »Gesellschaft der Metadaten« verlieren die diversen Öffentlichkeiten ihre bisherige sozialpolitische Relevanz. Denn zum Beispiel an die Stelle von öffentlichen Diskursen und dem so genannten Streit »um den richtigen Weg« treten nun die Berechenbarkeit und die Prognose sowie die Steuerung des sozialen Verhaltens auf der Grundlage von Metadaten: Die Menge wird nicht mehr beherrscht, sondern berechnet und, das ist die dialektische Pointe, in ihrer Berechenbarkeit total beherrschbar. Wenn man weiß, wohin sich die Gesellschaft bewegen wird, kann man Gruppen durch Manipulationstechniken wie Nudging unter Ausnutzung psychologischer Schwächen in die gewünschte Richtung lenken. (Lobe 2018)
29 | Hier folge ich in der Darstellung und Argumentation Lobe (2018).
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Das ist nicht mehr eine spekulative Prophezeiung, sondern bereits Realität: In chinesischen Netzwerken wie Tencent, Baidu, WeChat oder Alibaba wird der Strukturwandel der Öffentlichkeit bereits jetzt sichtbar: Soziale Netzwerke sind dort u.a. mit Online-Bestell- und Bezahlsystemen so kombiniert, dass mit der damit verbundenen Erfassung, Speicherung, Instrumentalisierung und Weitergabe von Daten jene auf Big Data beruhenden Metadaten vorliegen, die geeignet sind, unsere tradierten Vorstellungen von Öffentlichkeit grundlegend zu verändern. So soll ab 2020 ein staatliches Sozialkredit-System entstehen, das alle Bürger erfasst. Damit verfügen Netzwerk-Betreiber über eine Datenund soziale Kontrollmacht, die sie als Steuerungs- und Repressionsinstrument für potenziell jeden Machthaber interessant macht. Was wäre die Folge? Anstelle von Diskursen dominieren Daten, anstelle von Argumenten zunehmend Algorithmen (Gillespie 2017) und an die Stelle von Sprache(n) tritt weitaus wirkungsmächtiger die steuernde und alles kontrollierende Herrschaft von Software30: Das Bedrohliche an dieser algorithmischen Regulierung ist nicht nur die Subtilität der Steuerung, die sich irgendwo in den opaken Maschinenräumen privater Konzerne abspielt, sondern, dass ein techno-autoritärer Politikmodus installiert wird und die Masse als polit-physikalische Größe wiederkehrt. Nur was Datenmasse hat, hat im politischen Diskurs Gewicht. (Lobe 2018)
Öffentlichkeit wird damit zu dem, was sich schon jetzt in Shitstorm-Aktionen ansatzweise beobachten lässt: Erregung und Aktionismus statt Engagement und durchdachter Aktion. Mehr noch: ›alternative Öffentlichkeit im Sinne von Gegenöffentlichkeit‹ wird in der Wahrnehmung der neuen »Metadaten-Gesellschaft« suspekt, weil es die auf algorithmischer Selbstoptimierung beruhende, prognostische Fortschreibung des Bestehenden stört.
11. R ückblick und A usblick Medienangebote waren schon immer Kristallisationspunkte für Gemeinschaftsbildungen, in denen Kommunikationsvorgänge wahrgenommen, beobachtet, sowie mitunter rezipiert, diskutiert, kritisiert und bewertet wurden bis hin zur Stimulierung von Anschlusskommunikation oder zum Aufruf zu Aktionen. In Bezeichnungen wie Fans, Follower, Beobachter, Kritiker oder Publikum werden bestimmte Gruppen innerhalb dieser Wahrnehmungs-Gemeinschaften sprachlich gespiegelt.
30 | Zu dieser zugegebenermaßen »steilen These« vgl. Antos (2017b).
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In dem Artikel wurde versucht zu zeigen, welche Rolle Wahrnehmungs-Gemeinschaften angefangen bei religiöser und literarischer Kommunikation gespielt haben und wie daraus mit dem Aufkommen der Presse eine publizistische Öffentlichkeit entstanden ist. Mit den Massenmedien, vor allem aber mit den sozialen Netzwerken, haben sich Formen und Funktionen von Wahrnehmungs-Gemeinschaften gewandelt. Zugleich ist ihr Einfluss sowohl auf die Medien, ihre Angebote, aber auch auf ihre Wahrnehmung deutlich gestiegen. Eine Folge ist die durch Online-Kommunikation vorangetriebene Fragmentierung, Marginali-sierung oder gar Atomisierung der Öffentlichkeit (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015a: 11, 2015b) sowie ihre soziale Ausdifferenzierung in (z.T. vermeintliche) ›alternative‹ und/oder ›Gegen-Öffentlichkeiten‹. Dabei wurde deutlich: ›Alternative Öffentlichkeit‹ gehört zu jenem Vokabular, dessen Framing selbstevident »schön« zu klingen scheint. Nicht zuletzt deshalb, weil damit Emanzipation, Fortschritt und Innovation verbunden wird. Vor diesem Hintergrund hat der Artikel versucht zu zeigen, dass das Verhältnis von Sprache bzw. (Online-)Medien, Wahrnehmungs-Gemeinschaften und Öffentlichkeit weder selbstevident positiv noch einfach ist. Beispiele und Argumente dafür wurden in diesem Artikel angesprochen und ansatzweise diskutiert. Neben einer linguistischen und kommunikationstheoretischen Auseinandersetzung mit dieser fluid erscheinenden Thematik wurden dazu auch Artikel und Berichte aus der publizistischen »Netzwelt« herangezogen. Der Grund: Die durch die Digitalisierung vorangetriebene Beschleunigung hat inzwischen den Strukturwandel von Medien wie von Wahrnehmungs-Gemeinschaften in einer Weise vorangetrieben, dass mitunter wissenschaftliche Publikationen ›hinterher zu hinken‹ scheinen. Dennoch ersetzen Artikel der »Netzwelt« keine eigenständige medienlinguistische Forschung. Trotz dieser Einschränkung: Erste Überlegungen zum verwirrend erscheinenden Verhältnis von Medien, Wahrnehmung und Öffentlichkeit wurden in diesem Artikel vorgestellt und damit das Thema mediale »Wahrnehmungs-Gemeinschaft« linguistisch etabliert.31
31 | Mit dem hier unterstellten Wahrnehmungs-Begriff verbindet sich allerdings auch ein Passivitäts- bzw. Sekundaritätsaspekt, der ggf. den Schluss nahelegt, die Wahrnehmung verlaufe unbemerkt bzw. zweitrangig. Das Interessante daran ist aber nach Dang-Anh, dass die Wahrnehmung Wahrnehmbares zur Folge hat, nämlich dann, wenn Publika, Fans, Follower kommunikativ (weiter) agieren und respondieren. Dies führt mitunter soweit, dass sich, eigene alternative Öffentlichkeiten herausbilden. Dann aber spätestens geht es nicht mehr um die (sekundäre) Wahrnehmung von etwas vermeintlich Primärem, sondern um die Konstitution gänzlich eigener Wahrnehmungsangebote. Hierbei könnte, so Dang-Anh zu Recht, der Begriff der ›Wahrnehmungs-Gemeinschaften‹ ggf. an seine Grenzen stoßen.
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Medien als Schutz vor Interaktionen 1 Ruth Ayaß
It is a core feature of old and new media to allow communication in contexts where it cannot naturally occur since the individuals are out of each other’s reach. In this classic understanding, media create a connection between two or more individuals. However, media can also be used to inhibit communication. This contribution discusses systematically the various features of accessibility and non-accessibility that can be found in different media and in the uses they are put to by different participants. The analyses further show that participation in and with media cannot be described in the dichotomous terms of presence or absence. Rather, media allow various degrees of accessibility. These various ways of accessibility are better described as a continuum. The article further demonstrates how books, mobile phones, etc. can be used (in privacy and in public) as involvement shields (Goffman). By the means of a photographic ethnography it is shown how media are used as involvement shields in public contexts. These uses contribute to a ‘‘mediated behavior in public places’’ that relies mainly on avoidance of interaction. At the same time, this avoidance can only be achieved by mutual monitoring. Keywords: Media use in everyday life; Media as involvement shields; Accessibility; Participation framework; Unfocused interaction; Media use in public; Sociology of senses
1 | Geringfügig gekürzte Fassung des Essays Using Media as Involvement Shields, der 2014 in englischer Sprache im Journal of Pragmatics (2014, Vol. 72: 5-17) erschien. Übersetzung und Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung von Elsevier. Frühere Versionen dieses Textes wurden unter anderem 2011 beim Kongress der International Pragmatic Association IPrA in Manchester präsentiert sowie beim Symposion »The Spectacular/Ordinary/Contested Media City« in Helsinki 2013. Die Fotografien, die in diesem Aufsatz verwendet werden, wurden so anonymisiert, dass das Aussehen der Personen verändert ist, aber dennoch das Argument, das mit ihnen verbunden ist, erkennbar ist.
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Ruth Ayaß The paper holds their folded faces to the floor And every day the paperboy brings more R oger Waters , 1973
1. E inleitung Soziale Situationen können darüber bestimmt und unterschieden werden, ob die Interagierenden in ihnen kopräsent sind oder einander nicht leiblich gegeben sind. Wenn Anwesenheit nicht gegeben ist, können Menschen ohne Hilfsmittel nicht miteinander interagieren. Sie müssen auf Medien ausweichen. Das Medium tritt dann als Mittler zwischen Ego und Alter. In den Wissenschaften, die sich theoretisch und empirisch mit Medien befassen, werden Medien in der Regel als genau das behandelt: als etwas, das verbindend zwischen zwei oder mehrere Personen tritt, welche sich nicht in einer Face-to-face-Situation befinden. Diese – zunächst einleuchtende – Argumentation übersieht aber eine entscheidende Qualität von Medien, nämlich ihre Fähigkeit, als involvement shields (Goffman) zu fungieren, also die Anwesenheit ihrer Nutzer so zu modulieren, dass sie für Interaktion nicht zur Verfügung stehen. Medien haben damit nicht nur die naheliegende und offenkundige Funktion, Anwesenheit herzustellen, sondern auch, Abwesenheit zu erzeugen. Mit dieser besonderen Qualität von Medien befasst sich der vorliegende Text. Er diskutiert den Zusammenhang zwischen Medien und der Zugänglichkeit für Interaktion. Die Argumentation hat nicht ein einzelnes Medium zum Gegenstand, sondern geht von den Eigenschaften von Medien an sich aus, von ihren ontologischen Eigenschaften also. Der Essay vertritt das folgende Argument: Mit den neuen (oder sozialen) Medien wird die klassische Unterscheidung von Anwesenheit und Abwesenheit hinfällig, da sie in unterschiedlichem Ausmaß verschiedene Formen von Zugänglichkeit ermöglichen, die sich als ein Kontinuum von Kopräsenz beschreiben lassen. Dabei verfügen verschiedene Medien auch über verschiedene (technische) Möglichkeiten, Zugänglichkeit und Kopräsenz herzustellen und/oder anzuzeigen. Medien dienen aber auch dazu, Nicht-Zugänglichkeit zu markieren. Manche Medien haben Elemente und Signale der Zugänglichkeit resp. Nicht-Zugänglichkeit systematisch integriert (z.B. die Statusmeldungen in Skype, away-from-keyboard-Meldungen im Chat, Abwesenheitsnotizen in Mailprogrammen etc.). Der vorliegende Beitrag wird die verschiedenen Grade von Zugänglichkeit und Nicht-Zugänglichkeit systematisch diskutieren, die mit dem Gebrauch von Medien einhergehen bzw. die durch die diversen Teilnehmer durch die Verwendung von Medien hergestellt werden. Die Analysen werden zeigen, dass die Verwendung von Medien und Teilhabe durch Medien nicht in dichotomen Begriffen von Anwesenheit und Abwesenheit gefasst werden können. Die Analyse basiert auf empirischen Beobachtungen darüber, wie Bücher,
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Mobiltelefone etc. (in privaten wie in öffentlichen Kontexten) als involvement shield verwendet werden (Goffman 1963: 38-42).2 Der Beitrag zeigt schließlich, dass vor allem der Gebrauch von Medien als involvement shields in öffentlichen Kontexten zu einem neuen Behavior in Public Places (Goffman 1963) beiträgt, nämlich einem mediatisierten Verhalten an öffentlichen Orten.
2. W echselseitige Z ugänglichkeit in F ace - to - face -S ituationen Reziprozität wird in der Regel nur dann als umfassend gegeben unterstellt, wenn sich die Interagierenden in Wechselseitigkeit und Unmittelbarkeit zueinander befinden: Dies ist ursprünglich nur bei räumlicher und zeitlicher Anwesenheit gegeben, also in Face-to-face-Situationen. Diese Face-to-face-Situation wird in zahlreichen interaktionistischen Ansätzen als die grundlegende Sozialsituation behandelt, zum Beispiel bei Georg Simmel, Alfred Schütz, bei Berger/Luckmann und auch bei Erving Goffman. Leibliche Anwesenheit und wechselseitige Wahrnehmbarkeit gelten als die wesentlichen Eigenschaften dieser Elementarsituation. Wo Menschen sich wechselseitig gegeben sind, so fasst es zum Beispiel Georg Simmel in seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne, wo »unmittelbare(r) Blick von Auge in Auge stattfindet«, ist die »vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt« (1908: 485). Auch für Alfred Schütz gilt die soziale Situation, in der Ego und Alter Raum und Zeit miteinander teilen, als Prototyp aller sozialen Beziehungen (1972). In ihrer Unmittelbarkeit ist sie, so Schütz/Luckmann weiter, »die ursprünglichste und genetisch wichtigste soziale Beziehung« (Schütz/Luckmann 1979: 98), es ist die »Wir-Beziehung, in der sich die Intersubjektivität der Lebenswelt überhaupt ausbildet und kontinuierlich bestätigt« (Schütz/Luckmann 1979: 97f.). Die Face-to-face-Begegnung gewährleistet, dass sich Handelnde fortwährend wechselseitig aneinander orientieren können. »In der Begegnung ist mir das Bewußtseinsleben des anderen durch ein Maximum an Symptomfülle zugänglich.« (Schütz/Luckmann 1979: 95) Durch das Beobachten seines Gesichtsausdrucks und seiner Gesten, das Hören der Stimme und so fort, kann Ego die Vorgänge im Bewusstsein von Alter erfassen, so Schütz/Luckmann weiter, und zwar ohne dass Alter es vorsätzlich mitteilt. Alle anderen Situationen, die auf Einseitigkeit und/oder Mittelbarkeit basieren – zum Beispiel ein 2 | Die deutsche Übersetzung verwendet die Formulierung »Abgeschirmtes Engagement« und spricht von »Schutzwällen«, die das »Engagement gegen die Wahrnehmung abschirmen« (Goffman 2009: 54f.). Ich bleibe im Folgenden beim Begriff »involvement shield« und zitiere entsprechend das englischsprachige Original aus dem Jahr 1963.
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Briefwechsel oder eine Zeitungsannonce –, gelten als von dieser Elementarsituation abgeleitet. Dennoch sind sich Personen, auch wenn sie sich am selben Ort in derselben sozialen Situation aufhalten, nicht automatisch wechselseitig zugänglich. Mit dem Begriff der Zugänglichkeit lassen sich die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten, welche sich Interagierenden in solchen Situationen ergeben, genauer fassen. Der Begriff »accessibility« (1963: 104) wurde von Goffman verwendet, um die Möglichkeiten zu beschreiben, unter denen einander Unbekannte in öffentlichen Situationen Kontakt zueinander aufnehmen (1963: 104-110). In sozialen Situationen sind die Anwesenden zu einer gewissen Bereitschaft zum Engagement verpflichtet – »those present will be obliged to retain some readiness for potential face engagements« (Goffman 1963: 104). Goffman zufolge handelt es sich um eine »allgemeine Regel«, derzufolge der Einzelne dazu verpflichtet ist, sich für Begegnungen verfügbar zu machen (»the individual is obliged to make himself available for encounters«; Goffman 1963: 107). »Accessibility« ist sozusagen der Zustand, in dem sich die Individuen befinden, bevor sie in eine fokussierte Interaktion miteinander treten. Fokussierte Interaktion wird aber nicht einfach nur durch leibliche Anwesenheit der Interagierenden hergestellt. Goffman hat in seinem wegweisenden Aufsatz Footing (1981) eine typologische Begrifflichkeit entwickelt, um die verschiedenen Teilhabestrukturen und Zugänglichkeiten in sozialen Situationen zu beschreiben. Er spricht hinsichtlich fokussierter Interaktion nicht von Sprechern und Hörern, sondern von »participants«, die sich in ihrer Teilhabe an der Situation im sogenannten participation framework unterscheiden. So können Anwesende zum Beispiel für mich nicht erreichbar sein, weil sie selbst gerade in eine fokussierte Interaktion verwickelt sind, bei der ich kein ratifizierter Teilnehmer bin. In diesem Fall sind sie für mich nicht als Gesprächspartner zugänglich; ich kann lediglich als ein (sichtbarer) »bystander« zum Ohrenzeugen des Gesprächs werden und warten, bis die Zeit gekommen ist, mich in das Gespräch einzumischen, oder ich kann das Gespräch auch unterbrechen und damit für kurze Zeit oder auch länger zum ratifizierten Teilnehmer der Interaktion werden. Ein komplizierter Fall liegt beim »eavesdropper« vor. Er wird Zeuge von Gesprächen, deren Beteiligte sich unbeobachtet wähnen. Nicht immer lauscht der »eavesdropper« freiwillig, etwa, wenn er Zeuge eines Streits der Nachbarn wird. Goffmans Begriffe wurden in zahllosen Untersuchungen aufgegriffen, teils wurden sie auch kritisiert. Stephen Levinson etwa bemängelte an Goffmans Kategorien folgendes: »Unfortunately, although Goffman’s categories are a notable advance on earlier schemes, they do not seem sufficient.« (1988: 169) Sie seien erstens »empirically inadequate«, zweitens »unexplicated« und schließlich inkonsistent (ebd.). Um der empirischen Vielfalt der Produktionsformate gerecht zu werden, versucht Levinson daher eine weitergehende
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Systematisierung, die vor allem die »production roles« ausdifferenziert, also zum Beispiel zwischen »source« und »speaker« unterscheidet oder zwischen »adressee« und »target« etc. In eine andere Richtung geht die Kritik von Goodwin/Goodwin (2004: 240): Sie zeigen in erster Linie, dass Goffman die Kategorien Sprecher und Hörer (zu) strikt getrennt voneinander betrachtet und nur der Kategorie des Sprechers eine »rich cognitive complexity« zugesteht. Man gewinne aber weniger durch eine Fokussierung »on the construction of category systems for types of participants, but instead on the practices actors use to participate together in the endogenous courses of action that make up their lifeworlds« (2004: 240). So zeigen sie zum Beispiel, welche Rolle das Blickverhalten der Interagierenden (also des Sprechers und des Hörers) für die Produktion einer Äußerung spielt. Goodwin und Goodwin machen in ihrer Kritik am Begriff des participation framework stärker als Goffman die konkrete Äußerungsproduktion zum Gegenstand der Analyse und fokussieren mehr auf die konkreten Einzelheiten von Interaktion (für die besondere Bedeutung von »engagement displays« siehe insbesondere Goodwin 1981: 95-125). Der vorliegende Essay schlägt eine andere Richtung ein und richtet das Augenmerk auf ein anderes Merkmal des participation framework, welches stattfindet, noch bevor die Interagierenden in eine fokussierte Interaktion miteinander eintreten. Goffman selbst hat mit dem Begriff »civil inattention« schon auf ein besonderes Format des participation framework aufmerksam gemacht: auf Situationen nämlich, in denen sich Personen wechselseitig wahrnehmen, aber dann, auf Grundlage dieser wechselseitigen Wahrnehmung, eben nicht in Interaktion miteinander treten. Wie Adam Kendon in seiner Diskussion von Goffmans Begriff »civil inattention« aufzeigt, gehört aber auch zu dieser Interaktionsunterlassung ein gewisses Maß an Interaktion: »In this seemingly most unfocused of situations, thus, we can nevertheless detect a series of momentary agreements not to sustain a joint focus of attention and in this, it seems, we have instances of interaction that have some of the properties of the focused interchange.« (1988: 25) Ich möchte im Folgenden zeigen, wie in diesen Situationen Zugänglichkeit angezeigt und wechselseitig hergestellt bzw. wie Nicht-Zugänglichkeit erzeugt wird. Unter Zugänglichkeit verstehe ich das Phänomen, dass Interagierende nicht nur einfach anwesend oder einfach abwesend sind, sondern anderen Interagierenden in unterschiedlichem Ausmaß für Interaktion zur Verfügung stehen. So kann eine Person körperlich anwesend sein, aber nicht-zugänglich, oder sie kann körperlich abwesend, aber dennoch zugänglich sein. Für beide Möglichkeiten spielen Medien eine entscheidende Rolle. Um zugänglich zu sein, muss man nicht notwendig körperlich anwesend sein; und körperliche Anwesenheit garantiert keine Zugänglichkeit. Von William J. Mitchell stammt der Begriff »economy of presence«. Er bezieht sich damit auf das Phänomen, dass (im Unterschied zur antiken Agora oder einer Schweizer Kantonsabstim-
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mung) im Zeitalter der Telekommunikation keine körperliche Gleichzeitigkeit notwendig ist, um Anwesenheit zu erzeugen. Man könne zum Beispiel via Telefongespräch eine synchron verlaufende Telepräsenz (»remote presence«) erzeugen, mittels E-Mail eine asynchrone Telepräsenz und so fort (1999: 128ff.). Bei dieser Fülle von Anwesenheitsoptionen müsse der Einzelne wählen und eine Entscheidung treffen: Schreibe ich eine Mail (»remote asynchronous communication«) oder rufe ich an (»remote synchronous communication«), hinterlasse ich eine Notiz auf dem Schreibtisch (»local asynchronous communication«) oder suche ich das direkte Gespräch (»local synchronous communication«)? Darüber hinaus könne der Einzelne, so Mitchells weiter (siehe 1999: 136), seine Aufmerksamkeit zwischen fern und nah aufteilen (ein Telefongespräch führen und zugleich ein Kind beim Spielen beaufsichtigen). In dieser neuen Ökonomie der Anwesenheit müsse, so Mitchell, der Einzelne mit seiner Anwesenheit haushalten. Mitchells Argument enthält eine diachrone Perspektive: Im digitalen Zeitalter habe sich eine deutliche Verschiebung von der »local synchronous communication« hin zur »remote asynchronous communication« ergeben (1999: 136f.). Sein schematischer Überblick übersieht allerdings, dass auch in Situationen, die in Mitchells Sinn »local synchronous« sind, Medien eine entscheidende Rolle spielen.
3. Z ugänglichkeit und die R olle der M edien Anwesenheit ist also etwas, was in Face-to-face-Situationen zunächst als einfach gegeben angenommen wird – schließlich definieren sich Face-to-face-Situationen über wechselseitige Wahrnehmung. Was geschieht nun aber mit dieser Anwesenheit und mit dieser wechselseitigen Wahrnehmung als anwesend, wenn die Bedingungen der Face-to-face-Situationen nicht mehr gelten? Wenn die Beteiligten sich räumlich nicht gegeben sind und keine Ko-Präsenz vorhanden ist, sprechen wir üblicherweise von Abwesenheit und von fehlender Zugänglichkeit. Das herausragende Merkmal (alter) Medien ist ihre Fähigkeit, das Fehlen direkter und wechselseitiger Zugänglichkeit zu kompensieren, gerade dann, wenn die Teilnehmer sich nicht zur selben Zeit am selben Ort aufhalten. Es sind Medien, die Interagierenden erlauben, die Begrenzungen zu transzendieren, die Zeit und Raum ihnen auferlegen. Üblicherweise werden Anwesenheit und Abwesenheit als dichotome, einander ausschließende Zustände behandelt. Man kann nicht abwesend und anwesend zugleich sein, so die bisherige Sichtweise – eine normative und stark verkürzte Perspektive, wie sich zeigen lässt. Anwesenheit und Zugänglichkeit sind offensichtlich empirisch keine unteilbaren Angelegenheiten. Zwischen ihnen bestehen zahlreiche Abstufungen und Variationen. Auch Mitchell machte darauf aufmerksam, dass entfernte Anwesenheiten möglich sind (»remote presence«). Die Differen-
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zierung gilt aber auch für körperliche Anwesenheit. Nicht jeder, der in einem Raum leiblich anwesend ist, ist auch ›da‹. Solange mein Körper anwesend ist, kann ich nicht nicht anwesend sein (um eine berühmte Formulierung von Paul Watzlawick zu paraphrasieren). Man kann aber offenbar auch ein bisschen anwesend bzw. ein bisschen zugänglich sein. Wir alle wissen, dass man zum Beispiel ›in Gedanken woanders‹ sein kann oder dass wir jemanden, der uns nicht zuhört, als ›geistesabwesend‹ bezeichnen. Anwesenheit ist also modulierbar. Für diese Modulierung von Anwesenheit und Zugänglichkeit spielen nun Medien eine ganz besondere Rolle. Die Grade an Zugänglichkeit, die dabei erzeugt werden können, hängen von den verschiedenen Medien ab. Die klassische Face-to-face-Situation zeichnet sich dadurch aus, dass die Kommunikation ohne den Einsatz von Medien erstens synchron und zweitens bei leiblicher Anwesenheit geschieht. Medien erlauben nun die entsprechenden Spielarten. Die Funktion der (klassischen, alten) Medien, (mediatisierte) Formen von Anwesenheit bei körperlicher Abwesenheit herzustellen, lässt sich am besten am Beispiel des Telefons aufzeigen. Telefonanrufe verbinden Menschen, die sich nicht am selben Ort aufhalten. Telefonieren erfolgt synchron, aber nicht in leiblicher Anwesenheit: Die Teilnehmer haben nur eingeschränkten, auf das Auditive beschränkten Zugang zueinander (sie können einander nicht sehen, nicht riechen und nicht anfassen). Telefonanrufe verbinden Menschen, welche sich nicht am selben Ort aufhalten. Bei anderen Medien ist diese Verbindung einseitig, etwa dem Fernsehen, und es ist ihre Speicherfunktion oder ihre Verbreitungsfunktion, welche dominiert. Hinsichtlich der neuen, der sogenannten sozialen Medien, stellt sich die Frage von An- oder Abwesenheit aber in einer ganz neuen Weise. An- und Abwesenheit sind keine einander ausschließende Kategorien. Für die sozialen Medien ist nämlich vielmehr typisch, dass sie Spielarten der Anwesenheit ermöglichen, die sich nicht in die einfache Dichotomie von Anwesenheit und Abwesenheit einordnen lassen. »Unter medialen Bedingungen sind An- und Abwesenheit keine sich wechselseitig ausschließenden Status, sie lassen sich besser als Kontinuum verstehen.« (Greschke 2013: 382) Das »Verhältnis von An- und Abwesenheit unter medialen Bedingungen« (Greschke 2013: 378) erlaubt Zustände, die mit den dichotomen Begriffen anwesend/abwesend nicht treffend beschrieben sind. Als einfaches Beispiel lassen sich die Status-Option der Voice-over-IP-Software »Skype« und des Instant Messaging-Programms »ICQ« anführen.
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Abbildung 1a: Status-Optionen in »Skype«
Abbildung 1b: Status-Optionen in »ICQ«
»Skype« erlaubt eine Manipulation der Status-Option, die neben anwesend (online) und abwesend (offline) – wohlgemerkt bei laufender Anwendung und damit »Anwesenheit«! – mehrere Modulationen anbietet (away, do not disturb, invisible u.a.). Hier sind offensichtlich verschiedene Grade von Anwesenheit herstellbar, von denen nur zwei eindeutig sind: der oberste, der auffällig Anwesenheit markiert (online), sowie der unterste, der Abwesenheit herstellt (offline). Schon der Knopf (away) nimmt eine Mischform ein — eine Art abwesende Anwesenheit: Ich bin zwar da, aber jetzt eben nicht. Eine sehr widersprüchliche Mitteilung sendet der Knopf do not disturb aus (bzw. DND in Abb. 1b). Es handelt sich hier um eine paradoxe Information, da dieser Knopf erst die Aufmerksamkeit auf sich zieht, die eigentlich vermieden werden sollte. Das Status-Zeichen do not disturb betont einerseits Anwesenheit, aber es betont zugleich Nicht-Ansprechbarkeit bzw. Nicht-Erreichbarkeit. Am interessantesten ist der Knopf invisible, der den Nutzer in einen liminalen Status versetzt, weil er selbst sehen kann, welche seiner Kontakte online sind, seine eigene Anwesenheit aber verbirgt. (Es ist durchaus möglich und nicht unwahrscheinlich, dass andere Nutzer, die nicht anwesend bzw. nicht sichtbar sind, ebenfalls diese Einstellung verwenden. Wenn dies der Fall ist, sind mehrere Akteure ›da‹, die vorgeben, nicht anwesend zu sein.) An- und Abwesenheit folgen unter medialen Bedingungen einer komplizierteren und etwas verschränkten Logik, der zufolge man auch Abwesenheit durch Anwesenheit markieren kann, wie zum Beispiel im do not disturb-Status auf Skype, den out of office- oder away from keyboard-Optionen in den gängigen Instant Messengern. Die meisten Internettelefonanbieter und Instant Messenger bieten dabei vorgefertigte Status-Optionen an, teils gibt es auch individuell befüllbare Status-Optionen (z.B. ein enjoying the balcony, welches Anwesenheit, aber Nicht-Zugänglichkeit markiert). Mit diesen Optionen können Beteiligte
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sich also als sichtbar und zugänglich oder als sichtbar und unzugänglich oder aber als unsichtbar, aber zugänglich etc. herstellen. Dies bedeutet zunächst, dass Medien nicht notwendig dafür verwendet werden, Zugänglichkeit herzustellen. Der kommende Abschnitt vertieft dieses Argument; er zeigt, wie in alltäglichen Kontexten durch neue und alte Medien Zugänglichkeit und Nicht-Zugänglichkeit hergestellt werden kann.
4. N icht-Z ugänglichkeit herstellen : M edien als S chut zschilde Medien können Zugänglichkeit herstellen. Medien können aber andererseits in Situationen, in denen man sich nicht in einer fokussierten Situation befindet, als Schutzschilde dienen. Bei Goffman sind mit involvement shields ursprünglich Orte und Gegenstände gemeint, mit welchen Akteure ihr Tun nach außen abschirmen können (Goffman 1963: 38-42). Involvement shields begrenzen Wahrnehmung oder schirmen eine Tätigkeit von Blicken anderer ab, etwa Sonnenbrillen, Fächer oder Masken (»a variety of barriers to perception used as involvement shields«, so Goffman 1963: 39). Entsprechend können auch Räume als involvement shields verwendet werden, etwa wenn sich jemand in eine Toilette zurückzieht. Im Folgenden wird Goffmans Begriff jedoch in einer etwas anderen Bedeutung verwendet. Unter involvement shields werden hier Gegenstände verstanden, mittels derer Akteure anzeigen, dass sie beschäftigt und in eine Tätigkeit verwickelt sind. Ein Telefonhörer, ein Buch, eine Zeitung mögen als Beispiele dienen. Involvement shields werden dazu verwendet, anderen anzuzeigen, dass man für Interaktionen nicht zur Verfügung steht. Bezeichnenderweise machen wir in der Öffentlichkeit von involvement shields intensiven Gebrauch. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen einander fremde Personen sich dichtgedrängt in einem vollen Raum aufhalten müssen, wie auf einem Bahnsteig oder auch bei Wartezeiten in einem Bahnhof. (Aber man kann sich auch zu Hause hinter einer Zeitung oder in ein Buch verkriechen.) Involvement shields dienen hier dem Schutz vor unerwünschter Interaktion, indem der Leser mit seiner Zeitung, Zeitschrift oder Buch eine quasi-fokussierte Situation einnimmt und damit der Interaktion mit anderen ostentativ nicht zur Verfügung steht. Nicht nur Medien können als involvement shield dienen. Letztlich kann alles, was ein Mensch ohne Aufwand mit sich führen kann, als involvement shield verwendet werden (man kann auch intensiv seine Nägel betrachten). Ein ideales involvement shield ist tragbar und zeigt seinen Träger als sichtlich beschäftigt an. Alles, was diese Bedingungen erfüllt, kann als ein involvement shield zum Einsatz kommen. Man kann es als festes Accessoire mit sich führen und bei Bedarf hervorholen, öffnen oder entfalten und legitimerweise seinen Blick daran heften, auch dauerhaft. Damit binden
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involvement shields den Blick des einzelnen Akteurs; zugleich unterbinden sie Blickkontakte mit anderen Akteuren. Je mehr Akteure ihre Blicke auf diese Weise an ihre Blickfänger heften, umso effizienter wird ein zufälliger Blickkontakt zwischen ihnen unterbunden. Dies zeigt, dass diese Aufrechterhaltung einer nicht-fokussierten Situation koordiniert erfolgt. Sich wechselseitig als nicht zugänglich zu behandeln ist eine gemeinsame Leistung. Der typische soziale Ort dafür ist der Wartesaal: Goffman spricht explizit von der »soziale(n) Organisation gemeinsamen Wartens« (1982: 57). In diesen Räumen halten sich Menschen auf, die einander fremd sind und dennoch eine befristete Zeit auf recht engem Raum miteinander verbringen müssen (und dabei auch nicht immer auf- und abgehen können wie auf einem Bahnsteig). An diesen Orten organisieren (vereinfachen, ermöglichen) Medien ein höfliches Beisammensein dieser einander fremden Menschen. Wie groß die Bedeutung von Medien als involvement shields für solche Situationen tatsächlich ist, zeigt sich daran, dass in diesen Räumen vielfach Medien bereitgestellt werden (etwa die Zeitschriftenauslagen in Wartezimmern von Ärzten; aber auch die Ständer mit Informationsmaterial in Behördenfluren; Monitore in Bussen, auf Bahnhöfen und Flughäfen sowie Litfaßsäulen an Bushaltestellen oder Plakate in U-Bahn-Stationen). Nicht jedes Medium eignet sich gleichermaßen als involvement shield für Warteräume. Neben der Tragbarkeit ist ein involvement shield idealerweise geräuschlos, und es kann jederzeit beiseitegelegt werden, etwa wenn man aufgerufen wird oder der Zug einfährt. Generell zählen alle Formen von »Mobilitätsschleusen« (Burkart 2000: 221) – und damit »Warte-, Transport- und Übergangssituationen« wie Bushaltestellen, Bahnsteige, Wartezonen an Flughafengates, aber auch Busse, Züge und Flugzeuge selbst – zu den Orten, an denen involvement shields auffallend häufig gebraucht werden. In A World of Strangers (1973) listet Lyn Lofland, mehrere »principles of symbolic transformation« auf, mittels derer Personen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, »symbolic shields of privacy« herstellen. Sie beschreibt, welche Mittel Personen zur Verfügung stehen, sich in der Öffentlichkeit so zu verhalten, dass dieser Aufenthalt möglichst problemlos und konfliktfrei verläuft. Das vierte dieser Prinzipien lautet »minimize eye contact« (1973: 154). Darunter fällt: »Keep one’s eyes to oneself. Avoid even accidental contact. […] If in a seated or waiting situation, have some prop to look at such as a book or magazine or letter.« (ebd.) Goffman bezeichnet diese Formen von Mediengebrauch auch als »appropriate« oder »occasioned main involvement« (1963: 67 und 56). Die Teilnehmer sozialer Veranstaltungen seien »obliged to sustain at least a certain minimal main involvement« (1963: 51). Insbesondere in Situationen, die mit Warten verbunden sind, ist ein solches minimalistisches Kernengagement erwartbar. »Newspaper, in particular, play an important role here, providing a portable
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source of involvement, which can be brought forth whenever an individual feels he ought to have an involvement but does not.« (1963: 51f.) In der Funktion als involvement shield dienen Medien dazu, die eigene Anwesenheit zu modulieren. Indem Nicht-Zugänglichkeit angezeigt wird, wird die eigene Anwesenheit minimiert. Das bedeutet, dass Medien nicht nur die Aufgabe zukommt, Kommunikation unter Abwesenden zu ermöglichen, also als etwas Verbindendes zwischen zwei Personen zu treten, sondern dass Medien in Alltagsinteraktionen eine weitere Bedeutung zukommt, nämlich als Zeichen für Nicht-Zugänglichkeit zu dienen und damit als Signal, nicht in Interaktion treten zu wollen. Wann genau Medien ihre besondere Qualität entfalteten, als involvement shield zu dienen, ist historisch nur schwer rekonstruierbar. Aus dem 18. Jahrhundert stammen erste Beschreibungen von in der Öffentlichkeit lesenden Menschen: Alle Welt liest in Paris […] Jeder Mensch – hauptsächlich aber die Frauen – hat ein Buch in seiner Tasche. Man liest im Wagen, auf der Promenade, im Theater, in den Pausen, im Café, im Bad. In den Läden lesen Frauen, Kinder, Gesellen, Lehrlinge. Am Sonntag lesen die Menschen, die vor den Türen ihres Hauses sitzen; die Lakaien lesen auf ihrem Rücksitz, die Kutscher auf ihrem Bock, die Soldaten, die Posten stehen sollen […]. (Zitiert nach Wittmann 1999: 421)
In der bildenden Kunst finden sich seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Gemälde (und auch Skulpturen) von in ihren Büchern versunkenen Lesern. Doch scheinen diese Darstellungen mehr einen Zustand tiefer Versunkenheit, also des involvement, aufzeigen zu wollen, denn eine Situation, in der das shielding eine Rolle spielt. Und es scheint nicht die bloße Verfügbarkeit von Lesestoff gewesen zu sein, welche das Potential des Mediums als involvement shield hervorlockte, sondern die neuen Formen von Öffentlichkeit, vor allem die erzwungene Kopräsenz Fremder beim Reisen. Wie Wolfgang Schivelbusch in seiner wunderbaren Geschichte der Eisenbahnreise deutlich macht, bildeten Reisende noch in der Kutsche eine Gesprächsgemeinschaft: »Die Reisenden in der Kutsche bilden eine gesprächige Gesellschaft, Stoff für zahlreiche Romane des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Damit macht die Eisenbahn Schluß.« (Schivelbusch 2004: 71) Die Sitzanordnung zwinge die Menschen in ein Kommunikationsverhältnis, dem die soziale Basis fehle. Schivelbusch beruft sich auf Simmel: »Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen.« (Simmel 1908: 486) In der Moderne habe sich dies geändert, insbesondere die Großstadt und der moderne Verkehr seien dafür verantwortlich. Die Bedeutung von Nicht-Zugänglichkeit hängt offensichtlich auch mit dem Wachstum der Großstädte im 19. Jahrhundert zusammen. In Verfall und
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Ende des öffentlichen Lebens beschreibt Richard Sennett die »Erschütterung des öffentlichen Lebens im 19. Jahrhundert« (1983: 147), es setze sich »das Recht auf Schweigen als ein Recht auf Abschirmung vor öffentlicher Geselligkeit« durch (1983: 247), was sich insbesondere auf den Straßen und in den Cafés bemerkbar machte. Es waren diese Entwicklungen insbesondere des 19. Jahrhunderts, welche das Potential der bis zu diesem Zeitpunkt existierenden Medien, als involvement shield zu dienen, zutage brachten. Im 20. Jahrhundert wurden dann manche Geräte von Beginn an dazu entwickelt, involvement shield zu sein. Dies trifft vor allem auf den sogenannten Walkman und auf die ihm folgenden tragbaren akustischen Geräte zu, welche von vornherein nur dazu vorgesehen waren, mit Kopfhörern verwendet zu werden und damit ihren Nutzer von potentiellen Gesprächsgemeinschaften abzuschirmen (zur Geschichte des Walkman siehe du Gay et al. 1997; zur besonderen Rolle der Requisiten Kopfhörer und Ohrstöpsel siehe insbesondere Weber 2010). Die bisherige Argumentation hat gezeigt, wie Medien dem Einzelnen dabei helfen, sich als nicht-zugänglich anzuzeigen. Im Weiteren wird diskutiert, welche Möglichkeiten den Einzelnen zur Verfügung stehen, wenn sie dafür nicht auf Medien zurückgreifen können. Medien stehen nicht in jeder Gesellschaft und nicht in jeder sozialen Situation gleichermaßen als involvement shield bereit. Goffman erwähnt in diesem Zusammenhang einen Zeitungsstreik in England aus dem Jahr 1954, der dazu führte, dass die Pendler in den U-Bahnen nichts zu lesen hatten. »This meant they had to appear to do nothing, and for a middle class Briton this could have implied a slight disorientation in the situation, a kind of self-exposure and ›over-presence‹.« (1963: 52 FN 9) Was also tun Menschen, wenn ihnen keine Medien zur Verfügung stehen, die ihnen als involvement shield dienen können?
5. »A wayness «: Z ugänglichkeit und N ichtZ ugänglichkeit in alltäglichen K onte x ten Die Wahrnehmung von An- und Abwesenheit unter Face-to-face-Bedingungen wird vorwiegend über die visuelle und akustische Beobachtung von Körperlichkeit (Leiblichkeit) hergestellt. Leibliche Anwesenheit ist dabei keine unveränderliche Gegebenheit, auch wenn man als Einzelner seinen Körper nur begrenzt verkleinern kann. Je nach sozialer Situation stehen den Interagierenden aber Möglichkeiten der »Minimierung von Anwesenheit« (Hirschauer) zur Verfügung. Stefan Hirschauer zeigt dies in einer empirischen Studie über das Verhalten im Fahrstuhl (1999). Anhand von Beobachtungsprotokollen diskutiert er, wie sich die Interagierenden über körperliche Rochaden in Ecken und an den Fahrstuhlwänden entlang räumlich ausrichten, wie sie Körperkontakt aus dem Weg gehen und wie sie direkten Blickkontakt vermeiden – über Blickfeldver-
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engung, über relativ eingeschränkte »Blickkorridore«, etwa das Starren auf den Boden oder auf die Stockwerkanzeige, auf Taschen oder gleich ins Leere. Dabei gilt eine Regel der »Distanzmarkierung«, die dazu führt, dass die Akteure im Fahrstuhl eine Äquidistanz beachten und möglichst gleich große Abstände zueinander halten. Typischerweise teilen sich die Fahrenden den Raum untereinander auf: Sind sie zu dritt, bilden sie eine Art gleichschenkliges Dreieck; sind sie zu viert, ein Quadrat. Sie verhalten sich wie gleich aufgeladene Magnetteile zueinander, die sich bei Hinzukommen eines weiteren Magnets neu ausrichten. Anwesenheit ist also – auch bei leiblicher Ko-Präsenz – nicht einfach gegeben, sondern muss hergestellt werden. Im Beispiel des Fahrstuhls wird Anwesenheit minimiert. Eine besondere Rolle für diese Minimierung von Anwesenheit spielen Blicke. Schon Simmel beschrieb in seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne, dass dem Blicksinn und dem direkten Augenkontakt eine zentrale Rolle für die Konstituierung einer Begegnung und für das Aufrechterhalten einer Interaktion zukommt: »Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.« (Simmel 1908: 484) Für die hier diskutierte Fragestellung ist natürlich von Belang, in welchen Kontexten Blicken ausgewichen und Blickkontakt gemieden wird. Im Fahrstuhl, wo einander Fremde für kurze Zeit auf engem Raum bis hin zur Tuchfühlung zusammenstehen, werden Blicke so organisiert, dass sie sich möglichst nicht treffen oder nur flüchtig kreuzen. Diese »Navigation von Blicken« wird zum Beispiel zunächst darüber organisiert, dass man einander gegenüberliegende (Steh-)Plätze meidet und die Blicke gemeinsam in Richtung der Tür orientiert (Hirschauer 1999: 232). Je voller der Fahrstuhl wird, umso schwieriger wird es, einen »Blickkorridor« aufrecht zu erhalten: Spätestens bei dieser bedrohlichen Verengung des Blickfelds suchen die Blicke nach einem Aufhänger mit einer ähnlichen Dringlichkeit, mit der anderswo Gesprächsaufhänger gesucht werden. Die meisten Fahrstühle fangen die suchenden Blicke mit einer besonderen Vorrichtung auf: der Stockwerkanzeige über dem Eingang. Hier hängt man sie auf, wie an den einzigen freien Kleiderhaken. (1999: 233)
Hirschauer spricht hinsichtlich des Verhaltens im Aufzug von einem »Rückzug aus der Präsenz, eine Modifikation der sozialen Herstellung von Anwesenheit« (Hirschauer 1999: 241, Hervorhebung im Original). Für einen solchen Rückzug und eine Beibehaltung nicht-fokussierter Interaktion auf engem Raum ist die Vermeidung von Blickkontakt zentral. Involvement shields wie Zeitschriften oder Bücher dienen dazu, an öffentlichen Orten »Territorien des Selbst« (Goffman)
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herzustellen, »ein temporäres, situationelles Reservat« (1982: 57) zu erzeugen. Am besten gelingen diese Territorien des Selbst mit einem eigenen shield, einem eigenen Buch, einer eigenen Zeitung. Aber auch Zeitschriften-Auslagen können verwendet werden, notfalls können Aushänge studiert oder Anzeigetafeln angestarrt werden (wie im Fall des Fahrstuhls) und damit eine Art minimalistisches Territorium des Selbst erzeugt werden. Wir kennen eine Fülle weiterer Formen, in und mit denen Anwesenheit minimiert wird. (Wir alle wissen, was geschieht, wenn man in einem vollen Seminar eine Frage stellt und dreißig Studenten erfolgreich ihre Anwesenheit minimieren.) Die Fähigkeit, die eigene Anwesenheit zu minimieren, ist vermutlich eine anthropologische Universalie. Das bekannteste Beispiel für die Minimierung von Anwesenheit ist die balinesische Praxis, Abwesenheit in Form von »awayness« herzustellen. Abbildung 2: Tafel 7 »Awayness« (aus Bateson/Mead 1942)
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Tafel 7 aus Batesons und Meads berühmter Studie Balinese Character (1942) zeigt eine Bilderreihe mit Menschen mit abwesenden, ins Nichts starrenden Blicken. »An obverse of the Balinese love of crowded scenes is their habit of withdrawal into vacancy – letting themselves suddenly slip into a state of mind where they are, for the moment, no longer subject to the impact of inter-personal relations.« (1942: 68) Mit dem Begriff »awayness« bezeichnen Bateson und Mead die balinesische Praxis, die es den Akteuren ermöglicht, sich auf engem Raum miteinander aufzuhalten und sich zugleich nicht in fokussierter Interaktion zu engagieren. »Awayness« erlaubt den Balinesen, in enger leiblicher Kopräsenz mit anderen zu verweilen, aber dennoch für Kommunikation unerreichbar zu sein. »Awayness« ist eine Art involvement shield, das nicht auf Medien angewiesen ist. Neben den Blickkorridoren bietet sich der »middle distance stare« an (Lofland 1973: 154) – oder aber auch die Verwendung von Accessoires, die Blickkontakt verhindern oder einschränken wie Sonnenbrillen. Geistige Abwesenheit, Gedankenverlorenheit, Tagträumereien stellen weitere Möglichkeiten dar, sich aus einer Situation hinaus- und in sich selbst zurückzuziehen (siehe hierfür Schütz 1971). »This kind of inward emigration from the gathering may be called ›away‹ […].« (Goffman 1963: 69) Im Unterschied zum Gebrauch eines medialen involvement shields ist der Zustand des »away«-Seins nicht immer auf Anhieb erkennbar und in der westlichen Gesellschaft auch nicht gleichermaßen etabliert wie die »awayness« in der balinesischen Gesellschaft. Wer in der westlichen Gesellschaft ›nur‹ geistesabwesend ist, läuft Gefahr, dennoch angesprochen zu werden oder als zerstreut zu gelten. Involvement shields stellen die bessere Maßnahme dar. Man kann mit ihnen schließlich auch vorgeben, etwas zu tun, etwa zu lesen, und damit in Goffmans Sinne den Forderungen nach einem »certain minimal main involvement« nachkommen, selbst wenn man das nicht wirklich tut. Und man kann vorgeben, etwas nicht gehört oder gesehen zu haben, weil man so in sein Buch vertieft gewesen sei. Dies bringt uns zum nächsten Punkt: die Rolle der Sinne.
6. D ie B edeutung der S inne Jedes Medium eignet sich als involvement shield. Aber nicht jedes Medium eignet sich gleichermaßen als involvement shield in öffentlichen Kontexten. Manche Medien benötigen Kabel, Anschlüsse und große, sperrige Geräte (Fernseher etwa). Sie sind daher relativ unbeweglich und häufig an bestimmte Räume gebunden (ein Wohnzimmer z.B.). Bücher und Zeitungen waren über Jahrzehnte hinweg deswegen so geeignet und zum involvement shield geradezu prädestiniert, weil sie tragbar und für jedermann zugänglich sind. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sie Gesellschaft bekommen. Technische
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Entwicklungen haben dazu geführt, dass bei vielen Medien die Geräte bzw. Gegenstände kleiner, leichter und mobiler wurden (siehe zu dieser Entwicklung im Einzelnen Ayaß 2010 und 2012). Sie können nun ihren Nutzern folgen. Diese neuere Entwicklung betrifft zum Beispiel tragbare Musikgeräte und Telefone. Anders als die mobilen involvement shields Bücher und Zeitungen, welche den Sehsinn binden, sind diese neuen mobilen Geräte sehr viel stärker (aber nicht nur) auf den Hörsinn gerichtet. Für die Organisation der Sinne und die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit spielt dies eine zentrale Rolle. Aus soziologischer Perspektive ist das Hören anders strukturiert als das Sehen. Simmel begründet dies mit der dem Hörsinn fehlenden Reziprozität: In soziologischer Hinsicht scheidet sich weiterhin das Ohr vom Auge durch den Mangel jener Reziprozität, die der Blick zwischen Auge und Auge herstellt. Das Auge kann seinem Wesen nach nicht nehmen, ohne zugleich zu geben, während das Ohr das schlechthin egoistische Organ ist, das nur nimmt, aber nicht gibt; […]. (Simmel 1908: 487)
Anders als Augen könne man, so Simmel weiter, Ohren nicht so ohne weiteres verschließen. Ohren haben keine Lider. Das Ohr büße seinen Egoismus dadurch, dass es verdammt sei, alles zu hören: »Es büßt diesen Egoismus damit, daß es nicht wie das Auge sich wegwenden oder sich schließen kann, sondern, da es nun einmal bloß nimmt, auch dazu verurteilt ist, alles zu nehmen, was in seine Nähe kommt – wovon sich noch soziologische Folgen zeigen werden.« (Simmel 1908: 487) Mit den mobilen akustischen involvement shields (von denen der sogenannte Walkman schon in den 1970ern populär war) verändert sich die Organisation des Hörsinns in der Öffentlichkeit. Zwar hat das Ohr keine Lider, aber es kann verstöpselt werden und zwischen das Ich und die äußere Umwelt die eigene Musik wie ein Filter gelegt werden. Die Ohrhörer versiegeln in der Regel den Hörsinn nicht so sehr, wie es ein Ohrenlid täte (wenn es denn ein solches gäbe). Sie wirken eher wie Ohrensonnenbrillen – sie filtern und dämpfen die Geräusche der Außenwelt. In Kombination mit einem abwesenden, in die Ferne oder nach innen gerichteten Blick vermitteln sie eine noch stärkere Unzugänglichkeit für die Umgebung, da nun der Sehund der Hörsinn gebunden sind. Die neuen akustischen tragbaren Geräte (und die sog. Smartphones) binden den Hör- und den Sehsinn, nicht nur wegen der Bedienelemente wie dem Click Wheel, welche immer wieder die visuelle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Unterschied zu den klassischen involvement shields wie Zeitungen und Büchern haben diese neuen involvement shields das Problem, dass sie teils zu klein sind, um von Außenstehenden wahrgenommen werden zu können. Wenn aber Alter nicht bemerkt, dass sich Ego ein involvement shield umgelegt hat, verliert dieses seine schützende Funktion.
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Abbildung 3a: im Bus
Abbildung 3b: in der U-Bahn
Abbildung 3a zeigt die Omnipräsenz der akustischen tragbaren Geräte in heutigen öffentlichen Transportmitteln. Auch wenn es nicht auf Anhieb erkennbar ist: Fast jeder verwendet ein involvement shield. Beide junge Frauen rechts mit den Pferdeschwänzen (und mit dem Rücken zum Betrachter) tragen Ohrstöpsel, die beiden jungen Frauen ihnen gegenüber, die mit dem Rücken zum Fahrer sitzen, teilen sich ein Paar Ohrhörer (was bedeutet, dass ein involvement shield zwei Personen schützen kann), die junge Frau ganz vorne rechts (neben dem Fahrer) trägt ebenfalls Ohrstöpsel. Interessant ist an dieser Situation, dass die von den
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Personen verwendeten Ohrstöpsel optisch nahezu verschwinden und nicht eindeutig erkennbar sind (weder auf dem Foto noch in der realen Situation). Dadurch verliert das involvement shield einen Teil seiner Schutzfunktion, da es für Außenstehende nur mehr an den dünnen Kabelschnüren erkennbar ist. Es gibt seitens der Nutzer mehrere Möglichkeiten, sich gegen ein solches Missverständnis zu schützen. Eine besteht darin, die Erkennbarkeit des involvement shields sicherzustellen, indem seine Sichtbarkeit maximiert wird. Es lässt sich derzeit beobachten, dass viele Personen in der Öffentlichkeit besonders große Kopfhörer verwenden, die mit großen Hörmuscheln ausgestattet sind und mit einem Bügel über den Haaren getragen werden, was die Sichtbarkeit des involvement shields garantiert (siehe in Abb. 3a links den jungen Mann mit den Pilotenkopfhörern). Ein solch demonstrativer Gebrauch lässt sich immer häufiger beobachten: Die überdeutliche Vergrößerung des involvement shields garantiert seine Sichtbarkeit. Auch die fortdauernde sichtbare Beschäftigung mit dem shield trägt zu seiner Schutzfunktion bei. Dies kann zum Beispiel hergestellt werden, indem das shield vor dem Körper gehalten und die Augen daran geheftet werden (siehe Abb. 3b), aber auch durch eine stark vorübergebeugte Körperhaltung, bei der sich der Körper des Nutzers fast um das shield krümmt (so dass man sich fragen kann, wer hier das shield ist), durch welche die Nicht-Zugänglichkeit deutlich wahrnehmbar markiert wird. Am intensiven Gebrauch solcher elektronischen Geräte in der Öffentlichkeit zeigt sich, dass neben den bewährten involvement shields Buch und Zeitung (und Sonnenbrille) sich in den letzten Jahren ein neues mediales involvement shield etabliert hat, das sich insofern als ein ideales shield erweist, als es sowohl die akustischen wie auch die visuellen Sinne zu binden versteht. Eben weil sie die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer so sichtbar binden und dabei beide Sinne beanspruchen, sind diese neuen tragbaren Media Player als involvement shield so ungemein tauglich. Die Indifferenz gegenüber der Umgebung, die auf den Fotografien zum Ausdruck kommt, erinnert an Simmels Beschreibung der Blasiertheit aus seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903). »Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit.« (Simmel 1995: 121) Der Großstädter verhält sich blasiert, weil seine Sinne von den Eindrücken der Großstadt überfordert und überlastet sind. Entsprechend reagiert er reserviert auf die Überfülle an Eindrücken und Reizen, indem er sich der Reaktionen auf sie verweigert: »[…] diese eigentümliche Anpassungserscheinung der Blasiertheit, in der die Nerven ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden, darin entdecken, daß sie sich der Reaktion auf sie versagen […]« (Simmel 1995: 122). Diese Haltung des Großstädters wird von Simmel als »Reserviertheit« beschrieben: »Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.« (Simmel 1995: 122) Eine solche Reserviertheit kann mit mehreren Mitteln her-
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gestellt werden: mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck, durch das Tragen von Sonnenbrillen, aber eben auch durch den Rückzug aus der Situation via involvement shield. Die besondere Bedeutung von involvement shields für das Verhalten in der Öffentlichkeit und insbesondere in Mobilitätsschleusen ist schon erwähnt worden. Eine wesentliche Eigenschaft vieler Medien, welche sie so geeignet dafür machen, als involvement shield zu dienen, ist natürlich ihre Mobilität: Ein Buch und eine Zeitung kann man überall hin mitnehmen und jederzeit verwenden. Sie passen in jede Tasche. Dies gilt natürlich auch und vor allem für Mobiltelefone. Abbildung 4a: Wartezone (in einem Flughafen)
Abbildung 4b: Wartezone (in einem Hauptbahnhof)3
3 | Mein Dank gilt Doris Grießner, Gnesau, Österreich, von der diese Fotografie stammt.
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Abbildungen 4a und 4b zeigen typische Mobilitätsschleusen. Auch wenn sie sich in Ort und Verkehrsmittel voneinander unterscheiden, weisen sie überraschende Ähnlichkeiten auf. Fotografie 4a entstand im Hauptbahnhof einer mittelgroßen Landeshauptstadt in der mitteleuropäischen Provinz, Fotografie 4b auf dem internationalen Flughafen einer nordeuropäischen Hauptstadt. Beide Bilder wurden ursprünglich nicht aufgenommen, um den Gebrauch von involvement shields in der Öffentlichkeit zu dokumentieren, sondern um Wartende und ihre Tätigkeiten festzuhalten. Was wir sehen, sind expressive Formen von involvement (mit und ohne Medien). Nahezu jeder ist mit irgendetwas beschäftigt. In Abbildung 4a sind fast alle mit ihren verschiedenen involvement shields befasst. Die Bandbreite der verwendeten shields ist tatsächlich beeindruckend. Abbildung 4b zeigt die Beschäftigung in vielfältigen Aktivitäten: Alle sind damit befasst zu essen, zu lesen, Aushänge und Anzeigetafeln zu studieren, und auch: zu telefonieren. Mobiltelefone und Smartphones entpuppen sich als vielfach einsetzbare involvement shields: Man kann mit ihnen Musik hören, man kann auf ihnen Fotos oder Filme anschauen, man kann ihre Tasten betätigen (und etwa spielen oder Textnachrichten schreiben). Mit diesen Optionen haben sie ähnliche Schutzschild-Funktionen wie die akustischen Media Player auch. Aber es gibt einen Unterschied, ob man jemanden unterbricht, der telefoniert, oder jemanden, der Musik hört oder liest. Wer die Aufmerksamkeit der mit Lesen oder Hören beschäftigten Personen auf sich ziehen möchte, muss sie beim Lesen oder Zuhören unterbrechen. Zwar kann dies für den Leser oder Hörer unangenehm und unerwünscht sein, aber diese Tätigkeiten können relativ problemlos unterbrochen werden (durch ein Lesezeichen oder die Pausetaste) und später wieder aufgenommen werden. Lesende Menschen haben Blickkontakt mit etwas, auch Musik hörende Menschen haben ›Ohrkontakt‹ mit etwas, telefonierende Menschen aber haben Hörkontakt zu jemandem. Das Besondere am Gebrauch des Mobiltelefons als involvement shield ist die Tatsache, dass eine weitere Person involviert ist, mit der das Telefongespräch geführt wird. Wer einen Lesenden anspricht, stört ihn – beim Lesen. Wer aber einen Telefonierenden unterbricht, unterbricht ein Gespräch und dringt in eine fokussierte Interaktion ein bzw. stört sie. Ein solcher Vorgang wird in der Regel als aufdringlich und unhöflich empfunden, weil es eine fokussierte Interaktion, ein Telefongespräch, unterbricht. Entsprechend gut funktioniert das Mobiltelefon als involvement shield. In einer anderen Hinsicht funktioniert das Mobiltelefon als involvement shield jedoch nicht gut. Hinsichtlich der Minimierung von Anwesenheit ist es mindestens ambivalent. Zwar markiert die telefonierende Person sich zunächst als unzugänglich und als nicht zur Verfügung stehend für die Interaktion mit anderen Anwesenden (und minimiert damit Anwesenheit), aber sie zieht häufig Aufmerksamkeit auf sich – und maximiert damit ihre Anwesenheit. Dies beginnt mit eventuell aufdringlichen Klingeltönen, betrifft weiter das Phänomen,
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dass Telefonierende oft vergleichsweise laut sprechen und endet damit, dass Umstehende oft zum Zuhören gezwungen werden. Ling spricht bei diesem Phänomen von »forced« oder »coerced eavesdropping« (2004: 140). Zugleich markiert die telefonierende Person ihre Nicht-Zugänglichkeit – durch gesenkten Kopf, abgewandte Körperhaltung, teilweise auch durch Positionswechsel. Ling beschreibt weiter, wie Mobiltelefonierende den Blickkontakt mit ihrer Umgebung vermeiden: »The tendency for those who are using a mobile phone in public to avoid looking into the eyes of other persons is quite strong.« Ling versuchte, mit mehreren Dutzend Personen Blickkontakt herzustellen, welche im Gehen auf der Straße telefonierten: »Generally this was not possible.« (2004: 134) Durch ihre geschlossene Körperhaltung etablieren Akteure, welche Mobiltelefone in der Öffentlichkeit verwenden, nicht unbedingt eine private Sphäre, aber eine Sphäre der Nicht-Zugänglichkeit im öffentlichen Raum. Wie Goodwin (2000) zeigt, ist Blickkontakt zwischen Sprechern und Hörern zentral, um fokussierte Interaktion einzugehen und aufrechtzuerhalten. Im Gegenzug ist die Vermeidung von Blickkontakt das einfachste Mittel, Interaktionen aus dem Weg zu gehen. Was nicht mit Bestimmtheit beantwortet werden kann, ist die Frage nach der selektiven und alleinigen Zuwendung zum Medium, also dem involvement shield, und der Ausblendung der Umgebung. Mit einem involvement shield ausgerüstet zu sein, bedeutet nicht, die Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Vielmehr scheint die Aufmerksamkeit nur partiell gebunden zu sein. Ich habe keinen Fall beobachten können, wo ein Nutzer in sein involvement shield so vertieft gewesen wäre, dass er seine Umgebung gar nicht mehr wahrgenommen hätte. Aufrufe in Warteräumen – weder in ärztlichen Wartezimmern noch an Flughafengates – werden nicht überhört, einfahrende Züge oder ankommende Busse nicht übersehen. Es erfolgt also keine ausschließliche, die Sinne absorbierende Zuwendung. Vielmehr scheinen die Nutzer sich mit geteilten Sinnen und geteilten Aufmerksamkeiten sowohl ihrem Medium als auch ihrer Umgebung zu widmen (wobei sie teilweise so tun, als wären sie voll und ganz auf ihr Medium konzentriert). Dies wird besonders dann auffällig, wenn Wartende aufgerufen werden. Die folgende Bilderserie wurde innerhalb weniger als einer Minute aufgenommen:
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Abbildung 5a: Wartezone (in einem Flughafen)
Abbildung 5b: etwa 20 Sekunden später
Während das erste Bild noch eine recht statische Wartesituation zeigt, ist nur wenige Sekunden später, nachdem der Aufruf erfolgt ist, plötzliche vielfache Bewegung zu erkennen (die sich auch deutlich in der Fotografie selbst niederschlägt). Die Frau, die in Abb. 5a mit dem Rücken zum Betrachter sitzt und weiße Ohrstöpsel trägt, hat diese in Abb. 5b schon abgenommen und ist dabei, sie zu verstauen, in Abb. 5c hat sie ihre Warteposition schon verlassen. Offensichtlich bedeuteten Ohrstöpsel nicht, dass die Geräusche der Umgebung vollständig ausgeblendet würden. Hingegen zeigen sich beide Personen in der
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Mitte des Bildes, welche nicht mit akustischen involvement shields befasst sind (er ›blättert‹ auf einem Mobiltelefon, eventuell kontrolliert er Termine oder SMS; sie liest eine Tageszeitung), vom Aufruf und der plötzlichen Bewegung der Umgebung relativ ungerührt. Abbildung 5c: weitere 20 Sekunden später
Beide haben nicht einmal aufgesehen, gleichwohl ist unwahrscheinlich, dass sie den Aufruf überhört haben und auch die sie umgebende Bewegung der anderen Passagiere nicht bemerkt haben. Das Beispiel macht deutlich, dass der Gebrauch von involvement shields insofern ambivalent ist, als die Nutzer sich zwar einerseits deutlich abschirmen und signalisieren, dass sie nicht für Interaktion zur Verfügung stehen, andererseits aber keineswegs in ihr Medium so involviert sind, dass sie ihre Umgebung vollständig aus den Augen verlören. Sie signalisieren damit, wem (oder was) ihre Aufmerksamkeit vordergründig gilt und ob sie für Interaktion zur Verfügung stehen. Es zeigt sich hier, dass die Beteiligten zwar nicht offen und auch nicht verbal interagieren, aber über wechselseitige Wahrnehmung und Beobachtung eine Situation aufgebaut wird, welche die Zuwendung der Beteiligten zu ihren jeweiligen involvement shields respektiert.
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7. S chluss : M ediatisiertes V erhalten an öffentlichen O rten Medien verdanken ihre erstaunliche Fähigkeit, in der Öffentlichkeit als involvement shield zu dienen, wie schon erwähnt ihrer (geringen) Größe und ihrer Mobilität. Sie können im Sitzen, im Stehen und manche sogar im Gehen verwendet werden. Sie binden die Sinne ihrer Nutzer und ermöglichen ihnen, im öffentlichen Raum ein Territorium des Selbst zu errichten. Die Beschäftigung mit ihnen kann jederzeit unterbrochen oder beendet werden. Während früher (sagen wir 1963, als Goffman Behavior in Public Places veröffentlichte), in erster Linie Zeitungen und Sonnenbrillen verwendet wurden, hat sich mit dem Entstehen der neuen digitalen Medien (und der mit ihnen verbundenen Geräte), insbesondere den akustischen Media Player und den Mobiltelefonen, das Bild entschieden gewandelt. Was wir beobachten können, ist ein mediatisiertes Verhalten im öffentlichen Raum (um Goffmans Titel zu beleihen: ein ›mediated behavior in public places‹). Dieses Phänomen liefert einen weiteren Beleg für die Mediatisierung des alltäglichen (privaten wie öffentlichen) Lebens (zu den Prozessen der Entgrenzung und Veralltäglichung von Medien siehe Ayaß 2012). Es stellt sich daher abschließend die Frage, worin die besondere Eignung für Medien als involvement shield besteht. Schließlich kann das intensive Betrachten der eigenen Fingernägel, das ausdauernde Kramen in einer Handtasche oder gar das Anstarren einer Aufzugsanzeige ähnliche Funktionen erfüllen. Und Goffman betont, that »[a]pparently one of the most significant involvement shields is that afforded by a conversational circle itself« (1963: 176). In diesem Sinne scheint fast alles »shield-able« zu sein. Warum also eignen sich ausgerechnet Medien so sehr zum involvement shield? An dieser Stelle kann ein Begriff von James Gibson beliehen werden, der ihn allerdings in einem anderen Kontext verwendet, nämlich dem Verhalten von Tieren und Menschen in ihren spezifischen Umgebungen. Gibson verwendet den Begriff »affordances«, um auf die konkreten Begegnungen zwischen einem Lebewesen und seiner Umgebung einzugehen. Eine bestimmte Oberfläche, die einen soliden Untergrund bietet, ist in diesem Sinn »stand-onable«, andere Formen »sit-on-able« etc. (1977: 68). Dieses Argument lässt sich auf die charakteristischen Eigenschaften von Medien übertragen. Von Bedeutung sind dabei diejenigen Eigenschaften der Geräte, die sie zu brauchbaren involvement shields machen, die sie somit ›shield-able‹ machen und so zu ihrer ›shieldability‹ beitragen. Wenn man die Perspektive der Betrachtung umkehrt, erkennt man schnell, dass sich mit den verschiedenen Medien eine Reihe verschiedener Dinge tun lassen. Man kann zum Beispiel mit einer Zeitung mehr tun, als sie nur zu lesen. Man kann mit ihr nasse Schuhe ausstopfen, Fenster putzen, eine Fliege totschlagen, einen Sonnenhut basteln, den Boden des
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Mülleimers auslegen etc. All das kann man mit einem Mobiltelefon nicht tun, das hingegen als Taschenlampe verwendet werden kann (wozu wiederum eine Zeitung nicht taugt). Medien unterscheiden sich also stark hinsichtlich ihrer »affordances«. Was sie jedoch gemeinsam haben, ist ihre ›shieldability‹, ihre Eignung, als Schutzschilde zu dienen. Diese besondere ›shieldability‹ besteht auch darin, dass die Personen ihre je eigenen Schilde verwenden, die sie (meist) nicht mit anderen teilen. Eine gemeinsame kommunikative Ressource (wie eine Durchsage über eine Verspätung) ist allen Anwesenden zugänglich und könnte wiederum einen Anlass für Interaktion bieten. Ein Buch aber, das ich nur selbst lese, ein Gespräch, das nur ich führe, eine Musik, die nur ich hören kann, taugen vor allem deswegen als involvement shield, weil sie verglichen mit anderen Aktivitäten (einen Gartenzaun streichen, einen Hund ausführen, kochen) dem Hinzukommenden oder dem Beobachter die Ressourcen entziehen, auf deren Basis ein Gespräch eröffnet werden könnte. (Hunde etwa haben eine erbärmliche shieldability, wie jeder weiß, der einmal einen Hund ausgeführt hat. Sie machen ihren Besitzer vielmehr zu einer offenen Person.) Medien können also dazu verwendet werden, Anwesenheit zu verbergen oder zu minimieren oder Nicht-Zugänglichkeit zu markieren. Mit Hilfe von Medien manipulieren Interagierende ihre Zugänglichkeit. Für diese Darstellungen von Nicht-Zugänglichkeit spielt die aktive Zuwendung zu den Benutzeroberflächen der Medien und ihre die Sinne absorbierenden Elemente eine entscheidende Rolle. Durch den Gebrauch der Medien modifizieren die Nutzer ihr eigenes Da-Sein, ihre ›there-ness‹, so dass durch das Medium die eigene Zugänglichkeit entweder hergestellt oder verhindert, maximiert oder minimiert wird. Zugänglichkeit ist damit von körperlicher Anwesenheit oder Abwesenheit unabhängig. Menschen sind nicht einfach zugänglich, nur weil sie anwesend sind, und nicht-zugänglich, nur weil sie abwesend sind – dies zu zeigen war das Ziel dieses Essays. Zugänglichkeit (bei körperlicher Abwesenheit) und Nicht-Zugänglichkeit (bei körperlicher Anwesenheit) sind keine physischen Gegebenheiten, sondern vielmehr Herstellungen. Sie werden aktiv hervorgebracht, indem sich Menschen in Interaktionen durch ihren Mediengebrauch als zugänglich oder nicht-zugänglich präsentieren und hervorbringen und andere als zugänglich oder nicht-zugänglich behandeln. Diese Prozesse ermöglichen Interaktionen, können sie aber auch erschweren oder verhindern. (Nicht-)Zugänglichkeit herzustellen und darzustellen bedeutet damit in diesem Zusammenhang auch, dass sie nicht von einem Einzelnen allein hergestellt und gemeistert werden kann. Die Her- und Darstellung von (Nicht-)Zugänglichkeit benötigt andere (seien sie abwesend oder anwesend) und ist damit ein reziproker Vorgang. In einer Gesellschaft, die durch die Entwicklung der Medien eine permanente Erreichbarkeit des Einzelnen ermöglicht, ist sie aller-
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dings eine zentrale Maßnahme, um mit der eigenen Anwesenheit ökonomisch umzugehen. Mit dem Begriff der Zugänglichkeit sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass participation framework nicht erst dann einsetzt, wenn Interagierende dabei sind, in eine fokussierte Interaktion einzutreten. Die Zugänglichkeit der Teilnehmer ist ein Teilhabestatus, den die Interagierenden herstellen, manipulieren und sich gegenseitig anzeigen. Zu dieser Definition der Situation gehört, sich wechselseitig zu ignorieren, aber auch zu ignorieren, dass man ignoriert wird. Wollen die Akteure in eine fokussierte Interaktion miteinander eintreten, müssen mitunter involvement shields überwunden oder beiseite gelegt werden. Dies zeigt, dass das Vermeiden von fokussierter Interaktion das Ergebnis eines sorgfältig hergestellten participation framework ist.
