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German Pages 308 Year 2018
Carolin Ruther Alltag mit Prothese
Kultur und soziale Praxis
Carolin Ruther (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der interdisziplinären Gesundheits-, Medizin- und Technikforschung.
Carolin Ruther
Alltag mit Prothese Zum Leben mit moderner Medizintechnologie nach einer Beinamputation
Gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Carolin Ruther, 2015 Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4276-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4276-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
1
Einleitung | 7
1.1 1.2 1.3
Forschungsinteresse, Zielsetzung und Fragestellung | 9 Stand der Forschung | 15 Aufbau der Arbeit | 31
2
Amputation und Prothetik als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung | 35
2.1 Theoretische Bezugspunkte und Forschungsperspektiven | 35 2.1.1 Post-Amputations-Alltage im Blick: Die Europäische Ethnologie/Volkskunde als Alltagswissenschaft | 35 2.1.2 Technogenes Embodiment (multi-)theoretisch betrachtet: Zur körperlich-leiblichen Aneignung von Prothesen | 44 2.2 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign | 67 2.2.1 Verkörperte Feldforschung: Anthropology at home und die eigene Subjektivität im Forschungsprozess | 70 2.2.2 Auf der Suche nach Prothesenträgern: Der Zugang zum Feld | 74 2.2.3 Praktiken der Datenerhebung: Teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews | 82 2.2.4 Analyse und Auswertung des empirischen Materials | 93 3
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 101
Ausgewählte Amputationsgeschichten | 103 3.1 3.1.1 »Die ersten fünf Tage ging es nur ums Überleben« (Saskia Eibich) | 103 3.1.2 »Nach der Amputation bin ich in ein Loch gefallen« (Richard Schneider) | 105 3.1.3 »Dann wachst du auf und hast nur noch ein Bein« (Eduard König) | 106 3.1.4 »Amputation war die einzige Lösung« (Erika Tamm) | 107 3.1.5 »Du wirst ziemlich ausʼm Leben geworfen« (Christina Jahn) | 110 3.2 Amputation als krisenhafte Erfahrung: Die Verunsicherung von Alltag und Körper | 112 3.3 Schmerz lass nach! Prothetische Erstversorgung im Krankenhaus | 120
4
Anschlussheilbehandlung und Prothesentraining in der Rehaklinik | 139
4.1 4.2
Arbeit am Alltag als Arbeit am Körper | 143 Prothese-Tragen als komplexer Lernprozess und die praktische Simulation von Alltag | 151 Fit für den Post-Amputations-Alltag? Entlassung aus der Rehaklinik | 167
4.3
5
Einblicke in das poststationäre Leben von Prothesenträgern | 171
Ausgewählte Post-Amputationsgeschichten | 172 5.1 5.1.1 »Du musst dich mit dem Alltag arrangieren« (Eduard König) | 172 5.1.2 »Ich muss mein Leben neu ordnen« (Erika Tamm) | 175 5.1.3 »Man muss sich Stück für Stück ins Leben arbeiten« (Christina Jahn) | 179 5.1.4 »Jeder Tag ist anders« (Richard Schneider) | 183 5.1.5 »Mittlerweile ist das Leben mit Prothese mehr oder weniger Alltag« (Saskia Eibich) | 186 5.2 Zwischen Einschränkung und Lebensqualität: Alltag mit Prothese wiederherstellen, zurückerobern und leben | 190 5.3 Das Orthopädietechnikzentrum als fester Bestandteil von Post-Amputations-Alltagen | 208 5.3.1 Aktuelle Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der beinprothetischen Versorgung in Deutschland | 215 5.3.2 Orthopädietechnische Prothesenanpassung und technogenes Embodiment als Teamwork in soziomateriellen Assemblagen | 229 5.4 Prothesenträger und die alltägliche (De-)Konstruktion von Behinderung | 247 6
Zusammenfassende Überlegungen | 267
Literatur- und Quellenverzeichnis | 283 Danksagung | 305
1
Einleitung
Im Sommer 2014 erregte der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm großes mediales Interesse, nachdem er als erster Weitspringer mit Beinprothese den Titel bei den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften in Ulm gewonnen hatte. In der Folge entspannten sich zahlreiche öffentliche Debatten über Rehms Karbon-Sprungfeder-Prothese, da vermutet wurde, diese hätte ihm gegenüber seinen nicht-beinamputierten Mitstreitern einen technischen Vorteil beim Absprung verschafft. In verschiedenen Zeitungen und Online-Blogs wurde Rehms vermeintlicher Vorteil unter Schlagzeilen wie »Mit der Prothese in den Kampf der Maschinen«1 oder »Springender Cyborg«2 diskutiert. Derartige Diskussionen sind jedoch nicht neu, wurden diese doch in ähnlicher Weise bereits einige Jahre zuvor im Zusammenhang mit der Teilnahme des südafrikanischen, doppelseitig unterschenkelamputierten Leichtathleten Oscar Pistorius an den Olympischen Spielen 2008 in Peking und 2012 in London geführt. Pistorius ging damals als scheinbar technisch aufgerüsteter Blade Runner in die Sportgeschichte ein.3 Die These von der wachsenden Verflechtung von Mensch und Technik dank hochmoderner Prothesen scheint seither allgegenwärtig, zumal prothetische Ersatzteile immer näher an den menschlichen Körper heran- oder durch Implantate auch in diesen hineinrücken.4 Wie zudem die Beispiele von Markus Rehm
1
Vgl. Cöln, Christoph: Mit der Prothese in den Kampf der Maschinen, in: Die Welt vom 06.09.2014, http://www.welt.de/print/die_welt/sport/article131960614/Mit-derProthese-in-den-Kampf-der-Maschinen.html (Stand: 28.04.15).
2
Vgl. Nebgen, Christoph: Springender Cyborg, in: Online-Blog vom 01.08.2014, http://nebgen.blogspot.de/2014/08/springender-cyborg.html (Stand: 28.04.15).
3
Vgl. u.a. Lewis, Tim: Is it fair for ›Blade Runner‹ Oscar Pistorius to run in London Olympics?, in: The Guardian vom 31.07.2011, http://www.theguardian.com/sport/ 2011/jul/31/oscar-pistorius-should-he-compete (Stand: 28.04.15).
4
Vgl. Kienitz, Sabine: Prothesen-Körper. Anmerkungen zu einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), S.137-163.
8 | Alltag mit Prothese
und Oscar Pistorius zeigen, sind mit dieser Entwicklung meist kontrovers geführte Debatten um sogenanntes Human Enhancement verbunden, worunter in der bioethischen und biopolitischen Diskussion die Optimierung körperlicher oder geistiger Fähigkeiten über ein ›normales‹ Maß hinaus gemeint ist.5 Auch die Figur des Cyborg im Sinne eines Hybridwesens aus Mensch und Maschine wird in diesem Zusammenhang immer wieder ins Feld geführt, wobei speziell das öffentliche Bild von der (scheinbar) technischen Erweiterung des Menschen durch moderne Prothetik zusätzlich durch populärkulturelle Darstellungen untermauert wird. Exemplarisch gelten hierfür Hollywood-Blockbuster wie Iron Man oder Terminator. Technikkritiker6 befürchten daher eine baldige ›Entkörperung‹ des Menschen in einem posthumanen Zeitalter, während optimistische Stimmen die technische Aufrüstung des Körpers als kulturelle Errungenschaft positiv bewerten.7 Was bei den genannten Debatten um Prothesenträger wie Rehm oder Pistorius allerdings ebenfalls auffällt ist, dass hierbei vor allem auf die jeweiligen Prothesen als Wunderwerke der Medizintechnik fokussiert wird, während die Prothesen-Tragenden selbst dahinter zu verschwinden scheinen. Die Frage, was es tatsächlich heißt, nach einer Beinamputation mit Prothese zu leben, wird damit verbunden kaum gestellt. Doch wie gestaltet sich der Alltag als Prothesenträger und inwiefern gelingt es Menschen nach einer Beinamputation überhaupt, das für sie zunächst fremde medizintechnische Artefakt Prothese in ihre körperlich-leibliche Wahrnehmung zu integrieren? Welche Rolle spielen hierbei Faktoren wie Alter, Geschlecht oder auch gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen von Behinderung? Und nicht zuletzt: Was ist technisch im Bereich Beinprothetik heute wirklich schon alles möglich, was davon wird in der Praxis eingesetzt und wer hat Anspruch auf welches Prothesenmodell? Derartige Fragen stehen weder im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, noch wurden sie bislang von der internationalen und besonders von der deutschsprachigen sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung umfassend berücksichtigt. Dies ist erstaunlich, da allein in Deutschland pro Jahr schätzungsweise zwischen 40.000 und 60.000 Beinamputationen sowie etwa 10.000 Armamputationen durchgeführt werden, wobei den Großteil vor allem ältere Personen ab 60
5
Vgl. Bendel, Oliver: Human Enhancement aus ethischer Sicht, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 24 (2015), S.75-82; Hogle, Linda F.: Enhancement Technologies and the Body, in: Annual Review of Anthropology, 34 (2005), S.695716, hier: S.696/697.
6
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht
7
Vgl. S. Kienitz: Prothesen-Körper, S.147.
anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form gemeint.
Einleitung | 9
Jahren darstellen, denen aufgrund von Diabetes oder arteriellen Verschlusskrankheiten Gliedmaßen amputiert werden müssen.8 Genaue Angaben hierzu gibt es allerdings nicht, auch nicht darüber, wie viele der betreffenden Personen nach einer Amputation tatsächlich mit Prothesen versorgt werden, da für Deutschland weder eine offizielle Amputationsstatistik noch ein nationales Prothesenregister existiert.9 Sämtliche Angaben diesbezüglich beruhen lediglich auf Schätzungen von deutschen Kliniken, Chirurgen, Krankenkassen, Orthopädietechnikern sowie der Prothesenbauindustrie, sodass durchaus auch die Frage gestellt werden kann, ob Menschen mit Gliedmaßenamputation bzw. Prothesenträger eine marginalisierte Gruppe im deutschen Gesundheitswesen darstellen. Dies hat mich schließlich neugierig gemacht, weshalb ich mit der vorliegenden Arbeit genau an diesem Punkt und den soeben genannten Fragen ansetze.
1.1
FORSCHUNGSINTERESSE, ZIELSETZUNG UND FRAGESTELLUNG
Bei meiner Arbeit handelt es sich um eine ethnographische Studie, in der ich das Leben bzw. den Alltag nach einer Beinamputation in Deutschland und den Umgang der betreffenden Personen mit diesem (medizinischen) Eingriff sowie dem medizintechnischen Artefakt Prothese zum Gegenstand einer empirisch fundierten, volkskundlich-ethnologischen Analyse mache. Ziel ist es, der gängigen Repräsentation moderner Prothetik im Kontext der eingangs beschriebenen öffentlichen Debatten eine andere Erzählung gegenüber zu stellen, indem ich Beinpro-
8
Vgl. Mitterhuber, Thomas: Amputation und Prothese, Artikel auf der Homepage MyHandicap vom Juli 2012, http://www.myhandicap.de/prothese-amputation.html (Stand: 03.06.14).
9
Im November 2014 wurden von mir per E-Mail entsprechende Anfragen an das Bundesamt für Statistik, den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV) sowie das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information geschickt, jedoch konnte mir keine der genannten Institutionen diesbezüglich konkrete Angaben machen. Dabei fordern unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie sowie die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie bereits seit mehreren Jahren die Einführung eines offiziellen Amputations- und Prothesenregisters für Deutschland, wobei vor allem Dänemark als zentrales Vorbild gilt, da dort derartige Statistiken geführt werden. Vgl. Daum, H./Tigges, W./Debus, E.S.: Amputationsregister – ein Weg zur Senkung der Amputationsrate in Deutschland?!, in: Zentralblatt für Chirurgie – Zeitschrift für Allgemeine, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie 131 (2006), Kongressbeitrag P73.
10 | Alltag mit Prothese
thesenträger selbst ausführlich zu Wort kommen und von ihrem Leben nach der Amputation mit Prothese berichten lasse. Die vorliegende Studie basiert in diesem Zusammenhang im Wesentlichen auf qualitativen Interviews mit Prothesenträgern bzw. -trägerinnen unterschiedlichen Alters und Orthopädietechnikern, die auf die Anpassung von Beinprothesen spezialisiert sind sowie auf Feldforschungen bei drei Selbsthilfegruppen für Prothesenträger, in einem größeren deutschen Orthopädietechnikzentrum und einer deutschen Rehabilitationsklinik, die ich zwischen 2013 und 2016 durchgeführt habe (siehe Kapitel 2.2). Meine Konzentration auf Beinprothesenträger bzw. Menschen mit Beinamputation ist dabei vor allem forschungspraktischen Gründen geschuldet und dient der thematischen Eingrenzung. So wurden weder Menschen, denen von Geburt an Gliedmaßen fehlen, noch Armprothesenträger in die Studie miteinbezogen. Durch meine Konzentration auf Beinprothesenträger gehe ich zudem von einem eng gefassten Prothesenbegriff aus, der sich auf sogenannte Exoprothesen bezieht, das heißt auf Prothesen, die außen am Körper angebracht werden. Der Begriff Prothese stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie ›Vorsatz‹ oder ›das Voransetzen‹.10 Im medizinischen Fachjargon wird darunter ein aus körperfremdem Material hergestellter künstlicher Ersatz für Körper- oder Organteile bezeichnet.11 Neben Arm- und Beinprothesen werden daher auch künstliche Augen, Hör- und Sehhilfen oder Mamma-Implantate sowie Zahnprothesen dazu gezählt. Im weiteren Sinne werden zudem künstliche Herzklappen, Arterien oder Gelenke dazugerechnet, die unter dem Begriff Endoprothesen subsumiert werden.12 Zu Beginn wurde mein Forschungsinteresse vor allem von der Überlegung geleitet, dass sich das Leben nach einer Beinamputation mit Prothese keineswegs so unproblematisch gestaltet wie dies die verschiedenen medialen Darstellungen oder auch Werbeanzeigen der Prothesenbauindustrie oft glauben machen möchten. Vielmehr ging ich aufgrund von mir durchgesehener Online-Blogs zum Thema Amputation und Prothesengebrauch sowie erster informeller Gespräche mit verschiedenen Prothesenträgern von der Annahme aus, dass eine Amputation einen Eingriff darstellt, durch den das Leben, der Alltag der jeweiligen Person
10 Vgl. Burhenne, Verena: Prothesen von Kopf bis Fuß. Einführung, in: Dies. (Hg.): Prothesen von Kopf bis Fuß. Katalog zur gleichnamigen Wanderausstellung des Westfälischen Museumsamtes und Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe von März 2003 bis August 2004. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2003, S.4-14, hier: S.5. 11 Ebd. 12 Ebd.
Einleitung | 11
maßgeblich verändert wird und in die Krise gerät. Alltag verstehe ich dabei im Sinne des Volkskundlers Hermann Bausinger in erster Linie als Bereich der Routine, als ein Netz von Selbstverständlichkeiten, das unser Leben prägt. 13 Durch eine Amputation werden diese als gegeben betrachteten Selbstverständlichkeiten und Routinen jedoch in Frage gestellt und die betreffenden Individuen stehen vor der Aufgabe, ihr Leben nach diesem Eingriff neu zu ordnen, neu zu strukturieren. Das bedeutet, Alltag selbst muss im wahrsten Sinne des Wortes als solcher unter veränderten Bedingungen erst wiederhergestellt werden, wie ich im Verlauf meiner Forschung beobachtet habe und wie ich im empirischen Teil der vorliegenden Studie genauer herausarbeiten werde. Ähnliche Beobachtungen hat auch die Europäische Ethnologin Katrin Amelang bei ihren Forschungen über Menschen mit Lebertransplantation gemacht, das heißt auch nach dem medizinischen Eingriff der Transplantation kann von den betreffenden Personen nicht einfach so in den alten, gewohnten Alltag wie zuvor zurückgekehrt werden. Vielmehr muss das ›neue‹ Leben nach der Transplantation erst wieder zum Alltag gemacht werden, die betreffenden Individuen müssen sich ein neues Netz an Selbstverständlichkeiten erarbeiten.14 Amelang analysiert Alltag nach einer Lebertransplantation in ihrer ethnographischen Studie daher in erster Linie aus einer praxistheoretisch orientierten Perspektive als Resultat spezifischer Herstellungspraktiken, das heißt hinsichtlich der ihn konstituierenden Herstellungsformen innerhalb und außerhalb klinischer Settings, wobei unterschiedliche Akteure wie die Transplantierten selbst, deren Familienangehörige, aber auch das klinische Personal an diesen Wiederherstellungspraktiken beteiligt sind. Damit verbunden führt Amelang in ihrer Studie als theoretisch-analytischen Begriff den Begriff ›Post-Transplantations-Alltag‹ ein, um die Thematisierung und Herstellung von Alltag vor dem Hintergrund transplantierter, instabiler Gesundheit in den Blick nehmen zu können.15 Ich knüpfe in meiner Arbeit an diese Überlegungen von Amelang an und verwende in Anlehnung an ihre Studie daher auch den Begriff ›Post-Amputations-Alltag‹, da ich im Verlauf meiner Forschung sehr viele ähnliche Beobachtungen gemacht habe und es auch mir nicht in erster Linie um die Beschreibung einer spezifischen Alltagskultur oder Lebenswelt im ›klassischen‹ volkskundlich-ethnologischen bzw. phänomenologischen Sinne
13 Vgl. Bausinger, Hermann: Alltag und Utopie, in: Kaschuba, W./Scholze, T./ScholzeIrrlitz, L. (Hg.): Alltagskultur im Umbruch. Weimar: Böhlau 1996, S.31-49, hier: S.33/34. 14 Vgl. Amelang, Katrin: Transplantierte Alltage. Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation. Bielefeld: transcript 2014. 15 Ebd., S.3-7.
12 | Alltag mit Prothese
geht, sondern um die Frage, wie Alltag nach einer Beinamputation re-organisiert und gemacht wird.16 Im Zentrum meiner Studie stehen damit verbunden vor allem folgende forschungsleitende Fragestellungen: •
•
•
Wie wird Alltag nach einem derartigen (medizinischen) Eingriff wiederhergestellt und welche Akteure sind an diesen Wiederherstellungspraktiken beteiligt? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die betreffenden Personen ihr ›neues‹ Leben nach der Amputation tatsächlich als Alltag leben können? Aber auch: Was zeichnet Post-Amputations-Alltage aus und wie werden sie von meinen Forschungsteilnehmern tagtäglich gelebt?
Eine Amputation kann nun allerdings nicht nur als Ereignis betrachtet werden, durch das der Alltag der betreffenden Person zerrüttet wird und neu angeeignet werden muss, sondern eine Amputation kann im Sinne der US-Medizinanthropologin Gay Becker auch als körperlich-leibliche Transformationserfahrung verstanden werden.17 Der vertraute eigene Körper wird durch diesen Eingriff plötzlich fremd, zudem gestaltet sich der Gebrauch von Prothesen keineswegs von Anbeginn intuitiv und fühlt sich auch nicht ›natürlich‹ an, wie ich im Verlauf meiner Forschung beobachten konnte. Vielmehr stehen Menschen, die sich nach einer Beinamputation für das Tragen von Prothesen entscheiden, vor der Herausforderung, ein ›totes‹ medizintechnisches Artefakt in ihre körperlichleibliche Wahrnehmung zu integrieren und von einem ›Nicht-Selbst‹ zu einem Teil ihres ›Selbst‹ zu machen. Darüber hinaus werden die betreffenden Individuen nach der Amputation oftmals zum ersten Mal mit der Zuschreibung ›behindert‹ konfrontiert, da soziale Klassifizierungs- und Differenzierungsprozesse vor allem über die äußere körperliche Erscheinung eines Menschen ablaufen. Wie der Kulturwissenschaftler Markus Dederich schreibt, führte dabei insbesondere das Aufblühen der naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulmedizin in euroamerikanischen Gesellschaften seit dem 18./19. Jahrhundert zur Herausbildung eines spezifischen, medizinisch-klinischen Blicks auf den menschlichen Körper. Das bedeutet, »[e]s entstand eine abstrakte Biologie, die herausarbeitet, wie ein Körper normalerweise morphologisch gestaltet ist (und normativ festlegt, wie er sein soll), welche anatomische Struktur er hat (und haben soll), wie er funktio-
16 Ebd. 17 Vgl. Becker, Gay: Disrupted Lives. How People Create Meaning in a Chaotic World. Berkeley: University of California Press 1997.
Einleitung | 13
niert (und funktionieren soll).«18 Der vollständige, unversehrte Körper wurde damit verbunden medizinisch als zentrale Normalitätsvorstellung definiert, der amputierte, unvollständige Körper dementsprechend als defizitär, anormal und behindert klassifiziert.19 Prothesen werden in diesem Zusammenhang konstruiert, um der Marginalisierung von Individuen entgegen zu wirken, wobei die Rekonstruktion des ›versehrten‹ Körpers mittels Prothesen sowohl als individuelle wie auch gesellschaftliche Normalisierungsstrategie verstanden werden kann. So soll durch die Versorgung mit Prothesen letztlich nicht nur der einzelne ›beschädigte‹ Körper wiederhergestellt werden, sondern vielmehr auch die soziokulturelle Ordnung, die sich nach Ansicht der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas vor allem im, am und über den menschlichen Körper manifestiert. 20 Allerdings wird durch Prothesen die ›verkörperte Differenz‹ visuell weiterhin aufrechterhalten, weshalb die betreffenden Individuen vor der Aufgabe stehen, ihre soziale Position im Gesellschaftsgefüge neu auszuhandeln und ihr altes und neues ›verkörpertes Selbst‹ in Einklang zu bringen.21 Neben der Frage nach der (Wieder-)Herstellung von Alltag nach einer Beinamputation stehen im Zentrum der vorliegenden Studie daher ebenso folgende weitere Forschungsfragen: •
• •
Inwiefern gelingt es den betreffenden Personen, sich positiv mit ihrem durch die Amputation veränderten und mittels Prothesen ›technisierten‹ Körpers zu identifizieren und das medizintechnische Artefakt in ihre körperlich-leibliche Wahrnehmung zu integrieren? Wo liegen damit verbunden die Möglichkeiten und Grenzen von technisiert erfahrbarer Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit? Welche Rolle spielen hierbei Faktoren wie Alter, Geschlecht oder eben auch gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen von Behinderung?
18 Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Zweite, unveränderte Auflage. Bielefeld: transcript 2012, S.66; vgl. auch Sagner, Andreas: Behinderung und Kultur, in: Zeitschrift für Ethnologie 126 (2001), S.175-207. 19 Vgl. Ebd.; vgl. auch Davis, Lennard J.: Enforcing Normalcy. Disability, deafness, and the body. London: Verso 1995. 20 Vgl. Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M.: Fischer 1974. 21 Vgl. auch Amelang, Katrin/Beck, Stefan/Anastasiadou-Christophidou, Violetta/ Constantinou, Costas S./Johansson, Anna/Lundin, Susanne: Learning to eat strawberries in a disciplined way. Normalization Practices following organ transplantation, in: Ethnologia Europea. Journal of European Ethnology 41 (2011), S.54-70, hier: S.56.
14 | Alltag mit Prothese
•
Und was bedeutet es für meine Forschungsteilnehmer, nach der Amputation mit Prothese zu leben?
Um diesen Fragen nachgehen zu können, führe ich in meiner Studie als theoretisch-analytischen Überbegriff den Begriff ›technogenes Embodiment‹ ein. Der Begriff ›Embodiment‹ (Verkörperung) stammt aus der kultur- bzw. sozialwissenschaftlichen Medizin- und Körperforschung und bezeichnet zwei Dimensionen menschlicher Existenz, die untrennbar miteinander verbunden und immer auch von den jeweils gegebenen soziokulturellen Rahmenbedingungen geprägt sind: Körperlichkeit einerseits und Leiblichkeit andererseits. Körperlichkeit bezieht sich auf den in der Fremdwahrnehmung gegebenen, sicht- und tastbaren Körper des Menschen in seiner materiellen Dimension, während mit Leiblichkeit der in der Selbstwahrnehmung gegebene Körper, das Spüren des eigenen Körpers, aber auch das leiblich-affektive Betroffensein von etwas oder jemandem gemeint ist.22 Embodiment fungiert in meiner Arbeit in diesem Sinne somit vor allem als theoretisch-analytischer Begriff, um sowohl die körperlichen als auch leiblichen Dimensionen eines Lebens mit Prothese in ihrer wechselseitigen Verschränkung erfassen zu können. Damit verbunden füge ich den Zusatz ›technogen‹ hinzu, da Menschen nach einer Beinamputation vor der Aufgabe stehen, ein medizintechnisches Artefakt in ihren KörperLeib zu integrieren. Ähnlich wie bei der Analyse von Post-Amputations-Alltagen fokussiere ich in diesem Zusammenhang auch bei der Analyse technogenen Embodiments ebenfalls wieder auf spezifische Herstellungspraktiken, zumal es sich bei der körperlich-leiblichen Integration von Prothesen um einen dynamischen Prozess handelt, um ein komplexes Zusammenspiel von Mensch und medizintechnischem Artefakt, bei dem insbesondere der Prozess der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge sowie der orthopädietechnischen Prothesenanpassung eine bedeutende Rolle spielt, wie ich im Verlauf meiner Forschung festgestellt habe und wie ich im Rahmen meiner empirischen Kapitel genauer darstellen werde. Im Zentrum der vorliegenden Studie stehen somit nicht allein die Narrationen meiner Forschungsteilnehmer, sondern ebenso werden verschiedene Praktiken im Hinblick auf die Konstituierung von Post-Amputations-Alltagen und technogenem Embodiment innerhalb und außerhalb (reha-)klinischer bzw. orthopädietechnischer Settings beleuchtet. In theoretischer Hinsicht greife ich damit verbunden auf eine Kombination phänomenologischer sowie praxistheoretischer Konzepte aus den Bereichen der kulturanthropologischen Alltagsforschung, der Medizin- und Körperan-
22 Vgl. Gugutzer, Robert: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld: transcript 2012, S.17/18.
Einleitung | 15
thropologie, der Science and Technology Studies (STS), der Post- und Neophänomenologie sowie der Disability Studies zurück. Dieser Theorie-Mix hat sich im Verlauf meiner empirischen Datenerhebung induktiv als fruchtbares Analyseinstrumentarium im Hinblick auf die Erforschung von Post-AmputationsAlltagen und technogenem Embodiment herauskristallisiert und wurde von mir nicht im Vorhinein an meinen Untersuchungsgegenstand herangetragen. Bevor ich jedoch näher auf den theoretischen Rahmen eingehe, der meiner Arbeit zugrunde liegt und die einzelnen Schritte meiner methodischen Vorgehensweise sowie empirischen Datenerhebung darstelle, soll zunächst ein genauerer Blick auf den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Amputation und Prothetik geworfen werden.
1.2
STAND DER FORSCHUNG
Wie ich bereits kurz angedeutet habe, stellt die gegenwartszentrierte bzw. ethnographische Erforschung des (Alltags-)Lebens von Menschen nach einer Beinamputation und die damit verbundene Frage nach der körperlich-leiblichen Integration von Prothesen innerhalb der internationalen und besonders innerhalb der deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften bislang weitgehend ein Forschungsdesiderat dar. So konnte ich während meiner Recherchen speziell für den deutschsprachigen Raum keine einzige ethnographische Studie ausfindig machen, die sich mit dieser Thematik beschäftigt. Entsprechende Forschungsarbeiten beschränken sich hauptsächlich auf den englischsprachigen Raum. Hervorzuheben ist hierbei vor allem die 2003 publizierte Dissertation des selbst beinamputierten US-Kulturanthropologen Steven L. Kurzman.23 Dieser geht am Beispiel von Beinprothesenträgern in den USA der Frage nach, wie sich das Zusammenspiel zwischen Körper, Medizintechnik und (Nicht-)Behinderung gestaltet und wie sich das Tragen von Prothesen damit verbunden auf die Identitätsbil-
23 Kurzman, Steven L.: Performing able-bodiedness: Amputees and prosthetics in America. University of California, Santa Cruz 2003; vgl. auch Kurzman, Steven L.: »Thereʼs No Language for This«. Communication and Alignment in Contemporary Prosthetics, in: Ott, K./Serlin, D./Mihm, S. (Hg.): Artificial Parts, Practical Lives. Modern Histories of Prosthetics. New York: New York University Press 2002, S.227249; Kurzman, Steven L.: Presence and Prosthesis: A Response to Nelson and Wright, in: Cultural Anthropology 16 (2001), S.374-387; Kurzman, Steven L.: Cultural Attitudes Toward Prostheses: An Anthropological Approach, in: Capabilities. Communicating the Science of Prosthetics and Orthotics 6 (1997), S.3-5.