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Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel Konstanze Marx
This paper deals with results from a case study that allows conclusions regarding the conceptualization of mourning work on the WWW. In this context the entanglement between private and public communication is relevant. The way the web community reacted to the crash of German Wings airplane 4U9525 evokes the assumption that handling death and grief turns from »inside« back to »outside«, thus from private to public. It is shown that the community tries to involve different subjects in the discourse in order to avoid a loss for words which would be counterproductive within an interactive media platform. The vast criticism on the media coverage by a large number of users is combined with a range of emotions such as rage and anger. Keywords: Social Web, grief, collective, media criticism, anger
E inleitung 1 Es ist eine große, digitale Suchbewegung der Verzweiflung, so unbeholfen, wie der Umgang mit dem Tod eben ist.
S ascha L obo2 Der Umgang mit Tod und Trauer war lange Zeit – oder mit den Worten von Ariès (1980/2015) »von Homer [850 v. Chr.] bis Tolstoi [1828-1910]« – akzeptierter und vertrauter Bestandteil des Lebens. Der Tod, so heißt es im Klappentext des Buches von Ariès, wurde »häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung 1 | Stefan Hauser, Roman Opiłowski und Eva L. Wyss sei herzlich für ihre hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version des Manuskripts gedankt. 2 | www.spiegel.de/net z welt/web/germanwings-abstur z-sascha-lobo-ueber-diemedienreaktionen-a-1025466.html [08.11.2017, 17:03].
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empfunden«. Diese Auffassung verkehrte sich etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Gegenteil (vgl. Ariès 1980: 716) als der Tod aus der Gesellschaft quasi »ausgebürgert« wurde (siehe auch Maywald 2014: 55). Mit der Verlagerung des Sterbeprozesses in den Bereich des Privaten (der Tod als »Privatangelegenheit«, Ariès 1980: 785) wurde auch die gesellschaftliche Kommunikation über den Tod eingestellt (vgl. Brommer 1989). Das wirkte sich auf die Trauer aus, die möglichst unterdrückt und schon gar nicht öffentlich zur Schau gestellt werden sollte. In der Atmosphäre einer Verweigerungshaltung wurde es für Trauernde zunehmend schwieriger, ihren Gefühlen einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, was dazu führte, dass sie sich mehr und mehr von der Gesellschaft, der Öffentlichkeit zurückzogen. Sowohl Tod als auch Trauer brachten Einsamkeit mit sich. Eine Situation, die sich Schwarz-Friesel (2013: 275) zufolge bis heute kaum verändert hat: Trauer wird als etwas Privates, nicht nach außen in die Sphäre der Gesellschaft zu Tragendes gesehen. Intensiv ausgelebte Trauer wird daher als Zeichen der emotionalen Labilität gesehen. […] Über den Tod, das Sterben, den Verlust und die Emotion der Trauer spricht man öffentlich wenig und wenn, nur im Rahmen hoch konventionalisierter Formen.
Diese Beobachtung wird auch von Fiehler (2014: 50) geteilt, der feststellt, dass »das individuelle Gefühl der Trauer in den Hintergrund« rückt, »je mehr die Trauer den persönlichen Bereich verlässt.« Stattdessen sähen wir uns dann einer »Vielzahl von ritualisierten Ausdruckserscheinungen« gegenüber. Linke (2001) findet hingegen in Traueranzeigen einen gegensätzlichen Trend, sie spricht von einer »exhibitionistisch anmutende[n] Zurschaustellung von Trauer und Abschiedsleid in ›offenen Briefen‹« (Linke 2001: 217, vgl. auch Lage-Müller 1995: 173). Zwar werde Trauer nicht mehr als kollektives, sondern als individuelles Phänomen modelliert. Einzelne suchten aber in der massenmedialen Öffentlichkeit die soziale Resonanz, die früher von kleineren Kreisen vermittelt werden konnte. So gebe es eine Tendenz zum verbalen Ausdruck von Trauer, die mit einer zunehmenden Diskursivierung von Gefühlen und Gefühlsbezeichnungen einherginge. Damit sei ein fundamentaler Wandel in der Konzeptualisierung von Öffentlichkeit, Individualität und Intimität verbunden (Linke 2001: 218f.). Der hier angedeutete Wandel lässt sich auch aus medizinhistorischer und -ethischer Sicht bestätigen. So rücke der sterbende Mensch auch im Kontext sogenannter »End of Life Decisions« in den Fokus der Klinischen Ethik, Palliativmedizin und des Medizinrechts, was mit einer »Enttabuisierung von Sterben und Tod« einherginge (Kaiser/Rosentreter/Groß 2010: 8). Diese Enttabuisierung wird durch die Berichterstattung in den traditionellen Medien unterstützt. Tod und Trauer sind aber auch als Themenbereich im World Wide Web angekommen, wo sich mit virtuellen Friedhöfen und spezifi-
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel
schen Foren (z.B. zu sogenannten Sternenkindern, dazu Tienken 2016 und in diesem Band) Zugänge und Praktiken3 entwickelt haben, die nicht nur einsehbar sind, sondern auch die Partizipation ermöglichen (etwa durch das Aufstellen einer virtuellen Kerze u.ä., vgl. Tienken 2013). In dieser alternativen Öffentlichkeit öffnet sich der Umgang mit einem Tabuthema wieder deutlich einer größeren Gemeinschaft, eine Entwicklung, die Linke (2001: 218) anhand der Veränderungen der Textsorte Todesanzeige schon vorskizziert. Von einer alternativen Öffentlichkeit spreche ich, weil sie prinzipiell zugänglich ist, dieser Zugang aber nicht von allen gewählt wird. Auf Sozialen-Netzwerk-Seiten, wie Facebook und Twitter, lässt sich nun darüber hinaus nachvollziehen, dass sich das Thema Tod seinen Weg in den gesellschaftlichen Diskurs zurückbahnt. Die Reaktionen der Netzgemeinde auf den Absturz des German-Wings-Flugzeuges #4U95254 sind m.E. im deutschsprachigen Web ein bislang einzigartiges Zeugnis kollektiver Online-Trauerarbeit. Im hier vorliegenden Beitrag bilden die Online-Reaktionen auf den tragischen Flugzeugabsturz entsprechend die Grundlage der Analyse. Für die Studie wurden Tweets, die unter den Hashtags 4U9525 und Germanwings veröffentlicht wurden, Facebook-Statusmeldungen auf öffentlichen und privaten Facebookseiten und Einträge in den Online-Kondolenzbüchern der Lufthansa (www.indeepsorrow.de) und der Stadt Haltern (http://eservice2.gkd-re.de/haltern/Kondolenzbuch.html) qualitativ ausgewertet. Nachfolgend werde ich zwei wesentliche Ergebnisse dieser Analyse vorstellen, meine Ausführungen sind entsprechend zweigeteilt. Zum einen werde ich zeigen, dass in den Web-Reaktionen Verhalten gespiegelt wird, das für individuelle Trauer charakteristisch ist (Kap. 2). Diesen Ausführungen stelle ich allgemeine Erkenntnisse zum individuellen Trauern voran (Kap. 1). Zum anderen soll der medienkritische Diskurs thematisiert werden, der sich unmittelbar in diesem kollektiven Trauerprozess entwickelte. Ich werde diese Diskursentwicklung mit Blick auf die spezifischen Social-Media-Bedingungen zu erklären versuchen (Kap. 3 und 4).
3 | Siehe zum Praktikenbegriff den Überblick von Deppermann/Feilke/Linke (2016) 4 | Es handelte sich hier um einen Linienflug von Barcelona nach Düsseldorf. Das Flugzeug des Typs Airbus A320-211 stürzte am 24. März 2015 auf dem Gebiet der Gemeinde Prads-Haute-Bléone im südfranzösischen Département Alpes-de-Haute-Provence ab. Alle 150 Fluggäste kamen ums Leben. Unter dem Wikipedia-Eintrag »Germanwings-Flug 9525« wird der Abschlussbericht der Kommission zur Flugunfalluntersuchung zitiert, derzufolge der Copilot, Andreas Lubitz, den Absturz der Maschine willentlich herbeigeführt habe, um Suizid zu begehen.
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1. V erl aufsmodelle von Tr auer Trauer gilt als eine komplexe psychologische Reaktion auf »einen schwerwiegenden und unwiderruflichen Verlust. Dabei kann es um den Verlust eines nahestehenden Menschen gehen, um den Verlust von Besitz, aber auch um den unvermeidlichen Abschied von wichtigen Lebenszielen, sozialen Rollen und Wertvorstellungen« (Schmitt/Mees 2009: 633). In der Trauerforschung stehen sich – grob zusammengefasst – zwei Ansätze zu Verlauf und Bewältigung von Trauer gegenüber. In einem Ansatz werden Trauerphasen konstatiert, die die trauernde Person quasi durcharbeitet (vgl. Abb. 1). In den jeweiligen Modellen werden unterschiedliche Bezeichnungen für die konstatierten Phasen verwendet. Auch die Anzahl der Phasen variiert zwischen drei (z.B. bei Rando 2003), vier (z.B. bei Spiegel 1973 und Kast 1994) und fünf (bei Kübler-Ross 1969).
Tabelle 1: Beispiele für Trauerphasen in den Modellen von Spiegel (1973), Kast (1994), Rando (2003) und Kübler-Ross (1969) Rando (2003)
Spiegel (1973)
Kast (1994)
Kübler-Ross (1969)
Vermeidung
Schockphase
Leugnen
Leugnen
Konfrontation
kontrollierte Phase
Intensive Emotionen
Zorn
Phase der Regression
Suchen, Finden, Loslassen
Verhandeln
Adaption
Akzeptanz und Neu- Akzeptanz und Neuanfang anfang
Depression Anpassung
Im Wesentlichen ist jedoch allen phasenbasierten Trauerprozessbeschreibungen gemein, dass die Negation des Traueranlasses als unmittelbare Reaktion auf den Verlust angenommen wird. Für den nächsten Schritt beschreibt Spiegel (1973), dass Trauernde bedingt durch die notwendigen organisatorischen Aufgaben, die mit der Beisetzung der verstorbenen Person zu bewältigen sind, kontrolliert agieren und das Geschehen wie Beobachtende erleben. Kast (1994) und Rando (2003) gehen davon aus, dass die erste Schockphase vom Empfinden intensiver Emotionen (etwa Ärger bei Kübler-Ross 1969) abgelöst wird. Diese münden – Spiegel (1973) und Kast (1994) zufolge über einen Zwischenschritt des (inneren) Rückzugs – in die Schlussphase der Trauer, die Anpassung. Kübler-Ross (1969) nimmt eine zusätzliche (innere) Aushandlungsphase an, in der die trauernde Person die Hoffnung generiert, eine Verhaltens- oder Einstellungsänderung hätte dazu beitragen können, den Grund für die Trauer zu vermeiden. Die Anpassungsphase markiert die Rückkehr ins Leben und involviert den nach vorne gerichteten Blick, der sich etwa in Zukunftsplä-
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel
nen zeigt. Die Praktikabilität solcher Phasenmodelle für die Anwendung in der Trauerbegleitung liegt auf der Hand: So kann den Trauernden eine äußere Struktur als Orientierungsrahmen angeboten werden, während es ihnen selbst durch den Verlust verwehrt bleibt, Halt zu finden. Professionelle Helfer können spezifische Reaktionen als für die jeweiligen Trauerphasen charakteristisch rückkoppeln und den normalen Verlauf eines Trauerprozesses suggerieren. Grundlegend kritisiert wird nun aber, dass es keine empirische Evidenz für die Allgemeingültigkeit solcher Modelle gibt (Schmitt/Mees 2009: 635, Bonanno 2012). Wortmann/Silver (2001) sprechen gar von fünf kulturell geteilten Mythen über den Trauerprozess. Dazu zählt, dass auf den Verlust eine Phase intensiven Leids folgen muss (1). Bleibt diese aus, werde das als Zeichen einer pathologischen Entwicklung gedeutet (2). Eine Konfrontation mit den Verlustgefühlen und damit eine Trauerarbeit sei unausweichlich (3), dürfe aber nicht in eine lang anhaltende emotionale Bindung an die verstorbene Person übergehen (4). Chronische Trauer läge dann vor, wenn Hinterbliebene auch nach maximal zwei Jahren nicht zum »normalen« Funktionieren zurückgekehrt seien (5). Schmitt/Mees (2009: 635) räumen jedoch ein, dass Trauerprozesse in Einzelfällen durchaus analog zu den oben beschriebenen Phasen verlaufen können, insgesamt aber von einer individuellen Bewältigung auszugehen ist. Gemeinsam sind beiden Zugängen zentrale Aufgaben, wie die Akzeptanz der Realität, die Anpassung der emotionalen Bindung zu dem verstorbenen Menschen an die Realität, Durchleben und Bewältigung des Verlustschmerzes und die Anpassung an das Leben in Abwesenheit der geliebten Person (dazu Worden 2006, auch Schmitt/Mees 2009). Menschen sollten auf Basis der sogenannten Resilienz5 in der Lage sein, diesen Aufgaben ohne professionelle Hilfe gerecht zu werden (Bonnano 2012), wobei das als besonders schwierig einzustufen ist, wenn der Tod unerwartet eintritt (vgl. Stroebe/Schut 2001 zu Risikofaktoren bei der Trauerbewältigung).
5 | Unter Resilienz wird die naturgegebene Widerstandsfähigkeit gefasst, die es Menschen ermöglicht, starke Stresssituationen aus eigener Kraft zu überwinden (u.a. Berndt 2015).
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2. E lemente individueller Tr auer in der K ollek tiv tr auer 2.0 In den öffentlichen Reaktionen auf das Unglücksereignis, auf das hier metonymisch und analog zum Hashtag-Konnektiv6 mit 4U9525 referiert wird, lassen sich nun Parallelen zu den zentralen Elementen individueller Trauer finden. Diese sind die mit dem ersten Schock verknüpfte Leugnung (dazu Kap. 2.1), das Empfinden starker Gefühle, die zwischen Traurigkeit, Einsamkeit, Sehnsucht, Schuld, Angst, Ärger und Wut (u.a. Shuchter/Zisook 1993) changieren (dazu Kap. 2.2), sowie die notwendige Rekonstruktion des Weltbildes, die mit der Neuorganisation des Lebens einhergeht (Schmitt/Mees 2009) (dazu Kap. 2.3).
2.1 Fassungslosigkeit und Zweifel als Spiegelelemente für die Leugnung Was in der individuellen Trauer als Leugnen gefasst wird, zeigt sich in der einsehbaren (öffentlichen) Reflexion eines Trauerfalls insbesondere im Ausdruck von Fassungslosigkeit (unfassbar in 1, fassungslos in 2 und in attributiven Konstruktionen, z.B. unfassbare Tragödie, es tut mir unfassbar leid, unfassbar traurig). (1) In Gedanken an die Opfer dieses schrecklichen Unglücks. So traurig, so unnötig, so unfassbar. RIP (GW-Kondolenzbuch, Eintrag vom 8.9.2015) (2) Wir sind betroffen und fassungslos. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. In Gedanken sind wir bei ihnen. #4U9525 (Tweet, Die Mannschaft @DFB_Team, 24. März 2015, R7, RT299, L730)7
In den Beispielen 3 und 4 wird diese konkreten und damit fassbaren Erfahrungen (Sichtkontakt beim Boarding, Umbuchung) entgegengesetzt, was den Eindruck des Irrealen verstärkt. (3) Ich saß heute morgen in der gleichen Zeit im Flugzeug von Germanwings von Barcelona nach Stuttgart.wir haben am Gate mit den Passagieren des verunglückten Flugzeuges gemeinsam auf das boarding gewartet…unfassbar, ich kriege diese Bilder nicht
6 | Als Hashtag-Konnektiv bezeichne ich Wörter oder Zeichenkombinationen, die mit einem Hashtag indiziert werden und denen damit verschiedene textuelle Funktionen zugewiesen werden (vgl. dazu Marx 2017). 7 | Die Quellenangaben werden hier jeweils mit einer Mengenangabe zu den Social-Media-Reaktionen angegeben. R steht dabei für Reply (oder Antwort bei Facebook), RT steht für Retweet (oder Teilen bei Facebook) und L steht für Like.
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel auf meinem Kopf. Mein tiefstes Beileid an die Angehörigen… (Facebook, 24. März 2015, 20:31) (4) Ich wäre mit dieser Maschine geflogen, habe meine Reise verschoben. Meine Zeit war noch nicht gekommen. Mein tiefes Mitgefühl allen Angehörigen und Freunden der Opfer! (Facebook, 24. März 2015, 16:13)
Dabei wird oftmals die eigene Unfähigkeit, das Geschehene zu begreifen, thematisiert. Diese Unfähigkeit ist eng damit assoziiert, Geschehenes nicht begreifen zu wollen (wie das etwa für Hinterbliebene beschrieben wird, vgl. etwa Kast 1994), es schlicht zu negieren. Der Referenzbereich für etwas nicht zu Fassendes bleibt dabei vage, geradezu nebulös und unermesslich. Das wiederum erschwert die Referenzialisierung, weshalb genau diese Problematik metareflexiv zum Gegenstand gemacht wird (gibt es keine Worte in 5, fehlen die Worte in 6). (5) Mein Mitleid gilt den Angehörigen der Verunglückten. Für manche traurigen Dinge dieser Welt gibt es keine Worte. (GW-Kondolenzbuch) (6) Mir fehlen die Worte. Es ist einfach unfassbar. Mein tiefes Mitgefühl und meine Gebete gehen an alle Angehörigen. #4U9525 #Germanwings (Twitter)
Gleichzeitig würde eine Versprachlichung von Gefühlen mit einer Objektivierung einhergehen, die in der Folge reproduzierbar würden (dazu Schwarz-Friesel 2013: 238), was der Tiefe und Exklusivität der Empfindungen zuwiderläuft. Die eigene Sprachlosigkeit festzustellen ist somit auch ein Zeichen besonderer Gefühlsintensität, aus der sich Schweigen als notwendige Konsequenz ergibt, die insbesondere von Prominenten als adäquate Reaktion benannt wurde (7 und 8). (7) Ich denke an die Passagiere von #Germanwings #4U9525 und halte mal die Klappe… (Twitter, @JanJosefLiefers, 24. März 2015, 4:57, RT 289, L916) (8) Nach einem sehr langen Flug zu einer Drehreise nach Neuseeland trifft mich die Nachricht vom Absturz des A320 über den französischen Alpen. Gestern noch habe ich dieses Bild beim Überfliegen der Alpen gemacht. Heute sind meine Gedanken bei den Opfern und den Angehörigen. Eine ganze Schulklasse wurde ausgelöscht… Bei Quarks haben wir die geplante Sendung verschoben. In der »Nacht« wurde ich mehrfach von Talkshows und Sendern angerufen. Nein ich will und kann nicht über die Ursachen des Absturzes spekulieren. In solchen Momenten gibt es für mich nur ein wirkliches Mitgefühl: Schweigen…. [Foto aufgenommen aus dem Flugzeug] (Facebook, Ranga Yogeshwar, 24. März 2015, T1050, L 25.390)
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Sprachskepsis zeigt sich aber auch darin, dass Menschen auf formelhafte Beileidsbekundungen zurückgreifen (Mein aufrichtiges Beileid, unser tiefstes Mitgefühl an die Betroffenen), die wie ein Korsett wirken. Schwarz-Friesel (2013: 275) sieht in diesen hoch konventionalisierten Formen ein Zeichen »kommunikative[r] Hilflosigkeit«. Diese spielt möglicherweise jedoch verstärkt in der direkten Begegnung mit Trauernden eine Rolle. So ist der Rückgriff auf weitere semiotische Ressourcen neben der Sprache eher ein Indiz für den kreativen Ausdruck von Mitgefühl und Trauer, vgl. die Abb. 2. Abbildung 1: Beispiele für den Ausdruck von Trauer mit anderen semiotischen Ressourcen im Web 2.0
Eine zweite Facette des Leugnens spiegelt sich in den verbalisierten Zweifeln der Schreibenden. Dabei wird jedoch nicht in Frage gestellt, dass das Unglücksereignis stattgefunden hat, eine Hoffnung, die für die individuelle erste Trauerphase des Leugnens und Nicht-wahr-haben-wollens durchaus denkbar wäre, weil dabei typischerweise ein Irrtum konstatiert wird. Die Zweifel im öffentlichen Social-Media-Diskurs beziehen sich hingegen auf die Informationen, die über die Ursache des Unglücks verbreitet wurden und werden. Das geschieht indirekt über die Formulierung von Spekulationen (9), die Verbalisierung eines gefühl[s], dass nicht die ganze Wahrheit gesagt wird (10) und über die explizite Benennung als Zweifel, die anscheinend begründet, weil nicht von der Hand zu weisen, sind (11). (9) #4U9525 stell dir vor ein Flugzeug wird über den Alpen abgeschossen und keiner hakt nach! (Twitter, @Harald70199, 6. April 2015) (10) […] ich habe so langsam das gefühl als wenn etwas unter den teppich gekehrt werden soll… […] (Facebook, 29. März 2015, 11:50, 8L)
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel (11) Diese Zweifel sind nicht von der Hand zu weisen…mir geht Ähnliches durch den Kopf. Ich glaube irgendwie nicht an die Suezied Version…wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. (Facebook, 29. März 2015, 11:50, 13L)
Aus diesen Zweifeln entsteht ein Diskursstrang, der weiter elaboriert und mit Verschwörungstheorien und der Suche nach Schuldigen genährt wird. Das Thema Schuld spielt in der zweiten für individuelle Trauerprozesse beschriebenen Phase bei Kast (1994) eine elementare Rolle. Hinterbliebene geben sich zum Beispiel selbst die Schuld am Geschehenen und hinterfragen ihre Rolle in der Beziehung zur verstorbenen Person. Schuldgefühle sind damit ein Element von Trauer.
2.2 Wut als Spiegelelement intensiver Emotionen Zweifel an bisherigen Sinn- und Bedeutungsstrukturen (Lammer 42014: 54f.) sind nur eine Facette der Basisemotion Trauer (dazu Ekman 1977, Izard 1977, Plutchik 1980). Sie kann sich emotional vielfältig äußern, etwa in Traurigkeit selbst, in Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Einsamkeit (Schwarz-Friesel 2013: 68), Angst oder auch in Wut und Zorn (siehe Znoj 2009). Dass also das Gefühl tiefer Traurigkeit nicht der einzige expressive Ausdruck von Trauer ist, ist ein für die nachfolgenden Ausführungen wichtiger Aspekt. Denn neben dem Ausdruck des Mitgefühls und der Suche nach einem Schuldigen entsteht im Social-Media-Diskurs ein Wutdiskurs, der sich gegen die pietätlose mediale Berichterstattung richtet. Das Vorgehen der Journalisten wird als taktlos (12) und blutgeil (13) kategorisiert. Sie werden mit dehumanisierenden Metaphern (Schmeißfliegen, 14)8 als Plage konzeptualisiert und als Arschloch tituliert (15). (12) Schrecklich, dieser #Jauch. Fragt, ob die Passagiere nicht schrecklich geschrieen haben müssen. Taktlos zum Kotzen. #4U9525 (13) […] Wirklich abscheulich ist wie sich die blutgeile Sensationspresse verhält […] (Facebook, 25. März 2015) (14) Schlange am Germanwings-Check-in: Da kommse gleich wie die Schmeißfliegen mit ihren Mikrofonen. Schön eklig, das »Informationsbedürfnis der Bevölkerung« (Facebook, 25. März 2015)
8 | oder auch Bluthunde oder auch ASSGEIER in weiteren Facebook-Posts vom 26. und 27. März 2015.
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Konstanze Mar x (15) BILD ist ein Arschloch (Facebook, 26. März 2015 mit Bezug auf eine WagnerKolumne) 9
Hier akkumuliert sich negatives Emotionspotenzial, das insbesondere an pejorativen Lexemen erkennbar wird und zu einer kollektiven Wut führt. Aus der »Klicktrauer« wird also eine »Klickwut«, wie Sascha Lobo10 es formuliert hat, deren Auswirkungen sich manifestieren.
2.3 Normalitätssehnsucht als Spiegelelement einer Rekonstruktion des Weltbilds Kommentare, in denen der Wunsch nach Normalität (in den hier zitierten Belegen nur wenige Tage nach dem Unglück) klar artikuliert wird (16), (17), werden hier als Indikatoren dafür gesehen, das Weltbild zu rekonstruieren, das durch das tragische Ereignis chaotisiert worden zu sein scheint. (16) Ist langsam mal gut mit dem Unglück? Ja es ist traurig ja man kann es nicht mehr ändern […] (Facebook, 27. März 2015, 1L) (17) als wenn jetzt sich alles nur noch um das eine thema dreht. es ist zwar tragisch, es geht aber auch weiter. (Facebook, 26. März 2015, 23:52, L14)
Der Wunsch, zur alltäglichen Routine zurückzukehren, wird zumeist an relativierende Aspekte gekoppelt, wie Verkehrstote (18) oder Menschen, die Hunger leiden (19). Darüber hinaus werden neue Themen im Social-Media-Diskurs installiert, etwa die Sinnhaftigkeit der Ausweispflicht auf allen Flügen (20). (18) Wer trauert um die Verkehrstoten jedes Jahr oder die die sich freiwillig dafür entscheiden? Diese Menschen betrauert niemand […] Es wird soviel über diesen Flug gesprochen, das es mir zu wider ist, dazu etwas zu sagen! […] (Facebook, 27. März 2015, 6:59) (19) Täglich sterben Menschen,Kinder, weil ein betrunkener unbedingt ins Auto steigen muss….und es ist mir nicht bewußt das Frau Merkel jedes mal eine Pressemitteilung gibt. […] (Facebook, 27. März 2015, 5:29)
9 | Die »Post von Wagner« ist eine von Montag bis Freitag in der BILD-Zeitung erscheinende Kolumne von Franz Josef Wagner. Für die Kolumne zum Absturz der Germanwings-Maschine wurde er stark kritisiert, man warf ihm Pietätlosigkeit vor. 10 | www.spiegel.de/net zwelt/web/germanwings-absturz-sascha-lobo-ueber-diemedienreaktionen-a-1025466.html
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel (20) Häää? Ausweispflicht auf allen Flügen? Und dann stürzen die tatsächlich nicht mehr ab? Das ist ja einfach…. #4U9525 (Twitter, 2. April 2015, @likedeeler, L2)
Auch Satire (21, 22) wird hier als Ausdruck von Normalitätssehnsucht und Relativierung gelesen. Indem die Schreibenden das tragische Unglück als verhöhnbar klassifizieren, scheinen sie dessen Dramatik abzuschwächen. Die Extremität der zynischen Reflexion, die vor allem über plakative Pietätlosigkeit demonstriert wird, überlagert dabei die als solche zunächst kolportierte Singularität des Referenzereignisses 4U9525. (21) Was ist der Unterschied zwischen German Wings und KFC Hot Wings? Die Hot Wings kommen in Deutschland gut an (Twitter, @therealmoneyboy, 24. März 2015, 14:36, RT 443, L1388) (22) Das Handy das gefunden wurde gehört Chuck Norris. Vielleicht hat er flug #4U9525 auch selbst mit einem Roundhouse kick vom Himmel geholt? (Twitter, 1. April 2015)
Satire ist aber gleichzeitig auch eine Strategie, in der Social-Media-Kommunikation sichtbar zu werden. Gerade im Umfeld von formelhaften Beileidsbekundungen, die massenhaft gepostet wurden, besteht die Gefahr, dass einzelne Posts nicht gelesen und entsprechend gewürdigt werden. Wer sich im Web 2.0 äußert, möchte gelesen werden und erhält im besten Fall Resonanz (vgl. das Konzept des digitalen Narzissmus bei Rüdiger 2017). Bei besonders drastischen Äußerungen ist die Chance hoch, registriert zu werden und Rückmeldungen zu erhalten. Damit wäre Interaktion hergestellt, die Basis von Social-Media-Kommunikation ist. Ich komme auf diesen Aspekt im nun folgenden Gliederungspunkt zurück.
3. K ollek tive Tr auer 2.0: B eileid oder Tr auer ? Wir haben bislang gesehen, dass in der kollektiven Trauer Elemente individueller Trauer gespiegelt werden. Dennoch darf durchaus hinterfragt werden, ob die Zuschreibung der Emotion Trauer in den oben zitierten Fällen überhaupt gerechtfertigt ist. Handelt es sich in den Beispielen tatsächlich um den Ausdruck von Trauer oder liegt hier ein Kondolenzdiskurs vor? In der Diskussion dieser Frage sind drei Aspekte zu berücksichtigen. So nennt Fiehler (2014: 49f.) erstens neben dem individuellen auch das kollektive und öffentliche Trauern (und nicht etwa Beileid). Individuelle Trauer ist die Trauer einer einzelnen Person, die auf den
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Verlust eines Menschen oder Lebewesens reagiert und diesen dadurch zugleich bearbeitet. Da ein Verlust jedoch in vielen Fällen nicht nur die Person betrifft, die der verstorbenen Person am nächsten stand, bezeichnet kollektives Trauern die Vergemeinschaftung in der Trauer. Die Trauer wird entsprechend in gesellschaftlichen Ritualen, wie z.B. Trauerfeiern, geteilt. Die Reaktion eines Gemeinwesens oder Staates auf den Verlust zentraler Persönlichkeiten oder größerer Menschengruppen (z.B. mit Staatstrauer, einer Schweigeminute etc.) wird als öffentliche Trauer bezeichnet. Zweitens schreiben sich diejenigen, die im Web 2.0 kondolieren, selbst Trauergefühle zu (unsere ganze Familie Trauert mit euch, 27). Die Menschen formulierten – obgleich sie selbst keinen Verlust erlitten hatten (Ich kannte keinen persönlich, 23) – ihren tiefen Schmerz, auch wenn er stellvertretend empfunden wurde (unbeschreiblich und unheilbar, 23, weint unser Herz, 25). (23) Es ist unfassbar traurig was passiert ist. Ich kannte keinen persönlich wünsch mir aber täglich das es nur ein Albtraum war. 149 lebensfrohe Menschen 16 Jugendliche die genauso alt wie ich sind. Es ist einfach schrecklich! It’s time for angels to fly Rest in peace (Malte Henzler, Stuttgart, Deutschland) (24) der Schmerz ist unbeschreiblich und unheilbar, jedoch schließt sich das tiefe Loch mit der Zeit. Ich denke weiterhin jeden Tag an die angehörigen und wünsche Ihnen das der Schmerz mit der Zeit weniger wird. Ihr schafft das. Ihr seid starke Menschen. (A, Dortmund, Deutschland) (25) Nicht nur Haltern trauert,sondern alle die Eltern sind trauern! Unser tiefstes Mitgefühl und Beileid ! Ich bin selbst Mutter von drei Töchtern im Alter von 25, 23, 16 und nehme mit ganzem Herzen an Eurer Trauer teil, da meine Tochter Stewardess bei dieser Gesellschaft ist. An diesem furchtbarem Tag bin ich vor Schmerz fast Ohnmächtig geworden,da meine Tochter auch in dieser Unglücksmaschine sein konnte. Dennoch obwohl meine Tochter heil aber mit Trauma nach Hause kam, weint unser Herz um so mehr um die Kinder die Lehrerrinen und die anderen Opfer. Nicht auf der Welt kann die Trauer der Eltern lindern. Ich kann nur Kraft wünschen dieses schreckliche Leid zu überleben. Unsere Gebete sind mit Euch ………………………. Unser tiefstes Beileid Haltern ……………. Gruß Familie B (B, Marl, Deutschland) (26) Auch heute habe ich wie seit dem 24.03 im Garten eine Kerze angezündet und in den heute klaren Sternenhimmel geschaut. Wie jeden Tag weine ich und denke an die Angehörigen und Freunde. Auch wenn ich keinen der 149 Opfer persönlich kannte bin
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel ich tief betroffen. Ich fühle mich beraubt ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Vielleicht als Lehrer\in meiner Enkeltochter, als Arzt\Ärztin, Mitarbeiter\in bei der Stadt, Verkäufer\in oder als einfach als Mensch von nebenan. […], und ich werde weinen. […] (Eine Mama u. Oma, Haltern am See, Deutschland)
Es lässt sich drittens anhand der sprachlichen Oberfläche oftmals kaum ergründen, wie stark das Mitgefühl mit dem Gefühl des realen Verlusts überlappt. Das ist eine Frage, die in den Bereich der Emotionspsychologie fällt. So benennen Ulich/Volland (1998: 90) Traurigkeit als ein wesentliches Merkmal von Mitgefühl, da der Beobachter selbst Trauer über den Zustand der leidenden Person empfinde (vgl. auch Wilhelm 2004: 8).11 Deutlich wird, dass es Konvergenzen gibt, die sich bis in physiologische Reaktionen ( jeden Tag weine ich, 26) oder zumindest deren Verbalisierung erstrecken. Als Indikatoren für die Unterscheidung zwischen jenen, die ihr Mitgefühl ausdrücken und jenen, die um den Verlust eines Angehörigen trauern, lassen sich etwa die Beileidsbekundung (z.B. tiefstes Beileid in 25, herzliche Anteilnahme in 27) und die Benennung der Beziehung (z.B. für meinen Sohn, 28 vs. denke an die Angehörigen, 24 und 26) zu den Trauernden oder Verunglückten heranziehen. (27) Unsere ganze Familie Trauert mit euch,herzliche Anteilnahme. Familie D (D, Bonn, Deutschland) (28) Jeden Tag zünde ich für meinen Sohn eine Kerze an. Ich vermisse ihn so sehr. (1.12.2016)12
Die explizierten Gefühle hingegen ähneln sich oft. Es wäre zu untersuchen, ob Menschen, wenn sie von formelhaften Kondolenzbekundungen abweichen wollen, stärker auf das Ausdrucksrepertoire für Trauer zurückgreifen. Die Klärung dieser Frage ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
4. M edienspe zifische A bweichungen in Tr auermustern In der Webumgebung sehen wir uns einer spezifischen Situation gegenüber, denn Social Media sind auf Interaktivität angelegt. Während also davon ausgegangen werden kann, dass ein Eintrag in ein traditionelles Kondolenzbuch
11 | Siehe auch Unsere ganze Familie Trauert mit euch in Bsp. 27. 12 | www.huffingtonpost.de/brigitte-voss/ein-licht-umkreist-die-we_b_13303854. html
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ohne Erwartung einer Rückkopplung13 gemacht wird, ist bei Einträgen in Sozialen Netzwerken eine Feedbackerwartung mitzudenken, was an die medialen Affordanzen14 gekoppelt ist. Trauer- und Beileidsbekundungen wird entsprechend auch der Zweck zugeschrieben, sich gegenseitig die tief empfundene Trauer zu versichern, aus diesem gemeinschaftlichen Gefühl Stärkung und soziale Vergemeinschaftung zu ziehen. Wie ich oben beschrieben habe, äußerten die Mitglieder der Trauergemeinde 2.0 ihren tiefen Schock und ihr Mitgefühl gegenüber den Hinterbliebenen. Dieses blieb jedoch – verständlicherweise – ohne Rückkopplung, vergleichbar mit Einträgen in ein Kondolenzbuch.15 Die fehlende Resonanz ist allerdings insbesondere für das interaktionsorientierte Schreiben ungewöhnlich.16 Emotionale Äußerungen, in denen die ProduzentInnen z.T. ihre Gefühle sehr offen beschrieben, liefen also quasi ins Leere. Dabei ist eine Rückmeldung und sei es nur in Form eines Likes (im Sinne einer Lesebestätigung einerseits und eines Danks andererseits) auch für Trauerfälle denkbar, siehe dazu Marx (2018). Einschränkend sei hier aber erwähnt, dass in den dort dokumentierten Fällen Trauernde den Trauerfall selbst in den Sozialen Medien platzierten, entsprechend auch Ansprechbarkeit signalisierten. Im Fall 4U9525 nun entstand der Eindruck eines hilflosen Ringens nach Anschlusskommunikation (vgl. auch das Eingangszitat von Sascha Lobo). Den 13 | Die Adressierung ist hier als nach außen in einen unbegrenzten Raum der Öffentlichkeit gerichtet zu denken. Die Öffentlichkeit kann dabei – wie beim Heiraten – eine institutionelle Funktion, z.B. der Zeugenschaft, einnehmen. Eine Rückkoppelung kann dabei durchaus auch über andere Kanäle geschehen oder ist eben auch gar nicht nötig, wenn man einen Ritualcharakter voraussetzt. 14 | Affordanzen sind dabei nicht allein durch die medialen Bedingungen vorgegeben, sondern werden »von Kommunikationsformen kontext- und situationsabhängig im intelligiblen Gebrauch geschaffen, im fortlaufenden routinisierten Tun konventionalisiert und es können, wenn der Umgang mit ihnen eine reflexive Stufe erreicht, Versuche unternommen werden, sie zu verhandeln, zu regeln und zu manipulieren« (Pentzold/ Fraas/Meier 2013: 86). 15 | Nicht zu vernachlässigen ist aber ein zweiter Aspekt, der sich auf die unterschiedlichen Funktionen von Einträgen in Kondolenzbücher und Kondolenzbekundungen auf Sozialen-Netzwerk-Seiten bezieht. So könnten auch an Hinterbliebene adressierte Beileidsbekundungen online darauf an eine Öffentlichkeit gerichtet sein. 16 | Die Opfer äußerten sich erst später, wie etwa Brigitte Voss in ihrem Blog »Seelenrisse«, in dem sie versucht »in Tagebuchform aus der Rückschau heraus […], das schreckliche Geschehen zu verarbeiten. Damit möchte ich Jens und allen Verstorbenen des mörderischen Fluges 4U9525 ein Denkmal setzen. Es besteht nicht aus Stein, nicht aus Metall und Holz. Worte formen es.« (www.huffingtonpost.de/brigitte-voss/ ein-licht-umkreist-die-we_b_13303854.html)
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Schreibenden auf Sozialen-Netzwerk-Seiten fehlten Anknüpfungspunkte aus dem exklusiven Wissen einer persönlichen Beziehung zu den Verstorbenen und/oder Hinterbliebenen. Im Netz wurde stellvertretend getrauert. Es scheint also geradezu folgerichtig, dass sich das Diskursthema weg von Kondolenzbekundungen hin zu einem Thema verschob, das Teil eines gemeinsamen Erfahrungsraums der Interagierenden war, der sich unmittelbar an das Unglücksereignis konstituierte: die Berichterstattung der traditionellen Medien. Dabei rückten die durchaus auch mit Trauer assoziierten Gefühle Wut und Zorn in den Vordergrund, die sich jedoch nicht gegen die an der Verlustsituation unmittelbar Beteiligten richteten, sondern einen (medien)-kritischen Metadiskurs initiierten (4.1) und Normaushandlungen motivierten (4.2).
4.1 Medienkritik Die Berichterstattung der traditionellen Medien im Unglücksfall 4U9525 bedarf einer eigenen Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Es sei nur soviel gesagt, dass es JournalistInnen nicht durchweg gelang, die Grenze zwischen Informationsauftrag und Voyeurismus nicht zu überschreiten. Insofern wurden sie auch den moralischen Ansprüchen an Pietät und Distanz nicht gerecht, wie u.a. durch sarkastische Kommentare rückgemeldet wurde. Die Kritik erfolgte im Wesentlichen, weil die Berichterstattung in den persönlichen Bereich der Opfer (und des vermeintlichen Täters) eindrang (29, 30). (29) Wir warten nur noch auf Krebserkrankung der Großmutter oder den Wunsch nach Geschlechtsumwandlung! Absurd!!! #Flug #4U9525 #Suizid (Twitter, @KingBalance, 30. März, RT 2, L2) (30) Kenne jetzt den vollen Namen der Freundin des Co-Piloten von #4U9525 –OHNE dass ich ihn wissen wollte. Danke, Presse, ihr seid bekloppt! M((Twitter, @Alyama1, 30. März 2015, RT6, L6)
Über die einvernehmliche moralische Verurteilung der als GEGNER konzeptualisierten journalistischen Akteure (die bekloppt[e] Presse, 30) entstand gleichzeitig ein Trauerkollektiv, das sich gegenseitig bestärken und über die eigentliche Hilflosigkeit und Bestürzung hinwegtäuschen konnte. Der Protest stellte für die Trauergemeinde 2.0 eine Möglichkeit dar, sich auf ein fassbares verbindendes Objekt zu konzentrieren und auch gegen die eigene Traurigkeit zu arbeiten, was auch in Sascha Lobos Feststellung »Traurigkeit hat kein Ziel« zum Ausdruck kommt. Damit manövrierte sie sich aus einer Handlungsunfähigkeit heraus und konnte konkrete Maßnahmen einleiten, wie z.B. die Formulierung eines Leitfadens: »10 Dinge, die wir nach einer Flugzeug-Katastrophe nicht sehen/hören/lesen wollen« oder der Aufruf zum Boykott der
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BILD-Zeitung (24). So wird das sogenannte Witwenschütteln verurteilt und unter anderem unter dem Hashtag #LasstHalterntrauern gebündelt.17 (31) Ich habe soeben offiziell Beschwerde beim Presserat eingereicht gegen die Bildberichterstattung! Das ist weit unter der Gürtellinie, was die da machen. Ich bitte den folgenden Link zu teilen: [Link zur Beschwerde] (Facebook, 27. März 00:34, L3)
In der Folge weigerten sich etliche Kiosk-Besitzer nach dem Unglücksereignis die BILD-Zeitung zu verkaufen. Die leeren Auslagefächer wurden zum Symbol für den Protest gegen Pietät- und Distanzlosigkeit und gleichzeitig zum Zeichen des Mitgefühls mit den Angehörigen der Opfer.
4.2 Aushandlung von Angemessenheit in der Trauerkommunikation In diesem Zusammenhang handelten die Interagierenden auch Normen für das Social-Media-Verhalten in derartigen Unglücksfällen aus. Dabei wurde paradoxerweise besonders das von Ranga Yogeshwar verbalisierte Schweigen honoriert. Der Applaus wurde wiederum mannigfaltig und redundant unter der entsprechenden Statusmeldung artikuliert: Danke! oder […] zolle ich Ihnen höchsten Respekt oder Bravo oder Endlich einer der nicht mit spekuliert- Bravo!!! oder Das einzig richtige,danke dir Ranga oder richtig oder Danke für die ethisch moralisch einwandfreie Haltung! Es deutet sich hier ein Dilemma an, das gerade in einer sensiblen Kommunikationssituation relevant wird: In den Sozialen Medien existiert nicht, wer nicht kommuniziert. In einer Situation aber, in der Schweigen als die moralisch priorisierte Verhaltensweise gilt, gerät die Netzkommunikation selbst in Gefahr. Einen Ausweg stellt dabei schlicht die Metakommunikation über idealerweise zu zeigendes Verhalten dar. Dazu gehört auch, sich gegenseitig an die impliziten Richtlinien zu erinnern, wie es eine Schreiberin (32) tut: (32) Ey, sorry schon mal für meine folgende Ausdrucksweise, egal ob lüge oder Wahrheit, richtig oder falsch, es geht hier um 150 Menschen die mit dem Leben zahlen mussten und NICHT UM EUCH ALSO HALTET DOCH UNTER EINEM BEITRAG WIE DIESEM EINFACH MAL EUER MAUL! drückt den angehörigen eure Anteilnahme aus, oder verschwindet, tragt eure scheisse privat aus ! Ich Fass es nicht (Facebook, 29. März 2015, 20:15, 3L)
Sie wählt dafür einen Modus, der auf Grund von Großbuchstaben, die für Intensität und Nachdruck stehen, des dispektierlich-pejorativen Imperativs 17 | Unter Witwenschütteln ist die jede Diskretion, Rücksicht oder Pietät ignorierende journalistische Recherche nach persönlichen Tragödien zu verstehen.
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel
(HALTET […] EUER MAUL) und der Referenzialisierung scheisse für die geführte Diskussion über die Absturzursache auf hohes Emotionspotenzial schließen lässt. Dass die Regeln streng sind, erfährt auch der Schauspieler Matthias Schweighöfer, der sich schlicht zu spät zum Unglücksereignis äußert (33). In den Kommentaren wird daher die Aufrichtigkeit seiner Beileidsbekundung bezweifelt (wie aufgesetzt in 34, wirkt unaufrichtig in 35, fragwürdig in 36, irgendwie komisch in 37). (33) Kein Kinostart wie sonst. Ich bin zutiefst traurig. Meine Gedanken sind bei den Opfern und Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes… so ein Irrsinn. Schlimm zu spüren, dass man nicht helfen kann, die Trauer zu tragen. #Germanwings #4U9525 (Facebook, Matthias Schweighöfer, 26. März 2015) (34) Blabla…wie aufgesetzt. Da ists besser man äußert sich nicht…. (27. März 2015) (35) Macht für mich den Eindruck, als ob Du gezwungen wurdest, etwas dazu zu schreiben, um nicht gefühllos rüberzukommen und wirkt jetzt unaufrichtig »nach« den übrigen fröhlichen Posts der letzten 2 Tage. (27. März 2015) (36) Ich finde den Kommentar von Matthias auch ziemlich fragwürdig, vor zwei Stunden hat er noch gepostet wer im Kino war und wie sein neuer Film angekommen ist und jetzt ist er zutiefst traurig und will sein Mitgefühl ausdrücken? Nicht sehr taktvoll und wirkt sehr aufgesetzt… […] (26. März 2015) (37) […] aber irgendwie komisch erst nach gut 2 tagen seine anteilnahme posten und gerade jetzt wo sein film anlief. […] (26. März 2015)
Die Benennung des Veröffentlichungsdatums (zwei Tage nach dem Unglück) in Verbindung mit der Social-Media-Aktivität in den beiden Tagen seit dem Unglück dienen hier als wichtigste Argumente. Ein weiterer in der Diskussion geahndeter Vorgang ist das Schalten von Werbung in Kondolenzkontexten (38) (38) Das ist nicht euer Ernst, oder? Hier Werbung zu schalten? Unfassbar (Twitter)
Auch die Verbindung von kommerziellen Interessen und menschlichem Leid wird in den Sozialen Medien verurteilt, etwa als die Reaktion der Börse in die Berichterstattung integriert wird.
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4.3 Das Web 2.0 als Trauerarchiv Der Effekt der im Web 2.0 dokumentierten Trauer ist vielschichtig. Soziale Medien sind gleichermaßen Dokumentationsfläche als auch Archivierungsportal für Trauer. Was in der psychologischen Forschung zu Trauer mitunter als »komplizierte« Trauer18 bezeichnet wird (siehe Schmitt/Mees 2009, Znoj 2004, Rosner 2015 oder auch Jordan/Litz 2014), erreicht im Web 2.0 eine neue Ebene, weil nicht nur die Trauer quasi konserviert und prolongiert wird (39, 40), sondern auch die Beziehung zur verstorbenen Person. (39) Ein Jahr ist es nun her, als die abstürzte Ein dramatisches Ereignis. Viel (Twitter, Melina-Sophie Kraft für die, die Menschen dabei verloren haben. 24. März 2016) (40) Ich kann mich nicht erinnern jemals so geschockt und traurig gewesen zu sein als nachdem diese Nachricht im Fernsehen kam. Ich kann mir nicht vorstellen wie man als Mutter, Vater, Schwester,… mit solch einer Nachricht weiter leben kann. Ich habe geweint. Wie muss es dann erst den Angehörigen gegangenen sein und immernoch gehen. Die Tat ist einfach unbegreiflich. (Kondolenzbucheintrag vom 17.2.2017)
So werden z.B. Facebook-Profile nicht nur nicht gelöscht und als Gedenkseiten genutzt, sie dienen auch der virtuellen Kommunikation mit der verstorbenen Person oder dem Austausch von Erinnerungen für diejenigen, die noch leben. Damit wird die verstorbene Person auf ihrem Online-Portal lebendig erhalten und bleibt virtuell ansprechbar und präsent. Die durch zeitliche und räumliche Distanz gekennzeichnete Kommunikationssituation bietet die Möglichkeit innere Zwiegespräche einem virtuellen Raum anheim zu geben (siehe auch 41). (41) Heute wäre dein 18. Geburtstag! Wir vermissen dich Steffen! Wir denken jeden Tag an dich! #4U9525 (Twitter, 3.11.2016)
Während früher Briefe an Verstorbene oder Gespräche mit dem Grabstein ohne direkte Resonanz blieben, erhalten Trauernde heute Rückmeldungen von Personen, die die Trauer registrieren (können), weil sie auf die Sozialen Medien Zugriff haben. Die Gedanken der Trauernden werden von anderen Trauernden oder Menschen, die Trost spenden wollen, rezipiert und/oder beantwortet. Der Trauerkreis wird dadurch erweitert. Damit erweitert sich auch der Kreis derjenigen, die soziale Unterstützung bieten können. Informelle Stützsysteme bieten Lehmann/Ellard/Wortmann (1986) zufolge günstige Bedingungen für die 18 | Sogenannte »komplizierte« Trauer dauert länger als zwei Jahre und beeinträchtigt Walter (2005) zufolge das effektive Funktionieren der Hinterbliebenen.
Kollektive Trauer 2.0 zwischen Empathie und Medienkritik: Ein Fallbeispiel
Verarbeitung von Trauer. Gleichzeitig werden Tod und Trauer durch die große Verbreitung des Gefühlsausdrucks in Verlustsituationen wieder enttabuisiert.
5. F a zit Ich habe zu zeigen versucht, dass durch die Nutzung des Social Web – einer alternativen Öffentlichkeit also – ein öffentlicher Diskurs über Tod und Trauer re-etabliert wird. Die Trauerkultur im Web 2.0 zeigt damit einen Wandel im Umgang mit Tod und Trauer an und indiziert Konvergenzprozesse zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Die Netz-Community als Instanz einer Öffentlichkeit und Stellvertreter der Hinterbliebenen spiegelt individuelle Trauerprozesse und beeinflusst damit die weitere Modifikation unserer Trauerkultur. Sie konstituiert gleichzeitig einen erweiterten Trauerkreis, der vormals traditionelle Trauerkreise re-installiert und erweitert. Die Emotion Trauer wird über Empathie und die Simulation von individuellen Trauerelementen gespiegelt. Am Beispiel der Trauer im Fall 4U9525 wurde deutlich, dass sich die Netzgemeinde zwei Interaktionsproblemen gegenübergestellt sieht. Zum einen kann die auf Interaktion ausgelegte Kommunikation im Web nicht lebendig bleiben, wenn die eigenen moralischen Ansprüche an Pietät eingehalten werden. Dieser würde man nur durch Schweigen gerecht. Wer aber im Web 2.0 schweigt, existiert nicht. Als Ausweg aus diesem Dilemma generierte sich ein Diskurs, in dem Normen zum adäquaten Umgang mit Tod und Trauer ausgehandelt wurden. Dabei entwickelte sich als Nebenschauplatz die kritische Beobachtung der Berichterstattung traditioneller Medien. Als wichtigster Kritikpunkt wurde hier das unzulässige Eindringen in die Privatsphäre der Hinterbliebenen benannt. Paradox mutet an, dass diese Vorgehensweise gerade von Akteuren des Web 2.0 beanstandet wird, ist das Offenlegen privater Details doch ein essentielles Merkmal für die Präsentation und Kommunikation in Sozialen Medien. Natürlich besteht ein Unterschied darin, ob die Entscheidung darüber, private Informationen im Web 2.0 zu veröffentlichen, selbst getroffen wird oder von Vertretern traditioneller Medien. Eine Schnittstelle der mangelnden Selbstbestimmung ergibt sich jedoch an dem Punkt, an dem Social-Media-Akteure den Lebensalltag ihrer Kinder online offenlegen. Auch das wird im Web kritisch reflektiert, gehört aber dennoch zur gängigen Praxis. Für Folgestudien wäre entsprechend interessant, inwiefern sich die Medienkritik der Netzgemeinde auch aus der Behauptung territorialer Ansprüche an die alternative Öffentlichkeit erklären ließe. Möglicherweise gelten hier exklusive Regeln.
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Der #MeToo 1-Protest Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit 2 Birte C. Gnau und Eva L. Wyss
With the #MeToo protest the debate about the abuse of power and sexism continues on the Internet and beyond in an explosive manner. Recently, a mass movement was set in motion that was triggered by the Weinstein scandal, which came to the attention of the public in October 2017 in American print media, and the Tweet Alyssa Milanos initiated as a result. This initiative was closely linked to Tarana Burke’s predecessor blog »Me too« from 2006. Through this, a hashtag protest and a discourse was established, which manifested the long overdue debate about sexual violence, abuse of power and the underlying structurally favourable conditions in the area of the »alternative« public spheres, which alternated between traditional and the social media, partly at the same time, but not always with equal importance. Today, the public sphere as a space for the development of discourses is more and more subject to a subdivision into sub-publics and an unclear blending of the actually opposing areas of what is regarded as social and general and what is assigned to the private sphere. Using the example of #MeToo, a hashtag protest community with an international dimension, we examine how changes in discourse can be described, which elements of discourse are changing, and to what extent they can be related to changes in the public sphere, especially the communicative practices of social media. Keywords: Alternative public, political communication, Internet, social media, protest, discourse analysis, sexual assault
1 | Auch wenn die Schreibweise der in diesem Artikel verwendeten Hashtags im Internet variiert (neben #MeToo finden sich auch #Metoo oder #metoo) verwenden wir (bei #MeToo und anderen) eine einheitliche Schreibung. 2 | Wir danken den (Co-)Herausgebern für die sorgfältige Lektüre und die weiterführenden Anregungen zum vorliegenden Beitrag.
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V orwort Kurz vor Drucklegung dieses Textes überstürzen sich die Ereignisse. So wirft zum Beispiel die Universitätsprofessorin Christine Blasey Ford in den USA im Zusammenhang mit der Nominierung für den Supreme Court Richter Brett Kavanaugh glaubhaft vor, dass er sie vor über 30 Jahren in volltrunkenem Zustand brutal sexuell attackiert habe, so dass sie sich in Todesgefahr wähnte. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, es wiederhole sich hier Geschichte oder es zeigen sich zumindest Ähnlichkeiten mit der Nominierung von Clarence Thomas und der Anhörung von Anita Hill im Jahre 1991. – Hat sich denn nichts verändert? Zeigt sich keine Auswirkung der #MeToo-Bewegung? Auch heute noch wird deutlich, wie schwierig es für Überlebende (»survivors«3) auch nach Jahren noch ist, von ihrem traumatischen Erlebnis zu sprechen, sowohl im engsten, familiären Kreis, unter FreundInnen oder auch in der Öffentlichkeit (den Behörden) darüber zu berichten. Unverändert ist auch das Faktum der stetigen Beeinflussung der traumatischen, unauslöschlichen Erfahrung für die Überlebenden. Auch in der aktuellen Anhörung wurde klar, dass sich der Schmerz nicht nur bei erneuten Begegnungen mit den Tätern zeigt, sondern diese traumatischen Erlebnisse sich tiefgreifend auf die alltägliche Lebensführung auswirken. Bei allen Ähnlichkeiten zu 1991 werden heute, in der Ära nach #MeToo, andere Normen und Standards erwartet. Durch den Wissenszuwachs, die Bewusstmachung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit von Laien über JournalistInnen bis hin zu PolitkerInnen findet sich zudem eine neue sprachliche Wertschätzung der Betroffenen. Im Kontext der MeToo-Bewegung haben sich die kommunikativen Ressourcen sowie die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beziehungsweise ihre Kontexte (Solidarisierung, Glaubwürdigkeit der Opfer, behördliche Strafverfolgung, alternative Öffentlichkeit der sozialen Medien) gewandelt. Dies sind die ersten Auswirkungen der MeToo-Bewegung. Inwiefern der #MeToo-Protest einen Wendepunkt darstellt, soll in diesem Aufsatz gezeigt werden. In Deutschland entwickeln sich die Diskurse nach anderen Regularitäten und kulturellen Normsetzungen, die nicht nur auf Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen sind, sondern auch auf unterschiedliche Konstellationen von patriarchalischen Verhältnissen einerseits und rechtlichen Möglichkeiten andererseits. Nicht zuletzt spielen auch die Wissensbestände in Gesellschaften eine Rolle für die Integration neuer Umgangsformen. Am Beispiel des internationalen #MeToo-Protests wird untersucht, wie Diskurswandel beschrieben werden kann, welche Elemente des Diskurses sich verändern und inwiefern dieser mit dem Wandel der Öffentlichkeit, insbeson3 | Man spricht im Fall der sexuellen Gewalt von Survivor, was im Deutschen auch als Überlebender/Überlebende wiedergegeben werden kann.
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
dere der kommunikativen Praktiken der sozialen Medien in Zusammenhang gebracht werden kann.
1. D er H ashtag M eToo (#M eToo) gegen se xuelle G e walt Anfang Oktober 2017 wird in zwei Presseartikeln4 – in der New York Times (05.10.17) und im Wochenmagazin The New Yorker (10.10.17) – in ausgesprochen umfassend und detailliert recherchierten Beiträgen, die auf soliden Quellenaussagen basieren, publik, auf welch perfide Art und Weise ein äußerst erfolgreicher Direktor einer renommierten Filmproduktionsfirma, Harvey Weinstein, junge Schauspielerinnen durch Lockvogel-Techniken in einen Hinterhalt lockte, um sie zu sexuellen Handlungen zu nötigen oder sie gar zu vergewaltigen. Nach der Tat hat er seine Opfer unter Androhung von Repressalien zum Schweigen gebracht. Ferner wird geschildert, wie er sich ein System der Vertuschung, ein Schweigekartell, aufgebaut hatte, das unter Mitwirkung von eingeweihten KomplizInnen – MitarbeiterInnen, JournalistInnen, AnwältInnen und PrivatdetektivInnen – über drei Jahrzehnte mehr oder weniger reibungslos funktionierte. Eine Welle der globalen Entrüstung geht in der Folge durch die (sozialen) Medien. In Reaktion auf diese Neuigkeit fordert einige Tage später, am 17. Oktober 2017, eine Hollywood-Schauspielerin, Alyssa Milano, in einem Tweet dazu auf, eigene Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, das heißt sexuellen Belästigungen oder sexueller Gewalt, durch einen Tweet anzuzeigen: Wenn du sexuell belästigt oder angegriffen wurdest, schreibe ›Me too‹ als Antwort auf diesen Tweet. Me too. Auf einen Vorschlag eines Freundes hin: »Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen wurden ›Me too‹ als Status setzen würden, könnten wir der Menschheit eine Idee über das Ausmaß des Problems vermitteln«.
4 | Kantor, Jodi und Twohey, Megan: Harvey Weinstein Paid Off Sexual Harassment Accusers for Decades. New York Times Onlineartikel vom 05.10.2017 unter: https:// www.nytimes.com/2017/10/05/us/har vey-weinstein-harassment-allegations.html [20.05.2018] sowie Farrow, Ronan: From aggressive overtures to sexual assault: Harvey Weinsteins accusers tell their stories. The New Yorker Online vom 23.10.2017 (10.10.2017 [neue Fassung online abrufbar]) unter: https://www.newyorker.com/news/news-desk/ from-aggressive-overtures-to-sexual-assault-harvey-weinsteins-accusers-tell-their-sto ries [18.05.2018].
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Nach diesem initialen Tweet bildet sich der #MeToo, der die sozialen Medien im Sturm erobert. Bereits nach 24 Stunden ließen sich 12 Millionen Facebook-Posts5 und innerhalb einer Woche (24.10.2018) 1,7 Millionen Tweets6 zählen, in denen Missbrauchs-Erlebnisse aus über 85 Nationen (Zahlen vgl. Park 2017) geteilt 7 wurden. Der Online-Protest versammelt schon bald etwa 70 Frauen, die über ähnliche Vorfälle mit Weinstein berichten. Bis heute wurden über 200 Menschen aus Film, Medien, Politik und anderen Bereichen wie Sport und Bildung namentlich als Vergewaltiger oder Belästiger genannt,8 wobei in den oben angesprochenen Beiträgen weitaus häufiger eine anonyme Schilderung der eigenen Erfahrungen und Gefühle erfolgt. Die Täter werden – wenn überhaupt – mehrheitlich durch Verwandtschafts- oder Beziehungsnamen (wie zum Beispiel »Vater«, »Lebenspartner« etc.)9 angegeben. Kaum jemals hätte man gedacht, dass (bislang vor allem weibliche) Missbrauchte je einen Ort und Raum finden würden, oder gar ein Medium, das als Sprachrohr dienen könnte und dazu genutzt würde, sich mit anderen unter einem gemeinschaftlichen Slogan zusammenzuschließen und das Thema des sexuellen Missbrauchs eine solch große mediale Resonanz finden würde. Zweifellos gibt es seit geraumer Zeit schon eine feministische Auseinandersetzung in politischen Gruppierungen und künstlerischen Gemeinschaften 5 | Dieselben Zahlen werden in Medienprodukten international verwendet, der Quellennachweis jedoch fehlt. Khomami, Nadia: #MeToo: how a hashtag became a rallying cry against sexual harassment. The Guardian Onlineartikel vom 20.10.2017 unter: https:// www.theguardian.com/world/2017/oct/20/women-worldwide-use-hashtag-metooagainst-sexual-harassment [29.05.2018]. 6 | Park, Andrea: #MeToo reaches 85 countries with 1.7M tweets. Columbia Broadcasting Systems News vom 24.10.2017 unter: https://www.cbsnews.com/news/metooreaches-85-countries-with-1-7-million-tweets/[29.05.2018]. 7 | John (2013) erläutert, dass der Ausdruck »teilen« engl. »(social) sharing« im Internet in seiner Bedeutung erweitert wird: Neben dem Teilen von Medieninhalten wie zum Beispiel Beiträgen oder Links, die bei Facebook zudem mit dem Klick auf das gleichnamige Icon erfolgen, wird grundsätzlich auch unspezifischer jede Veröffentlichung von persönlichen Erlebnissen, Gefühlen als Sharing (Teilen) bezeichnet. Vom alltäglichen »Erzählen«, »Schildern« oder »Berichten« unterscheidet es sich dadurch, dass es in einer definierten Gemeinschaft geschieht und der Vergemeinschaftung dient. 8 | Eine fragwürdige Liste von Prominenten, die als Missbrauchs-Täter öffentlich genannt werden, wurde online gestellt und wird fortlaufend ergänzt. Die Liste vom 25.05.2018 ist einzusehen unter: https://www.vox.com/a/sexual-harassment-assault-allegations-list [29.05.2018]. 9 | Vgl. beispielsweise »Step father« in einem Tweet von Cristina auf Twitter vom 27.10.2017 unter: https://twitter.com/jiggly_momma/status/923960033486032896 [16.05.2018].
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
beziehungsweise Werken, wissenschaftlicher Literatur in verschiedenen Disziplinen (Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Medizin) und insbesondere in der Genderforschung, aber heute durch die neuen Medien in ihrer wachsenden Reichweite vermittels verschiedener Kanäle und Plattformen für eine Allgemeinheit besser zugänglich ist. Doch die aktuelle Kommunikationssituation lässt in den Internetmedien – diese gibt es inzwischen seit 25 Jahren und sie werden von ca. 54 % der Weltbevölkerung, die sozialen Medien von ca. 40 % genutzt (nach global digital report 2018)10 – eine in vielerlei Hinsicht neue Form der Öffentlichkeit entstehen, die wir als alternative Öffentlichkeit begreifen. Die Öffentlichkeit, die bislang mit einem Rationalitäts-, Legitimitäts- und Integrationsanspruch in Verbindung gebracht (in der Regel demokratisch gedacht) (Imhof 2006) wird, in der Zivilgesellschaft, Medien und Politik interdependent agieren, wird gleichzeitig aus- und umgebaut (s. unten Kap. 3), sodass eine Verzahnung möglich wird. Dadurch schafft es bisher Marginalisiertes, politisch (vermeintlich) Uninteressantes, allzu privat Scheinendes (»Frauenthemen«) mitunter sogar auf die Titelseiten von Qualitätszeitungen. Die alternative Öffentlichkeit, die sich nun bildet und von den neueren Generationen (beispielsweise Generation Z) schon in die Öffentlichkeit integriert gedacht wird, ist durch Internationalität und Transkulturalität gekennzeichnet. Ferner ergibt sich dadurch auch eine Möglichkeit der Entwicklung neuer und kreativer – auch »kleinteiliger« politischer Praktiken spontan sich bildender oder auch marginalisierter Gruppen, die einem nicht dezidiert formierten Widerstand zuzurechnen sind (vgl. Winter 2008, Schlussfolgerungen). Dort werden alternative digitale Räume und Kommunikationstechnologien auf Plattformen zur Verfügung gestellt, die die Vernetzung von Individuen zu loseren und festeren Gemeinschaften ermöglichen, in denen sich neue kommunikative Praktiken ausbilden, die unvorhersehbar sind und sich durch – wie es auch bei #MeToo offensichtlich wird – relativ spontane »vermeintlich private« Statements zu einflussreichen gesellschaftspolitischen Bewegungen entwickeln. Die alternative Öffentlichkeit ist dabei nicht trennscharf von der bisherigen »konventionellen« Öffentlichkeit abzugrenzen, sondern sie führt durch die aktuelle Verzahnung von alten und neuen Medien, durch das Ineinandergreifen der Medientechnologien, auch zu einer Vernetzung und einem Wandel der Diskurse. Dabei werden auch Diskurse an die Oberfläche »gespült« und ermöglicht, durch die bisher randständige und ungehörte Positionen zum Ausdruck kommen und Individuen wie Gemeinschaften eine Stimme erhalten, die durch hierarchische Konstellationen bisher zum Schweigen verurteilt waren.
10 | Vgl. Internet World Stats (2018). https://www.internetworldstats.com/[15.07. 2017].
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2. #M eToo -Twee ts und P osts auf Twit ter und F acebook Innerhalb kürzester Zeit schafft der Appell ein imposantes und nicht weniger bedeutungsvolles Diskursereignis, also eine unerwartete Masse an internationalen Reaktionen, die sich an der Aktion beteiligen, die die Ausrichtung des politischen Widerstands bestärken und den Opfern beziehungsweise Survivors Zuspruch entgegenbringen. Dabei handelt es sich sowohl um Interessierte wie um Betroffene, die sich mit ihren persönlichen Stellungnahmen, teilweise im Schutz der Anonymität, beteiligen. Der Diskurs über den Missbrauch erfährt dadurch einen bemerkenswerten Wandel, da die bislang schweigende Masse der Missbrauchten ihre Stimme nicht nur erheben kann, sondern dies auch tut und zudem auch gehört wird. In den Beiträgen schließen sich Menschen aus aller Welt dem Hashtag an, einige geben in kurzen Statements ihre Zugehörigkeit kund und einige teilen in längeren Erzählungen ihre persönliche Missbrauchserfahrung. Ein zentraler Motivationsgrund für das Erzählen einer Missbrauchserfahrung im persönlichen, privaten Gespräch definiert sich meist durch den Wunsch nach Unterstützung, Trost und Sich-Öffnen-Können. Diese Form der Öffnung ist ebenso in den sozialen Medien vertreten und stellt heute eine nicht mehr zu übersehende Größe dar. Die Tweets und Facebook-Posts sind aber nicht alle in derselben Ausführlichkeit gehalten und bewegen sich zwischen dem einen Pol einer einfachen Beteiligung an der Aktion, was mit der Aussage »me too« ohne weitere Ausführungen kommuniziert wird, womit angedeutet wird, »mir ist das – was auch immer es war – auch passiert« und am anderen Pol mit detaillierten Schilderungen von Erlebnissen bisweilen in Kombination mit der Anprangerung von Tätern. Damit unterscheiden sie sich auch in ihrer kommunikativen Funktionalität: a) Mit dem Tweeten von »MeToo« erfolgt eine Anzeige der Beteiligung am Protest. Gleichzeitig handelt es sich um eine sprachliche Konstruktion: »me too« beziehungsweise »ich auch«, die als Äußerung ein zweites, responsives Element in einer Interaktion darstellt, ohne dass dabei eine weitere Ausführung des Sachverhalts vorgenommen werden müsste. »Me too« wird damit ein »Response-Joker«, das heißt ein sprachliches Element, das immer dann verwendet werden kann, wenn eine Beschreibung eines persönlichen Erlebnisses vorausgeht und ein Anschluss daran deutlich gemacht werden soll. Die sprachliche Konstruktion »me too« kommt dabei jeweils an zweiter Stelle zu stehen und bildet damit eine Sonderform eines Adjazenzpaars, bei dem das zweite freie Glied festeingesetzt wird. Mit »me too« oder »ich auch« stellt sich jemand affirmativ bestätigend zur vorhergehenden Äußerung, wodurch eine affiliative Positionierung vorgenommen wird. Man schließt sich der ersten Person an, wie dies in Internet-Protesten sehr häufig durch Liken oder durch Retweeten dargestellt wird (vgl. Kneuer/Richter 2015).
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
Im Rahmen der MeToo-Kampagne geschieht dieser Anschluss und Ausdruck von Zugehörigkeit im alternativen, mehr oder weniger öffentlichen Raum der sozialen Medien (hier meist von Facebook und Twitter). Auf diese Weise findet neben der interaktionalen Positionierung zu den bisherigen BeiträgerInnen eine weitere – diskursive – Positionierung, die nach außen, also an ein potenzielles Publikum, einen äußeren Kommunikationskreis, gerichtet und damit auch mehrfachadressiert ist. Dabei verändert sich die inhaltliche Ausgestaltung: Im interaktionalen Raum konstituiert sich der Einzelne als Subjekt und gibt sich mit dieser Äußerung als jemand zu erkennen, der ein gleiches oder vergleichbares Erlebnis durchgestanden hat, im öffentlichen Raum ist die Äußerung an ein unklar definiertes Publikum gerichtet, dem angezeigt wird, dass die Kampagne mitgetragen wird. Dadurch bewertet man die Kampagne als sinnvoll und relevant, und bringt damit »Einstellungen, Werthaltungen und Ideologien« zum Ausdruck (Porstner 2017: 28). 1. L. O.: #metoo [Symbol] I was 9…11
Die zusätzliche Anzeige des eigenen – und insbesondere jungen – Alters (in Beispiel 1) wird durch Auslassungszeichen abgeschlossen, die eine semantische Unklarheit schaffen. Sie könnten auf eine Sprachlosigkeit verweisen, aber gleichzeitig auch auf die Gravitas des Missbrauchs, dem Kindesmissbrauch, bei dem sich aus der Sicht der Schreibenden jeglicher Kommentar erübrigen dürfte. b) Auch im folgenden Beispiel (2) schließt sich eine Frau der Kampagne an und macht darüber hinaus eine konkrete Missbrauchserfahrung öffentlich und publik. Gleichzeitig weist sie auf den metadiskursiven Umgang hin, hier nun darauf, wie klein sie den Kreis der GeheimnisträgerInnen gehalten hat. Wenn auch erstaunlich ist, dass sie mit »maybe« eine Unsicherheit zum Ausdruck bringt, zeigt sich in diesem Tweet der persönliche, von einer nicht mehr einschätzbaren oder erinnerbaren Geheimhaltung geprägte Umgang mit dem traumatischen Erlebnis. Durch die MeToo-Kampagne in den sozialen Medien wird der Missbrauchsdiskurs in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelegt. Dies führt dazu, dass das eigentliche Schweigen aufgehoben wird. Wiederum wird damit der eigene Umgang mit dem Missbrauch reflektiert. Die Person sagt, sie hätte geschwiegen und ist darin der durch die Gesellschaft auferlegten Norm des Schweigens zuerst gefolgt. Durch den MeToo-Protest und die im Internet gegebenen Möglichkeiten durch die sich bildende alternative Öffentlichkeit – auch im Hinblick auf die neuen diese Thematik betreffenden Artikulationsräume – hat sie sich 11 | Tweet von einer Nutzerin auf Twitter vom 19.10.2017 unter: https://twitter.com/ lucre_orlando/status/921185780382478336 [18.05.2018].
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umentschieden, die tabuisierte Erfahrung offengelegt und an die Öffentlichkeit getragen, womit das etablierte Tabu durchbrochen wird. 2. J.N.: Very few of my friends and maybe none of my family know but #metoo12
c) In Beispiel 3 erfolgt eine knappe Schilderung einer Missbrauchserfahrung, die in einem Facebook-Post eine scheinbar alltägliche Situation mit einer gewissen kühlen Distanz als eine expressionistische Szene beschreibt, wie sie vermutlich tausendfach in Deutschland, millionenfach auf der ganzen Welt geschieht. 3. Hannah: Fünf Männer und ich, zwischen Rolltreppen und U-Bahnsteig. Einer greift mir im Vorübergehen an den Hintern. Sie lachen. Ich schweige.13
d) In Beispiel 4 erzählt die heute 37-jährige Schauspielerin Eliza Dushku am 13. Januar 2018 auf ihrer Facebook-Seite in einer ausführlichen Schilderung einer Missbrauchserfahrung mit (der seltenen) Nennung des Täters im ausführlichen Post (s. Screenshot 1-3) von den sexuellen Übergriffen, die sie als 12-jährige bei den Dreharbeiten erfahren hatte. Abbildung 1: Post vom 13. Januar 2018 (Facebook-Pinnwand von Eliza Dushku)
12 | Tweet von einer Nutzerin auf Twitter vom 20.10.2017 unter: https://twitter.com/ jessneverett/status/921466846179676160 [18.07.2018]. 13 | Post einer Nutzerin auf Facebook unter: https://www.ndr.de/nachrichten/me too-Frauen-prangern-sexuelle-Belaestigung-an,metoo118.html [18.05.2018].
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Dabei reflektiert sie ihre bisherigen Versuche, die Erfahrung mit anderen zu besprechen. Bereits damals habe sie die Erlebnisse ihren Eltern, einem ihrer Brüder und zwei erwachsenen FreundInnen berichtet, doch niemand war bereit, sich mit diesem Tabuthema auseinanderzusetzen und sie zu unterstützen. Demzufolge wurde das traumatische Erlebnis des Opfers zu seinem Schaden umgedeutet. Der damals 36-jährige Stuntkoordinator, Joel Kramer, hatte vor 25 Jahren unter dem Vorwand eines Badeausfluges die Erlaubnis ihrer Eltern erhalten, sie dann aber in sein Hotelzimmer gebracht und sich dort an ihr vergangen. Abbildung 2: Post vom 13. Januar 2018 (Facebook-Pinnwand von Eliza Dushku)
Nachdem sie sich einer erwachsenen Kollegin anvertraut hatte, habe diese den Übeltäter am Set mit den Vorwürfen konfrontiert und zur Rede gestellt. An genau diesem Tag wurde sie bei einem misslungenen Stunt verletzt und verbrachte den Abend mit gebrochenen Rippen im Krankenhaus. Er, Joel Kramer, sei für ihre Sicherheit verantwortlich gewesen (»Mein Leben lag in seinen Händen«). »Doch wo er mein Beschützer hätte sein sollen, war er ›mein‹ Schänder«, schreibt die 37-Jährige in ihrem Post auf Facebook.
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Abbildung 3: Post vom 13. Januar 2018 (Facebook-Pinnwand von Eliza Dushku)
Auch der damals für den Film verantwortliche Regisseur, James Cameron, hat sich nach der Veröffentlichung des Posts zu den Vorwürfen geäußert. In einem Statement, das unter anderem von Vanity Fair veröffentlicht wurde, sagte er: »Es bricht mir das Herz, was ihr passiert ist. Ich kenne die andere Partei – nicht so gut, er hat seitdem nicht mehr für mich gearbeitet.« Der Umstand, »dass sich das vor unserer Nase ereignet hat und wir nichts davon wussten«, sei herzzerreißend. Hätte er von dem Vorfall gewusst, »hätte es keine Gnade gegeben«.14 Wie verschiedene Magazine berichten, streitet Joel Kramer die Vorwürfe bisher ab. In einem Gespräch mit The Wrap behauptet er, dass er Eliza Dushku »nie sexuell belästigt habe« und er von ihrer Aussage schockiert gewesen sei. Dushkus Facebook-Post sei »eine absolute Lüge«.15 Als zwei Tage später (15.01.2018) zwei weitere Frauen von vergleichbaren Erlebnissen berichten und der öffentlich genannte Sextäter einen dieser sexuellen Übergriffe als einvernehmliche Praxis bezeichnete, wird er von seiner Agentur fallen gelassen und es wenden sich seine früheren KollegInnen von ihm ab (so zum Beispiel Jamie Lee Curtis).16 14 | Robinson, Joanna: True Lies Director James Cameron on Eliza Dushku’s »Heartbreaking« Allegation of Molestation. Vanity Fair vom 13.01.2018 unter: https://www.vanityfair. com/hollywood/2018/01/james-cameron-comments-eliza-dushku-sexual-molesta tion-true-lies [18.05.2018]. 15 | Hod, Itay: Stuntman Joel Kramer Denies Eliza Dushku’s Sexual Molestation Accusations: ›These Are Absolute Lies‹ (Exclusive). The Wrap Online vom 13.01.2013 unter: https://www.thewrap.com/stuntman-joel-kramer-denies-eliza-dushkus-sexual-mole station-accusations-absolute-lies-exclusive/[20.05.2018]. 16 | TheTerminatorFans.com: Terminator Stunt Coordinator Joel Kramer accused of Sexual Assaults. Blogeintrag vom 16.01.2018 unter: https://www.theterminatorfans.com/ terminator-stunt-coordinator-joel-kramer-accused-of-sexual-assaults/[20.05.2018].
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
Beim vierten Beispiel fällt neben der für Facebook eher unüblichen sprachlich versierten Gestaltung die Ausführlichkeit und der Detailreichtum der geschilderten Erfahrung auf sowie die namentliche Nennung des Täters. Es handelt sich um eine ausgebaute Erzählung mit Höhepunkt und Evaluation, in der eine über 20 Jahre zurückliegende Missbrauchserfahrung in vielen Details und auch in verschiedenen emotionalen Facetten zwischen Sorge um sich, Entrüstung über die Tat und Wut gegenüber dem Täter geschildert wird. Hier liegt die Praxis des »Teilens von Erzählungen« vor, wie sie von Tienken (2013: 40f.) beschrieben wird: Im Rahmen des #MeToo, der damit zu einem verkettbaren Forum wird, wird die Geschichte nicht um der Geschichte willen erzählt, sondern um Gleichgesinnte anzusprechen, die sich darin spiegeln sollen. Dabei wird der Akt des Erzählens zu einer Ressource für die gegenseitige Selbstversicherung. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass die anderen Individuen ohne die Selbstoffenbarung keinen Zugang zum mentalen Zustand oder Wissen der Erzählenden hätten. Wie Tienken (2013) prägnant formuliert: »Ohne Selbstoffenbarung keine Affiliation« (ebd. 40). Damit kann in diesen Fällen dem häufig geäußerten Vorwurf der narzisstischen Selbstdarstellung im Internet entgegengehalten werden, dass für das Sharing (also Teilen) von Erzählungen eine Selbstdarstellung unvermeidbar ist, dass diese hier jedoch zum Zweck der Überwindung des Tabus und des Traumas geschieht. Bei diesem Sharing geht es, wie Tienken (2013: 41) darstellt, vor allem um die Hinwendung zu den Anderen, und um die Bestätigung der eigenen Evaluierung von Erfahrung. In der Interaktion werden gemeinsam Bewertungen hergestellt, was sowohl den Effekt eines Empowerments mit sich bringt als auch die Homogenisierung von Erfahrung in sich birgt.
Dass es in den sozialen Medien nicht bei #MeToo bleiben würde, zeichnet sich auch bald schon ab.17 In den sozialen Medien wird der Protest unter weiteren Hashtags fortgesetzt, zum Beispiel unter #howIwillchange. Dies geschieht einmal durch kultur- und sprachspezifische Hashtags (Spanien: #Micromachismo, #YoTambien; in arabischen Ländern: و أنا كمان# und و انا ايضا#; Italien: #quellavoltache), die teilweise spezifische Fokussierungen vornehmen (Frankreich: #balancetonporc, dt. Verpfeif Dein Schwein) und damit den Diskurs auch in neue Richtungen weiterführen. Der Ausgangsprotest mobilisiert unterdessen weltweit auch über die sozialen Medien hinaus. Bereits am 30. Oktober 2017 verlagert sich die #MeToo-Kampagne vom Internet auf die Straße, wie dies Rucht (2015) für verschiedene andere Proteste in sozialen Medien beschreibt. 17 | Es gibt einige Vorläuferaktionen: #Aufschrei, #neinheißtnein beziehungsweise #neinheisstnein, #ausnahmslos, #EverydaySexism, #NotOkay, #YesAllWomen, #unbreak able, #notaskedforit, siehe unten Kapitel 4.2.
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In europäischen Städten protestieren weibliche Demonstranten gegen sexuelle Übergriffe, am 12. November 2017 formiert sich auf dem Hollywood Boulevard eine Gruppe zu einem »MeToo Survivors’ March«. Ferner bilden sich lokale #MeToo-Gruppen, die sich um spezifische Themen kümmern.18 Viele Fortsetzungen des Protests werden durch positiv unterstützende, solidarisierende Inhalte getragen (#notme – Männer, die sich von Vergewaltigern distanzieren). In den Vereinigten Staaten hat sich unter #TimesUp eine Bewegung und Stiftung formiert, die sich für die Bekämpfung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz einsetzt (https://www.timesupnow.com/). Daneben formieren sich – wie bei allen Protestaktionen – bald auch kritische Gegendiskurse, einmal im Medium des Internets selbst (wie beispielsweise #Notallmen, #mentoo, #MeNot), die versuchen, die Proteste zu unterbinden oder andere (»relevantere«) Schwerpunktsetzungen vorzuschlagen und die insbesondere den vermeintlichen Generalvorwurf an die Seite der Männer zurückweisen. Neu daran ist, dass Aspekte wie Form, Beteiligung des Einzelnen, Zugänglichkeit, Globalität und Unzensiertheit (Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit) auf eine neue Art und Weise des Debattierens hinweisen.19 Der Erfolg der Kampagne zeigt sich sodann sowohl in der gesellschaftlichen Resonanz wie auch der publizistischen Reichweite. Die InitiatorInnen der Kampagne kommen darüber hinaus sogar zu publizistischen Ehren: Das Time Magazine kürte eine Reihe von MeToo-AktivistInnen als Silence-Breakers zur Person des Jahres. Den beiden Autorinnen und dem Autor der Zeitungsartikel zum Weinstein-Skandal, Jodi Kantor, Megan Twohey und Ronan Farrow, wurde der Pulitzer-Preis 2018 für Public Service, die weltweit bedeutendste journalistische Ehre, verliehen, was über die Selbstbeweihräucherung hinaus dem MeToo-Diskurs ein besonderes Gewicht verleiht.
18 | In Österreich organisieren sich missbrauchte Skifahrerinnen um Nicola Werdenigg, in Deutschland entstand durch die Initiatorin Joelle Seydou eine Kampagne gegen Missbrauch im Sport unter #coachdonttouchme. Vgl. Eberle, Lukas/Müller, Ann-Katrin: Deutsche Boxerinnen starten Kampagne gegen Missbrauch. Spiegel Online vom 17.01.2018 unter: www.spiegel.de/spor t/sonst/metoo-boxerinnen-star ten-kampagne-gegensexualisierte-gewalt-a-1188309.html [05.05.2018]. 19 | Kneuer/Richter (2015) weisen in ihrer Untersuchung auf die Abwesenheit von Debatten hin. Die hier ansatzweise nun (vielleicht auch erstmalig) beobachtet werden können. Es zeigt sich dabei, dass sich im Internet neue Debattierweisen herausbilden, die von traditionellen rhetorischen und argumentativen Mustern abweichen (vgl. Grohmann/ Kamil/Wyss 2015 a und b).
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3. Ö ffentlichkeit und alternative Ö ffentlichkeit Die Öffentlichkeit – als gedachter Platz, als Forum – ist in erster Linie ein Ort, an dem Menschen oder TeilhaberInnen der Gesellschaft zusammenkommen, um zu partizipieren oder ihre Meinung kund zu tun und auf Probleme jeglicher Art wie beispielsweise gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische aber auch (noch) private Missstände hinzuweisen. Dadurch entsteht in der Öffentlichkeit ein Diskurs (nach Foucault 1991, 2003), der auf mehreren Ebenen beobachtet werden kann und der mit Jarren und Donges (2006) einmal auf der spontanen Encounterebene, dann auch in vergemeinschafteten Gremien und Institutionen (als »Themen- und Versammlungsöffentlichkeit«) und via Medien, vornehmlich im Print, Rundfunk und – mit der Verbreitung des Internets – auch im Internet und vor allem in den sozialen Medien stattfindet. Somit werden die sozialen Medien zu einem Akteur der Vermittlung, der die Relevanzsetzung von Themen nach publizistischen Selektionskriterien mitbestimmt. Denn durch das Internet und vor allem durch die Bildung von sozialen Medien etabliert sich neben der Mikroebene und den Massenmedien eine ausdifferenzierte und neu strukturierte Mesoebene von Blogs und Mikroblogs (Feldmann/Zerdick 2004), in der vermeintlich Individuelles (das aber im gemeinschaftlichen Kontext der sozialen Medien als Hashtags) auf die massenmediale Berichterstattung zurückwirkt und in manchen Bereichen sogar das Agenda Setting übernimmt. Somit lösen sich die durch Habermas (1992) identifizierten Öffentlichkeitsebenen durch die Bedeutung der sozialen Medien nicht einfach auf, sondern sie treten in veränderte Wechselbeziehungen, die sich neben der Koexistenz durch Komplementarität und Erweiterung des medialen Spektrums ausmachen lassen und in der Folge zu Veränderungen und Verschiebungen in den Öffentlichkeitsstrukturen und -gefügen führen. Durch den Ausbau der Vernetzungsmöglichkeiten in sozialen Medien werden die Kommunikationsstrukturen und -prozesse sowohl dichter als auch durchlässiger. In den sozialen Medien bilden sich themenfokussierte Gemeinschaften, die durch die Möglichkeiten der Setzung und Lancierung von Hashtags zwar durch einzelne User lokal bestimmt werden, sie entfalten aber bisweilen – mitunter in wellenförmigen Bewegungen – eine transmediale und transnationale Reichweite. Auf diese Weise beeinflussen sie die öffentlichen Diskurse durch die Prägnanz der Themensetzung sowie als Recherchequelle die journalistische Arbeit und tragen darüber hinaus zur nachhaltigen Veränderung von gesellschaftlichen Diskursen (einer »Kulturöffentlichkeit« nach Faulstich 1999) und Praktiken bei, die durch die Mediatisierung der Alltagskommunikation sich als mediale oder hybride Praktiken (Hauser/Luginbühl 2015: 7f.) herausbilden.
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3.1 Der #MeToo-Protest und der Missbrauchsdiskurs in der (alternativen) Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit von Protestaktionen ist eine der grundlegendsten Bedingungen, ohne die das Funktionieren eines Protests nicht denkbar wäre, geht es doch darum, mit Gleichgesinnten einer Öffentlichkeit zu zeigen und mitzuteilen, dass man mit bestimmten politischen und sozialen Verhältnissen nicht einverstanden ist und mit dem Protest darauf drängt, diese zu verändern. Die Bedingung und gleichzeitig auch eine mögliche Schwierigkeit bildet die Rahmung des öffentlichen Diskurses. Anders als in der Öffentlichkeit besteht in den sozialen Medien keine gleichermaßen wirksame Regulierung, wie sie durch die traditionellen Medien vorgenommen wird. Dies betrifft bestimmte gesellschaftliche Regeln, die einerseits Höflichkeitsregeln und politische Korrektheit beinhalten können, aber auch freilich die Einflussnahme durch Institutionen oder eine Grundlinie, die überwacht, was in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Dazu gehören unter anderem auch gesellschaftliche Muster (wie zum Beispiel bezogen auf den MeToo-Diskurs) die Relativierung eines Verbrechens oder künstliche Kleinhaltung offengelegter Missstände. Im Falle von MeToo wird konstatiert, dass es zwei Öffentlichkeiten gibt – die traditionelle Öffentlichkeit und die alternative Öffentlichkeit der sozialen Medien – die nicht autark nebeneinander bestehen, sondern eine Verzahnung aufweisen, aus der der öffentliche Diskurs entstanden ist beziehungsweise fortwährend entsteht. Nach dem Publikwerden des Falles Harvey Weinsteins schickte Alyssa Milano den oben bereits genannten Tweet los und es erfolgte eine massenhafte Protestbeteiligung unter diesem Hashtag, der wiederum von den traditionellen Medien aufgenommen wurde. Deutlich bemerkbar wurde dies dadurch, dass auch außerhalb der USA ein großes Medieninteresse an diesem Protest gezeigt wurde, so dass ein weltweiter Fortgang des Diskurses über die sozialen Medien hinaus beobachtet werden konnte. Themen – wie sexueller Missbrauch – gelangen an die Oberfläche beziehungsweise in den öffentlichen Diskurs, die vorher eher in Selbsthilfegruppen verhandelt wurden. Dabei hatte der »alte« MeToo-Diskurs bereits eine gewisse Medienöffentlichkeit, allerdings hat sich in der Zwischenzeit die Nutzung des Internets immens gesteigert, sodass grundsätzlich mehr Personen angesprochen werden können und sich im Zuge dessen auch die Beteiligung an diesem öffentlichen Diskurs vereinfachen und erweitern konnte. Hinzu kommt, dass wie im Falle von des #MeToo die Resonanz sich derart stark entwickelte, sodass auch dies dazu beitrug, dass eine vorübergehende Wiederaufnahme des Themas in die Agenda der Leitmedien erfolgte, obwohl es augenscheinlich weder ein neues noch ein gesellschaftlich irrelevantes Thema ist. Nicht zuletzt spielt vielleicht auch der Sensationscharakter des Skandals, dass Prominente, geachtete Kulturschaffende und eine ganze Branche betroffen sind, eine entschei-
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dende Rolle um den Diskurs aus dem Internet durch die traditionellen Medien mitzuführen. Allerdings werden innerhalb der alternativen Öffentlichkeit, wie in Kapitel 2 verdeutlicht wurde, in den Tweets und Posts weniger namentliche Nennungen der Täter vorgenommen, der Wille, andere Menschen zu denunzieren beziehungsweise anzuprangern, definiert schlichtweg nicht die Motivation der Äußerungen. Ganz im Sinne der ursprünglichen Initiatorin Tarana Burke, wie sie zuletzt auf der Wisdom 2.0 Konferenz bekräftigte, soll die MeToo-Bewegung nicht als Agitation gelten, die darauf abzielt »mächtige Männer abzuschießen«, sondern vielmehr darauf, dass »ein Heilungsprozess bei den Opfern einsetzen kann«, der Burke folgend auf ›Restorative Justice‹ aus ist. Soll heißen, dass die Opfer und ihre Anliegen im Fokus der MeToo-Bewegung stehen und nicht die Täter, um damit die Strukturen zu verändern, die sexuelle Gewalt ermöglichen.20 Somit geschieht heute eine Zusammenführung des öffentlichen Mediendiskurses mit politischer Aktion von Individuen, die durch soziale Medien etabliert und durch die Aufnahme der Diskurse in die Leitmedien verstärkt wird. Dies war in Deutschland bei #aufschrei der Aktivistin Anne Wizorek offensichtlich, der einen Diskurs über »Alltagssexismus« in den Leitmedien evozierte und in der Folge über 50.000 Tweets zu sexistischen Übergriffen versammelte. Somit zeigt sich, dass sich in den sozialen Medien gerade für Proteste – wie Baringhorst (2009) schon früh erkennt – die Kommunikationskonstellationen in vielfacher Hinsicht verändert wurden. Der #MeToo-Protest entfaltet sich durch eine kettenartige Aktion von einzelnen publizierten Protesttweets durch Individuen, die explizit eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und Zustände fordern beziehungsweise implizit auf einen Handlungsbedarf hinweisen. Dabei kann eine deutliche Zunahme der AktivistInnen bemerkt werden, wenn auch anzunehmen ist, dass auch hier noch viele Betroffene sich zurückhalten und als ZuschauerInnen partizipieren. Durch die kurzfristigen und spontanen Online-Partizipationen wird nicht nur die Mobilisierung auf einen erweiterten Personenkreis der InternetnutzerInnen unterstützt, sondern auch der Diskurs, sein weiterer Fortgang und seine weitere Ausdifferenzierung beeinflusst. Es bilden sich in diesem alternativen Öffentlichkeitsgefüge auch neue Formen des symbolischen Handelns (Shitstorm, Selfieprotest, Sharing-Communities). (Vgl. auch Genreindikatoren des Protests nach Zimmermann/Resch 2017: 89) Protest wird dabei nicht immer durch eine Gegenöffentlichkeit konstituiert (wie zum Beispiel eine Anti-Atombewegung es darstellt), sondern kann als eine Bewegung ge20 | Die Aussagen und Zitate beziehen sich auf Aussagen von Tarana Burke, vgl. Haas, Michaela: »Es geht nicht darum, mächtige Männer abzuschießen«. Süddeutsche Zeitung Online vom 09.03.2018 unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fueralles/es-geht-nicht-darum-maechtige-maenner-abzuschiessen-84547 [20.05.2018].
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sehen werden, durch die nicht-hegemoniales (tabuisiertes) Wissen an die Öffentlichkeit gebracht wird. Somit kommen Protestierende in ihrer Rolle einem Parrhesiasten gleich (Foucault 2010: 27), der es wagt, verbotene Wahrheiten auszusprechen. Dies stellt in gewisser Weise schon eine Grenzüberschreitung dar, die in der Folge einen »Ausnahmezustand« etabliert. Dadurch bildet sich eine alternative Öffentlichkeit, ein transitorischer Kommunikationsraum, die dem allgemeinen (kommunikativen) Umgang mit dem Thema im aktuellen politischen Kontext kritisch gegenübersteht und in diesem Sinne ebenso einen Protest darstellt und einen Diskurswandel initiieren kann.
3.2 Diskursive Normalisierung des Schweigens bei sexueller Gewalt Dass der Protest gegen sexuelle Gewalt erst in einer solch vertrackten Weise zu Stande kommt, hängt mit dem Missbrauchs-Dispositiv zusammen, mit der Macht also, die bestimmt, welche gesellschaftlichen Thematisierung erlaubt und welche Tabus eingehalten werden (müssen). Anders als im dargestellten Beispiel von Eliza Dushkus Facebook-Post geht Missbrauch und Vergewaltigung auf Opferseite tendenziell eher mit dem (Ver-)Schweigen und einer Art der Sprachlosigkeit einher. Missbrauch und sexuelle Gewalt werden aus Furcht vor Konsequenzen, psychologischer Traumatisierung (Verletzung der Subjektivität, Einschüchterung) und gesellschaftlicher Stigmatisierung (»Normalisierung von Gewalt«), aber auch mit dem Ziel, bestehende Lebensverhältnisse und Beziehungen aufrechtzuerhalten, verschwiegen und bleiben somit meist ein Leben lang ein schwer belastendes Geheimnis. (Kavemann et al.: 71f.) Die Sprachlosigkeit macht sich jedoch ebenso im vermeintlichen Fehlen von sprachlichen »Ressourcen« zum Beispiel einer passenden Ausdrucksweise für die Beschreibung von Missbrauch und Vergewaltigung bemerkbar. Oft werden Straftaten in einem Wortschatz verharmlosender Sexualisierung (anfassen, betatschen, an sich drücken), verschleiernden Abstrahierung des Körperlichen (Belästigung, Übergriff) oder sogar in einer Terminologie der Romantisierung (Umarmung, Kuss) geschildert. Die Terminologie, die semantisch die Gewalttätigkeit der Tat gerade nicht zum Ausdruck bringt, kontrastiert krass mit dem Vergewaltigungsmythos, der den Täter als ein Monster (vgl. Bohner 1998, Krahé 2012) zeichnet. Dadurch wird die kognitive Integration von sexueller Gewalt und Missbrauch – nicht nur auf Seiten der Betroffenen, sondern auch der gerichtlichen Instanzen – erschwert.21
21 | Die Mythen zementieren Fehlvorstellungen: bei Vergewaltigungen geht man von einem fremden Täter aus, der hinter dem Busch auflauert und das Opfer brutal überfällt, nicht vom Ehemann, mit dem man das Bett teilt, oder vom Arbeitskollegen, mit dem man zur Arbeit oder auf eine Tagung fährt.
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
Weitere Faktoren, die zu Schweigen führen, liegen auf einer pragmatisch-interaktiven Ebene und zeigen sich in einer grundsätzlichen Ablehnung oder in der Tabuisierung des Missbrauchsdiskurses. So werden die Missbrauchs-Berichte selbst von Vertrauenspersonen – bisweilen sicher aus Überforderung – als Missverständnis verworfen oder zurückgewiesen (»es sei bestimmt nicht so gemeint«). Obschon die Preisgabe des traumatisierenden Erlebnisses sehr viel Kraft und Mut verlangt, wird nicht selten – teilweise aus Unkenntnis – angenommen, der Täter müsse selbst in absentia von dem Prinzip der »Aussage gegen Aussage« profitieren und es sei deshalb im Zweifel für den Angeklagten zu votieren. Dass dabei im selben Atemzug der Person, die die Geschichte erzählt, eine Lüge unterstellt wird, wird augenscheinlich billigend in Kauf genommen. Besonders fatal ist dies, wenn auch die nächsten Angehörigen dies tun und dabei zulassen, dass ein Familienmitglied auf sich selbst zurückgeworfen und isoliert wird. Dabei spielen neben Scham- und Schuldgefühlen der Bezugspersonen auch unklare oder stereotype Vorstellungen über Opfer (schwache Person) und die Vergewaltigung (sexueller Akt) oder die sexuelle Belästigung (Anbandeln und Flirten) eine Rolle. In gravierenden Fällen geschieht dies sogar in Verbindung mit moralischen Abwertungen der traumatisierten Person, indem zum Beispiel behauptet wird, sie würde Schande über die Familie, den Clan etc. bringen, was mit einer sozialen Stigmatisierung verbunden ist und in gewissen gesellschaftlichen Strukturen bis hin zur Ermordung des Opfers führen kann.22 Das Schweigen über den Missbrauch kann daher als eine über allem stehende Schweigenorm beschrieben werden, die sowohl gesellschaftliche Tabus als auch interaktiv konstruierte Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens im näheren persönlichen Umfeld integriert. Es finden sich auch auf institutioneller Ebene Formen des Schweigens oder des Nicht-Wissen-Wollens.23 22 | Oben beschriebene und weitere Gründe für das Schweigen der Opfer sind unter #WhyIsaidnothing zu lesen. Opfer, Betroffene und solidarische Stimmen beteiligen sich unter #WhyIsaidnothing und #Rapeculture an dem Missbrauchsdiskurs. Zum einen beschreiben diese eigene Erfahrungen des Missbrauchs und nennen eine Vielzahl an zum Teil alarmierenden Gründen, warum sie geschwiegen haben und zum anderen, mehrheitlich unter #rapeculture, erheben teilweise auch nur peripher Betroffene die Stimme, um die vorherrschenden Missstände innerhalb der Gesellschaft aufzuzeigen und sich gegen diese zu erheben und schließlich dadurch dazu beitragen, dass der Missbrauchsdiskurs weitergeführt wird. Die beiden Hashtags gab es schon vor #MeToo und beide wurden getrollt. Es wurde also auch dort versucht, die sich erhebenden Stimmen zum Schweigen zu bringen. 23 | Ein Vergleich der Situationen in Amerika und Deutschland ist schwierig, weil die rechtliche Situation sich nicht nur von Land zu Land, sondern auch in den Ländern selbst, verändert (vgl. Zippel 2006).
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Auch wenn es sowohl bei der Täterschaft wie bei den Opfern männliche und weibliche Vertreter gibt, werden in den Statistiken die gesellschaftlichen Machtverhältnisse gespiegelt: Opfer sind häufiger weiblich, Täter mehrheitlich männlich. Vergewaltigungen sind zudem Verbrechen, die unterdurchschnittlich selten gemeldet werden.24 In einer aktuellen Studie (SSH/UCLA 2018)25 berichten 81 % der Frauen und 43 % der Männer davon, in ihrem Leben irgendeine Art sexueller Belästigung erlebt zu haben. Fast ein Drittel der Frauen (27 %) und 7 % der Männer haben sexuelle Gewalt (Vergewaltigung und Nötigung) erlebt.26 Dabei wird sprachliche sexuelle Belästigung (»verbal sexual harassment«) als die üblichste Art genannt, Frauen berichten zu 77 %, Männer zu 34 % davon. Von 51 % Frauen und 17 % Männern wird angegeben, dass sie in einer unerwünschten Art und Weise berührt, begrapscht oder anderweitig körperlich sexuell belästigt wurden. Cybersexuelle Belästigung erfahren 41 % der befragten Frauen und 22 % der Männer. 34 % der Frauen und 12 % der Männer wurden buchstäblich verfolgt; 30 % der Frauen und 12 % der Männer erfuhren unerwünschtes Zeigen von Genitalien (so genanntes »genital flashing«). Einer Darstellung über »Meldungen, Anklagen und Verurteilungen in Deutschland« für die Zeitspanne 1977-2006 des Bundesamtes für Justiz ist zu entnehmen, dass auch für Deutschland die Zahlen erschreckend niedrig ausfallen.27 In Deutschland wurden bislang bloß 5 % der Sexualstraftaten angezeigt. Davon enden im Schnitt nur 13 von 100 Vergewaltigungen mit einer Verurteilung. Entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben, die meisten Anzeigen in Bezug auf sexuelle Gewalt wären Unrecht, sind auch in Deutschland falsche Beschuldigungen kein großes Problem. Außerdem wird auch hier nachgewiesen, dass sexuelle Gewalt in erster Linie durch Männer verübt wird.28 24 | Eine aktuelle Übersicht bietet: Website von National Sexual Violence Resource Center (kurz NSVRC) unter: https://www.nsvrc.org/statistics [20.05.2018]. 25 | Stop Street Harassment: The facts behind the #metoo-Movement. A national study on sexual harassment and assault. Februar 2018 unter: www.stopstreetharassment. org/wp-content/uploads/2018/01/2018-National-Sexual-Harassment-and-AssaultReport.pdf [20.05.2018]. 26 | Diese werden zu über zwei Dritteln der Fälle bei jemandem zu Hause verübt, 31 % im Haushalt des Täters, 27 % im Haushalt des Opfers, zu 10 % im gemeinsamen Haushalt, 7 % bei Partys, 7 % in Autos, 4 % draußen und 2 % in Bars. 27 | Die Angaben sind heterogen. Sie beziehen sich bei der Zeitspanne von 1977-1997 ausschließlich auf Vergewaltigung (§177 STGB – alt); 1998-2000 schließt auch sexuelle Nötigung mit ein (§177, 178 StGB – neu); ab 2001 wurden Vergewaltigung und schwere Formen sexueller Nötigung zusammengefasst (einschließlich Tat mit Todesfolgen) (§177, 2, 3, 4 und § 178 StGB – neu), zit.n. Seith/Lovell/Kelly 2009: 5. 28 | Obschon aus diesen Daten hervorgeht, dass bloß 13 % der in Deutschland lebenden Frauen seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erlebt
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Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2014 bringt einen neu auftretenden Bias in den Fakten ans Tageslicht.29 Es wird gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung in einem Vergewaltigungsprozess in Deutschland in jüngerer Zeit sogar stark gesunken ist: Während 1992 noch 21,6 % der Frauen, die Anzeige erstattet hatten, die Verurteilung des Täters erlebten, sind es 2012 nur noch 8,4 % gewesen. Als Grund für diesen Rückgang wird die Arbeitsüberlastung [sic!!] bei Polizei und Staatsanwaltschaft vermutet, denn für den Erfolg vor Gericht sei eine gute Dokumentation der Erstaussage – am besten per Video oder Tonband – entscheidend.30 Ferner wird auf die bundesweiten unterschiedlichen Daten hingewiesen, die sich von einem Bundesland zum anderen um das Sechsfache unterscheiden. Damit verstärkt sich generell auch das Risiko der betroffenen Frauen, in ihrem sozialen Umfeld aufgrund einer gescheiterten Anzeige als Verliererin oder gar als Lügnerin dazustehen. Doch die Angaben zu den einzelnen Bundesländern werden unter Verschluss gehalten, weil man das weitere Absinken der Anzeigebereitschaft von betroffenen Frauen in den Bundesländern mit geringer Erfolgsquote verhindern möchte. Laut Mitteilung reicht die Spanne von 4,1 bis 24,4 %.31 Es wäre jedoch zu überprüfen, ob der Rückgang nicht auch mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 2006 zusammenhängt. Das Gericht hatte damals die Verurteilung wegen Vergewaltigung mit einer nicht nachvollziehbaren Begründung aufgehoben: Dass der haben, das heißt eine Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung (Schöttle/Müller 2004: 9f.), muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass dies aber daran liegt, dass die in den US-amerikanischen Studien genannten Belästigungen bisher nicht mitgezählt wurden, da »Belästigung« als Delikt erst 2016 (nach Köln) justiziabel gemacht wurde. Vgl. Britzelmeier, Elisabeth: Die 7 wichtigsten Fakten zu sexueller Gewalt. Süddeutsche Zeitung Online vom 27.04.2016 unter: www.sueddeutsche.de/panorama/vergewaltigung-die-wichtigsten-fakten-zu-sexuellergewalt-1.2937498-2 [20.05.2018]. 29 | Die Studie selbst ist nicht öffentlich zugänglich, daher waren wir hier auf die Presseberichte zurückgeworfen: dpa: Chancen auf Verurteilung nach Vergewaltigung gesunken. Zeit Online Artikel vom 17.04.2014 unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-04/studie-vergewaltigunganzeige-verurteilung [05.05.2018]. Die Ergebnisse stammen teilweise aus Hellmann (2014). 30 | Bei einer guten Erfassung und Dokumentation würde darüber hinaus auch die auf ca. 10 % zu beziffernde Fehlerquote (als Falschanschuldigungen) entdeckt. 31 | Laut Schöttle/Müller (2004) nimmt hingegen der Anteil der Tatverdächtigen aus dem familiären Umfeld zu. Man vermutet, dass dies an dem 1998 neu ins Gesetzbuch aufgenommenen Straftatbestand der ehelichen Vergewaltigung liegt und an dem verbesserten Selbstvertrauen der Frauen.
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Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat, belege nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt. Das Herunterreißen der Kleidung allein reiche zur Tatbestandserfüllung nicht aus.32 So erstaunt es nicht, dass nur wenige Opfer nach sexueller Gewalt eine polizeiliche Meldung auf sich nehmen. Es ist ferner dokumentiert, dass selbst nach einer gerichtlichen Verurteilung eines Täters von Demütigungen des Opfers und Anschuldigungen nicht abgelassen wird. Dies geschah beispielsweise auch noch im Jahr 2016 im Fall von Siegfried Mauser, einem angesehenen Pianisten und Rektor der Münchner Musikhochschule, der wegen sexueller Nötigung rechtskräftig zu 15 Monaten Gefängnis auf Bewährung und einer Geldstrafe von 25.000 Euro verurteilt wurde. Nachdem das Urteil gesprochen war, schickten vier Honoratioren geharnischte Leserbriefe an die Süddeutsche Zeitung, in denen sie ihren Unmut über die Verurteilung Mausers zum Ausdruck brachten und die Opfer verunglimpften.33 Auf die Spitze trieb es der international bekannte Essayist und Dichter Hans Magnus Enzensberger: Der Leserbrief ist nicht mein Lieblingsmedium; doch sehe ich mich gezwungen, die angebliche Affäre, von der Siegfried Mauser betroffen ist, zu kommentieren. Damen, deren Avancen zurückgewiesen werden, gleichen tückischen Tellerminen 34 . Ihre Rachsucht sollte man nie unterschätzen. Sie wissen sich der überforderten Justiz virtuos zu bedienen. Der Rufschaden, den sie bei dem, der sie verschmäht hat, anrichten können, ist beträchtlich. Man muss in Fällen, bei denen Aussage gegen Aussage steht, die Glaubwürdigkeit der Anklägerin prüfen. Herrn Mausers berufliche und private Reputation ist tadellos. In einem vergifteten und hysterischen Klima, wie es heute herrscht, sollten ihm alle, die ihn kennen, zur Seite stehen. Hans Magnus Enzensberger, München. (SZ-online, 27. Mai 2016) 35 32 | Vgl. BGH 3 StR 172/06 – Beschluss vom 22. Juni 2006, LG Düsseldorf. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen berichtet, dass es seit dieser Entscheidung viele Fälle gegeben habe, in denen Staatsanwaltschaften und Gerichte den Vergewaltigungsparagraphen 177 entsprechend eng ausgelegt hätten. 33 | Pusch, Luise F.: Enzensbergers »Tückische Tellerminen«. Blogeintrag auf Laut & Luise vom 12.06.2016 unter: www.fembio.org/biographie.php/frau/comments/ enzensbergers-tueckische-tellerminen/[05.05.2018]. 34 | Wie Pusch (2016) anführt, sollte man zudem auf die Metapher der Tellermine achten, die hier sicherlich gänzlich unpassend gewählt wurde, denn auch eine Tellermine explodiert eben nur, wenn man sie tritt. Vgl. zu sexistischer Metaphorik auch Frank (1992). 35 | Dieser und weitere Leserbriefe wurden am 27. Mai 2016 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel »Münchens Kulturwelt ist entsetzt«. Vgl. https://www.sueddeutsche. de/muenchen/nach-dem-ur teil-gegen-ex-rektor-der-musikhochschule-muenchenskulturwelt-ist-entsetzt-1.3009189 [07.05.2018]. Auch wenn die vier Honoratioren die
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
Am 19. April 2017 wurden weitere gerichtliche Klagen gegen Mauser bekannt, die im Mai 2018 zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten führten. Die 10. Strafkammer des Landgerichts München sah es als erwiesen an, dass Mauser körperliche Gewalt sowie seine Macht – eine Macht, an der an der Münchner Musikhochschule »kein Weg vorbeiführte«36 – gebraucht habe, sein Opfer sexuell gefügig zu machen.37
4. D iskurswandel in tr aditionellen L eitmedien und in sozialen M edien Das »Sprechen« über Missbrauch kann mit Bezug zu Foucault (1971 [1991]) als Diskurs bezeichnet werden, als eine anonyme Konfiguration von Aussagemustern, das heißt lexikalisch-semantischen Einheiten (»Wörter«, mehr oder weniger idiomatische »Konstruktionen«), pragmatisch-funktionale Einheiten (»Praktiken«, »Gattungen«, »Textsorten«), in deren Rahmen Subjekte sprechen und handeln müssen. Darin haben sie keine Wahl, da der Diskurs eine Praxis ist, die Welt so auszugestalten, wie sie von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden. In der Alltags- und Medienkommunikation sind hier die sachlichen Thematisierungen und auch Anspielungen und Andeutungen zu nennen sowie die mit diesen verbundenen Narrative, die in öffentlichen Medien Stoffe zur Darstellung bringen. Neben der Frage, welche Einheiten als Einheiten des Missbrauchsdiskurses gelten und auf welche Weise diese zu öffentlichen Diskursen (und damit auch zu Wertesystemen) umpositioniert werden, wird auch die Art des Erzählens für die Diskursanalyse wichtig: In welchen Mustern wird sie durchgeführt und wie werden die Personen (als Figuren) im Narrativ zueinander positioniert? Dabei kommt der Medienkommunikation eine besondere Bedeutung zu, weil sie durch ihre Breitenwirkung und Akzeptanz gerade bei Tabuthemen eine zentrale Rolle für die Vermittlung von Wissensbeständen innehat. Hier werden »Mythen und Normen entworfen sowie Ideologien und Schemata angeboten« (Amann/Wipplinger 1997: 772), die bei ihren LeserInnen auf Resonanz Arbeit des Schöffengerichts mit brüsken Worten anzweifeln, wurden in der Folge am 10. Juni 2016 einige empörte Erwiderungen abgedruckt. Leserbriefe von der Süddeutschen Zeitung Online: Das soll Münchens Kulturwelt sein? Süddeutsche Zeitung Online vom 10.06.2016 unter: www.sueddeutsche.de/muenchen/urteil-das-soll-muenchenskulturwelt-sein-1.3029045 [05.05.2018]. 36 | Wiegand, Ralf/Wimmer, Susi: Schlussakkord. Süddeutsche Zeitung Online vom 17. Mai 2018 unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/urteil-gegen-siegfriedmauser-schlussakkord-1.3984321 [17.10 2018]. 37 | Vgl. ebd.
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stoßen müssen, die aber zugleich den öffentlichen Meinungsbildungsprozess erheblich beeinflussen und sich in der medialen Darstellung in wesentlichen Elementen – vom wissenschaftlichen Wissen ausgehend – von den medialen Kontexten entfernen, auf eine bestimmte Art und Weise für das Medium transformiert werden, die zugleich eine diskursive Transformation bedeutet. Damit wird für die Durchsetzung von (diskursiver) Macht die Frage der Stärkung einer Sichtweise oder Positionierung durch ein Ein- und Ausblenden von bestimmten Sachverhalten (insbesondere durch die Wahl der Metaphorik) wichtig. Ferner verdeutlichen die Ergänzung, Erweiterung oder Streichung von Elementen die Ausgestaltung von Sachverhalten in eine bestimmte durch den Diskurs favorisierte Richtung, die damit als kulturelles Muster zu einem zentralen Ort der Aushandlung von kultureller und sozialer Bedeutung werden. Der Wandel des Diskurses, hier des Missbrauchsdiskurses, kann auf sämtlichen Ebenen des Diskurses beobachtet werden, indem zeitlich auseinanderliegende Äußerungen (systematisch) untersucht werden. Wenn es auch verfrüht ist, schon heute genau zu bestimmen, wodurch der Wandel des Missbrauchsdiskurses in welcher Weise beeinflusst wurde, so kann doch bemerkt werden, dass die Veröffentlichung und Lancierung des #MeToo-Protests als ein Wendepunkt gesehen werden muss, da sich mit diesem Diskursereignis und um diesen Zeitpunkt herum einige Elemente der medialen Narrative verändert haben, die den Wandel besonders deutlich zum Ausdruck bringen konnten. Offensichtlich geschieht eine Hinwendung zu den Opfern und deren Geschichten. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von Anzeichen, die in mehreren thematischen Strängen in traditionellen publizistischen Medien wie auch in sozialen Medienplattformen eine länger schon beobachtbare Veränderung des Missbrauchsdiskurses dokumentieren. So zum Beispiel die Studie von Amann und Wipplinger (1997), aus der hervorgeht, dass die Berichterstattung innerhalb der Medien zwar in einer gewissen Breite erfolgte, allerdings lange Zeit überwiegend über Taten, Fahndungserfolge, Prozesse und Urteile berichtet wurde und im Gegensatz dazu der Missbrauch selbst und die psychologischen und sozialen Hintergründe vernachlässigt wurden. Noch seltener galt das mediale Interesse den Opfern, deren Traumatisierung und den Möglichkeiten für eine Rehabilitation. Im Vergleich zu diesen Themenfokussierungen können heute Momente der Veränderung als neue zentrale Elemente des Diskurses ausgemacht werden. Einige dieser zentralen Elemente sollen hier in einem knappen Überblick über traditionelle und soziale Medien dargestellt werden.
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
4.1 Diskurswandel in traditionellen Leitmedien In den publizistischen Leitmedien der USA und Deutschlands kommt es seit #MeToo zu einer veränderten Praxis der Darstellung und einer damit einhergehenden Neubewertung von sexuellem Missbrauch. Bereits in den Jahren 2016 und 2017 häufte sich in den USA die Thematisierung von sexuellem Missbrauch. In der Öffentlichkeit wurde über das Verfahren gegen den bislang sehr beliebten Bill Cosby berichtet, der – wie aus den Gerichtsverhandlungen hervorging – seine Opfer mit Betäubungsmitteln wehrlos machte und dann vergewaltigte. Diese Perfidie irritierte zusätzlich, da sie mit dem von humorvollen Nettigkeit gekennzeichneten Image der Figur des Dr. Cosby aufs Heftigste kontrastierte. Öffentlich diskutiert wurden auch die sexistische Unternehmenspolitik diverser Medienhäuser insbesondere der Fox-Medien, die wegen Schweigegeldvereinbarungen lange nicht publik waren und vor allem durch Wendy Walsh ans Licht kam, da sie sich einer solchen Vereinbarung entzog und über die bedrohlichen und demütigenden Avancen ihres damaligen Vorgesetzten in spe, Bill O’Reilly, berichten konnte. In Fernsehinterviews wurden nicht nur Missbrauchserfahrungen öffentlich gemacht, wie dies durch den Freedom of Information Act gefördert wird, sondern auch heftig über den Nutzen und Schaden von Schweigegeldvereinbarungen debattiert. Es zeigte sich, dass einflussreiche Männer ihre institutionelle Macht nicht nur dazu nutzen, Frauen zu sexuellen Handlungen zu zwingen, sondern sie darüber hinaus auch zum Schweigen zwingen konnten. Ferner wurden über die Medien hinaus aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern, so zum Beispiel auch aus der Domäne des Sports von Kunstturnerinnen und Schwimmerinnen über systematische Missbrauchspraktiken von Ärzten und Coaches berichtet. Diese Vertrauenspersonen haben nicht nur ihre minderjährigen Schützlinge missbraucht, sondern sie wurden darüber hinaus sogar von ihrer Institution gedeckt. Und – last but not least – wurde auch bei der Berichterstattung über Präsident Trump neben den unzähligen Prozessen und Skandalen um Schweigegeldvereinbarungen, vor allem durch den Skandal zum Access Hollywood-Tape, ein Diskurswandel deutlich. In den Medien empörte man sich darüber, dass Trump im Jahr 2006 darüber prahlt, wie er sich als Medien-Star sexuelle Übergriffe »just kiss them and grab them by the pussy« (vgl. auch #Pussygate) leisten könne. Mit Trump wurde darüber hinaus nicht nur die bisher nicht in dieser Deutlichkeit wahrgenommene Praxis einer bizarren und sexistischen Alpha-Male-Culture auf den Punkt gebracht und coram publico entlarvt, sondern er
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befeuerte durch sexistische Provokationen #MeToo und verwandte Protestaktionen wie die global durchgeführten Frauenmärsche.38 Über die emotionalisierende Bewertung hinaus erfolgte dadurch ein Wissenszuwachs, der sowohl die Tatsache der systematischen sexuellen Übergriffe durch Männer, die mit einer gewissen Macht ausgestattet sind, betraf, als auch die (männliche) Komplizenschaft zwischen Tätern und Zuhörern beziehungsweise Medien (hier von Trump mit dem befürwortend klingenden Moderator Billy Bush) und weiteren Akteuren im Schweigekartell offensichtlich machte. Damit wurde einem breiten Publikum vorgeführt, dass die Möglichkeit für Normüberschreitungen nicht nur allgemein bekannt war, sondern dass die demütigenden Übergriffe mit einer gewissen Freude über die Macht und mit der potenziellen Wehrlosigkeit der Frauen verbunden waren, die es einigen Männern – nach Trump »when you’re a star« – erlaubt, die sonst gültigen und anerkannten gesellschaftlichen Normen auszuhebeln. In deutschen Leitmedien erinnert man sich an den #aufschrei-Protest aus dem Jahr 2013, bei dem es – wenn auch die Qualität der Aussage seitens des FDP-Politikers Rainer Brüderle eine ganz andere als die von Donald Trump hatte – damals auch um Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen ging. Vor allem aber wurde der Blick geschärft für den Zusammenhang von Alltagssexismus und Macht. Doch auch wenn mit immerhin 60.000 Posts ein »Aufschrei« durch die sozialen Netzwerke und die Medien ging, verebbte die Thematisierung von Sexismus im Alltag und die Diskussionen und recherchierten Berichterstattungen über sexuelle Gewalt rasch wieder. Bis heute finden sich in den Printmedien neben der Berichterstattung über die Skandale in den USA keine ausführlichen Recherchen. Berichte über Vergewaltigungsprozesse liegen meist mehrere Jahre zurück.39 Eine Ausnahme bilden die Prozesse gegen den Hochschulrektor Mauser, über die in der Münchner Lokalpresse beziehungsweise im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung berichtet wird. Während die Abendzeitung Mauser in Schutz nimmt, bezieht in der Süddeutschen nicht die Zeitung selbst Stellung, sondern sie lässt die unterstützenden Leserbriefe sprechen (s. Kap. 2.) Diese stoßen allerdings auf solch starke Ablehnung, 38 | Dückers, Tanja: Vereint gegen den Grapscher. Der Tagesspiegel Online vom 28.01.2017 unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/neuer-feminismus-in-den-usavereint-gegen-den-grapscher/19317404.html [16.05.2018]. 39 | Im Jahr 2010 gab es zu einem Prozess, in dem Talkmoderator und Wettermann Kachelmann der Vergewaltigung angeklagt war, viel Presse. Doch bei der Berichterstattung kam es zu dezidierten Parteinahmen durch JournalistInnen und Medienhäuser: Es bildeten sich zwei Lager, die eindeutig die Positionen Kachelmanns vertraten (Der Spiegel, Die Zeit) beziehungsweise der Nebenklägerin (Axel-Springer- und Burda-Presseerzeugnisse), was zu einer Bloßstellung und Stigmatisierung – er als potenzieller Vergewaltiger, sie als Lügnerin – führte.
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
dass Entgegnungen auf diese Leserbriefe in der Folge auch abgedruckt werden (müssen). Auch hier verdeutlicht sich der Diskurswandel am prägnantesten nach #MeToo, genauer nach dem Oktober 2017. Erst nach diesem Zeitpunkt wurde im Fall Mauser in den deutschen Leitmedien (hier vor allem die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel und Die Zeit) auch kritisch über den Täter berichtet (s. oben). Im neuen Jahr (2018) werden Vorwürfe gegen zwei deutsche Film- beziehungsweise Fernsehregisseure (Dieter Wedel und Gebhard Henke) durch investigative Berichte des Magazins Der Spiegel und des Rechercheportals correctiv.org öffentlich.40 Auch hier werfen mehrere Frauen den namentlich genannten Männern sexuelle Übergriffe vor, beide haben inzwischen ihre beruflichen Positionen und Ehrenämter verloren.41 Aus diesen wenigen Berichten geht hervor, dass ein diskursiver Wandel mit #MeToo in Zusammenhang gebracht werden kann, denn auch hier veränderten sich dieselben Elemente des Diskurses: den Frauen wird geglaubt, MitwisserInnen treten aus der Anonymität heraus und artikulieren sich, entschuldigen sich bisweilen, die Haltung der ArbeitgeberInnen ändert sich, die Opfer werden geschützt. Gerade diejenigen Muster und Prozesse, die die Narrative prägen und bei sexuellen Übergriffen typischerweise zum Zuge kommen, werden nun als Vorgehensweise der Täter durchschaut. Hinzu kommt, dass das Trauma und die Scham der Opfer stärker gewichtet werden. In Deutschland sind Recherchen zwar seltener und die Menge der Berichte weitaus geringer, doch der Diskurswandel ist in wesentlichen Punkten vergleichbar mit demjenigen der USA. Einen beachtlichen Wandel seit #MeToo zeigt sich, wie oben bereits erwähnt, ebenso im Fall Mauser. Während im Jahr 2016 in den Medien das erstinstanzliche Urteil noch weitherum angezweifelt wurde, titelte Die Zeit am 23. Mai 2018 skeptisch und auch mit Häme »Ziemlich unheilige Allianzen« um zu fragen: »Wo bleibt der Rabatz?«, eine Anspielung auf die Leserbriefe der einflussreichen Freunde Mausers, die vor zwei Jahren noch verschickt wur40 | Der aktuelle Rektor der Musikhochschule, Bernd Redmann, gibt öffentlich zu, dass erst nach der Veröffentlichung der vorgängig unter Verschluss gehaltenen Untersuchungen erneut eine amtliche Untersuchung durchgeführt wird und Maßnahmen eingeführt wurden, um zukünftig sexuellen Missbrauch und den damit verbundenen Machtmissbrauch zu unterbinden: Neuhoff, Bernhard: »Wir wollen noch besser werden«. Transkript der Sendung »Leoprello« BR-KLASSIK vom 05.07.2018 unter: https://www.br-klassik. de/ak tuell/news-kritik/bernd-redmann-praesident-musikhochschule-muencheninterview-100.html [20.07.2018]. 41 | Laut correctiv.com sind im Westdeutschen Rundfunk aktuell vier (dort namentlich nicht genannte) Personen in bedeutenden Positionen bekannt, die Mitarbeiter systematisch sexuell belästigt haben. https://correctiv.org/recherchen/wdr-die-metoorecherche/ [20.07.2018].
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den.42 Im Unterschied zu früheren Beiträgen wurde im Fall Mauser diesmal nicht mehr nur berichtet, sondern auch recherchiert, man bemühte sich beispielsweise, etwas über die Stimmung an der Musikhochschule zu erfahren. Dazu wurde dann sogar eine (geleakte) interne Studie der Musikhochschule zitiert, aus der hervorgeht, dass es wohl eine Schulkultur gab, in der sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung waren. Nicht zuletzt wurden auch die Schwierigkeiten der Urteilsfindung (Spiegel Online, 16.05.2018) näher erläutert und über die Verfahren zur Wahrheitsfindung im Gericht informiert.43
4.2 Vorläuferdiskurse von #MeToo in sozialen Medien: Me too und #unbreakable Die Rolle der neuen sozialen Medien wird oft in der Möglichkeit der UserInnen gesehen, vermehrt an politischen Diskursen zu partizipieren (Diekmannshenke 2016: 354). Dies geht im Fall von #MeToo doch weit darüber hinaus. Wie man an den Vorläuferdiskursen sehen kann, werden die sozialen Medien sowohl für die Darstellung von persönlichen, aber politisch relevanten gegenhegemonialen Erfahrungen genutzt, wie für die Propagierung von politischen Inhalten und Organisation von Aktionen, die zu unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung (Weber 1922, §9) führen. Was demnach mit einem selbstermächtigten, indirekten und impliziten Austausch über Missstände beginnt, führt zu einer politischen Kampagne, deren Ausgang oder Erfolg heute noch nicht abzusehen ist. Schon vor #MeToo gab es diverse Vorläuferdiskurse, die zwar nicht in bedeutendem Umfang in den traditionellen Medien thematisiert wurden, aber dennoch auch ein Medienecho verursachten und zu öffentlichen Debatten führten.44 So zum Beispiel der Vorläuferblog von Tarana Burke, den sie bereits 42 | Vgl. Lemke-Matwey, Christine: Ziemlich unheilige Allianzen. Die Zeit Online vom 23.05.2018 unter: https://www.zeit.de/2018/22/siegfried-mauser-pianist-sexuellenoetigung-metoo [05.06.2018]. 43 | So zum Beispiel über die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation: »Wie in Sexualstrafverfahren häufig, bestand die Herausforderung für das Gericht in der Beweissituation. In der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation lag der Schwerpunkt in der Gesamtwürdigung aller Umstände. Schlussendlich sprachen die Glaubwürdigkeitskriterien zugunsten der Geschädigten.« Vgl. Möller, Jan-Philipp: Freiheitsstrafe für früheren Präsidenten der Münchner Musikhochschule, Spiegel Online vom 16.05.2018 unter: www. spiegel.de/panorama/justiz/musikhochschule-muenchen-siegfried-mauser-wegensexueller-noetigung-verurteilt-a-1208154.html [05.06.2018]. 44 | Auch zum Beispiel einige Hashtags wie beispielsweise #aufschrei, #neinheißtnein beziehungsweise #neinheisstnein, #ausnahmslos, #EverydaySexism, #NotOkay, #YesAllWomen, #unbreakable, #notaskedforit.
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
2006 ins Leben gerufen hatte. Hier wurde das heute berühmte Schlagwort »Me too« erstmals gewählt für eine »Bewusstseinskampagne« für afroamerikanische Vergewaltigungsopfer. Diese wurden angehalten, in MySpace, ihre Erfahrungen zu schildern. Dies geschah mit dem Ziel, die Empathie unter afroamerikanischen Frauen, die Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht hatten, zu fördern und damit eine ›Heilung‹ herbeizuführen.45 Ein weiteres, erfolgreiches US-amerikanisches Protestselfie-Projekt (Grohmann/Kamil/Wyss 2015a) wurde im Oktober 2011 unter dem Hashtag unbreakable46 von Studentinnen einer Kunsthochschule initiiert (auch: #notasked forit). Dabei handelt es sich um einen Tumblr-Foto-Blog, der zum Ziel hatte, den Opfern eine Stimme zu geben und sie so aus der typischen Opferrolle herauszuholen. Damit sollte das Schweigen durchbrochen und ein Zeichen gegen die Unterdrückung der Opfer gesetzt werden. Einige notierten auch Bannsprüche, Motivationssprüche, mit denen sie sich und die Gemeinschaft stärken. Auch dieser Blog wurde über das Internet hinaus in vielen traditionellen Medien präsentiert. Die Bedeutung des Blogs wurde vom Time-Magazine als so wichtig eingestuft, dass er 2013 zu einem, der dreißig wichtigsten Blogs der Welt erkoren wurde. Für Deutschland ist der schon in Kapitel 4.1 angesprochene Hashtag #aufschrei zu nennen, der zeitlich und inhaltlich daran anschließt und (also wie #unbreakable) auch Anfang 2013 via Twitter die Nachrichten von Betroffenen über ihre sexistischen Erfahrungen sammelte. Diese Aktion wurde lanciert als in einem Zeitungsartikel über eine als übergriffig beschriebenen Begegnung der Journalistin Laura Himmelreich mit dem FDP-Politiker Rainer Brüderle in der deutschen Öffentlichkeit eine heftige Debatte über Sexismus (insbesondere Alltagssexismus) ausgelöst wurde. Auch in diesem Projekt ging es darum, den Opfern eine Stimme zu verleihen, Raum zu geben für die Erfahrungen
45 | »It wasn’t built to be a viral campaign or a hashtag that is here today and forgotten tomorrow,« Burke said. »It was a catchphrase to be used from survivor to survivor to let folks know that they were not alone and that a movement for radical healing was happening and possible.« (Tarana Burke, 2017 CBS). 46 | Die Betroffenen ließen sich von Studentinnen der Hochschule fotografieren oder machten selbst ein Protestselfie, das heißt ein Selfie mit einem Protestplakat, auf dem – je nach Belieben – anonym (hinter der Tafel) oder mit einem Selbstportrait versehen, Angaben zur Zeit, Form und Dauer des sexuellen Missbrauchs angeführt wurden und bisweilen auch bloß Statements der Täter wie z.B. »Hush, little lady, it’ll be over soon« (dt. Still, kleine Dame, es ist gleich vorbei.) oder »If you tell anyone, we can’t have fun anymore« (zum damals 5-jährigen Mädchen). Vgl. Tumbler-Webseite des Projekts unter: http://projectunbreakable.tumblr.com/post/155746893802/hi-everyone-in-light-ofour-current-political [15.05.2018].
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mit sexueller Gewalt. Auch hier war man überrascht über die große Anzahl an Beiträgen und die vielen furchtbaren Erfahrungen, die geschildert wurden. Dieser Hashtag ist für die deutsche und generell für den deutschsprachigen Diskurswechsel von großer Bedeutung, weil er den Diskurs in Bewegung brachte. Doch auch hier sträubten sich doch einige herausragende Demokraten dagegen, wie beispielsweise der sonst aufgeschlossene damalige Bundespräsident Gauck, der die Thematisierung von sexueller Belästigung und Gewalt als »Tugendfuror« herunterspielte, er könne »keine gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen erkennen.«47
4.3 Wandel der Narrative im Missbrauchsdiskurs Innerhalb des MeToo-Diskurses wurden die medialen Narrative hinsichtlich der Darstellung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt verändert. Zum einen werden nicht mehr länger nur Einzelschicksale beachtet, der Einzelfall nicht mehr als Sensation benutzt, sondern die zutage tretenden Fälle sexuellen Missbrauchs und die vielen persönlichen Schilderungen werden als Bestätigung eines Strukturproblems hinsichtlich sexueller Gewalt besonders gegenüber Frauen verstanden. Das Einzelschicksal tritt damit zu Gunsten des Massenphänomens zurück. Bei der Betrachtung des Einzelschicksals ist ferner eine Klärung der Perspektive auszumachen: das Opfer wird nun objektiv als Opfer wahrgenommen. Überdies wird die Frau als Opfer nicht mehr länger zum Täter gemacht, ist nicht mehr jene, die den Täter verführt und an ihrem Schicksal selbst die Schuld trägt, sondern wird den Tatsachen entsprechend als Opfer des systematischen Missbrauchs wahrgenommen. Es entfällt in der Folge auch die Fixierung auf Opfertypen, bei der eine soziale Schicht, ein bestimmtes Alter favorisiert wurden, sondern das Opfer ist nun irgendeine (»jede«) Frau. Auch die Wahrnehmung der Täter verändert sich. Sie werden nicht länger als partikuläre Monster, hilflose Kranke oder der Attraktivität von Frauen ausgelieferte Personen konstruiert. Vielmehr werden sie als ein Typus gesehen, wodurch teilweise auf die bislang übliche Individualisierung von Tätern und Sensationalisierung der Gewalt verzichtet wird. Er wird nunmehr durch eine ihm zugeschriebene ›Normalität‹ mit einer Anspruchshaltung beschrieben. So wurde beispielsweise bei der Berichterstattung über den Fall Weinstein sehr schnell von einem branchentypischen Verhalten abgesehen und das Benehmen Weinsteins als Teil, in diesem Falle einer Machtausübung dargestellt, die überall hätte passieren können. 47 | Spiegel-Interview: Gauck beklagt »Tugendfuror« im Fall Brüderle. Der Spiegel Online vom 03.03.2013 unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/sexismus-debattegauck-beklagt-tugendfuror-im-fall-bruederle-a-886578.html [20.05.2018].
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
Während Opfer und Täter im Diskurs als Elemente verändert wurden, zeigt sich in Bezug auf die angetane »sexuelle« Gewalt, dass diese nicht länger als Sex (»sexuelle Praxis«) konzeptualisiert wird. Gerade in den traditionellen Medien lassen sich Tendenzen nachverfolgen, die auf eine angemessene Sprache und eine kontextbezogene Verwendung von Begriffen aufmerksam machen.48 Da »Sex« als Terminus eine beiderseitige Einvernehmlichkeit voraussetzt, würde er nun eine unpassende Erotisierung oder Romantisierung erzeugen und diente damit als Verharmlosung eines Gewaltverbrechens. Dass diese Abgrenzung noch weiter zu Diskussionen führen würde, zeigte insbesondere die Kritik aus Frankreichs feministischem Kontext. Dort unterschrieben 99 Frauen, unter anderem Catherine Deneuve, einen öffentlichen Brief in der Zeitung Le Monde (09.01.2018), in dem die Grenzen zwischen einem ungebetenen Flirt und einem Straftatbestand wie den der sexuellen Belästigung oder der Vergewaltigung als unklar dargestellt wurden, was als ein eigentlicher Rückschritt gesehen und kritisiert wurde, weil damit die Frage der Selbstwahrnehmung der Opfer untergraben wird. Nach der Empörung seitens diverser Medien und in den sozialen Netzwerken entschuldigte sich Catherine Deneuve wiederum öffentlich bei den von ihr als »tatsächliche« Opfer betitelten, verblieb aber summa summarum bei der Forderung man(n) müsse die »Freiheit, lästig zu sein« weiterhin haben.49 Dies brachte auf einer konzeptionellen Ebene eventuell ein gewisses kultur- oder ethnopsychologisches Argument, das im weiteren Verlauf einer Klärung bedarf. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Freiwilligkeit von demütigenden Praktiken, wie sie in vielen beruflichen Kontexten zum Zweck der Karriereförderung üblich sind. Letztlich wird deutlich, dass die politische Auseinandersetzung nicht allein in den Leitmedien, sondern durchaus in den sozialen Medien stattfindet und durch sie dort auch zu Stande kommt und sich der Impact keineswegs marginal ausnimmt – wie dies kritische Stimmen (Münker 2009, Kneuer/ Richter 2015, Emmer 2017) behaupten.
48 | Vgl. Markutzyk, Sabrina: Vergewaltigung ist kein »Sexskandal«, Der Tagesspiegel Online vom 18.10.2017 unter: https://m.tagesspiegel.de/politik/hollywood-produzentweinstein-vergewaltigung-ist-kein-sexskandal/2046, 8434.html?utm_referrer=https %3A%2F%2Fm.facebook.com%2F [15.05.2018]; Bovensiepen, Nina: Vergewaltigung ist kein Sex, Süddeutsche Zeitung Online vom 24.01.2018 unter: www.sueddeutsche.de/ kultur/me-too-und-sprache-worte-die-verletzen-1.3837101 [15.05.2018]. 49 | Vgl. AFP, dpa: Catherine Deneuve entschuldigt sich bei Opfern sexueller Gewalt, Die Zeit Online vom 15.01.2018 unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2018-01/metoo-catherine-deneuve-liberation-entschuldigung [15.05.2018].
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5. Z urück weisung der diskursiven N orm durch die alternative Ö ffentlichkeit Wenn man nun versucht, die allgemeine diskursive Norm hegemonialer Männlichkeit 50 als Dispositiv zu benennen, nach dem gehandelt wird, so wird man gewahr, dass in diesem Diskurs bisher die Sexualität der Frau als etwas Verfügbares gesehen wurde, das im (hegemonialen) heteronormativen Kontrakt (als Performanz von Männlichkeit und Weiblichkeit) auch verfügbar gemacht werden musste. Die Verfügbarkeit der weiblichen Sexualität wird gewissermaßen mit einem überindividuellen, gesellschaftlichen Anspruch verbunden, sodass es bei einer Verweigerung zu offensiven oder defensiven Sanktionen (»Bestrafung«) kommt. Die Bestrafung kann durch einen Verlust der Karriere geschehen, als Intrige, Denunzierung und/oder gesellschaftliche Stigmatisierung oder die Nicht-Rechtsprechung im Gericht. In solch einer Konstellation wird eine Frau, die sich aktiv gegen die Verfügbarkeit und gegen sexuelle Gewalt wehrt, öffentlich denunziert. Nicht selten kommt es dabei zu einer Verkehrung der Schuldzuweisung fälschlicherweise an die Adresse des Opfers. Diese Manipulationsstrategien treten dann zutage, wenn eine Frau oder ein nicht-hegemonialer Mann sich gegen das Dispositiv wendet, also gegen diese Verfügbarkeit angeht und sich zur Wehr setzt. Selbst in jenem Moment also, in dem es darum geht, Recht zu sprechen bei sexueller Gewalt, ist die Rechtsordnung für Frauen (und auch für nicht-hegemoniale Männer) mindestens teilweise aufgehoben. Die Frau erfährt selbst bei offensichtlichsten Gewaltverbrechen nicht nur keine Gerechtigkeit, sondern auch keinen Schutz ihrer körperlichen, psychischen und sexuellen Integrität. Dabei versagen die Instanzen sowohl der zuständigen Behörden der Justiz, wie auch im beruflichen und privaten Feld: FreundInnen, Eltern, Behörden, PädagogInnen. Dies führt letztlich zu einem verunsichernden Gefühl der Ambivalenz an sich selbst, das die Person an sich zweifeln lässt, so dass sie darin ihre persönliche Integrität aufgeben muss und aufgibt. Da die gesellschaftlich eingerichtete Gewährleistung mit der Verfügbarkeit der Frau korrespondiert, wird in diesem »Spiel« der demütigende Missbrauch zu einer Praxis, die passiert und immer dann passieren darf, wenn ein Mann sich danach fühlt. Der Diskurs ist zwar durch das Dispositiv der Verfügbarkeit gebunden, bleibt aber gleichzeitig – mit Ricoeur (1972: 253f.) – als Narrativ, das in einer bestimmten Zeit als Inhalt und Mitteilung durch Sprecher oder Sprecherinnen 50 | »Hegemoniale Männlichkeit« verweist auf ein Strukturkonzept nach Connell, das zu sehen ist: »als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis […], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet« (Connell 1999: 98).