16 | Alltag mit Prothese
dung der betreffenden Individuen auswirkt. Kurzman kritisiert in diesem Zusammenhang insbesondere die metaphorische Aufladung des Prothesenbegriffs im Kontext der eingangs erwähnten Debatten um Human Enhancement und die damit einhergehende Vorstellung von der zunehmenden Cyborgisierung von Prothesenträgern, während diejenigen Personen, die tagtäglich mit dem medizintechnischen Artefakt leben (müssen), selbst kaum zu Wort kommen. Er argumentiert demgegenüber, dass die Bedeutung von Prothesen nie losgelöst von deren jeweiligen sozialen Gebrauchskontext bzw. des Lebensumfeldes der betreffenden Personen betrachtet werden könne, weshalb er sowohl in autoethnographischer Perspektive als auch mittels qualitativer Interviews und Feldforschungen die subjektiven Sinn- und Erfahrungswelten von US-Beinprothesenträgern zu erfassen sucht. Bei seiner Analyse greift Kurzman vor allem auf Konzepte der Disability Studies zurück, bei welchen es sich um eine interdisziplinär ausgerichtete Forschungsdisziplin handelt, die sich seit den 1970er Jahren aus den international aufblühenden Behindertenrechtsbewegungen entwickelt hat und deren Vertreter Behinderung bzw. behinderte Körper weniger in einem medizinischen Verständnis als allein biologisch bedingte Tatsachen verstehen, sondern vielmehr als soziokulturelle Kategorien konzipieren, die in Diskursen und Praktiken erst als solche hervorgebracht werden und somit historischen Wandlungsprozessen unterliegen (siehe hierzu auch Kapitel 2.1).24 Dabei kommt Kurzman zu dem Schluss, dass sich die meisten von ihm interviewten Prothesenträger selbst explizit als not disabled und als abled with an impairment identifizieren, wobei die betreffenden Individuen durch den Gebrauch von Prothesen able-bodiedness performen und sich gleichzeitig von der Zuschreibung zur Kategorie Behinderung distanzieren.25 2014 ist darüber hinaus die Dissertation der US-Soziologin Cynthia E. Schairer als Online-Publikation unter dem Titel »Prosthetic Promises: How Bodies, Technologies, and Selves Contribute to Amputee Identity« erschienen, in der sie sich ähnlich wie Kurzman mit US-Beinprothesenträgern und deren Identitätsbildungsprozessen auseinandersetzt.26 Ansonsten wurde das Thema Amputation
24 Vgl. Hermes, Gisela/Rohrmann, Eckhard (Hg.): Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm: AG-SPAK Bücher 2006. 25 Vgl. S. Kurzman: Performing able-bodiedness. 26 Schairer, Cynthia E.: Prosthetic Promises: How Bodies, Technologies, and Selves Contribute to Amputee Identity. Dissertation an der University of California, San Diego 2014. Online-Publikation, https://escholarship.org/content/qt6285s9kj/qt6285s9kj. pdf (Stand: 05.03.15).
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und Prothetik im englischsprachigen Raum aus gegenwartszentrierter bzw. ethnographischer Perspektive bisher lediglich im Rahmen von Aufsätzen genauer analysiert. Zu nennen sind hier vor allem die Studien des britischen Psychologen Craig D. Murray27, des US-Soziologen und Medizinanthropologen Seth D. Messinger28, der britischen Sozialanthropologin Emily Heavey29, der US-amerikanischen Sozialanthropologin Cassandra Crawford30 sowie der beiden australischen Sozial- bzw. Kulturanthropologinnen Lenore Manderson und Narelle Warren.31 Während Messinger in seinen Studien aus medizinanthropologischer Sicht in erster Linie untersucht, wie sich der Rehabilitationsprozess von US-Kriegsver-
27 Murray, Craig D.: »Donʼt you talk to your prosthetist?« – Communicational problems in the prescription of artificial limbs, in: Disability and Rehabilitation 35 (2013), S.513-521; Murray, Craig D.: Being like everybody else: The personal meanings of being a prosthesis user, in: Disability and Rehabilitation 31 (2009), S.573-581; Murray, Craig D.: Embodiment and Prosthetics, in: Gallagher, P./Desmond, D./Maclachlan, M. (Hg.): Psychoprosthetics. London: Springer 2008, S.119-131; Murray, Craig D.: The social meanings of prosthesis use, in: Journal of Health Psychology 10 (2005), S.426-441; Murray, Craig D.: An interpretative phenomenological analysis of the embodiment of artificial limbs, in: Disability and Rehabilitation 26 (2004), S.963973. 28 Messinger, Seth D.: Getting Past the Accident: Explosive Devices, Limb Loss, and Refashioning a Life in a Military Medical Center, in: Medical Anthropology Quarterly. International Journal for the Analysis of Health 24 (2010), S.281-303; Messinger, Seth D.: Incorporating the prosthetic: Traumatic, limb-loss, rehabilitation and refigured military bodies, in: Disability and Rehabilitation 31 (2009), S.2130-2134; Messinger, Seth D.: Anthropology and Its Individual, Social, and Cultural Contributions to Psychoprosthetics, in: Gallagher, P./Desmond, D./Maclachlan, M. (Hg.): Psychoprosthetics. London: Springer 2008, S.107-119. 29 Heavey, Emily: Narrative Bodies, Embodied Narratives, in: De Fina, Anna/ Georgakopoulou, Alexandra (Hg.): The Handbook of Narrative Analysis. Chichester: Wiley Blackwell 2015, S.429-447. 30 Crawford, Cassandra S.: Body Image, Prostheses, Phantom Limbs, in: Body & Society 21 (2015), S.221-244. 31 Manderson, Lenore/Warren, Narelle: The Art of (Re)Learning to Walk: Trust on the Rehabilitation Ward, in: Qualitative Health Research 20 (2010), S.1418-1432; Manderson, Lenore/Warren, Narelle: Constructing Hope. Dis/continuity and the Narrative Construction of Recovery in the Rehabilitation Unit, in: Journal of Contemporary Ethnography 37 (2008), S.180-201.
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sehrten des Irak- und Afghanistan-Krieges im Walter Reed National Military Medical Center gestaltet, geht Murray in seinen Arbeiten vor allem aus psychologischer und phänomenologischer Perspektive der Frage nach, wie sich soziokulturelle Faktoren, beispielsweise vorherrschende Bilder von Behinderung oder Gender-Stereotype, auf die körperlich-leibliche Wahrnehmung bzw. das Embodiment von Arm- und Beinprothesenträgern in Großbritannien auswirken. Damit verbunden analysiert Murray zudem die persönlichen und sozialen Bedeutungen, die mit dem Gebrauch von Prothesen verbunden sind. Anhand von Interviews mit verschiedenen Prothesenträgern geht es Murray darum herauszufinden, inwiefern das medizintechnische Artefakt die embodied experience der betreffenden Individuen beeinflusst und welche persönlichen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Prothesenträger ihre Prothese nicht nur als Fremdkörper, sondern wie ein eigenes Körperteil empfinden können bzw. inwiefern dies überhaupt möglich ist.32 Er kommt zu dem Schluss, dass besonders soziokulturell vorherrschende Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit einen wesentlichen Einfluss auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen sowie die verkörperte Erfahrung und Identitätsbildung von Prothesenträgern haben, wobei vor allem auch mediale Darstellungen von Prothesenträgern wie beispielsweise in den Werbeanzeigen der Prothesenbauindustrie nach Murray Auskunft darüber geben, »[…] how the meaning of prosthetic embodiment is socially and culturally constituted.«33 In diesem Zusammenhang betont er die Wichtigkeit, bei der Frage nach dem Embodiment von Prothesenträgern die persönlichen, sozialen wie kulturellen Bedeutungen, die mit dem Gebrauch von Prothesen verbunden sind, stets in ihren Wechselwirkungen zu untersuchen, zumal in Prothesen als medizintechnische Artefakte immer auch bestimmte soziokulturelle Vorstellungen vom menschlichen Körper, von (Nicht-)Behinderung oder auch Alter, Geschlecht etc. eingeschrieben sind.34 Prothesen können im Sinne der US-amerikanischen Sozialanthropologin Emily Cohen somit letztlich auch verstanden werden als »[…] manufactured products that are aligned in such a way that they reflect how people create social order, how they imagine their worlds. Prostheses provide a window into understanding how cultural objects become incorporated into the body and the self and ulti-
32 Vgl. C. Murray: Embodiment and Prosthetics, S.119. 33 Ebd., S.125. 34 Ebd.
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mately how they transform how people understand the body as a political, social, and personal entity.«35
Die britische Sozialanthropologin Emiliy Heavey setzt sich in einem Aufsatz darüber hinaus mit den Narrationen von Menschen mit Beinamputation bzw. Beinprothesenträgern in Großbritannien auseinander.36 Sie geht dabei vor allem der Frage nach, wie die betreffenden Individuen ihren durch die Amputation veränderten und mittels Prothesen ›technisierten‹ Körper in ihren Erzählungen mit Bedeutung aufladen und diesen dadurch letztlich erst diskursiv konstruieren. In ähnlicher Weise beschäftigt sich Cassandra Crawford in einem Aufsatz mit den Narrationen von US-Bein- bzw. Armprothesenträgern und untersucht, wie ihre Forschungsteilnehmer mit ihrem veränderten Körperbild umgehen.37 In ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation setzt sich Crawford zudem ausführlicher mit den Phänomenen Phantomglied sowie Phantomschmerz auseinander, wobei sie der Frage nachgeht, wie sich insbesondere das medizinische Verständnis darüber zwischen dem späten 19. und dem 21. Jahrhundert im Zusammenhang mit Fortschritten innerhalb der Prothesenbauindustrie, der Psychologie und Neurowissenschaften verändert hat. Ihr empirisches Datenmaterial setzt sich aus historischer sowie zeitgenössischer psychologischer und medizinischer Literatur zu dieser Thematik einerseits und Interviews mit führenden Wissenschaftlern und Klinikern auf diesem Gebiet andererseits zusammen. 38 Die beiden australischen Wissenschaftlerinnen Lenore Manderson und Narrelle Warren schließlich haben sich im Rahmen von zwei Aufsätzen genauer mit der stationären Amputationsnachsorge in einer australischen Rehaklinik für Menschen mit Beinamputation bzw. Beinprothesenträger auseinandergesetzt und auch die israelische Sozialanthropologin Michal Hoffman beschäftigt sich in einem Aufsatz aus ethnographischer Perspektive mit dem Rehabilitationsprozess von Beinprothesenträgern in einer israelischen Rehaklinik.39 Speziell im Hin-
35 Cohen, Emily: From Phantoms to Prostheses, in: Disability Studies Quarterly 32 (2012), ohne Paginierung, http://dsq-sds.org/article/view/3269/3103 (Stand: 20.12. 15); vgl. auch Murray, Embodiment and Prosthetics, S.121/127. 36 Vgl. E. Heavey: Narrative Bodies. 37 Vgl. C. Crawford: Body Image. 38 Crawford, Cassandra S.: Phantom Limb. Amputation, Embodiment, and Prosthetic Technology. New York: New York University Press 2014. 39 Vgl. Manderson/Warren, (Re)Learning to Walk; Manderson/Warren, Constructing Hope; Hoffman, Michal: Bodies completed: On the physical rehabilitation of lower limb amputees, in: Health. An interdisciplinary Journal for the Social Study of Health,
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blick auf die Erforschung der körperlich-leiblichen Integration medizintechnischer Artefakte im Sinne technogenen Embodiments muss darüber hinaus die 2014 publizierte Dissertation der französisch-niederländischen Technikphilosophin Lucie Dalibert40 erwähnt werden. Dalibert untersucht am Beispiel von Menschen mit implantierten Rückenmarksstimulatoren, wie die komplexen Beziehungen zwischen den betreffenden Personen und ihren medizintechnischen Artefakten in practice, also in konkreten Praktiken, hervorgebracht werden und wie sich damit verbunden die körperlich-leibliche Integration von Rückenmarksstimulatoren gestaltet. Daliberts Studie ist vor allem deshalb interessant, weil sie ergänzend ̶ wenngleich nur am Rande ̶ auch auf Menschen mit Arm- und Beinprothesen eingeht. Ihre Studie bietet daher gute Anknüpfungspunkte für die von mir verfolgte Fragestellung nach der praktischen Konstituierung von Mensch-Medizintechnik-Beziehungen im Falle von Beinprothesenträgern in Deutschland, zumal ich Lucie Dalibert auf der internationalen Konferenz »Critical Issues in Science, Technology and Society Studies« im Mai 2015 in Graz auch persönlich kennengelernt habe und wir uns dort über unsere jeweiligen Forschungsprojekte austauschen konnten, wobei wir gerade im Hinblick auf die Frage nach der körperlich-leiblichen Integration medizintechnischer Artefakte ähnliche Beobachtungen gemacht haben.41 Für den französischsprachigen Raum konnte ich im Rahmen meiner Recherchen ansonsten lediglich noch die Sozialund Kulturanthropologin Valentine Gourinat ausfindig machen, die sich derzeit an der Universität von Straßburg in ihrem Dissertationsprojekt aus gegenwartszentrierter Perspektive mit dem Thema »Du corps reconstitué au corps reconfiguré: perceptions et représentations croisées de la prothèse et du corps appareillé à l’ère des biotechnologies« beschäftigt, wobei erste Ergebnisse im Rahmen ein-
Illness and Medicine 17 (2012), S.229-245; vgl. auch Hoffman, Michal: My ›StepLeg‹: Body Narratives of Lower Limb Amputees, in: Phellas, Constantinos N. (Hg.): Sociological Perspectives of Health and Illness. Newcastle: Cambridge Scholars 2010, S.176-193. 40 Dalibert, Lucie: Posthumanism and Somatechnologies. Exploring the Intimate Relations between Humans and Technologies. Dissertation an der Universität Twente 2014. Online-Publikation, http://doc.utwente.nl/90647/1/thesis_L_Dalibert.pdf (Stand: 07.10.15). 41 Lucie Dalibert und ich haben im Rahmen des Panels »Intimate Technologies: Embodying Artefacts, Remaking Bodies, Enacting Norms« beide einen Vortrag zu unserem jeweiligen Forschungsprojekt gehalten.
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zelner Aufsätze veröffentlicht wurden.42 In den Niederlanden haben zudem die beiden Sozial- und Kulturanthropologinnen Maartje Hoogsteyns und Hilje van der Horst verschiedene Aufsätze zu empirischen Forschungen mit Armprothesenträgern publiziert, in denen sie vor allem der Frage nachgehen, welche Rolle das Thema Behinderung im Leben ihrer Forschungsteilnehmer spielt.43 Für den italienisch- und spanischsprachigen Raum konnte ich dagegen keine einschlägigen Publikationen ausfindig machen, die sich ausführlich bzw. gegenwartszentriert mit dem Thema Amputation und Prothetik auseinandersetzen und auch innerhalb der deutschsprachigen Kultur- und Sozialwissenschaften existiert meines Wissens bislang keine einzige ethnographische Studie, die PostAmputations-Alltage und technogenes Embodiment von Prothesenträgern zum zentralen Forschungsgegenstand macht. Zwar mehren sich hierzulande seit einiger Zeit Projekte aus dem Bereich der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich dem Thema Amputation und Prothetik widmen, der Fokus liegt hierbei jedoch einerseits vor allem auf der Debatte um Human Enhancement im Zusammenhang mit moderner Prothetik sowie andererseits auf der (kultur-)historischen Analyse des Umgangs mit und Einsatzes von Prothesen und damit verbundenen Körpervorstellungen, wobei der Schwerpunkt bei Letzteren meist auf der Zeit der beiden Weltkriege und der prothetischen Versorgung von Kriegsversehrten liegt. So beschäftigen sich unter anderem die Hamburger Volkskundlerin Sabine Kienitz44 in ihrer 2008 publizierten Habilitationsschrift und die österreichische Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser45 in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 2009 bzw. 2013 sowie in ihrer 2016
42 Zu nennen sind hier vor allem Gourinat, Valentine: Déstructuration et restructuration identitaire du corps prothéthique, in: Sociétés 125 (2014), S.127-135; Gourinat, Valentine: Fantasme de lʼHomme Prothéthique et réalités de lʼhomme appareillé, in: Cultures et Sociétés 24 (2012), S.91-95. 43 Hoogsteyns, Maartje/Van der Horst, Hilje: Disability, family and technical aids: a study of how disabling/enabling experiences come about in hybrid family relations, in: Disability & Society 29 (2014), S.821-833; Hoogsteyns, Maartje/Van der Horst, Hilje: Wearing the arm (or not): Reconceptualising notions of in- and exclusion in Disability Studies, in: Scandinavian Journal of Disability Research 15 (2013), S.5869. 44 Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923. Paderborn/München: Schöningh 2008; vgl. auch S. Kienitz: Prothesen-Körper. 45 Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne. Berlin: Vorwerk 2016; Harrasser, Karin: Sensible Prothesen. Medien der Wiederherstellung von Produktivität, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 1 (2013), S.99-117; Harrasser,
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veröffentlichten Habilitationsschrift jeweils mit der Prothesen-Versorgung von deutschen Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges. Sowohl Kienitz als auch Harrasser sehen in den ›beschädigten‹ Körpern der (männlichen) Kriegsinvaliden öffentlich sichtbare Symbole, die von der militärischen Niederlage des deutschen Kaiserreiches zeugten, zugleich standen die mittels Prothesen technisch aufgerüsteten Körper der Kriegsversehrten aber auch für die nationale Idee, dank deutscher Ingenieurskunst die Kriegsfolgen medizinisch-technisch überwinden zu können. In diesem Zusammenhang wurden von der staatlich organisierten sogenannten ›Kriegskrüppelfürsorge‹ daher auch gerne zu werbestrategischen Maßnahmen Vorher-Nachher-Fotografien von kriegsversehrten bzw. prothesetragenden Soldaten eingesetzt, die von den Erfolgen und den ›normalisierenden‹ Effekten des Prothesenbaus zeugen sollten. Karin Harrasser bezeichnet die Prothesenforschung nach dem Ersten Weltkrieg in diesem Zusammenhang auch als »[…] Versuch einer technik- und gesundheitspolitischen Antwort auf die Verheerungen, die der Krieg an den Körpern von Männern veranstaltet hatte.«46 Damit verbunden war bereits zu jener Zeit die Idee von der technischen Optimierung bzw. Leistungssteigerung des menschlichen Körpers durch Prothesen verbreitet, wie die Medizinhistorikerin Miriam Eilers in einem Aufsatz mit dem Titel »›Fünfundzwanzigstündiger Arbeitstag – denn ʼne Prothese wird nie müde‹. Normative und selektive Implikationen der Prothetik nach dem Ersten Weltkrieg« darlegt.47 So wurden beispielsweise Kriegsversehrte, die im Gefecht einen Arm verloren hatten, für ihr häusliches Umfeld einerseits mit kosmetischhautfarben verkleideten, sogenannten ›Sonntagsarmen‹ ausgestattet, was ihnen Unauffälligkeit im Alltag bzw. das soziale Pasing gewährleisten sollte, anderer-
Karin: Passung durch Rückkopplung. Konzepte der Selbstregulierung in der Prothetik des Ersten Weltkrieges, in: Fischer, Stefan/Maehle, Erik/Reischuk, Rüdiger (Hg.): Informatik 2009 – Im Fokus das Leben. Bonn: Gesellschaft für Informatik 2009, S.788801. 46 Harrasser, Karin: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld: transcript 2013, S.88. 47 Vgl. Eilers, Miriam: »Fünfundzwanzigstündiger Arbeitstag – denn ʼne Prothese wird nie müde«. Normative und selektive Implikationen der Prothetik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Eilers, Miriam/Grüber, Katrin/Rehmann-Sutter, Christoph (Hg.): Verbesserte Körper – gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies. Frankfurt a. M.: Lang 2012, S.165-181; vgl. auch Perry, Heather R.: Brave Old World. Recycling der Kriegskrüppel während des Ersten Weltkrieges, in: Orland, Barbara (Hg.): Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive. Zürich: Chronos Verlag 2005, S.147-159.
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seits wurden sie mit auf ihren jeweiligen Berufskontext passenden ›Arbeitshänden‹ versorgt, die weniger das biologische Original nachbildeten, sondern vielmehr als spezifische Werkzeuge gestaltet waren, die einen direkten Anschluss an Industriemaschinen ermöglichen sollten.48 Ziel war die Passung zwischen Kriegsversehrtem und Prothese, zwischen Prothese und Werkzeug sowie zwischen Werkzeug und Arbeitsvorgang. 49 Menschlicher Körper und artifizielle Maschine sollten auf diese Weise einen funktionalen Zusammenhang bilden, wobei es möglich war, die mit Prothesen ausgestatteten Kriegsversehrten in der Fremdwahrnehmung durchaus als dem ›biologischen‹ Körper überlegen zu betrachten.50 Dieser Entwicklung lag ein grundsätzliches Verständnis vom menschlichen Körper zugrunde, das diesen als mechanisch, parzelliert und somit aus austauschbaren Ersatzteilen bestehend konzipiert, wobei die einzelnen Teile gewissermaßen beliebig nach dem Baukastenprinzip zerlegt, wieder zusammengesetzt und entsprechend problemlos mit verschiedenen Maschinen verschaltet werden konnten.51 Es erscheint in diesem Zusammenhang somit auch nicht verwunderlich, dass sich der Prothesenbau im frühen 20. Jahrhundert in Europa von der reinen Handwerkstätigkeit zur industriellen (Massen-)Produktion transformierte, wobei mit der Gründung des deutschen Medizintechnikunternehmens Ottobock im Jahr 1919 einer der heutigen Global Player im Bereich Prothetik entstanden war.52 Damit verbunden waren zudem die Entwicklung neuer, muskelkrafterhaltender Amputationstechniken sowie die Etablierung der Rehabilitationswissenschaften als eigenständigem Wissenschaftszweig. 53 Wie Sabine Kienitz in ihrer Studie allerdings betont, dürfen die ›prothetisierten‹ Körper der kriegsversehrten Soldaten des Ersten Weltkrieges nicht ausschließlich als Objekt einer rekonstruierenden und zurichtenden Praxis von oben angesehen werden,
48 Vgl. M. Eilers: Prothetik nach dem Ersten Weltkrieg. 49 Vgl. K. Harrasser: Sensible Prothesen, S.104. 50 Vgl. Westermann, Bianca: Prothese oder Cyborg? Zur kulturellen Aktualität des Verhältnisses von Technik und Körper, in: Vokus. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften 20 (2010), S.31-51, hier: S.45/46; vgl. auch Horn, Eva: Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus, in: Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: transcript 2001, S.193-210. 51 Vgl. K. Harrasser: Sensible Prothesen, S.104; K. Harrasser: Passung durch Rückkopplung, S.792; K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.14. 52 Vgl. Grunau, Ursula/Hauff, Maria/Milde, Lothar (Hg.): Otto Bock – Ein Leben. Duderstadt: Näder 2013. 53 Vgl. K. Harrasser: Passung durch Rückkopplung, S.790.
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sondern vielmehr setzten die Kriegsversehrten selbst ihre ›beschädigten‹ Körper ebenfalls strategisch ein, um beispielsweise Sozialleistungen oder symbolische Anerkennung zu erstreiten.54 Dennoch verweisen die Entwicklungen zur Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg auf die enge Verbindung zwischen (modernem) Prothesenbau und Militär, die bis heute besteht, zumal nach wie vor große Teile der Prothesenforschung durch das Militär finanziert werden, besonders in den USA, da dort die Anzahl an Kriegsversehrten aufgrund des Afghanistan- und Irak-Krieges weiterhin hoch ist.55 In Deutschland bestand das übergreifende Ziel von Medizin, Rehabilitationswissenschaften und Prothesenbauindustrie auch nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der physischen bzw. technischen Rekonstruktion der ›versehrten‹ Soldatenkörper und deren Re-Integration in den Arbeitsmarkt, wobei Utopien und Optimierungsdiskurse wie noch zur Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg nun weitgehend fehlten, was nach Ansicht der Historikerin Elsbeth Bösl vor allem im Zusammenhang mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus und seiner Zerstörungsgewalt zu sehen ist.56 Bösl befasst sich in ihrer 2009 veröffentlichten Dissertation eingehend mit der Geschichte der Behindertenpolitik in Deutschland nach 1945, wobei sie in einem Kapitel auch genauer auf das Thema Prothetik eingeht. Nach Bösl herrschte in der deutschen Politik, Verwaltung, Medizin und Sozialbürokratie der 1950er bis 70er Jahre vor allem die Auffassung vor, dass die als erwerbsbehindert klassifizierten Körper der Kriegsversehrten der medizinisch-technischen Rekonstruktion bedurften, um überhaupt für berufliche Rehabilitationsmaßnahmen in Frage zu kommen, wobei damit verbunden die Prothesentechnik auch zum Symbol der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates unter demokratischen Vorzeichen geriet.57 Vor allem das für die Prothetik in der Rehabilitation zuständige Bundesarbeitsministerium vergab nach
54 Vgl. S. Kienitz: Beschädigte Helden; Harrasser, Karin: Rezension zu Sabine Kienitz Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923. Paderborn: Schöningh 2008, in: sehepunkte vom 15.02.2011, http://www.sehepunkte.de/2011/02/ 18124.html (Stand: 07.09.15). 55 Vgl. K. Harrasser: Körper 2.0, S.28. 56 Vgl. Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript 2009, S.296; vgl. auch Bösl, Elsbeth: »An unbroken man despite losing an arm«: corporeal reconsctruction and embodied difference – prosthetics in Western Germany after the Second World War (c. 1945-1960), in: Mcsorley, Kevin (Hg.): War and the Body, Militarisation, practice and experience. London: Routledge 2013, S.167-181. 57 Vgl. E. Bösl: Politiken der Normalisierung, S.296-298.
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Bösl im Rahmen der Kriegsopferversorgung daher auch laufend neue Forschungsprojekte, weshalb prothetische Erfindungen der vergangenen Jahrzehnte erfolgreich verbreitert und in ihrer Wirksamkeit verbessert werden konnten.58 Allerdings war der Prothesenbau in diesem Zusammenhang bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie auf (junge) männliche Körper ausgerichtet, während über die Prothesenversorgung von Menschen mit amputierten bzw. fehlenden Gliedmaßen aus der Zivilbevölkerung und besonders von Frauen und Kindern kaum etwas bekannt ist. Ich konnte im Rahmen meiner Recherchen diesbezüglich keine nennenswerten Arbeiten ausfindig machen.59 2013 wurde jedoch das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Programm »Die Sprache der Objekte – Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen« geförderte Verbundprojekt »Anthropofakte – Schnittstelle Mensch« der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Hygienemuseums Dresden gestartet, dessen Mitglieder sich aus historischer sowie technikphilosophischer Perspektive mit dem Thema Prothetik befassen, wobei der Schwerpunkt vor allem auf dem 20. und 21. Jahrhundert liegt.60 Anhand eines im Hygienemuseum untergebrachten (historischen) Bestandes an Prothesen untersuchen die Mitglieder des Forschungsprojektes in erster Linie die Frage, wie sich gesellschaftlicher und kultureller Wandel sowie spezifische Körperbilder in konkreten Objekten, die den Übergang Körper – Ding markieren, deren technischer Innovation und in der Interaktion mit diesen ausdrückt.61 In diesem Zusammenhang wurden im Rahmen des Projektes verschiedene interdisziplinäre Tagungen und Workshops veranstaltet, unter anderem zu den Themen »Die Mobilisierung des Körpers. Prothetik seit dem Ersten Weltkrieg« (März 2014), »Superabled. Technisches Enhancement durch Prothetik« (Juni 2014) oder »Just Do It! Leistung
58 Ebd., S.299. 59 Eine Ausnahme bildet der Historiker Mathis Nolte, den ich auf einer von mir besuchten Tagung kennengelernt habe und der sich in seinem im Februar 2016 begonnenen Dissertationsprojekt an der Bergischen Universität Wuppertal aus kultur- und technikhistorischer Perspektive mit dem Thema »Technikgenese, Technikaneignung und Geschlecht. Untersuchung zum Verhältnis von Prothetik und Weiblichkeit vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart« beschäftigt. Siehe hierzu die Homepage der Bergischen Universität Wuppertal, http://www.geschichte.uni-wuppertal.de/personen/ wissen-schafts-und-technikgeschichte/mathis-nolte-ma/forschung.html (Stand: 09.09. 16). 60 Vgl. Homepage Verbundprojekt »Anthropofakte – Schnittstelle Mensch«, http:// www.anthropofakte.de/ (Stand: 31.08.15). 61 Ebd.