Der #MeToo-Protest. Diskurswandel durch alternative Öffentlichkeit
erfolgt, auch stets reflexiv und kann an diese SprecherInnen zurückgebunden und damit auch von diesen verändert werden. Diskurswandel kommt hier nun zu Stande in einem Kampf um die Durchsetzung von neuen gesellschaftlichen Normen, durch die alle nicht-hegemonialen Personen (Weiblichkeiten und Männlichkeiten) ausnahmslos, umfassend und nachhaltig in ihrer körperlichen, psychischen und sexuellen Integrität anerkannt und gebührlich geschützt werden. Dies bildet die basalste Grundlage für die Durchsetzung von Handlungsfähigkeit (›agency‹) nicht-hegemonialer Personen. Der Kampf versammelt nun den Ausdruck gegenhegemonialer Meinungen und sozialer sowie politischer Ziele in einem Protest in sozialen Medien und durchbricht dabei die hegemoniale Normalität. Mit den #MeToo-Protestäußerungen wird damit für ein schwieriges und unbeliebtes Thema im Kontext der alternativen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit geschaffen und eine breite Rezeption hergestellt. Es ist nun die Frage, inwieweit jeder Rechtsstaat dazu verpflichtet ist, diesen Schutz zu gewährleisten. Im Moment mangelt es noch an einer sorgfältigen konzeptuellen Ausdifferenzierung von Macht, Sexualität und Gewalt, doch es fehlt auch der politische Wille, die weit verbreiteten manipulatorischen Strategien zu durchschauen und auf praktischer Ebene für die polizeiliche (Aufnahmeprotokolle) und gerichtliche Durchsetzung (Verurteilung von Tätern) der geltenden Rechtsordnung zu sorgen. Die sozialen Medien sind im Sinne einer alternativen Öffentlichkeit, wie die MeToo-Kampagne beispielhaft gezeigt hat, in der Lage, Menschen über geographische Grenzen und soziale Schichten hinweg zu vernetzen. Themen werden dabei aus der alternativen Öffentlichkeit in weitere Öffentlichkeit(en) gebracht. Innerhalb des Missbrauchsdiskurses wurde schließlich auch das vorherrschende Sprachtabu gebrochen, wodurch eine neue Erfahrung zugänglich gemacht wird. Dieses neue Wissen bricht auf einer weiteren Ebene die durch hegemoniale Männer bestimmte Diskursstruktur auf, wodurch das Missbrauchsnarrativ um Elemente und Positionen erweitert wird, die bis dahin nicht in Erscheinung traten und dadurch im Diskurs nicht »existierten« (vgl. Keller 2015, 2005). Die Veröffentlichung der Missbrauchserfahrungen macht ersichtlich, dass die Betroffenen mit den erlebten Missbrauchs-Taten und – Traumata nicht alleine dastehen. In der Folge reduzierte sich auch die Gefahr der persönlichen Stigmatisierung. Dies führt zu einer Ermutigung und Ermächtigung der bisher zum Schweigen verurteilten Individuen, zum Erwerb einer Handlungsfähigkeit (Butler 2010) in der Folge des Diskurswandels.
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Mit den sozialen Medien wird durch eine soziale Bewegung des 21. Jahrhunderts – wie dies ähnlich in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war – ein neuer unabhängiger Kommunikationsraum geschaffen, der »jenseits der als vermachtet und manipulierend kritisierten medialen Öffentlichkeit« (Baringhorst 2010: 23) steht. Die sozialen Medien bieten als eine dem gesetzten Diskurs gegenüberstehende Alternative, die Möglichkeit, Diskurse nicht nur in den Fokus zu rücken, sondern sie auch zu forcieren. So wird klar, dass sich Online- und Straßenproteste nicht länger als kommunikative Optionen gegenüberstehen, sondern einerseits je unterschiedliche Protestformen darstellen, durch die sich – wie Maireder/Ausserhofer (2014) zeigen – andererseits neue politische Praktiken etablieren, die damit auch die Konstruktion politischer Bedeutung erneuern, infolgedessen sich vernetzte Kommunikationsverfahren bilden (Dang-Anh 2017). Schließlich kann mit sozialen Medien aufgrund ihrer überlegenen Funktion der Vernetzung der Diskurs in einen Raum verlagert werden, der als alternative Öffentlichkeit fungiert, in dem – hier nun – die hegemoniale Männlichkeit als Prinzip an ihrem Ausagieren gehindert wird. So ist das Ende der MeToo-Debatte nicht absehbar, wenn auch der Fortgang des Diskurses und die Debatte in Deutschland indes noch offen bleiben.
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The analysis of recent alternative discourses is often linked to digital media and communication forms such as twitter or facebook. In this regard new digital forms of participation and connectivity are discussed as the positive outcome of technological change. However, there do exist communication forms in the analogue world which are used widely to communicate political opinions as well. For example posters, graffiti or street art may serve as devices to grab the local attendee’s attention to specific topics or political events. Therefore the possibilities to generate a non classic formation of opinion have to be examined in a broader sense including both analogue and digital communication forms being used at present to generate alternative or rather critical public opinion. Based on these considerations, the contribution is structured as follows: First, it is pointed out that place bound communication in the city allows many different forms to address the local attendees. Second, the communicative structure of these publicly perceivable texts is elaborated using and defining the term meso-communication. Third, online communication forms via facebook are discussed as meso-communication and compared to more classic mass communication such as websites. Based on an example which demonstrates new forms of intertextuality between urban and virtual texts the paper argues in general that recent forms of alternative public opinion depends on communicative adressability and selectivity of adressees – in other words on meso-communivative structures. Keywords: Meso-communication, place-bound communication, communication forms, public sphere, social media
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1. Z wischen Te x tne t zen und Teilhabe – K ommunik ation in der G egenwart Die medienlinguistische und medienwissenschaftliche Untersuchung gegenwärtiger Kommunikation fokussiert in der jüngeren Zeit vor allem zwei große analytische Bereiche: Einerseits die immense mediale Ausdifferenzierung, die mit der zunehmenden Digitalisierung korrespondiert und vermehrt neue multimodale Kommunikate hervorbringt, und andererseits die zeitgleich daraus resultierenden kommunikativen Möglichkeiten, die veränderte Formen der Beteiligung und Vernetzung von Einzelnen und Mehreren umfassen. Diese Foki bilden realiter unterschiedliche Schwerpunkte einzelner Arbeiten – etwa einerseits digitale Ausdifferenzierung und Multimodalität (Jewitt 2009; Meier 2014; Thurlow/Mroczek 2011), andererseits Vernetzung und Partizipation (vgl. Einspänner et al. 2014; Hepp et al. 2014; Jenkins 2006) – sind jedoch aufgrund der Komplexität und Hybridität aktueller Kommunikationsmöglichkeiten grundsätzlich zusammen zu betrachten, wenn irgendein aktueller Text oder Kommunikationsakt in seiner Spezifik erfasst werden soll: Letztlich stellen somit die bereits intensiv erforschte Multimodalität (vgl. auch Klug/ Stöckl 2016; Kress/van Leeuwen 2001) sowie die zunehmend breiter rezipierte Mediatisierung (grundlegend Krotz 2007; Krotz/Hepp 2012; auch Androutsopoulos 2014) kommunikationsstrukturelle Rahmen für die Genese immer neuer Intertextualitäten und Beteiligungsformen dar. Dies ist freilich keine monokausale Verbindung der beiden genannten Bereiche, so dass sich beide Schwerpunkte oftmals wechselseitig bedingen. Bei aller Verbundenheit verweisen beide jedoch auf zwei analytische Aspekte von Kommunikation: auf die durch Ausdifferenzierung und Digitalisierung bestehenden kommunikationsstrukturellen Möglichkeiten und deren kommunikative und soziale Folgen bzw. auf den kommunikativen Haushalt und das pragmatische (oder soziale) Potential gegenwärtigen menschlichen Austauschs. Mit Rekurs auf »Social Media« ist es gerade der letztgenannte Punkt, das soziale und pragmatische Potential neuer Kommunikationsformen, das in den Fokus des Interesses rückt. Mit der Betitelung des vorliegenden Bandes, alternative Öffentlichkeiten, wird denn auch auf die immensen und neuen Möglichkeiten verwiesen, die in der gegenwärtigen digital unterstützten Genese von Gruppen und Diskursen liegt und auf neuen Formen des sozialen Austauschs und der ortsungebundenen Mitteilung und Vernetzung basiert. Inwieweit dadurch schneller und dauerhaft Formen von (kritischer, oppositioneller) Öffentlichkeit fernab klassischen medialer und gesellschaftlicher Institutionen entstehen, wird intensiv diskutiert (vgl. u.a. Hahn/Langenohl 2017; Imhof et al. 2015). Indes, der genauere Blick auf gegenwärtige Kommunikationsformen entdeckt alternative Öffentlichkeiten nicht nur im digitalen Raum: Hier setzt der
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vorliegende Beitrag an und zielt auf die Wechselwirkung der Genese öffentlicher und alternativer Diskurse zwischen lokalem und virtuellem Ort, somit zwischen Straße und Netz. Dass neue Formen der Partizipation nicht nur digital motiviert und wahrnehmbar sind und damit ortsungebunden funktionieren, sondern gerade durch ortsgebundene Formen verstärkt, belebt und initiiert werden, steht im Zentrum des Beitrages. Das Kernargument liegt in der vergleichbaren meso-kommunikativen Struktur von z.B. Facebook und öffentlicher Betextung, von Twitter und Plakaten, die aufgrund ihrer spezifischen medialen-materialen Geprägtheit und Adressierung an Follower und Friends oder lokal Anwesende eine spezifische Adressatengruppe ansprechen, die mit »herkömmlichen« Klassifizierungen zwischen Mikro- und Makro-Kommunikation nicht angemessen beschrieben werden können (vgl. hierzu Domke 2014: 159ff., Fraas/Meier/Pentzold 2012). Mit Hilfe des Terminus Meso-Kommunikation (vgl. Domke 2014) soll die kommunikative Spezifik dieser Kommunikationsformen analytisch verdeutlicht werden: So wird ihr Potential herausgestellt, über konkrete Orte und virtuelle Adressen Rezipienten gezielter ansprechen zu können, als dies massenkommunikative Strukturen ermöglichen. Worin die Besonderheit von ortsgebundenen, öffentlich wahrnehmbaren Texten als (oftmals übersehenem) Bestandteil gegenwärtiger multimodaler Kommunikation besteht, wird in Abschnitt 2 systematisch herausgearbeitet und damit die Grundlage für die Spezifikation von Meso-Kommunikation als angemessener analytischer Beschreibungsgröße dieses Kommunikationstyps gelegt. Die Charakteristik von Meso-Kommunikation und was sie systematisch von Mikro- und Makro-Kommunikation, somit von Face-to-Face- und Massenkommunikation unterscheiden lässt, wird in Abschnitt 3 gebündelt. Abschnitt 4 diskutiert die meso-kommunikativen Merkmale digitaler Kommunikation und setzt Formen der »Social Media« beispielhaft in Relation zur »Partizipationskultur« im Sinne Jenkins (2006). Im abschließenden fünften Abschnitt wird kurz zusammengeführt, dass die zunehmende Intertextualität von Websites und Plakat vor Ort, von ortsgebundenem Text und seiner digitalen Verbreitung in der meso-kommunikativen Struktur begründet liegt. Im Gesamt zielt der Beitrag somit auf die Fokussierung der meso-kommunikativen Struktur gegenwärtig prominent genutzter Kommunikationsangebote und ihres dadurch bestehenden Potentials für die Genese alternativer und/oder neuer Kommunikationswege.
2. M eso -K ommunik ation im öffentlichen R aum Um die gerade erwähnte Spezifik und Struktur von Meso-Kommunikation herausarbeiten zu können, erweist sich der Einstieg über die Empirie als anschlussfähig. Durch die Diskussion meso-kommunikativer Besonderheiten
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sowohl im begehbaren, öffentlichen als auch im virtuellen Raum sollen in diesem Beitrag sowohl die Unterschiede meso-kommunikativer Formen zu den beiden klassischen Polen der menschlichen Kommunikationsgeschichte (wie Face-to-Face-Kommunikation und Massenkommunikation) als auch die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Typen von Meso-Kommunikation erfasst werden. Deren kommunikatives und soziales Potential gerät so empirisch und analytisch in den Fokus. Der Beginn der Vorstellung meso-kommunikativer Strukturen erfolgt durch den Gang durch die Stadt und damit an einem Ort, der bei der Diskussion gegenwärtig relevanter Formen alternativer Öffentlichkeiten nicht immer angemessen berücksichtigt wird. Bereits der schnelle Blick durch oder in eine Straße oder einen Bahnhof erfasst eine Vielzahl ortsgebundener Texte wie Politik- oder Werbeplakate, Fahrpläne, Abfahrtstafeln, Abreißer oder Aufkleber (siehe Abb. 1 und 2). Bisher stand visuell wahrnehmbare Kommunikation im Fokus der Linguistic bzw. Semiotic Landscape-Studies (vgl. Shohamy/Ben-Rafael/Barni 2010; Jaworski/ Thurlow 2010) oder Urban Studies (vgl. Busse/Warnke 2014), also das, was wir sehen, wenn wir, wie in Abbildung 1, durch die Stadt gehen: Abbildung 1: Mariahilfer Straße, Wien
Bemerkenswert ist die Differenziertheit der urbanen Textwelt: Sie umfasst unterschiedliche Kommunikationsformen wie Aufsteller, Banner und Schilder mit unterschiedlichen Kommunikationszielen wie Werbung, gesellschaftspolitischem Appell (vgl. Abb. 2 mit einem Aushang zum Flüchtlingsdiskurs)
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oder Verboten und erscheint nicht selten, wie von Kallen (2010: 42) beschrieben: »discursive, and even at time chaotic«. Abbildung 2: Universitätsklinikum Leipzig, Nürnberger Straße/Ecke Straße des 18. Oktober, Frühjahr 2016
Die differenzierende Betrachtung erweitert diese Beobachtung jedoch noch um das, was wir hören und gegebenenfalls tasten können, wenn wir an diesen Orten zu Fuss unterwegs sind, somit um auditiv wahrnehmbare Kommunikationsformen wie Durchsagen bzw. die Linguistic Soundscapes einer Stadt (vgl. Scarvaglieri et al. 2013; Domke 2015) sowie um taktil wahrnehmbare Kommunikation, deren Analyse die soziolinguistische Ausdifferenzierung der Adressaten öffentlicher Texte ermöglicht (vgl. Domke 2014, 2015). Die Vielfalt der urbanen Textwelt(en) lässt sich somit bezogen auf unterschiedliche Wahrnehmungsmodi und pragmatischen Funktionen differenzt beschreiben.
2.1 Die analytische Ordnung öffentlicher Texte in der Stadt: Zur Pragmatik von Kommunikationsformen Texte in der Stadt werden hier verstanden als ortsgebundene, öffentlich wahrnehmbare Texte (vgl. Domke 2014, s.u.), die potentiell von jedem vor Ort Anwesenden sicht-, hör- oder tastbar sind, was private Kommunikation an dieser Stelle ausschließt. Durch Hinweis-, Verbots- oder Informationsschilder, Durchsagen oder Tafeln schreiben die Texte ›ihrem‹ Ort spezifische Eigenschaften zu, machen ihn im Jägerschen Sinn (u.a. 2010) lesbar als bestimmten
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sozialen Raum.1 Mit diesem an de Certeaus Aneignungsansatz (vgl. de Certeau 1988) angelegten Verständnis von der Funktion öffentlicher Texte wird die Pragmatik urbaner Kommunikation greif bar: Öffentlich wahrnehmbare Texte in der Stadt tragen dazu bei, dass wir einen geographisch definierbaren Ort als sozialen Raum mit bestimmten Eigenschaften – wie begehbar, für bestimmte Zwecke nutzbar, historisch relevant, umstritten oder auch Raum politischer Auseinandersetzung zu sein – wahrnehmen (vgl. Domke 2014, 2015). Um diese öffentliche und ortsgebundene Textwelt in ihrem pragmatisch Nutzen und ihrer medialen Spezifik untersuchen zu können, ist die Orientierung an Kommunikationsformen als analytischer Kategorie hilfreich. Im Sinne einer an medialer Entwicklung und kultureller Geprägtheit interessierten medienlinguistischen und pragmatischen Perspektive können sie definiert und verstanden werden als (vgl. hierzu ausführlich Domke 2014, 2017): Kommunikationsformen sind das Resultat der Gebrauchskultur möglicher Zeichen- und Kommunikationsgenese, der Zeichen-Speicherung oder -Übertragung. Sie sind durch Gebrauch etablierte Formen der Nutzung spezifischer kommunikativer Anordnungen und zur Verfügung stehender Medien. Sie können für unterschiedliche kommunikative Zwecke genutzt werden und fungieren als Grundlage für die Realisierung spezifischer kultureller Praktiken. Kommunkationsformen wie Plakate, Schilder oder Ansagen sind beispielsweise das Ergebnis pragmatischer Nutzung von bestimmten Medien (wie Papier, Metall etc.) und ermöglichen die Realisierung von unterschiedlichen Textfunktionen wie Werbe- oder Informationsposter, Verbots- oder Hinweisschild, Abfahrtsoder Suchdurchsage. (vgl. Domke 2017)
In der Untersuchung von Kommunikationsformen (vgl. hierzu Holly 2011; Domke 2014, 2017; Brock/Schildauer 2017) ist die analytische Differenzierung der für eine Kommunikationsform genutzten Medien, der möglichen semiotischen Ressourcen und der pragmatischen Funktionen zentral: Medien als Ergebnis kultureller Entwicklungen sind in diesem Verständnis die Grundlage 1 | Die Formulierung »lesbar machen« schließt an die Transkriptivitätstheorie Ludwig Jägers an (siehe Jäger 2002 sowie 2010). Die Grundlage Jägers Überlegungen umfasst den Gedanken, dass kulturelle Bedeutung durch den Prozess der wechselseitigen und selbstbezüglichen Bezugnahme von Zeichensystemen bzw. Medien entsteht, die sich wechselseitig »lesbar machen«. Bedeutung ist demnach das Ergebnis fortwährender, sinngenerierender und sinntransformierender Transkription, die entweder in demselben Zeichensystem, also intramedial (wie in sprachlichen Kommentierungen über Sprache), oder zwischen verschiedenen Systemen, also intermedial wie zwischen Sprache und Bild erfolgt. Öffentliche Texte machen in diesem Sinne ›ihre‹ Orte als bestimmte lesbar und sind in der Lage, ihnen als Lektüreangebot spezifische Eigenschaften zuzuschreiben (vgl. hierzu Domke 2014: 53ff.).
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für die Etablierung von Kommunikationsformen, die wiederum durch Nutzung verschiedener semiotischer Ressourcen unterschiedliche pragmatische Funktionen realisieren lassen. Der differenzierte Rekurs auf u.a. die Modalität, Kommunikationspartner, Orts(un)gebundenheit, Zeit(un)gebundenheit und wahrnehmbare Ressourcen einer konkreten Kommunikationsform ermöglicht, ihre kommunikative Struktur und ihren kommunikativen Nutzen, gerade im Vergleich zu anderen Kommunikationsformen, genau erfassen und beschreiben zu können. Für die Textwelt im öffentlichen Raum bedeutet das, dass Kommunikatonsformen wie Plakate, Aufkleber, Durchsagen, Anzeigetafeln, Leitsysteme, Abreißer, QR-Codes und semiotische und physische Barrieren analytisch herausgearbeitet und systematisch in Bezug zu konkreten Textsorten wie Fahrplänen, politischen Plakaten (vgl. Abb. 2), Halteverboten, Hinweisschildern oder Werbeanzeigen (vgl. Abb. 1) gesetzt werden können. Medien und Medialität-Materialität geraten so in Relation zum pragmatischen Potential ihrer Nutzungsformen in den Fokus. Welche Kommunikationsform gegenwärtig für welchen kommunikativen Zweck realisiert wird, rückt damit in den Fokus. Als Überblick an dieser Stelle seien daher relevante Kommunikationsformen für die Betextung des öffentlichen Raumes festgehalten, nach Wahrnehmungsmodalität differenziert und mit stichpunktartigen Hinweisen zu ihrem funktionalen Potential versehen (vgl. hierzu Domke 2014, 2015, 2017): • Visuell wahrnehmbare Kommunikationsformen im öffentlichen Raum: –– Anzeigetafeln und Aushänge, Plakate, Aufsteller, Beschriftungen (in der Regel zeitgebunden sichtbar), –– Inschriften, Bemalungen, Schilder, Aufkleber, Graffiti (relativ zeitungebunden lesbar/wahrnehmbar) • Auditiv wahrnehmbare Kommunikationsformen im öffentlichen Raum –– Ansagen/Durchsagen (zeitgebunden produzenteninitiiert hörbar, zeitungebunden rezipienteninitiiert hörbar), –– Warn-Signale/Sirenen (Öffnungs- oder Schließhinweise, Fahrzeughin weise, Fluchthinweis) • Taktil wahrnehmbare Kommunikationsformen im öffentlichen Raum –– Boden-Leitsysteme, Braille-Tafeln (dauerhaft wahrnehmnar), –– physische Barrieren (zugleich mit semiotischen Barrieren oft nur temporär wahrnehmbar) • Hybride Kommunikationsformen im öffentlichen Raum: –– Anzeigetafeln (mit temporärer, digitaler und dauerhaft gedruckter Schrift),
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–– Ton-Vibrations- oder Tast-Ton-Anlagen (an Ampeln, Fahrstühlen), Demonstrationen, Marktschreier, Stadtführungen (oft zeitgleich sichtund hörbar), –– Urban Knitting (sicht- und tastbar) und Urban Gardening (visuell und gegebenenfalls olfaktorisch wahrnehmbar)
2.2 Öffentliche Ordnung: Diskurse und ihre Kommunikationsformen In Zeiten des noch gültigen Spatial Turns (vgl. Döring/Thielmann 2008; Rau 2013) kann ausgehend von dieser medial-pragmatischen Typologisierung und Analyse gefragt werden, ob bestimmte Nutzungspräferenzen einzelner Kommunikationsformen erkennbar sind, wer mithin mit welchen Formen Orte als bestimmte Räume lesbar macht (s.o., vgl. Domke 2014) und welcher pragmatische Nutzen dabei erkennbar wird. Dies erscheint gerade in Bezug auf die Leitorienierung des vorliegenden Bandes relevant: Wie können unter gegenwärtigen gesellschaftlichen und medialen Bedingungen alternative Öffentlichkeiten entstehen? Oder anders formuliert, unter Rekurs auf welche medialen Angebote werden Positionen verbreitet und tragen so zur Bildung von Teildiskursen bei? Diesen Fragen folgend, führt die Untersuchung dieser allgemein zugänglichen, urbanen Kommunikate zunächst zur Identifizierung von fünf verschiedenen Diskursen, welche durch die Texte angezeigt bzw. mit realisiert werden. Neben das für alle Kommunikationsformen geltende Merkmal ihrer medial-materialen Gebundenheit an einen Ort (s.u.) rückt die – hier freilich nur andiskutierbare (siehe aber Domke 2014, 2015, 2017, im Druck) – Frage nach der Funktionalität der erkennbaren medialen Differenziertheit: Wofür werden temporär und dauerhaft wahrnehmbare Kommunikationsformen im öffentlichen Raum genutzt, welche Informationen werden von wem und für welche Adressaten sicht-, hör- oder tastbar gemacht? 1) Zu einem der intensivsten erforschten Diskurse im öffentlichen Raum zählt der infrastrukturelle oder städtische, der die offiziellen Betextungen einer Stadt umfasst und damit quantitativ, vor allem durch die sichtbare Textwelt, hervorsticht. Die Charakteristik öffentlicher und nicht selten gesetzlich vorgeschriebener Hinweis oder Verbotstexte bringt es mit sich, dass sie einerseits sichtbar und anderseits zunehmend tast- oder alternativ hörbar gemacht werden, um lokal Anwesende mit Seheinschränkungen gleichermaßen adressieren zu können. Die mediale Realisierung von dauerhaft gültigen Hinweisen und Verboten, temporären Abweichungen und Umwegen sowie aktuellen Abfahrten basiert erkennbar auf unterschiedlichen Kommunikationsformen, so dass der öffentliche Diskurs sehr differenziert durch analoge und digitale, sichtbare, hörbare und tastbare Kommunikationsformen realisiert wird (vgl. Domke 2014: 197ff.; zu sichtbaren auch Kallen 2010; Scollon/Scollon 2003).
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2) Vergleichbar ausdifferenziert erscheint die kommerziell orientierte Betextung des öffentlichen Raumes: Wie es für Werbung strukturimmanent ist (vgl. Schmidt 2002, Willems 2002, Domke 2012 u. 2014: 321ff.), nutzt sie alle zur Verfügung stehenden Ressourcen, um das Beworbene in das beste aller möglichen Lichte zu setzen und die immer schwerer dauerhaft zu bindende Aufmerksamkeit potentieller Kunden erwecken zu können. In der Stadt zählt dazu das Ausnutzen verschiedener Materialien und dauerhafter und temporär wahrnehmbarer Kommunikationsformen wie Plakate, Aufsteller, Schilder, QR-Codes, was den Einsatz immer neuer Trägermedien (Böden, Treppen, Rolltreppenläufe u.a.) ebenso umfasst wie stilistische Verfahren wie Opakisierungen (vgl. Luhmann 1996) und Rätsel, um die Aufmerksamkeit der Gehenden oder Wartenden wenigstens kurz binden zu können. Erkennbar sind es vor allem diese beiden Diskurse, der infrastrukturelle und der kommerzielle, bzw. nach Kallen (2010) »the civic frame and the marketplace«, deren Kommunikate ein Stadtbild nachhaltig und zugleich omnipräsent zu prägen vermögen (siehe Abb. 1). Abbildung 3: Schauspiel Leipzig, Gottschedstraße/ Ecke Bosestraße
3) Dem (gegen-)kulturellen (hierzu Posner 1991: 57ff.; Fix 1996: 121ff.) Diskurs kann zugeschrieben werden, mit ausgewählten Kommunikationsformen Aufmerksamkeit für bestimmte Positionen erzeugen zu wollen. Im Sinne Winderlichs (hierzu Winderlich 2005: 288ff.) liegt für Sprachkunst im öffentlichen Raum nach der Phase der »Integration« als eher unauffälligem Bestandteil, der Phase der »Irritation« als rezeptionsfordernder Phase gerade in der dritten Phase, der Phase des Impulses, durch unerwartete Geh- und Blickrichtungen die Möglichkeit, neue Raumkonstitutionen zu befördern. Im Kontext von Kunst im öffentlichen Raum rückt somit die Abkehr von der alltäglichen Wahrnehmung (vgl. auch Welsch 1996: 204ff.), die für die empraktische Textwelt gerade konstitutiv ist, in den Fokus. Künstlerischer und gesellschaftspolitischer Ausdruck (vgl. Abb. 3) sowie kulturelle Darbietungen nutzen sowohl zeitgebundene als
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auch zeitungebundene Beschriftungen, Bemalungen (wie Graffiti, Street Art), Aushänge und Pläne sowie Kommunikationsformen unter Anwesenden wie Straßentheater und Performances. Die Relevanz ortsgebundener Kommunikation wird hier deutlich: Die Möglichkeit der Adressierung vor Ort unterstützt die Genese nicht (staatlich) kontrollierter Meinungsäußerung in politischen Umbruchsituationen, was durch die immense Zunahme von Street Art zB. in Griechenland oder im Arabischen Frühling evident erscheint.2 Aus dieser Perspektive wird die Adressierung der Gehenden durch ein Zitat Goethes am Theater Leipzig (vgl. Abb. 3) zu einem öffentlich wahrnehmbaren Teilbeitrag in dem vor Ort sowie im Netz (s.u.) und in anderen Bereichen generierten Diskurs über Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik (vgl. auch Abb. 2 sowie Abb. 5, links), der (anstelle einer Pressemitteilung o.ä.) die Möglichkeit einer alternativen, lokal ortsgebundenen (s.u.) Ansprache und damit der vor Ort wahrnehmbaren, (recht) dauerhaften Positionierung der städtischen Institution nutzt (vgl. hierzu auch Domke im Druck).3 Durch die thematische Kohärenz einzelner Formen (vgl. Abb. 2, 3 und 5) entsteht über die Stadt verteilt – fern etablierter Kommunikationswege – ein alternativer Teil-Diskurs, der immer wieder (analoge und digitale) Anschlusskommunikation ermöglicht und die Struktur ortsgebundener Kommunikation für die gesellschaftspolitische Aufmerksamkeitsgenerierung nutzt. 4) Variationsreichtum zwischen dauerhafteren und temporären Kommunikationsformen, zwischen klassischen Speichermedien und interpersonaler Interaktion zählt auch zur Kommunikation des (klassischen) politischen Diskurses. Gerade zu Wahlkampfzeiten werden Städte von Parteien betextet und Marktplätze mit Informationsständen und Auftritten zum politisch umkämpften Raum. Ebenso wie beim kulturellen Diskurs zeigt sich hier die Funktionalität der Vielzahl an zur Verfügung stehenden Kommunikationsformen, die pragmatisch orientiert für sehr unterschiedliche Zwecke genutzt werden: Sind Interaktionsformen wie Demonstrationen, öffentliche Reden, Theater, Performances, Informationsstände für situative und damit zeitgebundene Ansprachen lokal Anwesender funktional, erweisen sich zeitungebundenere Formen wie das Plakat oder Aushänge sowohl für politische Aussagen als auch für Wer2 | Vgl. hierzu etwa www.jetzt.de/jetztgedruckt/gespruehte-angst-vor-der-zukunft-574 812 sowie w w w.spiegel.de/kultur/gesellschaf t/street-ar t-in-aeg ypten-was-vomarabischen-fruehling-uebrig-blieb-a-1054388.html [9.03.2017]. 3 | Diese wird nicht selten im virtuellen Raum wiederaufgegriffen. Siehe hierzu etwa den Beitrag des Schauspiels Leipzig über die Funktion dieses ortsgebundenen Kommunikat unter www.schauspiel-leipzig.de/service/ – [09.03.2017]. Erkennbar wird öffentlich wahrnehmbare Kommunikation in der Stadt so zum Teil von Öffentlichkeiten, die dadurch auch fernab klassischer Medien oder Institutionalisierungen mit reproduziert werden (siehe Abschnitt 3ff.).
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bung als praktisch und entlasten die Produzenten von der eigenen Präsenz (vgl. Domke/Meier 2017). 5) Schließlich wird die Stadt auch durch Texte von Privatpersonen geprägt: Mit privaten Aushängen im gesamten Stadtbild, Bemalungen und gelegentlichen Schildern an der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum, also etwas am Zaun, individualisieren Bewohner und Gehende die Stadt. Die in diesem Kontext lesbaren Warnungen vor dem eigenen Hund, Suchanzeigen über verlorene Schlüssel oder Handys machen ihren Ort, nicht selten mit markierter Typographie, als sozialen, bewohnten Raum lesbar (s.o.). Beim Blick auf diese Vielzahl an Kommunikationsformen und damit realisierten pragmatischen Nützlichkeiten erscheint evident, dass nicht nur den empraktischen bzw. infrastrukturellen Texten der sogenannten Nicht-Orte oder modernen Durchgangsorte (vgl. Augé 1994), sondern öffentlich zugänglichen Orten im Allgemeinen zuzuschreiben ist, daß [sic!] sie auch von den Worten oder Texten definiert werden, die sie uns darbieten: ihre Gebrauchsanleitung letztlich, die in Vorschriften (›rechts einordnen‹), Verboten (›Rauchen verboten‹) oder Informationen (›Herzlich willkommen im Beaujoulais‹) zum Ausdruck kommen (Augé 1994: 112f.).
Die analytische Erweiterung dieser textuellen Definition kann, wie bereits angeführt, durch den Bezug auf de Certeau erfolgen: Durch öffentlich wahrnehmbare Texte werden Orte zu bestimmten sozialen Räumen, sie werden u.a. lesbar als historischer, reglementierter oder politischer Raum.4 So verstanden wird die Struktur des Ortes durch die sukzessive Textlektüre zu einem merkmalshaften öffentlichen Raum transkribiert und dadurch immer wieder anders wahrnehmbar, da jede Stadtlektüre individuell ist. Alle genannten Diskurse nutzen dabei das Merkmal Ortsgebundenheit der Kommunikation, um die Aufmerksamkeit der Gehenden zu erlangen. Die nun folgende Zusammenführung der Eigenschaften dieser Kommunikationsformen als Meso-Kommunikation verdeutlicht ihre kommunikationsstrukturelle Spezifik und ihr Potential für die Genese von altnernativen Öffentlichkeiten.
4 | De Certeaus Unterscheidung zwischen Ort/Raum lässt zudem den Anschluss an die viel zitierte Rede vom sozial konstruierten Raum zu, der oftmals als Voraussetzung und Ergebnis betrachtet wird: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (vgl. de Certeau 1988: 218). Der Ort ist die adressable Grundlage von Raumkonstruktionen, so wird greifbar, dass etwa ein Bahnhof als Ort sehr verschiedene Räume ermöglicht: er wird kommunikativ zum Reiseraum, zum kommerziellen oder politischen Raum gemacht.
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3. M eso -K ommunik ation : C har ak teristik a eines K ommunik ationst yps Die Frage nach neuen Wegen der Genese von Teil-Diskursen und -Öffentlichkeiten hängt mit medialen Möglichkeiten und kommunikativen Praktiken zusammen: Was wird zu einem bestimmten Zeitpunkt an Kommunikationsformen genutzt, um fernab klassischer Wege Formen der Vergemeinschaftung und (kritischer) Meinungsbildung zu etablieren? Der zunächst erfolgte Blick in urbane Texte (siehe Abschnitt 2) bietet Einblicke in deren erstaunliche Ausdifferenzierung und unterschiedliche pragmatischen Funktionen: Diese reichen vom dauerhaft sichtbaren Richtungshinweis und politischen Graffiti bis hin zur einmaligen Werbeaktion und formen die »semiotic textscape« (vgl. Domke 2018) einer Stadt. Die Analyse der unterschiedlichen Kommunikationsformen der oben diskutierten Diskurse verstärkt die Bedeutung der gemeinsamen Merkmale. Dies führt zur Diskussion ihrer geteilten – meso-kommunikativen – Eigenschaften (hierzu auch Domke 2014: 159ff.): 1) Öffentlich wahrnehmbare Texte und Meso-Kommunikation im Allgemeinen basieren auf der Möglichkeit der lokalen Adressabilität. Dies kann für urbane Texte mit ihrer konkreten materialen Ortsgebundenheit erklärt werden: Für alle bisher skizzierten Kommunikate gilt, dass sie zeit(un)gebunden an einem spezifischen Ort hörbar, sichtbar und tastbar sind, was etwa Formen des Geomarketing in der Werbung durch lokale Werbeflächenwahl (vgl. auch Domke/Meier 2017) in der Ansprache von bestimmten Gruppen gezielt nutzen. Dies trifft auch für Kommunikationsformen unter Anwesenden zu: Für beispielsweise Demonstrationen oder Flash Mobs, Public Viewing oder Straßentheater ist der Ort grundlegend relevant. Die Ortsgebundenheit bedingt die Anwesenheit der potentiellen Zuschauer, Leser oder Hörer an genau dieser Adresse5, so dass lokale Präsenz erkennbar auch fern klassischer Face-toFace-Interaktion konstitutiv ist. Auch für digitale Kommunikationsformen wie Facebook oder Twitter gilt, dass sie konträr z.B. zu klassischen Ausstrahlungsmedien darauf auf bauen, die Rezipienten mit Hilfe von virtuellen Anschriften bzw. Accounts konkret adressieren zu können. Ihre auch mögliche Nutzung als Massenkommunikationsform verdeutlicht ihr kommunikationsstrukturelles Potential, in dessen Zentrum jedoch unbestritten die Kommunikation mit
5 | Neben der sofort ersichtlichen Notwendigkeit der Ortsgebundenheit für empraktische Kommunikate wie Richtungshinweise sei hier auf die teilweise gerichtlich erzwungenen (oder verbotenen) Wege für Demonstrationen als ein Beleg für die Relevanz des Ortes hingewiesen, die ebenso wie besondere beliebte Plätze für politische Reden oder Aufführungen die Besonderheit der Adressierung vor Ort Anwesender widerspiegeln.
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selektierten (und damit adressablen) Rezipienten steht.6 Meso-Kommunikation erreicht ihre Rezipienten somit über konkrete Orte und Zugehörigkeiten, was für unterschiedliche Zwecke wie politische oder kommerzielle Werbung unterschiedlich ausgenutzt wird. Sie hat in diesem Sinne immer eine ganz konkrete Adresse, was sowohl auf die urbanen Texte am Marktplatz und ihre geographische Position als auch für Twitter und Facebook und dort erforderliche virtuelle Adressen zutrifft. Das Ergebnis dieser konstitutiven Adressabilität, die etwa für Mikro- und Makrokommunikation nicht gleichermaßen grundlegend gilt, ist, dass die Leser oder Adressaten von Meso-Kommunikation nicht (wie bei klassischer Massenkommunikation) anonym verstreut sind, sondern entweder vor Ort lokalisierbar oder über eine virtuelle Adresse konkret adressierbar sind.7 2) Um jemanden kommunikativ an Straßenecken oder bei Facebook adressieren zu können, bedarf es (siehe Abschnitt 2 und 4) wie bei Massenkommunikation medial-materialer Grundlagen, die den Produzenten von der Notwendigkeit der Kopräsenz entlastet (wie bei Plakaten) oder z.B. seine Rolle mit zu realisieren hilft (mit z.B. Mikrophonen oder Bildschirmen bei Reden auf dem Marktplatz). Offensichtlich beeinflusst dies die mögliche Anzahl an Rezipienten zu einem Zeitpunkt. Die lokale Begrenzung durch Medien (wie bei Schildern oder Anzeigetafeln) bzw. die lokale Organisiertheit durch Zugänge (wie bei Social Media-Accounts) führt dazu, dass die mögliche Rezipientenanzahl bei diesem Typus von Kommunikation zu einem Zeitpunkt niemals unendlich sein kann, was sie vom Potential der Massenkommunikation unterscheidet. Das von Maletzke (1963) diskutierte anonyme, »disperse« Massen-Publikum gilt gerade als nicht genau zähl- und verortbare, verstreute Masse. Die Rezipienten eines Graffiti oder die Follower eines Accounts sind jedoch konkreter überschaubar (und adressierbar, s.o.): entweder numerisch und lokal begrenzt durch den Ort der Anbringung zu einem Zeitpunkt oder zähl- und überprüfbar beim digitalen Account. Dass das Foto eines Graffiti in einer überregiona6 | Natürlich kann Twitter auch ohne Account als Lektürewebsite oder Suchmaschine dienen. Diese Funktion spiegelt aber gerade nicht das plattform-typische Merkmal der gruppenweisen Mitteilung wider, sondern korrespondiert mit der gleichsam möglichen Nutzung von Facebook als Massenkommunikationsform: Dass Twitter und Facebook auch als massenmediales Informationsportal genutzt werden, verdeutlicht ihr Potential für verschiedene kommunikationsstrukturelle Nutzungen (auf der Mikro-, Meso- und Makroebene), in deren Zentrum jedoch die über Selektion der Adressaten erfolgende meso-kommunikative Nachricht steht, das soziale Netzwerk eben (vgl. u.a. die Selbstbeschreibung unter www.facebook.com). 7 | Werbung nutzt die konkrete Adressabilität von Meso-Kommunikation auf vielfältige Weise, sowohl durch Geomarketing in konkreten Stadtvierteln als auch via Facebook durch ausgewählte Werbung an spezifische Nutzerprofile.
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len Zeitung oder die Erwähnung einer Twitter-Nachricht im Fernsehen den Radius dieser Meso-Kommunikate erheblich erweitert, verdeutlicht die unterschiedliche Mitteilungsspezifik von Meso- und Massenkommunikation: Das Potential ersterer liegt in der lokalen, gezielten Ansprache, das von Massenkommunikation in verstreuter, unbegrenzter Verbreitung. 3) Die hier diskutierte Gruppe von Kommunikation kann aufgrund ihrer medial-materialen Grundlagen nicht auf die Wechselseitigkeit zielen, die etwa für Face-to-Face-Kommunikation konstitutiv ist. Dass mit Schildern, Demonstrationen oder Facebook-Accounts mehr Personen adressiert werden, als konkrete wechselseitige Interaktion erlaubt, lässt den Rekurs auf gesellschaftliche Ordnungen zu: Luhmann (1999, 2000) definiert Organisationen als zentrale Systeme der Gesellschaft, die ihre Teilnehmer über Mitgliedschaft selektieren. Mitgliedschaften erlauben und bedürfen der Kommunikation, die auch Nicht-Anwesenheit von Produzent oder Rezpient ermöglicht, was Mikro-Kommunikation oftmals ausschließt. Meso-Kommunikation realisiert diese strukturelle Ordnung kommunikativ: Mit Hilfe von Medien-Material können lokal Anwesende oder Inhaber eines virtuellen Accounts auf organisierte Weise (und damit mit asymmetrischer Beteiligungsstruktur) angesprochen werden. Die hier deutlich werdende Spezifik der organisierten, weil über Medien-Material und Accountadressen erreichbaren Kommunikation kann man als Meso-Kommunikation verstehen, die nicht wechselseitig (wie Face-to-Face-Kommunikation) und nicht anonym massenhaft (wie Massenkommunikation) ist, sondern medial selektiert und organisiert eine spezifische Rezipientengruppe und -anzahl adressiert. Ihre konstitutiven Merkmale umfassen demnach Adressabilität, Rezipientenauswahl und asymmetrische Organisiertheit der Mitteilung (vgl. Domke 2014: 159ff.).8 Wie sich einige dieser Merkmale nun genauer für digitale Kommunikation in sozialen Netzwerken diskutieren lassen und wo und wie dort, vergleichbar zu den oben angeführten Möglichkeiten der Meinungsäußerung und -positionierung im öffentlichen Raum, Teilöffentlichkeiten entstehen können, wird nun beispielhaft herausgearbeitet.
8 | Der Terminus Meso-Kommunikation wird sowohl in der Linguistik als auch in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften für mittlere Ebenen der inhaltlichen oder typographischen Textorganisation (vgl. u.a. Luginbühl 2014; Stöckl 2004) bzw. Organisations-Kommunikation (vgl. Saxer 2004; Krotz 2007) verwendet, allerdings ohne ihn kommunikationsstrukturell zu nutzen und definieren.
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4. M eso -K ommunik ation online Wie in den bisherigen Abschnitten sukzessive herausgearbeitet, unterscheidet sich der hier vorgestellte Kommunikationstyp sowohl von Mikro- und Makrokommunikation, bietet über diese Negativdefinition jedoch auch ganz eigene Charakteristika als Meso-(Zwischen)-Größe von Kommunikation: Adressabilität, eine spezifische Rezipientenanzahl und medial-materiale Organisiertheit prägen Meso-Kommunikation und bedingen sich wechselseitig. Auch in der digitalen Kommunikation dominieren die meso-kommunikativen und damit sozial netzwerkartigen Merkmale in der Ausdifferenzierung der Spezifik der virtuellen Welt (vgl. Castells 2017; Fraas/Meier/Pentzold 2012), obgleich digitale Kommunikation mit der Möglichkeit des bilateralen interpersonalen Austauschs (in Foren, unter Youtube-Videos oder auf Twitter) und mit der Option der Massenkommunikation via Website klassische Merkmale der sowohl Mikro- als auch Makrokommunikation umfasst.
4.1 Konkrete Adressierung mit der Option der Teilhabe Der bereits diskutierte Punkt der Lokalisierbarkeit ist grundlegend für die Geostruktur des World Wide Web, da einzelne Seiten und Nutzer identifizierbar sind über die IP-Adresse und die jeweilige Domain.9 Darüber hinaus sind Nutzer gerade bei Portalen wie Facebook oder Twitter konkreter adressierbar über ihre virtuellen Identitäten mit Accounts oder Twitteradressen (s.u.), was die Adressabilität von analogen Meso-Kommunikationsformen mit Schildern oder Demonstrationen vergleichbar macht mit digitalen Meso-Kommunikationsformen wie Facebook- oder Twitter-Nachrichten. Welche Folgen die Nutzung von meso-kommunikativen Strukturen hat, wird beim Vergleich von massenkommunikativer Website und meso-kommunikativem Facebook-Account deutlich; damit erscheint auch die einleitend erwähnte Differenziertheit gegenwärtiger Kommunikationsmöglichkeiten evident, da die Realisierung unterschiedlicher pragmatischer Funktionen auf der (Aus-)Nutzung und Realisierung ganz verschiedener Kommunikationsformen beruht: Wenn beispielsweise eine Bar ihr Angebot lokal vor Ort über Tafelanschriften im Außenbereich bewirbt und zudem eigene Lieferwagen mit wechselndem Menü beschriftet, nutzt sie die Möglichkeiten der analogen Meso9 | Die in diesem Beitrag zunächst positiv diskutierten Merkmale von Meso-Kommunikation ließen sich hier auch in eine andere Richtung diskutieren, so dass das Nutzen virtueller Kommunikation immer auch mit dem Hinterlassen von Spuren und damit der möglichen Überwachung verbunden ist. Alternative Öffentlichkeiten sind unbedingt auch im Zusammenhang mit der Identifizierbarkeit der Teilnehmenden und damit nicht selten unter dem Aspekt der Bedrohung von wiederum Andersdenkenden zu betrachten.
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kommunikation zur Adressierung der lokal Anwesenden. Die Website der Bar erweitert dies und bietet ortsunabhängig rezipierbare Informationen für prinzipiell jedermann über Menüs, Öffnungszeiten und die Besonderheit des Lokals, fungiert somit wie eine virtuelle Visitenkarte. Kommunikationsstrukturell ist dies Massenkommunikation, die ein disperses, nicht persönlich charakterisiertes Publikum umfasst. Abbildung 4: Facebook-Seite der Bar Vodkaria, Leipzig, Screenshot 31.08.2015
Der Facebook-Account derselben Bar (siehe Abb. 4) umfasst Profil-Informationen und ein Foto, so dass die Bar im Goffmanschen Sinn als Autor und Verantwortlicher des Mitgeteilten verstanden werden kann, somit (wie auch die Inhaber) auf der Seite und durch einzelne Posts (siehe Abb. 4, Mitte rechts) deutlicher mit der Funktion der Kommunizierenden verbunden werden kann (vgl. Goffmann 1981: 144ff.). Zudem ermöglicht der Facebook-Account die Bildung eines spezifischen ›Freundeskreises‹ zu dieser Bar, kann diese medial Selektierten gezielt adressieren und mit Einladungen, Fotos und Hinweisen zu besonders Adressierten machen. An dieser Stelle wird die zuvor festgestellte organisierte Ansprache von Meso-Kommunikation wieder deutlich. Obgleich Facebook-Posts (teilweise) auch von dispersen Lesern, gleichsam als Massenkommunikation, wahrgenommen werden können, ist es gerade die Möglichkeit der Reaktion mit möglicher Weiterleitung der Nachricht, die den qualitativen Unterschied verdeutlicht: Dies basiert freilich auf der Notwendigkeit eines eigenen Facebook-Accounts und führt zu der bereits herausgearbeiteten Selektion der (numerisch und über Accounts identifizierbaren) konkreten Rezipientengruppe.
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Nur das registrierte Facebook-Mitglied erhält gezielt die Neuigkeiten ›seiner Freunde‹ und ist in der Lage, darauf zu reagieren. Wer ein Profil hat, ist ein Mitglied der Facebook-Community und kann von ausgewählten Adressen Nachrichten rezipieren und für einen ausgewählten Adressatenkreis produzieren: Hier werden die oben ausgeführten Charakteristika von Meso-Kommunikation greif bar – die Selektivität und Adressabilität – und damit die von Jenkins für die moderne Medienkultur betonte Partizipationskultur, die die Option des eigenen Beitrags sowie der sozialen Vernetzheit umfasst (Jenkins et al. 2006: 3): A participatory culture is also one in which members believe their contributions matter and feel some degree of social connections with one another (at least they care what other people think about what they have created).
Zugleich ist jedoch auch evident, dass diese Merkmale der digitalen Meso-Kommunikation, die gruppenhafte Vernetzung, für Mikro- und Makrokommunikation nicht gelten. Wie wichtig das für alternative Teildiskurse ist, wird nun durch ein Beispiel verdeutlicht, das die analoge mit der digitalen Meso-Kommunikation verbindet. So wird das (nicht auf umfassende Wechselseitigkeit ausgerichtete, asymmetrische) Potential dieses Kommunikationstyps für neue Wege der Meinungsbildung pointiert fokussiert.
4.2 Meso-Kommunikation: Alternative Möglichkeiten für Stadt-/Netz-Diskurse Ortsgebundene Kommunikation bietet, wie gerade herausgearbeitet, mit Hilfe von beispielsweise Aufklebern, Plakaten und Graffiti, die Möglichkeit, lokal Anwesende zu adressieren. Dies beinhaltet auch die an prominenten Plätzen und Einrichtungen (siehe Abb. 2 und 3) sichtbare Meinungsäußerung und Positionierung zu aktuellen politischen Themen größerer oder lokaler Diskurse. Nicht selten kann sich dergestalt durch einzelne Texte an verschiedenen Orten in der Stadt ein öffentlich wahrnehmbares, materialiter fixiertes ›Gespräch‹ entspinnen, das den vor Ort Gehenden, Wartenden oder Fahrenden auf diesem alternativen Weg immer wieder auf spezifische Themen und dazugehörende Diskurse (etwa der Zustimmung oder Ablehnung) wie die Flüchtlingspolitik in Deutschland (siehe Abb. 2, 3 u. 5 links) oder die Krise in Griechenland hinweisen und diese dadurch fortschreiben. Analoge Meso-Kommunikation ist derzeit wieder eine vielfach genutzte Möglichkeit, fern klassischer medialer Öffentlichkeiten gesellschaftspolitische Diskurse mit zu prägen und wahrnehmbar zu machen. Abbildung 5 beinhaltet mit einem im Türrahmen einer Bar hängenden Plakat, das Flüchtlinge im Gegensatz zu Legida-Sympathisanten mit Hilfe einer Stellenanzeige als gern gesehene Bewerber auf freie Stellen ausweist, die Um-
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setzung dieses Potentials meso-kommunikativer Meinungsäußerung.10 Am Tag einer geplanten Legida-Demonstration in Leipzig war dieses Plakat für einen gewissen Zeitraum an dem Eingang der Bar »Vodkaria« zu sehen und fungierte damit als lokal wahrnehmbare, deutliche Positionierung des Inhabers in dem im bzw. seit Sommer 2015 hoch kontrovers geführten (inter-)nationalen und lokalen Diskurs über die weitere Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. Erkennbar ist dieses Plakat eine temporär wahrnehmbare, ortsgebundene Form der Adressierung einer selektierten, weil vor Ort anwesenden Rezipientengruppe, zu der primär die Anwohner des Stadtviertels als auch die Legida-Demonstranten gehören. Es übernimmt die Funktion, die Bar als Teil einer flüchtlingsfreundlichen, städtischen Kultur zu präsentieren – und damit ein kleiner, auf recht originelle Weise generierter Bestandteil des zu der Zeit massenmedial intensiv rezipierbaren landes- und europweiten Diskurses über Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik. Sowohl der Kommunikationsweg als auch der Inhalt können im weiteren Sinne als nicht der klassischen Öffentlichkeit entsprechend verstanden werden, sondern sind fern etablierter Institutionen (Medienhäuser, Parteien, Kirchen u.a.) alternative Hervorbringungen eines spezifischen Akteurs, der eine Stellenanzeige mit einer gesellschaftspolitischen Aussage verbindet und damit u.a. Fußgänger, Demonstranten, Gegen-Demonstranten und Polizisten anspricht. Ersichtlich wurde das Bild in Abbildung 4 an demselben Tag über Facebook an die selektierte Adressatenschaft der Bar gepostet – und damit für die weitere Verbreitung des analogen Plakats eine digitale Meso-Kommunikationsform genutzt. Das Posten des Fotos führte sowohl zu einer raschen meso-kommunikativen Verbreitung des Fotos (bereits über 5000 Mal geteilt zum Zeitpunkt des Screen-Shots) und der Nachricht des Inhabers über das soziale Netzwerk und auch zu erkennbaren mikrostrukturellen Diskussionen einzelner ›Freunde‹ der Bar über die Nachricht, die Flüchtlingspolitik global und lokal und die dadurch zugleich erfolgende kostenlose Werbung für die Bar. Die durch die Selektion der Nachrichten-Empfänger existierende Facebook-Öffentlichkeit der Bar wurde somit zum Adressaten einer gesellschaftspolitischen Positionierung, die durch die netzwerkübliche, meso-kommunikative Verbreitung an eigene Freundeskreise der Empfänger im Laufe der nächsten Tage im Zentrum einer situativ generierten Netzwerköffentlichkeit (vgl. Castells 2017) stand. Aus dem lokal wahrnehmbaren Meso-Kommunikat als recht ungewöhnlicher Meinungspositionierung ist so ein Ausgangspunkt für intensive digitale Anschlusskommunikation geworden, die auf der Meso-Ebene sozialer Netzwerke 10 | Legida ist eine seit 2015 in Leipzig vor allem 2015-2016 in montäglichen Demonstrationen wahrnehmbare, äußerst umstrittene und als fremdenfeindlich und (mindestens) rechtspopulistisch geltende Bewegung – und die Abkürzung für »Leipziger gegen die Islamisierung des Abendlandes«.
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durch die (siehe Abschnitt 3) Selektivität und Adressabilität der dort ablaufenden Kommunikation einen spezifischen Teil-Diskurs zum Thema Flüchtlingspolitik bildete. Dieser beinhaltete neben Lob und Kritik an der ›Stellenanzeige‹, die zukünftige Besuche bei der Bar in Aussicht stellten oder für immer ausschlossen, sowie der Flüchtlingspolitik im Allgemeinen auch konkretere Diskussionen über Arbeitsmöglichkeiten für Geflohene und örtliche Projekte. Abbildung 5: Screen-Shots des ursprünglichen Posts und der massenmedialen Berichterstattung
Das Potential dieser digitalen meso-kommunikativen und damit selektierten Weiterleitung und Diskussion des analogen Kommunikats wurde kurz darauf auch auf andere Weise ersichtlich, als Online-Massenmedien über den meso-kommunikativen Erfolg der geposteten Stellenanzeige berichten (siehe Abb. 5, rechte Seite). Dabei wurde auch, wie in Facebook-Posts, diskutiert, inwieweit die Positionierung für Flüchtlinge bei gleichzeitiger, zudem kostenloser Werbung für die Bar die Glaubwürdigkeit dieser politischen Meinungsäußerung mindere. Durch die massenmediale Publikation dieser Beiträge wurde erneut der potentielle Rezipientenkreis der ›Stellenanzeige‹ erweitert, jedoch nun im anonymen, dispersen Sinn (s.o.). Die situative, alternative, sich durch Adressatenselektion generiende Meso-Öffentlichkeit wird hier zum Gegenstand klassischer massenmedialer Nachrichten.
5. F a zit Der Blick auf gegenwärtige Kommunikation stellt schnell erstaunliche Ausdifferenzierung auf verschiedenen Ebenen fest: Der Kommunizierende kann je nach pragmatischer Nützlichkeit aus einer Vielzahl an analogen und digitalen Kommunikationsformen wählen. Mit Rekurs auf dieses immense Angebot an
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Formen und Funktionen ist die mit diesem Band gestellte Frage naheliegend, auf welchem – medialem – Wege nun öffentliche und gegebenfalls kritische Diskurse entstehen können. Der vorliegende Beitrag hat mit der anfänglichen Fokussierung auf ortsgebundene Kommunikation deren Potential herausgearbeitet, gerade nicht digital, sondern lokal, vor Ort öffentlich wahrnehmbar zu sein und damit an Orten des Alltags und während des Gehens, Wartens, Fahrens die Aufmerksamkeit potentieller Rezipienten auf bestimmte Themen lenken zu können. Am Beispiel u.a. empraktischer und gesellschaftspolitischer Kommunikate wurde deren Spezifik beleuchtet, als kommunikatives Angebot in der Stadt zu fungieren und diese dadurch als reglementierte oder befahrbare oder politisierte lesbar zu machen. Verschiedene Diskurse (wie Werbung, Kultur und Politik) nutzen die Anwesenheit ihrer potentiellen Rezipienten für ihre Zwecke (aus) und betexten die Stadt, Straßen und Plätze dementsprechend mit einer Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationsformen. Fernab von klassischer Face-to-Face-Kommunikation einerseits und Massenkommunikation andererseits existiert mit dieser ortsgebunden wahrnehmbaren Kommunikation (wie Schilder, Plakate, Durchsagen, Demonstrationen) ein Typus des Mitteilens, der auf Adressabilität, Selektion und medial-materialer Organisiertheit beruht. Dies wurde als Meso-Kommunikation herausgearbeitet und definiert und damit der Nährboden für die Frage bereitet, welche anderen Kommunikationsformen dieses Potential der selektierteren Ansprache noch aufweisen. Im Vergleich zu ortsgebundenen Kommunikationsformen in der Stadt wurde für Kommunikation in sozialen Netzwerken analysiert, dass ihre Spezifik konträr zu Mikro- und Makrokommunikation gerade darin besteht, mittlere Rezipientengruppen zu bilden, die über Profile und Accounts überschau- und zählbar und vor allem konkret adressierbar sind. Dies scheint vergleichbar zu Graffiti und Plakaten und Demonstrationen in der Adressierung bei diskursiven Themen grundlegend, um Teilhabe, Vergemeinschaftung und Austausch zu ermöglichen. Die Organisiertheit beispielsweise von Facebook basiert auf Selektion und Adressabilität und bietet die Option alternativer Wege der Diskursprägung. Mit Rekurs auf ein Beispiel eines gesellschaftspolitischen Plakats vor einer Bar, das zunächst analog ausschließlich und damit nur von bestimmten Rezipienten vor Ort, dann durch einen Beitrag auf Facebook von digital selektierten Empfängern und schließlich durch massenmediale Berichterstattung erweitert rezipierbar war, wurde untersucht, welches kommunikative Potential mit den einzelnen Meso-Ebenen und schließlich auch der Massenebene verbunden ist. So richtet sich das Plakat als vor Ort wahrnehmbare Meinungsäußerung des Inhabers an Fußgänger und Demonstranten und fungiert demnach als kleiner Beitrag öffenlich wahrnehmbarer Positionierung eines umstrittenen Themas. Die Verbreitung auf Facebook führt vor allem zu mesohafter Multi-
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plikation in durch das Portal organisierten Freundeskreisen sowie zu interpersonalen Diskussionen über diese Positionierung. Gerade an dieser Stelle wird das Potential von Meso-Kommunikationsformen deutlich, selektiert zu adressieren und so eine Information ›gerichtet‹ verbreiten (konträr zum Ausstrahlen) zu können, wobei zudem die Teilhabe an diesem entstehenden digitalen Gespräch ermöglicht wird. Was vor Ort durch Plakate oder Spruchbänder verwirklicht wird, erfährt digital ein Teilen, Liken, Retweeten und Kommentieren – und damit im Gesamt Aufmerksamkeit in der städtischen und virtuellen Öffentlichkeit. Ein Beispiel wie das vorgestellte spiegelt zudem wider, was wir mit Jenkins (2006) als Konvergenzkultur verstehen können: Die von ihm beschriebene inhaltliche und mediale Annhäherung und Verbindung kommunikativer Formen auf stuktureller Ebene herauszuarbeiten, stand im Zentrum des vorliegenden Beitrags: So liegt in der Spezifik von Meso-Kommunikation erkennbar die kommunikative Grundlage der über Medien organisierten, aber nicht institutionalisierten Genese situativer stadtoder netzöffentlicher Mitteilung und Positionierungen.
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Webvideos als Medien öffentlicher Wissenschaft Eine exemplarische Analyse audiovisueller Strategien der Wissenschaftskommunikation Thomas Metten
The following article shows how new forms of science communication occur at the complex intersection of contemporary medial, social and institutional developments. New media such as science web videos thereby offer a different scope for the representation and communication of science and thus generate new forms of public science. Science web videos especially provide different ways of explanation, generate evidence and objektivity through a complex and multimodal interplay of the moving image, cutting, montage, graphic inserts, scripture, and voice-over-comments. As will be shown in an exemplary analysis, the knowledge thus communicated strongly depends on the web videos medial characteristics bringing up new and different qualities for the public perception of science. Keywords: science communication, science web videos, science in public, digital media, media analysis
1. W issenskulturelle D ynamiken der G egenwart War das 20. Jahrhundert lange Zeit durch eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft geprägt, so vollzieht sich spätestens seit den 1970er Jahren eine zunehmende Vergesellschaftung der Wissenschaft. Diese Umkehrung des Beeinflussungsverhältnisses lässt sich als gegenläufige Bewegung beschreiben: Die zunehmende Verwissenschaftlichung führt dazu, dass die in der alltäglichen Erfahrung gegebenen Erwartungen, Werte und Normen durch wissenschaftliches Wissen als handlungsleitender Instanz ersetzt werden; rückwirkend resultiert daraus eine Politisierung der Wissenschaft, da mit der sich etablierenden Orientierungsfunktion der Wissenschaften deren Verantwor-
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tung für die gesellschaftlichen Folgen ihres Tätigseins wächst (vgl. Weingart 1983: 228). Dort, wo die Erzeugung und Anwendung von Wissen nicht mehr klar voneinander geschieden sind, kippt die Selbstverantwortung der Wissenschaft um in eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft (vgl. ebd.: 238).1 In den 1990er Jahren erfährt diese Vergesellschaftungstendenz eine weitere Intensivierung, bedingt dadurch, dass die Generierung wissenschaftlichen Wissens zunehmend unter das Vorzeichen einer stärkeren ökonomischen Verwertbarkeit gerät. Wissen wird zur entscheidenden Ressource, die sozialwissenschaftliche Diagnose einer Wissensgesellschaft zum handlungsleitenden Modell der Wissenschaftspolitik. Ein neues Begriffsrepertoire etabliert sich, die Rede ist vom »Wissenskapital«, von »Wissensmanagement« und »Wissensbilanzen« (vgl. Prisching 2012: 55). Einhergehend mit dem Anwachsen gesellschaftlicher Wissensbedarfe löst sich eine Wissensordnung auf, die über einen langen Zeitraum zu einer Marginalisierung und Ausschließung anderer Wissensformen geführt hat und der derzeit eine Pluralisierung der Wissensinstanzen entgegensteht, die zu einer verstärkten Präsenz und Anerkennung nicht-wissenschaftlichen Wissens führt. Das die gegenwärtige Situation prägende, ambivalente Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft resultiert daher nicht zuletzt daraus, dass steigende Wissensbedarfe und die zunehmende Relevanz von Wissen gleichzeitig zu einer Legitimationskrise der Wissenschaft geführt haben (vgl. Pscheida 2006: 162). Auf dieses Legitimationsdesiderat haben die Wissenschaften – insbesondere vor dem Hintergrund der wissenschaftspolitischen Forderung nach mehr Leistungstransparenz – mit einem Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit und der externen Wissenschaftskommunikation reagiert (vgl. Bauernschmidt 2013: 48f.). Die Kompensation für den Verlust an Anerkennung, den die Wissenschaften erfahren haben, hat das Wissenschaftsmarketing übernommen (vgl. Hagner 2012: 16f.). Über die Veränderungen der sozialen und institutionellen Verhältnisse hinaus sind die wissenskulturellen Dynamiken der Gegenwart eng mit dem Wandel medialer Bedingungen verbunden: Dieser setzt im 19. Jahrhundert mit der Photographie ein, die das Schriftmonopol in den Wissenschaften in Frage stellt und zu neuen Objektivitätspostulaten führt, tritt markant hervor mit der für das 20. Jahrhundert charakteristischen Umorientierung auf audiovisuelle Medien und findet gegenwärtig seine Fortsetzung in der Etablierung digitaler sowie durch soziale Medien geprägten Wissenskulturen. Dass Medien für die 1 | Ausgangspunkt hierfür waren u.a. jene Risiken, die in Verbindung mit der Kernenergieforschung und der Molekularbiologie aufgekommen sind und die zu Kritik und Vertrauensverlust gegenüber der Wissenschaft geführt haben. Die mit der Autonomie der Wissenschaft gegebene institutionelle Handlungsentlastung wurde somit in all jenen Gebieten abgebaut, die mit Technologien konvergieren, die signifkante gesellschaftliche Folgen haben (vgl. Weingart 1983: 238).
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Genese wie für die Distribution von Wissen konstitutiv sind, gilt nicht nur für die Fachwissenschaften, sondern auch für nicht-wissenschaftliche Bereiche. Der Wandel medialer Konstellationen betrifft u.a. die Möglichkeiten der Kopplung epistemischer Medien mit den Medien der Öffentlichkeit, d.h. den Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und öffentlicher Wissenschaft. Gegenwärtig trägt die Digitalisierung hier dazu bei, dass sich etablierte Grenzen innerhalb des Kontinuums von Wissenschaft und Öffentlichkeit verschieben und zunehmend durchlässiger werden: Digital verfügbare Daten, Texte und Bilder sind leichter zu übermitteln und schneller zugänglich für Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen ebenso wie für Personen außerhalb der Wissenschaften (vgl. Hanson 2014: 169). Die damit einhergehenden Veränderungen betreffen die Intensivierung der Wissenschaftskommunikation, die Zugänge zu wissenschaftlichem Wissen sowie die Breite der adressierten Zielgruppen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten u.a. direkt mit der Öffentlichkeit in Kontakt; sie erstellen selbst mediale Angebote und präsentieren diese einem Publikum, das entsprechend individueller Präferenzen jederzeit auf diese zugreifen kann. Exemplarisch zeigt sich dies anhand der Entstehung von Webvideos zur Wissenschaftskommunikation: Alleine auf YouTube existieren inzwischen rund 4.000 Wissenschaftskanäle und 100.000 Wissenschaftsvideos.2 2001 hatte Sunstein noch prognostiziert: »In nicht allzu ferner Zukunft könnte das digitale Fernsehen die Zuschauer in die Lage versetzen, unter über tausend Programmen auszuwählen. Die mögliche Verbindung von Fernsehen und Internet, die jetzt noch in den Kinderschuhen steckt, könnte sich als eine ebenso dramatische Entwicklung erweisen« (Sunstein 2001: 679). Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar, dass eine Plattform wie YouTube bereits wenige Jahre später durch die Verschränkung von Fernsehen und Internet zu einer der erfolgreichsten Webseiten weltweit werden und unmittelbar zur Veränderung der Medienöffentlichkeit beitragen würde. In dem Moment, da Kino und Fernsehen ihr Monopol zur Verbreitung bewegter Bilder abgeben, kommt allerdings die Befürchtung auf, dass die zunehmende »Balkanisierung« des Medienangebots keine mit den traditionellen Massenmedien vergleichbaren Angebote mehr hervorbringe (vgl. Bleicher 2011: 16, Sunstein 2001: 686). Richten sich diese an ein heterogenes Publikum und stellen den Informationsaustausch in der Gesamtgesellschaft sicher, adressieren die sich in den digitalen Medien etablierenden Formate selten die Gesellschaft insgesamt (vgl. Künzler/Schade 2009: 83). Die Aufhebung der Rollen von Produzent und Rezipient hat insbesondere bei YouTube zu einer Erweiterung 2 | Die Angaben basieren auf der Untersuchung von Morcillo/Czurda/Robertson-von Trotha (2015). Die Präsenz der Webvideo-Angebote steht allerdings im Kontrast dazu, dass die Wahrnehmung von Webvideos zur Wissenschaftskommunikation im deutschsprachigen Bereich gering ausfällt (vgl. Breuer 2012: 103).
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und Ausdifferenzierung der Anbieter, Zielgruppen und Inhalte geführt, weshalb solchen medialen Angeboten keine mit den Massenmedien vergleichbare Stellung zukommt, die durch hohe Auflagenzahlen und Zuschauerquoten einen anderen Grad an Zentralität aufweisen (vgl. Bleicher 2011: 15f., 19). Die Stärkung medieninstitutionell unabhängiger Akteure führt dazu, dass sich neue Formen der Öffentlichkeit herausbilden, deren Halbwertszeiten und Reichweiten andere sind. So tragen Plattformen wie YouTube vornehmlich zur Herstellung von themenbezogenen Öffentlichkeiten bei, die typischerweise in sozialen Medien entstehen, wo sich durch die Vernetzung der Angebote thematische Cluster bilden (vgl. Münker 2009: 88, Künzler/Schade 2009: 83).3 Eine solche Themenöffentlichkeit bildet die Wissenschaftsöffentlichkeit. Die sich u.a. durch Webvideos konstituierende Wissenschaftsöffentlichkeit ist Resultat einer Wissenskultur, die sich durch die Überlagerung der unterschiedlichen sozialen, medialen und wissenschaftlichen Entwicklungen herausgebildet hat. So entstehen Webvideos zur Wissenschaftskommunikation an der sich neu konstituierenden Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft, die durch die Entwicklung hin zu einer Vergesellschaftung von Wissenschaft, den Ausbau des Hochschulmarketings sowie die Digitalisierung und die sich ausbildende Partizipationskultur in den neuen Medien bedingt ist; zugleich stehen sie in einer Tradition der audiovisuellen bzw. filmischen Wissenschaftskommunikation, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Film und später im Fernsehen etabliert hat. Medien wie Webvideos bedingen dabei die öffentliche Konstitution und Distribution von Wissen. Die Einsicht in diesen Zusammenhang erfordert eine Epistemologie, die u.a. den medialen Möglichkeitsbedingungen der gesellschaftlichen Wissensgenese und -distribution nachgeht (vgl. Hartmann 2002, Reichert 2007: 21-30). Dass auch die sozialen und institutionellen Verschiebungen zu neuen Epistemologien führen, hat bereits Weingart diskutiert (vgl. Weingart 2001: 342-344). Analytisch resultiert hieraus die Notwendigkeit, die komplexen Bedingungsgefüge (Dispositive) zu untersuchen, durch die sich Wissenskulturen insgesamt, neue Wissensmedien sowie die damit verbundenen alternativen Öffentlichkeiten ausbilden.4 Reichert hat dahingehend auf die Notwendigkeit von detaillierten 3 | Künzler/Schader (2009) unterscheiden drei Formen der Öffentlichkeit: Encounter-Öffentlichkeit, Themenöffentlichkeit und massenmediale Öffentlichkeit. Die Encounter-Öffentlichkeit entsteht ad hoc (z.B. in Diskussionen) und hat nur kurzfristig Bestand, Themenöffentlichkeiten basieren vornehmlich auf digitalen Medien und massenmediale Öffentlichkeiten entsprechen den traditionell durch Medieninstitutionen geschaffenen Öffentlichkeiten; vgl. hierzu kritisch Maresch (2013: 57). 4 | Zittel (2014: 33) hat vorgeschlagen, den Begriff der Wissenskultur zu verwenden, »wenn man anzeigen will, dass es nicht ausschließlich epistemische Verfahren sind, die zur Auszeichnung von Meinungen als Wissen führen, sondern auch Faktoren, die außer-
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Einzelfallanalysen hingewiesen (vgl. Reichert 2007: 50f.). Solche Analysen entwickeln ein differenziertes Verständnis der medialen Eigenlogik, um aufzeigen zu können, wie Wissen durch bewegte Bilder sowie komplexe Kombinationen von Bewegtbild, Ton, Schrift, Grafik etc. konstituiert und kommuniziert wird (vgl. Blum/Stollfuß 2011: 297).5 Die nachfolgende Analyse zielt dahingehend darauf, das Zusammenspiel der verschiedenen medialen Konstituenten zu erschließen, um herauszuarbeiten, wie die medialen Spezifika von Webvideos die Genese der Wissenschaftsöffentlichkeit und das sich darin konstituierende Wissenschaftswirkliche bedingen. Im Zusammenspiel der medialen Konstituenten dokumentiert sich die epistemische Relevanz der Ästhetik, d.h. die konstitutive Wirksamkeit der medialen Gestaltung für die Konstitution des Wissens (vgl. Krohn 2006, Metten 2016: 107-116). Audiovisuelle Formen der Wissenschaftskommunikation sind insofern nicht nur Bestandteil digitaler Wissenschaftsöffentlichkeiten, sie zeichnen sich zugleich durch eine mediale Eigenlogik aus, die sie von anderen Angeboten unterscheidet und die grundlegend ist für die sich darin ausbildenden Formen des Darstellens und Vermittelns von Wissenschaft.
2. W issenschaf tskommunik ation in W ebvideos Da im nachfolgenden Beitrag ein Webvideo im Vordergrund steht, erfolgt die weitere Kontextualisierung von Seiten der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation. Der Bezug auf solche Formen eröffnet ein bisher kaum bearbeitetes Forschungsfeld: Der so genannte iconic turn, d.h. die Wende zum Bild, hat seit Mitte der 1990er Jahre nicht dazu geführt, dass audiovisuelle Medien vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen getreten sind (vgl. Reichert 2007: 17f). Obwohl Bilder als Gegenstand bildwissenschaftlicher Untersuchungen allgegenwärtig sind, fällt auf, »dass der komplette Bereich audiovisueller Medienformationen bestenfalls randständig bedacht wird« (Blum/Stollfuß 2011: 295). Während in medien- und bildwissenschaftlichen halb oder unterhalb des Raumes des Gebens und Nehmens von Gründen wirken, als kulturelle Praktiken, die Meinungen und Glaubenssätze oder Für-Wahr-Haltungen generieren, festzurren und tradieren.« Der Begriff »Wissenskulturen« wird in diesem Sinn für das Zusammenspiel von kulturellen Praktiken und dispositiven Arrangements sowie für die damit verbundenen Artefakte und Medien, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Einstellungen sowie kollektive Befindlichkeiten verwendet, die für die Genese und Vermittlung von Wissen konstitutiv sind. Insbesondere Medien gelten hierbei als zentrale Wissenskonstituenten. 5 | Die nachfolgende Analyse folgt dem Vorschlag einer Konstitutionsanalyse; vgl. dazu Metten (2016: 119-124); diese unterscheidet sich in einigen Punkten von der inzwischen weit verbreiteten multimodalen Analyse.
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Untersuchungen die Frage nach dem Zusammenhang von Bild und Wissen prominent ist, wobei komplexe Verfahren der bildmedial-technischen Sichtbarmachung sowie das Verhältnis von bildlicher Eigenlogik und Wissenskonstitution intensiv reflektiert werden, fehlt es an Arbeiten, die sich gleichermaßen dem Bewegtbild bzw. den komplexen medialen Konstellationen des Films in der Wissenschaftskommunikation widmen. Verdicchio stellt heraus: »Studien, die sich explizit mit der Wissenschaftspopularisierung in Filmen befassen, sind bislang äußerst selten« (Verdicchio 2008: 56f.). Dies gilt insbesondere für Webvideos in der Wissenschaftskommunikation: »Up until now, science video channels and the concomitant global phenomenon of web videos have not been subject to analysis« (Muñoz/Czurda/Robertson-von Trotha 2015: 1).
2.1 Einordnung und Charakteristika Webvideos zur Wissenschaftskommunikation können insgesamt dem Feld des Gebrauchsfilms zugeordnet werden (vgl. Hediger 2005: 14); darüber hinaus lassen sich diese dem Wissenschaftsfilm zuweisen. Pinkas/Seidler (2014: 3) bestimmen Wissenschaftsfilm als »Sammelbegriff für sämtliche Filme, in denen die Filmkamera als Forschungsinstrument benutzt wird und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung aufbereiten und vermitteln«. Kalkofen (2002: 1815) spricht dem Wissenschaftsfilm die Funktionen des Sichtbarmachens, Dokumentierens und Veranschaulichens zu.6 In der Wissenschaftskommunikation stehe das Veranschaulichen im Vordergrund, da durch die filmische Darstellung keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen, sondern diese einem Publikum vorgeführt werden. Während Forschungsfilme der Forschungs- und Publikationskultur der jeweiligen Fachwissenschaften zugehören, lassen sich Vermittlungsfilme nicht innerhalb des wissenschaftlichen Kontextes verorten, vielmehr entstehen diese an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit und sind Bestandteil übergreifender Wissenskulturen. Kalkofen unterscheidet hinsichtlich der vermittelnden Formate zwischen dem Lehrfilm und dem populärwissenschaftlichen Film (vgl. ebd.). Während der Lehrfilm eine klare didaktische Orientierung aufweist und durch die Intention bestimmt ist, Wissen an ein spezifisches Publikum zu vermitteln, ist das funktionale Spektrum 6 | Dokumentieren und Veranschaulichen bilden die entgegengesetzten Pole des Spektrums: Dem Dokumentieren kommt die Aufgabe zu, Vorgänge mit einem möglichst hohen Wirklichkeitsgehalt abzubilden, um somit ein hohes Potential zur forschungsmäßigen Auswertung zu erreichen; neben der Abbildungstreue sollte die Edition des Filmmaterials in chronologischer Reihenfolge und temporal kontinuierlich erfolgen, didaktische und filmästhetische Gesichtspunkte sind nachgeordnet (vgl. Kalkofen 2002: 1816-1818). Populärwissenschaftliche Filme fungieren hingegen auch als Erzählmedien, wobei die Vielfalt der filmischen Mittel zum Einsatz kommt (vgl. ebd.: 1819f.)
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des populärwissenschaftlichen Films weiter, da dieser auch ganz allgemein zur Darstellung von Wissenschaft dienen kann. Umgekehrt ist die Wissenskommunikation im Lehrfilm nicht per se auf wissenschaftliches Wissen orientiert, da auch andere, nicht-wissenschaftliche Wissensformen vermittelt werden können.7 Webvideos zur Wissenschaftskommunikation, wie sie hier exemplarisch behandelt werden, können dem populärwissenschaftlichen Film zugeordnet werden. Morcillo, Czurda und Robertson-von Trotha haben einen ersten Vorschlag für eine Definition von Webvideos zur Wissenschaftskommunikation entwickelt: »A popular science web video is a short video that focuses on the communication of scientific contents for a broad audience on the Internet.« (Morcillo/Czurda/ Robertson-von Trotha 2015: 1) Popularisierende Formate finden sich allerdings ebenso im Fernsehen, wo sie den Programmstrukturen eingepasst sind, weshalb die unterschiedlichen Formate immer auch Charakteristika ihrer medienstrukturellen Einbettung aufweisen. Abbildung 1: Einordnung des populärwissenschaftlichen Films8
Während Charakteristika des Forschungsfilms ebenso wie wissenschaftspopularisierender Filme in verschiedenen Untersuchungen herausgearbeitet wurden, wobei sich diese vornehmlich durch den Einsatz filmischer Mittel unterscheiden (wissenschaftliche Filme negieren tendenziell die Möglichkeiten des Mediums Film, popularisierende Filme hingegen nutzen diese in7 | Vgl. zur Unterscheidung von Wissens- und Wissenschaftskommunikation Hellermann (2015: 222-227). 8 | Die Klassifikation ist unvollständig und dient lediglich der Verortung des populärwissenschaftlichen Vermittlungsfilms; weitere Formen des Gebrauchsfilms sind z.B. der Essayfilm, der Schulungsfilm, der Industriefilm; zum Spektrum der Forschungsfilme gehören hingegen so unterschiedliche Formate wie Forschungsaufnahmen im Labor, dokumentierende Aufnahmen der Natur oder ethnographische Filme.
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tensiv), liegen umfangreichere Untersuchungen zu den Charakteristika von Webvideos in der Wissenschaftskommunikation bisher nicht vor. Auf der Basis zweier bisher existierender Studien lassen sich diese wie folgt charakterisieren: Zentrales Merkmal der Formate ist (a) die Kürze; darüber hinaus ist (b) eine Abkehr von journalistischen Formaten und Nachrichtenfaktoren zu erkennen u.a. ist Aktualität kein entscheidendes Kriterium, da die Angebote im Web langfristig zur Verfügung stehen; (c) die Kommunikation der Inhalte erfolgt durch die Wissenschaftler selbst und weist aus Rezipientenperspektive ein hohes Maß an Authentizität auf; (d) es finden sich komplexe Formen der Montage, allerdings wenig elaborierte Kameraperspektiven und -bewegungen; (e) die Nutzung von Text-/Bild-Inserts erfolgt, wenn wissenschaftliche Sachverhalte explizit vermittelt werden.9 Darüber hinaus haben Metten/Niemann/Pinkas/Rouget (2016) exemplarisch weitere Aspekte herausgearbeitet, hinsichtlich der zu überprüfen wäre, inwiefern diese auch in anderen Webvideos zu finden sind: Dazu gehören die Heterogenität des verwendeten filmischen Bildmaterials sowie dessen hybridisierende Bearbeitung, die de- bzw. rekontextualisierende Verwendung epistemischer Bewegtbilder sowie Formen der Narrativierung, der Mythomorphisierung und der Agentivierung wissenschaftlicher Sachverhalte.
2.2 Darstellen UND Vermitteln Webvideos zur Wissenschaftskommunikation zeichnen sich darüber hinaus, ebenso wie andere Formate zur Wissenschaftskommunikation, durch ein grundsätzliches Dilemma aus: Einerseits handelt es sich um Formate zur Darstellung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen, weshalb die Formate stark auf die dargestellten Sachverhalte orientiert sind. Andererseits sind diese auf eine Adressatengruppe orientiert, der die wissenschaftlichen Sachverhalte und institutionellen Kontexte nicht vertraut sind, weshalb eine explizite Vermittlungsleistung vollbracht werden muss. Wissenschaftskommunikation bewegt sich folglich im Spannungsfeld von Darstellen und Vermitteln – diese Grundspannung resultiert daraus, dass sie beiden, letztlich divergierenden Ansprüchen gerecht werden muss (vgl. hierzu auch Metten 2014: 39-44). Die damit angesprochene Spannung zeigt sich in den unterschiedlichen Ausprägungen des Wissenschaftsfilms: Grundsätzlich zielt jeder Film auf sein Publikum und adressiert seine Zuschauer, er ist ein kommunikativer Akt – dies gilt selbst für den Forschungsfilm. Allerdings stellt dieser die dargestellte Wirklichkeit in den Vordergrund und setzt darauf, dass der Rezipient den Film auf den dargestellten Sachverhalt hin betrachtet. Forschungsfilme 9 | Die Darstellung der Merkmale basiert auf den Untersuchungen von Breuer (2012) sowie Morcillo/Czurda/Robertson-von Trotha (2015).
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negieren daher tendenziell ihre kommunikative Funktion: Die Darstellung der wissenschaftlichen Sachverhalte erfordert, dass das Medium in den Hintergrund tritt. Für den Forschungsfilm haben sich dem entsprechend Standards wie lange Einstellung, feste Kameraposition, Normalsicht etc. etabliert; die mediale Transparenz der filmischen Darstellung sowie der mimetische Repräsentationsmodus fungieren als Kriterien wissenschaftlicher Objektivität sowie eines unabhängigen Beobachterstandpunktes (vgl. Reichert 2013: 95f.). Der Forschungsfilm entspricht insofern dem Ideal der mechanischen Objektivität, die als frei von subjektiven Einflüssen des Beobachters gilt (vgl. Daston/ Galison 1998). Solchen Formen der filmischen Inszenierung treten andere Formen zur Seite, die explizit kommunikationsorientiert sind. Dies zeigt sich etwa dann, wenn im wissenschaftlichen Film eine kommentierende, zumeist erzählende oder erklärende Stimme auftritt. Solche Formate adressieren ihr Publikum direkt, die filmische Darstellung der Sachverhalte ist eingelassen in das kommunikative Geschehen. Die für die unterschiedlichen Formen der Wissenschaftskommunikation typische Ausgangssituation ist daher folgende: Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie das, was sie darstellen, zugleich zu vermitteln beabsichtigen. Darstellen und Vermitteln sind in einem starken Sinn aufeinander bezogen, weshalb beide Dimensionen nicht unabhängig voneinander bestehen. Das Resultat der expliziten Kopplung von darstellender und vermittelnder Grundfunktion ist, dass wir es mit einer auf Vermittlung hin orientierten Darstellung bzw. mit einer auf Darstellung hin orientierten Vermittlung zu tun haben. In wenigen anderen Kommunikationssituationen treten grundlegende kommunikationstheoretische Fragen nach den Grenzen des Darstellbaren sowie der Verständigung daher so explizit in den Vordergrund, wie dies in der Wissenschaftskommunikation der Fall ist.10 Hinsichtlich audiovisueller Formen der Wissenschaftskommunikation stellt sich daher die Frage, wie diese mit der zweifachen Anforderung umgehen und welche Möglichkeiten angesichts der medialen Eigenlogik von Webvideos zur Verfügung stehen, um die damit verbundene Grundspannung aufzulösen. Wissenschaftliche Sachverhalte sind oftmals abstrakt und unanschaulich. Wo in der sprachbasierten Wissenschaftskommunikation mit Metaphern, anschaulichen Vergleichen sowie verbalen Strategien des Verständlich-Machens gearbeitet wird, ist das filmische Bild per se anschaulich und konkret. Die Dar10 | De facto ist dies der Fall, wenn Kommunikation nicht auf Basis gemeinsamer Voraussetzungen erfolgt; dies ist nicht nur in der Wissenschaftskommunikation der Fall, sondern ebenso in der interkulturellen Kommunikation. Die zunehmende Wahrnehmung gesellschaftlicher Heterogenität geht daher mit der Notwendigkeit einher, tradierte Prämissen aufzugeben. Die fraglose Voraussetzung eines gemeinsamen Horizonts bzw. eines common ground wird dabei zunehmend als Ausnahme von der Regel wahrgenommen; Verständigung erfolgt demnach auf Basis nicht gemeinsamer Voraussetzungen.
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stellungspotenziale des Films sind daher andere als in der verbalen Wissenschaftskommunikation, weshalb von anderen Praktiken des Darstellens und Vermittelns ausgegangen werden kann. Allerdings lassen sich audiovisuelle Formate nicht auf Bewegtbilder reduzieren, vielmehr wirken gesprochene Sprache, Sound und Musik, bewegte und stehende Bilder, Schrift-Inserts und Grafiken zusammen. Die Darstellungspotentiale dieser unterschiedlichen medialen Konstituenten bieten in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation verschiedene Möglichkeiten der Kombination, der wechselseitigen Ergänzung und Steigerung. Die damit verbundenen Veränderungen betreffen nicht nur die Zugänge zu Wissen, sondern auch die Qualitäten der Wissenschaftsöffentlichkeit.
3. E xempl arische A nalyse Die nachfolgende Analyse zielt darauf, das Zusammenspiel der verschiedenen medialen Konstituenten sowie die daraus resultierenden Zusammenhänge zu erfassen; insbesondere auch mit Blick auf das in der Öffentlichkeit hierdurch konstituierte Wissenschaftswirkliche. Entstanden ist das analysierte Webvideo an einem Graduiertenkolleg der TU Dresden; es trägt den Titel »Von der Natur lernen. Die flüssigkeitsabweisenden Hautstrukturen der Springschwänze«.11 Die im Film vorgestellten Forschungsarbeiten präsentieren die Übertragung biologischer Funktionsprinzipien auf technische Anwendungen. Im Mittelpunkt des zweieinhalbminütigen Webvideos stehen Springschwänze, Insekten der Sechsfüßer-Klasse, die aufgrund ihrer flüssigkeitsabweisenden Hautstrukturen auch in feuchten Lebensräumen über ihre Haut atmen können. Deren spezifische Struktureigenschaften haben die Wissenschaftler untersucht und wasser- und ölabweisende Oberflächen nach dem Vorbild in der Natur entwickelt. Es gehört zu den Besonderheiten des Forschungsprojekts, dass der Impuls hierfür von einem YouTube-Video des international renommierten Natur- und Dokumentarfilmers David Attenborough mit dem Titel »The Springtail« ausging. Attenborough zeigt in dem Video, wie ein Springschwanz einen Wassertropfen mit einem Bein über den Kopf rollt, ohne dass die Haut der Tiere benetzt wird. Der Projektleiter an der TU Dresden nahm dies zum Anlass, die Tiere genauer zu untersuchen. Die Ergebnisse des Projekts wurden nach Abschluss der Forschungsarbeiten u.a. in einem Webvideo dargestellt. 11 | Der Analyse des Webvideos geht ein narratives Interview mit den Wissenschaftlern voraus sowie die Durchsicht unterschiedlicher Materialien aus dem Produktionsprozess, die dem Autor zur Verfügung gestellt wurden. Das Interview selbst wurde im Rahmen eines durch die Klaus Tschira Stiftung finanzierten Projekts am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gemeinsam mit Timo Rouget geführt.
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Der Produktionsprozess für das Video umfasste insgesamt zwei Monate, wobei dessen Realisierung teils eigenständig, teils mit professioneller Unterstützung erfolgte.
3.1 Aufbau des Videos Das Webvideo lässt sich in sechs Sequenzen unterteilen: (1) Vorspann: Einstellung 1+2 (Zeit: 00:00-00:08) (2) Einführung der Tiere und des Waldes: Einstellung 3-7 (Zeit: 00:09-00:34) (3) Einführung des wiss. Gegenstandes und des Labors: Einstellung 8-11 (Zeit: 00:34-00:52) (4) Darstellung der Erkenntnisse: Einstellung 12+13 (Zeit: 00:53-01:34) (5) Darstellung der Prototypen, Anwendungsmöglichkeiten: Einstellung 14-19 (Zeit: 01:34-01:59) (6) Abspann: Einstellung 20 (Zeit: 02:00-02:15)
Für die Konzeption und Gestaltung des Webvideos bezogen sich die Wissenschaftler auf bekannte Formate: Zur Orientierung dienten laut Aussage Naturfilme, Dokumentarfilme sowie Kleindokumentationsbeiträge, wie sie für wissenschaftspopularisierende Fernsehsendungen erstellt werden. Der Bezug auf existierende Formate hat in der Entwicklung des Webvideos dazu beigetragen, dass die zu Produktionsbeginn stark forschungsorientierte Darstellung durch einen lebensweltlichen Bezugsrahmen ersetzt wurde, der für die Adressatinnen anschlussfähig, weil vertraut ist. Aufschlussreich ist dahingehend die Entstehung des voice-over-Kommentars: Über einen Zeitraum von zwei Monaten kursierten verschiedene Textversionen zwischen den Wissenschaftlern; der ursprünglich zwei DinA4-Seiten umfassende Text entsprach einer Sprechzeit von 15 Minuten und wurde letztlich auf zwei Minuten gekürzt. Die überarbeitete Fassung lässt deutlich die Umorientierung auf ein adressatenorientiertes Format erkennen: Stellt die ursprüngliche Version die Hautstrukturen der Tiere sowie deren Potenzial für die Biomimetik gleich zu Beginn in den Vordergrund, tritt in einer späteren Fassung der Wald als natürlicher Lebensraum der Tiere an deren Stelle. Der weitere Auf bau des Videos folgt dabei einem etablierten Narrativ der Bionik, das eine Wertschöpfungskette ausgehend von biologischen Vorbildern hin zu wissenschaftlich generierten Artefakten aufzeigt. In den übergreifenden Rahmen dieses Wertschöpfungsnarrativs sind
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die zentralen Sequenzen des Videos integriert, die der zweigliedrigen Struktur einer Erklärung entsprechen. Wird zu Beginn der Wald als Bezugsrahmen etabliert, so bildet in diesen Sequenzen das Labor den Kontext. Erst die abschließende Darstellung der Anwendungsmöglichkeiten erfolgt wiederum im Wald, wodurch der Bezug zur Eingangssequenz hergestellt und die narrative Rahmenkonstruktion abgeschlossen wird. Obwohl Plattformen wie YouTube insgesamt zu einer Ausdifferenzierung der Darstellungsformen und Webvideo-Genres beigetragen haben, zeigt sich anhand des Beispiels, dass es sich um ein in hohem Maße hybrides Medienformat handelt. So weist das analysierte Video ein themenspezifisches Narrativ (Wertschöpfungsnarrativ der Bionik) ebenso wie Vertextungsmuster auf, die aus der doppelten Aufgabe von Darstellung (hier: Explanation) und Vermittlung (hier: Narration) resultieren. Zugleich überlagern sich darin genrespezifische Darstellungsmuster, wie sie sich einerseits im Natur- und Dokumentarfilm etabliert haben, andererseits lassen sich eindeutig Züge eines Imagefilms erkennen. Wissenschaft wird insgesamt positiv dargestellt: Das Video zielt darauf, Aufmerksamkeit und Interesse für wissenschaftliche Arbeiten zu generieren, es präsentiert die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft sowie deren lebensweltlichen Nutzen (vgl. Bauernschmidt 2013: 47). Für die Realisierung kommunikativer Zwecke werden daher auch hier keine vollkommen neuen Darstellungsformen entwickelt, sondern Aspekte bereits existierender Muster übernommen und adaptiert (vgl. Hauser/Luginbühl 2015: 20). Dass selbst kleine Elemente wie einzelne Grafiken aus anderen Formaten entlehnt werden, deutet darauf hin, dass sich bisher keine standardisierten Darstellungsmuster für Webvideos in der Wissenschaftskommunikation durchgesetzt haben.
3.2 Strategien der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation Um im Folgenden die Spezifika der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation sowie die damit einhergehenden Effekte für die öffentliche Darstellung von Wissenschaft herauszuarbeiten, erfolgt die weitere Mikroanalyse entlang der drei zentralen Sequenzen des Webvideos. Gezielt werden hierbei die Möglichkeiten des audiovisuellen Referenzierens (3.2.1), die Herstellung von Faktizität und die Erweiterung von Geltungsansprüchen (3.2.2) sowie das audiovisuelle Erklären (3.2.3) betrachtet, da diese für den Auf bau des übergreifenden Erklärzusammenhangs von Bedeutung sind. Damit einhergehend wird auf Strategien der Evidentialisierung sowie der Inszenierung epistemischer Bilder eingegangen, die als Spezifika der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation gelten können.
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3.2.1 Einführung und Identifikation der Referenzobjekte Liebert (2002: 51-53) hat herausgestellt, dass die Identifikation wissenschaftlicher Bezugsgegenstände zu den zentralen Problemen der Wissenschaftskommunikation gehört. Im Webvideo werden zunächst die Tiere im Wald, d.h. in der Lebenswelt der Adressaten verortet und erst in einem zweiten Schritt wird der spezifische Untersuchungsgegenstand im Labor eingeführt. Die Einführung der Tiere erfolgt zu Beginn einhergehend mit dem Auf bau eines narrativen Rahmens sowie durch den voice-over-Kommentar der Sprecherin, wobei die Erzählung mit der unbestimmten Zeitangabe »seit einigen hundert Millionen Jahren« eingeleitet und durch den spannungserzeugenden kataphorischen Ausdruck »einer faszinierenden Art von Bodenbewohnern« fortgesetzt wird. Durch die darauf folgende Rechtsherausstellung der Bezeichnung »den Springschwänzen« wird ein thematischer Fokus etabliert. Das Merkmal der Außergewöhnlichkeit der Tiere wird in Folge durch die adversative Angabe »im Gegensatz zu anderen Arthropoden« weiter ausgebaut.12 Abbildung 2: Einführung der Bezugsgegenstände
Im Bewegtbild erfolgt die Einführung der Springschwänze parallel dazu erst in Einstellung 5: Durch eine vertikale Kamerafahrt wird der Übergang von der Oberfläche zu einer Profilansicht des Waldbodens gestaltet, die den Ausgangspunkt für die nachfolgende Darstellung bildet. Die Identifikation und
12 | Vgl. zu einer »Rhetorik der Wichtigkeit«, die u.a. zur Herausstellung der Relevanz des Themas dient, Niederhauser (1999: 209-212).
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Charakterisierung der Tiere geschieht anschließend durch eine Kombination verschiedener filmischer Mittel: 1. das Aufweisen der Springschwänze in der Profilansicht des Waldbodens geschieht dadurch, dass eine Grafik (»kleines Kreuz«) eingeblendet wird, die der ZDF-Sendung »Zoom« entlehnt wurde und mittels der eines der Individuen im Waldboden lokalisiert wird; 2. durch das gleichzeitige Einblenden eines zweiten Kreuzes wird ein lokaldeiktischer Hinweis auf die Tiere etabliert und die Verbindung des eingeblendeten Bildfeldes mit dem aufgewiesenen Tier hergestellt; 3. die weitere Bestimmung der Springschwänze erfolgt dadurch, dass ein Schrift-/Bild-Feld, dessen Elemente zur Benennung sowie zur Charakterisierung der Tiere dienen, eingeblendet wird; dazu zählt: (a) dass das Referenzobjekt benannt wird, indem die wissenschaftliche Bezeichnung »Orthonychiurus Stachianus« eingeblendet wird; (b) dass dessen Größe bestimmt wird, indem eine Größenangabe (»Größe: 1 mm«) eingeblendet wird; (c) darüber hinaus wird das Aussehen der Tiere dargestellt, indem eine Detailaufnahme der Tiere eingeblendet wird; dadurch, dass das Bild als unabhängiges Element in der Einstellung eingeblendet wird, wird der Akt des Sichtbarmachens zugleich selbst in Szene gesetzt. Während die insertierte Schrift der Benennung und Charakterisierung dient, erfolgt die Referenzierung in der visuellen Dimension als Aufweisen, Hinweisen auf und Sichtbar-Machen der Tiere. Insgesamt lässt sich die Darstellung im Bild daher als komplexer Akt des Zeigens beschreiben (vgl. Mersch 2006: 414). Die Einstellung, welche die Tiere im Waldboden aufzeigt, wird zugleich als Beleg für deren Existenz verwendet; die weiteren filmischen Mittel transformieren diese in einen bezeugenden Bildakt. Insgesamt erfolgt die Einführung und Identifizierung der Springschwänze im Webvideo somit durch das Zusammenspiel der verschiedenen medialen Konstituenten: In der auditiven Dimension steht die Legitimation des Themas im Vordergrund; die Orientierung auf die Adressaten ist eng mit dem Ziel verbunden, Aufmerksamkeit und Interesse für das Thema zu wecken. Dem entgegen steht in der visuellen Dimension die Identifizierung und Charakterisierung der Tiere im Vordergrund, die diese zugleich in einer den Adressaten bekannten Umgebung, d.h. im Wald verortet. Dabei zeigt sich, wie die unterschiedlichen Herausforderungen des Darstellens und Vermittelns auf verschiedene Modalitäten verteilt werden: Während die Identifizierung der Tiere primär visuell erfolgt, erfolgt die Ansprache der Adressaten vornehmlich durch den voice-over-Kommentar, d.h. verbal. Zugleich erfüllen die grafischen Elemente sowie das Einblenden einer Detailaufnahme
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eine explizite Vermittlungsleistung, anhand derer deutlich wird, wie eng Darstellen und Vermitteln miteinander verbunden sind: Sie stiften Kohärenz zwischen verschiedenen Elementen, heben Aspekte explizit heraus und benennen diese ausdrücklich. Die Eingangssequenz weist insofern eine hohe Dichte im Zusammenspiel der verschiedenen medialen Konstituenten auf, die charakteristisch für die zu leistende Darstellungs- und Vermittlungsaufgabe ist. Dabei lösen Webvideos das Problem des abwesenden Referenzobjekts dadurch, dass dieses selbst wahrnehmbar gemacht, d.h. kommuniziert wird. Der Kommunikationsmodus der durch Webvideos geschaffenen Wissenschaftsöffentlichkeit kann daher als Präsenzkommunikation beschrieben werden.
3.2.2 Faktizitätsherstellung und Er weiterung von Geltungsansprüchen In das zu Beginn etablierte Wertschöpfungsnarrativ, das der narrativen Kontextualisierung der weiteren Darstellung dient, ist die zweigliedrige Struktur einer Erklärung (Explanandum und Explanans) integriert, die durch die Sequenzen 3 und 4 des Webvideos gebildet wird.13 Das Zu-Erklärende wird hierbei zunächst als Untersuchungsgegenstand eingeführt; an die Stelle des zu Beginn eingeführten, alltagsweltlichen Referenzobjekts tritt so der wissenschaftliche Bezugsgegenstand, d.h. das fragliche Phänomen. Der voice-over-Kommentar lautet: Abbildung 3: Faktizitätsherstellung und Erweiterung von Geltungsansprüchen
Entscheidend für die weitere Darstellung ist, wie Evidenz für das zu untersuchende Phänomen geschaffen wird: Die Sprecherin stellt heraus, dass sich während des Eintauchens der Tiere in verschiedene Flüssigkeiten eine schützende 13 | Vgl. zu den Strategien der narrativen Kontextualisierung Verdicchio (2010: 15; 129-140).
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Lufthülle zeigt, die diese umgibt. Genau diese ist in den beiden aufeinander folgenden Einstellungen allerdings kaum wahrnehmbar, da der silbrige Glanz an der Oberfläche der Tiere zuerst als Lufthülle bestimmt werden muss, um als solche erkannt werden zu können. Die offensichtlichere Reaktion der Tiere ist, dass sich diese beim Eintauchen in die Flüssigkeit ruckartig zusammenrollen, was jedoch nicht thematisiert wird. Von daher kommt dem Kommentar die Funktion zu, ein Phänomen zu fokussieren, das ansonsten unbeachtet bleiben würde, denn der Sachverhalt »dass die Tiere eine schützende Lufthülle umgibt« tritt erst durch die verbale Präsentifizierung des Phänomens hervor; d.h., erst in Folge der verbalen Herstellung von Präsenz im Bild erscheint der Sachverhalt gegeben. Die Perspektivierung des Bildes erfolgt im vorliegenden Fall dabei weder konkretisierend, noch erweiternd, sondern reduzierend, da eine bestimmte Sicht auf einen Aspekt des im Bild Sichtbaren etabliert wird, während andere Aspekte abgeblendet werden. Nohr (2004) hat hinsichtlich solcher medialer Praktiken herausgestellt, dass die Herstellung von Offensichtlichkeit zu einer Degradation des Sichtbaren führe, da diese an die Stelle eines lesbaren Bildes blinde Bilder setze. Die vorliegende Strategie zur Herstellung von Evidenz kann daher als reduktiv-beweisend gelten (ebd.: 11). Der im Zusammenspiel der medialen Konstituenten geschaffene Effekt der Offensichtlichkeit gründet nicht in der repräsentationalen Qualität des Bildes, d.h. es ist nicht bloß zu sehen, was sich ereignet, vielmehr wird die Faktizität des sich Ereignenden medial hergestellt. Insbesondere der Kommentar trägt dazu bei, die Deutungsoffenheit des Bildes »eindimensional zu semantisieren« und die gewünschte Rezeptionsform festzulegen (vgl. Gertiser 2006: 69). Die durch die reflexive Formulierung des Sich-Zeigens ausgewiesene Faktizität des Phänomens erweist sich folglich als produktiver Akt des Zeigens, dass. Nohr beschreibt Evidenz daher als eine Zeigehandlung, die einen »Wahrheitsbeweis mit dem Medium im Medium« (2004: 9) erbringt. Ausgehend davon etabliert die nachfolgende Aussage »und die Haut somit trocken bleibt« eine Grund-Folge-Relation; der für die weitere Explikation in Anspruch genommene Grund wird jedoch erst innerhalb des Aussagezusammenhangs hervorgebracht (vgl. Felder 2013: 15). Das Faktum erscheint dabei evident, »wenn sie [die Bilder] als Verkürzungen eines argumentativen Zusammenhangs akzeptiert werden können« (Hohenberger 2004: 211). Das Zusammenspiel von Bewegtbild und verbaler Perspektivierung dient allerdings nicht nur zur Herstellung von Faktizität, sondern ebenso zur Erweiterung des Geltungsbereichs von Aussagen. Dies zeigt sich in der zweiten Einstellung; parallel dazu heißt es: 05 dies passiert selbst in öligen substanzen 06 welche normalerweise fast jede oberfläche benetzen können (---)
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Der aufgewiesene Effekt zeigt sich laut Aussage auch dann, wenn die Bedingungen des Versuchsauf baus variiert werden; konkret handelt es sich nun um eine ölige Substanz, in die das Tier eingetaucht wird. Dass dieser Effekt ungewöhnlich ist, wird einerseits durch die Partikel »selbst« sowie den darauf folgenden attributiven Relativsatz »welche normalerweise fast jede Oberfläche benetzen können« herausgestellt. Der zweiten Äußerung kommt dabei nicht nur die Funktion zu, eine Eigenschaft öliger Substanzen explizit zu machen, vielmehr wird erneut darauf hingewiesen, dass es sich um ein außergewöhnliches und insofern interessantes Phänomen handelt. Entscheidend für den Auf bau der Argumentation ist jedoch, dass der Kommentar die Aufmerksamkeit von der »schützenden Lufthülle« auf die »öligen Substanzen« verschiebt, die im Vergleich zur vorherigen Einstellung aufgrund der unterschiedlichen Farbigkeit zu erkennen sind. Da der Auf bau beider Einstellungen exakt gleich ist, wird die Konstanz des Versuchsauf baus, d.h. die Übereinstimmung sämtlicher Parameter nahe gelegt; das determinierte Bildfeld, die »objektive Einstellung«, schafft nicht nur Vergleichbarkeit, sondern garantiert auch Objektivität (vgl. Reichert 2013: 96, 99). Zugleich tritt hierdurch die entscheidende Differenz mit Bezug auf die vorhergehende Einstellung hervor. Die zweite Einstellung hat daher nicht die Funktion, das Phänomen erneut zu belegen, sondern dient dazu, den Geltungsbereich der zuvor getroffenen Aussage zu erweitern. Das Bild liefert Evidenz dafür, dass derselbe Effekt auch unter anderen Bedingungen auftritt.14 Einerseits gründet der Gebrauch des Bildes als Beweis in der indexikalischen Qualität der filmischen Aufnahme, andererseits transformiert der Gebrauch des Bildes innerhalb des filmischen Zusammenhangs dieses erst in einen visuellen Beweis. Die Herstellung von Faktizität sowie die Erweiterung des Geltungsanspruchs sind somit Effekte, die aus dem komplexen Zusammenspiel der medialen Konstituenten (Kommentar, Bewegtbild, Bildwiederholung und Variation der Farbigkeit) resultieren. Webvideos zur Wissenschaftskommunikation etablieren auf diese Weise nicht-diskursive Argumentationsformen: Die medial konstituierte Aussage geht mit einem Ebenensprung einher, der das einhergehend damit geschaffene Faktum von der epistemischen auf eine ontologische Ebene verschiebt. Werden epistemische Qualitäten als ontologische Qualitäten präsentiert, fällt deren Geltungsanspruch allerdings ungleich höher aus. Die Wissensdiskurse alternativer Wissenschaftsöffentlichkeiten verändern sich folglich nicht nur dadurch, dass die Wissenschaftlerinnen selbst Medienangebote zur Verfügung stellen können, vielmehr entwickelt sich einhergehend mit den visuellen 14 | Die Verwendung der Bilder erfolgt darüber hinaus im Rahmen einer Beispielargumentation: Der konkrete Fall wird nicht bloß als solcher betrachtet, sondern dient dazu, exemplarisch die Allgemeingültigkeit der Aussagen zu belegen, da es letztlich nicht um das gezeigte Individuum, sondern um die Klasse der Tiere geht.
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Darstellungsmöglichkeiten von Webvideos eine andere Qualität des öffentlichen Diskurses, d.h. eine qualitativ andere Wissenschaftsöffentlichkeit.
3.2.3 Audiovisuelle E xplikation Mit der Einführung des Phänomens wird im Webvideo nun zugleich die Frage aufgeworfen, warum die Hautoberfläche Feuchtigkeit abweist. Dem entsprechend folgt auf die Einführung des wissenschaftlich fraglichen Phänomens dessen Explikation. Der voice-over-Kommentar gestaltet zunächst den Übergang: 19 um diesem phänomen auf die spur zu kommen 20 haben die wissenschaftler die haut der springschwänze genauer untersucht
Anschließend daran wird die Oberflächenstruktur der Haut im Zusammenspiel von Kommentar und Bewegtbild dargestellt. Abbildung 4: Audiovisuelle Erklärung der Wabenstruktur
In einem ersten Schritt dient der voice-over-Kommentar zur Beschreibung der Hautstrukturen, wobei verschiedene Charakteristika herausgestellt werden. Anschließend wird die Form der Waben detailliert beschrieben und als typisch ausgewiesen. Der Auf bau der Deskription folgt der Kamerabewegung, wobei von den größeren zu den kleineren Phänomenen übergegangen wir, d.h. es liegt eine Parallelität von verbaler Deskription und Zoom vor. Die Einstellung zeigt dabei den Blick durch ein Rastertunnelmikroskop auf die Hautoberfläche der Tiere; allerdings handelt es sich nicht um eine reale Laboraufnahme, sondern um die Inszenierung eines mikroskopischen Blicks: So wurden für
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den Zoom 400 Einzelbilder mittels eines Rastertunnelmikroskops – ausgehend von der größten bis zu kleinsten Vergrößerungsstufe – aufgenommen. Im Webvideo sind diese in umgekehrter Reihenfolge sowie in Form einer kontinuierlichen filmischen Bewegung montiert (vgl. dazu Verdicchio 2010: 15). Den Wissenschaftlern selbst war die Einbindung der Aufnahmen wichtig, da diese die Laborpraxis zeigen; zugleich merkten sie an, dass man im Labor selbst über eine solche Ansicht nicht verfügt. De facto haben wir es daher nicht mit einem epistemischen Bewegtbild zu tun, das der Erkenntnisgewinnung dient, vielmehr handelt es sich um die öffentlich wahrnehmbare Inszenierung eines mikroskopischen Blicks. Abbildung 5: Zoom und Überblendung als Verfahren der Kombination heterogener Bilder
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Durch den Zoom wird der Eindruck eines visuellen Kontinuums erzeugt, das ausgehend von der Gesamtansicht der Tiere bis hin zu den kleinsten Strukturen der Haut reicht. Der Übergang zwischen diesen Ansichten wird durch eine besondere Form des unsichtbaren Schnitts gestaltet, der sich, wie Verdicchio (2008) gezeigt hat, auch in anderen popularisierenden Darstellungen biowissenschaftlicher Forschung findet: Der Übergang erfolgt durch eine Kombination von Zoom und Schnitt: In einem ersten Schritt fährt die Kamera so nahe an das Tier heran, bis die Ansicht unscharf und dunkel wird, woraufhin eine Überblendung zur nachfolgenden Einstellung erfolgt (vgl. dazu Verdicchio 2008: 10, 12). Auf diese Weise werden Bilder verschiedenen Ursprungs miteinander kombiniert und die durch das Mikroskop gewonnenen Ansichten in das Kontinuum der wahrnehmbaren Lebenswelt eingebunden.15 Die Großaufnahme erfährt darin ihre Steigerung in der mikroskopischen Aufnahme, wobei ein solcher transzendentaler Zoom die Vorstellung einer unendlich tiefen Oberfläche erzeugt. Zugleich übergeht der Film durch die kaschierende Montage die technische Intervention des Mikroskops als einer epistemischen Technik zur Sichtbarmachung, weshalb negiert wird, dass das, was wir sehen, ohne bildgebende Verfahren nicht wahrnehmbar wäre. Die filmische Inszenierung vertreibt so »alle technischen Parameter aus dem Bild« (Holl 2006: 230). An die Stelle des medialen Bruchs tritt die Gestaltung eines Kontinuums, das einen homogenen Raum filmischer Erfahrung schafft, wo dieser tatsächlich nicht vorhanden ist. Bemerkenswert ist, dass die mikroskopische Ansicht der Hautstrukturen hierbei nicht als Quelle wissenschaftlichen Wissens fungiert, sondern dazu dient, die durch den Kommentar getroffenen Aussagen zu belegen – das inszenierte epistemische Bild wird so zu einer Chiffre wissenschaftlicher Evidenz, indem dieses vorgibt zu zeigen, was der Fall ist (vgl. Dommann 1999: 119). Die Inszenierung des wissenschaftlichen Blicks schafft die Voraussetzung dafür, dass die Aussagen der Sprecherin anhand des Bildes bewahrheitet werden können. Was empirisch beobachtet werden kann, kann scheinbar auch öffentlich gezeigt und mit den Augen des Laien, also intersubjektiv überprüft werden. Die mikroskopische Aufnahme, die einen Einblick in die Tiefenstrukturen tierischen Lebens ermöglicht, erweist sich darin als kommunikable Beobachtung, wobei die Öffentlichkeit des Blicks eine geteilte Wahrnehmung der Phänomene suggeriert. Die hier aufgezeigten Strategien der Evidentialisierung und Sichtbarmachung lassen sich daher als medial-diskursive Verfahren der Objektivierung verstehen.
15 | Vgl. zur hybridisierenden Verwendung von Bildmaterialien Metten/Niemann/Pinkas-Thompson/Rouget (2016: 10f.).
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Zugleich wird innerhalb der Kadrage ein zweites Bildfeld eingeblendet: Dessen Vermittlungsleistung wird notwendig, da sich die in der Einstellung gezeigte mikroskopische Aufnahme dem Blick des Laien nicht ad hoc erschließt; d.h. die eingeblendete Visualisierung steht hier in einem interpiktorialen Verhältnis zum Referenzbild. Die im Bildfeld gezeigte Grafik dient dabei der visuellen Exemplifikation der zentralen Charakteristika der Oberflächenstruktur (vgl. Goodman 1997: 59f), d.h. mit Blick auf die nachfolgenden Aussagen werden diejenigen Eigenschaften gezeigt, die für das Verständnis der Phänomene relevant, in der Mikroskopaufnahme jedoch kaum erkennbar sind. Der Grafik kommt allerdings nicht nur die Funktion zu, kaum Erkennbares zu verdeutlichen, sondern auch Regularitäten an einem anschaulich präsentierten Einzelfall aufzuweisen, d.h. diese hebt hinsichtlich der in der Gesamtansicht wahrnehmbaren Phänomene nicht bloß bestimmte Aspekte hervor, sondern präsentiert durch Variation eine idealisierte, absolut gleichmäßige Oberflächenstruktur. Das wahrnehmbare Ausgangsmaterial, die konkrete Oberfläche der Haut, wird geometrisiert, wodurch die Grafik eine Verbindung des Besonderen (konkrete Aufnahme der Oberfläche) zum Typischen (Darstellung der relevanten Strukturmerkmale) herstellt. Die Visualisierung schafft so den Übergang von den konkreten Phänomenen hin zu einer verallgemeinerbaren Aussage; die gezeigte symmetrische Ordnung exemplifiziert in diesem Sinn die relevanten und repräsentiert die typischen Eigenschaften der Oberflächenstruktur der Haut. Im Verlauf der Darstellung wird die im Bildfeld sichtbare Grafik variiert und erweitert, wobei zwei weitere Formen der Visualisierung unterschieden werden können, die ebenso auf das dahinterliegende Referenzbild Bezug nehmen: 1.
Sichtbar-Machen: Die Stabilität der Waben, die im Referenzbild nicht sichtbar ist, wird durch eine animierte Grafik visualisiert, wobei deren Eigenschaften durch den Schriftzusatz »mechanisch stabil« beschrieben werden. Genau genommen handelt es sich um die Visualisierung eines nicht-wahrnehmbaren Phänomens; die Animation fungiert als Bild-Metapher, da anstelle von Stabilität die Belastung der Oberfläche durch Dehnung und Druck visualisiert wird, die auf Stabilität schließen lassen. 2. Verdeutlichen: Die Beschreibung der »Ausstülpungen« wird in der Grafik durch einen Querschnitt der Oberfläche visualisiert, wodurch die im Referenzbild gezeigte Struktur, die die Ausstülpungen nicht erkennbar werden lässt, verständlich gemacht wird. Folglich handelt es sich um die Visualisierung eines im Referenzbild nur schwer erkennbaren Phänomens. Erst im Anschluss an die Deskription der Hautoberfläche erfolgt im letzten Teil der Sequenz eine Erklärung, die den Oberflächeneffekt auf die Struktur
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zurückführt. Damit wird die zuvor gegebene Erklärung präzisiert und potentiell weitere Gründe werden ausgeschlossen. Ein solches Erklären-Warum umfasst, dass das Zustandekommen eines Sachverhalts dargelegt wird (vgl. Klein 2009: 30). Im vorliegenden Fall werden die Überhänge als ursächlich benannt, da sie das weitere Eindringen der Flüssigkeit verhindern; d.h., weil die Haut der Springschwänze eine bestimmte Oberflächenstruktur aufweist, kann die Flüssigkeit nicht in diese eindringen und wird abgewiesen. Dass die Überhänge ein weiteres Eindringen verhindern, ist allerdings nur anhand der Visualisierung zu erkennen; eine weiterführende Erklärung, warum dies so ist, wird dem Rezipienten nicht angeboten. Genau genommen bleibt die Erklärung somit partiell und wird nicht voll ausgeführt. Ihren letzten Grund hat sie in der Visualisierung, die zeigt, dass die Flüssigkeit nicht weiter eindringt. Grundsätzlich haben wir es also nicht mit einem Erklären-Warum, sondern mit einem Zeigen, dass zu tun. An die Stelle einer Erklärung tritt die selbsterklärende Kraft eines Bildes. In genau diesem Sinn ist Evidenz das, was sich von selbst versteht und einer weiteren Begründung entbehrt. Evidenz erweist sich dabei zugleich als eine Grenze des Wissens, die – wie Mersch (2006: 416) bemerkt – diskursiv nicht einholbar ist. Folglich kommt dieser ein doppeltes Moment zu: Einerseits dienen die Strategien der Evidentialisierung im Webvideo zur Geltungskonstitution von Wissen sowie zu dessen Begründung, andererseits fungieren sie als nicht-diskursiver Grund des Wissens und insofern als Wissensgrenze, an der das dargestellte Wissen an das Augenscheinliche zurückgebunden wird. Durch das Mitsehen gewinnt die Darstellung ontologisch allerdings an Gewicht; ihr Wahrheitswert wird gesteigert. Mittel- und langfristig verändert sich einhergehend damit die hierdurch konstituierte Wissenschaftsöffentlichkeit: epistemische Qualitäten (Ebene des Diskurses) treten zugunsten ontologischer Qualitäten (Wirklichkeits-Ebene) zurück. Im Übergang von der Wissenschaft zur Öffentlichkeit schreibt sich aufgrund der bildmedialen Darstellungspotenziale ein ontologisierendes Moment in die öffentliche Kommunikation von Wissenschaft ein.
4. S chluss : Z wischen I nszenierung und E rkl ärung Die vorhergehende Analyse zeigt, dass es sich bei dem analysierten Webvideo um ein hochgradig hybrides Phänomen handelt: Das Webvideo entsteht an der Schnittstelle unterschiedlicher gegenwärtiger Entwicklungen, die im vorliegenden Fall dazu führen, dass sich bekannte Genres und Darstellungsformen aus Natur- und Dokumentarfilm, Erklär- und Imagefilm überlagern. Insbesondere vermischen sich eine adressatenorientierte Inszenierung von Wissenschaft, wie sie in den Laborbildern ebenso wie in den epistemischen Aufnahmen vollzogen wird, mit einer sachorientierten Erklärung, die in Form
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einer plausiblen und begründeten Darstellung auf Wissenskommunikation und Verständlichkeit zielt. Die auf den Sachverhalt hin orientierte Darstellung geht damit einher, dass vornehmlich eine positive Leistung der Wissenschaft kommuniziert wird. Auch wenn die Vermittlung der Erkenntnisse scheinbar im Vordergrund steht, dient die Darstellung ebenso der Legitimation von Wissenschaft. Dabei treten unterschiedliche mediale Praktiken einer audio-visuellen Logik des Darstellens und Vermittelns von Wissenschaft hervor, die teils eng mit den visuellen Konstituenten des Formats verbunden sind: So etwa das Sichtbar-Machen, das Verdeutlichen, das Exemplifizieren, das Präsentifizieren und Evidentialisieren. Einerseits resultieren diese aus dem komplexen Zusammenspiel der verschiedenen medialen Konstituenten, andererseits konstituieren diese auf einer höheren Ebene komplexere Praktiken wie die Einführung des Bezugsgegenstandes, die Herstellung von Faktizität sowie die Erweiterung von Geltungsansprüchen. Als solche sind diese konstitutiven Bestandteile des übergreifenden Erklärzusammenhangs und der damit verbundenen audio-visuellen Argumentation, die in das Wertschöpfungsnarrativ der Bionik eingelassen ist. Die Bewegtbilder dienen dabei nicht bloß dem Veranschaulichen des Gesagten, d.h. es handelt sich nicht bloß um Strategien eines konkretisierenden Veranschaulichens, sondern um ästhetische Strategien zur Plausibilisierung von Aussagen, die durch das Bild als evident, d.h. als wahr erwiesen werden. Die visuelle Begründung folgt hier einer anderen, nicht-diskursiven Logik. Die Annahme Kalkofens (2002), der populäre Wissenschaftsfilm diene primär dem Veranschaulichen, wird daher dessen epistemischen Qualitäten nicht gerecht, da durch andere Medien andere Wissenschaftsöffentlichkeiten entstehen, die sich hinsichtlich Kommunikationsmodalität (Präsenzkommunikation) sowie Geltungskonstitution und -anspruch ihrer Aussagen deutlich unterscheiden. So gründen die im Webvideo sich zeigenden Argumentationsformen im Sichtbarmachen der Phänomene sowie im Mit-Sehen der Rezipienten. Was sich in der Wissenschaft zeigt, kann im Webvideo scheinbar wiederholt und kommuniziert werden. Dabei kommen auch im vorliegenden Webvideo Bilder zum Einsatz, die auf bildgebenden Verfahren der Wissenschaft basieren bzw. diese re-inszenieren. Wissenschaft erscheint aufgrund solcher Bildwelten als faszinierend (vgl. Verdicchio 2008: 8, 2010: 11). Insofern trifft auch hier Jakob Tanners Hinweis zu, dass »Wissenschaft immer wieder der Versuchung [erliege], ihre komplexen Verfahrensweisen und ihre wenig nachvollziehbaren Resultate mittels eingängiger, ästhetisch attraktiver Visualisierungen zu plausibilisieren.« (Tanner 2009: 37) Entscheidend ist aber, dass die Öffentlichkeit des wissenschaftlichen Blicks die Teilhabe an der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung sowie eine intersubjektive Überprüf barkeit der Aussagen suggeriert, d.h. die Evidenz der wissenschaftlichen Einsichten, von der Bestimmung der Tiere, über die Ent-
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deckung des fraglichen Phänomens bis hin zu dessen Erklärung. Die Darstellung im Webvideo lässt den Eindruck entstehen, dass ein geteilter Blick auf das fragliche Phänomen ebenso wie die öffentliche Teilhabe an der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung möglich sind. Die tatsächliche Arbeit der Wissenschaft, der Anteil der bildgebenden Verfahren oder auch der Status epistemischer Bilder bleibt darin jedoch dem Verständnis der Rezipienten entzogen. Dem entgegen trägt die Inszenierung von Wissenschaft im Webvideo dazu bei, die Vorstellung einer neutralen und objektiven Forschungspraxis aufzubauen, deren experimentelle Verfahren Ausgangspunkt der Wissensgenese sind. Die medialen Spezifika von Webvideos zeigen genau hier, in der Verschiebung von einer epistemischen auf die ontologische Ebene, ihren Effekt. Wissenschaft hat es folglich mit dem Aufdecken von Fakten zu tun, nicht aber mit technischen Eingriffen als den Produktionsbedingungen wissenschaftlichen Wissens: der wechselseitige Konstitutionszusammenhang von Untersuchungsgegenstand und epistemischen Praktiken bleibt verdeckt. Das Webvideo generiert daher ein populäres Verständnis von Wissenschaft, da die gezeigten Phänomene und Prozesse nur bedingt ansichtig werden lassen, wie der Untersuchungsprozess in der Wissenschaft vonstatten geht. Wissen, welches durch Filme gewonnen oder kommuniziert wird, kann daher als genuin filmisches bzw. filmförmiges Wissen bezeichnet werden, da sich der Film zu den Gegenständen des Wissen nicht neutral verhält (vgl. Hediger/ Fahle/Sommer 2011: 13f.). Dies gilt auch für die Wissenschaftskommunikation: Audiovisuell vermitteltes Wissen ist ein Wissen, dem sich das Medium ebenso wie die Kommunikationssituation konstitutiv einschreibt. So wird in den mikroskopischen Aufnahmen, die eigens für die öffentliche Kommunikation der wissenschaftlichen Ergebnisse erstellt wurden, genau genommen etwas wahrnehmbar, was sich an keinem anderen Ort – also weder im Labor noch außerhalb der filmischen Wirklichkeit – in dieser Form zeigen könnte. Die durch den Film geschaffene Wahrnehmbarkeit wissenschaftlicher Phänomene sowie die einhergehend damit geschaffene öffentliche Vorstellung von Wissenschaft kennt letztlich nur einen Ort: den Film selbst.
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Formen der Partizipation online Dissens in der Leserrezension Françoise Hammer
Based on an empirical analysis of negative costumer reviews on amazon.de the paper shows how differently participation may be used on the social web depending on the communicative situation and purpose. In conflictual contexts dissent appears to be a prefered rhetoric strategy for such messages. It allows the author to express publicly his personal point of view but does not directly stimulate interpersonal cooperation. Keywords: social web, customer review, dissens, participation, interaction
1. E inleitung Die Verwendung neuer medialer Träger für sprachliche Äußerungen bedeutet für die Kommunikationsteilnehmer, dass sie mit veränderten Kommunikationsbedingungen umgehen müssen, aber gleichzeitig auch neue Ausdrucksmöglichkeiten kommunikativ einsetzen können, um ihre kommunikativen Bedürfnisse zu erfüllen. (Frank-Job 2010: 43)
Mit dem Web 2.0 ergeben sich neue Wege der Kommunikation und Interaktion in unterschiedlichen Aktionsräumen. Einer dieser Räume einer alternativen Öffentlichkeit ist die Kundenrezension von Waren und Dienstleistungen, die von Onlinehändlern und ‑dienstleistern als wichtiger Bestandteil der Kundenbeziehung behandelt wird. Kundenrezensionen eröffnen, neben den eher neutralen und standardisierten Produktinformationen, eine Ebene subjektiver und personalisierter, öffentlicher Meinungsäußerung. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach dem Beitrag der Rezension von Laienkommentatoren zur Entwicklung der Meinungsbildung und eines neuen öffentlichen Diskurses. In den eröffneten sozialen Interaktionsräumen erweist sich Dissens als bevorzugtes Verfahren der Kommunikation online, um öffentlich negative Empfindungen oder abweichende Standpunkte zu bekunden (vgl.
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Lethi 2012). Ziel der hier dargestellten, empirischen Analyse ist es, anhand des Ausdrucks von Dissens zu ergründen, welche Interaktionsmöglichkeiten sich für die Leserrezension ergeben und wie sie in einer Konstellation, in der sich private und kommerzielle Interessen gegenüberstehen, von den Rezensenten gemeinschaftsbildend benutzt werden. Die Untersuchung stützt sich auf 242 mit nur einem Stern (d.h. negativ) bewertete Kundenrezensionen der deutschen Übersetzung des Bestsellers von Jonas Jonasson: Hunddraåringen som klev ut genom fönstret och försvann, ›Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand‹, die bis zum Stichtag 31. Juli 2014 auf amazon veröffentlicht wurden. Der Werbetext von amazon.de sagt zum Inhalt des Romans: Jonas Jonasson erzählt in seinem Bestseller von einer urkomischen Flucht und zugleich die irrwitzige Lebensgeschichte eines eigensinnigen Mannes, der sich zwar nicht für Politik interessiert, aber trotzdem irgendwie immer in die großen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts verwickelt war. (amazon, 31. Juli 2014)
Bis zum Stichtag wurden 3009 Rezensionen abgegeben, davon 2007 mit 5 Sternen als bestmögliche Bewertung. Kritiker sind hier also mit einer erdrückenden Überzahl von Bewunderern des Romans konfrontiert. Die Analyse der negativen Rezensionen zeigt, dass sich die Kommentatoren zur Begründung ihres Standpunkts weder auf Persuasion noch auf Polemik stützen, sondern auf Dissens als gesichtswahrendes rhetorisches Verfahren. Dessen sprachliche Konkretisierungen und Interaktionsmodi sollen beschrieben werden.
2. U ntersuchungsr ahmen 2.1 Der Ansatz Es wird davon ausgegangen, dass »außersprachliche Faktoren nicht einfach aus der Analyse ausgeblendet werden (dürfen)«, da sprachliche Äußerungen nicht unabhängig von sozialen und außersprachlichen Entwicklungen vollzogen werden, dass aber andererseits, die linguistische Analyse der Textoberfläche einen Zugang zu den unterliegenden Sprachhandlungen und den entsprechenden Diskursgegenständen ermöglicht. »Die sprachlichen Phänomene stellen den Zugriff auf die tiefenstrukurelle/tiefensemantische Ebene von Diskursen dar. Sie geben Aufschluss über die Objektivationen, Subjektivationen und außerdiskursive Praktiken.« (Spieß 2012: 84). Die sprachlichen Konkretisierungen von Dissens in der konfrontativen Leserrezension sollten daher einen Zugang zu den durch Medialität und sozio-kulturellen Kontext entstehenden neuen Kommunikationsformen ermöglichen.
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2.2 Dissens Der aus der juristischen Sprache entlehnte Begriff Dissens wird in der Gesprächsanalyse uneinheitlich verwendet. Pędzisz (2010: 54) führt aus: Im linguistischen Diskurs wird Dissens unterschiedlich bezeichnet und definiert: Interaktionsstörungen (Kallmeyer 1979), konfliktäres Gespräch (Schank 1981, 1987), Gesprächskrise (Bliesener 1984), Streitgespräch (Schwitalla 1985, 1987), konfliktäre Interaktion (Schank 1987), Konfliktgespräch (Rehbock 1987), Dissensgespräch (Brinker/Sager 2001), dissente Aktivitäten/Sequenzen (Steiger 2005: 1).
Unter Dissens wird im Folgenden die Weigerung eines Kommunikators verstanden, sich der allgemein vertretenen Meinung anzuschließen, ohne sich beim Vertreten des persönlichen Standpunkts auf eine polemische oder argumentative Konfrontation einzulassen. Das angestrebte Ziel ist, die Zuspitzung der konfliktuellen Situation zu vermeiden und eventuell sogar, durch Face-saving-Handlungen, eine gemeinschaftsbildende Interaktion und einen Teilkonsens zumindest mit kritischen Rednern zu erreichen. Da nach Eemeren/Houtlosser (2004) alle Sprechakte einer argumentativen Intervention zur Lösung eines Meinungskonflikts beitragen: »Tous les actes de langage accomplis dans un discours argumentatif peuvent être reconstruits comme participant d’un processus de résolution d’un conflit d’opinions« (Eemeren/Houtlosser 2004: 68), wird Dissens als Makrosprechakt betrachtet, der sich je nach verfolgtem Ziel unterschiedlicher Sprechakte bedient, die an der Textoberfläche durch unterschiedliche Marker abzulesen sind: »des mots, des expressions ou d’autres marqueurs susceptibles de permettre l’identification des types d’arguments et des relations qu’ils entretiennent entre eux dans le processus de résolution d’un conflit d’opinions« (Eemeren/Houtlosser ebd.). Es fragt sich, welche Handlungsräume sich der Rezension online im Vergleich zum generischen Text anbieten.
3. K ommunik ationskonstell ation der B uchrezension online Im Duden wird die Rezension offline als »kritische Besprechung eines Buches, einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, künstlerischen Darbietung o.Ä., bes. in einer Zeitung und Zeitschrift« definiert.1 Es handelt sich um einen meinungsbetonten informativen Text (Lüger 1995: 126-139), der reaktiv auf Vorausgegangenes Bezug nimmt. Es ist der unidirektionale Text eines sachkun1 | www.duden.de/node/728327/revisions/1380602/view [10.10.2017].
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digen Autors einer Zeitschrift, der durch Sachinformation und textbezogene Analyse dem Leser dazu verhelfen soll, sich eine eigene Meinung zu bilden. Mit dem Web 2.0 (Fraas 2013) wird es jedem möglich, seine Kritik ungehindert zu artikulieren. Die Rezension eröffnet sich somit ungeübten und Amateurkritikern, die das Bedürfnis haben, ihre private Meinung mitzuteilen oder, wie bei amazon, aufgefordert werden, eine Bewertung nach eigenem Empfinden abzugeben (Hammer 2016: 143f.). Die Termini Leser- bzw. Kundenrezension bei amazon weisen auf die sogenannte Demokratisierung der Rezension (Legallois/Poudat 2008; Bachmann-Stein/Stein 2014) hin. Es geht nicht mehr darum, zu begründen und qualifiziert zu besprechen, sondern aus dem Gefühl heraus zu berichten. Die neue Konstellation führt somit zur Entwicklung einer Kommunikationsform, die sich durch Dialogisierung, Subjektivierung und Narrativierung charakterisiert.
3.1 Dialogisierung Der Onlineshop amazon.de fordert seine Kunden, i.a. per E‑Mail auf, die gekauften Waren zu bewerten. Im Fall eines Buches geschieht dies durch die Beantwortung der impliziten Frage »Hat Ihnen das Buch gefallen?« auf der Produktseite des Buches. Die Antwort besteht aus einer Bewertung auf einer Skala von fünf bis einem Stern und möglichst einer Erläuterung der Bewertung in Form einer Rezension. Damit stellt die Rezension den zweiten Schritt einer virtuellen Interaktion mit dem Anbieter dar, durch ihre Veröffentlichung online zugleich aber auch ein Interaktionsangebot an potentielle Leser und Kunden der Produktseite, die mit der Frage »War diese Rezension für sie hilfreich?« aufgefordert werden, selbst als Kommentator der Rezension aktiv zu werden. Die so entstehende gesprächsähnliche Situation kann auf Grund der Veröffentlichung im Kontext der Rezension immer weiter fortgeführt werden. Hauptadressaten des Kommentars sind potentielle Kunden, Ratsuchende, Neugierige und auch die Gruppe der kritischen Vorredner. Wie im Leserbrief ist der Ausdruck von Dissens zugleich Kritik und »Suche nach Zustimmung, emotionaler Entlastung und Herstellung eines Integrationsgefühls« (Fix 2012: 141).
3.2 Subjektivierung Aus der Sicht des Rezensenten wird von ihm auf die Frage des Anbieters eine Perspektivierung (Sandig 1996, 2001; Skirl 2012: 343) erwartet, d.h. eine subjektive Bewertung nach eigenen ästhetischen Empfindungen und kein Urteil über die Qualität des Werkes nach künstlerisch anerkannten Normen. Das subjektive Empfinden wird somit als Hauptdiskursobjekt festgelegt. Ein wichtiger Bewertungsmaßstab ist die Unterhaltsamkeit nach dem Motto: Bücher
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sollten den Leser schon irgendwie berühren oder fesseln (A. Herden 13. September 2013). Damit entfernt sich die Leserrezension von der tradierten, fachlichen Rezension. Da außerdem sachkundige Hintergrundinformationen über Buch und Autor bei amazon.de und anderen Quellen im Netz vorliegen, erweitert sich der Handlungsraum des Rezensenten für subjektive Bewertungen und den Auf bau des eigenen Ethos: [1] Über den Inhalt des Buches brauche ich mich nicht mehr auszulassen, das wird in den meisten anderen Rezensionen ausgiebig abgehandelt. (Manfred Huber 12. Juli 2013)
3.3 Narrativierung Dialogisierung und Subjektivierung gehen mit einer Narrativierung einher, d.h. einer erzählerischen Kommunikationsform, wie man sie von der rezeptionsbegleitenden Berichterstattung in Radio oder Fernseh-Kommentaren (Klemm 2001) und Erlebnisberichten von tweets (Androutsopoulos 2015: 2359) kennt. Der Rezensent teilt seine Emotionen und Bewertungen im Laufe der Lektüre mit. Statt Begründungsverfahren werden Erzählhandlungen eingesetzt, Berichte über persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die zugleich der Selbstdarstellung und der Appellativität dienen. »Die kommunikativen Muster, an denen sich die Interaktanten orientieren, sind daher nicht der schriftlichen Distanzsprache entnommen, sondern der alltäglichen, mündlichen Face-to-Face-Kommunikation.« (Frank-Job 2010: 38) Sachlichen und deduktiven Strategien werden Interaktionsverfahren der Konversationalisierung vorgezogen: [2] Schlecht, schlecht, schlecht! Meine Güte, wer denkt sich denn so etwas aus? Dieses Buch macht vielleicht 10 Seiten lang ein wenig Spaß, dann fragt man sich nur noch was das soll. Und nun schreibt der Autor auch noch an seinem 2. Buch! Bitte nicht, eins von dieser Sorte reicht! (Christel Hüttenhof »Aubergleser« 19. März 2012)
Die Leserrezension ist zugleich eine reaktive, emotionale Antwort auf Fragen des Anbieters und die Beiträge der vorherigen Kommentatoren und ein Gesprächsangebot an potentielle Leser und Kommentatoren. Auf Grund der partizipativen Möglichkeiten des Mediums und der laufenden Veröffentlichung der Leserrezensionen online kann jeder Interaktionsteilnehmer in die sich entwickelnde Interaktion eingreifen, abwechselnd in der Rolle des Kommentators und des Rezipienten. Wie der Dissens sich in den unterschiedlichen Sprechakten auf Textebene konkretisiert und wie sich die Leserrezension in die Medienlandschaft einordnen lässt, soll die empirische Analyse zeigen.
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4. H andlungsfelder der L eserrezension Anhand der von Klemm (2001: 84-114) für fernsehbegleitende Beiträge entwickelten handlungsanalytischen Typologie wird versucht, die Handlungsräume der Leserrezension näher zu beschreiben. Klemm (ebd.) unterscheidet sieben Handlungsfelder als Bündel unterschiedlicher, aber funktional-ähnlicher Sprachhandlungen: Organisieren, Verarbeiten, Bewerten, Deuten, Übertragen und Einordnen, Verständnissichern und Vergnügen, von denen für die Rezension neben Organisieren, Bewerten und Deuten die unterstützenden Verfahren Verarbeiten (im Folgenden als Vorstellen) relevant sind. Das Verständnissichern wird von amazon.de und anderen Informationshinweisen übernommen. Vergnügen bereiten gehört nicht direkt zu den Textfunktionen der Rezension, wenn sie auch ironisch gefärbt sein kann. Das Handlungsfeld Einordnen zur literarischen Qualifikation des Buches ist im Korpus nur sporadisch vertreten.
4.1 Vorstellen Zum Handlungsfeld Verarbeiten bzw. Vorstellen gehören Sprachhandlungen, welche einleitend die Kompetenz des Rezensenten für einen Dissens sichern sollen. Da er im Gegensatz zum offline-Rezensenten keinen Expertenstatus beanspruchen kann, muss er ein positives Bild von sich auf bauen. So fängt sein Beitrag mit einer Selbstvorstellungshandlung und zugleich einer Entlastungshandlung an. Der Rezensent gibt sich als großer Leser und Kenner der Literatur, der aber oder leider als kompetenter Rezensent die mehrheitliche Meinung nicht teilt: [3a] Ich habe in meinem Leben wirklich schon sehr viele Bücher gelesen, aber […] (lasa 29. Juli 2014) [3b] […] nachdem der Roman wochenlang in der Bestsellerliste ganz oben stand, war meine Neugier geweckt und ich kaufte dieses Buch. Leider wurde ich enttäuscht. (Amazon Customer 23. Februar 2014)
Um seine Glaubwürdigkeit trotz schlechter Buchauswahl zu behaupten, greift er zu Entlastungshandlungen. Er beruft sich auf die Empfehlung von Kritikern, Medien, Anbietern, Bekannten oder Familienmitgliedern nach direkter bzw. indirekter Interaktion: [4a] Ich habe das Buch von meiner Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen, die es aufgrund von Rezensionen und Empfehlungen von Bekannten gekauft hat. (Manfred Huber 6. Dezember 2013)
Formen der Par tizipation online [4b] Mir wurde das Buch von einer Freundin empfohlen. […] »Das Buch musst Du lesen – Dir als Geschichtsfan wird es bestimmt gefallen!«. […] Soviel zu meinen Erwartungen. Tatsächlich wurde ich bitter enttäuscht. (Klaus 4. Dezember 2014)
Mit Vorstellungs- und Entlastungshandlungen versucht hier der Kommentator seine Interaktionspartner, Vorgänger wie potentielle Leser in seine emotionale Sphäre empathisch einzubeziehen. Näheverfahren der Konversationalisierung wie narrativ-deskriptive Digressionen, d.h. zusätzliche Einzelheiten, die mit der eigentlichen Buchbesprechung nur am Rande zu tun haben, machen es deutlich: [5] Nach der allgemeinen Begeisterung habe ich mir das Buch für eine lange Bahnfahrt gekauft. Im Zug sprach mich sogar jemand an und meinte, das sei ein tolles Buch, er habe es auch gelesen. (Gitta 27. September 2013)
Auch bei ironischer Kritik wird bei Dissens ein direkter, persönlicher Angriff vermieden: [6] Was wurde mir dieses Buch angepriesen! So lustig, so ein netter witziger Stil, so viel Situationskomik, so ein sympathischer Lebenskünstler als Held! (Mama Cosmos 26. November 2013)
Es wird deutlich, dass Diskrepanz zwischen Erwartung und Empfindung als Maßstab für das kritische Bewerten gilt.