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durch Prothetik« (März 2015), wobei die beiden Erstgenannten von mir im Rahmen meiner Forschungen besucht wurden und ich darüber hinaus die Möglichkeit hatte, mein eigenes Forschungsvorhaben den Mitgliedern des Verbundprojektes vorzustellen und mit diesen zu diskutieren.62 Daneben haben sich in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum aber auch vereinzelt Ausstellungen mit der historischen Dimension von Prothesen und Prothesengebrauch beschäftigt. So widmete 2014 das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt einer einzelnen Armprothese eine Sonderausstellung mit dem Titel »Die Hand des Hutmachers«63, 2004 gab es im Deutschen Museum in München eine Sonderausstellung zum Thema »Leben mit Ersatzteilen«64 und 2003 initiierte das Westfälische Museumsamt zusammen mit dem Landschaftsverband WestfalenLippe die Wanderausstellung »Prothesen von Kopf bis Fuß«.65 Mit dem aktuellen Diskurs um Human Enhancement im Zusammenhang mit Prothetik hat sich ebenfalls Karin Harrasser beschäftigt. In ihrer 2013 publizierten Monographie »Körper 2.0 – Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen« erörtert sie kritisch die Frage, ob menschliche Körper durch die Entwicklungen innerhalb der modernen Medizin- und Biotechnologien des 21. Jahrhunderts tatsächlich zunehmend machbar werden und der Mensch ein Update erfährt, wie es unter anderem der MIT-Forscher und Prothetiker Hugh Herr immer wieder postuliert.66 Die Diskussionen um moderne High-Tech-Prothesen oder auch körpernahe Medien wie die datenverarbeitende Google-Brille verweisen nach Harrasser dabei auf einen Wandel der Ideen von Körperlichkeit, indem verbessernde Eingriffe in und um den menschlichen Körper nicht mehr länger
62 Im September 2014 wurde ich von den Mitgliedern des Verbundprojektes für einen Vortrag zu meinem Forschungsprojekt an die Technische Universität Berlin eingeladen. Mein Vortrag trug den Titel »Prosthetic Bodies – Dis/Abled Lives? Kulturwissenschaftliche Aspekte zum Alltag von Prothesenträgern in Deutschland«. 63 Vgl. Ruisinger, Marion (Hg.): Die Hand des Hutmachers. Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt vom 27. Februar bis 15. Juni 2014. Ingolstadt 2014. 64 Vgl. Gerber-Hirt, Sabine/Rathjen, Walter (Hg.): Leben mit Ersatzteilen. Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung im Deutschen Museum München, Zentrum Neue Technologien, vom 09. Mai 2004 bis 30. Juni 2005. München: Deutsches Museum 2004. 65 Vgl. V. Burhenne: Prothesen von Kopf bis Fuß. 66 Vgl. K. Harrasser: Körper 2.0; vgl. auch Strickland, Eliza: We will end Disability by becoming Cyborgs, in: IEE Spectrum vom 27.05.2014, http://spectrum.ieee.org/ biomedical/bionics/we-will-end-disability-by-becoming-cyborgs (Stand: 25.08.15).
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als notwendige Kompensation (vermeintlicher) ›Defizite‹, sondern vielmehr als wünschenswerte Steigerung und Optimierung begriffen werden, wobei speziell die Ideen der Effizienz- und Leistungssteigerung ̶ wie beschrieben ̶ schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges mit der Prothetik verbunden waren. Die gegenwärtigen technischen Körperbearbeitungen versteht Harrasser jedoch als Ausdruck einer neoliberalen Techno-Biopolitik, die nicht nur den Bereich der Prothetik umfasst, sondern auch Felder wie Schönheitschirurgie, Fitnesscentermitgliedschaften oder reproduktionsmedizinische Interventionen und auf einer neokapitalistischen Logik der Selbstoptimierung beruht, die menschliche Körper von Grund auf als prinzipiell ›mangelhaft‹ und daher verbesserungswürdig begreift.67 Bereits 2005 hat sich zudem der Soziologe Werner Schneider angesichts der verbreiteten Enhancement-Debatten in einem Aufsatz aus diskurstheoretischer Perspektive mit dem ›Prothesen-Körper‹ als gesellschaftlichem Grenzproblem auseinandergesetzt.68 Er stellt im Hinblick auf die öffentlichen Diskussionen über das Verhältnis von Mensch und (Medizin-)Technik die These auf, dass dem aktuellen Diskurs zufolge das kulturelle Konzept der modernen Prothese als technischem Ersatzstück für fehlende Körperteile verschwinden wird. Das medizintechnische Artefakt transformiere sich vielmehr zum postmodernen Konzept eines hybriden Technofakts, in welchem sich die herkömmlichen grenzziehenden Unterscheidungen zwischen menschlich/nicht-menschlich, lebendig/nichtlebendig etc. verflüssigen. Die Folge sei schließlich – so der Grundtenor des öffentlichen Diskurses –, dass die fortschreitend technisierten, postmodernen euroamerikanischen Gesellschaften zunehmend mit Grenzfällen des Menschlichen konfrontiert werden.69 In ähnlicher Weise mit dieser Thematik befasst sich darüber hinaus der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Dierk Spreen in seinem 2015 veröffentlichten Werk »Upgradekultur – Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft«.70 Spreen macht ebenfalls deutlich, dass sich in letzter Zeit eine (vermeintlich) immer weiter fortschreitende technologische Durchdringung des menschlichen Körpers beobachten lässt, die seiner Meinung nach als Symptom eines tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Wandels hin zu einer ›Upgradekultur‹ begriffen werden könne, bei der vor allem ein
67 Vgl. K. Harrasser: Körper 2.0, S.12/22. 68 Vgl. Schneider, Werner: Der Prothesen-Körper als gesellschaftliches Grenzproblem, in: Schroer, M. (Hg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S.371-389. 69 Ebd., S.373. 70 Vgl. Spreen, Dierk: Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft. Bielefeld: transcript 2015.
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Optimierungsdispositiv im Vordergrund stehe, das auf eine zunehmende technische Reproduzierbarkeit bzw. Verbesserung des menschlichen Körpers abziele. 71 Auch die Schweizer Technikhistorikerin Barbara Orland betont in diesem Zusammenhang, dass im Kontext der aktuellen Debatten um Human Enhancement vor allem die Figur des Cyborg als Hybridwesen aus Mensch und Maschine in genealogischer Perspektive als unausweichliche Konsequenz und Weiterentwicklung des Menschen dargestellt werde, die vor allem dank neuester Fortschritte im Bereich Prothetik als realisierbar erscheint.72 Sie kritisiert dabei, dass Begriffe wie Cyborg, Hybridwesen oder eben Prothese im Rahmen der kontrovers geführten Debatten meist nicht mehr präzisiert und differenziert betrachtet werden.73 An diese Kritik knüpft auch die deutsche Medien- und Kulturwissenschaftlerin Bianca Westermann in ihrem Aufsatz »Prothese oder Cyborg? Zur kulturellen Aktualität des Verhältnisses von Körper und Technik« an.74 Nach Westermann stehen mit der Prothese und dem Cyborg gegenwärtig zwei Figurationen zur Diskussion, die kulturell an den Grenzen zwischen Körper- und Maschinen-Konzepten platziert sind, wobei eben vor allem hochentwickelte Prothesentechnologien wie beispielsweise mikroprozessorgesteuerte Beinprothesen oder myoelektrische Armprothesen die Idee erwecken, die Utopien des CyborgKonzepts in naher Zukunft real werden zu lassen.75 Westermann plädiert jedoch ähnlich wie Orland dafür, die Begriffe Prothese und Cyborg differenzierter zu betrachten. Der Begriff Cyborg wurde ursprünglich bereits in den 1960er Jahren von dem US-Psychologen Nathan S. Kline und seinem Kollegen Manfred E. Clynes im Kontext der Erkundung des Weltraums hervorgebracht. Die beiden Wissenschaftler verfolgten das Ziel, durch artifizielle Erweiterungen des menschlichen Körpers diesen auf potentielle Gefahren und Umweltbedingungen fremder Planeten vorzubereiten.76 Dabei reichte das Ideenspektrum nach West-
71 Ebd., S.7-14. 72 Vgl. Orland, Barbara: Wo hören Körper auf und fängt Technik an? Historische Anmerkungen zu posthumanistischen Problemen, in: Dies. (Hg.): Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive. Zürich: Chronos Verlag 2005, S.9-43, hier: S.9. 73 Ebd., S.11. 74 Vgl. B. Westermann: Prothese oder Cyborg; siehe auch Westermann, Bianca: Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert. München: Fink 2012. 75 Vgl. B. Westermann: Prothese oder Cyborg, S.31/32. 76 Ebd., S.37/38; vgl. auch Clynes, Manfred E./Kline, Nathan S.: Cyborgs and space, in: Astronautics, September (1960), S.26-27 und S.74-76.
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ermann von medikamentösem Strahlenschutz, über die chemische Regulierung der Stimmung des Raumfahrers durch Psychopharmaka bis zum Verzicht auf die Lungenatmung, wobei das entscheidende Merkmal dieser Zukunftsvisionen die vollständige Integration der zur Anpassung notwendigen Technik in die unbewussten Regelkreisläufe des menschlichen Körpers war. 77 Die Idee des Cyborg als kybernetischem Organismus war damit geboren. Ein zentraler Unterschied zwischen Cyborg und Prothese besteht nach Westermann somit vor allem darin, dass dem Cyborg von Anbeginn die Idee der Optimierung des menschlichen Körpers eingeschrieben war, während mit der Prothese in ihrer ursprünglichen griechischen Begriffsbedeutung vor allem der Gedanke an den Ersatz einer verloren gegangenen Körpergliedmaße verbunden war. 78 Wie nun anhand der genannten Arbeiten deutlich wird, erfährt die ProthesenThematik im deutschsprachigen Raum zunehmend an Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt einem gegenwärtig wachsenden Interesse an der Erforschung von materieller Kultur79 geschuldet ist. Die materielle Kulturforschung hat zwar innerhalb der Europäischen Ethnologie/Volkskunde eine lange Tradition, genannt
77 Vgl. B. Westermann: Prothese oder Cyborg, S.38. 78 Ebd., S.37/38. 79 Der Begriff ›materielle Kultur‹ ist mehrdeutig und oftmals nur vage bestimmt. Der deutsche Ethnologe Hans Peter Hahn versteht darunter jedoch grundsätzlich »[…] die Summe aller Gegenstände […], die in einer Gesellschaft genutzt werden oder bedeutungsvoll sind.« Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung. Zweite, überarbeitete Auflage. Berlin: Reimer 2014, S.18. ›Materielle Kultur‹ stellt in diesem Sinne den Überbegriff dar für sämtliche Dinge, Gegenstände oder Objekte, die Menschen in ihrem Alltagsleben nutzen bzw. gebrauchen, in die zugleich aber immer auch vielfältige soziokulturelle Bedeutungen, soziale Beziehungen, Machtverhältnisse, Mentalitäten etc. eingeschrieben sind bzw. sich in diesen materialisieren. ›Materielle Kultur‹ spielt nach Hahn dabei eine wichtige Rolle für die Identität von Menschen und für die Konstitution von Gesellschaften insgesamt, wobei er davon ausgeht, dass die in einer Gesellschaft verwendeten materiellen Gegenstände stets aus dem Kontext des Handelns heraus zu verstehen sind. Das bedeutet, »[g]esellschaftlicher Alltag wird nicht nur von materiellen Dingen geprägt, aber auch nicht allein vom Handeln und Wissen. Erst in der Verbindung der beiden Dimensionen ergibt sicht ein Zugang zum Verstehen des Alltags.« H. P. Hahn: Materielle Kultur, S.9; vgl. auch Tietmeyer, Elisabeth/Hirschberger, Claudia/Noack, Karoline (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur. Münster/München: Waxmann 2010.
30 | Alltag mit Prothese
sei hier exemplarisch die volkskundlich-ethnologische Sachkulturforschung, sie rückt jedoch erst seit einiger Zeit im Zusammenhang mit einer verbreiteten Rezeption der Science and Technology Studies (STS) wieder verstärkt und unter neuen methodischen wie theoretischen Herangehensweisen ins Zentrum des kultur- bzw. sozialwissenschaftlichen Interesses. Dies belegen unter anderem auch Tagungen wie der 2013 in Nürnberg abgehaltene 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) zum Thema »Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken« oder neuere Publikationen wie das 2012 von den Europäischen Ethnologen Stefan Beck, Jörg Niewöhner und Estrid Sørensen herausgegebene Werk »Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung«.80 Bei den Science and Technology Studies handelt es sich um ein seit den 1970er/80er Jahren international aufblühendes, transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich an der Schnittstelle von Wissenschaftsphilosophie, -geschichte und -soziologie einerseits sowie Technikphilosophie, -geschichte und -soziologie andererseits entwickelt hat, sich insbesondere mit den Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft beschäftigt und deren alltägliches Zusammenspiel empirisch untersucht.81 Der Analysefokus liegt damit verbunden vor allem auf Materialität bzw. auf Dingen, materiellen Gegenständen, Objekten oder technischen Artefakten 82, die nicht mehr ausschließlich
80 Vgl. Braun, Karl/Dieterich, Claus-Marco/Treiber, Angela (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015; Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: transcript 2012; vgl. auch Beck, Stefan: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte. Berlin: Akademie-Verlag 1997. 81 Vgl. Lengersdorf, Diana/Wieser, Matthias (Hg.): Schlüsselwerke der Science & Technology Studies. Wiesbaden: Springer VS 2014; Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid: Einleitung. Science and Technology Studies aus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive, in: Dies. (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S.9-49, hier: S.11. 82 Die Begriffe ›Ding‹, ›materieller Gegenstand‹ und ›Objekt‹ verwende ich in meiner Arbeit weitgehend synonym. Daneben gebrauche ich in Bezug auf Prothesen alternativ auch den Begriff ›(medizin-)technisches Artefakt‹, wobei mit ›Artefakt‹ per definitionem in erster Linie Dinge oder Gegenstände gemeint sind, die intentional und durch menschliche Arbeit hergestellt worden sind. Vgl. Ludwig, Andreas: Materielle Kultur, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 30.05.2011, https://docupedia.de/ images/f/f4/Materielle_Kultur.pdf (Stand: 20.09.15). Dabei werde ich in meiner Arbeit Prothesen als Artefakte jedoch nicht nur im Hinblick auf die in sie eingeschriebe-
Einleitung | 31
als passive Instrumente bzw. Werkzeuge oder lediglich unter semiotischen Aspekten als Symbolträger und Projektionsflächen von Bedeutungszuschreibungen untersucht werden, sondern vielmehr geht es darum zu erforschen, wie Menschen mit diesen in Wechselwirkung treten. Materialität wird damit verbunden gänzlich neu als Handlungsträger und aktiver Akteur im Alltagshandeln konzipiert (siehe hierzu auch Kapitel 2.1).83 Bislang waren die STS in Deutschland dabei vorwiegend soziologisch geprägt, sie entwickeln sich aktuell jedoch auch zu einem dynamischen und zentralen Forschungsfeld der Europäischen Ethnologie/Volkskunde, wie unter anderem die Bremer Ethnologin Michi Knecht konstatiert, die sich in ihren Arbeiten bereits seit mehreren Jahren schwerpunktmäßig mit Themen bzw. theoretischen wie methodischen Ansätzen aus dem Bereich der Wissenschafts-, Medizin- und Technikforschung beschäftigt.84 Was trotz dieses neu erwachten Interesses an der Erforschung von materieller Kultur und dem Aufblühen der STS innerhalb der deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften jedoch nach wie vor fehlt sind Studien, die sich ethnographisch und in gegenwartszentrierter Perspektive mit dem Thema Amputation und Prothetik beschäftigen. Mit der vorliegenden Arbeit soll daher ein Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke geleistet werden, wobei vor allem die genannten Arbeiten von Kurzman, Murray, Messinger, Crawford, Heavey, Manderson/Warren, Hoffman und Dalibert sowie nicht zuletzt die ethnographische Studie von Katrin Amelang über die Herstellung von Alltag nach einer Lebertransplantation gute Anknüpfungspunkte für die Erforschung von PostAmputations-Alltagen sowie der körperlich-leiblichen Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments liefern.
1.3
AUFBAU DER ARBEIT
Die vorliegende Studie gliedert sich im Wesentlichen in zwei große Teile: In einen theoretisch-methodischen und einen empirischen Teil. Nach dem einführen-
nen soziokulturellen Bedeutungen genauer in den Blick nehmen, sondern im Sinne der Science and Technology Studies vor allem auch hinsichtlich ihrer konkreten Materialität sowie ihres Akteursstatus (siehe Kapitel 2.1). 83 Vgl. S. Beck/J. Niewöhner/E. Sørensen: Einleitung. 84 Vgl. Knecht, Michi: Nach Writing Culture, mit Actor-Network: Ethnografie/Praxeografie in der Wissenschafts-, Medizin- und Technikforschung, in: Hess, Sabine/Moser, Johannes/Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin: Reimer 2013, S.79-107, hier: S.91.
32 | Alltag mit Prothese
den Kapitel werde ich in Kapitel 2 zunächst genauer auf meine theoretische und methodische Herangehensweise an das Thema Amputation und Beinprothetik eingehen und damit verbunden erörtern, wie diese Thematik als Gegenstand für eine gegenwartszentrierte, volkskundlich-ethnologische Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Kapitel 2.1 behandelt dabei den meiner Arbeit zugrunde liegenden theoretischen Rahmen, der sich im Verlauf meiner Forschung als wirksames Analyseinstrumentarium im Hinblick auf die Untersuchung, Konstituierung sowie Beschreibung von Post-Amputations-Alltagen und technogenem Embodiment herauskristallisiert hat, während ich in Kapitel 2.2 mein methodisches Vorgehen, das heißt meinen Zugang zum Forschungsfeld sowie die einzelnen Schritte der Erhebung und Auswertung meines empirischen Materials darlegen werde, um meinen Forschungsprozess transparent zu machen. Im Anschluss daran erfolgt die Darstellung meiner empirischen Ergebnisse, die ich in drei Kapiteln präsentieren und unter Bezugnahme auf die in Kapitel 2.1 erörterten Theorien diskutieren werde. In den einzelnen empirischen Kapiteln wird dabei unterschiedliches Datenmaterial herangezogen, das von Interviews, Beobachtungsprotokollen und Feldnotizen bis hin zu Ratgeberbroschüren für Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträger, orthopädietechnischer Fachliteratur oder rechtlichen Verordnungen im Hinblick auf die Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln etc. reicht. Je nach Kapitel stehen darüber hinaus mal mehr die Narrationen meiner unterschiedlichen Forschungsteilnehmer und mal mehr verschiedene Praktiken, beispielsweise der orthopädietechnischen Prothesenanpassung oder rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge, im Vordergrund. Kapitel 3 beginnt dabei mit dem (medizinischen) Eingriff der Amputation und der anschließenden orthopädietechnischen Versorgung mit einer ersten Übergangsprothese, der sogenannten Interimsprothese, im Krankenhaus. Im Zentrum dieses Kapitels steht vor allem die Frage, wie die Amputation von meinen Forschungsteilnehmern erlebt wurde und wie sich der Erstkontakt mit dem für sie unbekannten medizintechnischen Artefakt Prothese gestaltet hat. Wie ich in diesem Kapitel herausarbeiten werde, gerät das Alltagsleben der betreffenden Personen durch eine Amputation aus den Fugen, zudem gestaltet sich die Erstversorgung mit einer Prothese in körperlich-leiblicher Hinsicht vor allem als schmerzhaftes Erlebnis, was die Herstellung einer ›funktionierenden‹ Beziehung zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt vor eine erste Herausforderung stellt. Alltag und Körper werden durch die Amputation verunsichert und müssen unter veränderten Bedingungen neu angeeignet werden. Hier kommen die rehabilitationsklinische Amputationsnachsorge und das damit verbundene Prothesentraining ins Spiel, die in Kapitel 4 genauer beleuchtet werden. In der Rehaklinik sollen Menschen nach einer Beinamputation einer-
Einleitung | 33
seits lernen, wieder Vertrauen in ihren veränderten Körper sowie das ›fremde‹ medizintechnische Artefakt zu gewinnen, zudem wird in der Rehaklinik in diesem Zusammenhang ein erster wichtiger Grundstein für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments gelegt. Andererseits sollen die betreffenden Personen in der Rehaklinik auf ihr (neues) Leben nach der Amputation mit Prothese vorbereitet werden, weshalb verschiedene Alltagssituationen simuliert und spezifische Alltagskompetenzen praktisch eingeübt werden. Dabei gehen das rehabilitationsklinische Herantasten an Alltag und die (Neu-)Aneigung des mittels Prothesen ›technisierten‹ Körpers Hand in Hand und sind eng miteinander verknüpft, wie ich im Rahmen von Kapitel 4 aufzeigen werde. In Kapitel 5 schließlich wird genauer untersucht, wie es meinen Forschungsteilnehmern erging, als sie nach der Entlassung aus der Rehaklinik zum ersten Mal wieder nach Hause in ihr (ehemals) gewohntes Lebensumfeld zurückkehrten. Wie haben meine Forschungsteilnehmer die erste Zeit nach der Amputation zuhause erlebt? Wie hat sich ihr Leben seit der Amputation bis zum Zeitpunkt meiner Forschung gestaltet? Wie werden Post-Amputations-Alltage außerhalb (reha-)klinischer Settings hergestellt und gelebt? Und inwiefern gelang es meinen Gesprächspartnern, das medizintechnische Artefakt Prothese in ihr Leben sowie ihren KörperLeib zu integrieren? Wie ich in diesem Kapitel darstellen werde, konnten die wenigsten meiner Forschungsteilnehmer ihr Leben nach der Amputation wie gewohnt fortführen, sondern vielmehr mussten sie ihr Leben neu ordnen, neu strukturieren und eben erst wieder zum Alltag machen. Hierzu waren bzw. sind verschiedene Anstrengungen ihrerseits wie ihres sozialen Umfeldes erforderlich, wobei insbesondere auch der Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung eine bedeutende Rolle für die Stabilisierung von PostAmputations-Alltagen einerseits sowie für technogenes Embodiment andererseits spielt. Regelmäßige Besuche beim Orthopädietechniker sind aus dem Leben von Prothesenträgern nicht mehr wegzudenken, das Orthopädietechnikzentrum wird zu einer Art zweitem Zuhause für Menschen, die sich nach einer Amputation für das Tragen von Prothesen entschieden haben, da Prothesenpassteile im Verlauf der Zeit immer wieder ausgetauscht oder neu angepasst werden müssen. Aufgrund der zentralen Bedeutung, welche die orthopädietechnische Prothesenanpassung im poststationären Leben meiner Interviewpartner einnimmt, wird dieser Prozess in Kapitel 5 daher ebenfalls genauer beleuchtet. Gleichzeitig gebe ich damit verbunden einen Überblick über die aktuellen technischen Möglichkeiten im Bereich Beinprothetik und zeige bestehende Versorgungsansprüche auf. Des Weiteren werde ich in Kapitel 5 herausarbeiten, welche Rolle das Thema Behinderung im Leben bzw. Post-Amputations-Alltag meiner For-
34 | Alltag mit Prothese
schungsteilnehmer sowie im Hinblick auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments spielt. In diesem Zusammenhang werden zudem gesellschaftlich verbreitete Vorstellungen von Behinderung genauer in den Blick genommen und damit verbundene Exklusionsmechanismen sowie Differenzierungspraktiken kritisch hinterfragt. In Kapitel 6 werden die zentralen Ergebnisse meiner Studie nochmals gebündelt zusammengefasst und einer abschließenden Interpretation unterzogen.
2
Amputation und Prothetik als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung
2.1
THEORETISCHE BEZUGSPUNKTE UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
2.1.1 Post-Amputations-Alltage im Blick: Die Europäische Ethnologie/Volkskunde als Alltagswissenschaft Im Verlauf meiner Forschung wurde mir von verschiedenen Personen immer wieder die Frage gestellt »Ach, Sie sind gar keine Medizinerin? Was interessiert Sie dann am Thema Amputation und Beinprothetik?« Und ja, diese Frage scheint auf den ersten Blick berechtigt zu sein, denn inwiefern kann ein augenscheinlich eher medizinisches, biomechanisches oder allenfalls psychologisches Thema zum volkskundlich-ethnologischen Forschungsgegenstand gemacht werden? Welchen Beitrag kann eine kulturwissenschaftliche Disziplin wie die Europäische Ethnologie/Volkskunde überhaupt zum Themenkomplex Amputation und Beinprothetik leisten? Eine erste Antwort auf diese Fragen bildet vor allem der Begriff Alltag. Die Europäische Ethnologie/Volkskunde versteht sich selbst als Alltagswissenschaft, das heißt Alltag steht als ein zentrales Phänomen oft im Mittelpunkt kulturanthropologischer Forschungsprojekte und bildet als analytische bzw. heuristische Kategorie deren Ausgangs- wie Bezugspunkt.1 Die Volkskundlerin Brigitta Schmidt-Lauber sieht die spezifische Kompetenz der Europäischen Ethnologie/ Volkskunde in diesem Zusammenhang vor allem darin, »[…] Alltagswelten aus einer verstehenden Perspektive in Gegenwart und Vergangenheit mikroanaly-
1
Vgl. Greverus, Ina-Maria: Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. Frankfurt a. M.: C.H. Beck 1987, S.24; K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.34/38.
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tisch auszuleuchten und dicht zu beschreiben, […] (Herv. i. O.)«2 und auch der Schweizer Volkskundler Ueli Gyr ist der Meinung, dass Alltag sowohl als Gegenstandsbereich als auch Perspektive für die Europäische Ethnologie/ Volkskunde zentral ist.3 Allerdings ist nach Ansicht des Hamburger Volkskundlers Gerrit Herlyn nicht immer eindeutig geklärt, wie Alltag kulturwissenschaftlich zu fassen ist und ob mit diesem zentralen, aber teilweise auch problematischen Zugang nicht eine verführerische Trope im wissenschaftlichen Schreiben verbunden ist.4 Die Europäische Ethnologie/Volkskunde befasst sich dabei bereits seit ihren Anfangsjahren im 19. Jahrhundert mit ›Alltäglichem‹ im Sinne gewöhnlicher, unprätentiöser Durchschnittswelten. Die Hinwendung zum Alltag als einem bedeutenden, identitätsstiftenden Fachbegriff setzte jedoch vor allem im Zusammenhang mit der Um- und Neuorientierung des Faches in den 1960er/ 70er Jahren im Zuge der Falkensteiner Debatten ein und war verbunden mit einer Kritik an der älteren Volkskunde und deren Romantisierungen bzw. Vorstellungen von einer ›Volkskultur‹ als idealisierter Alltagskultur.5 Besonders zwei theoretische Konzepte wurden im Zuge dieser fachlichen Neuausrichtung in die volkskundlich-ethnologische Alltagsforschung aufgenommen. Zum Einen war der Paradigmenwechsel verbunden mit einer Hinwendung zu den wissenssoziologisch bzw. phänomenologisch ausgerichteten Analysen der ›Strukturen der Lebenswelt‹. Dieses Konzept wurde von dem deutschen Soziologen Alfred Schütz in den 1950er Jahren geprägt und nach dessen Tod von sei-
2
Schmidt-Lauber, Brigitta: Der Alltag und die Alltagskulturwissenschaft. Einige Gedanken über einen Begriff und ein Fach, in: Fenske, M./Bausinger, H. (Hg.): Alltag als Politik, Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp. Berlin: Lit 2010, S.45-65, hier: S.56.