4.2 Organisieren Vom Informationsbeitrag entlastet, verfügt der Rezensent über einen breiten Gestaltungsspielraum zur Perspektivierung. Dazu setzt er deklarative, induktive und narrative Handlungsverfahren ein, die sich in unterschiedlichen Textstrukturen konkretisieren. Zu den deklarativen Verfahren gehören subjektive, kritische Bewertungen, die auf die Frage des Anbieters antwortend nur die Diskrepanz zwischen Erwartung und Befund thematisieren und dementsprechend aus wenigen Sätzen bestehen: Der Interaktionskreis beschränkt sich damit im Wesentlichen auf Anbieter und Rezensenten. Induktive und narrative Handlungsverfahren sind interaktionsoffener. Der Autor einer induktiven Leserrezension beantwortet zunächst die Frage des Anbieters und begründet dann seine Kritik für den potentiellen Leser und interessierten Kommentator als Hauptadressaten durch meinungsstützende Beispiele und eine eventuelle Wiederholung seiner Meinung am Beitragsende. Ein Beispiel:
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Françoise Hammer [7] Ich lese gern und ich lese viel. Aber so einen hochkarätigen Schwachsinn habe ich bislang noch nie in den Händen gehalten. […] Ich hätte keinen Stern vergeben, wenn es möglich gewesen wäre. […]. So eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte mit nervigen Gags, die schon Absätze vorher vorhersehbar sind, und mit dermaßen stilistischen Fehlern. Ein Beispiel: […] Und noch ein Beispiel, […] ABSOLUT NICHT EMPFEHLENSWERT!!!!! (Jagsthausen 21. November 2012)
Im Gegensatz zum statischen Verfahren induktiver Rezensionen bedient sich der Autor der narrativen Rezension einer dynamischen Strategie, indem er den Leser progressiv, über lektürebegleitende Einzelbewertungen zu seiner globalen Ablehnung führt: [8a] Die ersten 150 Seiten fand ich noch ganz unterhaltsam, auch wenn mich da schon die ganzen Wiederholungen von Wörtern und Wortgruppen ziemlich genervt haben. […] Bis Seite 200 fing ich dann an, Absätze zu überspringen, weil sie detailreich und vollkommen unwichtig waren. […] War die Geschichte eigentlich schon recht schnell ziemlich abstrus, wurde es nach und nach so dämlich, dass ich mich einfach mehr durchringen konnte, das Buch zu Ende zu lesen bzw. durchzublättern. Ich übersprang letztlich ganze Seiten und Kapitels […] Die Hauptfigur wurde mir zudem auch immer unsympathischer, je mehr Geschichten aus der Vergangenheit erzählt wurden. Letztlich war es mir vollkommen gleich, wie das Buch weiter- und ausging. Schade ums Geld! (Meli 22. August 2014) [8b] Trotz so vieler positiver Rezensionen fällt mein Urteil leider negativ aus. Das Buch hat mir gar nicht gefallen. Ab etwa 30 % habe ich schon geschielt, ob es denn noch recht viel zu lesen ist, und ab 40 % bin ich richtig wütend geworden über die abstruse Geschichte. Mein Fazit in einem Satz auf bayrisch: A recht a Kaas. (Was für ein Käse). (LilithsTochter 15. Februar 2012)
Die rezipientenorientierte Organisation induktiver und narrativer Rezensionen sind Interaktionsangebote an den breiten Kreis potentieller Leser und Vorredner, in die Diskussion einzugreifen. Dazu könnte sie die zweite Frage des Anbieters: »War diese Rezension für Sie hilfreich?« veranlassen. Von den zahlreichen Bejahungen durch Tastenklick werden nur ca. 6.5 % von einem Kommentar gefolgt. Ähnlich wie bei Twitter scheint sich aus der Interaktionskonfiguration keine interessengeleitete Kommunikationsgemeinschaft herauszubilden (Autenrieth/Herwig 2011: 230). Von den Anwendungsmöglichkeiten des Web 2.0, wie Informationsaustausch, Kollaboration und Herstellung von Beziehungen, scheint der Austausch von Informationen die Hauptrolle zu spielen. Im Vordergrund steht die Mitteilung des subjektiven Empfindens des Schreibers.
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4.3 Bewerten Maßstab der Bewertung ist vorwiegend die Erfüllung der Erwartungen des Rezensenten und weniger, wie generisch, üblich die literarische Qualität. Seinen Standpunkt vertritt der Rezensent in einer virtuellen Interaktion mit den unterschiedlichsten Adressaten: Anbieter, Autor, Kritikern, die das Buch zum Bestseller gemacht haben, und seiner persönlichen Umgebung. Je nach Sprecher und Grad der Enttäuschung unterscheiden sich die Beurteilungen in Stil und Intensität. Einige Belege: [9a] Hat mir nicht einmal ein mattes Grinsen entlockt. (Harald Meyer 23. Dezember 2011) [9b] SEHR leichte Kost. (Andale 14. Juni 2012) [9c] […] bescheuerte, unrealistische Geschichte. (Bridget 8. Februar 2014) [9d] […] ein völlig überschätztes Buch. (Michael Gschaider 9. Dezember 2013)
Dass die Kritik interaktions- und konsensorientiert ist, zeigen gesichtswahrende und Empathie suchende Sprachhandlungen des Bedauerns wie: [10] Sorry, aber mit diesem Hype um dieses Buch gehe ich nicht mit. tut mir leid, aber bei aller Liebe, ich lese das Buch nicht bis zum Schluß. (Pitt-holly 2. Januar 2014)
Obwohl Bewertungshandlungen Interaktionen mit den involvierten Gesprächsteilnehmern ermöglichen würden, scheint sich unter den Rezensenten keine Gemeinschaft zu bilden. Nur wenige Rezensenten nehmen Bezug auf schon vorliegende Bewertungen, wie im folgenden Beitrag: [11] In vorangegangenen Rezensionen wird der Roman oft mit »Forrest Gump« verglichen. Dazu muss ich aber sagen, dass Forrest Gump im Gegensatz zu dem »Hundertjährigen« viel Herz und Gefühl besitzt und die jeweiligen historischen Persönlichkeiten wie z.B. Präsident Kennedy nur immer sehr kurz in die Geschichte eingebunden werden. (Beyerchen 28. September 2014)
4.4 Deuten Zum Handlungsfeld Deutung gehören, neben den eigentlichen, kritischen Deutungshandlungen, konsensorientierte Ratgeberhandlungen, Interrogativhandlungen und Relativisierungshandlungen, die darauf hinzielen, die Interaktion offen zu halten.
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4.4.1 Deutungshandlungen Deutungshandlungen als abschließenden Handlungen sind stark emotional gefärbt. Das Spektrum der Gefühlsäußerungen geht von Resignation, Bedauern, Enttäuschung oder Ärger bis zur Wut. Implizit intendierte Adressaten sind dabei vor allem potentielle Leser, Vorredner oder der Rezensent selbst. Dazu einige Formulierungen: Resignation mit/ohne Verhaltensfolgerungen: [12a] Facit total langweilig. (Maxal 7. Februar 2014) [12b] Schade um die verlorene Zeit. (Flueschen »Antje« 11. März 2014)
Bedauern und Enttäuschung: [13a] Für mich verschwendete Zeit […] (serafinella 19. April 2014) [13b] Ich bin sehr enttäuscht über dieses Erstlingswerk. (Gigestu 31. März 2014) [13c] Wenn ich das gewusst hätte, wäre meine Wahl bestimmt nicht auf dieses Buch gefallen. (XYZ 19. September 2012)
Ärger und Wut: [14a] ich ärgere mich das buch gekauft zu haben. (Tippeltappel 21. Juni 2012) [14b] A recht a Kaas. (Was für ein Käse). (Liliths Tochter 15. Februar 2012) [14c] Man hätte es sich denken können: Spiegel-Bestseller und Dennis Scheck lobt. (Roland Alexander 20. April 2012) [14d] Ich habe es zugemacht und in den Müll geworden, da gehört es hin. (Bettina Qu 10. August 2014)
4.4.2 Konsensorientierte Handlungen Auf die Deutungshandlungen folgen mehr oder weniger direkt adressierte konsensorientierte Handlungen. Es sind Ratgeber-, Interrogativ- und Relativierungshandlungen. In Ratgeberhandlungen warnt der Kommentator den Leser der Rezension oft direkt, appellativ vor dem Kauf des Buches: [15a] Herrje…weg damit. (Madeleine G. 23. August 2012)
Formen der Par tizipation online [15b] Lasst die Finger davon! (Inkit 22. August 2012) [15c] Mein Tipp: Auf keinen Fall kaufen. (Farlander 1. Februar 2014) [15d] Ich kann es wirklich nicht empfehlen. (Baumstern 21. April 2013) [15e] Empfehle diese lektüre bei jeder art von schlaflosigkeit. (Gun club 20. September 2013)
Die Leserrezension online übernimmt eine Ratgeberfunktion (Stein 2015), die an eine heterogene Gruppe von unbekannten Lesern adressiert, primär Ausdruck des Ethos des Schreibers bleibt. Interrogativhandlungen, als Ausdruck der Ratlosigkeit des Rezensenten, sind ebenfalls rhetorische Interaktionsangebote an Vorredner, Kritiker und Anbieter: [16a] Ich bin erstaunt darüber, dass dieses Buch soweit oben auf den Bestellerlisten steht. Liegt es an dem originellen Titel oder ist es einfach nur geschickt beworben worden? (Hildegard 2. Februar 2012) [16b] Warum lobt alle Welt dieses kindische Buch? (Buchfink »Frieder« 2. November 2012) [16c] Hochgelobt als beliebtestes Buch des Jahres, sollte das eine Provokation sein? (Birgit Koebnik 15. Dezember 2012) [16d] Kann man wirklich nicht 0 Sterne vergeben? (rittertugenden »diana« 7. September 2012)
Eine ähnliche Funktion haben die Relativierungshandlungen, mit denen der kritische Rezensent an die potentiellen Leser appelliert, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Der Rezensent legt seinen Standpunkt dar, versucht aber nicht, durch starkes Engagement zu überzeugen. Dazu zwei Beispiele: [17a] Demnach kann ich es nicht empfehlen. Aber ich denke, da muss sich jeder sein eigenes Bild machen. Denn anscheinend gibt es Leute, die es total toll finden – aber das ist dann wirklich Geschmacksache! Aber bilden Sie sich bitte selber Ihre Meinung! (Franziska 23. Dezember 2014) [17b] Fazit. Ich denke insbesondere beim Thema Humor scheiden sich die Geister. […] Ich kann Ihnen wirklich empfehlen, sich vor dem Kauf in einer Buchhandlung die ersten drei Kapitel durchzulesen. Wenn Ihnen gefällt, was Sie lesen, dann greifen Sie zu. Wenn
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Françoise Hammer nicht, sollten Sie es definitiv bleiben lassen, denn besser wird es in dessen Verlauf nicht werden. (Klaus 14. April 2014)
Die Untersuchung der Deutungshandlungen zeigt, wie Dissens Kritik gesichtswahrend und ohne starkes Engagement ermöglicht. Oft direkt angeredet, sind die Adressaten potentielle Leser, denen der Kommentator anbietet, zu seiner persönlichen Meinung selbst Stellung zu beziehen. Das Interaktionsangebot an unterschiedliche Adressaten mit unterschiedlichen Standpunkten und Interessen kann schwerlich zum Auf bau von Beziehungen und Kollaboration führen. Es werden nur Meinungen gegen Meinungen ausgetauscht. Die relativ geringe Anzahl der Kommentare zur Rezensionen verdeutlicht, dass die Leserrezensionen nicht unbedingt eine Interaktion anregen. Sie bleiben weitgehend autonome Beiträge. Leserrezensionen, wie auch manche andere Kundenkommentare online, dienen vorrangig zur Mitteilung persönlicher Einstellungen gegenüber einer breiten Öffentlichkeit.
5. Partizipative H andlungsr äume Partizipative Möglichkeiten des Web 2.0 werden nur von einer geringen Zahl von Lesern wahrgenommen, die auf die zweite Frage des Anbieters: »War diese Rezension für Sie hilfreich?« (siehe oben) mit einem eigenen Kommentar antworten. Es entwickelt sich dann eine gesprächsähnliche Interaktion zwischen einzelnen Teilnehmern, dem Rezensenten und seinen Kommentatoren wie auch zwischen den Kommentatoren. Thematisch verschiebt sich dabei der Fokus von der Buchkritik zur Kritik der Buchrezension und ihres Autors. Die Identifikation der Adressaten ermöglicht eine versetzte, persönliche Interaktion mit thematischer Eingrenzung. Bezeichnend für die neue kommunikative Konstellation und ihren partizipativen Charakter ist die direkte Anrede der Gesprächspartner, manchmal sogar mit Du oder eigenen Namen, die Verwendung des Plaudertons der Konversation und die Annäherung an Kurzformulierungen wie in SMS und anderen Kurzmeldungen. Gelegentlich werden auch Smilies eingesetzt. Zur Gruppe der Kommentatoren gehören Leser wie auch Rezensenten, die das Bedürfnis empfinden, ihre Zustimmung mit der vertretenen Meinung des Rezensenten oder deren Ablehnung mitzuteilen: [18a] Leider hast Du unglaublich recht. Ich habe mein (selbstgekauftes) Buch am Urlaubspool liegen lassen. Allerdings mit der Empfehlung, es nicht zu lesen. Ich hoffe damit niemanden seinen wohlverdienten Urlaub gestört zu haben. (Friedrich aus Frankfurt → Hans-Joachim Meiborn 2. November 2012)
Formen der Par tizipation online [18b] Ich finde das Buch bisher sehr spannend und lustig geschrieben! Man reist förmlich mit in die Vergangenheit und den exotischen Orten! Schade, dass Ihnen das Buch nicht zusagt! (B.B → Bonner Bücherschrank 2. April 2012)
Es wird aus der Rezension zitiert und nach Erklärungen gefragt: [19a] »Kinderbuchniveau« – das ist das Stichwort. […] Sprachlich auf höchst bescheidenem Niveau (zumindest in der deutschen Übersetzung). Ist dieser dürftige Stil normal in der aktuellen Literatur? […] die Geschichten sind wie »mit der Kettensäge aus dem Vollen gefräst«. (Helmut Schreiner → zweizwoeinsheinz 21. Juli 2012) [19b] Aber warum, Frau Zimmermann, sollte man Kindern schlechte Lesekost geben? Um ihre Urteilsfähigkeit für gute bzw. schlechte Literatur zu schärfen?? (Chachas → Inès Zimermann 8. Mai 2013)
Es kommt mehrfach im untersuchten Korpus zur Polemik und zum persönlichen Angriff auf den Rezensenten, sei es wegen seiner persönlichen Ansicht oder seines Beurteilungsstils, woraus heftige Interaktionen entstehen: [20a] Es ist das Eine, ein Buch nicht zu mögen, aber deswegen gleich alle anderen, denen es nicht so geht, über einen Kamm zu scheren und ihnen ein schlichtes Gemüt zu unterstellen, ist echt eine Frechheit. (M. Glatz → Lesch Uli 10. August 2012) [20b] Spiegelleser sind wohl nicht die hellsten oder demokratischsten Köpfe, wah? Haben sie noch alle Tassen im Schrank, den Autor dieser Rezension für seine freie Meinung herabzusetzen und ihn zu beleidigen? (Der Saal → Tysan 10. Mai 2012) [20c] Und nun zu ihnen, liebe »Alfa Fähe«. Sie kann man wirklich nicht ernst nehmen. Zu meiner durchaus streitbaren Rezension haben sie zwei absolut niveaulose Kommentare geschrieben, in welchen sie mit erhobenem Zeigefinger auf mich eingeprügelt und mich als eine krankhaft depressive Person dargestellt haben – wegen einer Rezension!!! Und ihre oberlehrerhafte kleinkarierte Art war ihnen im Nachhinein wohl selbst peinlich, sonst hätten sie ihre beiden niveaulosen Kommentare ja nicht – wie jeder sehen kann – nachträglich gelöscht. […] Aber was sie jetzt abliefern, ist an Dreistigkeit und Feigheit nicht zu überbieten. Zuerst schnell den eigenen »Schmarrn«, den man verzapft hat, ausradieren, um dann wieder erneut schlau daherreden zu können. Schämen sie sich. Obwohl, sie müssen sich ja gar nicht schämen, weil sie ihren neuerlichen Kommentar wahrscheinlich eh wieder löschen, wenn er nicht zu den für sie gewünschten Reaktionen führt. (Ederer → … Alfa Fähe → Ederer 1. November 2011)
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Darüber hinaus entstehen ebenfalls Interaktionen zwischen den Kommentatoren, die auch polemisch werden können. [21a] Nani, Du bist wohl noch zu jung, um die Großartigkeit dieses Buches und seinen Humor zu verstehen. Lies es in 20 Jahren nochmal, dann wirst Du es vielleicht auch als eins der wunderbarsten Bücher empfinden, die je geschrieben wurden! (Asterix → Nani 4. Juli 2012) [21b] Ich weiss zwar nicht, was christlich damit zu tun hat, aber Ihre Worte entspringen einem klaren Klassenkampfdenken, und das sollten wir ueberwunden haben. Suchen Sie sich eine andere Plattform fuer Gleichgesinnte, wenn Sie Kritik nicht vertragen koennen. Eben, die Gedanken sind frei, und das gilt auch fuer die Auesserungen des Autors des Romans. (A. Fischer → Freidenker 12. Juli 2012)
Sei es aus Höflichkeit oder dem Unwillen, sich in eine weitere Diskussion einzulassen, werden auch hier mehrheitlich Dissensverfahren eingesetzt, die oft mit einer konsenssuchenden Aussage abgeschlossen werden: [22a] Schade, dass Ihnen das Buch nicht zusagt! (B.B → Bonner Bücherschrank 2. April 2012) [22b] Nun hoffe ich, daß andere mehr Freude an diesem Buch haben. (Jangi 10. Juni 2012) [22c] Vielleicht kann man es als Hörbuch, gelesen von Otto Sander, besser genießen? (mandisandy → ramona siegle 31. Juli 2014) [22d] Aber wie gesagt, Humor ist nicht gleich Humor, es muss passen. (Raso → sopra 19. September 2012)
Der Kommentator scheint weniger an einer Weiterführung der Interaktion als der Mitteilung und Behauptung seiner Auffassung interessiert. Es klaffen die Interessen und die persönlichen Ansätze zu weit auseinander, als dass sich Gemeinschaften bildeten, soweit man es aus den Kommentaren bei amazon. de ersehen kann. [23] Wer diesem Buch nur einen Stern gibt, hat es entweder nicht gelesen oder, und da wette ich bei dieser Rezension darauf, will nur eins: sich wichtig machen. Mich ärgert das. Und da ich mit Wichtigtuern nicht meine Zeit verschwenden mag, werde ich die hier posten – und mich allenfalls über die Zustimmung Dritter freuen, sicher aber nicht mit dem Herrn oder der Frau Tysan diskutieren. (Pauli Brandt → Tysan 10. Mai 2012)
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6. S chlussbemerkung Die Handlungskategorien von Klemm (2001) ermöglichen eine differenzierte Beschreibung der Leserrezension und ihrer Interaktionsräume. Auf Grund der Zweckbestimmung des Mediums Produktrezension wird hier eine öffentliche Meinungsäußerung über den Grad der Zufriedenheit mit einem Produkt (dem Buch) erwartet, die dem Leser aus der Sicht des Verkäufers bei seiner Kaufentscheidung helfen soll. Eine Interaktion mit dem Leser der Rezension ist nicht intendiert. Das partizipative Potential des Mediums wird im Wesentlichen zum erweiterten Informationsaustausch und zur Selbstinszenierung ausgenützt. Die Leserrezension auf amazon.de bleibt zunächst eine autonome und monologische Mitteilung, die aber auf Grund der technischen Möglichkeiten des Web zum Ausgangspunkt einer Interaktionskette werden kann. Die damit entstandene alternative Öffentlichkeit der Laienrezensenten hat sich zu einer eigenständigen Informationsquelle für den Kunden entwickelt, die den Produktinformationen des Verkäufers und den professionellen Rezensionen gegenübersteht und eine neue Grundlage für die Meinungsbildung bereitstellt.
L iter atur Androutsopoulos, Jannis (2015): Zuschauer-Engagement auf Twitter: Handlungskategorien der rezeptionsbegleitenden Kommunikation am Beispiel von Tatort. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 62, 1, S. 23-61. Autenrieth, Ulla P./Herwig, Jana (2011): Zwischen begrenzten Mitteln und komplexen Strukturen: gemeinschaftsorientierte Kommunikation und Interaktion auf Microblogging-Plattformen am Beispiel Twitter. In: Neumann-Braun, Klaus/Autenrieth, Ulla P. (Hg.): Freundschaft und Gemeinschaft im Social Web. Baden-Baden, S. 211-231. Bachmann-Stein, Andrea/Stein, Stephan (2009): Demokratisierung der Literaturkritik im World Wide Web? Zum Wandel kommunikativer Praktiken am Beispiel von Laienrezensionen. In: Hauser, Stephan/Kleinberger, Ulla/ Roth, Christine/Kersten, Sven (Hg.): Musterwandel – Sortenwandel. Aktuelle Tendenzen der diachronischen Text(sorten)linguistik. Bern, S. 80-120. Becker, Barbara (2004): Selbst-Inszenierung im Netz. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München, S. 413-429. Ebersbach, Anja/Glaser, Markus/Heigl, Richard (2011): Social Web. Konstanz. Eemeren, Frans van/Houtlosser, Peter (2004): Une vue synoptique de l’approche pragma-dialectique. In: Doury, Marianne/Moirand, Sophie (Hg.): L’argumentation aujourd’hui. Paris, S. 45-77.
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Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren zum Terroranschlag in Nizza im Juli 2016 Roman Opiłowski In alternative public spheres participants comment on political, societala increasingly important actor in decision-making processes influencing even the course of real processes in almost all living spaces. This article focuses on a recent event – the terrorist attack in Nice, France, on July 14, 2016, which received many comments in social media. Taking the discursive, multimodal and contrastive perspective, it analyses thematic fields that are created in the German and Polish online-public sphere in Facebook profile of two leading news magazines Der Spiegel and Polityka. Hence, the convergent as well as divergent thematic fields in the German and Polish comments will be identified and explored. Keywords: online communication, online community, user comments, multimodality
1. E inleitung in die P roblematik von Ö ffentlichkeit Da ›Öffentlichkeit‹ ein eingebürgerter Terminus und von der sozio-kulturellen Seite in seinen Grundrissen definierbar ist, seien im ersten Kapitel einige zusammenfassende Anmerkungen gemacht. Dabei wird Öffentlichkeit im Allgemeinen vor dem Hintergrund der Öffentlichkeit in der internetbasierten Kommunikation diskutiert. Im Weiteren wird die diskursive, multimodale und soziale Struktur von Online-Kommentaren in sozialen Medien behandelt, in denen die sprachlich-multimodalen Kommunikationshandlungen von deutschen und polnischen Internetnutzern verfolgt werden. Im Hauptteil dieses Beitrags wird auf die Frage eingegangen, welche thematischen Gebiete deutsche und polnische Internetnutzer im Laufe des Kommentierens eines europaund weltweit relevanten Ereignisses bilden. Die thematischen Felder sind ein Bestandteil des diskursiv entstehenden und multimodal geprägten Alltagswissens der interagierenden Internetnutzer. Um gemeinsame und abweichende
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Themenbereiche und die thematische Konstitution des jeweiligen Online-Diskurses zu zeigen, fokussiert der vorliegende Beitrag deutsche und polnische Kommentare zum Anschlag in Nizza vom 14. Juli 2016 auf den Facebook-Seiten der jeweils größten Nachrichtenmagazine in Deutschland und in Polen: Der Spiegel und Polityka. Die Öffentlichkeit ist eine Gesamtheit von Menschen, die sich im Zuge ihrer soziokulturellen Aktivität gewisse Meinungen, Stellungnahmen und generelle Ansichten aneignen, auf eine sprachliche bzw. multimodale Weise ausdrücken und im kommunikativen Handeln an andere Teilnehmer einer Gemeinschaft in einem medialen Kanal weiterleiten (vgl. Gerdhards/Neidhardt 1990: 15ff., Neidhardt 1994: 8ff.). Folgende Grundmerkmale der Öffentlichkeit lassen sich im Einzelnen nach Gerdhards/Neidhardt (1990: 15ff.) unterscheiden: • Öffentlichkeit ist ein spezifisches Kommunikationssystem. • Alle Mitglieder der Gesellschaft nehmen an der Öffentlichkeit teil. • Die Mitglieder der Öffentlichkeit besitzen gleiche Rollenanforderungen: »Öffentliche Kommunikation ist Laienkommunikation. Journalisten, Presse Sprecher, Public-Relations-Profis sind in den Expertenrollen des Öffentlichkeitssystems auf diese Art Kommunikation spezialisiert. Wer die Laienorientierung des Öffentlichkeitssystems nicht beachtet, kommt nicht an.« (Gerhards/Neidhardt 1990: 17). • Die Kommunikation in der Öffentlichkeit konstituiert sich in großem Maße sprachlich und kann auch semiotische Artefakte umfassen: »Bilder können als Informationsträger eingesetzt werden. Kommen und Gehen, Zuwenden und Abwenden, Klatschen und Pfeifen sind elementare Formen der Mitteilung, auch das Blockieren von Wegen, das Werfen eines Steins oder der Anschlag auf Strommasten.« (Gerhards/Neidhardt 1990: 15). Die bisherige Forschung verfügt über ein Öffentlichkeitsmodell, das auf digital präsente Öffentlichkeiten im Web 2.0 übertragen und entsprechend interpretiert werden kann (vgl. Marx/Weidacher 2014: 66-71). Vorbildlich gilt hierfür das dreigliedrige Modell von Gerhards/Neidhardt (1990: 20-26), die sog. Encounter-Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit der Versammlung und Öffentlichkeit der Massenmedien unterscheidet.1 Die erste Ebene, die so genannte Encounter-Öffentlichkeit, stellt ein einfaches kommunikatives Interaktionssystem dar: Wenn fremde Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen (z.B. im Aufzug, in der Schlange im Geschäft oder im Bus) in ein relativ kurzes Gespräch kommen. Bezogen auf die Online-Öffentlichkeit betrifft diese Ebene einmalige Beiträge der User in Blogs oder Foren, die wenig bedeutende 1 | Einen Überblick über die genannten Ebenen von Öffentlichkeit bieten auch Fraas/ Meier/Pentzold (2012: 32f.).
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
Themen aufgreifen. Eine zentrale Größe für die zweite Ebene ist die Veranstaltung: Sie sieht bestimmte Personen vor, folgt einem festgelegten Programm und findet zu einem bestimmten Anlass oder Thema statt. Im Unterschied zur Encounter-Öffentlichkeit sind hier eine reguläre Struktur, Vorhersehbarkeit der Mitglieder der Öffentlichkeit und Bindung an ein Leitthema auszeichnende Merkmale für die Öffentlichkeit der Versammlung, die darüber hinaus eine vergleichbare Präsenz in internetbasierten Kommunikationsstrukturen findet. Angemeldete Nutzer (also nicht mehr zufällige) konstruieren und beteiligen sich an einer Veranstaltung, die sich in der Online-Umgebung als soziale Plattform, Blog, Forum etc. verwirklicht, und führen dort Diskussionen zu einem Leitthema (z.B. Mode, Politik, Sport etc.). Spontane und unerwartete Kommunikationsaktivitäten im Sinne der Meinungsäußerung oder sogar des Rollentauschs sind auf dieser Ebene allerdings nicht ausgeschlossen, trotzdem vollziehen sie sich in einem klar strukturierten Rahmen. In der Online-Kommunikation könnte man dafür Beispiele der themenungebunden Beiträge wie Werbeaktionen oder Beleidigungen sowie den Rollenwechsel eines Forumsmitgliedes zum Forumsmoderatoren anführen. Die Öffentlichkeit der Massenmedien präsentiert den wohl am stärksten entwickelten und strukturierten Grad der Öffentlichkeit. Die technische Infrastruktur, die massenmediale Verbreitung, die autoritative Position der Medienorgane als Institutionen gewährleisten eine dauerhafte Ebene für die öffentliche Meinungsäußerung und -bildung. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Medienorgane ist demnach intensiv, aber das »Publikum wird abstrakter (keine Präsenzöffentlichkeit), zudem viel größer in seinen Handlungsmöglichkeiten aber reduzierter« (Gerhards/Neidhardt 1990: 24). Hierbei bieten sich zumindest zwei relevante Anschlussinterpretationen für die Online-Öffentlichkeit an: Zum einen ist die digitale Kommunikationsdomäne mit ihren vielfältigen technischen, immer häufiger mobilen Geräten (Laptop, Tablett-PC, Smartphone etc.) ein autonomer Orte für die Etablierung von Öffentlichkeiten und lässt Öffentlichkeiten auf dieser Ebene der Massenmedien entstehen. Aber die Relevanz der Meinungsbildung scheint bei den institutionellen Öffentlichkeiten mit der von alternativen Öffentlichkeiten in der Anschlusskommunikation zumindest vergleichbar zu sein: Die Bedeutung der Medienöffentlichkeit scheint allmählich zu schrumpfen, Formen der Themen und Versammlungsöffentlichkeit gewinnen qualitativ und quantitativ an Bedeutung, Muster der Öffentlichkeitsentstehung verlaufen vermehrt entlang von Bottom-up-Prozessen. (Hahn/Hohlfeld/Knieper 2015: 12)
Darüber hinaus beobachten wir eine verschränkte Offline- und Online-Kommunikation im Sinne der institutionellen Intermedialität, etwa wenn Twitter-Beiträge von prominenten Politikern in den Fernsehnachrichten zitiert
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werden oder wenn umgekehrt Fragmente von Fernsehnachrichten in den Profilseiten einer Fernsehanstalt für Internetnutzer zugänglich gemacht werden. Diese Verschränkung wird zu einem omnipräsenten Phänomen der Mediatisierung und ist gesellschaftlich akzeptiert. Sie wird als mediale Aufgabe und als Potenzial der Online-Kommunikation betrachtet und ist eine Folge der Medienentwicklung. Diese Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Intermedialität können sich auch in der Online-Kommunikation ausweiten, insbesondere dass digital präsente Öffentlichkeiten und Meinungsbildung für die Offline-Öffentlichkeit und Offline-Medien immer wichtiger werden bzw. schon parallel in manchen Medieninstitutionen betrachtet werden. Die besprochene und auf die Online-Kommunikation hin interpretierte Gliederung der Öffentlichkeiten sei an dieser Stelle durch die Ebenen von strikt internetbasierten Kommunikationsarenen von Schmidt (2013) vervollständigt, unter denen bestimmte Formen der Online-Öffentlichkeit schon auftreten. So unterscheidet Schmidt (2013: 41-43): • eine »Arena der massenmedialen Öffentlichkeit« in Form von journalistischen Online-Texten für ein breites Publikum, • eine »Arena der Expertenöffentlichkeit«, in der Experten fachliche Informationen, z.B. im Falle von wissenschaftlichen Publikationen in Open-Access-Journalen, für interessierte Fachleute veröffentlichen, • eine »Arena der kollaborativen Öffentlichkeit«, für die die Online-Enzyklopädie Wikipedia als Ergebnis der Zusammenarbeit von Internetnutzern ein Paradebeispiel ist. Allerdings überwiegen dabei Informationen suchende User vor dem Hintergrund eines relativ kleinen Kreises von den aktiven, Lexikoneinträge bearbeitenden Nutzern, sowie • eine »Arena der persönlichen Öffentlichkeit«, die soziale Relationen fokussiert. Die Auf bereitung von persönlichen, meist authentischen Informationen auf sozialen Plattformen gestattet bestehende Kontakte in Dialogen zu vertiefen und die eigene Identität im gesellschaftlichen Beziehungsnetz zu entfalten. Die hier skizzierten Gliederungen und Merkmale verschiedener Öffentlichkeiten bilden einen geeigneten Bezugspunkt für die Bezeichnung alternative Öffentlichkeit im internetbasierten Raum. »Alternativ« kann gewissermaßen als Gegenpol zur sog. Offline-Öffentlichkeit verstanden werden, der wir z.B. als Fernsehzuschauer begegnen und zu der die meisten Menschen auch gehören. Fernsehnachrichten, Hörfunknachrichten und Pressemeldungen sind an dieser Stelle Beispiele für das Ausdrücken und Vermitteln der »Experten«-Meinungen an die Zuschauer, Zuhörer und Leser, die wir als Laien bezeichnen können. Bei der Aneignung, Teilung und Akzeptanz der Meinungen vermischen sich jedoch die Rollen von Experten und Laien, denn eine verbreitete
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
und angenommene Ansicht zu einem Sachverhalt differenziert die Menschen nicht mehr, sondern vereint sie im Sinne einer gemeinsamen Perspektive auf die Welt und gemeinsame Wissenskonstruktionen. Um auf das Attribut »alternativ« zurück zu kommen: Es bezeichnet im Kontext der internetbasierten Kommunikationsformen eine alternative Öffentlichkeit, die drei Hauptmerkmale aufweist, die den Offline-Öffentlichkeiten nur eingeschränkt zukommen: • Flüchtigkeit der Kommunikationsteilnahme, • Atomisierung der Kommunikationsgebiete, • Zugänglichkeit des Kommunikationsraumes. Die Medieninstitutionen (z.B. ein Presseorgan in einem sozialen Netzwerk mit News) sind zumindest aufgrund der institutionellen Präsenz nicht vorübergehend und nicht anonym. Aber die meisten Internetnutzer, die sich an eine sozial relevante Meldung mit vielen kommentierenden Beiträgen anschließen, haben keinen solchen Status. Die Atomisierung der Kommunikationsgebiete, d.h. die unbegrenzte Vielfalt und die Auswahlmöglichkeit der in Kommentaren aufgegriffen Themen – und folglich eine Art thematischer und argumentativer Weite in den Beiträgen von Usern – repräsentiert das Merkmal der kommunikativen Alternative. Die Textinhalte in den Offline-Öffentlichkeiten sind im Vergleich mit dem Online-Bereich kohärenter und weniger zersplittert. Das hat ganz zentral mit der Zugänglichkeit zum Kommunikationsraum zu tun, die sich auf der Seite der Online-Kommunikation effektiver gestaltet. Die schnelle und ergiebige, digitale Durchsuchbarkeit und Archivierbarkeit von Online-Texten gewährleisten die unproblematische Zugänglichkeit zur Struktur einer Öffentlichkeit, ihrer Akteure und den aktuell stattfindenden oder abgeschlossenen Diskussionen. Dieses letzte Merkmal gleicht gewissermaßen die intransparenten Dimensionen der ersten zwei Merkmale der alternativen Online-Öffentlichkeit aus. Die Zugänglichkeit zu den Hypertexten ermöglicht nämlich ihre Analyse von großen Informationsmengen, was in der vorliegenden Untersuchung getan wird.
2. Z u diskursiven , multimodalen und sozialen S truk turen von N ut zerkommentaren Die Struktur von Online-Kommentaren lässt sich unter einer diskursiven, multimodalen und sozialen Perspektive betrachten, wodurch ein pragmatisches Grundgerüst von Nutzerkommentaren sichtbar wird. Die kommentierende Aktivität von Usern beruht auf einer Art Interaktivität, die von Bucher
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(2013: 79) als »Beitrags-Interaktivität« bezeichnet wird.2 Die kommentierenden Aussagen samt ihren Verflechtungen im Medium Internet sind ein zentraler Punkt der Online-Diskurse, die den Fokus auf digitale, vernetzte Medien, allen voran auf das Internet, als zentralen Bezugspunkt der medialen Konvergenzbewegungen [richten]. Die sich entfaltende Praxis, so die Prämisse, ist folglich zunehmend von einer multimodalen und internet-medialen Kommunikation geprägt. (Fraas/Meier/Pentzold 2013: 10)
Obwohl Online-Diskurse sich auf internetbasierte Äußerungen konzentrieren, können sie Offline-Medien berücksichtigen, insbesondere wenn diese einen deutlichen thematischen, zeitlichen und argumentativen Beitrag zur Kohärenz des jeweiligen Online-Diskurses leisten. Eine Trennung in die Onlineund Offline-Diskurse ist offensichtlich in der analytischen Arbeit möglich und sogar mitunter unabdingbar, wenn abgrenzbare Diskurspraktiken untersucht werden, aber die Erweiterung eines Online-Diskurses außerhalb der computervermittelten Kommunikation hin zu übersubjektiven Wissensformationen, Deutungsmustern und Frames ist genauso unabdingbar. In diese letzte Perspektive fließen diskursive Dispositive mit allen historischen, akteursbezogenen und kulturellen Faktoren ein. Da der vorliegende Beitrag intra- und dann interkulturelle Themenfelder fokussiert, ist eine weitere Präzisierung der Online-Diskurse notwendig, die Fraas/Meier/Pentzold (2013) vor dem Hintergrund der Begriffe der Kommunikationsform von Dürscheid (2005) und des Kommunikationsmodus von Holly (2011) entwickeln: Online-Diskurse sind daran anschließend zum einen durch die kulturellen Praktiken geprägt, die mit den online-medialen Kommunikationsformen ermöglicht werden und kulturell konventionalisiert sind. Zum anderen dienen Online-Diskurse quasi als Nebeneffekt auch der Herausbildung ›neuer‹ oder besser: modifizierter sozialer Bedürfnisse und Zwecke sowie Handlungs- und Sinnsysteme, die zum technischen und kulturellen Wandel der online-medialen Kommunikationsformen beitragen. (Fraas/Meier/Pentzold 2013: 14)
Die Online-Kommentare scheinen auf besondere Weise die oben genannte Definition zu bestätigen, indem sie in ihren immanenten Referenzen, Haupt- und 2 | Die anderen Formen der Interaktivität umfassen nach Bucher (2013: 79) die Selektion und Navigation (Suchen und Finden von bestimmten Inhalten auf den Internetseiten), Transaktions-Interaktivität (Internetdienste wie z.B. Bestellen oder Downloaden), operationale Interaktivität (Bedienung von animierten oder wechselbaren Grafiken, Videos, Fotos etc.) und Feedbackinteraktivität (Bewerten von Inhalten durch ikonische Symbole oder Verlinkungen auf andere Plattformen).
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
Nebenthemen sowie Selbstdarstellungen von Nutzern die sozialen Bedürfnisse der multimodalen Weltinterpretation zum Ausdruck bringen. Trotz der Definitionsversuche herrscht in der Diskurspraxis von Online-Beiträgen gewissermaßen ein Chaos, in dem sich trotzdem thematische Schlüsselpositionen feststellen lassen. Dieses Chaos wird in den auf den ersten Blick unkontrollierten Beziehungen von einzelnen Beiträgen aufeinander sichtbar, insbesondere wenn mehrere hunderte Kommentare zu einer Nachrichtenmeldung vorkommen. Es gibt dabei relevante und besonders referentialisierte Knoten, d.h. den sog. Top-Kommentar eines Users, der eine spezifische, bisher nicht vorhandene Stellung zu einem medialen Artefakt einnimmt oder sich einer Argumentation oder Sprachformulierung bedient, die darauf abzielt, die Aufmerksamkeit von anderen Nutzern zu erregen. Diese diskursive Verschränkung von Aussagen lässt sich thematisch bzw. argumentativ verfolgen, aber die Mannigfaltigkeit der gegenseitigen Beziehungen erschwert eine übersichtliche Darstellung. Bei der diskursiven Struktur ist noch eine übergeordnete Stelle in der diskursiven Beziehung zu beachten: Eine mehr oder weniger explizite Referenz von Kommentaren auf die chronologisch und thematisch gesehen erste Nachrichtenmeldung, die eine Medieninstitution im sozialen Netzwerk veröffentlicht und für Nutzer eine Anschlusskommunikation ermöglicht. Die Multimodalität (vgl. Bucher 2010, 2013; Schneider/Stöckl 2011; Opiłowski 2015) als kommunikativ-funktionale Verknüpfung von sprachlichen, bildlichen und audiovisuellen Textflächen ist heutzutage eine Normalität für viele internetbasierte Kommunikationsformen, was sich auch in den Nutzerkommentaren widerspiegelt und was vor einigen Jahren noch als Neuigkeit bezeichnet worden war (vgl. Neumann-Braun/Autenrieth 2011: 11). Man kann an dieser Stelle die Ansicht wagen, dass die stationäre und mobile Nutzung und freie Wahl von multimodalen Inhalten, das beliebige Kombinieren und schließlich die Erstellung eines eigenen Rezeptionsweges die Online-Medien so attraktiv macht. Manche multimodalen Elemente sind gleichsam obligatorisch: Der Kommentar wird in der jeweiligen Sprache verfasst, jeder User hat ein Profil-Bild als visuelle Visitenkarte, die ein Selfie, Tier oder Landschaft enthält, die im Kommentartext verlinkte Phrasen sind farbig markiert. Darüber hinaus gibt es andere multimodale Techniken des unmittelbaren oder mittelbaren Kommentars. So kann man ein Internet-Meme direkt ins Kommentarfeld einstellen und durch einen (ironischen) Meme-Inhalt die jeweilige Problematik kommentieren. Videos, Fotos oder Emoticons gehören ebenfalls zu kommunikativen Möglichkeiten von Kommentaren in sozialen Medien. Diskursivität und Multimodalität sind daher beständige Elemente von On-
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line-Beiträgen.3 Vor diesen Ausführungen schließe ich mich der Definition der Nutzerkommentare von Ziegele (2016: 38) an, wobei diese Definition um den Aspekt der Multimodalität erweitert werden muss: Nutzerkommentare sind postkommunikative und asynchrone Online-Anschlusskommunikation in integrierten Öffentlichkeiten, die in Schriftform und im direkten Anschluss an journalistische Beiträge auf Websites oder institutionalisierten Social Web-Auftritten von Nachrichtenmedien veröffentlicht wird. Eine Sequenz von Nutzerkommentaren zu einer spezifischen Nachricht wird als Online-Diskussion definiert. (Ziegele 2016: 38)
Im Anschluss an die erwähnte Online-Diskussion muss man präzisieren, dass einzelne Online-Diskussionen als textuell manifeste und multimodal konstruierte Erscheinungsformen von Online-Diskursen sind. Mittels der diskursiven und multimodalen Nutzungspraktik entstehen soziale Relationen, die auf den Ebenen des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements spezifizierbar sind (vgl. Schmidt 2013: 38f.). Es handelt sich dabei um »Öffentlichkeit im Sinne von öffentlich sichtbarem und zugänglichem Identitäts- und Beziehungsmanagement sowie um das Veröffentlichen selbst erstellter Medienprodukte (Texte, Bilder, Videos, Musik usw.)« (Fraas/Meier/ Pentzold 2012: 43). Solche persönlichen Öffentlichkeiten sind zwar am besten in solchen Formaten wie eigenen Profilen in sozialen Netzwerken, persönlichen Homepages, Blogs und Microblogging-Diensten wie Twitter zu verfolgen (vgl. Fraas/Meier/Pentzold ebd.), aber die eigene Imagearbeit lässt sich auch in Online-Kommentaren beobachten, angefangen bei eigenartigen Argumentationen, untypischen Profil-Bildern oder in den verlinkten eigenen, fremden oder modifizierten Fotos, Memes oder Videos als visuellen Kommentaren in der jeweiligen Online-Diskussion. Die Zahl der User-Antworten auf einen Kommentar gibt Aufschluss über eine nicht nur thematische oder argumentative Wichtigkeit eines Beitrags, sondern erweist sich in einem weiteren Sinne für einen User als Bestätigung seiner Online-Aktivität und seiner Weltanschauung. Die Selbstdarstellung, das Aushandeln einer Rolle und Diskursposition in der Online-Diskussion gelten deshalb als immanente Funktionen von kommentierenden Beiträgen.4
3 | Die Grundmerkmale der Textsorte Kommentar werden übersichtlich von Lenk (2015) dargestellt. In einer anderen Studie bietet Lenk (2016) eine interkulturelle Perspektive auf die Kommentare in verschiedenen Medien. 4 | Warnke/Spitzmüller (2011: 179ff.) fassen diese sozialen Prozesse in den Konzepten von Voice und Ideology brokers zusammen.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
3. A nalyseme thode , K orpus und O nline -M eldungen Um die thematischen Schlüsselfelder in den ausgewählten Online-Kommentaren feststellen zu können, wird eine qualitative Online-Diskursanalyse durchgeführt (vgl. Fraas/Meier/Pentzold 2013: 181ff.). Ein solcher Analyseansatz umfasst drei zentrale Merkmale (vgl. Fraas/Meier/Pentzold ebd.), die auf folgende Weise im Analyseteil des vorliegenden Beitrags berücksichtigt werden: • Interesse an der politischen und sozialen Problematik (im vorliegenden Fall: Analyse des Terroranschlags des sog. Islamischen Staates in Nizza vom 14. Juli 2016), • Untersuchung von unterschiedlichen Korpora (Online-Meldungen des deutschen Magazins Der Spiegel und des polnischen Magazins Polityka in den Facebook-Profilen dieser Pressetitel. Bei beiden Meldungen handelt es sich um die ersten Online-Texte der genannten Magazine über den Anschlag in Nizza. Diesen Ausgangstexten folgen Nutzerkommentare. Die Kommentare beziehen sich thematisch nicht nur auf den Quellentext, sondern auch aufeinander, so dass sich eine umfangreiche diskursive Struktur ergibt. Auf dieser Grundlage wird ein Vergleich der dominierenden, semantischen Schlüsselfelder von deutschen und polnischen Kommentaren vollzogen), • Etablierung sozialer Wissensbestände (ein massenmedial vermitteltes, partizipativ herausgebildetes und diskursiv entstehendes Wissen der Online-Öffentlichkeit über eines der wichtigsten Probleme der heutigen Welt: Terroranschlag). Um die Vergleichbarkeit gewährleisten zu können, ist es entscheidend, dass das deutsche und das polnische Korpus in wesentlichen Punkten äquivalent sind. Erstens haben wir es mit den führenden, meinungsbildenden Nachrichtenmagazinen in Deutschland und in Polen zu tun. Darüber hinaus werden äquivalente Textsorten – Online-Meldung – in einer situativ und sozial konvergenten Kommunikationsform – Facebook-Profil – veröffentlicht. Im Weiteren stellen sowohl die deutsche als auch die polnische Online-Meldung die erste Meldung dieser Magazine nach dem Angriff in ihren sozialen Netzwerken dar. Das Hauptthema – terroristische Aggression in Nizza – stimmt in beiden Online-Texten überein. Da der Einfluss der computervermittelten Kommunikation auf politische Ereignisse, Prozesse und Entscheidungen steigt, ist die Wahl dieses Realitätssauschnitts und seine mediatisierte Verarbeitung von den Online-Öffentlichkeiten legitim. Ein begleitender Ansatz für die hier vorgenommene Diskursanalyse ist der Frame-Ansatz. In einer Kontextualisierung des Online-Diskurses (Frames) lassen sich Schlüsselkonzepte aus den thematischen Perspektivierungen ableiten
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(vgl. Fraas/Meier/Pentzold 2010: 237, Meier/Sommer 2012: 101f.). In der Analyse wird im Sinne der Grounded Theory verfahren, d.h. anhand von Fallbeispielen werden Kategorien gebildet, denen sich einzelne thematische Schlüsselkonzepte zuordnen lassen. In Anlehnung an den Ansatz der Wissenskonstituierung von Warnke und Spitzmüller (2011: 46) lassen sich thematische Schlüsselkonzepte als Wissenskonstruktionen auffassen, die die »Herstellung von Faktizität durch Wahrheitsansprüche in regelgeleiteten sozialen Prozessen« bedeuten (Warnke/ Spitzmüller ebd.). An die Wissenskonstruktionen schließen sich allerdings noch zwei weitere Typen des Wissens – Argumentation von Wissensakteuren und Distribution von Wissen – und sind zweifelsohne für die Online-Kommunikation relevant.5 Sie können aber im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehend besprochen werden, weil der kontrastive Blick auf Wissenskonstruktionen in sich ein komplexes Untersuchungsgebiet ist. Deshalb werden Argumentation und Distribution des Wissens als begleitende Faktoren behandelt. Anschließend erfolgen ein Vergleich der festgestellten Felder und ein Erklärungsversuch für Konvergenzen und Divergenzen in der Bedeutungsstruktur beider Korpora. Der Spiegel formuliert die erste Meldung zum Angriff in Nizza folgendermaßen: (1a) Spiegel Online, 15. Juli 2016 um 01:03: Mindestens 80 Menschen sollen bei einem Anschlag in Nizza getötet worden sein. Es gibt keine Geiselnahme. Auch Berichte über einen Anschlag am Eiffelturm sind falsch. Die französischen Sicherheitsbehörden bitten darum keine Gerüchte oder schockierenden Bilder zu verbreiten. Was bislang bekannt ist, steht hier: http://spon.de/aeM7Z.
Die polnische Polityka hat den folgenden Post im Facebook-Profil veröffentlicht: (1b) Polityka, 15. Juli 2016 um 14.30: Na nicejskim bulwarze nie zakrzepła jeszcze krew, a szef naszego MSW nie traci okazji, by petryfikować antyuchodźcze, ksenofobiczne nastroje. Komentuje Joanna Gierak-Onoszko.
5 | Bei Rybszleger (2016: 99) findet sich eine Erweiterung dieses dreigliedrigen Modells der Wissenskonstituierung um die Ebene der »Speicherung von Wissen in digitaler Form« (Rybszleger ebd.), die ihrerseits zwei Typen umfasst: die technisch bedingte Speicherung der Wissensbestände im Netz und die userabhängige Speicherung z.B. in Wikis, Tutorien oder anderen Datenbanken.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren [Dt.: Auf der Promenade in Nizza ist das Blut noch nicht geronnen und der Chef unseres Ministeriums des Innern verpasst keine Gelegenheit, die Stimmung gegen Flüchtlinge und Fremde aufrechtzuerhalten. Kommentar: Joanna Gierak-Onoszko]
Abbildung 1: Foto zur Online-Meldung im Facebook-Profil von Polityka vom 15.07.2016
Während der Spiegel unmittelbar über den Anschlag in Nizza informiert, verbindet Polityka dieses Ereignis mit internen politischen Angelegenheiten in Polen. Die Außenpolitik wird für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert und fungiert als Argument bzw. Gegenargument (je nach der Perspektive) für fremdenfeindliche Äußerungen des polnischen Ministers des Innern.
4. Thematische F elder im deutschen K orpus Die Kommentare im Facebook-Profil des Spiegel umfassen 102 Top-Kommentare, auf die sich zahlreiche andere Beiträge beziehen. Alle Kommentare verschiedener Ebenen werden in dieser Analyse berücksichtigt, um möglichst alle dominanten Felder zu zeigen. Trotzdem lässt sich im Rahmen dieses Beitrags die diskursive Struktur und Aushandlung von bestimmten Positionen nicht veranschaulichen und besprechen. Deshalb werden einzelne Kommentare isoliert angeführt.
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4.1 Direkte Bezüge zur Online-Meldung von Spiegel Im Folgenden werden diejenigen Themenfelder an entsprechenden Beispielen verdeutlicht, die unmittelbar die Schlüsselinformationen aus der Online-Meldung aufgreifen und ggf. weiter entwickeln.
4.1.1 Tod: Opfer, Beileid, Trauer Das erste Themenfeld betrifft den breiten Wissensrahmen des Todes. Dazu gehören Begriffe wie »Opfer«, »Beileid« oder »Trauer«. Die Beiträger empfinden Mitleid mit den Opfern und Verletzten. In den Kommentaren (vgl. 2a) wird Stille und Ruhe gefordert, um sich auf die Trauer konzentrieren zu können. Ein anderer Beitrag (2b) beweist eine tiefe emotionale Betroffenheit. (2a) […] Ich wäre wirklich dankbar, wenn auf weitere Spekulationen verzichtet wird. Dadurch wird keinem Opfer geholfen, niemand wird lebendig und die Angehörigen werden in ihrer Trauer nur gestört. […] (A. W., 15. Juli 2016 um 01:08) 6 (2b) […] An alle unschuldigen Opfer, Ruht in Frieden. Die Terroristen werden ihre gerechte Strafe bekommen. Viel Kraft an alle Angehörigen der Opfer und gute Genesung an alle Verletzte. (M. K., 15. Juli 2016 um 02:20)
4.1.2 Bilder der Opfer Im Weiteren beziehen sich die Nutzer auf die »schockierenden Bilder«, die in der Online-Meldung erwähnt werden und von deren Verbreitung abgeraten wird. Realistische Fotos bzw. Videos würden die Realität und Grausamkeit der Tat vermitteln und könnten eine unnötige Panik auslösen. Trotzdem berichten manche User, wie im Beispiel (3a), dass die Bilder der Opfer in einem anderen sozialen Netzwerk (Twitter) zugänglich sind. Im Beispiel (3b) vergleicht ein anderer Nutzer die Bilder mit den Kommentaren, weist auf die Angemessenheit der menschlichen Bewertungskriterien hin und signalisiert auch den Wissensrahmen des Todes. Die Aushandlung von Verhaltensnormen scheint ein Bedürfnis der Kommentierenden zu sein. (3a) […] Zu den Bildern: leider halten sich die Medien daran nicht. Ich hab’ auf Twitter genug gesehen was mir die Lust am verreisen deutlich nimmt. (S. L., 15. Juli um 01:14) (3b) Wer angesichts dieser Bilder schreibt, dass die KOMMENTARE(!) erschreckend seien und über die Grausamkeit der Tat und der Mörder kein Wort verliert, der verhöhnt 6 | Alle angeführten Kommentare werden in der Originalfassung wiedergegeben. Die Vorund Nachnamen sowie Pseudonyme der kommentierenden Nutzer werden auf Initialen gekürzt.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren tatsächlich die Opfer. Vielleicht unbewusst. Aber faktisch. Vielleicht einmal darüber nachdenken. (P. B., 15. Juli um 03:12)
4.1.3 Angriff in Nizza: Verlauf, Ursachen, Folgen Das letzte Themenfeld im direkten Bezug enthält Auseinandersetzungen der User mit dem Verlauf des grausamen Ereignisses in Nizza. Dieser thematische Hauptpunkt wird im direkten Anschluss um Reflexionen über Ursachen und Folgen des Angriffes erweitert, was im Beitrag (4a) zum Ausdruck kommt. Im Beispiel (4b) erscheint darüber hinaus ein Bezug auf interne Flüchtlingspolitik in Deutschland. (4a) […] Dem Fahrer dieses LKW war es vollkommen egal ob er Christen oder Moslems tötet. Diese Idioten wollen nur Angst und Panik verbreiten und wenn dabei die eigenen Leute draufgehen, Pech, Kollateralschaden! Jeder Tote, der auf das Konto dieser Mörder geht ist einer Zuviel. […] (L. B., 15. Juli um 07:53) (4b) Herr Chudoba, Sie vermengen Äpfel mit Birnen, wenn sich der Verdacht bestätigt. Der Amokfahrer war, wie es aussieht, französischer Staatsbürger mit tunesischen Wurzeln und hat nichts mit den Flüchtlingen der letzten zwei Jahre zu tun. Stimmung gegen Merkel zu machen ist somit völlig unangebracht und falsch. (A. K., 15. Juli um 09:02)
4.2 Mittelbare Bezüge zur Online-Meldung des Spiegel Für viele Nutzer ist ein Online-Forum eine Gelegenheit Beiträge mit einem lediglich indirekten semantischen Bezug zu schreiben. So werden Nebenthemen aufgriffen, die zusätzliche politische, gesellschaftliche und kulturelle Informationen sowie persönliche Stellungnahmen enthalten und auf diese Weise mannigfaltige Themenfelder aktivieren.
4.2.1 Angriff in Nizza aus persönlicher Sicht Obwohl dieses Themenfeld grundsätzlich mit dem Geschehen in Nizza direkt zusammenhängt, verursacht die dominante, individuelle Sicht der Nutzer einen textinternen Diskurswechsel vom politisch-gesellschaftlichen zum persönlichen Artefakt. Eine individuelle Verarbeitung und emotionale Identifikation mit den Opfern und Verletzten bewirken Beiträge, in denen die Nutzer bestimmte Gründe für tiefe Mitgefühle äußern. Jene Gründe kann man als wichtige Impulse für das Schreiben von Kommentaren in Form von kurzen Berichten betrachten. Damit eröffnet sich ein Themenfeld der persönlichen Betroffenheit durch persönliche Erfahrung. (5a) […] Da meine Kinder in Frankreich leben und studieren, weil sie Franzosen sind, macht mich das umso mehr betroffen. (A. B. B., 15 Juli 2016 um 01: 17)
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Roman Opiłowski (5b) Wir sind gerade hier und haben ganz bewusst Urlaub hier gemacht. Es ist traurig. Es fiel in den letzten Tagen massiv viel Polizei auf – also mir zumindest -. Sowas kann man nicht verhindern und uns war bewusst, dass es sicher nicht immer Paris trifft. Also gegen dieses tolle Land zu wettern, hilft niemandem. (Ch. T., 15. Juli 2016 um 01:40)
4.2.2 Terror auf der Welt Da sich der Angriff in Nizza in eine Reihe von anderen Terroranschlägen einreiht, beurteilen die Nutzer die anderen Anschläge auf der Welt, versuchen Gründe zu finden und Folgen zu erklären. Ein wichtiger Faktor ist eine persönliche Verarbeitung der Gefahr und ein Mitgefühl mit den Getöteten und Verletzten, was in (6b) zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz dazu wird in (6a) eine hedonistische Position vertreten, die durch die saloppe Bezeichnung zum Schluss eine deutliche Distanz zur Tragödie deutlich macht. (6a) Nun. Es gibt leider immer wieder Anschläge überall. Es tut mir Leid für die Opfer, aber deswegen darf der Rest der Menschheit nicht aufhören zu leben und schön Dinge zu erleben. So ein Dünnpfiff. (Ch. B., 15. Juli um 01:13) (6b) Mir fehlen die Worte. Wie krank ist unsere Welt geworden? Es wird immer schlimmer. Irgendwann kann man nicht mehr auf die Straße. Mein Mitgefühl an alle, die Ihre Lieben auf so grausame Weise und so plötzlich verloren haben. Wie schlimm muss das sein, das miterlebt zu haben. […] (M. K., 15. Juli um 02:20)
4.2.3 Fremde In dieser medialen Interpretation der Wirklichkeit handelt es sich um bewertende Perspektiven auf die Anwesenheit und Aktivität von Fremden in einem Land oder im Migrationsprozess. Die Akzeptanz bzw. Feindlichkeit gegenüber »den Fremden« sind dominante Themenfelder. (7a) […] Hört auf alle Muslime in eine Ecke zu stellen! Nicht alle sind so, und das wisst ihr genauso gut wie ich! Sonst regt ihr euch auch auf, wenn jemand Hitler und Deutsche in ein und die selbe Ecke stellt. […] (S. L., 15. Juli um 01:14) (7b) […] Wir brauchen jetzt eine langfristige Strategie und fuer mich heisst die eben: Muslime radikal ueberwachen und keine weiteren reinlassen. (L. S., 15. Juli um 04:33)
4.2.4 Der sog. Islamische Staat Oft werden politische und gesellschaftliche Kontexte des sog. Islamischen Staates in den Beiträgen diskutiert. Täter, Motive, Ursachen und Folgen von Handlungen des Islamischen Staates sind feste Elemente dieses Wissensrahmens. In diesem Wissensbereich handelt sich entscheidend um eine breite Perspektive, weil nicht der Angriff in Nizza (vgl. Kap. 4.1.3) thematisiert wird,
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
sondern ein umfassender, politischer, gesellschaftlicher und religiöser Aktivitätsbereich von Islamisten. Eine unmittelbare Folge dieses islamischen Kontextes ist der Angriff in Nizza. Im Kommentar (8a) werden die Religiosität von Muslimen und die Bedeutung der Religion in eine direkte Verbindung mit dem Islam und seinen Auswirkungen gestellt. (8a) Solange die Muslime dieser Welt sich einig darin sind, dass ein Buch unantastbar ist, dass in vielen verschiedenen Zeitaltern entstanden ist und damit auch völlig überholt ist, solange werden sich weiter radikale Muslime darauf berufen und im Namen Allahs Anschläge verüben. Insofern ist der moderate Islam also tatsächlich, zumindest aus meiner Sicht, mitschuldig. (R. O., 15. Juli um 06:03)
4.2.5 Deutsche Politik Die Innen- und Außenpolitik in Deutschland tritt in manchen Kommentaren in den Vordergrund. Es wird versucht, Ursachen der Terroranschläge und die Terrorgefahr in einen Zusammenhang mit der deutschen Politik zu stellen. So wird z.B. Bundeskanzlerin Angela Merkel für das ganze Terrorübel schuldig gemacht. (9a) Beihilfe zum Mord ist strafbar! Es wird Zeit Angela Merkel vor dem Internationalen Gerichtshof anzuklagen! Sie hat diese Mörder unkontrolliert nach Europa einreisen lassen! (R. Ch., 15. Juli um 02:31)
4.2.6 Metakommunikation Ein weiteres charakteristisches Themen- und zugleich Handlungsfeld bilden metasprachliche Kommentare zu geschriebenen Beiträgen und angezeigten Profilbildern der User. In der Metakommunikation treffen zwei Phänomene aufeinander: Zum einen ist die Metakommunikation in sozialen Netzwerken eine konkrete Sprachhandlung, die z.B. für die eigene Argumentation in Posts verwendet wird. Zum anderen ist diese Sprachhandlung so populär geworden, dass sich ein getrenntes Themenfeld zur Metakommunikation mit Regeln und Inhalten der metakommunikativen Sprachhandlung herausbildet. Die Nutzer verfügen nämlich über ein sprachpragmatisches Wissen zu Mitteln und Funktionen von metakommunikativen Informationen in Online-Beiträgen. Auf diesem Themengebiet ergibt sich außerdem eine Verbindung mit dem übergeordneten Thema der Flüchtlinge und der Terrorgefahr, wie dies der Beitrag in (10a) veranschaulicht. Der Grund für das Hinweisen auf das Profilbild, das eigentlich nur aus der ironischen Phrase »refugees welcome« (dt.: Flüchtlinge willkommen) vor dem schwarzen Hintergrund besteht und einen fremdenfeindlich geschriebenen Kommentar begleitet. Im Beispiel (10b) zeigt
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sich dagegen ein reiner Metatext, dem die Kritik an der Selbstdarstellung bzw. einer hohlen Rede zugrunde liegt. (10a) Das übereitle »refugees welcome« – Bild in Ihrem Profil ist m.e. ein Fall für Menschen, die sich mit einer solchen Form der Selbstinszenierung beruflich auseinandersetzen – oder sie goutieren. (N. F., 15. Juli um 07:03) (10b) […] Nirgendwo ists sicher. Wieso wir uns angesprochen fühlen? Du hast diesen Kommentar öffentlich gepostet damit jemand antwortet (M. H., 15. Juli um 02:01)
4.2.7 Beleidigungen Für das Internet als Kommunikationsraum ist die nahezu uneingeschränkte Freiheit der Äußerungen kennzeichnend. Es ist ebenfalls charakteristisch, dass die interagierenden Nutzer keine situationsübergreifenden, stabilen Beziehungen zueinander haben. Negative Emotionen und Beleidigungen als Realisierungsformen solcher Emotionen sind deswegen sehr verbreitet. Beispiele (11a) und (11b) dokumentieren nur einen Ausschnitt der zahlreichen Beleidigungen. (11a) […] Total schlagfertig, Angi! Vielleicht solltest Du dich auf übermäßig sendungsbewusste Selbstdarstellung beschränken. Leider bestärkt jemand wie Du nur all die Vorurteile, die man ggü. halbgebildeten linken Naiv-Mädchen aus Berlin hat. (N. F., 15. Juli um 08:06) (11b) Amy wo hast du dein Gehirn verloren. (E. S., 15. Juli um 09:33)
5. Thematische F elder im polnischen K orpus Die im polnischen Korpus archivierten Kommentare im Facebook-Profil der Polityka umfassen 189 Top-Kommentare mit vielen untergeordneten Kommentaren. Alle Beiträge wurden bei der Auswahl von Beispielen durchsucht, um dominante Themenfelder zu bestimmen.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
5.1 Direkte Bezüge zur Online-Meldung von Polityka Im Folgenden wird die gleiche Systematik wie im deutschen Korpus verfolgt. Zuerst erscheinen diejenigen Themenfelder, die sich aus der direkten Referenz der Beiträge zur Online-Meldung von Polityka ergeben.
5.1.1 Tod: Opfer, Beileid, Trauer Obwohl die Quellenmeldung von Polityka den Tod anhand der Metapher des Blutes und die Verletzung ausdrücklich nahelegt, thematisieren die polnischen Beiträge dieses Artefakt nur marginal. Der erste Grund dafür wäre im Inhalt der Ausgangsmeldung zu suchen, die einerseits vom Blut in Nizza spricht, aber zugleich den Fokus vom Hauptereignis des Terroranschlags auf die Aussage des polnischen Ministers verschiebt, was für die meisten Nutzer zur Hauptaussage wird und die Mehrheit der Nutzer bestürzt. Nichtdestotrotz lassen sich im polnischen Korpus sporadische Äußerungen des Mitgefühls mit den Angehörigen der Familien der Opfer finden, wie dies im Beispiel (12a) zum Ausdruck kommt. Zugleich hat dieser Beitrag aber einen kritischen Unterton, indem er auf einen gleichgültigen Umgang der Menschen mit den anderen Opfern auf der Welt hinweist. (12a) Wspolczuje rodzinom wszystkich ofiar terorryzmu. Zaklamaniem jest oplakiwanie ofiar z Paryza, Brukseli, Nizzy, Londynu, Madrytu i przechodzenie do porzadku dziennego nad setkami tysiecy cywilnych ofiar w Iraku, Syrii, Nigerii, Turcji, Pakistanie, Jemenie…. (P. M., 15. Juli um 23:28)7 [Dt.: Ich will den Familien aller Terroropfer mein Beileid aussprechen. Es ist eine Verfälschung, um die Opfer in Paris, Brüssel, Nizza, London und Madrid zu trauern und viele Tausende von Zivilopfern im Irak, Syrien, Niger, in der Türkei, Pakistan und Jemen außer Acht zu lassen.]
Darüber hinaus kommen hier auch solche Beiträge vor, die stark ironisch und sogar verhöhnend mit dem Tod umgehen. Der Kommentar in (12b) besteht nämlich aus dem sprachlichen Beitrag und dem Bild, in dem eine Comic-Szene mit dem Untertitel sichtbar wird und als Internet-Meme funktioniert (vgl. Abb. 2). Der Beitrag gestaltet sich als eine Art Titel für das nachfolgende Meme und ist ohne es wenig verständlich. Die Sprechblasen im Meme bedeuten z.B. »Es ist nichts passiert«, »Das war nur ein Zufall« oder »Ups, entschuldige meine Anwesenheit hier«. Eine überstrapazierte Ironie und folglich ein Mangel des Autors an Mitgefühl ist genug deutlich. Der Untertitel im Meme hat einen 7 | Analog zu den deutschsprachigen Kommentaren werden polnische Beiträge in der Originalform zitiert, selbst wenn sie unterschiedliche orthographische Fehler enthalten. Unter dem polnischen Kommentar füge ich immer meine Übersetzung ins Deutsche hinzu.
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innenpolitischen, polnischen Bezug: Dt. »Wenn du der Linksradikale bist und versuchst, Motive der Opfer aus Nizza verstehen.« Der Autor dieses sprachlich-bildlichen Beitrags verhöhnt demzufolge die Anhänger der linksorientierten Gruppierungen, setzt sich implizit für die Worte des Ministers Błaszczak ein und spürt kein Mitleid mit den Getöteten und Verletzten. Der Terroranschlag wird von ihm für (innen-)politische Zwecke genutzt. (12b) Poprawnosc polityczna wzgledem terroru islamskiego wedlug Polityki i nie tylko… (J. B., 15. Juli um 14:56) [Dt.: Die politische Korrektheit im Hinblick auf den islamischen Terror und nicht nur…]
Abbildung 2: Meme zum Beitrag von (12b) im Facebook-Profil von Polityka vom 15.07.2016
5.1.2 Standpunkt des Ministers M. Błaszczak In den Online-Beiträgen finden sich sowohl Stimmen, die die Aussage und Argumentation des Ministers Błaszczak bestätigen als auch solche, die die Aussage zurückweisen. Für Letztere steht etwa der Beitrag (13a), in dem der Standpunkt des Ministers als Erklärung für die Gründe und Motive des Anschlags (»Solche Effekte…«) fungiert. Im Gegensatz dazu richtet sich der weitere, multimodal konstruierte Kommentar (13b) gegen den Minister und seinen Standpunkt. In einer kritischen Betrachtung wird der Minister zum Schweigen und Beten für die Opfer aufgefordert. Das dazugehörende Bild in Abb. 3 (Auge mit Tränen und der angedeuteten Nationalfahne Frankreichs darin) ist eine bildliche Fortsetzung des sprachlichen Beitrags und auch ein Appell an die Internetnutzer, Mitgefühl und Trauer zu empfinden.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren (13a) Takie efekty przynosi retoryka inna niż Błaszczaka… (A. T., 15. Juli um 15:18) [Dt.: Solche Effekte bringt eine andere Rhetorik als die von Błaszczak mit sich…] (13b) Jak minister taki wierzący, powinien się pomodlić za tych co zginęli, a nie podsycać nastroje związane z tą tragedią. (W. T., 15. Juli um 14:51) [Dt.: Wenn der Minister so gläubig ist, soll er für Opfer des Anschlags beten und die Stimmung um die Tragödie herum nicht anzuheizen.]
Abbildung 3: Bild zum Kommentar (13b) im Facebook-Profil von Polityka vom 15.07.2016
5.1.3 Angriff in Nizza: Verlauf, Ursachen, Folgen Die Thematisierung des Angriffes in Nizza ist ein zweites gemeinsames Themenfeld in den deutschen und polnischen Kommentaren. Der Beitrag (14a) enthält Überlegungen und Vermutungen eines Nutzers zum Attentäter und dessen Unterstützung von anderen Islamisten. Allerdings entspricht der Kommentar nicht der Wahrheit, weil die Rede von Waffen ist, die der Attentäter in Nizza gar nicht bei sich hatte. Einen interessanten Fall schildert der multimodale Beitrag (14b) in Abb. 4. Er besteht aus einem Meme, das nur einen Titel im Bild und ansonsten keinen separaten Kommentar enthält. Die Schlagzeile im Meme – »Tej ciężarówki nie przepuścimy« [Dt.: Diesen LKW lassen wir nicht durch] – ist für das intendierte Verständnis des Fotos im Bild unentbehrlich. Das Foto stellt einen historischen Gedenkmarsch der Staatschefs am 11.01.2015 für die Terroropfer des Anschlags auf die französische Satirezeitung »Charlie Hebdo« in Paris dar. Die vereinten Staatsoberhäupter und ihre gemeinsamen
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Bestrebungen sollen jetzt und künftig eine symbolische und tatsächliche Barriere für alle potentiellen Angriffe bilden. (14a) Terrorystą był na pewno, pytanie czy samotnym czy powiązanym, osobiście wydaje mi się, że zorganizować tyle broni i upakowac w ciężarówkę trudno samemu. (P. B., 16. Juli um 07:55) [Dt.: Er war auf jeden Fall ein Terrorist. Die Frage ist nur, ob er ein einsamer oder mit jemandem verbundener Terrorist war. Persönlich scheint mir, dass es schwierig ist, so viel Waffen selbst zu besorgen und in einen LKW selbst reinzupacken.] (14b) (T.S, 16. Juli um 02:57)
Abbildung 4: Der multimodale Kommentar (14b) im Facebook-Profil von Polityka vom 15.07.2016
5.2 Mittelbare Bezüge zur Online-Meldung in Polityka Analog zur Einteilung der deutschsprachigen Beiträge finden sich im Folgenden diejenigen, in der Online-Diskussion konstruierten Themenfelder, die zwar an die Ereignisse in Nizza anknüpfen, aber sich vor diesem Hintergrund auf andere gesellschaftliche und politische Kontexte beziehen.