3
Vgl. Gyr, Ueli: Kulturale Alltäglichkeit in gesellschaftlichen Mikrobereichen. Standpunkte und Elemente zur Konsensdebatte, in: Burckhardt-Seebass, Christine (Hg.): Zwischen den Stühlen fest im Sattel? Eine Diskussion um Zentrum, Perspektiven und Verbindungen des Faches Volkskunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Basel 31. Oktober bis 02. November 1996. Göttingen: Deutsche Gesellschaft für Volkskunde 1997, S.13-20, hier: S.15.
4
Vgl. Herlyn, Gerrit: Computer im Alltag – Computer als Alltag. Erzählstrategien und biographische Deutungen im Veralltäglichungsprozess von Technik. Dissertation an der Universität Hamburg 2010, S.6. Online-Publikation, http://ediss.sub.uni-hamburg. de/volltexte/2010/4574/pdf/herlyn__DISS.pdf (Stand: 06.10.15).
5
Ebd., S.7; vgl. auch B. Schmidt-Lauber: Der Alltag, S.50.
Amputation und Prothetik als Forschungsgegenstand | 37
nem Schüler Thomas Luckmann in den 1970er Jahren weiter ausgearbeitet.6 Unter Bezugnahme auf den deutschen Philosophen Edmund Husserl, der bereits in den 1930er Jahren eine ›Theorie der Lebenswelt‹ formuliert hatte, konzipierten Schütz/Luckmann ›Lebenswelt‹ als »[…] eine im Handeln und Wirken entstehende Wirklichkeit […]«7, die sich in verschiedene Bereiche aufgliedert. Die Welt des Alltags bzw. die alltägliche Lebenswelt wird dabei als die für den Menschen selbstverständliche und unhinterfragte Wirklichkeit definiert, als Lebenswelt der ›natürlichen‹ Einstellungen, in die ein Mensch hineingeboren wird, sie ist der Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt, in der er mit anderen Menschen lebt und kommuniziert.8 »Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen […],«9 sie ist primärer Handlungs- und Interaktionsraum sowie intersubjektiv konstituiert, denn sie besteht im Miteinander-Handeln und Erleben der Menschen und in deren Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Lebenswelt. 10 Mit dieser phänomenologischen bzw. wissenssoziologischen Perspektive auf Alltag als sinnhafter Konstruktion und besonderem Typus von Erfahrung, Handeln und Wissen, rückten nach Carola Lipp schließlich subjektzentrierte Fragestellungen bzw. der handelnde Mensch und dessen Erfahrungen im Alltag zunehmend ins Zentrum des volkskundlichethnologischen Interesses und es war ein verstehender Zugang zu kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen eröffnet.11 Der zweite alltagstheoretische Ansatz, der von der Europäischen Ethnologie/Volkskunde zum Anderen rezipiert wurde, knüpft vor allem an die von dem französischen Soziologen Henri Lefèbvres in den 1970er Jahren formulierte und marxistisch geprägte ›Kritik des Alltagslebens‹ an und argumentiert dementsprechend auf Basis einer gesellschaftspolitischen Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaft und ihrer entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedin-
6
Vgl. Lipp, Carola: Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts, in: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), S.1-33, hier: S.3/4.
7
Endreß, Martin: Alfred Schütz (1899-1959), in: Kaesler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie, 1. Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. Fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beckʼsche Reihe 2006, S.338-358, hier: S.343.
8
Vgl. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frank-
9
Ebd.
furt a. M.: Suhrkamp 1979, S.25. 10 Vgl. C. Lipp: Alltagskulturforschung, S.4/5. 11 Ebd., S.5/10.
38 | Alltag mit Prothese
gungen.12 Der Begriff Alltag wurde in diesem Zusammenhang politisch aufgeladen und war nach Carola Lipp verbunden mit der Kritik an einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Diktat spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte.13 Nach Lefèbvres bildete Alltag in der spätkapitalistischen Gesellschaft somit keine lebensweltliche Einheit mehr, sondern vielmehr konzipierte er Alltag aus marxistischer Perspektive als das zu erduldende Schicksal breiter Massen der Bevölkerung. 14 Lefèbvres forderte in diesem Zusammenhang dazu auf, Alltag nicht nur im phänomenologischen Sinne in seiner lebensweltlich vorfindbaren Form zu analysieren, sondern vielmehr sollten jene Wirklichkeitszusammenhänge schärfer ins Auge gefasst werden, die aus ökonomischen wie politischen Gründen aus ihm abgezogen bzw. in ihm unsichtbar geworden sind, nämlich Strategien der Herrschaft, Formen sozialer Ungleichheit etc.15 Arbeiten, die an Lefèbvres anknüpften, versuchten in diesem Zusammenhang Alltag vor allem als kritische Größe in die kultur- bzw. sozialwissenschaftliche Diskussion einzuführen.16 Nach Katrin Amelang wurden mit Lefèbvres und Schütz/Luckmann somit zwei eher konträre theoretische Ansätze zum Alltag in der Europäischen Ethnologie/Volkskunde aufgenommen, denn so ging es einerseits darum, sich Alltag als vertrauter, selbstverständlicher Welt verstehend bzw. hermeneutisch-interpretativ anzunähern und seine Eigenlogiken zu erforschen, andererseits sollten Alltag und seine Zwänge (ideologie-)kritisch beleuchtet werden, wobei die zentrale Gemeinsamkeit der beiden theoretischen Perspektiven darin besteht, dass Alltag stets als sowohl individuell wie auch kollektiv konzipiert wird. 17 Trotz dieser verschiedenen und intensiv geführten Debatten seit den 1970er Jahren, bleibt der Begriff Alltag selbst allerdings bis heute merkwürdig diffus und kann nach Carola Lipp letztlich nicht klar bzw. eindeutig definiert werden. 18 Wie Gerrit Herlyn betont, war mir der Etablierung des Alltagsbegriffs als zentraler Ana-
12 Ebd., S.3-5; Lefèbvres, Henri: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1975. 13 Vgl. C. Lipp: Alltagskulturforschung, S.5. 14 Vgl. G. Herlyn: Computer im Alltag, S.7; Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie. Vierte, aktualisierte Auflage. München: Beck 2012, S.126/127. 15 Vgl. W. Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie, S.126/127. 16 Vgl. G. Herlyn: Computer im Alltag, S.7. 17 Vgl. K. Amelang: Transplatierte Alltage, S.35. 18 Vgl. C. Lipp: Alltagskulturforschung, S.2.
Amputation und Prothetik als Forschungsgegenstand | 39
lysekategorie der Europäischen Ethnologie/Volkskunde jedoch grundsätzlich der Versuch verbunden, »[…] ›Normalitäten‹, das Gewöhnliche und das Gewohnte in den Blick zu bekommen, diesem eine große Relevanz und Aussagekraft beizumessen und letztlich so über die Alltagsperspektive einen verstehenden ›Schlüssel‹ zur Kultur zu erhalten. Damit ist auch die Annahme verbunden, verborgene Strukturen […] zu entdecken, diese sichtbar, beschreibbar und erklärbar zu machen und so angemessene Analysen von alltagskulturellen Phänomenen in einem übergeordneten Sinne zu liefern bzw. gesellschaftliche und kulturelle Phänomene über ihre alltägliche Dimension zu erschließen.«19
Das bedeutet, Alltag steht dementsprechend in der Europäischen Ethnologie/Volkskunde »[…] sowohl für das Gewöhnliche und Selbstverständliche im menschlichen Tun als auch für ein Spannungsfeld, in dem gesellschaftliche Ordnungen, Vorstellungen und Positionen ausgehandelt und manifestiert werden […].«20 Wie ich dabei bereits im einführenden Kapitel meiner Arbeit erwähnt habe, versteht der Volkskundler Hermann Bausinger unter Alltag in erster Linie »[…] den Bereich der Routine […], das Eingespielte, Eingefahrene, seiner selbst Sichere.«21 Alltag ist der Raum, »[…] in dem wir uns unreflektiert bewegen, […] dessen Bedeutungen und Konstellationen uns unmittelbar zugänglich sind, […] wo das Handeln den Charakter des Natürlichen hat, wo wir die Vorstellung vom Sinn unseres Tuns selbstverständlich mit anderen teilen.«22 Bausinger spricht in diesem Zusammenhang auch vom Alltag als einem »Netz von Selbstverständlichkeiten«23, das einerseits von Menschen oftmals als unspektakulär, eintönig oder borniert wahrgenommen wird, andererseits hat Alltag nach Bausinger gerade deswegen aber auch eine zentrale Entlastungsfunktion inne, denn wird dieses Netz von Selbstverständlichkeiten in irgendeiner Weise irritiert, so offenbart sich, »[…] daß ein funktionierender Alltag auch Sicherheit und Stabilität bedeutet. Der Mensch braucht einen gesicherten Raum der Selbstverständlichkeiten, der für ihn wie für seine Umgebung gilt.«24 Durch eine Amputation wird diese Selbstverständlichkeit des geregelten Lebens, also der Alltag der betreffenden Personen jedoch ›zerrüttet‹ und gerät in die Krise. Deutlich wird dies
19 C. Herlyn: Computer im Alltag, S.8/9. 20 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.35. 21 H. Bausinger: Alltag und Utopie, S.33. 22 Ebd. 23 Ebd., S.34. 24 Ebd., S.36.
40 | Alltag mit Prothese
unter anderem an Aussagen wie »Du wirst mitten aus dem Leben gerissen«, die Prothesenträger mir gegenüber in Gesprächen immer wieder geäußert haben. Zugleich rückt Alltag dadurch aber auch erst ins Zentrum des Bewusstseins, denn wie der Volkskundler Utz Jeggle schreibt, ist es mit dem Alltag »[…] wie beim Atmen, erst wenn die Luft dünn wird, merkt man, daß da etwas war, das jetzt fehlt.«25 Vor allem seitens der Prothesenbauindustrie wird dabei häufig die Rückkehr in ein ›normales Alltagsleben‹ nach der Amputation versprochen und auch die Praxis der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge zielt in erster Linie auf die »Wiedereingliederung in den Alltag«26 ab. Der Terminus Wiedereingliederung verweist jedoch darauf, dass die betreffenden Individuen durch die Amputation ganz offensichtlich aus dem Alltag ausgegliedert wurden. Die Amputation wird in verschiedenen Ratgeberbroschüren in diesem Zusammenhang auch meist als ›tiefer Einschnitt‹ beschrieben, die Zeit nach der Amputation als ›neuer Lebensabschnitt‹ dargestellt, wobei durch das Bereitstellen von Prothesen und die Einübung verschiedener ›Alltagspraktiken‹ während der stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehabilitationsklinik nach einer Amputation die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollen, dass die betreffenden Personen ihren »[…] gewohnten Alltag […] bald wieder aufnehmen können […].«27 Wie ich im einführenden Kapitel meiner Arbeit bereits angedeutet habe, kann nach einer Beinamputation allerdings nicht einfach so in den alten, gewohnten Alltag wie zuvor zurückgekehrt werden. Vielmehr standen meine Forschungsteilnehmer vor der Aufgabe, ihr Leben nach diesem (medizinischen) Eingriff neu zu ordnen, neu zu strukturieren, sie mussten sich Alltag als solchen unter veränderten Bedingungen mit einem veränderten Körper neu aneignen, sich ein neues Netz an Selbstverständlichkeiten und Routinen erarbeiten. Im Gegensatz zum üblichen phänomenologischen Verständnis von Alltag als unproblematisch Gegebenem, wird Alltag nach einer Beinamputation somit regelrecht »[…] zu einem Problem, das bearbeitet werden muss. (Herv. i. O.)«28 So müssen vor allem Menschen, die sich nach einer Beinamputation für das Tragen einer Prothese entscheiden, häufig ein Leben lang auf ihre Ernährung achten, um Ge-
25 Jeggle, Utz: Alltag, in: Bausinger, Hermann/Jeggle, Utz/Korff, Gottfried/Scharfe, Martin (Hg.): Grundzüge der Volkskunde. Vierte, durchges. und um ein Vorw. erw. Auflage. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1999, S.81-127, hier: S.81-83. 26 Vgl. European Manufacturers Federation For Compression Therapy and Orthopaedic Devices (eurocom) (Hg.): Ratgeberbroschüre »Beinamputation. Wie geht es weiter?« Zweite, überarbeitete Auflage 2012, S.12. 27 Ebd., S.9. 28 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.41.
Amputation und Prothetik als Forschungsgegenstand | 41
wichtsschwankungen und damit Volumenschwankungen am Beinstumpf zu vermeiden, damit eine möglichst gute Passform ihrer Prothese gewährleistet wird. Sie müssen ihre Muskulatur durch spezifische Fitnessübungen stärken, Medikamente gegen Phantom- oder Stumpfschmerzen einnehmen, zudem sind regelmäßige Besuche im Orthopädietechnikzentrum, in der Gehschule, beim (Haus-)Arzt oder teilweise auch in der Schmerzklinik aus dem Leben von Beinprothesenträgern nicht mehr wegzudenken. Ähnlich wie es Katrin Amelang für Menschen nach einer Lebertransplantation beschrieben hat, geht in diesem Sinne die Organisation von Alltag auch nach einer Beinamputation mit Prothese »[…] über ein simples Anknüpfen an alte Gewohnheiten deutlich hinaus. So umfasst sie neue Bedingungen, Aufgaben, Regeln und Gewohnheiten und eine daraus resultierende Rekonfiguration von Alltag, […].«29 Das bedeutet, das Leben nach der Amputation muss von den betreffenden Personen erst wieder zum Alltag gemacht werden, es müssen neue Routinen etabliert bzw. alte Routinen mit einem veränderten Körper neu ausgehandelt werden.30 Dabei haben bereits die beiden US-Soziologen Anselm Strauss und Juliet Corbin in verschiedenen Studien zur Bewältigung chronischer Krankheit herausgearbeitet, dass gerade das Alltagsleben der betreffenden Personen nicht nur innerhalb, sondern vor allem auch zuhause, außerhalb klinischer bzw. medizinischer Settings in diesem Zusammenhang insbesondere mit Arbeit verbunden ist. So muss Alltag als solcher erst wieder erarbeitet bzw. hergestellt werden, wobei Corbin/Strauss zwischen illnessrelated work, everyday life work und biographical work differenzieren.31 Mit illness-related work beziehen sie sich dabei unter anderem auf therapeutische Maßnahmen wie die tägliche Einnahme von Medikamenten oder die Integration neuer hygienischer Praktiken in das tägliche Leben, im Falle von Beinprothesenträgern wären hier beispielsweise regelmäßige Beinstumpfpflege oder das Säubern der Prothese zu nennen. Mit everyday life work sind in erster Linie solche Aktivitäten gemeint, die sich auf den Haushalt beziehen wie Putzen, Kochen, sich um die Kinder kümmern etc. und die aufgrund chronischer Krankheit nach Corbin/Strauss häufig neu geregelt bzw. vor allem zwischen Ehepartnern neu aufgeteilt werden müssen. Darüber hinaus müssen die jeweiligen Wohnungen
29 Ebd. S.40. 30 Vgl. Chakkalakal, Denny: Rezension zu Katrin Amelang Transplantierte Alltage. Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation. Bielefeld: transcript 2014, in: H-Soz-Kult vom 22.04.2015, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-23300 (Stand: 05.07.14). 31 Vgl. Corbin, Juliet/Strauss, Anselm: Managing Chronic Illness at Home: Three Lines of Work, in: Qualitative Sociology 8 (1985), S.224-247.
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oder Häuser der betreffenden Personen oftmals neu eingerichtet oder barrierefrei umgestaltet werden, denn »[…] if there are stairs to climb to the bedroom and bathroom areas and the capacity to climb stairs is lost, […], then a dining room may have to be changed into a bedroom and a closet turned into a bathroom.«32 Mit biographical work schließlich beziehen sich Corbin/Strauss unter anderem darauf, dass Menschen, die eine chronische Krankheit erleben oftmals gezwungen sind ihren Beruf aufzugeben, was mit dem Gefühl verbunden sein kann, kein vollwertiges, ökonomisch produktives Gesellschaftsmitglied mehr zu sein. Die chronische Krankheit muss daher in die jeweilige Biographie integriert und das Bild, das eine Person von sich selbst hat bzw. hatte dementsprechend rekonzeptualisiert werden, wobei insbesondere Phasen akuter Schmerzen oder körperlicher Krisen einmal etablierte Routinen unterbrechen können und deren abermalige Neu-Aneignung erfordern.33 Die US-Soziologin Elizabeth E. Wheatley, die sich in einer ethnographischen Studie mit US-Amerikanern beschäftigt, die mit einer Herzerkrankung leben, spricht in ähnlicher Weise auch von reskilling, worunter sie die vielfältigen Aktivitäten versteht, welche die betreffenden Individuen unternehmen müssen »[...] as a consequence of changes in physical capacities, social identities, and relationships. It requires ongoing efforts to interpret risks and remake the body, to redefine and reinvent the self, and to rearrange social relations and routines. Reskilling is never fully finished – it is an ongoing requirement of living with and inhabitating a troublesome and unpredictable body. […] reskilling requires continual work to remake the body, self, and social world.«34
Diese Überlegungen können auch auf das Beispiel Beinprothesenträger übertragen werden, wobei insbesondere mit den Studien von Corbin/Strauss eine Sichtweise auf Alltag als Ergebnis von vielfältigen Anstrengungen möglich wird.35 Anknüpfend an Corbin/Strauss, Wheatley und Katrin Amelang analysiere ich in meiner Studie Alltag nach einer Beinamputation mit Prothese somit in erster Linie als Resultat verschiedener, teilweise miteinander verschränkter Herstellungspraktiken von Prothesenträgern, deren Angehörigen sowie des (reha-)klinischen
32 Ebd., S.227/228. 33 Ebd.; vgl. auch K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.41. 34 Wheatley, Elizabeth E.: Bodies at Risk. An Ethnography of Heart Disease. Aldershot: Ashgate 2006, S.3. 35 Vgl. J. Corbin/A. Strauss: Managing Chronic Illness; K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.41.
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und orthopädietechnischen Personals, das heißt es geht mir ähnlich wie Amelang in einem praxistheoretisch orientierten Sinne vor allem um die Frage nach dem doing von Alltag nach einer Amputation, also um die Frage, wie Post-Amputations-Alltage von den betreffenden Individuen gemacht werden.36 Praxistheoretische Ansätze fokussieren dabei generell auf Vollzugswirklichkeiten, das heißt auf Prozesse der Hervorbringung sozialer Ordnung, wobei mit dem Fokus auf ›Praxis‹ bzw. auf ›Praktiken‹37 vor allem eine analytische Perspektive gemeint ist, die soziale Phänomene in ihrem Zustandekommen, in ihrer prozessualen Erzeugung verständlich zu machen sucht.38 Die vielfältigen Anstrengungen, die meine Forschungsteilnehmer in diesem Zusammenhang nach ihrer Amputation unternehmen mussten, um ihr ›neues‹ Leben tatsächlich wieder als Alltag leben zu können, lassen sich damit verbunden in Anlehnung an Amelang zudem als Projekt der Veralltäglichung analysieren, zumal auch Hermann Bausinger von einem Unauffällig-Werden als einem Weg zum Alltag spricht.39 Indem ich mit Post-Amputations-Alltagen vermeintlich außergewöhnliche Alltage in den kulturwissenschaftlichen Blick nehme, lassen sich jedoch auch Aussagen über das Phänomen Alltag im Allgemeinen treffen, denn wie sowohl Amelang als auch die US-Medizinanthropologin Gay Becker betonen, sind es gerade ›krisenhafte‹ Erfahrungen wie eine schwere Krankheit, eine Organtransplantation oder eben auch eine Gliedmaßenamputation, die es möglich machen »[…] die vermeintlichen Gewissheiten des Alltags und einen Begriff von Alltag als unproblematisch Gegebenes zu hinterfragen.«40 Das bedeutet, speziell in die Krise geratene Alltage bzw. disrupted lives41 bringen die zentrale Bedeutung und
36 Vgl. K. Amelang, Transplantierte Alltage; siehe auch Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Berlin: Suhrkamp 2012, S.32/33. 37 Innerhalb der internationalen und deutschsprachigen Forschungsliteratur wird als Pluralform für ›Praxis‹ sowohl der Begriff ›Praxen‹ als auch der Begriff ›Praktiken‹ verwendet. Ich gebrauche im Rahmen meiner Arbeit in erster Linie den Begriff ›Praktiken‹. 38 Vgl. R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S.32. 39 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.7; H. Bausinger: Alltag und Utopie, S.32. 40 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.7; vgl. auch G. Becker: Disrupted Lives, S.15. 41 Dieser Begriff wurde von Gay Becker in ihrer gleichnamigen Studie geprägt, in der sie sich aus medizinanthropologischer Perspektive mit Menschen (in den USA) beschäftigt, deren Leben durch Ereignisse wie beispielsweise schwere Krankheiten plötzlich in die ›Krise‹ geraten ist, wobei sie vor allem der Frage nachgeht, wie die be-
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Entlastungsfunktion eines funktionierenden Alltags für das Leben von Menschen im Allgemeinen exemplarisch zum Vorschein. Zudem machen sie deutlich, dass Alltag als soziales Phänomen bzw. soziale Ordnung generell als Resultat verschiedener Herstellungspraktiken verstanden werden kann, die jeder Mensch – wenngleich unbewusst – tagtäglich letztendlich leistet, um sein Leben als geregeltes Netz an Selbstverständlichkeiten leben zu können. Damit verbunden kommt insbesondere auch dem eigenen Körper eine bedeutende Rolle für die Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Alltag zu, wie ich im Rahmen der vorliegenden Studie noch genauer aufzeigen werde und was ebenfalls exemplarisch am Beispiel von Post-Amputations-Alltagen sowie nicht zuletzt an meinem zweiten Analyseschwerpunkt, das heißt am Beispiel technogenen Embodiments deutlich wird. Zur Analyse technogenen Embodiments greife ich in theoretischer Hinsicht dabei ergänzend zur kulturwissenschaftlichen Alltagsforschung auf eine Kombination weiterer Ansätze zurück, die sowohl aus dem Bereich der kulturbzw. sozialwissenschaftlichen Medizin- und Körperforschung, der Science and Technology Studies, der Post- und Neophänomenologie sowie der Disability Studies stammen und die ich im nachfolgenden Kapitel genauer erläutern werde. 2.1.2 Technogenes Embodiment (multi-)theoretisch betrachtet: Zur körperlich-leiblichen Aneignung von Prothesen Embodiment als medizin- und körperanthropologisches Konzept Bei der Medizin- und Körperanthropologie handelt es sich um zentrale Subdisziplinen der (Europäischen) Ethnologie, die sich mit Fragen rund um den menschlichen Körper, Gesundheit/Krankheit sowie Medizin im weitesten Sinne beschäftigen und vor allem im Hinblick auf deren soziokulturelle Dimensionen erforschen. Die euro-amerikanische Schul- oder Biomedizin wird in diesem Zusammenhang als ein kulturspezifisches Medizinsystem unter Vielen verstanden, das sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert im Zuge des Aufblühens der Naturwissenschaften in Europa etabliert hat.42 Vertreter der Medizin- bzw. Körperan-
treffenden Individuen diese krisenhaften Erfahrungen mit Bedeutung aufladen und ihr Leben damit verbunden neu organisieren. Vgl. G. Becker: Disrupted Lives. 42 Vgl. Lux, Thomas: Viele Namen für dieselbe Sache? Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medical Anthropology, in: Ders. (Hg.): Kulturelle Dimensionen der Medizin. Ethnomedizin ̶ Medizinethnologie ̶ Medical Anthropology. Berlin: Reimer 2003, S.10-31, hier: S.12; Wolff, Eberhard: Volkskundliche Gesundheitsforschung, Medikalkultur- und ›Volksmedizin‹-Forschung, in: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Grund-
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thropologie kritisieren vor allem das biomedizinische Körperkonzept, welches den menschlichen Körper in erster Linie als biologisch und naturwissenschaftlich definiertes und determiniertes Objekt begreift.43 Demgegenüber wird argumentiert, dass der menschliche Körper nie nur in seiner biologischen Konstitution aufgefasst werden könne, sondern vielmehr wird betont, dass die jeweilige Vorstellung und Gestaltung des Körpers sowie das Verhältnis zu ihm immer auch von den kulturellen Vorstellungen und sozialen Normen einer Gesellschaft abhängig ist.44 Dabei avancierte der menschliche Körper besonders seit den 1980er/90er Jahren zunehmend zu einem zentralen Forschungsgegenstand der internationalen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, was nach Ansicht der Volkskundlerin Uli Linke vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden Verbreitung neuer Medizin- und Biotechnologien wie beispielsweise reproduktionsmedizinischen Verfahren oder Gendiagnostik in euro-amerikanischen Gesellschaften zu dieser Zeit gesehen werden muss, die einerseits mit dem Wunsch nach einer vollkommenen medizinischen bzw. medizintechnischen Beherrschung des menschlichen Körpers einhergingen, dadurch andererseits jedoch zugleich Befürchtungen nach einer Entgrenzung körperlicher Integrität aufkommen ließen.45 In diesem Zusammenhang stellten insbesondere Vertreter der angloamerikanischen Medical Anthropology den alleinigen Definitionsanspruch der Schul- bzw. Biomedizin auf das, was als Gesundheit/Krankheit sowie Körper gelten kann, schließlich zunehmend in Frage und entwickelten damit verbunden eigene Modelle und Theorien. Von den beiden US-Medizinanthropologinnen Margaret Lock und Nancy Scheper-Hughes wurde unter anderem das Konzept des mindful body ausgearbeitet, welches den menschlichen Körper zum Ausgangspunkt eines kritisch-interpretativen Ansatzes macht, das heißt sie konzipieren den menschlichen Körper als »[…] simultaneously a physical and symbolic artifact, as both naturally and culturally produced, and as securely anchored in a
riss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2001, S.617-637. 43 Vgl. Dilger, Hans-Jörg/Hadolt, Bernhard: Medizinethnologie, in: Beer, Bettina/Fischer, Hans (Hg.): Ethnologie. Einführung und Überblick. Siebte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2012, S.309-333, hier: S.312. 44 Ebd., S.313. 45 Vgl. Linke, Uli: Volks-Kunde-Körper. Überlegungen zu einer wissenschaftlichen Anamnese, in: Maase, Kaspar/Bausinger, Hermann (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln: Böhlau 2003, S.65-95, hier: S.66/67.
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particular historical moment.«46 Dabei differenzieren sie zwischen drei Analyseebenen, die sie als individual body, social body und body politic bezeichnen. Mit individual body ist dabei in einem phänomenologischen Sinne der Körper als gelebte Erfahrung des Körper-Selbst gemeint, der social body bezieht sich in Anlehnung an Mary Douglasʼ strukturalistischen bzw. symboltheoretischen Ansatz auf den repräsentativen Gebrauch des Körpers und body politic schließlich verweist als Metapher unter Bezugnahme auf den französischen Philosophen und Poststrukturalisten Michel Foucault auf den menschlichen Körper als Ort der politischen Überwachung, Regulierung und Kontrolle aber auch des Widerstandes.47 Im Überlappungsbereich dieser drei Analyseebenen kommt nach Lock/Scheper-Hughes der mindful body ins medizinethnologische Blickfeld, der für die beiden vor allem als heuristisches Analyseinstrument fungiert, »[…] for understanding cultures and societies, on the one hand, and for increasing our knowledge of the cultural sources and meanings of health and illlness, on the other […]«.48 Dieses Konzept des mindful body wurde von dem US-Sozialanthropologen Seth D. Messinger in einem Aufsatz auf das Beispiel Amputation und Prothetik übertragen, wobei er in seinen ethnographischen Studien in erster Linie auf die Prothesenversorgung und den Rehabilitationsprozess von US-Kriegsversehrten des Afghanistan- und Irak-Krieges im Walter Reed Army Medical Center fokussiert, wie ich im einführenden Kapitel meiner Arbeit bereits kurz dargestellt habe.49 Unter Bezugnahme auf den individual body geht Messinger dabei der Frage nach, wie US-Soldaten sich selbst und ihre Körper nach einer Amputation und durch den Gebrauch von Prothesen erfahren bzw. wahrnehmen und inwiefern es diesen gelingt, das medizintechnische Artefakt in ihr Selbstbild sowie ihre Lebensweise zu integrieren. Mittels der Analyseebene des social body untersucht Messinger darüber hinaus, wie die mit Prothesen versorgten US-Kriegsversehrten mit der sogenannten ›normalen‹ Welt außerhalb des Walter Reed Army Medical Center interagieren und inwiefern hierbei soziokulturell vorherrschende Vorstellungen von Behinderung, Krankheit, Männlichkeit, Körperlichkeit etc.
46 Lock, Margaret/Scheper-Hughes, Nancy: The Mindful Body: A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quarterly 1 (1987), S.6-41, hier: S.7; H. J. Dilger/B. Hadolt: Medizinethnologie, S.321/322. 47 Vgl. H. J. Dilger/B. Hadolt: Medizinethnologie, S.322; M. Lock/N. Scheper-Hughes: The Mindful Body, S.7/8. 48 M. Lock/N. Scheper-Hughes: The Mindful Body, S.8; H. J. Dilger/B. Hadolt: Medizinethnologie, S.322. 49 Vgl. S. Messinger: Anthropology.
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die In- bzw. Exklusion der betreffenden Individuen bedingen und inwiefern es damit verbunden den von Messinger befragten bzw. beobachteten US-Soldaten möglich ist, auf den Gebrauch von Prothesen zu verzichten und dennoch als ›vollwertiges‹ Gesellschaftsmitglied akzeptiert zu werden. Unter body politic analysiert Messinger schließlich, inwiefern das US-amerikanische Gesundheitssystem sowie politische und ökonomische Rahmenbedingungen Einfluss auf die Prothesenversorgung von US-Kriegsversehrten haben und wie damit verbunden Prothesen von der US-amerikanischen Gesellschaft als kulturelle Symbole interpretiert werden. US-Kriegsversehrte stellen dabei insofern eine besondere Gruppe dar, da sie einerseits im Vergleich zu den meisten Menschen mit Amputation aus der Zivilbevölkerung in der Regel jünger und athletischer sind, andererseits werden vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg seitens der US-amerikanischen Regierung hohe Summen in den Rehabilitationsprozess und die prothetische Versorgung ihrer verwundeten Soldaten gesteckt und diese dementsprechend mit den neuesten auf dem Markt erhältlichen Prothesenmodellen versorgt, die sich zivile Prothesenträger oftmals nicht leisten können bzw. vom Gesundheitssystem nicht finanziert bekommen. Wie Messinger darstellt, spielt in diesem Zusammenhang im Walter Reed Army Medical Center bei der ›Prothetisierung‹ der versehrten Soldatenkörper die Inszenierung bzw. Performance von Männlichkeit und die Wiederherstellung von Funktionalität eine bedeutende Rolle, was zudem oftmals verknüpft wird mit triumphalen Heldengeschichten.50 Der Rehabilitationsprozess und die staatlich finanzierte Prothesenversorgung von USKriegsversehrten zielt in diesem Sinne bzw. im Sinne des body politic vor allem auf die Wiederherstellung einer American able-bodied masculinity ab, wobei US-Kriegsversehrten von der US-amerikanischen Öffentlichkeit damit verbunden zudem weniger der Status als körperbehinderte Gesellschaftsmitglieder zugeschrieben wird, sondern vielmehr werden sie als Helden gefeiert, die für ihr Land gekämpft und im wahrsten Sinne des Wortes vollen Körpereinsatz gezeigt haben.51 Eine derartige Herangehensweise an das Thema Amputation und Prothetik im Sinne des mindful body-Konzepts kann auch auf den deutschen Kontext übertragen werden, im Zentrum meiner Arbeit steht jedoch in erster Linie das medizin- bzw. körperanthropologische Embodiment-Konzept, das in den 1990er Jahren von dem US-Medizinanthropologen Thomas J. Csordas erstmals in den in-
50 Ebd., S.113. 51 Ebd.
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ternationalen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde.52 Csordas kritisierte an den internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften, dass diese den menschlichen Körper vor allem im Zuge der interpretativen Wende der 1970er Jahre in erster Linie unter semiotischen Aspekten lediglich als Zeichenträger bzw. als Objekt kultureller Formung untersucht hätten, während der wahrnehmende Körper als Subjekt im kulturellen Prozess weitgehend vernachlässigt worden sei.53 Ausgehend von der Überlegung, dass menschliches Sein, Erfahren, Denken und Handeln ein grundlegend Körperliches ist und Menschen nicht nur einen Körper haben, sondern auch ein Körper sind, postulierte er daher »[…] that the body is not an object to be studied in relation to culture, but is to be considered as the subject of culture, or in other words as the existential ground of culture. (Herv. i.O.)«54 Nach diesem Verständnis schreibt sich Kultur somit nicht nur in einen als passiv gedachten Körper ein, sondern vielmehr wird sie auch auf der Basis des körperlichen Seins sowie unmittelbar gelebter Erfahrung konstituiert und reproduziert.55 Csordas differenziert in diesem Zusammenhang analytisch zwischen dinghaftem Körper und Embodiment, wobei er unter Letzterem vor allem den individuell gelebten und empfundenen Körper bzw. das leibliche ›Zur-Welt-Sein‹ des Menschen versteht.56 Menschen verfügen in diesem Sinne nicht nur über einen äußerlich sichtbaren Körper, über den soziale Differenzierungs- und Klassifizierungsprozesse ablaufen, sondern sie verfügen gleichermaßen auch über eine ›innere‹, leibliche Dimension, die das je individuelle Spüren und Empfinden des eigenen Körpers bzw. die Wahrnehmung von Welt betrifft. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der deutsche Philosoph Helmuth Plessner dafür den Ausspruch ›Körper haben, Körper sein‹ geprägt, das heißt der Mensch hat nicht nur einen in der Fremdwahrnehmung gegebenen Körper im Sinne eines sicht- und tastbaren, form- und manipulierbaren Körperdings, sondern zugleich ist der Mensch auch sein Körper im Sinne eines in der Selbstwahrnehmung gegebenen, individuell spürbaren und empfundenen Körpers, wobei diese zweite Dimension menschlicher Existenz in der deutschsprachigen sozial-
52 Vgl. Csordas, Thomas J.: Embodiment and experience. The existential ground of culture and self. Cambridge: Cambridge University Press 1994. 53 Ebd., S.6. 54 Ebd., S.5; vgl. auch H. J. Dilger/B. Hadolt: Medizinethnologie, S.322. 55 Vgl. H. J. Dilger/B. Hadolt: Medizinethnologie, S.322. 56 Vgl. T. Csordas: Embodiment and experience; Kalitzkus, Vera: Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation. Eine medizinethnologische Studie. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2003, S.48.
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und kulturwissenschaftlichen Forschung mit dem Begriff Leib bezeichnet wird.57 Csordas stützt sich bei seiner Argumentation vor allem auf die Leib- bzw. Wahrnehmungsphänomenologie des französischen Philosophen Maurice MerleauPonty, der bereits in den 1940er Jahren in verschiedenen Arbeiten beschrieben hat, dass die menschliche Existenz fundamental durch ihre leibliche Verfasstheit und sinnliche Orientierung zur Welt hin gekennzeichnet sei.58 Seit Csordas Embodiment als neues phänomenologisches Paradigma für die Medizin- bzw. Körperanthropologie propagiert hat, wurde dieses Konzept insbesondere im angloamerikanischen Raum innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften breit rezipiert. Ich knüpfe in meiner Arbeit ebenfalls an die Überlegungen von Csordas an, allerdings beziehe ich mich mit dem Begriff Embodiment nicht wie Csordas allein auf die leibliche Dimension bzw. den menschlichen Körper als Basis von Wahrnehmung, sondern vielmehr verstehe ich Embodiment im Sinne des deutschen Körpersoziologen Robert Gugutzer als theoretischanalytischen Überbegriff für die wechselseitige Verschränkung von dinghaftem Körper und spürbarem Leib. 59 In ihrem Alltagshandeln sind Menschen stets ein KörperLeib, wobei das leibliche Spüren das körperliche Tun beeinflusst und umgekehrt und das Verhältnis von Körper und Leib zueinander historischkulturell variabel ist.60 Gugutzer bezieht sich bei seiner Definition von Embodiment dabei einerseits auf die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners sowie andererseits auf die sogenannte Neue Phänomenologie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz, der nach Gugutzer als der Philosoph des Leibes betrachtet werden kann, da dieser sich in seinen Werken im Rahmen einer empirisch orientierten Philosophie mit starkem Praxisbezug vor allem mit dem spürbaren Leib bzw. dem innerleiblichen Spüren auseinandergesetzt hat.61 Leiblichkeit im Sinne von Schmitz meint somit vor allem das, was affektiv nahe geht, was spürbar ergreift, das heißt anders als Merleau-Ponty macht Schmitz nicht (allein) den außerweltlichen Bezug bzw. die körperlich-leibliche Wahrnehmung von Welt, sondern vor allem das innerleibliche Spüren und das leiblich-affektive
57 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: de Gruyter 1928; Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers. Fünfte, vollständig überarbeitete Auflage. Bielefeld: transcript 2015, S.15/16. 58 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.29; Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter 1966. 59 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.17. 60 Vgl. R. Gugutzer: Soziologie des Körpers, S.13. 61 Ebd., S.34/35.
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Betroffensein zum Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie. Dabei ist mit dem Begriff Spüren eine Form der Selbsterfahrung des Lebens gemeint, die unmittelbar affiziert oder betroffen macht wie beispielsweise das Spüren von Schmerz, Erleichterung etc.62 Diese Überlegungen aufgreifend beziehe ich mich in meiner Arbeit mit Körper somit in erster Linie auf den in der Fremdwahrnehmung gegebenen menschlichen Körper in seiner Materialität, während ich mit Leib sowohl den in der Selbstwahrnehmung gegebenen Körper im Sinne eines subjektiven Wahrnehmungsorgans bezeichne, als auch das innerleibliche Spüren sowie das leiblich-affektive Betroffensein von etwas oder jemandem. Embodiment als Überbegriff für die Dualität von Körper und Leib fungiert dementsprechend in meiner Arbeit als theoretisch-analytisches Instrumentarium, um am Beispiel von Prothesenträgern sowohl die körperlichen als auch leiblichen Dimensionen eines Lebens mit Prothese in ihrer wechselseitigen Verschränkung sowie in ihrem Verhältnis zu soziokulturellen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen erfassen zu können. In diesem Zusammenhang füge ich zudem den Zusatz ›technogen‹ hinzu, da Menschen nach einer Beinamputation eben vor der Aufgabe stehen, ein medizintechnisches Artefakt in ihren KörperLeib zu integrieren. Wie sich dabei im Verlauf meiner Forschung herauskristallisiert hat und wie ich im einführenden Kapitel ebenfalls bereits kurz angedeutet habe, gestaltet sich der Gebrauch von Prothesen nach einer Amputation keineswegs von Anbeginn intuitiv, vielmehr wurde das medizintechnische Artefakt von meinen Forschungsteilnehmern zunächst vor allem als Fremdkörper wahrgenommen, der Schmerzen verursacht. Darüber hinaus muss der Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese von den betreffenden Individuen nach einer Beinamputation erst im Rahmen eines längerwierigen Trainingsprozesses erlernt werden, weshalb ich Prothese-Tragen in diesem Zusammenhang als Set an (kultur-) spezifischen KörperTechniken 63 konzipiere, die von den jeweiligen Personen
62 Ebd., S.38; Prinz, Sophia/Göbel, Hanna Katharina: Die Sinnlichkeit des Sozialen. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld: transcript 2015, S.9-53, hier: S.16/30. 63 Der Begriff ›Körpertechniken‹ wurde ursprünglich von dem französischen Soziologen Marcel Mauss geprägt, der darunter die Art und Weise versteht, wie sich Menschen ihres Körpers bedienen. Vermeintlich ›natürliche‹ körperliche Tätigkeiten wie Schlafen, Essen, Schwimmen oder auch Gehen stellen nach Mauss kulturspezifische Techniken des Körpers dar, die sich Menschen im Laufe ihres Lebens aneignen. Diese Körpertechniken können dabei je nach kulturellen Gegebenheiten und sozialen Normen einer Gesellschaft oder Epoche variieren und sind somit historisch wandelbar.
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angeeignet und internalisiert werden müssen, damit ein erfolgreiches MenschMedizintechnik-Zusammenspiel möglich wird. Prothese-Tragen muss sich von einer körperlichen Aneignungsphase in ein verinnerlichtes Leibkönnen transformieren.64 Dabei handelt es sich um einen aktiven und dynamischen Prozess, weshalb technogenes Embodiment als wechselseitige Verschränkung von Körper, Leib und Prothese in diesem Sinne vor allem auch als doing technogenes Embodiment bzw. technogenes Embodying verstanden und analysiert werden kann. Technogenes Embodiment beschreibe ich in meiner Arbeit somit in erster Linie aus einer relationalen Perspektive als beständig andauernden, situierten Prozess, zumal jede neue oder neu angepasste Prothese unter Umständen das erneute Erlernen der entsprechenden KörperTechniken und damit verbunden eine erneute körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts erfordert. Um diese Dynamik bzw. Prozesshaftigkeit technogenen Embodiments und damit verbunden die praktische Herstellung von Mensch-MedizintechnikBeziehungen besser erforschen zu können, erscheint es daher sinnvoll, in theoretischer Hinsicht ergänzend zur Medizin- und Körperanthropologie auch auf praxistheoretische Konzepte aus dem Bereich der Science and Technology Studies zurückzugreifen. Technogenes Embodiment in practice: Perspektiven der Science and Technology Studies Wie ich bereits im einführenden Kapitel meiner Arbeit erwähnt habe, handelt es sich bei den Science and Technology Studies (STS) um ein internationales, transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich seit den 1970er/80er Jahren vor allem in Großbritannien, Frankreich sowie den Niederlanden etabliert hat und gegen-
Körpertechniken müssen laut Mauss daher als Ergebnisse soziokultureller Sozialisationsprozesse verstanden werden. Vgl. Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers, in: Borgards, R. (Hg.): Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart: Reclam 2010, S.111-119. Im Falle von Beinprothesenträgern müssen Körpertechniken wie eben Gehen, Sitzen etc. unter spezifischen Bedingungen, nämlich durch den Gebrauch des medizintechnischen Artefakts Prothese neu angeeignet und internalisiert werden, weshalb ich in meiner Arbeit bewusst die Schreibweise ›KörperTechniken‹ verwende, um auf das komplexe Zusammenspiel von menschlichem Körper und medizintechnischem Artefakt zu verweisen. 64 Vgl. auch Kubes, Tanja Angela: Living fieldwork – Feeling hostess. Leibliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument, in: Arantes, Lydia Maria/Rieger, Elisa (Hg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: transcript 2014, S.111-127, hier: S.119.
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wärtig auch zunehmende Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum erfährt. Ein zentrales Anliegen dieses Forschungsfeldes besteht vor allem darin, die Verschränkung von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft im Alltag empirisch zu untersuchen und damit unter anderem auch die Rolle von Wissen und Technologie bzw. Technik in gesellschaftlichen Ordnungsprozessen näher zu bestimmen.65 Als bedeutender Vertreter gilt dabei der französische Soziologe Bruno Latour mit der von ihm in den 1980er/90er Jahren geprägten AkteurNetzwerk-Theorie (ANT), bei der es sich um eine Art Theorie-MethodenVerbund handelt, die dem Postkonstruktivismus zugerechnet wird. 66 Latour kritisierte an der internationalen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung, dass diese materielle Gegenstände bzw. technische Artefakte infolge der interpretativen Wende der 1970er Jahre in erster Linie im Hinblick auf ihren symbolischen Gehalt analysiert habe, während ihre Materialität sowie ihre Rolle als aktiver Akteur bei der Ausformung von sozialen Phänomenen kaum beachtet worden sei.67 Latour konnte zusammen mit seinen Kollegen jedoch in verschiedenen ethnographischen Studien nachweisen, dass technische bzw. materielle Objekte nicht nur passive Instrumente darstellen, die sich beliebig manipulieren und mit Bedeutung aufladen lassen, sondern dass diese vielmehr selbst einen signifikanten und aktiven Anteil an sozialen Interaktionen haben.68 Infolgedessen konzipierte Latour Materialität als Akteur im Alltagshandeln gänzlich neu, indem er ein Konzept der object agency entwickelte, das in der physikalischen Präsenz von Dingen und technischen Objekten seinen Ankerpunkt sucht, sich von klassischen soziologischen Handlungsmodellen im Sinne eines rational und intentional agierenden Menschen in radikaler Weise abwendet und Handlungsträgerschaft (agency) stattdessen nicht von vornherein lediglich menschlichen Subjekten zuordnet, sondern prinzipiell symmetrisch auf menschliche und nichtmenschliche Entitäten verteilt skizziert. 69 Vertreter der ANT erkennen Dingen,
65 Vgl. S. Beck/J. Niewöhner/E. Sørensen: Einleitung, S.9/10. 66 Vgl. M. Knecht: Nach Writing Culture, mit Actor-Network, S.96. 67 Vgl. S. Beck/J. Niewöhner/E. Sørensen: Einleitung, S.30/31; Depner, Anamaria: Dinge in Bewegung. Zum Rollenwandel materieller Objekte. Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim. Bielefeld: transcript 2015, S.35/36. 68 Vgl. S. Beck/J. Niewöhner/E. Sørensen: Einleitung, S.30/31; Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung. Bielefeld: transcript 2014, S.27; A. Depner: Dinge in Bewegung, S.44. 69 Vgl. A. Depner: Dinge in Bewegung, S.35/36; Kontopodis, Michalis/Niewöhner, Jörg: Technologien des Selbst im Alltag: Eine Einführung in relational-materielle Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Das Selbst als Netzwerk. Zum Einsatz von Körpern und
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materiellen Gegenständen bzw. Artefakten somit ein aktives praktisches Wirken zu und betonen deren Handlungsfähigkeit.70 Mit einer derartigen relationalmateriellen bzw. materiell-semiotischen Sichtweise werden ›klassische‹ SubjektObjekt-Dichotomien aufgegeben zugunsten von (hybriden) Akteur-Netzwerken, in die Menschen wie Nicht-Menschen gleichermaßen eingebunden sind bzw. diese überhaupt erst durch ihr Zusammenwirken gemeinsam hervorbringen. Damit verbunden wird zudem die Konstitution von Subjekt und Objekt als gegebenen, (scheinbar) ›natürlichen‹ Entitäten in Frage gestellt und stattdessen davon ausgegangen, dass diese überhaupt nur so existieren wie sie in einem Netz spezifischer Beziehungen aufeinander bezogen sind, wodurch sie letztlich immer wieder neu produziert werden.71 In diesem Zusammenhang soll vor allem empirisch aufgezeigt und aus einer praxistheoretisch orientierten Perspektive formuliert werden, dass sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen aktiv an der Herausbildung sozio-technischer Ordnungen beteiligt sind, wobei der Analysefokus insbesondere darauf gerichtet wird, wie diese Konstruktionsprozesse ablaufen.72 Eine derartige praxisorientierte Herangehensweise im Sinne der ANT bzw. STS erscheint dabei speziell im Hinblick auf die Erforschung technogenen Embodiments als fruchtbarer Analyseansatz, da es dadurch möglich wird, Prothesen sowie andere materielle Objekte als aktive Akteure bzw. ›materielle Partizipanden des Tuns‹73 in die kulturwissenschaftliche Analyse miteinzubeziehen. Zudem kann auf diese Weise aus einer prozessualen bzw. relational-materiellen Perspektive die praktische Herstellung einer ›funktionierenden‹ Beziehung zwischen Menschen mit Beinamputation und medizintechnischem Artefakt genauer untersucht werden. Damit verbunden rücken schließlich Praktiken der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge sowie der orthopädietechnischen Prothesenanpassung ins Zentrum des Interesses, die aus STS-Perspektive als Bestandteil einer komplexen Koordinationsarbeit bzw. als soziomaterielle Assemblagen
Dingen im Alltag. Bielefeld: transcript 2011, S.9-25, hier: S.10; Elias, Friederike/Albrecht, Franz/Murmann, Henning/Wilhelm Weiser, Ulrich: Hinführung zum Thema und Zusammenfassung der Beiträge, in: Dies. (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: de Gruyter 2014, S.3-13, hier: S.4. 70 Vgl. R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S.65/68. 71 Vgl. M. Kontopodis/J. Niewöhner: Technologien des Selbst, S.10. 72 S. Beck/J. Niewöhner/E. Sørensen: Einleitung, S.24. 73 Vgl. Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S.73-92.
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konzipiert werden können, bei denen verschiedene menschliche und nichtmenschliche Partizipanden miteinander verbunden sind, wechselseitig Handlungsträgerschaft übernehmen, aufeinander einwirken und Mensch-Medizintechnik-Beziehungen als solche in ihrem gemeinsamen praktischen Vollzug hervorbringen.74 Wie nun allerdings die beiden deutschen Soziologen Stefan Hirschauer und Cornelius Schubert speziell an der ANT kritisieren, hat sich diese bei ihren Analysen bislang ganz auf die Rolle von technischen Artefakten und deren Handlungspotential konzentriert, während der menschliche Körper bzw. die Frage nach der Verschränkung von technischem Artefakt und menschlichem Körper nicht explizit thematisiert wurde.75 Schubert, der sich in seinen Arbeiten schwerpunktmäßig mit der Frage nach der Beteiligung von Technik an medizinischen Handlungsvollzügen in der täglichen Praxis beschäftigt, verweist jedoch darauf, dass gerade moderne Medizin- und Biotechnologien durch die Manipulation von dinglichen Körpern wirken.76 Auch das Tragen von Prothesen wirkt sich zunächst vor allem auf den menschlichen Körper in seiner materiellen Dimension aus, denn so müssen die betreffenden Individuen ihren Körper nach einer Amputation mittels Diät, Sport, Muskelaufbauübungen, spezieller Beinstumpfgymnastik etc. ›formen‹ und ihn auf diese Weise ›prothesenkompatibel‹ machen, das heißt Prothese-Tragen erfordert spezifisch geformte Körper. Zugleich wird das technische Artefakt individuell an den jeweiligen Nutzer angepasst und daher ebenfalls in seiner Materialität modifiziert. Lucie Dalibert konzipiert medizintechnische Artefakte wie Prothesen oder auch die von ihr untersuchten Rückenmarksstimulatoren in diesem Zusammenhang und aufgrund ihrer engen, regelrecht ›intimen‹ Beziehung, welche die betreffenden Personen mit diesen eingehen (müssen), daher als ›Somatechnologien‹, das heißt als »[...] technologies that are acting on an interacting with the body.«77 Prothesen und Körper interagieren
74 Vgl. Chakkalakal, Denny: Gesund, bewusst und richtig: Ethnographie einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation, in: Kontopodis, Michalis/Niewöhner, Jörg (Hg.): Das Selbst als Netzwerk. Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag. Bielefeld: transcript 2011, S.167-197, hier: S.171; Müller, Martin: Assemblages and ActorNetworks: Rethinking Socio-material Power, Politics and Space, in: Geography Compass 9 (2015), S.27-41. 75 Vgl. Schubert, Cornelius: Die Technik operiert mit. Zur Mikroanalyse medizinischer Arbeit, in: Zeitschrift für Soziologie 40 (2011), S.174-190, hier: S.182; S. Hirschauer: Praktiken und ihre Körper, S.74. 76 Vgl. C. Schubert: Die Technik operiert mit, S.182. 77 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.151.
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aber nicht nur in ihrer materiellen Dimension miteinander, sondern ebenso wirkt sich insbesondere auch die physisch-haptische Präsenz von Prothesen und somit deren sinnlich wahrnehmbare Qualität wie beispielsweise ihre Oberflächenbeschaffenheit, Geräusche oder auch Gerüche, die vom medizintechnischen Artefakt ausgehen, auf deren körperlich-leibliche Integration durch die betreffenden Individuen im Sinne technogenen Embodiments aus, wie ich im Verlauf meiner Forschung festgestellt habe. Die Frage nach der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung (Hören, Riechen, Fühlen, Sehen) sowie der leiblichen Interaktion von Menschen mit technischen Artefakten wurde von der ANT bislang jedoch ebenfalls nicht berücksichtigt. So kritisiert beispielsweise der Soziologe Tobias Röhl, dass »[i]n equally treating humans and non-humans as actors, ANT and its symmetric vocabulary ignore some of their differences. While this allows ANT to trace the agency of objects, this creates a world without bodies and bodily sensations and the embodied and sensory dimension of material objects is disregarded.«78
Allerdings stehen gegenwärtig innerhalb der internationalen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung für die Analyse des (praktischen) Zusammenspiels von technischen Artefakten und sinnlicher Wahrnehmung sowie körperlichleiblichen Empfindens nur bedingt theoretische Instrumentarien zur Verfügung wie unter anderem die beiden Soziologinnen Sophia Prinz und Hanna Katharina Göbel in dem von ihnen 2015 herausgegebenen Sammelband »Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur« konstatieren.79 Auch auf dem 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde im Juli 2015 in Zürich, der unter dem übergreifenden Thema »Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt« abgehalten wurde und bei dem ich im Rahmen eines Vortrages mein Forschungsprojekt präsentiert habe, stand diese ›theoretische Leerstelle‹ immer wieder zur Debatte.80 Die Problematik besteht dabei vor allem
78 Röhl, Tobias: From witnessing to recording – material objects and the epistemic configuration of science classes, in: Pedagogy, Culture & Society 20 (2012), S.49-70, hier: S.51/52. 79 Vgl. S. Prinz/H. K. Göbel: Die Sinnlichkeit des Sozialen, S.13. 80 Der dgv-Kongress fand vom 22. bis 25. Juli 2015 in Zürich statt. Ich habe im Rahmen des Panels »Technogene Körperlichkeit« einen Vortrag gehalten mit dem Titel »›Irgendwie so dumpf halt…‹ – Beinprothesenträger und die materielle Einkörperung von Technik«. Im November 2015 wurde ich darüber hinaus für einen Vortrag ins STSForschungslabor »Körper-Technologien-Praktiken« am Institut für Europäische Eth-
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darin, dass praxistheoretische Ansätze, zu denen die ANT gezählt wird, und phänomenologische Konzepte bislang unvereinbar schienen, da Vertreter der Praxistheorie bzw. ANT davon ausgehen, dass jegliche Entitäten wie Menschen, Dinge, Körper etc. erst aus spezifischen Praktiken, das heißt aus ›Praxis‹ heraus entstehen und immer nur so sind wie sie in Praxis gemacht oder enacted werden. Vertreter phänomenologischer Ansätze betrachten Menschen, Dinge, Körper etc. und damit verbunden auch Körpererleben im Sinne von Leiblichkeit demgegenüber als etwas a priori Gesetztes, das nicht erst in Praxis hervorgebracht wird, sondern im Zentrum der phänomenologischen Analyse steht vielmehr die Frage nach einem essentiellen körperlich-leiblichen In-der-Welt-Sein des Menschen.81 Speziell der Soziologe und Philosoph Thomas Bedorf plädiert jedoch dafür, künftig praxistheoretische und phänomenologische Ansätze konsequenter zusammenzudenken, allerdings merkt auch er an, dass für derartige Analysen bislang kaum theoretisches Vokabular zur Verfügung steht, denn »[d]ie Konturen eines Theoriedialogs von Praxistheorie und Phänomenologie sind gezeichnet, auch wenn dessen Gestalt noch nicht erkennbar ist.«82 Dennoch lässt sich ein gegenwärtiges wachsendes Interesse an Fragen nach einer möglichen Verknüpfung von Phänomenologie und Praxistheorie beobachten, was unter anderem an der von dem Europäischen Ethnologen Stefan Beck angelegten Idee einer künftigen ›Phänopraxie‹83 oder auch an dem von den beiden Techniksoziologen Werner Rammert und Cornelius Schubert gemachten Vorschlag einer ›Techno-
nologie der Humboldt-Universität zu Berlin eingeladen, wo ich die Möglichkeit hatte, derartige Fragen unter anderem mit den Europäischen Ethnologen Jörg Niewöhner, Martina Klausner und Estrid Sørensen, die schwerpunktmäßig im Bereich Science and Technology Studies sowie Medizinanthropologie arbeiten, zu diskutieren. Dabei sind wir letztlich auch hier zu dem Ergebnis gekommen, dass es derzeit noch keine einschlägigen Theorien zur expliziten Erklärung des Zusammenspiels von Körperlichkeit, Leiblichkeit und Sinnlichkeit mit (medizin-)technischen Artefakten gibt bzw. dass aktuell noch kein Konsens darüber herrscht, wie phänomenologische und praxistheoretische Konzepte in Zukunft besser zusammengedacht werden können. 81 Vgl. Klausner, Martina: Choreografien psychiatrischer Praxis. Eine ethnografische Studie zum Alltag in der Psychiatrie. Bielefeld: transcript 2015, S.188/189. 82 Bedorf, Thomas: Leibliche Praxis. Zum Körperbegriff der Praxistheorien, in: Alkemeyer, Thomas/Schürmann, Volker/Volbers, Jörg (Hg): Praxis denken. Konzepte und Kritik. Wiesbaden: Springer VS 2015, S.129-151, hier: S. 146. 83 Vgl. Niewöhner, Jörg/Kaschuba, Wolfgang: Nachruf zum Tod von Stefan Beck, in: Zeitschrift für Volkskunde 112 (2016), S.76-80, hier: S.79.