5.2.1 Terror auf der Welt Im Unterschied zu den deutschen Kommentaren (vgl. Kap. 4.2.1) behandeln polnische Kommentare kaum den Terror in Nizza. Sie konzentrieren sich auf den globalen Terror auf der Welt aus politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Sicht. Im Beitrag (15a) wird eine rhetorische Frage nach den Terrorakten gestellt und eine unpräzise Erklärung vorgeschlagen. Konkrete Anschlagsorte
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
werden im weiteren Kommentar (15b) angeführt und diesbezüglich wird eine Ablehnung von Terroristen formuliert. Darüber hinaus wirft der Kommentar (15b) den liberalen, linksorientierten Gruppen eine allzu große Offenheit den Andersdenkenden und Fremden gegenüber vor. (15a) […] Trzeba sobie zadać pytanie: kto dokonuje aktów terroru i dlaczego robi to na terenie Europy. Właściwa odpowiedź wskaże kierunki działań. (P. Z., 15. Juli 2016 um 15.11) [Dt.: Man muss sich die Frage stellen, wer die Terrorakte verübt und warum macht man das eben auf dem Gebiet von Europa. Eine richtige Antwort zeigt die Handlungsrichtungen an.] (15b) W Rosji były zamachy, Biesłan, teatr w Moskwie itp. Dziś to wygląda inaczej, dlaczego? Zero tolerancji dla terorystow i ich rodzin. A tymczasem w zachodniej europie kwiatki i rysowanie kolorową kredą chodników. (M. S., 15. Juli 2016 um 17:40) [Dt.: In Russland gab es Anschläge, Bieslan, Theater in Moskau etc. Heute sieht das anders aus, warum? Keine Toleranz für Terroristen und ihre Familien. Mittlerweile gibt es in Westeuropa Blumen und mit Farbkreide gemalte Gehsteige.]
5.2.2 Fremde Der nachfolgende Kommentar (16a) steht stellvertretend für die Ansichten gegenüber »Fremden« in den meisten polnischsprachigen Beiträgen. Kennzeichnend ist dabei eine Einstellung, die unterschiedliche Perspektiven verbindet. Der Kommentar in (16a) spannt einen Bogen von der natürlichen Anwesenheit der Einwanderer in Frankreich bis zur Geißelung und Ablehnung des religiösen Radikalismus, dem die Schuld für die Terrorangriffe zugeschrieben wird. (16a) Problemem nie jest pochodzenie, rasa, narodowość. We Francji imigranci są zjawiskiem naturalnym jako spadek po kolonialiźmie. Przez dekady Ci ludzie, doskonale się asymilowali. Aż do czasu pojawienia się radykalizmu religijnego, który wyrósł z antyglobalistycznych fobii. Imigrantów trzeba przyjmować, ale wszelkie przejawy radykalizmu religijnego i antyglobalistycznego, należy tępić w zarodku. […] (W. R., 15. Juli 2016 um 15:53) [Dt.: Das Problem ist nicht die Herkunft, Rasse oder Nationalität. In Frankreich sind die Einwanderer eine natürliche Gemeinschaft als Folge des Kolonialismus. Durch lange Jahre haben sich diese Menschen ausgezeichnet angepasst, bis der religiöse Radikalismus kam. Er wuchs aus den antiglobalen Befürchtungen heraus. Man soll die Einwanderer empfangen, aber alle Fälle des religiösen antiglobalen Radikalismus muss man im Keim ersticken.]
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5.2.3 Der sog. Islamische Staat In den Beiträgen werden von den Nutzern verschiedene Merkmale, Motive und Ziele des Islams und des sog. Islamischen Staates diskutiert. In den beiden Kommentaren (17a) und (17b) werden Aktivitäten und Ziele des Islamischen Staates genannt und dabei deutlich abgelehnt. (17a) No i tak zwane »panstwo islamskie« dopina swego…skonfliktowac, zamknac ze strachu w domu i wprowadzic chaos do tego daza….manipulacja i strategia dlugofalowa daja rezultaty. (J. L., 15. Juli 2016 um 15:01) [Dt.: So setzt der sog. Islamische Staat seinen Willen durch: Menschen gegeneinander aufbringen, sich aus Angst zu Hause verschließen, Chaos einführen… Manipulation und eine langfristige Strategie bringen ihre Resultate.] (17b) […] Wiekszosc muzulmanow to fanatycy religi i to jest niebezpieczne. Fanatyzm jest zrodlem choroby i nienawisci wsrod ludzi. Niestety czlowiek zaprzeczyl temu ze religia łaczy i uczy pokoju. (R. P.,15. Juli 2016 um 18:51) [Dt.: Die meisten Muslime sind Religionsfanatiker und das ist gefährlich. Der Fanatismus ist eine Quelle der Krankheit und des Hasses unter den Menschen. Leider hat der Mensch das religiöse Prinzip der Einheit und die Friedenslehre bestritten.]
5.2.4 Polnische Politik Der Einfluss des polnischen politischen Mainstream ist bereits in der Stellungnahme des in der Online-Meldung angeführten Ministers Błaszczak ersichtlich. Diesbezüglich setzen die Nutzer das innenpolitische Motiv fort und erweitern es auf andere politische Begebenheiten, Programme und Pläne der gegenwärtigen Regierungspartei, die den Einwanderern skeptisch gegenüber steht. (18a) wszystko zamieniają na słuszność pisowskiej propagandy …. ofiary katastrofy smoleńskiej, Brexit, zamach w Nicei obrzydliwa tępa propaganda … nie mają już żadnego paliwa aby głosić światu sukces swych wizji … PINCET już się wypaliło. (W. A. Ł., 15. Juli 2016 um 14:39) [Dt.: Sie verändern alles zugunsten der Propaganda der PiS [Partei Recht und Gerechtigkeit], die ein Opfer der Katastrophe bei Smolensk ist. Brexit, Angriff in Nizza – das ist eine abscheuliche Propaganda. Sie haben keinen Kraftstoff mehr, der Welt den Erfolg ihrer Imaginationen zu verkünden. Das Regierungsprogramm 500 Plus funktioniert nicht mehr.]
5.2.5 Das Magazin Polityka In den deutschen Kommentaren beschweren sich keine Nutzer über die politische Korrektheit des Magazins Der Spiegel. Anders verhält es sich bei der Polityka. Das polnische Blatt wird für ihre linksorientierte Position kritisiert, weil es sich gegen den Standpunkt des Ministers Błaszczak wende. Die meiste Kritik ist von
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rationalen Argumenten eher entfernt und enthält in einem emotionalen Ton saloppe Beleidigungen, wie dies die Beispiele (19a) und (19b) deutlich machen. (19a) Klaudia, ma Pani do czynienia z czytajacymi polityke i wyborcza zaslepionymi ideologami multikulturalizmu szczesliwego, ktorzy niestety nie maja zadnego zrozumienia islamu i recytuja jak dzieci w szkole co im powiedza politycznie grzeczne media […]. (J. M., 15. Juli 2016 um 20:23) [Dt.: Klaudia, Sie haben es mit den Lesern von Polityka und Wyborcza zu tun. Das sind blinde Ideologen des glücklichen Multikulti, die nichts vom Islam verstehen und nur noch Inhalte aus den politisch braven Medien wie Kinder im Kindergarten rezitieren.] (19b) »Polityka« zawsze znajdzie okazje zeby obszczekac tych ktorzy bronia nas przed terrorystami. (L. S., 16. Juli um 15:53) [Dt.: »Polityka« nimmt immer die Gelegenheit wahr, diejenigen anzuschwärzen, die uns von den Terroristen verteidigen.]
5.2.6 Europa und EU Die politische Ausrichtung der EU wird von ihren Gegnern als Gefährdung der einzelnationalen Souveränität angesehen. Die Befürworter der EU heben die Richtigkeit der politischen und gesellschaftlichen Integration hervor. In diesem Themenfeld – Europa und EU – sind in den polnischen Beiträgen polarisierende Aussagen über europäische Politik präsent, wobei die Kritik an Europa stärker akzentuiert wird. So wird die EU im Beispiel (20a) in der Opposition zum sog. Islamischen Staat gestellt oder im Beispiel (20b) als System der obligatorischen Anpassung und Gleichschaltung von einzelnen Nationen angesehen. Allerdings muss man zugleich gestehen, dass manche Kommentare eine eindeutige Zuordnung bzw. eine klare Perspektive auf die Politik in Europa und der EU nicht erkennen lassen, es sei denn sie werden z.B. von einem aussagenkräftigen Bild (vgl. Abb. 5) in ihrer Botschaft unterstützt. In Abb. 5, die als Internet-Meme in Erscheinung tritt, findet sich ein polnischer, politisch engagierter Nationaldichter Cyprian Konrad Norwid. Das Porträtfoto wird von einem Zitat begleitet: »Eine Nation, die sich empört, hat Recht auf Hoffnung, aber wehe derjenigen, die im Schweigen verfault«.8 Diesbezüglich wendet sich der multimodale Beitrag in (20b) gegen die UE und ihre Integrationspolitik (einschließlich Immigranten). (20a) Dlaczego jesteś takim pesymistą i obniżasz morale Europejczyków? Skoro Ci nie pasują lewackie rządy UE, to znaczy, że bliżej Ci do ISIS. (W. R., 15. Juli 2016 um 15:52) 8 | Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Bildunterschrift zur politischen Dichtung von C.K. Norwid passt, sie ist jedoch kein Originalzitat aus einem der Werke von C.K. Norwid, sondern durch viele Zitierungen (Straßenproteste, Plakate, Memes etc.) dem Norwid zugewiesen. Das Zitat kommt aber vom französischen Dichter Reboul.
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Roman Opiłowski [Dt.: Warum bist du so ein Pessimist und senkst du die Moral der Europäer? Wenn die linksorientierten Regierungen der UE dir nicht passen, dann bist du näher an dem sog. Islamischen Staat.] (20b) […] Mam nadzieje ze referendum w sprawie Polexit bedzie rozpisane niedlugo ….co da milinom takim jak ja szanse ocalic Najswietrza Rzeczypospolita przed lewactwem i obojniactwem…. (J. H., 15. Juli 2016 20:18) [Dt.: Ich hoffe, dass die Volksabstimmung für Polexit demnächst verkündet wird. Sie gibt Millionen Menschen wie mir eine Chance, die heiligste Republik Polen vor dem Linksradikalismus und der europäischen Gleichschaltung zu bewahren.]
Abbildung 5: Bild zum Kommentar (20b) im Facebook-Profil von Polityka vom 15.07.2016
5.2.7 Metakommunikation Mit diesem Themen- und Handlungsfeld geht eine gewisse Entfernung vom eigentlichen Kern der ersten Online-Meldung einher. In den polnischen Meta-Kommentaren handelt es sich um eine spezifische Argumentation der User, die nicht mehr sachliche und themengebunden Gründe, Kontexte und Ursachen nennen, sondern das Wesen des Kommentars als Sprachhandlung oder die handelnden Personen, ihre Motive und Einstellungen, explizit interpretieren und dabei zumeist abwerten. Demzufolge ist z.B. im Beitrag (21a) die Rede von einem »manipulierten Kommentar« eines anderen Nutzers. Im Beispiel (21b) wird einer Nutzerin der Mangel eines »sachlichen Gesprächs« vorgeworfen. Zugegeben lässt sich die Richtigkeit der einen oder anderen Seite ohne längere Diskussionsanalyse nicht entscheiden. An dieser Stelle soll le-
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
diglich auf die auftretende Sprachstrategie der Metakommunikation in Online-Texten hingewiesen werden. (21a) Zadziwiające jak duże poparcie dostał tak mocno zmanipulowany komentarz P. B. (L. M., 16. Juli 2016 um 08:09) [Dt.: Es ist erstaunlich, wie der stark manipulierte Kommentar von P. B. so große Bestätigung in den Antworten gekriegt hat.] (21b) Jestem kobietą i niestety zauważam, że takie komentarze najczęściej sadzają kobiety. Wstyd mi za to. Pani chyba nie słyszała o kulturze, ani o merytorycznej rozmowie. (M. P., 16. Juli 2016 um 13:59) [Dt.: Ich bin Frau und leider bemerke ich, dass die Frauen solche Kommentare am häufigsten posten. Ich schäme mich dafür. Sie verstehen wohl nichts von der Kultur und vom sachlichen Gespräch.]
5.2.8 Beleidigungen Das Beleidigen kann mitunter ähnlich wie die Metakommunikation als Sprachstrategie bezeichnet werden, mit der die Nutzer eine (scheinbare) Akzeptanz eigener Ansichten erreichen wollen, selbst wenn sie dies auf eine obszöne und erniedrigende Weise tun. Damit zeichnet sich jedoch ein wichtiger Aktivitätsbereich ab, der in den anderen, die zeitliche und räumliche Nähe und Anwesenheit der Akteure verlangenden Medien nicht bzw. sporadisch anzutreffen ist. Diesbezüglich illustrieren die Beiträge (22a) und (22b) die interpersonale Strategie der Beleidigung und zugleich die wissensbezogene Kenntnis der Beleidigung als Sprachhandlung in den Online-Kommentaren. (22a) Wiązek, jaki ty jesteś żałosny… Szkoda słów. (P. M., 15. Juli 2016 um 14:48) [Dt.: Wiązek, du bist so jämmerlich… Es ist nicht der Rede wert.] (22b) O losie ja chyba śnię himalaje to pagórki przy tej głupocie! !!!!! (B. P., 15. Juli 2016 um 20:57) [Dt.: Schöne Bescherung. Ich träume wohl. Der Himalaja ist ein Hügel bei dieser Dummheit!!!]
Das polnische Korpus lässt eine besondere Unterkategorie hinzufügen. Die Beleidigung und Herabsetzung können nicht nur die Nutzer, sondern auch eine Person bzw. Personengruppe aus der ursprünglichen Online-Meldung betreffen. Da die Äußerung und Ansichten des Ministers M. Błaszczak von einem Teil der Online-Öffentlichkeit kontrovers gehalten werden, bedienen sie sich der beleidigenden Bezeichnungen: (22c) Totalny cymbał (J. M., 15. Juli 2016 20:31); [Dt.: Volltrottel.]
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Roman Opiłowski (22d) Prymitywny członek sekty (I. K-Z., 15. Juli 2016 um 15:24); [Dt.: Ein primitives Sektenmitglied.] (22e) Fermenciarz!!! (J. Sz., 15. Juli 2016 um 14:33); [Dt.: Unruhestifter!!!]
6. Z usammenfassung und S chlüsse für den deutsch - polnischen V ergleich Da im deutschen und polnischen Korpus bestimmte Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vorkommen einzelner Themenfelder oder in der sprachlichen und multimodalen Realisierung desselben Themenfeldes auftreten, wird im Folgenden ein zusammenfassender Überblick in tabellarischer Form geboten. Tabelle 1: Deutsche und polnische Themenfelder im Vergleich Deutsche Themenfelder
Polnische Themenfelder
Tod: Opfer, Beileid, Trauer
Unmittelbare Bezüge zur Online-Meldung
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Bilder der Opfer
Standpunkt des Ministers M. Błaszczak
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Trotz des gemeinsamen Themenfeldes treten erhebliche Unterschiede in seiner Realisierung auf. Deutsche Beiträge thematisieren den Tod aus unterschiedlichen Perspektiven, äußern Mitleid mit den Verstorbenen und Familienangehörigen und formulieren Appelle um Ruhe für die Trauer. Polnische Beiträge stellen den Tod (im Bild) parodistisch und unanständig dar, verhöhnen die Ofer, beleidigen die Linksorientierten und instrumentalisieren den Terroranschlag zu den polnischen innenpolitischen Auseinandersetzungen. Ein echtes Mitleid kommt marginal zum Ausdruck. Diese zwei unterschiedlichen Themenfelder resultieren aus einem Neben- und Zusatzthema in der zugrundeliegenden Online-Meldung. Deutsche Beiträge diskutieren über die Grausamkeit der Fotos vom Anschlag und die Würde der Opfer. Polnische Beiträge führen eine polemische Debatte über die Aussage des Ministers und enthalten zustimmende und ablehnende Aussagen mit der Dominanz der Letzteren.
Sowohl das Themenfeld als auch dessen Realisierungen Angriff in Nizza: Verlauf, Ursachen, (Argumentationen und Konklusionen) stimmen in den deutschen und polnischen Kommentaren überein. Die Folgen Online-Beiträge behandeln vor allem den Verlauf, Ursachen und Folgen des Angriffes mit einer gelegentlichen Referenz auf den politischen Kontext.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
Angriff in Nizza aus persönlicher Sicht
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Terror auf der Welt
In diesem gemeinsamen Themenfeld gibt es zum Teil abweichende Realisationen. Allerdings stellen deutsche und polnische Kommentare ähnliche Fragen nach den Gründen und Folgen des Terrors für die Menschen und die Welt. In den polnischen Kommentaren fehlt es aber an einer persönlichen, vertieften Reflexion der Terroranschläge. Die Akzeptanz oder Feindlichkeit gegenüber den Fremden sind zwei gemeinsame Haltungen, die in den deutschen und polnischen Kommentaren zum Ausdruck kommen. Deutsche Beiträge scheinen aber emotionsreicher und direkter in ihren Botschaften zu sein. Polnische Beiträge vermitteln keine emotionalen Standpunkte, sondern versuchen historisch und politisch zu argumentieren.
Fremde
Mittelbare Bezüge zur Online-Meldung
Deutsche Beiträge enthalten eine persönliche Identifikation, emotionale Verarbeitung und echtes Mitgefühl für Opfer in Nizza. Dieses Themenfeld ist in den polnischen Beiträgen nicht vorhanden.
Der sog. Islamische Staat
Deutsche Politik
Polnische Politik
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Das Magazin Polityka
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Metakommunikation
Beleidigungen
Hier herrscht eine weitgehende Einigkeit darüber, dass die Religion und der fanatische Glaube der Muslime den Terroranschlägen zugrunde liegen. Sowohl deutsche als auch polnische Beiträge widersetzen sich jeweils den Plänen und Programmen der Regierungsparteien und machen die Spitzenpolitiker für das politische Chaos und unkorrekte Entscheidungen verantwortlich. Die kritische Haltung gegenüber dem Regierungs-Mainstream ist ein gemeinsamer Nenner für deutsche und polnische Beiträge. Polnische Nutzer kritisieren die Linksorientierung des Magazins Polityka, ihr Horizont gegen die Regierungspartei und schließlich allzu große Offenheit und Verständnis den Immigranten gegenüber. Das ist beim Spiegel nicht der Fall. In den polnischen Kommentaren lassen sich nur bedingt bejahende Stimmen für die offene EU-Integrationspolitik finden. Vielmehr dominiert der kritische Ton im Bereich der allzu großen Offenheit und Toleranz der EU. Der europäische Kontext politischer Entscheidungen kommt in den deutschen Beiträgen nicht vor. Die Metakommunikation ist eine immanente kommunikative Strategie in den Online-Kommentaren. In den deutschen Beiträgen finden sich Beispiele für eine sachliche, rational argumentierende Metastrategie. Polnische Beiträge kritisieren aber direkt andere Nutzer und können als Angriffe auf andere Nutzer interpretiert werden. Die Hassrede mit den beleidigenden Formulierungen für die Nutzer ist in den beiden Sprachen vorhanden. In den polnischen Beiträgen kommen darüber hinaus herabsetzende Ausdrücke für den in der Online-Meldung zitierten Minister vor.
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Aus der Analyse von Online-Beiträgen geht ein erster wichtiger Befund hervor: Unter den insgesamt zwölf Themenfeldern finden sich acht gemeinsame Bereiche, während vier Felder jeweils nur in den deutschen oder polnischen Kommentaren auftreten. Konvergente und divergente Themenfelder lassen sich anhand einer nachfolgenden Gliederung der Online-Kommunikation in homogene, glokale (unten als translokal genannt) und lokale Bereiche einordnen, die von Hauser/Luginbühl (2011: 79-89) vorgeschlagen und hier entsprechend gebraucht werden: a) homogene Themenfelder: Für die gemeinsamen Felder wie »Angriff in Nizza: Verlauf, Ursachen, Folgen«, »der sog. Islamische Staat«, »Deutsche Politik« und »Polnische Politik«9 ist das gleiche semantische Konzept kennzeichnend. Die Realisierung dieser Konzepte, d.h. die inhaltliche und argumentative Ausfüllung und durchgeführte Perspektivierung in einem Konzept, schafft wichtige Grundlagen für die Lage der Innenpolitik eines Landes, die Betrachtung des politischen Geschehens auf der Welt und die Einschätzung der Terrorgefahr und deren politischen Entgegenwirkung. Die gemeinsamen, deutschen und polnischen Themenfelder konstruieren ein starkes, meinungsbildendes und übereinzelsprachliches bzw. übereinzelnationales Wissenskonzept, das andere Online- und Offline-Diskurse maßgeblich beeinflussen kann. Die zwei übrigen Themenfelder »Metakommunikation« und »Beleidigungen« bilden ebenso homogene, übereinzelkulturelle Felder, aber sie betreffen den Wissensbestand der Sprachstrategien in der Textsorte Online-Kommentar. b) translokale Themenfelder: Mit der Bezeichnung Translokalisierung sollen hier gemeinsame Themenfelder verstanden werden, deren interne Realisierungen jedoch in den einzelnen communities of practice bestimmte Abweichungen aufweisen. Im untersuchten deutsch-polnischen Online-Korpus macht das untergeordnete Konzept des Mitgefühls einen erheblichen Unterschied aus. In den gemeinsamen Themenfeldern »Tod: Opfer, Beileid, Trauer« und »Terror auf der Welt« mangelt es in den polnischen Beiträgen an einem persönlichen und echten Mitgefühl für Opfer des Anschlags. Im Gegensatz dazu wird dieses Konzept in den deutschen Beiträgen intensiv vertreten. Polnische Nutzer äußern demgegenüber wenig persönliche Gefühle, gehen verachtend mit dem Tod um und machen auch ihre Beiträge vom zusätzlichen Thema in der polnischen Online-Meldung, d.h. der Äußerung des Ministers M. Błaszczak, abhängig. Universelle Werte und der traditionelle Umgang mit Themen wie dem Tod unschuldiger Menschen in Nizza und die Trauer um die Verstorbenen werden in den polnischen Beiträgen abgelehnt, stark ironisiert 9 | Obwohl die Themenfelder »Deutsche Politik« und »Polnische Politik« einzelkulturelle Bezeichnungen haben, gehören sie zu einem gemeinsamen Feld im Sinne der Perspektivierung der jeweils nationalen inneren Politik in einem entsprechenden deutschen oder polnischen Kommentar.
Thematische Felder in deutschen und polnischen Online-Kommentaren
und deutlich durch politische Auseinandersetzungen in Polen überschrieben. Eine mögliche Erklärung liegt in einer intensiven Beschäftigung und Durchdringung des Alltagslebens polnischer Bürger durch die Innenpolitik, die seit dem Regierungswechsel in 2015 verschiedene Kontroversen in Polen und in Europa auslöst. Im Unterschied dazu sind in den deutschen Themenfeldern mitfühlende Emotionen vorhanden, die sich in der gemeinsamen Reflexion des Ereignisses manifestieren. Die positiven Empfindungen und Emotionen in den deutschen Beiträgen haben allerdings zum Teil eine Kehrseite: So wird in der Kategorie »Fremde« in den deutschen Texten eine autoritäre Haltung ersichtlich, die sich in imperativen Formen gegen die Andersgläubigen äußert. Auf dem anderen Pol, der für Akzeptanz gegenüber Muslimen wirbt, wird in autoritärem Ton kommentiert. Die direkte räumliche Nähe und alltägliche Nachbarschaft mit Muslimen in Deutschland kann als Beweggrund für diese emotionalen Haltungen vermutet werden. c) lokale Themenfelder: Wie oben angemerkt gibt es nur vier Themenfelder, die entweder in den deutschen oder polnischen Beiträgen repräsentiert sind. Schauen wir auf die oben dargestellte Tabelle, so haben wir zwei nicht zusammenhängende Themenfelder »Bilder der Opfer« und »Standpunkt des Ministers M. Błaszczak«. Diese Trennung hängt von der Thematik der jeweils ursprünglichen, deutschen und polnischen Online-Meldung des Spiegel und der Polityka. Im weiteren lokalen Themenfeld »Angriff in Nizza aus persönlicher Sicht« drücken deutsche User eine persönliche Identifikation und mentale Verarbeitung des schrecklichen Ereignisses aus. Die letzten zwei lokalen Sachverhaltszusammenhänge »Das Magazin Polityka« und »Europa und EU« gehen aus den polnischen Beiträgen hervor. Im ersten wird dem Nachrichtenmagazin die linkspolitische und liberale Orientierung an der EU vorgeworfen, was die Anwesenheit der Gegner dieses Magazins in seinem eigenen Online-Forum bedeutet. Andererseits passt sich diese Revision der oppositionellen Medien in den gegenwärtigen Trend in Polen ein, meinungsbildende Medien als pro und contra politisches Mainstream zu stigmatisieren. Die Kommentare zu Europa und zur EU sind eine Fortsetzung der schon geäußerten Kritik an der europäischen Integrationspolitik. Dies weist auf eine intensive Anwesenheit der rechtsorientierten Nutzer in dem Online-Forum hin. Außer den thematischen Feldern ist immer noch auf die Multimodalität der polnischen Beiträge hinzuweisen. Sprache-Bild-Texte eröffnen einen größeren Darstellungs- und Interpretationsraum. Während im deutschen Korpus kaum Bilder, Memes oder Grafiken vorkommen, bieten polnische Nutzer eine ganze Palette von bildlichen Kommentaren in Form von Memes, die entweder eigenständig sind oder den sprachlichen Kommentar in seiner Botschaft unterstützen. Kennzeichnend ist das Themenfeld »Angriff in Nizza: Verlauf, Ursachen und Folgen«, in dem zwar keine deutlichen Unterschiede in den
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versprachlichten Konzepten bestehen, hingegen werden im polnischen Korpus diese Konzepte großenteils mit multimodalen Mitteln umgesetzt (vgl. Kap. 5.1.3, Bsp. 14b). Die Mannigfaltigkeit von behandelten Themen sowie ihre interkulturelle Reichweite und Relevanz weist darauf hin, dass sich der Status von alternativen Online-Öffentlichkeiten immer deutlicher aus der Peripherie ins Zentrum der öffentlichen Bedeutsamkeit, Entscheidung und Repräsentation verschiebt. In der anfangs chaotischen, unüberschaubaren und unkontrollierten Sphäre des Internets entstehen relevante Räume der Repräsentanz und Meinungsbildung von Gesellschaften. Gegenwärtige Prozesse in den hochentwickelten Staaten sind von dem Informationsfluss und von den professionellen und nichtprofessionellen Akteuren (Journalisten, Blogger, YouTuber, Kommentatoren etc.) in der virtuellen Welt bedingt. Eine internetbasierte Präsenz und Aktivität von Gesellschaften determiniert immer häufiger den Verlauf und die Ergebnisse wirklicher Situationen und Ereignisse. Diese Dynamik wird noch steigen, insbesondere dadurch, dass die mobile Technologie und Mischformen der Kommunikation sich ständig entwickeln und sehr gekonnt soziale und kommunikative Bedürfnisse von Gesellschaften bedienen.
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Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards Das Internet-Meme als multimodaler Kommunikationsakt in alternativen Öffentlichkeiten Andreas Osterroth This article analyzes internet memes with regard to alternative publics. At this, the meme is constitutive since certain social groups solely exist to communicate with memes or about them. Concerning the alternative publics it is possible to make memes available in the traditional public and therefore convey certain specific features. In this case, memes can be perceived as subversive which leads to possible sanctions by governmental institutions. Keywords: collective, semiosis, communicative practice, verbal-pictorial-text, text linguistics
1. D as I mageboard als alternative Ö ffentlichkeit Imageboards sind spezielle Foren, deren Hauptzweck darin besteht, Bilder auszutauschen bzw. über Bilder miteinander zu kommunizieren. Diese können auch als alternative Öffentlichkeit oder in der Mehrzahl alternative Öffentlichkeiten betrachtet werden. Warum kann der Begriff Öffentlichkeit jedoch überhaupt im Plural verwendet werden? Laut Drücke/Winker (2005), die sich auf Fraser (2001) beziehen, haben »Mitglieder marginalisierter Gruppen keinen Ort, wo sie sich untereinander über ihre Bedürfnisse, Ziele und Strategien austauschen können. Deswegen haben es diese Gruppen immer wieder für notwendig befunden, eigene alternative Öffentlichkeiten herzustellen« (Drücke und Winker 2005, 40f.). Dies bedeutet, dass »eine einzige Öffentlichkeit« (ebd.) nicht ausreicht, um die Bedürfnisse einer Gesellschaft zu erfüllen und es verschiedene Gruppen gibt, die sich nicht in der traditionellen Öffentlichkeit bewegen wollen oder können. Laut Fraser (2001) entstehen so »parallele diskursive Räume […], in denen Angehörige untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden
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und in Umlauf setzen, die ihnen wiederum erlauben, oppositionelle Interpretationen ihrer Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren« (Fraser 2001, S. 129). Die Betonung untergeordneter sozialer Gruppen, die Fraser (ebd.) hier vornimmt, muss nicht immer zutreffen, es ist aber möglich und kann Antriebsmotor für die Entstehung einer alternativen Öffentlichkeit sein. Auf das Imageboard und Bilder teilende Gemeinschaften wie 9GAG treffen die Annahmen aber besonders zu, da hier mithilfe von Internet-Memes alternative Diskurse geschaffen werden, die so entweder nicht in der traditionellen Öffentlichkeit stattfinden könnten oder eine gänzlich andere Bewertung erfahren. Eine große Rolle spielen dabei die alternativen Medien, mit Hilfe derer hier kommuniziert wird, um schlussendlich womöglich auch auf die traditionellen Medien und traditionelle Öffentlichkeit einzuwirken. Alternative Medien können hier soziale Netzwerke sein, aber auch Imageboards, andere Foren etc. Es ist also zunächst festzuhalten, dass alternative Öffentlichkeiten auf alternativen Medien fußen können, im Gegensatz zur traditionellen Öffentlichkeit, welche sich auf etablierte Massenmedien stützt (vgl. Wimmer 2015: 192). Imageboards basieren auf der Möglichkeit der digitalen Medien, Sprache-Bild-Texte (Stöckl 2011) zu erstellen und diese mit anderen zu teilen, zum Zwecke der Kommunikation im weitesten Sinne. Mithilfe dieser Texte werden alternative Diskurse geführt, Hierarchien etabliert und Gemeinschaften konstituiert, die quasi basisdemokratisch organisiert ist. Am Beispiel der US-Wahl lässt sich gut sehen, inwiefern ein Imageboard als alternative Öffentlichkeit verstanden werden kann. Während die traditionellen Massenmedien an journalistische Grundsätze gebunden sind und eine gewisse Professionalität wahren, kann in Imageboards alles zur Kommunikation genutzt werden, was dem Nutzerschwarm gefällt. In einem Imageboard kann jeder Text erfolgreich sein, wenn die anderen Nutzer ihn favorisieren (liken) und auf anderen Plattformen teilen. Innerhalb dieses Raums sind nun auch neue kommunikative Praktiken möglich, also andere »gesellschaftliche herausgebildete konventionalisierte Verfahren zur Bearbeitung rekurrenter kommunikativer Zwecke« (Fieler et al. 2004: 16). Zu diesen Praktiken zählt das Teilen von Internet-Memes, welche spezielle Sprache-Bild-Texte sind, die sehr häufig verwendet werden. Der Einfluss der alternativen Öffentlichkeit der Imageboards kann so weit gehen, dass Beiträge in den analogen Diskurs herüberschwappen und in der traditionellen Öffentlichkeit beachtet werden müssen. So ist es z.B. auf dem Weltfrauentag geschehen, als dutzende von Teilnehmerinnen in Imageboards geteilte Texte auf ihre Schilder gedruckt hatten. In den meisten Fällen handelte es sich um Memes, der kommunikativen Standardpraktik in der alternativen Öffentlichkeit der Imageboards.
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards
2. D as I nterne t-M eme als kommunik ative P r ak tik in alternativen Ö ffentlichkeiten Der Ausdruck Meme wird von verschiedenen Wissenschaftlern auf unterschiedliche Arten verwendet. Jede Betrachtung beginnt dabei stets mit dem Verweis auf Richard Dawkins (Dynel 2016: 661 und Shifman 2014: 16f.), was aufgrund des Lexems sinnvoll und notwendig ist. Das englische Wort meme ist eng verwandt mit dem im Deutschen bekannten Mem, welches aus der Übersetzung zu den Arbeiten von Dawkins stammt (vgl. Dawkins 1978). Der Grundgedanke des Mems ist die Weiterverbreitung von kulturellen Inhalten, wie »Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Kunst, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen« (Dawkins 1978: 227). Er entwickelt diesen Begriff im Bezug zum Lexem Gen, und Memetik im Bezug zur Genetik.1 Meme können prinzipiell alle Praktiken sein, es gibt keine »mediale oder semiotische Spezifik« (Herwig 2010: 7). So begreift beispielsweise Shifman (2014) die Memes sehr weit als »Einheiten kultureller Informationen, die von Person zu Person weitergegeben werden, allmählich jedoch das Ausmaß eines gemeinsamen gesellschaftlichen Phänomens annehmen« (Shifman 2014: 23). Dynel (2016) hat ein ähnliches Verständnis von Memes: In Internet users’ parlance, the label »Internet meme« applies to any artifact (a film, spoof, rumor, picture, song etc.) that appears on the Internet and produces countless derivatives by being imitated, remixed, and rapidly diffused by countless participants in technologically mediated communication. (Dynel 2016: 662)
Miltner (2011) untersucht in diesem Zusammenhang die sog. LOLCATS (Miltner 2011), die auf Katzenbildern basieren, auf welchen humorvolle Bildunterschriften in fehlerhafter Orthografie, Lexik oder Syntax angebracht werden. Da dieser Beitrag sich jedoch nur mit Imageboards befasst, sollen Memes in einem allgemeinen Sinn als Sprache-Bild-Texte verstanden werden. Diese Bedeutungsveränderung ermöglicht einen zunächst prototypischen (vgl. Sandig 2000) Blick auf das Artefakt. Auch wenn andere Ausdrücke denkbar wären, werde ich für diesen Aufsatz das Lexem Meme (/mi:m/) nutzen. Damit wird in Kauf genommen, dass die Bedeutung des Memes verengt wird, da hier körperliche Praktiken wie das
1 | Ich schließe mich Dynel (2016) an und vermeide eine Bewertung der Meme-Theorie: »At this point a disclaimer is in order: I do not intend to dwell on, let alone evaluate, ›meme theory‹, which has aroused considerable controversy, raising doubts about whether it is capable of becoming a proper theory« (Dynel 2016).
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Tanzen zu einer bestimmten Musik etc. nicht mit aufgenommen werden.2 Der Gegenstand ist in seiner Form aber bereits komplex genug, um diese Reduktion zu erlauben. Auf bauend auf dieser Festsetzung sei das Meme wie folgt definiert (vgl. Osterroth 2015): Memes sind Sprache-Bild-Texte, deren Bedeutung sich durch kollektive Semiose entfaltet. Ein Internet-Meme besteht aus zwei voneinander abgesetzten, sprachlichen Elementen und einem Bild: Abbildung 1: Prototypischer Auf bau eines Internet-Memes (eigene Darstellung)
Abb. 1 zeigt den prototypischen Auf bau, der im Zusammenspiel zwischen Text und Bild entsteht. Die einzelnen Teile ergeben nur in Kombination ihrer Bezugselemente ein Internet-Meme. Die obere Zeile legt zunächst eine Situation, eine grundlegende Information fest bzw. eröffnet einen Frame (vgl. Filmore 1985). Das Bild illustriert diesen Frame oder bestimmte Aktanten, meist den imaginären Verfasser des Textes und die untere Zeile stellt die Punchline oder Pointe dar. Während die zwei sprachlichen Anteile meist schnell verstanden werden können, entzieht sich der bildliche Anteil dem Außenstehenden zunächst. Die daraus folgende Eigenschaft, dass Internet-Memes nur einer bestimmten, mehr oder weniger kleinen Gruppe Kommunizierender verständlich sind, die zur Entschlüsselung in der Lage ist, ist für Internet-Memes konstitutiv: »Put in simple terms, Internet memes are inside jokes or pieces of hip underground knowledge, that many people are in on« (Bauckhage 2011: 42). Internet-Memes werden meist genutzt, um innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft online miteinander zu kommunizieren. Dies kann vom Informieren über Neuigkeiten der Zeitgeschichte bis hin zu intimsten Geständnissen das Privatleben betreffend reichen. Anhand eines Beispiels soll der Vorgang der Internet-Meme-Benutzung (nicht Erschaffung) verdeutlicht werden: Stellen Sie sich vor, Sie möchten als Teil der Community der weitgehend ano2 | Siehe z.B. den ›Harlem Shake‹, der auch als Meme aufgefasst werden könnte (http:// knowyourmeme.com/memes/harlem-shake) und Shifman (2014), die Memes auch viel weiter versteht.
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards
nymen Gruppe möglichst unterhaltsam bzw. auffallend ein Geständnis ablegen. Für ebendiesen kommunikativen Zweck hat sich der ›Confession Bear‹ als Makro durchgesetzt: Ihr Geständnis: »Ich habe in den letzten 4 Jahren schon oft mit meinen Nachbarn geredet. Sie haben mich bereits in ihr Haus gelassen und mir Essen gegeben; und ich kenne immer noch nicht ihre Namen.« Diese Information wird nun eingeteilt in den Frame »Geständnis« und darin die Grundinformation »Ich habe in den letzten 4 Jahren schon oft mit meinen Nachbarn geredet«, welche oben auf dem Meme zu finden ist und in die Punchline »Sie lassen mich in ihr Haus, geben mir Essen und ich kenne immer noch nicht ihre Namen«.3 Die sprachlichen Anteile werden nun vor das Bild eines ernst schauenden Bären platziert und das Meme ist fertig. Auf einen derartigen Text gibt es dann Reaktionen, die ebenfalls in Internet-Meme-Form oder rein sprachlich gegeben werden, was innerhalb der Gemeinschaft eine Konversation entstehen lässt. Hinsichtlich dieser kommunikativen Aspekte stellen sich nun verschiedene Fragen, die innerhalb dieses Beitrages zu beantworten sind: Wie entstehen Internet-Memes bzw. was unterscheidet ein Internet-Meme von anderen Sprache-Bild-Texten? Was ist ihre pragmatische Funktion bzw. gibt es pragmatische Gesetzmäßigkeiten oder Regeln, denen die Verwendung folgt? Welche Rolle spielt das Meme in alternativen Öffentlichkeiten? Vor der Beantwortung dieser Fragen soll zunächst ein Überblick über die bisherige Forschung zum Gegenstand gegeben werden.
3. S tand der F orschung Auch 2018 noch stimmt die Aussage: »internet memes […] have been largely ignored in academia« (Miltner 2011: 7) bzw. »an investigation into the underlying drivers of memes ubiquity has not yet been undertaken« (Miltner 2014). Löber (2011) stellt das für den deutschsprachigen Raum ebenso fest, nämlich, dass bisher keine systematische Beschreibung stattgefunden hat (vgl. Löber 2011: 10). Dynel spricht in diesem Zusammenhang von »prevalent but underresearched phenomenon of humorous Internet memes« (Dynel 2016), auf das in den folgenden Abschnitten Bezug genommen wird. In der Kulturwissenschaft ist das Werk von Shifman (2014) einschlägig. Es existieren auch populärwissenschaftliche Betrachtungen (erlehmann und plomlompom 2012), die einen Einblick in das Thema geben und es existieren Betrachtungen am Rande nahestehender Themen (vgl. z.B. Opiłowski 2013), aber innerhalb der Linguistik gibt es kaum eine abschließende Betrachtung.
3 | http://9gag.com/gag/aGxGZXw?sc=meme [16.10.2018].
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Andreas Osterroth »What is important here, is that the Internet meme has emancipated itself as an independent creativity-based species, now omnipresent in online reality« (Dynel 2016: 661).
Dieser Definition ist auf den Grund zu gehen, beginnend mit dem Ausdruck Sprache-Bild-Text, der von Stöckl (2011: 111f.) etabliert wurde. Der Textbegriff als solcher ist innerhalb der Linguistik durchsetzt von »Heterogenität und Widersprüchlichkeit« (Klemm 2002), was dazu führt, dass es sehr viele verschiedene Möglichkeiten gibt, Verbindungen aus Sprache und Bild zu beschreiben: »Texturen« (Maiwald 2004: 105), »Gesamttext« (Doelker 2006: 61), »Sehfläche« (Schmitz 2011) oder »Kommunikat« (Diekmanshenke 2011). Stöckls »SpracheBild-Text« (2011: 111f.) ist eine passende Beschreibung, die sich auf das Meme anwenden lässt, da der Begriff konzipiert wurde, um komplexe Arrangements von Sprache und Bildern linguistisch beschreibbar zu machen. Dies genügt jedoch noch nicht, um eine vollständige Beschreibung des Phänomens zu ermöglichen. Ein Meme ist keine gewöhnliche Textsorte, da seine Entstehung nicht einer einzigen Autorenschaft unterliegt. Ein Meme wird erst durch den viralen Aspekt zu einem Meme (kollektive Semiose), was an einem Beispiel verdeutlicht werden soll. Nehmen wir einmal an, Sie wollen einen Werbetext schaffen, eine Textsorte, die dem Meme nicht unähnlich ist. Nach einem kreativen Prozess können Sie dies erreichen, den Text ausdrucken und an eine Litfaßsäule hängen. Wenn Sie nun ein neues Meme erschaffen wollen, dann beginnen Sie zunächst mit einem ›memefähigen Artefakt‹, einem Text, der potenziell zu einem Meme werden kann. Dies liegt aber nicht in Ihrer Macht, da der Schwarm der Internetnutzer schlussendlich entscheidet, ob und wie das Meme entsteht. Dieser Prozess wird von Herwig (2010: 10) als »kollektive […] Semiose« beschrieben, die im Folgenden näher erläutert werden soll.
4. E ntstehung , V ariation und V erbreitung : D ie kollek tive S emiose »Geht die virale Verbreitung über die erste und zweite oder gar dritte Teilungsgeneration hinaus, so dass am Ende ein relevanter Teil der Social-Network-Nutzer insgesamt erreicht wird, spricht man von Memen [sic!] oder Internet-Hypes/ InternetPhänomenen« (Primbs 2016: 62).4 Diese Definition entstammt nicht der Linguistik und erfasst das Phänomen auch nur unvollständig. »[O]ne crucial feature [comes] into focus: modification/transformation, which distingu4 | Es ist unklar, was Primbs hier mit »relevant« meint, aber diese Schwelle wurde noch von niemandem zufriedenstellend definiert, da sie fast nicht zu ermitteln ist.
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards
ishes a meme from a viral« (Dynel 2016: 662). Der Hauptunterschied liegt in der Variation, der Modifikation oder Transformation. Bei Memes ist es wichtig, zwischen der Entstehung eines Memes und der Erstellung einer Variation zu unterscheiden, die nur zur weiteren Verbreitung beiträgt. Die Verwendung bekannter Memes wurde weiter oben erläutert, nun soll anhand eines Beispiels der seltenere Fall dargestellt werden: die Entstehung eines Memes. Phase 1: Das memefähige Artefakt Ein Nutzer erstellt einen Text, der potenziell dazu in der Lage ist, ein Meme zu werden. Der Auf bau entspricht oft der oben beschriebenen, prototypischen Konstellation. Das erste Artefakt, aus dem später ein Meme wird, beschreibt oft eine Situation, die die spätere Variation mitbestimmt. Am 19. Mai 2011 war dies das Good Guy Greg-Artefakt:5 Abbildung 2: Good Guy Greg6
In den alternativen Öffentlichkeiten eines Imageboards suchen die Nutzer stets nach innovativen Möglichkeiten, sich auszudrücken oder bestimmte Sprech-/ Bildakte auszuführen. Die Herkunft des Memes ist nicht vollständig geklärt: Good Guy Greg is rumored to have started on 4chan’s/b/(random) board but an archived thread has yet to be found. On April 26th, 2011, the template photo was uploaded
5 | http://knowyourmeme.com/memes/good-guy-greg [20.7.16]. 6 | http://knowyourmeme.com/memes/good-guy-greg [20.7.16].
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Andreas Osterroth to the image remixing site Canvas[1] with the description »This is Good Guy Greg.« The Canvas thread received over 570 remix replies within 11 months.7
Die erste Benutzung in dem Imageboard beschrieb sehr komprimiert die Geschichte, dass ein Übernachtungsgast das Frühstück gemacht hatte, was eine positive Erfahrung ist. Kombiniert mit dem Bild eines sympathisch schauenden jungen Mannes bricht das die Erwartungshaltung, denn Übernachtungsgäste würden sich gerade nicht so verhalten und vielleicht sogar ein Frühstück einfordern. An dieser Stelle ist auch zu sehen, welcher alternativen Kommunikationsmöglichkeiten die Nutzer sich hier bedienen, was Shifman (2014) sehr prägnant auf den Punkt bringt: Da Meme[s] gemeinsame Sphären kulturellen Wissens errichten, erlauben sie uns, komplexe Ideen mit einer kurzen Phrase oder einem Bild zu vermitteln. Statt also zu sagen: »Ich hatte ein schlechtes Date und fühle mich elend und einsam«, kann man einfach die »Forever Alone«-Figur einfügen. (Shifman 2014: 165)
Nun ist in der obenstehenden Herkunftsbeschreibung bereits die Rede von »570 remix replies«, was der Kern der Meme-Kommunikation ist und im Folgenden unter ›Variation und kollektiver Semiose‹ erläutert werden soll. Phase 2: Variation und kollektive Semiose Das memefähige Artefakt wird zunächst der Community des Imageboards präsentiert, eine Handlung, die die Bedeutung des Memes für die alternativen Öffentlichkeiten beispielhaft klarmacht. Einfache Benutzer eines Boards können sich rein rezeptiv verhalten und ihr Mitwirken ausschließlich dadurch zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Dinge favorisiert werden (like) oder eben nicht (nichts tun, dislike). Es ist aber auch möglich, in die (alternative) Öffentlichkeit zu treten und ein Meme, und damit verbunden auch ein Gefühl oder eine Geschichte, vorzustellen und sich, ganz wie in der traditionellen Öffentlichkeit, einer Bewertung auszusetzen. Die Diskurse in einem Imageboard bedienen sich anderer Mittel als die traditionellen Diskurse, aber im Grunde haben ebenso wie der ›realen‹ Welt diejenigen Aktanten Erfolg, die beliebt sind. In der Community des Imageboards haben nun alle Nutzer zwei Möglichkeiten, mit dem vorgestellten memefähigen Artefakt umzugehen. Entweder überzeugt das Artefakt nicht genug Leute und verschwindet aus der »Memesphere« (Miltner 2011: 13) oder es überzeugt die Gemeinschaft und wird zu einem wiederholten Text. Dieser Text kann nun Memestatus erreichen, wenn Variation ins Spiel kommt. Ein einzelner Text, der unverändert bleibt, kann nicht als Meme angesehen werden, erst durch die Nachahmung, 7 | http://knowyourmeme.com/memes/good-guy-greg [20.7.16].
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die Variation und weitere Semantisierung des Artefakts kann davon gesprochen werden. Das Good Guy Greg-Artefakt hat sich schnell etabliert und es entstanden weitere Derivate, bei denen zunächst die textlichen Aspekte geändert wurden. Auf die Geschichte des Übernachtungsgastes hin wurde der Text angepasst:8 Tabelle 1: Variation und kollektive Semiose urspr. Artefakt
Derivat A
Derivat B
Derivat C
sleeps on your couch
knocks ashtray onto floor
liked a band before they made it big
sees your grammatical error
makes breakfast
»guys, where do you keep the vaccum?«
doesn’t goon about it
doesn’t correct because he knows what you meant
Sobald diese Derivate einen noch zu definierenden Schwellenpunkt überschritten haben, kann von einem Meme gesprochen werden. Wichtig dabei ist, dass die Variation hier nicht beendet ist. Je etablierter das Meme ist, desto anfälliger ist es für weitere Variation. Während der Text zu Anfang nur im sprachlichen Anteil verändert wird, kann im weiteren Zyklus auch das Bild verändert werden.9 Diese Variation führt zu einer Semiose innerhalb der Community, in der sie stattfindet und der Sinn des Textes erschließt sich einer immer größeren Gruppe. In dieser Phase beteiligen sich sehr viele Mitglieder, was zu einer gewissen Kollektivität führt. Ein Einzelner hat auf diesen Prozess nur sehr begrenzt Einfluss. Wenn ein Meme auf diese Weise sehr häufig variiert wird, kann man es zum Meme-Kanon zugehörig zählen. Damit seien die Memes beschrieben, die einer breiten Allgemeinheit, auch außerhalb des ursprünglichen Imageboards, zugänglich und damit viral verbreitet sind. Die kollektive Semiose ist innerhalb dieses Kanons so weit fortgeschritten, dass Benutzer auch nur mit dem Bild bereits den Inhalt verbinden und ein Good-Guy-Greg-Bild kann von einem Empfänger, der mit den entsprechenden Meme-Konventionen vertraut ist, auch ohne sprachliche Anteile bereits als Kompliment verstanden werden. Auf diese Weise grenzen sich die Imageboards und anderen Communities auch voneinander ab. Die Meme-Konversationen helfen dabei, die Gruppe an sich zu etablieren und die alternative Öffentlichkeit in einen gewissen Rahmen zu setzen. So können sich diese Öffentlichkeiten durch die Verwendung bestimmter Memes zum einen von der traditionellen aber auch von anderen
8 | http://knowyourmeme.com/memes/good-guy-greg [20.7.16]. 9 | http://knowyourmeme.com/memes/good-guy-greg; http://blog.memes.com/wp- cont ent/uploads/2016/05/ggg6.jpg [20.7.16].
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alternativen Öffentlichkeiten abgrenzen, was sich in teilweise sehr strikten Regeln äußert.
5. R egeln der M eme verwendung , G renzen der V ariation Die bisherigen Analysen legen nahe, dass Variation und Semiose uneingeschränkt möglich sind, dem ist aber keinesfalls so. Während die ›richtigen‹ Variationen das Meme weiterentwickeln, werden ›falsche‹ Variationen von der Community stark kritisiert: »This wrong use of meme and yellow text gave me cancer«10 ist eine exemplarische Reaktion auf ein falsch genutztes Meme. Wie in jedem Bereich von pragmatischer Sprachverwendung gibt es eine Dissonanz zwischen expliziten bzw. impliziten Normen und dem tatsächlichen Sprachhandeln. Interessanterweise unterliegen Memes aber sehr strengen Regeln, ganz im Gegensatz zu anderen Artefakten, die ihren Ursprung im Internet haben. Das Phänomen der sog. LOLCATS basiert sogar darauf, dass Rechtschreibung und Grammatik gebrochen werden und eine korrekte Anwendung der sprachlichen Anteile würde die Textsorte zerstören (vgl. Miltner 2011). Memes folgen dagegen impliziten Regeln, welche jedoch selten ausgesprochen werden und wenn dann oft in Meme-Form. Ein Beispiel soll herangezogen werden, um die Variation und die Reglementierung eines Memes nachzuvollziehen. Der sog. ›awkward penguin‹ stellt einen Pinguin dar, der vor einem blauen Hintergrund nach links läuft. »Socially Awkward Penguin is an advice animal image macro series featuring a penguin lacking both social skills and self esteem. The text typically narrates uncomfortable life situations, highlighting an exceptionally clumsy or inelegant response«.11 In den alternativen Öffentlichkeiten wird er also genutzt, um eine Situation darzustellen, die selbstverschuldet und sozial eher unangenehm ist. Ein früher Vertreter besteht aus den Textelementen »enjoy your meal« gefolgt von »you too«. Diese Situation ist im ersten Sprachbaustein unverfänglich und eröffnet den Frame eines Restaurants oder das Skript eines Bedienungsvorgangs. Der Pinguin hat bei der ersten Verwendung noch keinerlei Semantisierung erfahren und ist zunächst bedeutungslos. Die Punch-Line führt dann zu einem pragmatischen Fehler, da hier klar wird, dass man der Bedienung »you too« wünscht, was pragmatisch gesehen keinen Sinn ergibt. Dieser Text wurde nun weiter variiert und es wurden Iterationen erschaffen:12
10 | http://9gag.com/gag/adXLENM?ref=android.s.gt [20.7.16]. 11 | http://knowyourmeme.com/memes/socially-awkward-penguin [20.7.16]. 12 | http://knowyourmeme.com/memes/socially-awkward-penguin [20.7.16].
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards
Tabelle 2: Grenzen der Variation urspr. Artefakt
Derivat A
Derivat B
Derivat C
enjoy your meal
start telling joke
sarah is online, you say »hey«
walk into room with strangers
you too
forget punchline
sarah is offline
walk back out
Hierdurch etabliert sich der Text weiter und das Meme erhält eine gewisse Stabilität. Durch die kollektive Semiose (Herwig 2010: 10) wird dem Meme innerhalb des Meme-Kanons eine Funktion zugesprochen. Diese kann nicht von Einzelindividuen festgelegt werden, erst der Sprachgebrauch gibt den entscheidenden Ausschlag. Durch die Konventionalisierung ist es dann möglich, dass sich das Bild und damit auch die Gesamtbedeutung verändert. So entstand die Variation des ›socially awesome penguins‹, der den Verlauf umdreht. Aus einer zunächst negativen Situation wird eine positive: »say a word wrong« gefolgt von »create hilarious inside joke«.13 Die hier beschriebene, pragmatische Situation ist sozial positiv zu sehen, also ändert sich zum einen die Farbe von blau zu rot und zum anderen die Bewegungsrichtung des Pinguins. Diese Variation war aber nur der erste Schritt der Variation, denn weitere Möglichkeiten ergeben sich durch die Kombination der beiden Elemente. Die Benutzer der Memes legen aber großen Wert darauf, dass die Memes nicht falsch genutzt werden. Diese Erklärungen geben einen sehr interessanten Hinweis auf die Memeverwendung und die pragmatischen Regeln, die in den alternativen Öffentlichkeiten der Imageboards zur Anwendung kommen. Derartige Erklärungen sind recht häufig zu finden und eigentlich eher untypisch für das Kommunizieren im Netz, bei dem Sprachrichtigkeit üblicherweise keine so große Rolle spielt. Dies geht so weit, dass die Memes auch ironisch gebrochen absichtlich falsch verwendet werden. Nachdem nun dargestellt wurde, wie Memes entstehen und wie ihre Verwendungsweise reglementiert ist, soll das Meme in Bezug zur alternativen Öffentlichkeit in den sozialen Medien betrachtet werden. Hierfür seien jedoch zunächst einige empirische Daten herangezogen, um die Interpretation zu erleichtern.
13 | http://knowyourmeme.com/memes/socially-awesome-penguin [20.7.16].
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6. D as M eme als I nsiderwit z in alternativen Ö ffentlichkeiten Der Ausdruck Meme ist wie das Konzept, das auf den vorangegangenen Seiten erläutert wurde, der breiten Masse noch unbekannt und wird es unter Umständen auch bleiben. »Put in simple terms, Internet memes are inside jokes or pieces of hip underground knowledge, that many people are in on« (Bauckhage 2011: 42). Wie oben bereits beschrieben werden die alternativen Öffentlichkeiten durch Memes erst konstituiert, da diese eine Hauptpraktik zur Kommunikation sind. Dabei zeigt man zum einen durch Produktion der Texte, dass man zu der Gruppe gehört, aber auch durch Rezeption und Entschlüsselungsfähigkeiten seine Zugehörigkeit. Dies ist vergleichbar mit einem öffentlichen Diskurs zu einem beliebigen Thema, der in den traditionellen Medien stattfindet, nur dass die Partizipation hier unter Umständen schwerer ist als in der alternativen Öffentlichkeit einer Imageboard-Community. Abbildung 3: Semantischer Cluster (eigene Darstellung)
Interessant, vor allem hinsichtlich der Interpretation als Politikum, ist der Umgang der Menschen mit dem Ausdruck Meme. Hierfür möchte ich Daten aus dem Juli 2016 heranziehen, die einer größeren Untersuchung entnommen
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sind und die Interpretation erleichtern.14 Die Beobachtungen basieren auf den ersten knapp 100 Fragebögen (N=94), die zum einen die Einstellung der Probanden zum Ausdruck Meme mithilfe einer Likert-Skala erfragen und zum anderen eine Wortassoziation verlangen. Hierbei sind verschiedene, semantisch hochinteressante Beobachtungen festzustellen. Zum einen gibt es viele Probanden, für die das Wort keinerlei Bedeutung hat (50 %) und zum anderen haben einige Probanden völlig andere Semantisierungen als erwartet. So gab es folgende Wortassoziationen: Je häufiger ein Ausdruck genannt wurde, desto größer erscheint er hier in diesem Cluster. Das bedeutet, dass 9gag (eine Community, die Memes teilt und veröffentlicht), lustig und weinen am häufigsten vorkamen, während modern und ängstlich seltener genannt wurden. Die durchschnittliche Bewertung des Ausdrucks lag auf der Likert-Skala bei 2,5, was zwischen ›negativ‹ und ›neutral‹ liegt. Der Probandenbereich, der den Begriff negativ empfindet, assoziiert damit anscheinend so etwas wie mimi, also das onomatopoetische Nachahmen einer weinenden Person, Memme oder Mimose, was Assoziationen wie weinen erklärt. Hierbei ist interessant, dass alle Probanden, die den Begriff kannten, diesen tendenziell, aber nicht ausschließlich, positiv sahen. Hier entstanden oft Assoziationen wie lustig oder 9gag. Dies scheint die These, dass Memes vor allem aus einer Art Insiderkultur entstammen, zu belegen und hilft nun bei der weiteren Interpretation des Umgangs mit den Artefakten in der nicht-digitalen Welt. Hierbei ist nämlich zu beobachten, dass Personen, die mit dem Konzept vertraut sind, eine Art Witz oder »canned jokes« (Dynel 2016: 663) sehen, während andere wenig damit anfangen können.
7. W enn alternative Ö ffentlichkeiten in die tr aditionellen eindringen Ein aktuelles Beispiel der Migration alternativer Kommunikationsmittel in die etablierten ist der Women’s March 2017 in Washington. Viele Protestierende trugen Schilder bei sich, auf denen Memes dargestellt waren, sogar so viele, dass die Presse sich teilweise unsicher war, ob dies nicht der eigentliche Zweck war: »It felt like a ›grab a meme and wander the streets, we’ll figure it out along
14 | Die zu Grunde gelegte Studie wird momentan an der Universität Koblenz-Landau durchgeführt und verbindet die Bereiche Semantik und Trainingswissenschaften unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Jürgen Gießing (Institut für Sportwissenschaft) und Dr. Andreas Osterroth (Institut für Germanistik).
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the way‹«.15 Hierbei ist auffällig, dass alternative Öffentlichkeiten rebellisch auf die traditionelle Öffentlichkeit wirken, was auch darin begründet ist, dass man die Texte als Nichtwissender teilweise nicht entschlüsseln kann. So ist das Internet-Meme wie jede Textsorte dazu in der Lage, für Kritik zu sorgen. Meist jedoch bezieht sich diese nicht auf die Ebene der Textsorte, sondern auf die Ebene des Inhalts. So wurde in der sog. »Böhmermann-Affäre«16 z.B. nur der Inhalt des Gedichtes angegriffen und damit natürlich auch der Urheber, niemals jedoch die Textsorte ›Gedicht‹ als solche. Bei Memes verhält es sich jedoch anders, was an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Das berühmteste Verbot stammt aus Russland, da die Memes hier auch für systemkritische Zwecke eingesetzt werden. Das sog. »Anti-Meme Law«17 gibt es seit April 2015 und zielt darauf ab, Memes, die sich über die politische Führung lustig machen, zu verbieten. Memes werden zwar nur dann relevant, wenn sie »persönlichkeitsentstellend«18 sind, aber prinzipiell steht die gesamte Textsorte in Verdacht. Im Mai 2016 geriet ein Meme in Mexiko unter den Rassismus-Verdacht und eine Kongressabgeordnete forderte ein Verbot.19 Es handelt sich um den Frosch ›Pepe‹, der ihrer Meinung nach rassistische Ressentiments fördert. Die Internetgemeinschaft reagierte natürlich sofort mit einer Memeflut, welche die Forderung kritisierte. Ein weiterer Fall betrifft die Türkei, in der Präsident Erdogan wegen eines Bild-Vergleichs einen Arzt vor Gericht brachte.20 Das Bild ist kein prototypisches Meme im Sinne dieses Beitrages aber durchaus unter Gesichtspunkten von z.B. Shifman (2014). Diese durchaus heftigen Reaktionen sind damit zu erklären, dass Memes nicht einfach nur Bilder sind, sondern Texte und damit sogar potenzielle Sprechakte, bzw. Bildakte. Diese können dadurch auch beleidigend aufgefasst werden, was sie zum Ziel von Verboten machen kann. In weniger brisanter Form können sie sprachliche Anteile eines Gesprächs ersetzen, was in den sozialen Medien zu beobachten ist.
15 | w w w.damemag a z ine.c om/2017/01/25/wa s -women s - mar c h - movemen tor-meme-fest 16 | https://de.wikipedia.org/wiki/B %C3 %B6hmermann-Aff %C3 %A4re [24.7.16]. 17 | http://knowyourmeme.com/memes/events/russian-anti-meme-law [24.7.16]. 18 | www.heise.de/newsticker/meldung /Russland-PersoenlichkeitsentstellendeInternet-Memes-verboten-2599874.html [24.7.16]. 19 | www.breitbar t.com/tech/2016/05/05/mexican-congresswoman-wants-banmemes/[24.7.16]. 20 | www.bloomberg.com/news/ar ticles/2016-08-14/here-comes-the-brexit-erabritish-economy-in-hard-numbers [24.7.16].
Sprache-Bild-Kommunikation in Imageboards
8. D as M eme als S prechak t in sozialen M edien Ein Sprechakt im Sinne Austins ist eine Äußerung, die auch eine sprachliche Handlung darstellt. Als Erweiterung dieses Gedankens sei der Bildakt genannt, wenn durch Bilder sprachliche Handlungen vollzogen werden. Dies kann ganz traditionell bei z.B. Warnschildern der Fall sein. Ein Bild mit einem beißenden Hund könnte auch klassisch als performative Äußerung paraphrasiert werden: »Hiermit warne ich Sie! Betreten Sie nicht das Gelände, sonst werden sie gebissen!«. Es handelt sich also noch recht klar um einen illokutionären Akt, ganz ohne sprachliche Anteile im Gesamttext. Es gibt auch Warnschilder, die Bild und Sprache kombinieren und einen elaborierteren Bildakt ermöglichen. In der Wissenschaft wurden Beispiele dieser Art bereits analysiert (vgl. Kjörup 1974), jedoch nicht im Zusammenhang mit dialogischen Gesprächssituationen. In der alternativen Öffentlichkeit von Imageboards ist es möglich, das Meme als Sprechakt zu verwenden, entweder ergänzend zur Kommunikation oder sogar als ausschließliches Mittel. Memes sind in dieser alternativen Kommunikation dazu geeignet, mehr oder weniger kohärente Gespräche zu führen. Hierfür wird, wie bereits oben klar wurde, ein sehr fundiertes Wissen benötigt, um die Memes korrekt zu entschlüsseln und auch selbst zu benutzen und zu variieren. Die Frage, warum auf derartige Mittel zurückgegriffen wird, kann auf verschiedene Arten beantwortet werden. Zum einen ist es der pragmatischen Situation des Chats angemessen, multimodal zu kommunizieren, da die technischen Möglichkeiten für das Antworten mit einem Bild gegeben sind. Zum anderen ist das Meme noch recht neu und innovativ. Wenn man also modern wirken möchte, bedient man sich unter Umständen der Textsorte Meme, was wiederum dazu führt, dass eine kleine, alternative Öffentlichkeit Einfluss auf die traditionelle hat (siehe z.B. den Women’s March weiter oben).
9. F a zit und A usblick Imageboards sind alternative Öffentlichkeiten und das Meme ist die vorherrschende kommunikative Praktik darin. Mit diesem Fazit können die drei zu Anfang gestellten Fragen beantwortet werden: 1. Memes entstehen kollektiv innerhalb einer Gemeinschaft, was sie auch sehr von traditionellen Sprache-Bild-Texten unterscheidet, die stets einen Autor oder ein Autorenteam als Ursprung haben.
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2. Neben der Kommunikation und der Selbstprofilierung ist die strenge Regelhaftigkeit der Memeverwendung auffällig, welche besonders in virtuellen Kommunikationssituationen ungewöhnlich ist. Es gibt für jede Situation bestimmte Memes, die als pragmatisch passend gelten, eine Falschverwendung wird von der Community geahndet. 3. Das Meme ist konstitutiv für die alternative Öffentlichkeit eines Imageboards. Erst durch die Memes wird die Community überhaupt gebildet, ohne sie gäbe es keinen Grund für die Existenz. Weiter sind Memes dazu in der Lage, übergreifend in andere alternative Öffentlichkeiten, die sich neuer Medien bedienen, oder gar in die traditionelle Öffentlichkeit einzudringen. Meist geschieht dies mit einem bestimmten Zweck, unter Umständen der Simulation von Modernität. Durch die feste Verankerung in der Popkultur und den Möglichkeiten des Internets können in den Öffentlichkeiten ganze Gespräche mit Memes geführt werden. Das Meme kann hierbei im Austin’schen Sinne auch ein Bildakt und damit z.B. eine Beleidigung sein. Es gab bereits mehrere Bestrebungen, Memes, ganz bestimmte oder auch alle, verbieten zu lassen. Die pragmatische Unmöglichkeit eines solchen Verbotes ist ein weiterer Legitimationsgrund für die alternativen Öffentlichkeiten der Imageboards. Während die traditionelle Öffentlichkeit in Ländern wie Russland oder der Türkei unter Umständen bis zu einem gewissen Grade sanktioniert und reglementiert werden kann, ist das Imageboard als alternative Öffentlichkeit ein Hort der Demokratie, wo nur erfolgreich ist, was die Nutzer der speziellen Öffentlichkeit im Schwarm so bewerten.
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Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands – am Beispiel des Facebookauftritts von Vodafone Nadine Rentel
Based on a qualitative-oriented analysis of altogether 50 complaints posted on the Facebook site of Vodafone, the study aims at identifying linguistic strategies whose main function is the intensification of the complaints. In a first step, we will analyze communicative moves that can be found in the corpus. The description of strategies aiming at intensifying critical comments concerning a company reveals a large variety of linguistic means. Questions asked by users underline the violation of ethical standards by the company from a customer’s perspective. The use of metaphors and phraseolexematic units allow the users to highlight their criticism thanks to the high degree of expressivity of these resources. Quoting the communicative misbehavior of employees of the companies may legitimate the shift of customers’ complaints into the public sphere. Keywords: Customers complaints, computer-mediated communication, online communication, Facebook
1. E inleitung Der Einfluss der neuen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerke, auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, führt zu einem Wandel unserer Kommunikationsgewohnheiten und damit verbunden zu neuen Herausforderungen (vgl. Schäfer 2014: 14). Das Web 2.0 bietet seinen Nutzern neue technische und operative Möglichkeiten und »schafft [auf diese Weise] die Bedingungen für neue digitale Taktiken1, die auf eine radikale Demokratisierung 1 | Münker (2009: 25) bezeichnet die neuen digitalen Taktiken als »soziale Praktiken« bzw. »Aktionsarten«.
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des Wissens und die Pluralisierung von Stimmen, Perspektiven und Quellen zielen.« (Winter 2010: 37). In diesem Zusammenhang werden nicht nur die Funktionsweisen gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, sondern ebenso Strukturen der Öffentlichkeit einem Wandel unterzogen (vgl. Münker 2009: 53f.). Hinsichtlich des Begriffs der Öffentlichkeit stellt Schäfer (2014: 14) eine »Multiplikation der Öffentlichkeiten« heraus, »in der jede Meinung eine Publikations-Nische im Internet findet.«2 Als Konsequenz dieses Demokratisierungsprozesses werden nicht nur dominante Ansichten mit absolutem Geltungsanspruch verbreitet, sondern auch marginalisierte, kritische und differente Sichtweisen finden Gehör. Individuen wird in der Netzwelt, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status in der Realwelt, ein Mitspracherecht zugestanden. Von diesen tiefgreifenden Transformationsprozessen auf der Ebene sozialer bzw. kommunikativer Praktiken ist nicht nur der in der Forschung bereits recht gut beschriebene Bereich des politischen Diskurses, sondern zunehmend auch die Kommunikation mit Dienstleistern aus dem wirtschaftlichen Kontext betroffen. Für den Bereich der Unternehmenskommunikation hat diese Entwicklung zur Folge, dass beispielsweise Beschwerdekommunikation (vgl. in diesem Kontext die Studie zu Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion von Günthner 2000), die sich früher auf den direkten Austausch zwischen Kunden3 und Unternehmen beschränkt hat, in den letzten Jahren verstärkt in den öffentlichen (und in diesem Kontext in besonderem Maße in den virtuellen Raum) verlagert wird.4 Bestimmte Parameter der computervermittelten Kommunikation, insbesondere ihre Virtualität und die Anonymität, ziehen dabei einen Enthemmungseffekt (disinhibition effect) nach sich (zum Terminus vgl. Suler 2004: 223), wenn Kunden eines Unternehmens ihrer Unzufriedenheit mit den angebotenen Produkten und Dienstleistungen öffentlich Ausdruck verleihen. Dies wiederum kann, im Vergleich zu traditionellen Formen des Sich-Beschwerens im Geschäftslokal oder an einer Kundenhotline, zu sehr unhöflichen sprachlichen Äußerungen führen, da die Kunden nicht unmittelbar mit der Reaktion eines Unternehmensvertreters konfrontiert werden. Die Funktion von Kundenbeschwerden (bzw. negativer Bewertungen der Unternehmensaktivitäten) im virtuellen Raum besteht primär darin, Druck auf 2 | Zur Reflexion der Konzepte »Öffentlichkeit« und »Privatheit« vgl. auch Münker (2009: 115ff.), der von einer sich stetig »verändernden Sphäre digitaler Öffentlichkeit« ausgeht. 3 | Die maskulinen Personenangaben im Beitrag beziehen sich gleichermaßen sowohl auf männliche als auch auf weibliche Personen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. 4 | Im Rahmen der linguistischen Analyse fiel die Wahl auf Online-Beschwerden, da es sich um eine relativ neue und wenig erforschte Textsorte handelt (vgl. Kaltenbacher 2015: 202).