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Phänomenologie‹84 deutlich wird. Meines Erachtens bieten sich bei der Analyse technogenen Embodiments in diesem Zusammenhang ergänzend zu Herangehensweisen der ANT bzw. STS vor allem theoretische Konzepte aus dem Bereich der Post- und Neophänomenologie an, da diese ähnlich wie die ANT ein nicht allein auf Menschen beschränktes Akteursverständnis haben, ebenfalls praxistheoretisch orientiert argumentieren, verstärkt allerdings auf die sinnliche bzw. körperlich-leibliche Dimension sowie den Aspekt der Wahrnehmung im Zusammenhang mit dem Gebrauch materieller oder technischer Gegenstände fokussieren. Mensch-Medizintechnik-Beziehungen: Technogenes Embodiment im Fokus der Post- und Neophänomenologie Der Begriff Postphänomenologie wurde ursprünglich von dem US-Technikphilosophen Don Ihde geprägt, der sich ähnlich wie Bruno Latour bereits seit den 1970er Jahren intensiv mit dem Verhältnis von Mensch und Technik bzw. human-technology-relations auseinandersetzt, verstärkt jedoch unter Bezugnahme auf Merleau-Pontys Wahrnehmungsphänomenologie vor allem auf sogenannte embodiment relations im Zusammenhang mit Technikgebrauch fokussiert.85 Ihde versteht unter Postphänomenologie »[…] a particular mode of science-technology interpretation […]«86, wobei Vertreter dieser Forschungsrich-
84 Vgl. Rammert, Werner/Schubert, Cornelius: Körper und Technik. Zur doppelten Verschränkung des Sozialen. Working Paper Technische Universität Berlin 2015, S.11. Online
unter
https://www.ts.tu-berlin.de/fileadmin/i62_tstypo3/TUTS_WP_2015-
1_Technik___Koerper.pdf (Stand: 12.09.15). 85 Vgl. Ihde, Don: Technology and the Lifeworld. From Garden to Earth. Bloomington: Indiana University Press 1990; Ihde, Don: Postphenomenology. Essays in the postmodern context. Evanston: Northwestern University Press 1993; Ihde, Don: Bodies in Technology. Minneapolis: University of Minnesota Press 2002. 86 Ihde, Don: Preface: Positioning Postphenomenology, in: Rosenberger, Robert/Verbeek, Peter-Paul (Hg.): Postphenomenological Investigations. Essays on Human-Technology Relations. London: Lexington Books 2015, S.vii-1, hier: S.viii. Die Postphänomenologie als Forschungsstil ist aus einer Kritik an der ›klassischen‹ Phänomenologie und deren monolithischem sowie romantisierendem Technikverständnis einerseits sowie im Kontext des Aufblühens der Science and Technology Studies seit den 1970er Jahren andererseits hervorgegangen. Wie die beiden Technikphilosophen Robert Rosenberger und Peter-Paul Verbeek schreiben, bezeichnet sich dieser Forschungsstil deshalb als postphänomenologisch, »[…] to emphasize that it distances itself from the romanticism of classical phenomenology [and because] it aims to inte-
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tung ähnlich wie Vertreter der ANT ›klassische‹ Subjekt-Objekt-Dichotomien aufgeben und materiellen Gegenständen bzw. technischen Artefakten ebenfalls eine gewisse ›Handlungsträgerschaft‹ (agency) zuschreiben. Allerdings gehen sie nicht wie Latour von einer strikt symmetrischen Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen aus, sondern vielmehr wird agency technischen Artefakten in der Hinsicht zugeschrieben, dass sie imstande sind, die menschliche Wahrnehmung von Welt zu beeinflussen und zu transformieren. Der Analysefokus von Postphänomenologen liegt somit vor allem auf »[…] various ways in which technologies help to shape relations between human beings and the world; […].«87 Technische Artefakte werden in diesem Zusammenhang in erster Linie als ›Vermittler‹ (mediators) zwischen menschlicher Erfahrung bzw. Wahrnehmung und der sie umgebenden (Um-)Welt verstanden oder anders ausgedrückt: menschliche Wahrnehmung sowie das menschliche ›Zur-Welt-Sein‹ im phänomenologischen Sinne werden als ›technisch vermittelt‹ konzipiert. Das bedeutet, »[…] one is not directly in bodily-sensory experience present to the world, but rather via technological artefact, such as when one wears glasses, watches television, or uses a mobile phone […].«88 Vertreter der Postphänomenologie machen dabei grundsätzlich die Beziehungen, in denen Menschen und technische Artefakte miteinander verwoben sind zum zentralen Ausgangspunkt empirischer Analysen. In diesem Zusammenhang entwirft Don Ihde das Konzept einer interrelational ontolgy, die davon ausgeht, dass sich Menschen und technische Artefakte bzw. Subjekt und Objekt gegenseitig in konkret situierten Praktiken kokonstituieren, das heißt es geht darum, empirisch zu analysieren, »[…] how subjects and artefacts constitute each other in a praxis […]«.89 Dabei geht Ihde davon aus, dass »[t]echnologies transform our experience of the world and our perceptions and interpretations of our world, and we in turn become transformed in this process.«90 Der niederländische Technikphilosoph Peter-Paul Verbeek
grate science and technology in its analysis of the relations between human beings and their world.« Rosenberger, Robert/Verbeek, Peter-Paul: A Field Guide to Postphenomenology, in: Dies. (Hg.): Postphenomenological Investigations. Essays on Human-Technology Relations. London: Lexington Books 2015, S.7-43, hier: S.11. 87 R. Rosenberger/P. P. Verbeek: Postphenomenology, S.9. 88 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.173. 89 Riis, Søren: Postphenomenology: ›Festschrift‹ for Don Ihde, in: Philosophy and Social Criticism 34 (2008), S.449-457, hier: S.457; vgl. Ihde, Don: Postphenomenology and Technoscience. The Peking University Lectures. Albany: State University of New York Press 2009, S.44. 90 D. Ihde: Postphenomenology and Technoscience, S.44.
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und sein US-amerikanischer Kollege Robert Rosenberger definieren den Analysestil der Postphänomenologie in diesem Zusammenhang auch als »[…] the practical study of relations between humans and technologies, from which human subjectivities emerge, as well as meaningful worlds.«91 Ihde unterscheidet zudem verschiedene Typen von Mensch-Technik-Beziehungen, wobei im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Prothesen insbesondere die bereits erwähnten embodiment relations interessant sind, denn »[i]n embodiment relations, technology becomes part of oneʼs body and thus mediates transparently between humans and the world in terms of perception. (Herv. i. O.)«92 Lucie Dalibert knüpft in ihrer Studie zu implantierten Rückenmarksstimulatoren bzw. Prothesen ebenfalls an diese Überlegungen an, kritisiert jedoch, dass der postphänomenologische Analysefokus bislang zu stark auf der Frage lag, wie der Gebrauch von Technik die Wahrnehmung von Welt transformiere, während die Frage, inwiefern technische Artefakte die Beziehung zwischen Menschen und ihren Körpern beeinflussen eher unberücksichtigt bleibt. So erforschen nach Dalibert Vertreter der Postphänomenologie zwar intensiv, wie »[…] technological artefacts mediate the relations between humans and their world, […]«93, weitgehend unbeachtet bleibe demgegenüber jedoch die Frage nach »[…] the ways in which these technological artefacts might mediate the relations between someone and his/her body.«94 Speziell Rückenmarksstimulatoren oder eben auch Arm- und Beinprothesen als ›Somatechnologien‹ sollten nach Dalibert jedoch nicht nur als Artefakte verstanden werden, die Einfluss darauf haben, wie ein Individuum seine (Um-)Welt wahrnimmt, sondern vielmehr werde durch diese medizintechnischen Artefakte, die eng am Körper angebracht oder sogar in diesen implantiert werden, auch der Körper selbst und die Beziehung, die man zu ihm hat transformiert. ›Somatechnologien‹ sind in diesem Sinne »[…] not necessarily perceptual technologies: it is not ›merely‹ the ways in which the body, or […] embodied subject perceives the world that is altered with somatechnologies. Rather, […] the body itself and how one relates to it are transformed.«95 Ich schließe mich der Kritik von Dalibert an und greife ihre Überlegungen auf, gehe jedoch davon aus, dass sich eine postphänomenologische Herangehensweise vor allem dafür eignet, um aus einer prozessualen Perspektive genauer beschreiben zu können, wie eine Beziehung zwischen Menschen mit Beinam-
91 R. Rosenberger/P. P. Verbeek: Postphenomenology, S.12. 92 T. Röhl: From witnessing to recording, S.52. 93 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.179. 94 Ebd. 95 Ebd., S.182.
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putation und ihren medizintechnischem Artefakt Prothese in konkret situierten Praktiken zustande kommt, wie dies von meinen Forschungsteilnehmern erlebt wurde und inwiefern sich durch das Tragen von Prothesen ihre Wahrnehmung von Welt verändert hat. Darüber hinaus ergänze ich Daliberts technikphilosophische Analyse des Zusammenspiels zwischen Körper und medizintechnischem Artefakt sowie die hier beschriebene postphänomenologische Perspektive zusätzlich noch um neo- bzw. leibphänomenologische Ansätze wie sie von Robert Gugutzer vertreten werden, da sowohl innerhalb der Postphänomenologie als auch von Dalibert die leibliche Dimension und damit verbunden das leiblichaffektive Betroffensein im Zusammenhang mit dem Gebrauch (medizin-) technischer Artefakte wie Prothesen bislang nicht explizit thematisiert wurde. Robert Gugutzer vertritt dabei die Meinung, dass gerade empirische Forschungsarbeiten zu Themen der Biotechnologie oder eben auch zur Prothetik durch die Verknüpfung von ANT bzw. STS und Neophänomenologie, wie er selbst seine leibphänomenologisch ausgerichtete Soziologie bezeichnet, neue Erkenntnisse darüber generieren können, wie Interaktionen zwischen dem menschlichen Körper und technischen Apparaturen leiblich erfahren, angeeignet oder abgestoßen werden und wie die körperliche Umsetzung ge- bzw. misslingt.96 In diesem Sinne geht es darum, das leibliche Spüren in die Analyse von sozialen Interaktionen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Entitäten miteinzubeziehen, wobei der Fokus damit verbunden auch explizit auf die sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung technischer Artefakte bzw. materieller Gegenstände durch die betreffenden Individuen gerichtet wird.97 Interessant ist in diesem Zusammenhang zudem insbesondere das Konzept der ›leiblichen Kommunikation‹, bei der es sich nach Gugutzer um eine Art nonverbaler Interaktion zwischen mindestens zwei Akteuren handelt, wobei nur eine(r) der beiden Akteure notwendigerweise ein Mensch sein muss.98 Worauf es hier nach Gugutzer allein ankommt ist, dass die Art und Weise des eigenleiblichen Spürens von dem oder den Anderen geprägt wird.99 Der Mensch tritt nach Gugutzer somit nicht nur mit anderen Menschen, »[…] sondern ebenfalls mit den Dingen des sozialen Feldes, in dem er sich bewegt, in Interaktion und kann von ihnen leiblichaffektiv betroffen werden […]. (Herv. i. O.)«100 Auf diese Weise kann nach Gu-
96
Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.89-92.
97
Ebd.; S. Prinz/H. K. Göbel: Die Sinnlichkeit des Sozialen, S.30.
98
Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.35.
99
Ebd., S.59.
100 Ebd., S.128.
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gutzer eine soziale Beziehung zwischen Menschen und Dingen bzw. NichtMenschen zustande kommen, das heißt »[d]as empirische Kriterium für eine soziale Beziehung zwischen Menschen und Dingen [...] ist der Leib, genauer gesagt, das leiblich-affektive Betroffensein. Eine soziale Beziehung liegt vor, wenn einer der Akteure von dem oder den Anderen leiblich affiziert ist. [...] Dinge und Sachen werden erst durch ›leibliche Kommunikation‹ für Menschen zu sozialen Interaktionspartnern [...].«101
Am Beispiel von Trendsportlern zeigt Gugutzer dabei, wie derartige leibliche Interaktionen mit Dingen oder materiellen Artefakten zustande kommen und sich nicht nur eine soziale, sondern vor allem auch eine emotionale Ding-PersonBeziehung etablieren kann. So erweist sich beispielsweise ein Snowboard als gnadenloser Interaktionspartner, denn wer nicht die entsprechende körperliche Ausstattung wie Balancegefühl, Beweglichkeit, Bauchmuskeln etc. in die Interaktion mit einbringt, dem verweigert sich das Brett, während es umgekehrt seinen Nutzer belohnt, wenn dieser über das nötige Können verfügt.102 In der Interaktion zwischen Sportler und Snowboard bzw. in der körperlichen Praxis des Snowboard-Fahrens kann beim Sportler das Empfinden entstehen, mit seinem Sportgerät regelrecht ›verschmolzen‹ zu sein, was vor allem dann der Fall ist, wenn der Sportler mit dem Snowboard automatisiert oder habitualisiert interagiert und nicht großartig über seine körperlichen Bewegungen nachdenken muss.103 In dieser Situation ›verwächst‹ nach Gugutzer dabei nicht der menschliche Körper mit dem Snowboard, sondern vielmehr der Leib, denn die räumliche Ausgedehntheit des Körpers endet an der Hautoberfläche, während sich der leibliche Raum über den Körperlichen hinaus erstrecken kann.104 Gugutzer spricht in diesem Zusammenhang auch von ›wechselseitiger Einleibung‹, das heißt »[m]an spürt den oder das Andere unmittelbar am eigenen Leib, woraus ein ad hoc übergreifender, überindividueller Leib entsteht, der wiederum Einfluss nimmt auf den Beginn oder Fortgang der Interaktion.«105 Diese Überlegungen können
101 Gugutzer, Robert: Leibliche Interaktion mit Dingen, Sachen und Halbdingen. Zur Entgrenzung des Sozialen (nicht nur) im Sport, in: Prinz, Sophia/Göbel, Hanna Katharina (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld: transcript 2015, S.105-123, hier: S.107. 102 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.129. 103 Ebd. 104 Ebd., S.130. 105 Ebd.
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schließlich auch auf die Erforschung technogenen Embodiments im Falle von Beinprothesenträgern übertragen werden, wie ich anhand meines empirischen Materials in den Kapiteln 3, 4 und 5 genauer darstellen werde. Speziell Beinprothesen stellen nun allerdings technische Artefakte dar, die sich durch eine spezifische Qualität auszeichnen. Denn im Gegensatz zu anderen materiellen Objekten werden Prothesen nicht nur gebraucht, sondern vielmehr wird mit ihnen auch gelebt.106 Um zufrieden mit einer Prothese leben zu können und diese nicht nur körperlich, sondern auch leiblich als Teil von sich selbst empfinden zu können, müssen sich die betreffenden Personen erfolgreich mit ihrem technisch modifizierten Körper identifizieren können. Hierbei spielen vor allem Faktoren wie Geschlecht, Alter, Reaktionen der sozialen Umwelt sowie nahestehender Personen, aber auch gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen von Behinderung eine bedeutende Rolle, die bei der Analyse technogenen Embodiments ebenfalls berücksichtigt werden müssen. So verweist unter anderem auch Steven Kurzman darauf, dass »[…] amputees phenomenologically incorporate prostheses into their bodies within specific social contexts and constraints.«107 In diesem Zusammenhang greife ich zur Erforschung technogenen Embodiments schließlich auch noch auf theoretische Aspekte der Disability Studies zurück, um genauer untersuchen zu können, inwiefern sich Beinprothesenträger selbst als behindert wahrnehmen bzw. von anderen Personen als behindert angesehen werden, welche Rolle hierbei das medizintechnische Artefakt Prothese spielt und wie damit verbunden wiederum die Möglichkeiten bzw. Grenzen von technisiert erfahrbarer Körperlichkeit und Leiblichkeit bedingt werden. Behinderung neu denken: Technogenes Embodiment aus Sicht der Disability Studies Wie ich bereits im einführenden Kapitel meiner Arbeit erwähnt habe, handelt es sich bei den Disability Studies um eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die aus den internationalen Behindertenrechtsbewegungen der 1960er/70er Jahre zunächst in Großbritannien und den USA hervorgegangen ist, mittlerweile jedoch auch im deutschsprachigen Raum zunehmend an Aktualität gewinnt. Zentrales Anliegen der Disability Studies ist es, das Phänomen Behinderung aus einer neuen Perspektive kritisch zu beleuchten, wobei zwischen verschiedenen Modellen von Behinderung unterschieden wird. Zudem liegt ein wesentlicher Analysefokus damit verbunden insbesondere auf Fragen nach gesellschaftlichen und kul-
106 Vgl. auch L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies. 107 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.14.
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turellen Körperbildern bzw. Körpernormen und deren historischer Variabilität.108 Vertreter der Disability Studies kritisieren dabei vor allem das sogenannte medizinische oder individuelle Modell von Behinderung, welches sich im Zuge der zunehmenden Professionalisierung der Naturwissenschaften und Schulmedizin in euro-amerikanischen Gesellschaften seit dem 18./19. Jahrhundert etabliert hat und Behinderung in einem biologischen Sinne in erster Linie mit körperlicher/kognitiver Einschränkung gleichsetzt und sie als persönliches, schicksalhaftes Unglück deutet, das individuell zu bewältigen sei und der medizinischtherapeutischen Behandlung bedürfe.109 Wie der deutsche Disability-Forscher Markus Dederich betont ist das, was in euro-amerikanischen Gesellschaften unter Behinderung verstanden wird seither untrennbar mit medizinischen Klassifikationsprozessen verbunden und somit mit einer spezifischen, historisch und kulturell bedingten, wirklichkeitsmächtigen Form von Wissen.110 Behinderung wird in diesem Zusammenhang oftmals auch mit Krankheit assoziiert und im gesellschaftlichen Verständnis dementsprechend als defizitärer, leidvoller Zustand wahrgenommen. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass in internationalen Klassifikationssystemen, die seit 1948 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt werden, Behinderung bis 1980 nicht von Krankheit unterschieden wurde.111 Bereits Mitte der 1970er Jahre kritisierten jedoch Aktivisten der aufblühenden Behindertenrechtsbewegungen in Großbritannien eine derartige medizinische Sichtweise auf Behinderung und postulierten demgegenüber, dass Behinderung in erster Linie als sozial hervorgebracht zu betrachten sei, weshalb strikt zwischen impairment als körperlicher Beeinträchtigung und disability als gesellschaftlich verursachter Behinderung differenziert wurde.112 Auf Basis dieser Un-
108 Vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.11. 109 Vgl. Waldschmidt, Anne: Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (2005), S.9-31, hier: S.17. 110 Vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.72/73. 111 Vgl. Kubanski, Dagmar: Grenzüberschreitungen im Leben von Frauen mit Behinderungen. Eine qualitative Studie zur Konstruktion von Selbstbehauptungsstrategien im Alltag behinderter Frauen im Kontext grenzüberschreitender Situationen. Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. 2012, S.20. Online-Publikation, https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/396 (Stand: 24.10.15). 112 Vgl. u.a. The Union of Physically Impaired against Segregation (UPIAS): Fundamental Principles of Disability, 1975. Online unter http://disability-studies.leeds. ac.uk/files/library/UPIAS-fundamental-principles.pdf (Stand: 17.09.15).
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terscheidung wurde schließlich von dem britischen Sozialwissenschaftler und Disability Rights-Aktivisten Michael Oliver, der zusammen mit dem 1995 verstorbenen US-Medizinsoziologen Irving K. Zola als Begründer der Disability Studies als wissenschaftlicher Disziplin gilt, in den 1980er Jahren als Gegenentwurf zum medizinischen Modell ein soziales Modell von Behinderung ausgearbeitet. Dieses geht davon aus, dass es sich bei Behinderung weniger um ein Ergebnis medizinischer Pathologie handelt, sondern vielmehr um das Produkt sozialer Organisation, das heißt »[…] Menschen werden nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigung behindert, sondern durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet.«113 Das soziale Modell von Behinderung war dabei vor allem insofern radikal und revolutionär, weil es zur Infragestellung tradierter Sichtweisen auf Behinderung geführt und nach Ansicht der deutschen Disability-Forscherin Anne Waldschmidt eine neue Perspektive ermöglicht hat, mit der Behinderung jenseits des medizinischen Paradigmas gedacht werden kann.114 Die Vorstellung von Behinderung als ›natürlichem‹ und ubiquitärem Phänomen geriet dadurch ins Wanken. 115 Mittlerweile hat jedoch auch das soziale Modell zunehmend Kritik seitens kulturwissenschaftlich ausgerichteter Vertreter der Disability Studies erfahren, die besonders die ›Körpervergessenheit‹ dieses Modells beanstanden und als Ergänzung daher für ein kulturelles Modell von Behinderung plädieren, welches nicht nur disability als soziokulturelle Konstruktion bzw. als Produkt gesellschaftlicher Prozesse versteht, sondern auch die körperliche Beeinträchtigung im Sinne von impairment, zumal aus kulturwissenschaftlicher Sicht der menschliche Körper nie allein als bloßes biologisches bzw. naturwissenschaftliches, ahistorisches Objekt begriffen werden kann.116 Wie zudem die beiden schottischen Disability-Forscher Bill Hughes und Kevin Paterson betonen, können disability und impairment in diesem Zusammenhang auch nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern vielmehr gilt es, diese in ihren Wechselwirkungen zu
113 A. Waldschmidt: Disability Studies, S.18. 114 Ebd., S.19/20. 115 Vgl. E. Bösl: Politiken der Normalisierung, S.15/16. 116 Vgl. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner: Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung. in: Waldschmidt, Anne/ Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript 2007, S.31-55, hier: S.33; M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.152.
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analysieren.117 Darüber hinaus verweisen Hughes/Paterson darauf, dass damit verbunden auch das leibliche Empfinden von als behindert klassifizierten Menschen im phänomenologischen Sinne stärker als bisher geschehen berücksichtigt werden muss, denn wie sie darstellen wird Behinderung – anders als es das soziale Modell suggeriert – sehr wohl auch im, am und durch den Körper erfahren: »Disability is experienced in, on, and through the body, […].«118 In ähnlicher Weise schreibt Steven Kurzman aus autoethnographischer Perspektive, »[d]isability may be socially produced, but it is visited upon and phenomenologically experienced through our impaired bodies.«119 Das in diesem Zusammenhang postulierte kulturelle Modell von Behinderung versteht diese somit als Konstruktion und gelebte bzw. verkörperte Erfahrung zugleich.120 Ich greife in meiner Arbeit dieses kulturalistische Verständnis von impairment-disability auf, gleichzeitig fokussiere ich damit verbunden jedoch insbesondere auch auf die Frage, welche Rolle das medizintechnische Artefakt Prothese bei der (De-)Konstruktion von Behinderung bzw. des spürbar BehindertSeins im (neo-)phänomenologischen Sinne im Leben meiner Forschungsteilnehmer spielt und inwiefern sich dies wiederum auf die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments auswirkt. Speziell die Rolle von (medizin-) technischen Artefakten im Zusammenhang mit Behinderung sowie im Hinblick auf die Erforschung des Embodiments von als behindert klassifizierten Personen wurde innerhalb der internationalen Disability Studies bisher nicht ausreichend berücksichtigt, wie unter anderem auch die norwegische Sozialanthropologin Ingunn Moser sowie die beiden niederländischen Sozial- bzw. Kulturanthropologinnen Maartje Hoogsteyns und Hilje van der Horst kritisieren. So schreibt Moser, dass »[…] until now there has not been much attention to and analysis of the role of technology in the ordering of disability […]«121 und auch Hoogsteyns/van der Horst betonen, dass bei der Erforschung von Behinderung
117 Vgl. Hughes, Bill/Paterson, Kevin: The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment, in: Disability & Society 12 (1997), S.325-340. 118 Ebd., S.335. 119 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.193. 120 Vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.152; R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.35. 121 Moser, Ingunn: Disability and the promises of technology: Technology, subjectivity and embodiment within an order of the normal, in: Information, Communication & Society 9 (2006), S.373-395, hier: S.375.
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die Rolle (medizin-)technischer Artefakte stärker als bisher geschehen in den Blick genommen werden sollte, denn so sind »[…] technical aids […], in fact, interwined with people and their lives in many complex ways […]. They are part of the way people experience their body, the activities they can perform, the way they (can) deal with their social and material environment and the way that they are looked at by themselves and others. Consequently, technical aids play an important part in the construction of what is to be (dis)abled and to related mechanisms of inand exclusion.«122
Sowohl Hoogsteyns/van der Horst als auch Moser plädieren in diesem Zusammenhang daher für eine Erweiterung der Disability Studies um praxistheoretische bzw. materiell-semiotische Herangehensweisen im Sinne der STS, um insbesondere technische Artefakte sowie Materialität im Allgemeinen in die Analyse von Behinderung miteinbeziehen zu können. Damit verbunden kann darüber hinaus genauer herausgearbeitet werden, wie Behinderung durch das Zusammenwirken verschiedener menschlicher wie nicht-menschlicher Partizipanden in konkret situierten Praktiken hervorgebracht wird, das heißt der Fokus der Analyse liegt vor allem auf der Frage, »[…] how people become, and are made, disabled – and, in particular, what role technologies and other material arrangements play in enabling and or disabling interactions […].«123 Behinderung wird aus Perspektive der STS somit weder allein auf einen körperlichen Zustand reduziert noch als allein durch bestehende soziale Barrieren hervorgerufen verstanden, sondern vielmehr als situatives Ereignis in spezifischen soziomateriellen Konstellationen konzipiert, wobei je nach Situation ganz unterschiedliche Faktoren wie die Gegebenheiten der materiellen bzw. architektonischen Umwelt, die eigene körperliche Tagesverfassung, der Tragekomfort medizintechnischer Artefakte, bürokratische Regelungen, die Reaktionen fremder Personen etc. eine Rolle spielen, die dementsprechend zu Behinderung oder auch Nicht-Behinderung führen. Ich knüpfe in meiner Arbeit an diese Überlegungen an, da auch ich im Verlauf meiner Forschung beobachtet habe, dass es sich bei Behinderung bzw. impairment-disability um ein komplexes Phänomen handelt, das auf unterschiedliche Art und Weise im Leben meiner Forschungsteilnehmer präsent ist, sich auf unterschiedliche Art und Weise auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments auswirkt und sich letztlich nicht mit einem einzigen der hier beschriebenen Modelle von Behinderung im Sinne der
122 M. Hoogsteyns/H. van der Horst: Wearing the arm, S.59. 123 I. Moser: Disability and the promises of technology, S.373.
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Disability Studies erklären lässt, sondern vielmehr eine multitheoretische bzw. multiperspektivische Betrachtungsweise erforderlich macht. Die meiner Arbeit generell zugrundeliegende Verknüpfung verschiedener Theorien ist innerhalb der Europäischen Ethnologie/Volkskunde dabei nicht ungewöhnlich und hat sich induktiv aus dem von mir erhobenen empirischen Material im Verlauf meiner Forschung als wirksames Analyseinstrumentarium im Hinblick auf die Erforschung und Beschreibung von technogenem Embodiment sowie von Post-Amputations-Alltagen herauskristallisiert. Um meinen Forschungsprozess im Allgemeinen transparent zu machen, werde ich im nachfolgenden Kapitel schließlich genauer auf mein methodisches Vorgehen und mein Forschungsdesign eingehen.
2.2
METHODISCHES VORGEHEN UND FORSCHUNGSDESIGN
Wie ich im einführenden Kapitel meiner Arbeit erwähnt habe, gibt es innerhalb der internationalen und speziell innerhalb der deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum Studien, die sich aus gegenwartszentrierter Perspektive mit dem Thema Amputation und Prothetik beschäftigen. Aus diesem Grund habe ich mich bei meinem Forschungsvorhaben für eine ethnographische, explorative Vorgehensweise und somit für ein qualitatives Forschungsdesign entschieden. Ethnographische Forschung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie ihrem Forschungsgegenstand offen gegenübertritt, das heißt der jeweilige Forscher sammelt zunächst alles an Eindrücken und Daten, das als gewinnbringend erscheint.124 Zu Beginn der Datenerhebung weiß der Forschende daher oftmals noch gar nicht genau, was er am Ende herausgefunden haben wird, sondern die einzelnen thematischen Festlegungen und explizite Forschungsfragen ergeben sich vielmehr erst schrittweise im Verlauf des Forschungsprozesses. Michael Dellwing und Robert Prus bezeichnen ethnographische Forschung in diesem Zusammenhang daher auch als einen »Sprung ins Unbekannte«.125 Auch meine beiden zentralen Analyseschwerpunkte Post-Amputations-Alltage und technogenes Embodiment sowie meine damit verbundenen forschungsleitenden Fragestellungen und mein theoretisches Gerüst haben sich in ihrer spezifischen
124 Vgl. Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK 2013, S.34. 125 Dellwing, Michael/Prus, Robert: Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. Wiesbaden: Springer VS 2012, S.10.
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Form und Ausprägung erst im Verlauf meiner Datenerhebung herauskristallisiert. Ein weiteres Charakteristikum ethnographischer Forschung besteht darüber hinaus darin, dass zur Erhebung des empirischen Materials auf eine Kombination unterschiedlicher Methoden zurückgegriffen wird. Dies hat den Vorteil, dass sich die verschiedenen Verfahren und Informationsquellen gegenseitig ergänzen und kontrollieren können.126 Eine ethnographische Vorgehensweise ist somit weniger eine Methode an sich, sondern vielmehr eine multi-methodische Forschungsstrategie, wobei sich die Auswahl der spezifischen Methoden und deren Anwendung für die vorliegende Untersuchung ebenfalls erst aus dem Forschungsprozess heraus ergeben haben und von mir auch während der Datenerhebung teilweise noch verändert und modifiziert wurden. Zudem muss stets bedacht werden, dass die verschiedenen, während des Forschungsprozesses erhobenen Daten nicht einfach so von der Forscherin bzw. vom Forscher vorgefunden, sondern vielmehr abhängig von den gemachten Beobachtungen, Interpretationen und Verschriftlichungen erst als solche produziert bzw. konstruiert werden.127 Die wesentliche Datengrundlage für die vorliegende Studie speist sich dabei vor allem aus qualitativen, leitfadengestützten Interviews unterschiedlicher Form und Ausprägung mit insgesamt elf Beinprothesenträgern, fünf Orthopädietechnikern, die auf Prothetik spezialisiert sind sowie mit dem Präsidenten des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. (BMAB). Einen weiteren großen Bestandteil des empirisch erhobenen Materials bilden zudem Feldnotizen und Protokolle, die ich auf der Grundlage von (teilnehmenden) Beobachtungen bei monatlichen Treffen von drei Selbsthilfegruppen für Prothesenträger, während einer mehrwöchigen Feldforschungsphase in einem größeren deutschen Orthopädietechnikzentrum sowie in einer deutschen Rehabilitationsklinik angefertigt habe. Darüber hinaus kamen im Verlauf meiner Forschung auch zahlreiche informelle Gespräche mit unterschiedlichen Prothesenträgern, Ärzten, Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern zustande, in denen Kontextwissen ermittelt sowie weiterführende Fragestellungen entwickelt werden konnten.128 Ergänzend wurde zur Verdichtung des Materials und zur Einordnung der Erkenntnisse in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen von mir auch medizi-
126 Vgl. Beer, Bettina: Einleitung. Feldforschungsmethoden, in: Dies. (Hg.): Methoden ethnologischer Feldforschung. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2008, S.9-37, hier: S.11. 127 Vgl. G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.9. 128 Vgl. Schlehe, Judith: Formen qualitativer ethnographischer Interviews, in: Beer, B. (Hg.): Methoden ethnologischer Feldforschung. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2008, S.119-143, hier: S.123.
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nische bzw. orthopädietechnische Fachliteratur, journalistische und Ratgeberliteratur, Werbeanzeigen und Informationsbroschüren der Prothesenbauindustrie, rechtliche Verordnungen zur Hilfsmittelversorgung und zum Thema Behinderung herangezogen. Des Weiteren wurde von mir während des gesamten Forschungsprozesses ein persönliches Forschungstagebuch geführt, in dem ich subjektive Eindrücke meinerseits, den Fortschritt der Datenerhebung und -auswertung oder theoretische und methodische Überlegungen festgehalten habe. Darüber hinaus kann mein methodisches Vorgehen (partiell) auch der sogenannten Praxeographie zugerechnet werden, die sich vor allem im Umfeld der Science and Technology Studies bzw. der gegenwartszentrierten Medizin-, Wissenschafts- und Technikforschung als methodische Strategie herausgebildet hat und die sich ähnlich wie die ›klassische‹ Ethnographie vor allem für Praktiken und Prozesse, für das genaue Wie des Alltagsvollzugs in konkreten Situationen interessiert. Dieses Interesse wird jedoch insofern radikalisiert, indem bei einer praxoegraphischen Vorgehensweise nicht nur auf menschliche Akteure oder soziale Kollektive fokussiert wird, sondern vielmehr rücken Praktiken selbst und die darin involvierten unterschiedlichen menschlichen wie nicht-menschlichen Entitäten in den Mittelpunkt der empirischen Forschung. 129 Praxeographie zielt in diesem Sinne vor allem auf »[…] die Beobachtung und Beschreibung von Akteuren und Objekten in Aktion und Interaktion […] (Herv. i. O.)«130 ab. Eine derartige methodische Herangehensweise erschien dabei gerade für die Erforschung von Post-Amputations-Alltagen und technogenem Embodiment geeignet, da auf diese Weise sowohl Prothesen als aktive Partizipanden des Tuns als auch die verschiedenen Praktiken der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge, der orthopädietechnischen Prothesenanpassung sowie der Herstellung von Alltag nach einer Amputation mit Prothese explizit empirisch bzw. praxeoethnographisch erforscht werden konnten. Wie sich die einzelnen Schritte meiner empirischen Datenerhebung und -auswertung sowie der Zugang zum Forschungsfeld Amputation und Beinprothetik dabei konkret gestaltet haben, werde ich im Folgenden genauer darstellen.
129 Vgl. Knecht, Michi: Ethnographische Praxis im Feld der Wissenschafts-, Medizinund Technikanthropologie, in: Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S.245-275, hier: S.249. 130 M. Knecht: Nach Writing Culture, mit Actor-Network, S.98.
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2.2.1 Verkörperte Feldforschung: Anthropology at home und die eigene Subjektivität im Forschungsprozess Ein zentrales methodisches Verfahren der Europäischen Ethnologie/Volkskunde und ein wichtiges Werkzeug der Gegenwartsforschung bzw. einer ethnographischen – und nicht zuletzt auch praxeographischen – Vorgehensweise stellt die sogenannte Feldforschung dar.131 Sie wird eingesetzt, um »[…] Menschen in ihren situativen oder institutionellen Kontexten beim Vollzug ihrer Praktiken zu beobachten […]«132 und hat das sinnverstehende Nachvollziehen von Wirklichkeitszusammenhängen zum Ziel.133 Feldforschung basiert dabei auf der sozialen Partizipation des Forschenden am alltäglichen Geschehen in der zu untersuchenden Gruppe bzw. Umgebung, was zur Folge hat, dass Feldforschung nur schwer vorhersehbar ist und auch nicht bis ins letzte Detail im Vorhinein geplant werden kann. Zu Beginn zeichnet sich Feldforschung daher in der Regel durch eine eher explorative Phase aus, sie wird jedoch im Laufe des Forschungsprozesses mit zunehmender Verdichtung des erhobenen Datenmaterials zugespitzt und präzisiert.134 Im Sinne des US-amerikanischen Anthropologen George E. Marcus habe ich mich im Rahmen meines Forschungsprojektes dabei für einen sogenannten multi-sited-approach bzw. für eine multilokale Vorgehensweise entschieden, das heißt im Unterschied zur stationären Ein-Ort-Feldforschung über eine lange Zeitspanne von meist mehreren Monaten oder sogar Jahren hinweg, wurden von mir mehrere Feldforschungsorte lokalisiert, die ich über einen Zeitraum von zwei Jahren regelmäßig und meist für kürzere Stippvisiten, die von einem Abend bis zu mehreren Wochen dauern konnten, aufgesucht habe.135 So waren meine
131 Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta: Feldforschung. Kulturanalyse durch teilnehmende Beobachtung, in: Göttsch, S./Lehmann, A. (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2007, S.219-249, hier: S.219. 132 G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.7. 133 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Feldforschung, S.219. 134 Ebd., S.229. 135 Vgl. Marcus, George E.: Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S.95-117; vgl. auch B. Schmidt-Lauber: Feldforschung, S.228. Nach Schmidt-Lauber ist dieses Vorgehen nicht ungewöhnlich für europäisch-ethnologische bzw. volkskundliche Arbeiten, zumal sich die Feldforschungsmethode der Europäischen Ethnologie/Volkskunde im Gegensatz zu derjenigen der Ethnologie/Völkerkunde weniger durch eine dauerhafte, stationäre Feldforschung im ›fremden‹, außereuropäischen
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zentralen Forschungsorte in erster Linie drei Selbsthilfegruppen für Prothesenträger in Deutschland, ein größeres deutsches Orthopädietechnikzentrum sowie eine deutsche Rehabilitationsklinik und nicht zuletzt das jeweilige Zuhause meiner verschiedenen Gesprächs- und Interviewpartner, wobei sich Phasen intensiver Feldforschung mit Phasen theoretischer Aufarbeitung der bereits erhobenen Daten am Schreibtisch abgewechselt haben. Die Volkskundlerin Gisela Welz spricht im Zusammenhang mit einer derartigen Vorgehensweise auch von einer Temporalisierung der Feldforschung.136 In ähnlicher Weise bezeichnet die Sozialanthropologin Helen Wulff ein solches Vorgehen als yo-yo-fieldwork, wobei sie als einen zentralen Vorteil von temporalisierter Feldforschung ansieht, dass zwischen Feldaufenthalt und Rückkehr an den Schreibtisch erste Ergebnisse der Forschung bereits auf Tagungen präsentiert oder mit Kollegen diskutiert werden können. Diese Zwischenphasen nennt sie daher off-fieldwork, denn »[t]he fieldworker is temporarily physically away from the field, but not mentally. The fieldwork is still going on through information and communication technologies when I am at home.«137 Auch ich habe im Verlauf meiner Forschung verschiedene, für mein Dissertationsprojekt relevante Tagungen, Workshops sowie Podiumsdiskussionen besucht, auf denen ich mich mit anderen Personen und Wissenschaftlern, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen, austauschen konnte, was ich als fruchtbaren Anreiz für die weitere Konkretisierung meines Forschungsvorhabens empfunden habe und wodurch sich mein Forschungsfeld gewissermaßen auch über die konkreten lokalen Forschungsorte, an denen ich explizit Feldforschung betrieben habe, hinaus erweitert hat. Die Zusammensetzung des jeweiligen Forschungsfeldes als Ort der interaktiven Wissensproduktion hängt dabei von unterschiedlichen Faktoren und nicht zuletzt auch von der Person des Forschenden ab. Vor allem in den 1990er Jahren wurde innerhalb der internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften der Glaube an die Stabilität und Unveränderlichkeit eines einmal ausgemachten For-
Terrain auszeichnet, sondern vielmehr durch eher kurzfristige Feldaufenthalte im gesellschaftlichen Nahbereich, ein stetes Pendeln in das bzw. aus dem Feld und eine stärkere Intervieworientierung. 136 Vgl. Welz, Gisela: Die Pragmatik ethnografischer Temporalisierung. Neue Formen der Zeitorganisation in der Feldforschung, in: Hess, S./Moser, J./Schwertl, M. (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin: Reimer 2013, S.39-55, hier: S.39/40. 137 Wulff, Helena: Yo-yo Fieldwork: Mobility and Time in a Multi-Local Study of Dance in Ireland, in: Anthropological Journal on European Cultures, issue on Shifting Grounds: Experiments in Doing Ethnography 11 (2002), S.117-136, hier: S.122.
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schungsfeldes allmählich aufgegeben. Vielmehr wird seitdem die prozesshafte, situationsbedingte und vor allem auch forschersubjektive Konstruktion des Feldes im Verlauf der Feldforschung betont.138 Denn so hängt es maßgeblich vom Interesse des Forschers bzw. der Forscherin ab, welche Personen, Institutionen, Gegenstände, Lokalitäten etc. in das Projekt miteinbezogen werden sollen, das heißt das jeweilige Forschungsfeld kann dementsprechend ganz unterschiedlich zusammengesetzt sein. In diesem Sinne erfolgt die »[…] Konstruktion des Feldes […] durch Praktiken der Feldforscherin, ihre Interaktionen mit und Beziehungen zu Gegenstand, Ort(en) und Teilnehmerinnen der Forschung.«139 Die von mir in meiner Untersuchung verfolgte Fragestellung schafft somit erst ein spezifisches Feld mit einem bestimmten thematischen Profil, »[…] das sich so [unter] anderen Erkenntnisbedingungen [...] nicht wiederfindet.«140 Die beiden Volkskundlerinnen Sabine Hess und Maria Schwertl plädieren daher dafür, die gesamte Feldforschung an sich als konstruktivistisches Projekt in Netzwerken aufzufassen, womit gemeint ist, dass sich das Forschungsfeld vor allem durch eine spezifische Prozesshaftigkeit auszeichnet, es handelt sich um eine Assemblage unterschiedlicher Konnektivitäten, welche die Forscherin bzw. der Forscher herzustellen vermag.141 Die Konstruktion ›meines‹ Forschungsfeldes für die vorliegende Untersuchung hing somit auch im Wesentlichen von meiner eigenen Person, von den von mir verfolgten Fragestellungen, durchgeführten Beobachtungen und Gesprächen sowie den von mir einbezogenen Materialien und Interviewpartnern ab. In diesem Zusammenhang hat sich ›mein‹ Forschungsfeld im Verlauf der Datenerhebung auch immer wieder abwechslungsweise erweitert oder verengt, es wurden neue Konnektivitäten geschlossen, andere dagegen wiederum aufgegeben. Insgesamt kann die vorliegende Arbeit dabei zum Bereich der sogenannten Anthropology at home gezählt werden. Das bedeutet, dass ich Feldforschung in der ›eigenen‹ Gesellschaft, sozusagen vor der eigenen Haustür betrieben habe. Meine Gesprächspartner und Forschungsteilnehmer stellten Beinprothesenträger, Orthopädietechniker, Physiotherapeuten, Ärzte etc. dar, mit denen ich in derselben Gesellschaft lebe. Allerdings habe ich nie selbst die körperlich-leibliche Er-
138 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.44. 139 Ebd. 140 W. Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie, S.199. 141 Vgl. Hess, Sabine/Schwertl, Maria: Vom ›Feld‹ zur ›Assemblage‹? Perspektiven europäisch-ethnologischer Methodenentwicklung – eine Hinleitung, in: Hess, S./ Moser, J./Schwertl, M. (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin: Reimer 2013, S.13-39, hier: S.31.
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fahrung einer Gliedmaßenamputation gemacht, ich habe nie am eigenen Körper bzw. Leib erfahren, was es heißt mit einer Prothese zu leben und ich fand mich folglich auch noch nie mit der (gesellschaftlichen) Zuschreibung zur Kategorie Behinderung konfrontiert. Mich der Binnenperspektive von Beinprothesenträgern anzunähern, schien damit rein physisch ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, denn die von ihnen gemachten Erfahrungen sind mir letztendlich ›fremd‹. Darüber hinaus habe ich vor Beginn meines Dissertationsprojektes weder jemals eine Rehabilitationsklinik für Menschen mit Beinamputation noch ein Orthopädietechnikzentrum aufgesucht, sodass mir die dortigen Abläufe ebenfalls nicht bekannt bzw. fremd waren. Daneben musste ich mir im Verlauf meiner Datenerhebung insbesondere verschiedene rehabilitationsklinische, medizinische sowie orthopädietechnische Fachbegriffe und somit gewissermaßen eine ›neue Sprache‹ aneignen, um meine Forschungsteilnehmer angemessen verstehen und aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Beinprothetik und Gesundheitspolitik nachvollziehen zu können. Aufgrund dieser Ausgangsbedingungen hat sich jedoch die von Stefan Hirschauer beschriebene methodische ›Befremdung‹ des weitgehend Vertrauten, die in der Regel bei Forschungen in der ›eigenen‹ Gesellschaft notwendig ist, um als gegeben betrachtete Selbstverständlichkeiten und Routinen überhaupt kritisch hinterfragen zu können, im Falle meines Forschungsprojektes letztendlich von selbst erübrigt.142 Dabei muss jedoch betont werden, dass ich meine unterschiedlichen Forschungsteilnehmer nicht als ›Fremde in der eigenen Gesellschaft‹ verstehe, denn dadurch besteht die Gefahr des sogenannten Othering bzw. Exotisierens oder der VerAnderung143, indem von mir als Forscherin eine klare Grenze zwischen dem scheinbar ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ gezogen würde. Vielmehr betrachte ich die von mir befragten und beobachteten Beinprothesenträger, Orthopädietechniker, Phyiostherapeuten etc. als kollaborative Forschungsteilnehmer, die mir Einblick in ihr jeweiliges Leben, ihren Beruf, in ihre unterschiedlichen Erfahrungen und somit in mir bis dato unbekannte Bereiche gewährt haben, weshalb sie in diesem Sinne zusammen mit mir an der Produktion neuen volkskundlich-ethnologischen Wissens beteiligt
142 Vgl. Hirschauer, Stefan: Verstehen des Fremden, Exotisierung des Eigenen. Ethnologie und Soziologie als zwei Seiten der Medaillen, in: Bierschenk, T./Krings, M./Lentz, C. (Hg.): Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin: Reimer 2013, S.229-249, hier: S.236. 143 Der Begriff ›VerAnderung‹ wurde vor allem von der Kultursoziologin Julia Reuter geprägt. Vgl. Reuter, Julia: Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld: transcript 2011.
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waren.144 Darüber hinaus erschien es mir angesichts des von mir gewählten Forschungsgegenstandes als sinnvoll, meine eigene Subjektivität und Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit im Forschungsprozess verstärkt zu reflektieren, um auf diese Weise als gegeben betrachtete (verkörperte) Selbstverständlichkeiten und Kategorien kritisch zu hinterfragen, denn »[c]onsidering the anthropologist as an embodied participant also allows the problematisation of the anthropologistʼs own experience as a serious object of analysis. […] So embodied experience in the field can also inform us about our own embodiment and what we take for granted and do without reflection.«145
Wie sich dabei mein erster Zugang zum Forschungsfeld und die Lokalisierung unterschiedlicher Forschungsorte nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern auch körperlich-leiblich gestaltet hat, steht schließlich im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen. 2.2.2 Auf der Suche nach Prothesenträgern: Der Zugang zum Feld Wo finde ich Prothesenträger? Und wie kann ich mit diesen in Kontakt treten? Diese Fragen stellten sich mir zu Beginn meiner Forschung. Da weder ich noch mein Freundeskreis Beinprothesenträger kannten, verschaffte ich mir zunächst über das Internet einen Überblick über mögliche organisatorische Strukturen von Hilfsangeboten wie zentralen Verbänden, Selbsthilfegruppen etc. Dabei stieß ich
144 Vgl. M. Knecht: Nach Writing Culture, mit Actor-Network, S.96. Mit ›kollaborativ‹ meine ich dabei in erster Linie eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen mir als Forscherin und meinen Forschungsteilnehmern, das heißt wir haben uns zusammen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Forschungsfeld bewegt und dort durch unser Interagieren gemeinsam empirisches Material produziert, wobei die Analyse, Auswertung und Verschriftlichung des empirischen Materials von mir allein vorgenommen wurde, es fand in diesem Sinne keine Ko-Interpretation bzw. kollaborative Verschriftlichung der Daten durch Forscherin und Forschungsteilnehmer statt wie es unter anderem der US-Anthropologe Luke Eric Lasiter für eine kollaborative Ethnographie einfordert. Vgl. u.a. Lassiter, Luke Eric: Collaborative Ethnography and Public Anthropology, in: Current Anthropology 46 (2005), S.83106. 145 Turner, Aaron: Embodied ethnography. Doing culture, in: Social Anthropology 8 (2000), S.51-60, hier: S.55/56.
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unter anderem auf die Homepage des 2009 gegründeten Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. (BMAB).146 Der Verband versteht sich als zentrale Interessensvertretung, er betreibt Lobbyarbeit, um die Öffentlichkeit und vor allem auch die Politik für die Belange von Menschen mit Amputation bzw. Prothesenträgern zu sensibilisieren, er tritt ein für die Verbesserung der allgemeinen prothetischen Versorgung, klärt auf über rechtliche Ansprüche von Prothesenträgern und organisiert verschiedene Workshops sowie Aufklärungsveranstaltungen.147 Darüber hinaus werden auf der VerbandsHomepage sämtliche Selbsthilfegruppen für Prothesenträger, die in Deutschland bestehen, aufgelistet. Zum Zeitpunkt meiner Recherchen im Sommer 2013 wurden dort 57 entsprechende Gruppen genannt, wobei diese Aufzählung als unvollständig betrachtet werden muss, da eine Selbsthilfegruppe, mit der ich während meiner Forschung in Kontakt stand, dort (noch) nicht aufgelistet wurde. Dennoch war meine Ausgangsfrage ›Wo finde ich Prothesenträger?‹ fürʼs Erste beantwortet, denn ich hatte beschlossen, mit einer der Selbsthilfegruppen Kontakt aufzunehmen, in der Hoffnung mir auf diese Weise einen ersten Zugang zum Forschungsfeld zu verschaffen. »Wir nehmen auch Zweibeiner auf«: Selbsthilfegruppen für Prothesenträger als Ausgangspunkt der (Feld-)Forschung Meine Wahl fiel auf eine Selbsthilfegruppe, die mit 45 Mitgliedern über eine relativ große Anzahl an Prothesenträgern beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Altersklassen verfügte, wie ich bei meinen Recherchen auf der Homepage der Selbsthilfegruppe ausfindig machen konnte und was von mir als gute Möglichkeit gesehen wurde, dort tatsächlich potentielle Interviewpartner gewinnen zu können. Ein weiterer Vorteil dieser Gruppe erschien mir, dass auf der Homepage verschiedene Kooperationspartner wie Orthopädietechniker, Physiotherapeuten, Ärzte, Sanitätshäuser etc. aufgelistet wurden, weshalb ich vermutete, dass ich über diese Selbsthilfegruppe im Allgemeinen hilfreiche Kontakte für mein Forschungsprojekt würde knüpfen können. Die Selbsthilfegruppe wird im Folgenden als Selbsthilfegruppe 1 (SHG 1) bezeichnet. Nach einem kurzen Telefongespräch im Juni 2013 mit Martina Schubert 148, der Leiterin der Gruppe, befand ich mich bereits zwei Tage später auf dem Weg
146 Vgl. Homepage des BMAB, http://www.bmab.de/ (Stand: 26.05.13). 147 Ebd. 148 Alle Namen von Personen, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung zu tun hatte und die in dieser Arbeit erwähnt werden, wurden pseudonymisiert. Eine Ausnahme bildet Dieter Jüptner, der Präsident des Bundesverbandes für Menschen mit Arm-
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zu meinem ersten Selbsthilfegruppentreffen für Prothesenträger. Als ich die Gaststätte betrat, in der die monatlichen Treffen stattfinden, war ich sehr nervös, meine Hände waren schwitzig und mein Herz klopfte ziemlich schnell. Ich wusste nicht, wie die verschiedenen Selbsthilfegruppenmitglieder auf mich reagieren würden, zumal ich in gewisser Weise auch ›Angst‹ davor hatte, in ein Fettnäpfchen zu treten, was die Begriffe Behinderung und behindert betraf, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ob sich Prothesenträger selbst als behindert bezeichnen oder nicht. Ich wollte daher keine Kategorien von außen an sie herantragen. Nachdem ich von Martina Schubert jedoch sogleich freundlich begrüßt wurde, legte sich meine anfängliche Nervosität ein wenig. Sie machte mir den Vorschlag, dass ich mich kurz vorstellen und mein Vorhaben erläutern solle, woraufhin ich den anwesenden Selbsthilfegruppenmitgliedern erklärt habe, weshalb ich am Treffen teilnehme. Nach der Vorstellungsrunde hatte ich dabei das Gefühl, von einigen Selbsthilfegruppenmitgliedern etwas kritisch beäugt zu werden. So wurde ich beispielsweise von einer etwa Ende 60-jährigen Frau, die neben mir am Tisch saß, gefragt »Man sieht, dass Sie keine Prothese tragen. Darf ich Sie fragen, was Sie dann überhaupt hier wollen?« Ich habe ihr daher mein Dissertationsvorhaben nochmals kurz erklärt und ihr erzählt, dass mich vor allem die Frage interessiert, was es heißt, in Deutschland nach einer Amputation mit Beinprothese zu leben. Daraufhin begann sie schließlich, mir ihre Amputationsgeschichte zu erzählen. Gleichzeitig habe ich mich jedoch gefragt, woran die Frau gemerkt hatte, dass ich keine Prothesenträgerin bin, zumal ich an diesem Abend eine lange Jeanshose, ein langärmeliges Sweatshirt und geschlossene Schuhe getragen habe. Lag es daran, dass ich im Vergleich zu den meisten anwesenden Selbsthilfegruppenmitgliedern die Treppe, die zum Gaststättenraum führte, recht flott hoch und herunter laufen konnte, ohne mich dabei am Treppengeländer oder auf einem Gehstock abstützen zu müssen? Oder lag es vielleicht daran, dass ich beim Gehen nicht humpelte? Da mir die oben genannte Frage im weiteren Verlauf meiner Forschung immer wieder auch von anderen Prothesenträgern gestellt wurde oder ich bei Selbsthilfegruppentreffen teilweise mit den Worten »Wir nehmen auch Zweibeiner auf« begrüßt wurde, vermute ich,
oder Beinamputation e.V. (BMAB), mit dessen Einverständnis ich seinen realen Namen in meiner Arbeit verwenden darf. Ebenfalls nicht namentlich genannt werden zudem die Rehabilitationsklinik sowie das Orthopädietechnikzentrum, in dem ich meine Feldforschung durchgeführt habe. Allerdings besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Personen, mit denen ich in Kontakt stand, dennoch herauslesen können, um welche Einrichtungen bzw. Personen es sich handelt. Dies war meinen Forschungsteilnehmern jedoch von Anbeginn bekannt.