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands
das Unternehmen auszuüben und es dazu zu bewegen, den kritisierten Sachverhalt abzustellen bzw. den Wünschen des Kunden nachzukommen. Darüber hinaus (und dies ist unserer Ansicht nach ein konstitutiver Unterschied zwischen Beschwerden im virtuellen und im analogen Raum) kann die Beschwerdekommunikation im öffentlichen Raum als Form des Protests bzw. als Entwurf einer alternativen Gegenöffentlichkeit bewertet werden, wenn der positiven Außendarstellung des Unternehmens entgegengesetzte Sichtweisen verbreitet werden. Diese zweite funktionale Dimension sprachlicher Handlungen des Sich-Beschwerens in der Öffentlichkeit steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Für die in den sozialen Medien weit verbreitete kommunikative Praktik des Sich-Beschwerens lassen sich zahlreiche Belege auf den Facebook-Auftritten von Unternehmen finden.5 Trotz der steigenden Zahl an Beschwerdekommentaren von Kunden liegen bislang jedoch nur wenige sprachwissenschaftlich orientierte Studien zu Online-Beschwerden vor. Der Großteil der einschlägigen Studien ist in der Disziplin der Wirtschaftswissenschaften zu verankern und fragt nach den Auswirkungen der Beschwerden auf die Unternehmenskennzahlen (vgl. die Studie von Trosborg (1995) zum so genannten complaint handling); die sprachliche Form der Beschwerden findet in diesen Arbeiten hingegen keine Berücksichtigung. Die Sprachwissenschaft interessiert sich erst seit ca. fünf Jahren für die Beschreibung der Beschwerdekommunikation im öffentlichen, virtuellen Raum. Eine der ersten uns bekannten Studien zu Online-Beschwerden von Meinl aus dem Jahr 2010 unterzieht die Verkaufsplattform eBay einer näheren Untersuchung und vergleicht das Deutsche mit dem Englischen. Eine jüngere Arbeit, die ebenfalls den Mobilfunksektor näher betrachtet und dabei das Deutsche mit dem Spanischen kontrastiert, stammt von Schröder (2015). Um die skizzierte Forschungslücke zu schließen, werden im Beitrag auf der Basis einer qualitativ orientierten Analyse von 50 deutschsprachigen Kundenbeschwerden (welche Anfang März 2015 archiviert worden sind) aus dem Bereich des Mobilfunks Strategien herausgearbeitet, mit deren Hilfe die Kunden den Service des Anbieters Vodafone negativ bewerten und gleichzeitig versuchen, im Rahmen ihres kommunikativen Widerstands eine alternative (Gegen)Öffentlichkeit zu konstruieren. In einem ersten Schritt werden mittels einer pragma-linguistischen Analyse kommunikative Teilhandlungen bzw. Teiltexte kategorisiert, die sich in den einzelnen Beschwerdeeinträgen im Diskussionsforum des Facebookauftritts des Unternehmens identifizieren lassen. Ergänzend zu dieser Kategorisierung werden im Rahmen einer Stilanalyse sprachliche Strategien beschrieben, die der Intensivierung der negativen Bewertung im öffentlichen Raum dienen. Der Ergebnisdiskussion sind eine Dis5 | Facebook ist derzeit das erfolgreichste soziale Netzwerk (vgl. Münker 2009: 19).
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kussion der Funktionen der Beschwerdekommunikation im Social Web sowie Überlegungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialen Medien und Öffentlichkeit vorangestellt.
2. F unk tionen der B eschwerdekommunik ation in sozialen M edien Neben der in der einschlägigen Literatur häufig diskutierten Frage, aus welchen Gründen Individuen überhaupt soziale Medien nutzen, sind im Kontext der aufgeworfenen Fragestellung die Motive der Nutzer, ihre Beschwerden online und nicht in der direkten Kommunikation mit dem Unternehmen vorzubringen, von Interesse. Neben dem Versuch, eine der positiven Selbstdarstellung eines Unternehmens diametral opponierte Gegenöffentlichkeit zu konstruieren, spielt das Streben nach einer möglichst positiven Selbstdarstellung der User eine Rolle. Marwick/Boyd (2010) bezeichnen dieses im Kontext der Identitätskonstruktion in sozialen Medien zu verortende Phänomen als »personal branding« oder als »self-commodification«. Anders als in der Face-to-Face-Kommunikation wird die soziale Identität der kommunizierenden Personen im virtuellen Raum im kommunikativen Austausch mit den Mitgliedern der discourse community entworfen und bestätigt: In other words, self-presentation is collaborative. Individuals work together to uphold preferred self-images of themselves and their conversation partners, through strategies like maintaining (or ›saving‹) face, collectively encouraging social norms, or negotiating power differentials and disagreements. (Marwick/Boyd 2010: 10)
Dieser Prozess des identity management unterliegt dabei einer ständigen und dynamischen diskursiven (Re-)Validierung und ggf. Modifizierung, da Identität nicht als gegeben angesehen werden kann, sondern erst durch das Anwenden kommunikativer Praktiken entsteht (zum Zusammenhang von face und Identität sowie zur Konstruktion und Verhandlung von Identität(en) im Rahmen der Interaktion zwischen Individuen vgl. Warm 2015: 288f.). Aufgrund der spezifischen kommunikativen Parameter der computervermittelten Kommunikation wie beispielsweise der Existenz eines dispersen Publikums und der Restriktion non-verbaler Ressourcen, ergibt sich die besondere Herausforderung des audience design, d.h. des Anpassens von Inhalt und sprachlicher Form an einen lediglich angenommenen Wissensstand der Kommunikationspartner. Dies spielt im Rahmen des kommunikativen Widerstands gegen Unternehmen eine Rolle, wenn eine alternative (Gegen)Öffentlichkeit entworfen wird und andere Kunden von der Meinung unzufriedener User überzeugt werden sollen. Die mannigfaltigen Herausforderungen des Identitätsmanage-
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands
ments stehen nicht im Fokus des Beitrags; gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass eine positive Selbstdarstellung eines Users den Grad an Glaubwürdigkeit der geäußerten Unternehmenskritik erhöhen und auf diese Weise zur erfolgreichen Konstruktion einer Gegenöffentlichkeit beitragen kann (im untersuchten Korpus ist dies beispielsweise der Fall, wenn User herausstellen, dass sie in der Regel keine Beschwerden gegenüber einem Unternehmen vorbringen, sich aber durch das Fehlverhalten des Unternehmens geradezu dazu gezwungen sehen). Zentral für die hier angestellten Überlegungen erscheint zudem der Aspekt aus dem Schlussteil der oben angeführten Definition (»negotiating power differentials and disagreements«), da es im Rahmen der Beschwerdekommunikation in den sozialen Medien allgemein und speziell auf Facebook um das Aushandeln kommunikativer Machtverhältnisse geht. Auf das untersuchte Korpus bezogen ist davon auszugehen, dass sich das Machtgefüge zwischen Kunden und Unternehmen (und nicht etwa zwischen einzelnen Kunden) im Fokus befindet, wohingegen die interpersonalen Beziehungen der Mobilfunknutzer vom Streben nach sozialer Kohäsion geprägt sind; dies wird aus den im Folgenden diskutierten Beispielen deutlich, in denen sich enttäuschte Kunden gegenseitig in ihrer Kritik bestärken und als peer-group eine Gegenallianz gegen das Unternehmen bilden. Im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kundenbeschwerden im öffentlichen Raum bzw. mit der Beschreibung sprachlicher Strategien, die den Entwurf alternativer Öffentlichkeiten als Ziel haben, ist es unabdingbar, sich mit der Rolle des Sharing in sozialen Medien zu befassen. Das Sharing bzw. genauer das erzählende Teilen betrachtet Tienken (2013: 19) als »eines der deutlichsten Charakteristika sprachlicher Aktivitäten im Internet, wie sie uns heute in der partizipatorischen Form des Web 2.0 begegnen.« Nach Wee (2011) wird Sharing als das Teilen von Ressourcen aufgefasst, wobei die Darstellung einer Erfahrung im Mittelpunkt steht, die eine Person gemacht hat oder die zum Zeitpunkt des Erzählens noch andauert. Diese beiden Konstellationen (die abgeschlossene bzw. die noch andauernde Erfahrung) erfüllen nach Wee (2011) unterschiedliche Funktionen für die am Kommunikationsprozess Beteiligten (vgl. Tienken 2013: 27): Während das Schildern einer bereits abgeschlossenen Erfahrung in erster Linie dem Adressaten nützlich sein kann, der in einer ähnlichen Situation von der »Expertise« des Senders profitiert, liegt der Nutzen des erzählenden Teilens bei einer noch andauernden Erfahrung eher beim Sender, der sich nicht nur emotionale Entlastung verschafft, sondern von der virtuellen Gemeinschaft Ratschläge einholt. In den analysierten Beschwerden des Facebook-Auftritts des Mobilfunkanbieters Vodafone werden negative Erfahrungen mit dem Unternehmen (undurchsichtige oder zu hohe Rechnungen, ungerechtfertigte Forderungen, eine schlechte Datenrate etc.), die sonst auf der Ebene zwischen dem Kunden und dem Unternehmen verblieben wären, mit anderen Kunden geteilt. In den untersuchten Beschwerdekom-
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mentaren, die auf dem Facebook-Auftritt von Vodafone verankert sind, spielt somit neben der emotionalen Entlastung der Kunden mittels des Ausdrucks von Verärgerung und Enttäuschung oder durch das Bedrohen und Beleidigen des Unternehmens das »Erteilen von Ratschlägen« im Rahmen handlungsorientierter Sprachhandlungen (z.B. durch das Warnen anderer Kunden) eine zentrale Rolle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Funktionen der emotionalen Entlastung und der positiven Selbstdarstellung als grundlegende Funktionen der Beschwerdekommunikation im virtuellen, öffentlichen Raum angesehen werden können, die wiederum dem übergeordneten kommunikativen Ziel dienen, verbalen Widerstand auszuüben.
3. F acebook und Ö ffentlichkeit Weltweit nutzen Firmen die Kommunikationsplattform als kostenloses Marketinginstrument, wobei die externe Unternehmenskommunikation auf Facebook neben Vorteilen auch einige Risiken aufweisen kann. Zentrales Element des Facebook-Auftritts eines Unternehmens ist das Online-Diskussionsforum, das den direkten Kontakt zwischen den Akteuren ermöglicht und auf dem Kunden und Unternehmen Inhalte kommentieren können. Bei den Beiträgen im Forum handelt es sich in der Regel um Fragen, Ratschläge, allgemeine Kommentare und Beschwerden. Insbesondere »[d]em Empfehlungsverhalten der Kunden kommt durch Social Media und die Kommunikation im Internet eine wachsende Bedeutung zu: Der Empfängerkreis vergrößert sich durch die Onlinekommunikation um ein Vielfaches.« (Huck-Sandhu/Hassenstein 2015: 141). Zunächst einmal stellt Facebook für Unternehmen einen zusätzlichen Kommunikationskanal dar, der es ihnen erlaubt, mit Kunden in Kontakt zu treten sowie Werbebotschaften und Informationen zu Produkten und Dienstleistungen zu vermitteln. Kunden nutzen diesen direkten Kontakt zum Unternehmen und ziehen ihn in vielen Fällen einem Anruf oder einem Besuch in der Filiale vor, da die Kommunikation in sozialen Medien ihrem geänderten Nutzerverhalten hinsichtlich kommunikativer Praktiken entgegen kommt. Neben dem Potenzial, das die Plattform Facebook hinsichtlich marketingorientierter Kommunikationsprozesse bietet, darf jedoch nicht aus dem Auge verloren werden, dass Kritik unzufriedener Kunden am Unternehmen, die öffentlich auf Facebook geäußert wird, einen erheblichen Imageschaden (und damit verbunden wirtschaftliche Einbußen) verursachen und die Reputation eines Unternehmens nachhaltig schädigen kann. Bereits die traditionelle Mund-zu-Mund-Propaganda, die die Kaufentscheidungen von Konsumenten im nicht-virtuellen Raum entscheidend beeinflussen kann, ist neben kon-
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zertierten Marketingaktivitäten von Unternehmen eine nicht kalkulierbare Komponente. Umso mehr trifft dies auf die elektronische, im virtuellen Raum verankerte Form dieses kommunikativen Verhaltens zu, das so genannte Electronic Word-of-Mouth (eWOM) (vgl. Hennig-Thurau u.a. 2014: 39). Die Autoren definieren seine Funktionen wie folgt: […] any positive or negative statement by potential, actual, or former customers about a product or company, which is made available to a multitude of people and institutions via the Internet. eWOM communication can take place in many ways (e.g., Web-based opinion platforms, discussion forums, boycott Web Sites, newsgroups). (Hennig-Thurau u.a. 2014: 39)
Während einige Studien herausstellen, dass sich die Motive der traditionellen (WOM) und der elektronischen (eWOM) Mund-zu-Mund-Propaganda nicht grundlegend voneinander unterscheiden und diese in erster Linie relevant wird, wenn Kundenerwartungen in Bezug auf ein Produkt oder eine Dienstleistung enttäuscht werden, sind andere Autoren der Auffassung, dass die unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen im virtuellen und im realen Raum zur Herausbildung von Divergenzen auf formaler und funktionaler Ebene führen (vgl. Hennig-Thurau 2014: 40). Bemerkenswert ist, wie bereits erwähnt, die Tatsache, dass Beschwerdekommunikation (sowohl die Kundenbeschwerde als auch die entsprechende Reaktion des Unternehmens), die sonst per EMail, Fax oder Telefon zwischen Kunde und Unternehmen abgelaufen wäre, durch den Einsatz neuer Kommunikationsplattformen immer häufiger öffentlich sichtbar wird, einem größeren Empfängerkreis zugänglich gemacht wird und somit den Druck auf die Unternehmen erhöht. Durch erweiterte Möglichkeiten des Austauschs, der kommunikativen Teilhabe und einem erhöhten Grad an Transparenz von Kommunikationsprozessen hat sich die Situation der Kunden verändert: »Sie sind selbstbewusster, fordernder und im Kommunikationsprozess aktiver geworden.« (Huck-Sandhu/Hassenstein 2015: 135). Tradierte Handlungsmuster (dies betrifft auch den Umgang des Unternehmens mit Kundenbeschwerden) werden durch die Verlagerung in den öffentlichen Raum durchbrochen. In diesem Kontext ist eine »dynamische Wechselwirkung zwischen der Emulation tradierter Handlungsmuster […] und der Konstitution neuer (Gegen-)Öffentlichkeiten in neuen Medien« zu konstatieren (Schäfer 2014: 15). Auch Stein (2015) stellt die neue kommunikative Macht auf Kundenseite heraus, die aus der Verlagerung der Beschwerdekommunikation in den virtuellen Raum resultiert: Verbraucher verfügen damit über ein nicht zu unterschätzendes Instrument zur Beeinflussung und Steuerung des Verhaltens potenzieller Käufer und damit für den erfolgreichen Absatz von Produkten. […] Neu daran ist […] die Möglichkeit, diesem Bedürfnis
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Das negative Kommentieren der Unternehmensaktivitäten in der Netzwelt fungiert als Widerstands- oder Protestform: Die massenhafte Nutzung der digitalen Sphäre läßt schon seit einiger Zeit über den Bereich individueller Kommunikation hinaus in zunehmendem Maße eigene, alternative Formen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten entstehen. (Münker 2009: 50)
Wie bereits angesprochen, kann die Entscheidung, eine Beschwerde öffentlich auf Facebook zu äußern und den öffentlichen Raum den privaten Kommunikationswegen vorzuziehen, als Demonstration von Macht (communicative power) gewertet werden. Macht üben Kunden im untersuchten Korpus insbesondere durch den Sprechakt ›andere Kunden warnen‹ aus sowie in den Fällen, in denen Kunden sich gegenseitig in ihrer Kritik bestärken und damit als peergroup eine Allianz gegen das Unternehmen bilden. User partizipieren also an der Gestaltung der Unternehmensaktivitäten, wodurch sich soziale Medien zu öffentlichen Räumen entwickeln (vgl. Münker 2009). Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sich um echte Partizipation handelt oder ob lediglich scheinbare Partizipation suggeriert wird, denn Unternehmen können die Kundenbeiträge filtern und auch löschen; auf diese Weise werden zum Beispiel Schimpfwörter und diskriminierende Sprache vermieden, aber auch unliebsame Inhalte gelöscht, die in einem neutralen Stil vorgebracht werden. Schäfer (2014) spricht in diesem Zusammenhang von »instabilen Gegenöffentlichkeit(en)«: Sowohl auf der Ebene der Nutzerbedingungen als auch auf der des technischen Designs werden Anwenderaktivitäten weitgehend reguliert. Der sogenannte ›User Generated Content‹ ist daher immer auch das Ergebnis eines hybriden Evaluationsprozesses und damit einer weitreichenden Kontrolle und Regulierung durch das jeweilige Unternehmen unterworfen. Das liegt zum einen am Interesse der Anbieter, um eine Werber-freundliche Plattform anzubieten, die in ihrer Konsens-Orientiertheit Konsumfreundlichkeit ausstrahlen soll. (Schäfer 2014: 4)
Rußmann u.a. (2012) heben ebenfalls hervor, dass mit jedweder Öffnung auf medialer Ebene immer auch ein von den Betreibern von Kommunikationsplattformen kontrollierter Grad an Schließung einhergeht, der die echte Partizipation in eine scheinbare Teilhabe bzw. Mitgestaltung umwandelt:
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands Vielfach wird daher Offenheit gerade auch anhand des Zugangs zu Produktion und Distribution gedacht, bzw. allgemeiner anhand der Möglichkeiten zu Partizipation bzw. Mitgestaltung. Hier zeigt sich wie angedeutet die Besonderheit zahlreicher Angebote des Web 2.0 darin, dass Öffnung auf einer Metaebene mit Schließung einhergeht. Die jeweilige Plattform hat die uneingeschränkte Kontrolle darüber inne, in welcher Weise und zu welchen Bedingungen Partizipation möglich ist bzw. wie sie die von den Usern produzierten Daten verarbeitet und verwendet. (Rußmann u.a. 2012: 11f.) [Hervorhebungen im Original]
4. E rgebnisdiskussion : K ommunik ative Teilhandlungen In den folgenden Abschnitten werden unterschiedliche kommunikative Teilhandlungen vorgestellt, die sich in den Beschwerdekommentaren des Korpus identifizieren lassen. Methodisch basiert die Klassifikation der Beschwerde-Sprechakte auf House/Kasper (1981: 160ff.) sowie Meinl (2010: 78ff.). Zugrunde liegt eine Skala, die den steigenden Aggressivitätsgrad der Beschwerde und damit auch den Wirkungsgrad der kommunikativen Macht auf Kundenseite widerspiegelt. Weiterhin steigt das Potential, mittels der Beschwerde-Sprechakte eine alternative Öffentlichkeit zu entwerfen, entlang der Skala, da eine Verschiebung von primär entlastenden Sprachhandlungen hin zu Äußerungen mit erhöhtem Handlungscharakter zu konstatieren ist. Die ermittelten Beschwerdehandlungen beginnen beim Ausdruck der Enttäuschung und entfalten sich bis hin zu Drohungen, die an das Unternehmen gerichtet sind. Auf methodischer Ebene ist anzumerken, dass die untersuchten Beschwerden des Korpus in der Regel mehrere Sprechakte umfassen, wobei sehr aggressive Sprechakte wie Beleidigen, Bedrohen und das Warnen anderer Kunden seltener auftreten als der Ausdruck von Verärgerung oder Enttäuschung. Mit steigendem Aggressivitätsgrad können die folgenden Beschwerde-Sprechakte im Korpus identifiziert werden (vgl. dazu auch Schröder 2015): • Enttäuschung ausdrücken • Verärgerung ausdrücken (bei den ersten beiden Kategorien handelt es sich um den Ausdruck eigener, subjektiver Empfindungen bezüglich des Sachverhalts, ohne Anschuldigungen oder gar Drohungen) • Konsequenzen ziehen • Andere Kunden warnen • Das Unternehmen beleidigen Bezug nehmend auf die zusammenfassende Klassifikation der Motive, die der negativen (Electronic) Word-of-Mouth Communication zugrunde liegen (vgl. Hennig-Thurau u.a. 2004: 41), sind einige Funktionen kongruent mit den
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kommunikativen Teilhandlungen der untersuchten Beschwerdekommentare des Korpus. An erster Stelle seien die einander entgegengesetzten Kategorien des Self-Involvement und des Other-Involvement angeführt; während es bei erstgenannter Kategorie darum geht, bestimmte emotionale Bedürfnisse des Senders zu erfüllen, steht beim »Other-Involvement« das Bestreben im Vordergrund, den Rezipienten etwas mitzugeben bzw. eine Erfahrung mit der Adressatengruppe zu teilen. Auf das untersuchte Korpus bezogen bedeutet dies, dass die User auf den Facebook-Auftritten von Vodafone emotionale Entlastung suchen, wenn sie Enttäuschung oder Verärgerung ausdrücken oder wenn sie das Unternehmen beleidigen und bedrohen (im Rahmen der Zusammenfassung wird die Entlastungskommunikation bei Hennig-Thurau u.a. (ebd.) auch als vengeance oder anxiety reduction bezeichnet). Das Other-Involvement hingegen manifestiert sich im Rahmen der kommunikativen Teilhandlung, andere Kunden zu warnen und davon abzuhalten, die Produkte und Dienstleistungen des Mobilfunkanbieters zu nutzen. Im Schema von Hennig-Thurau u.a. (ebd.) tritt diese kommunikative Handlung, die andere Kunden in ihrer Kaufentscheidung unterstützen soll, auch unter dem Terminus Concern for Others oder negative altruism auf. In den Beschwerdekommentaren des untersuchten Korpus betrifft dies vor allem das Abraten von der Inanspruchnahme der Leistungen von Vodafone, um zu vermeiden, dass andere User ähnlich schlechte Erfahrungen machen müssen wie die Verfasser der Kommentare. Neben der emotionalen Entlastung (Self-Involvement) und dem Warnen anderer Kunden mit dem Ziel (Other-Involvement), dem Selbstbild des Unternehmens einen alternativen Entwurf entgegenzustellen, kommt dem Streben nach einer positiven Selbstdarstellung im Rahmen der Identitätskonstruktion eine zentrale Rolle zu, da ein positives Image die Glaubwürdigkeit des Senders erhöhen kann. In der Klassifikation nach Hennig-Thurau u.a. (ebd.) wird dies mit dem Terminus des Self-Enhancement bezeichnet und zielt darauf ab, sich als Experte auf einem bestimmten Gebiet zu präsentieren (»recommendations allow persons to gain attention, show connoisseurship, suggest status, give the impression to possess inside information, and assert superiority«), wodurch sich wiederum eine negative Bewertung von Unternehmensaktivitäten legitimiert (Hennig-Thurau u.a. 2014: 41).
4.1 Der Ausdruck von Enttäuschung Im Rahmen dieser kommunikativen Teilhandlung, die auf der untersten Stufe der Aggressivitätsskala einzuordnen ist (vgl. dazu die Ergebnisse der Studie von Schröder 2015), äußern Kunden ihr subjektives Gefühl der Enttäuschung gegenüber dem Unternehmen, ohne jedoch weitere Schritte anzukündigen oder Handlungen anderer Kunden zu initiieren.
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands (1) Heute ist der siebente Tag an dem meine Familie und ich zu Hause kein Netz haben. Kundendiensttelefon und Kundenchat zucken nur mit den Schultern. wie lange soll das bloß weitergehen wenn keiner von irgendetwas weiß oder wissen möchte? (2) Ich habe von einem Unternehmen eurer Größe deutlich mehr erwartet.
In Beispiel (1) verleiht der User seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, dass der Vodafone-Kundendienst sich für den seit mehreren Tagen andauernden Ausfall der Internetverbindung nicht zu interessieren scheint und sich nicht um ein Beheben des Problems bemüht. Resigniert wird die Frage in das Forum (und zugleich in Richtung Unternehmen) gegeben, wann denn mit etwas mehr Serviceorientiertheit zu rechnen sei.6 Durch die Mehrfachadressierung sind neben dem Mobilfunkanbieter, der durch Abstellen des Missstands auf die vorgebrachte Kritik reagieren soll, die anderen User des Forums, die ihr Bild vom Unternehmen aufgrund der Schilderung modifizieren sollen, Adressaten der Kritik. In Beleg (2) wird die vorausgehende Schilderung eines kritisierten Sachverhalts mit der Enttäuschung ausdrückenden Aussage abgeschlossen, dass der Kunde sich von einem bekannten Mobilfunkanbieter wie Vodafone mehr Service versprochen hätte (Ich habe von einem Unternehmen eurer Größe deutlich mehr erwartet). Zwar werden im Rahmen der kommunikativen Teilhandlung Unternehmensaktivitäten negativ kommentiert, jedoch ist der Gebrauch sprachlicher Mittel auf einer vergleichsweise unmarkierten Ebene anzusiedeln; auch fallen die narrativen Passagen, die der Schilderung der zu bemängelnden Tatsachen dienen, im Vergleich zu aggressiver orientierten Beschwerdehandlungen kürzer und weniger detailreich aus. Die Wirkung dieser Beschwerden hinsichtlich ihres Potentials, Widerstand gegen das Unternehmen auszuüben und dessen positives Selbstbild zu demontieren, ist somit im Vergleich als eher gering einzustufen.
4.2 Verärgerung ausdrücken Der Ausdruck von Verärgerung ist, wie auch der Ausdruck von Enttäuschung, ebenfalls auf der individuellen und subjektiven Ebene zu verorten, lässt sich aber auf der Aggressivitätsskala höher einordnen. Die Beschwerdeeinträge weisen nicht nur eine höhere Detailtiefe beim Schildern negativer Erfahrungen auf, sondern zeichnen sich auf der sprachlichen Ebene durch Strategien der Intensivierung aus, wenn die Verärgerung anhand lexikalischer und typographischer Mittel verstärkt wird (vgl. die Überlegungen von Sandig (2006: 251) zu den Strategien des Verstärkens und Abschwächens als Mittel des Bewertungs6 | Die relevanten Textstellen in den Beschwerdekommentaren sind durch Kursivdruck markiert. Eventuell auftretende Rechtschreib- und Grammatikfehler wurden ohne Korrektur übernommen.
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managements; im Kontext der adressatenbezogenen sprachlichen Präsentation von Bewertungen spielt das Verfahren der Emotionalisierung eine zentrale Rolle), und im Gegensatz zur kommunikativen Teilhandlung des Ausdrucks von Enttäuschung nimmt die sprachliche bzw. orthographische Korrektheit ab. Konsequenzen werden jedoch noch nicht angedroht. Auch wird das Unternehmen nicht beleidigt oder gar bedroht: (3) Ich bin jetzt ca. 20 Jahre (in 2016) Kunde (Mannesmann, D2, Vodafone) und bin jetzt in der 5 Woche mit meiner Vertragsverlängerung (Rahmenvertrag) zugange. 3 Shops aufsgesucht, Online sowie telefonisch angefragt. Entweder weiß keiner Bescheid oder wir melden uns!!! Und das geht jetzt schon fast 5 Wochen so und irgendwann ist auch meine Geduld mal am ENDE!!! (4) Also echt…. Was seid ihr fürn umflexibler Verein geworden…. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen ihr individuell auf die Kunden eingegangen seid […] (5) Was ist man euch als Kunde Wert, wenn man als Kunde nicht einmal ernst genommen wird? Es wird einem nicht geholfen und ständig wird einem etwas versprochen…es passiert aber nichts! (6) Verträge die am Telefon reaktiviert werden, sind scheinbar nur für Vodafone zugänglich! Der Kunde wird zwar mitgeschnitten und darf brav mit Ja/Nein antworten. Bekommt aber auch auf Wunsch keine Abschrift! Unglaublich!! Durch Umstellung des Vertrages sollten KEINE Kosten entstehen.Offensichtlich sind € 59,-- keine Kosten. Unverschämtheit!!
In Beispiel (3) gibt der verärgerte Kunde dem Unternehmen zu verstehen, dass er nach mehreren erfolglosen Versuchen, seinen Vertrag mithilfe unterschiedlicher Kommunikationskanäle (3 Shops aufgesucht, Online sowie telefonisch angefragt) zu verlängern, nicht mehr gewillt ist, den schlecht organisierten Prozess der Vertragsverlängerung hinzunehmen (irgendwann ist auch meine Geduld mal am ENDE!!!). In seinem Beitrag legt der User Wert darauf, sich als langjährigen (Ich bin jetzt ca. 20 Jahre Kunde), geduldigen Kunden des Unternehmens darzustellen, der normalerweise keine Konflikte mit Vodafone sucht, aber aufgrund der nicht erfolgreichen Initiative, das Problem gemeinsam mit dem Unternehmen im analogen bzw. im digitalen, nicht-öffentlichen Raum zu lösen, seine öffentliche Beschwerde legitimiert sieht. Neben der lexikalischen Ebene wird der Ausdruck des Ärgers durch die Majuskelschreibung und den iterativen Gebrauch des Ausrufungszeichens intensiviert. Der User in Beleg (5) beklagt die Tatsache, dass das Unternehmen Kundenbelange nicht ernst nehme und man im Fall einer Beschwerde mit leeren Versprechungen vertröstet werde. In Beispiel (6) schließlich verleihen die Ausrufe Unglaublich und
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Unverschämtheit der Verärgerung des Kunden hinsichtlich des Ablaufs einer Vertragsverlängerung Ausdruck.
4.3 Konsequenzen ziehen Durch das Ankündigen von (oder den Verweis auf bereits gezogene) Konsequenzen soll der Druck auf das Unternehmen seitens der Kunden erhöht werden. Im Rahmen dieser kommunikativen Teilhandlung erfolgt der Übergang von der Ebene der Schilderung unzureichender Serviceleistungen des Unternehmens hin zur konkreten Handlungsebene. In den meisten Fällen wird die (vorzeitige) Vertragskündigung angekündigt: (7) Somit folgt eine außerordentliche Kündigung! (8) Insgesamt bin ich nun schon 8 Jahre direkt oder auch indirekt Kundin bei euch… DAS HAT SICH AB JETZT NUN AUCH ERLEDIGT! (9) NIE wieder mach ich einen Vertrag mit Vodafone – das ist ein ganz übler Laden (10) es wurden keinerlei Zusagen eingehalten, man kann anrufen wann man will, es ändert sich nichts. Bei D2/Mannesmann war es noch Top. Kunde seit 1992? Bald nicht mehr… (11) Tolle Show, ihr habt auf Lebzeit nen Kunden verloren! (12) hätte ich nur nie die Verlängerung angenommen. ich werde daraus lernen und schon jetzt meinen laufenden Vertrag kündigen.
In Beispiel (7) kündigt der unzufriedene Kunde explizit an, dass er von seinem Kündigungsrecht Gebrauch machen und seinen Vertrag mit Vodafone auflösen werde (Somit folgt eine außerordentliche Kündigung!). Dieselbe Konsequenz möchte der Kunde in Beleg (12) vorausschauend ziehen (ich werde […] schon jetzt meinen laufenden Vertrag kündigen). Im Gegensatz zu diesen sehr deutlichen und im Fall von Beispiel (7) performativen Äußerungen, in denen der Kunde aktiv die Rolle des Handelnden einnimmt, erfolgt der Hinweis auf das Auflösen des Mobilfunkvertrags seitens des Kunden in den Belegen (9) bis (11) eher implizit, indem darauf verwiesen wird, dass das Unternehmen nach bereits vollzogener Kündigung seitens des Kunden nicht mit einem erneuten Vertragsabschluss zu rechnen habe (Beispiel (9)). In Beispiel (10) wird auf die langjährige Kundenbeziehung zu Vodafone verwiesen, die aufgrund der mangelnden Serviceorientiertheit des Unternehmens bald der Vergangenheit angehören wird (Kunde seit 1992? Bald nicht mehr …). Das Resultat, einen Kunden
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durch vorzeitiges Kündigen eines Vertrags verloren zu haben, steht im Mittelpunkt von Beleg (11) (ihr habt auf Lebzeit nen Kunden verloren!). Da das Kündigen eines bestehenden Mobilfunkvertrags bzw. das Potential, andere Kunden vom Vertragsabschluss abzuhalten, negative wirtschaftliche Konsequenzen für das Unternehmen haben kann, ist diese Strategie im Kontext des digitalen, öffentlichen Widerstands als besonders wirksam einzustufen.
4.4 Warnen anderer Kunden In den Fällen, in denen andere Kunden vor dem Unternehmen gewarnt werden sollen, wird die eigene, subjektive Verärgerung gegenüber dem Unternehmen mit einer möglichst hohen Anzahl anderer Kunden geteilt. Eine Gruppe enttäuschter, solidarischer Kunden steht dem Unternehmen als Gegenallianz gegenüber, wobei im Rahmen der Beschwerdekommentare zum für die Kommunikation in sozialen Medien wichtigen relational work zwischen einem einzelnen Kunden und den Gleichgesinnten beigetragen wird (zum Terminus des relational work, der auf einer Weiterentwicklung einschlägiger Konzepte aus der Höflichkeitsforschung basiert, vgl. Locher/Watts 2005): (13) Für alle die einen beschissenen Service suchen, die such nur verarschen lassen wollen, die bezahlen um KEIN Internet zu haben, die 9-16 Wochen darauf verzichten können, sich via Mails und Internet stören zu lassen mein Tipp: Geht zu Kabel Deutschland und Vodafone Deutschland die verarschen und belügen euch so richtig schön nach Strich und Faden. (14) Der Support ist dann noch viel geiler als die Tatsache, dass das Netz gar nicht geht. Dort redet einer mehr Müll als der Andere. Ruft mal 5x an und ihr werdet 5 spannenden Geschichten bekommen (15) Dann habe ich die »Frechheit« besessen meinen Vertrag zu kündigen Was macht Vodafone… Hetzt mir n Inkassobüro auf den Hals, statt sich mit mir auf einen Vergleich zu einigen… Leute, lasst die Finger von dem Laden – KEINE LEISTUNG, ABER ABKASSIEREN!
In Beispiel (13) werden andere User im Rahmen des ironisch gefärbten Diskussionsbeitrags dazu aufgefordert, den Anbieter Vodafone auszuwählen (Geht zu […] Vodafone Deutschland), wenn sie einen schlechten Service suchen. Fehlende Abstimmungsprozesse innerhalb des Unternehmens, die sich negativ auf die Qualität der Kundenorientierung auswirken, stehen im Zentrum von Beleg (14) (und ihr werdet 5 spannenden Geschichten bekommen). Deutlich kritisiert wird der Umgang des Unternehmens mit telefonischen Beschwerden. Sehr explizit wird in Beispiel (15) (Leute, lasst die Finger von dem Laden) vor dem
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Unternehmen gewarnt, was mit einer schlechten Serviceleistung bei gleichzeitig hohen Preisen begründet wird (KEINE LEISTUNG, ABER ABKASSIEREN). Durch den Gebrauch der als umgangssprachlich zu charakterisierenden Redewendung die Finger von etwas lassen (›sich nicht mit jemandem abgeben‹) (Duden 2002: 222) wird die Warnung sprachlich intensiviert. Explizite Warnungen vor den schlechten Leistungen des Unternehmens, durch detailreiche Schilderungen mit ›Beweischarakter‹ veranschaulicht, bergen für das Unternehmen ein hohes Risiko, das Image und in der Folge die Umsatzzahlen negativ zu beeinflussen. Das explizite Warnen anderer Kunden in Online-Beschwerden weist Analogien zum Aussprechen von negativen Kaufempfehlungen bzw. Kaufwarnungen auf, die als Resultat des Warenhandels im Internet und dem damit verbundenen Einholen von Informationen zum Produkt auf Kundenplattformen in Form der kommunikativen Praktik »Käuferurteil« auftreten: Technisch bedingte Neuerungen in der Kommunikationspraxis sind hier dadurch gekennzeichnet, dass sich die Weitergabe von Kaufempfehlungen oder -warnungen nicht mehr auf den privaten Bereich und dass sich das Einholen von produktbezogenen Informationen nicht mehr allein auf Herstellerinformation und Produktwerbung beschränkt, sondern eine öffentlichkeitswirksame Plattform gefunden hat. (Stein 2015: 58)
Trotz der Gemeinsamkeiten, die Käuferurteile in Form von Kundenrezensionen auf Kundenplattformen einerseits und Kundenbeschwerden auf dem Facebook-Auftritt eines Unternehmens andererseits aufweisen (und die im Wesentlichen in der Verlagerung kommunikativer Praktiken in den öffentlichen, virtuellen Raum bestehen), ist hervorzuheben, dass im Fall der Kundenrezensionen der gesamte Kommunikationsprozess der Produktbewertung von Unternehmensseite als virtuell und öffentlich intendiert ist, wohingegen die Kundenbeschwerden auf Facebook von enttäuschten Kunden initiiert werden, die die seitens des Unternehmens angebotenen Möglichkeiten zur Partizipation in erster Linie nutzen, weil andere Wege der Kontaktaufnahme nicht zum gewünschten Erfolg geführt haben. Anders als bei den Käuferurteilen, die vollständig im virtuellen Raum zu verorten sind, werden bei den analysierten Kundenbeschwerden in der Regel traditionelle Formen des Sich-Beschwerens mit der öffentlichen, virtuellen Variante kombiniert.
4.5 Beleidigen und Bedrohen des Unternehmens Zum Abschluss der Diskussion kommunikativer Teilhandlungen werden Belege vorgestellt, die auf der höchsten Stufe der Aggressivität zu verorten sind. Hierbei handelt es sich um Beleidigungen und Bedrohungen, die im öffentlichen Raum gegen das Unternehmen gerichtet sind und das Ziel verfolgen,
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dessen positives Selbstbild zu gefährden, das Unternehmensimage nachhaltig zu schädigen und andere Kunden dazu zu bewegen, die Leistungen des Mobilfunkanbieters Vodafone nicht (oder nicht mehr) in Anspruch zu nehmen. Zwischen den Usern wird auf diese Weise Solidarität eingefordert und (bei gleichen, negativen Erfahrungen) versucht, die soziale Kohäsion innerhalb der community zu verstärken. Bedingt durch die Rahmenbedingungen der computervermittelten Kommunikation werden teilweise sprachlich drastisch-verstärkende Strategien gewählt, die in der Face-to-Face-Beschwerde sicher keine Verwendung fänden (die sprachlichen Ressourcen, die dem Ausdruck von Kritik dienen, werden im nächsten Kapitel diskutiert). (16) Langsam hab ich tatsächlich die Nase von Euch gestrichen voll. Null Empfang. Kann weder telefonieren noch kann ich ins Netz. Kommt mir jetzt nicht mit »Bitte überprüfe dein Handy«! Es liegt nicht an meinem Telefon, sondern ehr an den fünf Sendemasten die Ihr einfach nicht in den Griff bekommt! Ich bin es wirklich leid und mag auch nicht mehr. Wir sind sooo viele Jahre gute Kunden gewesen aber diesmal ist das Maß wirklich voll. Es geht seit letztem Sommer, dass wir kaum Netz haben. Und seit 2015 ist es ganz und gar vorbei! Keine Leistung, kein Geld. (17) Einen schlechteren Kundenservice habe ich noch nie gesehen! Ich versuche seit über einem halben Jahr meinem Vertrag ordentlich abzuwickeln! Mir fehlt immer noch die Überweisung meines Guthabens von mehr als 300 €. (18) NIE wieder mach ich einen Vertrag mit Vodafone – das ist ein ganz übler Laden (19) Antworten auf meine Mail können Sie auch nicht. Es ist beschemmend was in den Jahren aus Vodafone geworden ist. Bei Vodafone als Kunde zu sein ist das allerletzte. (20) Liebes Vodafoneteam, ich bin nun schon jahrelang Kunde bei Ihnen und habe ihr Unternehmen immer verteidigt, doch was Ihr euch jetzt leistet ist das allerletzte. (21) Es wäre ja schon selten dämlich einer so unzuverlässigen Bande auch noch glauben schenken, die würden für irgendwelche kosten aufkommen. Exemplarisch sei auf die Belege (18) und (21) verwiesen, in denen die Kunden das Unternehmen als »ganz üblen Laden« bzw. als »unzuverlässige Bande« bezeichnet, wodurch eine inhaltliche Gleichstellung mit dem kriminellen Milieu erfolgt. Wie in den bereits beschriebenen kommunikativen Teilhandlungen stellen die Kunden die langjährige Vertragstreue heraus (Beispiel (16): Wir sind sooo viele Jahre gute Kunden gewesen; Beispiel (20): Ich bin nun schon jahrelang Kunde bei Ihnen). In Beleg (20) verweist der Kunde zudem darauf, dass er das Unternehmen in der Vergangenheit stets gegen Kritik gegenüber Dritten ver-
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teidigt habe, nun aber aufgrund nicht länger zu tolerierender Umstände gezwungen sei, seine Meinung grundlegend zu ändern. Auf die Rolle feststehender Redewendungen in der Beschwerdekommunikation wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt verwiesen. Da die Beschreibung sprachlicher Strategien zur Intensivierung der Kundenkritik Gegenstand des folgenden Kapitels ist, wird an dieser Stelle lediglich auf den Gebrauch von gleich zwei umgangssprachlichen Phraseolexemen in Beispiel (16) verwiesen (von jemandem/etwas die Nase (gestrichen) voll haben = ›jmds./ einer Sache überdrüssig sein‹ (Duden 2002: 538) drückt die Verärgerung des Kunden in Folge der Erfahrungen mit Vodafone aus; etwas (nicht) in den Griff bekommen = ›(nicht) in der Lage sein, etwas zu meistern‹ (Duden 2002: 296) nimmt eine negative Wertung der Kompetenz des Unternehmens hinsichtlich der angebotenen Dienstleistungen vor).
5. E rgebnisdiskussion : S pr achliche S tr ategien der I ntensivierung von K ritik Im Folgenden werden zentrale sprachliche Strategien vorgestellt, mit deren Hilfe Kunden ihre Kritik am Unternehmen hervorheben (für eine vertiefte Diskussion sprachlicher Strategien der Intensivierung im Rahmen der Versprachlichung von Bewertungen vgl. Sandig 2006). In vielen Fällen werden neben lexikalischen Ressourcen die Typographie und die Majuskelschreibung als Steigerungsmittel eingesetzt, worauf jedoch nicht separat verwiesen wird. Da es sich bei Online-Beschwerden um eine relativ junge Textsorte handelt, die hinsichtlich ihrer Versprachlichung nicht auf ein konventionalisiertes stilistisches Repertoire zurückgreifen kann, liegt eine Vielzahl unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen vor, die hier nur in Auswahl beschrieben werden können.
5.1 Fragen Fragen tragen dazu bei, der Empörung des Kunden Nachdruck zu verleihen und die Eindringlichkeit der Kritik hervorzuheben. Zugleich wird der Appell an das Unternehmen intensiviert, die beanstandeten Sachverhalte abzustellen: (22) mein vater hat einen vertrag verlängert, aber das handy ist defekt. jetzt habe ich gelesen man bekommt eine sms aufs handy, wenn es verschickt wird. nur blöde wenn das handy nicht mehr geht, und er nicht sehen kann wann er verschickt wurde. soll er jetzt tage zuhause sitzen um zu warten, bis es dann mal irgendwann geliefert wird? oder bekommt man auch auf die mailadresse die im system angegeben ist eine nachricht? wäre auf jedenfall sinnvoller.
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Nadine Rentel (23) Wie stellt sich Vodafone eigentlich die heutige Welt ohne Telefon und Internet vor? (24) Ist das Ihr Serviceversprechen indem Sie so mit Ihren Kunden umgehen?
In Beispiel (24) wird dem Unternehmen vorgeworfen, dem Kunden nicht die nötige Wertschätzung entgegenzubringen (Ist das Ihr Serviceversprechen indem Sie so mit Ihren Kunden umgehen?), während der Kunde in Beleg (23) die Frage stellt, wie sich Vodafone »[…] die heutige Welt ohne Telefon und Internet vor[stellt]«. Diese drastisch-übersteigerte Kritik nimmt auf schlechte Verbindungsraten bzw. auf den kompletten Ausfall der Telefon- und Internetverbindung Bezug und verweist zugleich auf eine mangelnde bzw. fehlende Berücksichtigung der Kundenperspektive. Während die Fragen in den Belegen (22) und (24) explizit an das Unternehmen adressiert sind, liegt aufgrund der Verwendung des Unternehmensnamens in der Anrede in Beispiel (23) eine Doppel- bzw. Mehrfachadressierung vor, denn neben dem Mobilfunkanbieter sind auch die übrigen Nutzer des Forums als Adressaten intendiert. Durch diese »absichtliche Mehrfachadressierung« (vgl. Stein 2015: 60) wird die Kritik gleichermaßen an das Unternehmen als verantwortliche Instanz und an andere Kunden gerichtet.
5.2 Metaphern und Phraseolexeme Die Bildhaftigkeit von Metaphern und (zumeist umgangssprachlich bzw. salopp zu charakterisierenden) Phraseolexemen veranschaulicht kritisierte Sachverhalte und macht die Kritik auf diese Weise deutlicher und plakativer; gleichzeitig erleichtert der Rückgriff auf feststehende Wortverbindungen den Prozess der emotionalen Entlastung enttäuschter und verärgerter Kunden. Neben konventionalisierten Metaphern, die dem Bedürfnis nach einer kognitiv weniger anspruchsvollen emotionalen Entlastung der Sender nachkommen, lassen sich aber auch spontane ad-hoc- bzw. Analogbildungen nachweisen (wie die Holzleitung in Beispiel (25), die auf die langsame Datenrate verweist). Unlauteres Geschäftsgebaren seitens Vodafone und respektloser Umgang mit Kunden wird in den Belegen (26) und (27) mittels feststehender Wortverbindungen herausgestellt; das Phraseolexem dicke Arme machen bezieht sich auf die Praxis, Kunden einzuschüchtern, während bei der Aufforderung, mit offenen Karten zu spielen (mit offenen/verdeckten Karten spielen = ›ohne Hintergedanken handeln, seine Absichten erkennen lassen/heimlich handeln, seine Absichten nicht erkennen lassen‹ (Duden 2002: 398)) das Verschleiern von Problemen bei der Bearbeitung von Kundenanträgen in den Vordergrund gestellt wird: (25) Also seit Anfang des Jahres habe ich zuhause nur noch eine Holzleitung! Und das nervt langsam enorm. Bitte um mehr Mühe für das Geld was ich bezahle!
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands
(26) Kunden unter Druck setzen und dicke Arme machen. (27) Spielt doch mit offenen Karten und sagt (am besten auch in jeder Werbung!), dass ihr neue Aufträge nicht annehmen könnt bzw. inakzeptable Bearbeitungszeiten habt. […] Das wäre Fairplay. (28) Euch kann man mittlerweile nur noch in der Pfeife rauchen….
In Beispiel (27) wird zudem deutlich, dass aufgrund der Möglichkeiten der Partizipation von Usern im Web 2.0 die positive Darstellung eines Unternehmens eben nicht mehr nur auf autorisierten Informationen des Unternehmens bzw. auf der Produktwerbung basiert (sagt am besten auch in jeder Werbung), sondern verstärkt von öffentlichkeitswirksamen Kommunikationsformen auf Online-Plattformen abhängt (vgl. Stein 2015: 58). Diese Differenz zwischen gesteuerter, unternehmensexterner Kommunikation und digitalem Widerstand wird an dieser Stelle explizit thematisiert.
5.3 Zitate von Mitarbeitern der Ser vice-Hotline In den Belegen (29) und (30) wird auf vorhergegangene, erfolglose Versuche, das Unternehmen direkt zu kontaktieren, verwiesen. In diesem Kontext wird das unangemessene Verhalten von Kundendienstmitarbeitern zitiert, die Kunden vertrösten, unfreundlich behandeln oder überhaupt nicht auf deren Beschwerden reagieren. Aus Sicht der User legitimiert sich die Verlagerung der Beschwerde in den öffentlichen Raum aufgrund dieser vorgelagerten Kommunikation auf direkter, interpersonaler Ebene. Zitate von Vodafone-Mitarbeitern im Kundenservice fungieren somit als »Beweis« für die fehlende Kundenorientiertheit des Unternehmens: (29) Hallo Vodafone, gerade war ich wegen dem gleichen wiederkehrende Fehler in der 24h-Kundenhotline. Kurze Zusammenfassung: Kein Lösung des Problems, abermalige Vertröstung auf einen Telekomtechniker, unfreundliche Wertungen des Call-Center Agents (seinen Namen wollte er mir auf Nachfrage nicht nennen) und dann wurde das Gespräch durch den Herren beendet. Hier ein Zitat Ihres Mitarbeiters »mir ist das scheissegal, ich geh dieses Jahr eh in Rente und den rechtlichen Weg würde ich Ihnen nicht empfehlen, da wir bei Vodafone hochbezahlte Anwälte haben mit denen Sie sich lieber nicht anlegen sollten«. (30) Der telefonische Kundenservice kann »in diesem Stadium der Bestellung nicht weiterhelfen« und der Kundensupport bei Facebook antwortet nicht mal.
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In Beleg (29) wird die Äußerung eines Kundendienstmitarbeiters zitiert, der sein fehlendes Engagement gegenüber dem Kunden mit der Tatsache begründet, dass er das Unternehmen aus Altersgründen bald verlasse und zugleich mit der Tatsache droht, dass Vodafone im Falle eines Rechtsstreits über die besseren Anwälte verfüge, um seine Interessen durchzusetzen.
5.4 Ironie In den Beispielen, in denen die Beschwerdehandlungen der Kunden ironisch gefärbt sind, tritt häufig ein nicht ernst gemeinter Dank an das Unternehmen für seine Dienstleistungen auf (Vielen Dank für euren Service und eure Kompetenz; Beispiel (31); Danke für die Belestigung; Beispiel (34); Wir verdanken denen schon seit 9 Wochen nahezu totale Ruhe im Internet in Beispiel (33)). Auch der Ausdruck von Freude über den nächsten direkten Kontakt mit dem Unternehmen ist ironisch intendiert (Ich freue mich schon auf das nächste Telefonat! Beispiel (35)). In weiteren Belegen werden negativ bewertete Leistungen Vodafones mit eigentlich positiv denotierten lexikalischen Einheiten bezeichnet (echt super in Beleg (33)). (31) Auch habe ich keine Rechnungen kostenfrei per Post erhalten. Das soll jetzt umgestellt sein. Bin gespannt Vodafone. Kunde seit 1996 !!! Vielen Dank für euren Service und die Kompetenz. (32) Sollte ich da etwas falsch verstehen, klärt mich bitte auf oder sorgt dafür das man mit einer Flatrate wenigstens normal Surfen und EMails lesen kann. (33) Testet die mal, ist echt super. Geht auch ab und an mal das Netz aber halt eher selten. Wir verdanken denen schon seit 9 Wochen nahezu totale Ruhe im Internet da wir schlicht weg nahezu gar keines haben (34) Langsamm aber sicher habe ich Eure Methoden satt.Danke für die Belestigung durch 01624055186. (35) Ich freue mich schon auf das nächste Telefonat!
5.5 Drastisch-expressive Ausdrucksweise Mittels negativ denotierter, teilweise umgangssprachlicher Lexik, wird die Unzufriedenheit mit dem Unternehmen herausgestellt (beschissen, verarschen, erbärmlich):
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands (36) Für alle die einen beschissenen Service suchen, die such nur verarschen lassen wollen, die bezahlen um KEIN Internet zu haben, die 9-16 Wochen darauf verzichten können, sich via Mails und Internet stören zu lassen mein Tipp: Geht zu Kabel Deutschland und Vodafone Deutschland die verarschen und belügen euch so richtig schön nach Strich und Faden. (37) Es ist schon erbärmlich und ich bin wirklich sauer.
5.6 Textmustermischungen Als letzte Strategie, die der Intensivierung von Kundenkritik dient, werden Textmustermischungen diskutiert. In Beleg (38) wird die Briefform verwendet, um die Geschäftsbeziehung zwischen Kunde und Vodafone mit einer unglücklichen Liebesbeziehung gleichzusetzen.7 (38) Liebes Vodafone, wir hatten doch so eine gute Zeit. Seit Jahren kenne ich Dich schon und unsere gemeinsame Zeit war so fruchtbar, dass ich mich am 01.08.2008 dazu entschloss, auch DSL-Kunde bei Dir zu werden. Und wie lief es? Es lief großartig! Doch dann, im Jahre 2014, wolltest Du gierig werden, mir ein TV-Paket andrehen, für das ich nichts zahlen sollte – und doch zahlen musste. Nach einigen Reibereien konnten Deine Mitarbeiter mir dann doch das TV-Paket aus dem Vertrag nehmen und alles schien wieder in Ordnung. Ja, es war ein Vertrauensbruch, aber ich habe Dir verziehen. Doch dann, im Dezember 2014, schrieb ich Dir, weil ich meinen bevorstehenden Umzug ankündigen wollte – denn Du solltest natürlich gemeinsam mit mir Teil meiner neuen Wohnung werden! Doch Du wolltest anscheinend nicht… […] Oh Vodafone, lass uns einen Neustart wagen – zeig mir ein Entgegenkommen und zeig mir, dass Du diese Beziehung wieder kitten willst.
Nach der expliziten Unternehmensadressierung (Liebes Vodafone) wird auf die ursprünglich gute Geschäftsbeziehung (wir hatten doch so eine gute Zeit; unsere gemeinsame Zeit war so fruchtbar; es lief großartig) und die langjährige Treue zum Unternehmen verwiesen, wobei taggenaue Datierungen die Authentizität der Narration erhöhen. Diese einleitende Passage ermöglicht es dem Nutzer, seine »non complainer identity« herauszustellen: Aus seiner Sicht gab es keinen Grund für eine (öffentliche) Auseinandersetzung mit dem Unternehmen, wenn dieses weiterhin seine Dienstleistungen zur Zufriedenheit des Kunden 7 | Der sprachliche Duktus des Liebesbriefs ist stark ironisch gefärbt und ließe sich daher den in Kapitel 5.4 besprochenen Beispielen zuordnen. Aufgrund der Kreativität der sprachlichen Form, verbunden mit einem vermutlich hohen Formulierungsaufwand bei der Textproduktion, wird diese im Korpus nur selten nachzuweisende sprachliche Strategie des Sich-Beschwerens in einer eigenen Kategorie angeführt.
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erfüllt hätte. Der plötzlich auftretende Qualitätseinbruch seitens des Mobilfunkanbieters ließ dem Nutzer jedoch keine andere Wahl. Im Jahr 2014 erfolgte dann die Zäsur, als das Unternehmen dem Kunden eine Leistung als gratis anpries, die sich im Nachgang als zahlungspflichtig herausstellte. Dies wird mit dem Lexem Vertrauensbruch bezeichnet, ähnlich dem Betrügen eines Partners in einer Liebesbeziehung. Abschließend appelliert der Kunde an das Unternehmen (Oh Vodafone), die Streitigkeiten beizulegen und dazu beizutragen, die Geschäftsbeziehung wiederzubeleben (lass uns einen Neustart wagen; zeig mir, dass du diese Beziehung kitten willst). Die Kreativität, die der Wahl der Strategie einer Textmustermischung zugrunde liegt, eignet sich in besonderer Weise, die Aufmerksamkeit anderer Kunden im Forum zu erregen und sie von der Legitimität der Kritik des Users zu überzeugen. Gleichzeitig ist zu überlegen, ob es sich bei der Verwendung des Textmusters »Brief«, der sich in der klassischen, medial schriftlich realisierten Beschwerdekommunikation zwischen Kunde und Unternehmen als Beschwerdebrief verortet, um eine Hybridisierung der Textsorte handelt (zur Hybridisierung von Textsorten im Web 2.0 vgl. Tienken 2015).
6. Z usammenfassung und A usblick Aus den angeführten Überlegungen wird deutlich, dass Beschwerdekommunikation im wirtschaftlichen Kontext, die sonst per E-Mail, Fax oder Telefon unmittelbar und exklusiv zwischen Kunde und Unternehmen abgelaufen wäre, in letzter Zeit immer häufiger öffentlich (insbesondere in den sozialen Medien) sichtbar wird und den Druck auf die Unternehmen erhöht. Im Rahmen der Studie zu Kundenbeschwerden auf den deutschsprachigen Facebookseiten des Mobilfunkanbieters Vodafone konnte gezeigt werden, dass die Beschwerdekommunikation im öffentlichen Raum als eine Form des Protests bzw. als Versuch des Entwurfs einer alternativen Gegenöffentlichkeit bewertet werden kann. Enttäuschte Kunden leisten Widerstand, indem sie eine der positiven Selbstdarstellung eines Unternehmens diametral opponierte Gegenöffentlichkeit konstruieren und in den sozialen Netzwerken verbreiten, die bei positiver Rezeption gegenwärtiger und potentieller Kunden eines Unternehmens dessen Reputation nachhaltig schädigen kann. In diesem Kontext trägt die Selbstdarstellung der User als langjährige, geduldige Kunden dazu bei, die Glaubwürdigkeit und die Legitimität der Kritik zu erhöhen. Die kollaborative Konstruktion von Identität und die erweiterten Möglichkeiten der Partizipation seitens der Kunden auf Kommunikationsplattformen haben somit unmittelbare Konsequenzen für die Unternehmenskommunikation, die immer zielorientiert daraufhin ausgerichtet ist, ein spezifisches Fremdbild […] eines Unternehmens,
Kundenbeschwerden in der digitalen Öffentlichkeit als Form des Widerstands einer Marke usw. zu evozieren und zu stabilisieren […]. Anders als unter den Bedingungen unidirektionaler Massenkommunikation steht sie im Web 2.0 vor der Herausforderung, dieses Ziel gemeinsam im Dialog mit einem gegenüber erreichen zu müssen. (Lasch 2015: 300)
Der Einsatz sozialer Medien in der externen Unternehmenskommunikation ist, wie in der Einleitung erwähnt, im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach einer zielgerichteten und geplanten Konstruktion eines positiven Selbstbilds seitens der Unternehmen und dem Risiko der Demontage dieses Identitätsentwurfs durch die emanzipierten Kunden zu verorten, wenn Kritik an den Leistungen des Unternehmens geübt wird: Gemeint ist damit, dass das ganz wesentlich durch Sprache konstituierte Fremdbild […] von einem Unternehmen, einem Produkt, einer Marke durch negative Aspekte, die diskursiv ausgehandelt werden, deutlich abgewertet wird. (Lasch 2015: 311)
Die Analyse von Beschwerdeeinträgen auf der Facebookseite des Mobilfunkanbieters Vodafone hat unterschiedliche kommunikative Teilhandlungen und sprachliche Strategien aufgezeigt, mit deren Hilfe Kunden die Kritik am Unternehmen in den öffentlichen Raum verlagern. In diesem Kontext muss auf die methodische Schwierigkeit verwiesen werden, dass sich Teilhandlungen innerhalb einer Beschwerde überschneiden können, was die Zuordnung zu einer Kategorie erschwert. Die Teilhandlungen lassen sich auf einer Skala mit steigendem Aggressivitätsgrad verorten, beginnend beim Ausdruck von Enttäuschung und Verärgerung über das Warnen anderer Kunden und das Ankündigen von Konsequenzen bis hin zum Beleidigen und Bedrohen des Unternehmens. Es erfolgt ein Übergang von rein schildernden Beschwerdehandlungen, in deren Rahmen das Teilen negativer Erfahrungen und die eigene emotionale Entlastung im Zentrum stehen, hin zu mehr handlungsorientierten Beschwerden, in denen enttäuschte Kunden die Initiative ergreifen und beispielsweise bestehende Verträge mit dem Unternehmen kündigen. Kommunikative Macht wird insbesondere durch die kommunikative Teilhandlung des Warnens anderer Kunden ausgeübt. Im Kontext der Diskussion, inwieweit Beschwerdekommentare in der Lage sind, Widerstand gegen ein Unternehmen auszuüben, stellt sich jedoch die Frage, ob es sich um »reale« Macht bzw. Einflussnahme seitens der Kunden oder vielmehr um eine suggerierte Partizipation und damit um »instabile (Gegen)Öffentlichkeiten« handelt, denn Unternehmen können unliebsame Kundenkommentare von der Plattform löschen. Um ihre Kritik am Unternehmen zu intensivieren, verwenden die enttäuschten Kunden eine Vielzahl sprachlicher Mittel, von denen im Rahmen der Studie einige Strategien exemplarisch diskutiert worden sind. Sowohl das Fehlen einer konventionalisierten Teiltextstruktur als auch eines stilistischen
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Regelwerks legt nahe, dass es sich bei der Textsorte »Online-Beschwerde« um eine hybride Textsorte handelt. Dies zeigt sich im Korpus deutlich am Beispiel der Textmusteranleihen an der Textsorte »Brief«, die zudem ein Indikator dafür ist, dass sich die kommunikative Handlung des Sich-Beschwerens noch nicht vollständig in den öffentlich-virtuellen Raum verlagert hat und traditionelle kommunikative Praktiken neben den Online-Beschwerden koexistieren. So konstatiert Kaltenbacher (2015), […] dass es sich bei der Online-Beschwerde um eine sehr junge Textsorte handelt, die sich eben erst im ebenfalls jungen Web 2.0 entwickelt hat. Die Textsorte Online-Beschwerde ist einfach zu neu, um eine durch Konvention etablierte generische Struktur oder ein stilistisches Regelwerk vorweisen zu können. Sie ist deshalb so heterogen, weil sie verschiedene Stile aus anderen digitalen, inhaltlich und technisch oft verlinkten Textsorten integriert. (Kaltenbacher 2015: 202)
Abschließend sei auf die eingeschränkte Gültigkeit der Ergebnisse verwiesen, da es sich bei den untersuchten Beschwerdeeinträgen um Momentaufnahmen im Zustand höchster Verärgerung handelt; die Interaktion mit dem Unternehmen, die in parallelen Kommunikationskanälen abläuft (z.B. telefonisch oder im Geschäftslokal) findet in der Studie keine Berücksichtigung. Ebenso wurde bei der Analyse einzelner Posts die interaktive Einbettung einzelner Beschwerden, wie Günthner (2000) sie aufzeigt, nicht näher betrachtet. Im Rahmen einer weiteren Studie sollen die deutschsprachigen Kundenbeschwerden hinsichtlich ihrer kommunikativen Teilhandlungen und der verwendeten sprachlichen Ressourcen mit anderen Sprachen und Kulturen verglichen werden, da die emotional aufgeladene Sprachhandlung der Beschwerde durchaus kulturspezifischen Prägungen unterliegen dürfte. Unterschiede sind insbesondere auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung zu erwarten. Fragen, die im Rahmen einer sprach- und kulturkontrastiven Analyse gestellt werden müssen, betreffen beispielsweise das Anredeverhalten (formell versus informell) oder den Grad der Direktheit, mit dem andere Kunden vor dem Unternehmen gewarnt werden.
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Autorinnen und Autoren Gerd Antos ist Professor emeritus für germanistische Sprachwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Ehrenprofessor der Pannonischen Universität Veszprém (Ungarn). Er war von 1998-2002 Präsident der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) und ist Mitherausgeber bedeutender sprachwissenschaftlicher Reihen wie z.B. der Handbooks of Applied Linguistics (Mouton de Gruyter), der Reihe Transferwissenschaften (Peter Lang), Textsorten (Stauffenburg). Zur Frage der aktuellen Medienkommunikation publizierte er kürzlich in verschiedenen Zeitschriften zu Fake News sowie zu Wissens- und Wissenschaftskommunikation. Ruth Ayaß ist seit 2016 Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung mit dem Schwerpunkt qualitative Methoden an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Studium der Linguistik und der Soziologie an der Universität Konstanz; Promotion an der Universität Gießen mit einer Fallstudie über die Sendereihe »Das Wort zum Sonntag«. Von 1991-2001 bzw. 2001-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin in Gießen und Bielefeld. 2004 Habilitation in Bielefeld über »Mediale Gattungen und die kommunikative Aneignung von Massenmedien«. 2004-2016 Professorin an der Universität Klagenfurt. Schwerpunkte: qualitative Methoden (insbesondere Konversationsanalyse, Ethnographie und Bildanalyse), Kommunikation in, mit und über Medien; Ethnomethodologie; visuelle Soziologie. Christine Domke ist seit 2017 Professorin für Theorie und Praxis sozialer Kommunikation an der Hochschule Fulda. Nach dem Studium der Linguistik, Soziologie und Germanistik an der Universität Bielefeld promovierte sie dort mit einer Arbeit über »Besprechungen als organisationale Entscheidungskommunikation«. Von 2004-2017 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig in Dortmund, Bremen und Koblenz sowie an der TU Chemnitz, wo sie sich 2012 mit einer Studie über die »Die Betextung des öffentlichen Raumes« habilitierte. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Semiotic Textscapes, organisationale Kommunikation, kommunikative Raumkonstruktionen sowie analoge und digitale Mesokommunikation.
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Birte C. Gnau studiert an der Universität Koblenz-Landau Master of Arts (Germanistik, Dynamiken der Vermittlung) sowie den Master of Education (Germanistik, Geschichte). Dort ist sie wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Germanistik und Projekt-Hilfskraft in der kulturwissenschaftlichen Sprachwissenschaft bei Prof. Dr. Eva L. Wyss. Françoise Hammer führte es nach einem mit der Promotion in Linguistik abgeschlossenen Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft und dem Studium von Fremdsprachen in Rennes und Kiel als Dozentin an die Universitäten Heidelberg, München, Mannheim, Landau und Karlsruhe. Ihre Forschungsarbeit ist im Wesentlichen der Kontrastiven Linguistik gewidmet: Übersetzung, Text- und Medienlinguistik, Textmarker und Phraseologie. Auch im Ruhestand führt sie ihre Studien fort und arbeitet mit Forschungsgruppen in Frankreich und Deutschland. Ihr Interessenschwerpunkt liegt aktuell auf Fragen der Medienlinguistik und den Beziehungen zwischen visuellem und verbalem Ausdruck. Stefan Hauser ist Professor und Leiter des Zentrums Mündlichkeit an der Pädagogischen Hochschule Zug. Nach dem Studium wirkte er an verschiedenen Universitäten und Hochschulen der Schweiz, Deutschlands und in Australien als Dozent, Gastdozent und Vertretungsprofessor. Als wissenschaftlicher Assistent promovierte er an der Universität Zürich über den kindlichen Erwerb des Witze-Erzählens. Neben der Gesprächslinguistik (z.B. mit Projekten zur Analyse von Unterrichtskommunikation) liegen seine Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der Text- und Medienlinguistik und der Phraseologie. Konstanze Marx ist Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Greifswald. Sie wurde mit einer neurolinguistischen Arbeit zum Textverstehen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert und mit einer Arbeit zum Diskursphänomen Cybermobbing an der Technischen Universität Berlin habilitiert. Im Anschluss arbeitete sie als Professorin für die Linguistik des Deutschen an der Abteilung Pragmatik des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache Mannheim und an der Universität Mannheim. Ihre Schwerpunkte liegen in der Internetlinguistik, der Pragmatik des Web 2.0, der Diskurs- und Textlinguistik, der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Sprache-Kognition-Emotion, der Genderlinguistik und der medienlinguistischen Prävention. Thomas Metten studierte Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. 2009 promovierte er mit einer Arbeit zum Thema »Wissensvermittlung als ästhetische Erfahrung«. Von 2009 bis 2016 war er Akademischer Rat an den Instituten für Germanistik und Kulturwis-
Autorinnen und Autoren
senschaft der Universität Koblenz-Landau. In den Jahren 2013 bis 2015 übernahm er die Vertretung einer Professur für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seit 2019 ist er an der Universität Passau Projektkoordinator im Bereich Wissenstransfer. Er ist Initiator und Mitbegründer der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG). Roman Opiłowski studierte Germanistik und Sprachwissenschaft in Lublin, Leipzig und Halle/Saale. 2005 promovierte er an der MLU Halle-Wittenberg und habilitierte 2016 an der Universität Wrocław. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Wrocław und leitet dort die Forschungsstelle für Medienlinguistik, wo er u.a. zwei umfangreiche Drittmittelprojekte zur Medienlinguistik (2013-2017) realisiert hat. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Text-, Diskurs- und Medienlinguistik, Multimodalität und Online-Kommunikation. Andreas Osterroth ist Deutschlehrer und übernahm seit der Promotion eine Abordnung an die Universität Landau mit den Schwerpunkten Linguistik und Sprachdidaktik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachkritik (in der Schule) und Sprachwandel (vor allem in Bezug zu neuen Medien). Steffen Pappert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und Allgemeinen Sprachwissenschaft sowie der Promotion zur öffentlichen Kommunikation in der DDR an der Universität Leipzig arbeitete er an den Universitäten Augsburg und Düsseldorf. 2017 Habilitation an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die internetbasierte Kommunikation, Multimodalität sowie die politische Kommunikation. Nadine Rentel ist seit 2011 Professorin für Romanische Sprachen (Schwerpunkt Wirtschaftsfranzösisch) an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Sie studierte Romanistik (Französisch, Italienisch) und Computerlinguistik an der Universität Duisburg-Essen und in Poitiers (Frankreich). 2004 promovierte sie zu Sprache-Bild-Relationen in der französischen Anzeigenwerbung und war in der Folge an verschiedenen Universitäten Frankreichs als Lektorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kontrastiven Textologie und im Bereich des Sprach- und Kulturvergleichs, insbesondere in der Untersuchung von Unterschieden zwischen der deutschen und romanischen Wissenschaftskultur und zur Wirtschaftskommunikation. Kersten Sven Roth ist Privatdozent an der Universität Zürich und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft
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und Pädagogik an der Universität Freiburg i.Br. promovierte er dort mit einer Arbeit zur politischen Sprachberatung. 2012 erfolgte die Habilitation an der Universität Zürich mit einem theoretischen und praktischen Entwurf zu einem interaktionalen Ansatz der Diskurslinguistik (Diskurspragmatik). Es folgten Professurvertretungen an den Universitäten Köln und Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Diskurs- und Politolinguistik, die Sprachkritik-Forschung sowie die Interaktionslinguistik. Eva L. Wyss ist seit 2012 Professorin für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Universität Koblenz-Landau. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Zürich führte sie ein Forschungsaufenthalt an die UC Berkeley. Danach war sie wissenschaftliche Assistentin und Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und wurde in dieser Zeit mit einer Arbeit zum »Werbespot als Fernsehtext« promoviert. 2009 folgte sie einem Ruf als Gastprofessorin für Geschlechterforschung an die Universität Koblenz-Landau. 2011 erfolgte die Habilitierung mit Schriften zur Sozialen Pragmatik an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in kulturlinguistischen Fragen der Briefforschung, Medienkommunikation und der historischen Textwissenschaft mit Bezügen zu Gender- und Wissenschaftsforschung.
Medienwissenschaft Susan Leigh Star
Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5
Geert Lovink
Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Medienwissenschaft Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus, Martina Thiele, Julia Elena Goldmann (Hg.)
Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4
Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 2/2017 – Mobile Digital Practices January 2018, 272 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3821-9 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3821-3
Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)
Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0
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