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dass mich die Frau tatsächlich anhand meiner äußerlichen körperlichen Erscheinung bzw. meiner Körperbewegungen auf den ersten Blick als NichtProthesenträgerin identifiziert hatte. Dies verdeutlicht aber auch in exemplarischer Weise, dass (wechselseitige) Zuschreibungs- und Differenzierungsprozesse vor allem zunächst über die visuelle Wahrnehmung des menschlichen Körpers ablaufen, denn wenn Menschen einander begegnen, dann begegnen sich zuallererst Körper.149 Der Kontakt zu einer zweiten Selbsthilfegruppe für Prothesenträger kam schließlich ebenfalls über Martina Schubert zustande. Auch die Selbsthilfegruppe 2 (SHG 2) wurde von ihr ins Leben gerufen, die Leitung hat sie mittlerweile jedoch anderweitig abgegeben. Auf die dritte Selbsthilfegruppe (SHG 3) bin ich dagegen eher zufällig durch eine öffentliche Anzeige im Februar 2014 aufmerksam geworden, in dem die Neugründung der Gruppe durch Erika Tamm angekündigt wurde. Die Kontaktaufnahme und das erste Zusammentreffen mit den Selbsthilfegruppen 2 und 3 liefen dabei ähnlich ab wie mit der ersten Gruppe. Zu Beginn der Treffen habe ich mich und mein Vorhaben jeweils kurz vorgestellt, sodass allen Selbsthilfegruppenmitgliedern von Anfang an bekannt war, dass ich Europäische Ethnologin bzw. Kulturwissenschaftlerin bin, die zum Thema Alltag und Leben als Prothesenträger forscht. Da ich selbst allerdings relativ jung aussehe, hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich von den verschiedenen Selbsthilfegruppenmitgliedern zunächst weniger in der Rolle der ›forschenden Wissenschaftlerin‹, sondern eher in der Rolle der ›interessierten Studentin‹ gesehen wurde. Dies tat der Datenerhebung an sich jedoch keinen Abbruch, zumal auch Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Boris Nieswand betonen, dass es gerade die Rolle des ›lernwilligen Neulings‹ ist, mit der sich Ethnographen am besten in Forschungsfelder einführen und an Gesprächspartner herantasten können, da diese Kategorie für die meisten Informanten vertraut ist, denn sie haben sich selbst bereits das ein oder andere Mal in ihrem Leben in der Rolle des fragenstellenden Novizen befunden, sei es während einer Lehrlingsausbildung in einem Betrieb oder eben in der Situation als ›Frisch-Amputierter‹ bzw. ›Neu-Prothesenträger‹.150 Im Verlauf meiner Forschung wurde meine Anwesenheit bei den verschiedenen Gruppentreffen jedoch allmählich zur Selbstverständlichkeit, ich wurde irgendwann von den Meisten mit ›Du‹ angesprochen und in die jeweiligen E-Mail-Verteiler aufgenommen. Dass ich im ethnologischen Sinne somit gewisse ›Mitspielkompetenzen‹ und den Status eines ›QuasiMitglieds‹ erworben hatte, wurde auch daran deutlich, dass ich, je mehr Informa-
149 Vgl. R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.41. 150 Vgl. G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.66.
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tionen ich durch meine verschiedenen Recherchen gesammelt habe, von verschiedenen Selbsthilfegruppenmitgliedern ab und an auch gefragt wurde, ob ich zu einem bestimmten Prothesenmodell oder zu gesetzlichen Rahmenbedingungen etc. Genaueres wisse. Allerdings endete meine ›Mitwisserschaft‹ letztlich immer wieder an meiner eigenen Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit, was mir vor allem dann bewusst wurde, wenn sich Prothesenträger beispielsweise über Druckschmerzen am Beinstumpf unterhielten, denn diese Erfahrung kann und konnte ich körperlich-leiblich nicht nachempfinden. Dies galt es daher, sich im Forschungsprozess stets vor Augen zu halten. Zusammenfassend kann jedoch festgehalten werden, dass die verschiedenen Selbsthilfegruppen eine ideale Ausgangsbasis für den weiteren Zugang zum Forschungsfeld darstellten, denn so konnten von mir auf diese Weise erste Interviewpartner ausgewählt werden. Zudem war es mir damit verbunden auch möglich, im Sommer 2014 ein Sportcamp für Prothesenträger zu besuchen, welches von den Selbsthilfegruppen 1 und 2 gemeinsam veranstaltet wurde. Dort konnten die Selbsthilfegruppenmitglieder unter der Anleitung namhafter ParalympicsAthleten Sportprothesen austesten, während ich mich mit den verschiedenen Teilnehmern wie auch Paralympics-Sportlern austauschen und auf diese Weise weitere Einsichten in den Umgang der betreffenden Personen mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese gewinnen konnte. Weitere Prothesenträger, die nicht Mitglied in einer Selbsthilfegruppe sind, habe ich schließlich während meiner Feldforschungsphasen in einem größeren deutschen Orthopädietechnikzentrum und einer Rehabilitationsklinik kennengelernt, zu welchen der Kontakt ebenfalls über Martina Schubert, die Leiterin der SHG 1, zustande kam und die sich für mich somit letztlich als zentrale gatekeeperin erweisen sollte. Unterwegs als Orthopädietechnik- und Rehaklinikpraktikantin Bereits während der ersten Selbsthilfegruppentreffen, an denen ich teilgenommen habe, fiel mir auf, dass regelmäßige Besuche im Orthopädietechnikzentrum einen festen Bestandteil im Leben von Prothesenträgern darstellen. Ich wollte den Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung daher genauer erforschen. Wie erleben Prothesenträger die Zeit im Orthopädietechnikzentrum? Wie gehen Orthopädietechniker und Prothesenträger einerseits miteinander und andererseits mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese um? Wie wird die Verbindung zwischen Prothese und Menschen mit Beinamputation im Orthopädietechnikzentrum praktisch hergestellt und welche Rolle spielt der Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen von technisiert erfahrbarer Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit? Diese Fragen sollten mich bei meiner weiteren Feldforschung leiten.
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Im Juli 2013 hatte ich dabei die Möglichkeit, Martina Schubert, die seit 2004 aufgrund eines Motorradunfalls links knieexamputiert sowie an der linken Hand teilamputiert ist, mit zur Prothesenanpassung ins Orthopädietechnikzentrum zu begleiten. Dort habe ich den Orthopädietechnikermeister Karl Bergmann kennengelernt, über den ich einen mehrwöchigen Forschungsaufenthalt für Februar/März 2014 organisieren konnte. Meine Feldforschung im Orthopädietechnikzentrum lief dabei offiziell unter der Bezeichnung ›Praktikum‹, das heißt mir wurde institutionell die Rolle der Orthopädietechnikpraktikantin zugeschrieben. Dies spiegelte sich auch in meiner Kleidung wider, denn so wurde ich bereits vor Antritt meines ›Praktikums‹ von Karl Bergmann per Mail darum gebeten, wie alle anderen Mitarbeiter des Orthopädietechnikzentrums auch, in weißer Hose und weißem Oberteil zu erscheinen. Weiß hat sich dabei seit dem 19. Jahrhundert in euro-amerikanischen Gesellschaften als die Kleidungsfarbe von Mitarbeitern in sogenannten Gesundheitsberufen herausgebildet und stellt heutzutage vor allem das Erkennungssymbol von Ärzten und Ärztinnen dar.151 Auch die Orthopädietechnik wird in Deutschland offiziell zum Bereich der Gesundheitsfachberufe bzw. des Gesundheitshandwerks gezählt, sodass die Wahl der Farbe Weiß im Hinblick auf die berufsspezifische Kleidung nicht verwunderlich scheint.152 Visuell verdeutlich wurde die mir im Orthopädietechnikzentrum zugeschriebene Rolle zusätzlich auch noch durch ein entsprechendes Namensschild mit dem Hinweis ›Praktikantin‹, das ich an mein Oberteil heften sollte. In meiner Rolle als Orthopädietechnikpraktikantin war es mir dabei möglich, einen umfassenden Einblick in die Arbeit als Orthopädietechniker bzw. Prothetiker zu bekommen und damit verbunden den Prozess der Prothesenversorgung von Menschen mit Beinamputation aus praxeographischer Perspektive genauer zu untersuchen. Ich war zudem beim Anpassen von Gipsabdrücken für Prothesenschäfte teilweise selbst aktiv beteiligt, ich durfte Druckstellen an Beinstümpfen mit Edding oder Lippenstift anzeichnen, war bei Besuchen von Prothesenträgern im Altersheim dabei oder habe Orthopädietechniker zu Erstgesprächen ins Krankenhaus begleitet, wo diese Personen, denen erst vor Kurzem ein Bein amputiert wurde, über die mögliche Versorgung mit Prothesen und potentielle Rehakliniken aufgeklärt haben. Zudem hatte ich die Möglichkeit, nicht nur mit Orthopädietechnikern zu
151 Vgl. zur Kulturgeschichte des weißen Arztkittels Blumhagen, Dan W.: The doctorʼs white coat: The image of the physician in modern America, in: Annals of Internal Medicine 91 (1979), S.111-116; vgl. auch K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.53/54. 152 Vgl. Homepage Zentralverband des Deutschen Handwerks, http://www.zdh.de/ themen/soziale-sicherungssysteme/gesundheitshandwerke.html (Stand: 06.01.15).
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sprechen, die auf Prothetik spezialisiert sind, sondern auch mit unterschiedlichen Prothesenträgern, sodass ich auf diese Weise weitere Interviewpartner ausfindig machen konnte. Neben dieser Feldforschungsphase im Orthopädietechnikzentrum, habe ich im März 2015 schließlich auch noch eine Woche lang in einer deutschen Rehabilitationsklinik hospitiert, die unter anderem auf Menschen mit Beinamputation spezialisiert ist und dementsprechend Gehschultraining mit Prothese anbietet. Zentrale Ansprechpartnerin während meines Forschungsaufenthaltes war dabei die Physiotherapeutin und Leiterin der Gehschule Simone Kunzmann, zu der mir Martina Schubert den Kontakt vermittelt hatte und die selbst aufgrund eines Motorradunfalls links oberschenkelamputiert ist. In der Rehaklinik habe ich somit nicht nur informative Einblicke in die organisatorischen Strukturen und Abläufe des Klinikalltags und die damit verbundenen Rehabilitationsmaßnahmen für Prothesenträger bekommen, sondern auch in den persönlichen Berufsalltag von Simone Kunzmann als Prothesenträgerin. Ähnlich wie im Orthopädietechnikzentrum lief auch meine Anwesenheit in der Rehaklinik offiziell unter der Bezeichnung ›Praktikum‹, was sich diesmal jedoch nicht im Tragen der berufsspezifischen Klinikkleidung äußerte, sondern im Unterzeichnen verschiedener Formulare wie beispielsweise dem ›Personaldatenblatt Praktikanten‹. Die Rehaklinik als Ort der Feldforschung erschien mir dabei gerade deshalb interessant, da ich aufgrund bereits durchgeführter Gespräche mit Prothesenträgern sowie von mir durchgesehener Ratgeberbroschüren davon ausging, dass in der Rehaklinik explizit mit der ›Wiederherstellung‹ von Alltag nach einer Beinamputation begonnen wird und somit als selbstverständlich wahrgenommene Alltagsroutinen kritisch hinterfragt werden können. Dabei interessierte mich in Anlehnung an Katrin Amelang vor allem die Frage, wie die betreffenden Personen in der Rehaklinik auf das Leben bzw. den Alltag nach der Amputation vorbereitet werden und wie Alltag in der Rehaklinik überhaupt verhandelt wird.153 Damit verbunden vermutete ich zudem, dass in der Rehaklinik besonders gut erforscht werden könne, inwiefern es Menschen gelingt, nach einer Amputation das medizintechnische Artefakt Prothese im Sinne technogenen Embodiments körperlich-leiblich zu integrieren und wie den betreffenden Personen der praktische Umgang damit durch das rehabilitationsklinische Personal vermittelt wird. Ursprünglich hatte ich auch noch eine weitere Feldforschungsphase in einer deutschen Amputationsklinik vorgesehen, nach einigem Hin und Her sowie diversen Mail-Wechseln mit der Pflegedienstleitung wurde mir jedoch letztendlich der Zugang zur Klinik verwehrt. Die Absage wurde mir dabei offiziell aus orga-
153 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.83.
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nisatorischen Gründen erteilt, was vermutlich auch damit zusammenhing, dass sich die Klinik zur Zeit meiner Anfrage im September 2014 in einer Phase der Umstrukturierung befand und in Zukunft weniger auf Amputationschirurgie, sondern verstärkt auf Schmerztherapie fokussieren will, wie ich im Nachhinein von verschiedenen Orthopädietechnikern und Prothesenträgern erfahren habe. Zugleich wird daran aber auch in gewisser Weise die aktuelle Lage der Amputationsmedizin in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum erkenntlich, denn so fristet die Amputationschirurgie im Vergleich zu anderen medizinischen Fachdisziplinen »[…] oft genug ein Mauerblümchendasein […]«154 wie der Orthopäde René Baumgartner und der Orthopädietechnikermeister Pierre Botta schreiben. So gibt es trotz der doch beträchtlichen Anzahl an jährlich durchgeführten Amputationen in Deutschland kaum auf Amputationschirurgie spezialisierte Kliniken, weshalb in den Kliniken selbst oftmals auch keine Aufklärung darüber stattfindet, wie es für die betreffenden Personen nach der Amputation weitergeht, welche Möglichkeiten der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge sowie der prothetischen Versorgung oder im Hinblick auf soziale Hilfsleistungen bestehen. Das Werk »Amputation und Prothesenversorgung« von Baumgartner/Botta kann zudem als das Standardwerk im Bereich der medizinischen und orthopädietechnischen Fachliteratur angesehen werden, zudem stellt es mehr oder weniger auch das einzige umfassende Werk zu diesem Themenkomplex dar, wie meine Literaturrecherchen ergeben haben, weshalb es seit Jahren immer wieder neu aufgelegt und überarbeitet wird. 155 Zusammenfassend kann schließlich festgehalten werden, dass mir meine beiden Feldforschungsaufenthalte im Orthopädietechnikzentrum und der Rehaklinik nicht nur wichtige Einblicke in die aktuelle medizinische sowie orthopädietechnische Versorgungslage von Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträgern in Deutschland gegeben haben, sondern vielmehr konnte ich dadurch insbesondere aus praxeo-ethnographischer Perspektive genauer erforschen, mittels
154 Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung. Indikationsstellung, operative Technik, Nachbehandlung, Funktionstraining, Rehabilitation. Dritte, vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme 2008, S.7. 155 2008 ist das Werk von Baumgartner/Botta in der dritten, überarbeiteten und seither aktuellsten Auflage erschienen, wobei es sich insgesamt aus drei bereits früher veröffentlichten Werken der beiden Autoren zusammensetzt: Amputation und Prothesenversorgung der unteren Extremität (1989), Amputation und Prothesenversorgung der oberen Extremität (1997) sowie Physiotherapie und Sport nach Beinamputation (2000).
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welcher Praktiken Alltag nach einer Amputation innerhalb klinischer bzw. auch orthopädietechnischer Settings regelrecht eingeübt wird, wie eine Verbindung zwischen Menschen mit Beinamputation und medizintechnischem Artefakt Prothese praktisch hervorgebracht wird, wie sich damit verbunden das komplexe körperlich-leibliche und nicht zuletzt auch sinnliche Zusammenspiel zwischen Menschen und Nicht-Menschen gestaltet und wie dies letztendlich von meinen Forschungsteilnehmern erlebt wurde. Wie sich nun meine Datenerhebung im Forschungsfeld konkret gestaltet hat, werde ich im nächsten Kapitel genauer erläutern. 2.2.3 Praktiken der Datenerhebung: Teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews Als eine Schlüsselmethode der ethnographischen Forschung bzw. der volkskundlich-ethnologischen Feldforschung wird die teilnehmende Beobachtung angesehen, mit der Feldforschung nach Brigitta Schmidt-Lauber oftmals auch gleichgesetzt wird.156 Teilnehmende Beobachtung zeichnet sich dabei in der Regel durch die unmittelbare Teilnahme des Forschenden am alltäglichen sozialen Leben im jeweiligen Untersuchungsfeld aus, wobei jedoch gleichzeitig die analytische Distanz gewahrt werden muss, um ein going native, also eine Überidentifikation mit dem Forschungsfeld und die Aufgabe der Beobachterrolle, zu vermeiden.157 Es gilt daher, das ›richtige‹ Maß zwischen Nähe und Distanz zu wahren. Ein Problem, das sich mir in dieser Hinsicht stellte, war dabei weniger die Gefahr einer übermäßigen Identifikation mit dem Forschungsfeld, sondern vielmehr die bereits in Kapitel 2.2.1 erörterte Frage, inwiefern es mir als nicht-beinamputierter bzw. nicht-prothesentragender Forscherin überhaupt möglich sein würde, mich der Binnensicht von Prothesenträgern anzunähern. Damit verbunden variierte schließlich auch die Intensität der teilnehmenden Beobachtung dahingehend, dass ich in manchen Situationen wie beispielsweise den verschiedenen Aktivitäten oder Selbsthilfegruppentreffen von Prothesenträgern eher bloße bzw. nichtteilnehmende Beobachterin war, während es mir in anderen Situationen leichter fiel, sozusagen in die Rolle der beobachtenden Teilnehmerin zu schlüpfen. Vor allem in meiner Rolle als Orthopädietechnik- und Rehaklinikpraktikantin war ich – wie beschrieben – teilweise selbst aktiv an verschiedenen orthopädietechnischen oder physiotherapeutischen Tätigkeiten wie dem Anzeichnen von Druckstellen an Beinstümpfen oder bei Gehübungen mit Prothese beteiligt. Während
156 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Feldforschung, S.220. 157 Ebd.
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meiner Forschungsaufenthalte im Orthopädietechnikzentrum und der Rehaklinik habe ich jedoch versucht, die dortigen Abläufe zumindest annähernd auch aus der Perspektive von Prothesenträgern zu sehen, indem ich immer wieder meine Beobachterposition gewechselt habe. So habe ich mich beispielsweise im Orthopädietechnikzentrum wie alle anderen Wartenden auch, im Wartebereich auf einer der Wartebänke platziert. Dabei habe ich bewusst auf das Tragen der weißen Kleidung verzichtet, um nicht sofort als Orthopädietechnikpraktikantin aufzufallen. Stattdessen war ich mit Jeans und T-Shirt bekleidet. Ähnlich wie es Katrin Amelang für ihren Feldforschungsaufenthalt in einem deutschen Transplantationszentrum beschrieben hat, ging es auch mir darum, durch das Variieren und Wiederholen von Beobachtungspositionen einzelne Situationen, Interaktionen und Gespräche miteinander vergleichen und auf diese Weise Routinen und Selbstverständlichkeiten herausarbeiten zu können.158 Amelang bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf den von der dänischen Kulturanthropologin Gitte Wind geprägten Begriff der negotiated interactive observation und versteht darunter, dass die »[…] Position der Feldforscherin […] Ergebnis kontinuierlicher Verhandlungen darüber [ist], wann und wie Beobachtungen und Interaktionen stattfinden oder auch nicht […]. […] Positionierung meint hier die Bearbeitung des Feldes durch die Forscherin, um es beobachten zu können, [wobei] […] Strategien der praktischen Bearbeitung des Feldes […] während der Feldforschung eher situativ und pragmatisch angewendet als von langer Hand geplant [werden].«159
Je nach Gelegenheit, habe ich somit meine Beobachterposition im Orthopädietechnikzentrum und der Rehaklinik gewechselt, um die dortigen Geschehnisse und Abläufe aus möglichst vielen Blickwinkeln erfassen zu können. Während der (teilnehmenden) Beobachtungen im Orthopädietechnikzentrum, der Rehaklinik wie auch bei Aktivitäten und Treffen der von mir besuchten Selbsthilfegruppen, wurden von mir darüber hinaus jeweils stichpunktartig Feldnotizen auf einem Block notiert, die ich anschließend bzw. möglichst zeitnah in ausführlichen Beobachtungsprotokollen ausformuliert habe. Beobachtungsprotokolle sollten dabei idealerweise so vollständig sein, dass sich der Forscher bzw. die Forscherin auch noch Monate später ein lebendiges Bild der beobachteten Ereignisse vor Augen rufen kann.160 Das Verfassen von Feldnotizen während der verschiedenen
158 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.56. 159 Ebd., S.54. 160 Vgl. G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.98.
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von mir besuchten Selbsthilfegruppentreffen für Prothesenträger war in diesem Zusammenhang kein ›Problem‹, das heißt ich konnte offen mit meinem Notizblock am Tisch sitzen, da viele der SHG-Mitglieder selbst häufig ein Notizbuch mitbrachten, um sich Informationen, Ratschläge etc. aufzuschreiben. Während meiner Feldforschung im Orthopädietechnikzentrum und in der Rehaklinik dagegen habe ich mich immer wieder kurz ins jeweilige Kaffeezimmer des Personals zurückgezogen, um meine Beobachtungen und Eindrücke stichpunktartig festzuhalten. Bereits bei der Anfertigung von Feldnotizen und insbesondere bei der Transformation derselben in ausführliche Beobachtungsprotokolle findet allerdings ein erster Schritt der Interpretation und Selektion durch den Forschenden statt, indem dieser (bewusst oder unbewusst) entscheidet, was er beobachtet bzw. sich notiert und was nicht. Darüber hinaus handelt es sich bei der Verschriftlichung der im Feld gemachten Beobachtungen auch um einen ersten Schritt der Distanzierung, der jedoch notwendig ist, um das gesammelte empirische Material so aufzubereiten, dass dieses reflexiv-analytisch durchdrungen werden kann.161 Zudem muss im Sinne des interpretativen Paradigmas bedacht werden, dass es sich bei den von mir beobachteten Situationen lediglich um Ausschnitte sozialer Wirklichkeit handelt, die nicht einfach als gegebene (soziale) Tatsachen verstanden werden können, sondern vielmehr werden diese erst von den jeweiligen menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanden durch Kommunikation und Interaktion situationsspezifisch konstruiert und hervorgebracht. Gegenstand teilnehmender Beobachtungen sind somit vor allem sogenannte ›Konstruktionen erster Ordnung‹. Bei der Niederschrift der gemachten Beobachtungen in Feldnotizen und Protokollen handelt es sich letztlich um die (wissenschaftliche) Rekonstruktion dieser ›Konstruktionen erster Ordnung‹ und um ein Entwickeln von Interpretationen ›zweiter Ordnung‹, wobei eine notwendige Reduktion der Komplexität des Gesehenen und bereits eine erste Typisierung stattfinden.162 Bei der Ausformulierung meiner Beobachtungsprotokolle habe ich jedoch darauf geachtet, (reine) Beschreibung und meine subjektiven Eindrücke sowie erste Ideen, weiterführende Fragen oder Hinweise auf andere Protokolle, das heißt sogenannte analytical notes, die beim Niederschreiben der
161 Ebd., S.42-44. 162 Vgl. Schlücker, Karin: Vom Text zum Wissen. Positionen und Probleme qualitativer Forschung. Konstanz: UVK 2008, S.53-60; Streck, Rebekka/Unterkofler, Ursula/Reinecke-Terner, Anja: Das ›Fremdwerden‹ eigener Beobachtungsprotokolle ̶ Rekonstruktionen von Schreibpraxen als methodische Reflexion, in: Forum Qualitative Sozialforschung 14 (2013), ohne Paginierung, http://www.qualitative-research. net/index.php/fqs/article/view/1821 (Stand: 06:02.14).
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gemachten Beobachtungen bereits aufkommen können, inhaltlich voneinander zu trennen, was von mir zudem durch das Verwenden unterschiedlicher Schriftarten visuell verdeutlicht wurde. Neben der teilnehmenden Beobachtungen habe ich im Verlauf meiner Forschung des Weiteren qualitative Interviews mit insgesamt elf Beinprothesenträgern, mit dem Präsidenten des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. sowie mit fünf Orthopädietechnikern, die auf Prothetik spezialisiert sind, durchgeführt. Qualitative Interviews orientieren sich nach Anne Honer und Brigitta Schmidt-Lauber am Bedeutungssystem der jeweiligen Gesprächspartner, weshalb sich mit dieser Methode im Vergleich zu quantitativen Forschungsinstrumenten wie beispielsweise strukturierten Fragebögen die Komplexität sozialer Wirklichkeit und individueller Erfahrung besser erfassen lässt.163 Es muss jedoch bedacht werden, dass Interviews nicht Erfahrungen bzw. Erlebtes selbst wiedergeben, sondern vielmehr handelt es sich um die Rekonstruktion von Erfahrungen durch die jeweiligen Gesprächspartner.164 Im Falle von Beinprothesenträgern habe ich mich dabei für das Durchführen problem- bzw. themenzentrierter Interviews165 entschieden. Ein wesentlicher Grund für die Wahl dieser Interviewform bestand darin, dass mich im Rahmen meines Projektes letztlich das Leben nach einer Amputation mit Prothese und nicht die gesamte Lebensgeschichte der betreffenden Person von Geburt an interessierte, weshalb auf das Durchführen narrativer bzw. biographischer Interviews verzichtet wurde. Beim themenzentrierten Interview handelt es sich um ein (offenes) theoriegenerierendes Verfahren, das eine möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmun-
163 Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens, in: Göttsch, S./Lehmann, A. (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2007, S.169-189.; Honer, Anne: Kleine Leiblichkeiten. Erkundungen in Lebenswelten. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 164 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.183. 165 In der vorliegenden Arbeit wird statt ›problemzentriert‹ der Begriff ›themenzentriert‹ verwendet, denn es geht bei dieser Interviewform darum, auf einen thematischen Fokus zu verweisen, der nicht zwangsläufig ein Problem darstellen muss. Vgl. hierzu auch J. Schlehe: Ethnographische Interviews, S.126.
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gen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität zum Ziel hat. 166 Entsprechende Kommunikationsstrukturen sollen nach Andreas Witzel zum einen Anreiz zur Darstellung der subjektiven ›Problemsicht‹ geben, zum anderen werden die angeregten Narrationen durch Dialoge ergänzt, die Resultat leitfadengestützter Nachfragen sind.167 Der entsprechende Leitfaden fungiert dabei in erster Linie als Gedächtnisstütze bzw. Orientierungsrahmen und dient zur Sicherung der Vergleichbarkeit der Interviews.168 Er wurde von mir auf der Basis intensiver Literatur- und Internetrecherchen zum Thema Amputation und Beinprothetik sowie auf der Grundlage von Fragen und Überlegungen, die sich aus ersten informellen Gesprächen mit Prothesenträgern sowie (teilnehmenden) Beobachtungen bei Selbsthilfegruppentreffen und im Orthopädietechnikzentrum ergeben haben, erstellt. Der genaue Gesprächstermin mit meinen Interviewpartnern wurde entweder telefonisch oder per E-Mail vereinbart. Dabei habe ich meinen Interviewpartnern nochmals kurz mein Forschungsinteresse sowie den Ablauf und die ungefähre Dauer des Interviews dargelegt und damit verbunden das Einverständnis zur Aufnahme des Interviews mithilfe eines Aufnahmegerätes eingeholt. Gleichzeitig habe ich bereits hier die Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung sämtlicher Daten zugesichert. Die Wahl des Ortes, an dem das Interview durchgeführt wurde, habe ich meinen jeweiligen Gesprächspartnern überlassen. Nach Schmidt-Lauber sollte der Ort der Erhebung den Befragten möglichst vertraut sein, um einerseits eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen sowie andererseits zugleich einen Einblick in die alltäglichen Lebensformen bzw. in die private Sphäre der Interviewpartner zu bekommen.169 In diesem Zusammenhang fanden bis auf vier Ausnahmen, die Gespräche mit Prothesenträgern bei diesen zuhause statt. Ein Interview wurde am Arbeitsplatz meines Interviewpartners durchgeführt, drei weitere Interviews fanden in Restaurants bzw. Cafés statt. Das erste Interview wurde von mir im November 2013 mit einem damals 52-jährigen Prothesenträger durchgeführt, den ich im Rahmen eines Selbsthilfegruppentreffens kennengelernt und der sich mir sogleich selbst als Gesprächspartner angeboten hatte. Die restlichen Interviews fanden zwischen Mai 2014 und Februar 2015 statt.
166 Vgl. Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview, in: Forum Qualitative Sozialforschung 1 (2000), S.1, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/ view/%201132/2519 (Stand: 10.08.13). 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.178.
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Eine Interviewsituation begann dabei mit meiner Ankunft bei den jeweiligen Interviewpartnern zuhause bzw. am ausgemachten Treffpunkt. Vor Beginn des Interviews und vor Einschalten des Aufnahmegerätes habe ich versucht, für die Gesprächspartner eine angenehme, lockere Atmosphäre zu schaffen. Dies wurde damit erreicht, indem zunächst ohne Aufnahmegerät ein kurzer Smalltalk geführt wurde. Anschließend habe ich meinen Interviewpartnern nochmals den Ablauf des Interviews erklärt und darauf hingewiesen, dass mich ihre ganz persönliche Sicht der Dinge interessiert, das heißt sämtliche Erfahrungen, die sie in ihrem Leben als Prothesenträger bisher gemacht haben bzw. machen, weshalb ich sie während des Gesprächs auch nicht großartig unterbrechen würde. Nach Brigitta Schmidt-Lauber ist es bei der Durchführung qualitativer Interviews besonders wichtig, die Befragten als Experten ihres Lebens anzusprechen.170 Auch Andreas Witzel weist darauf hin, dass es sich beim problem- bzw. themenzentrierten Interview um ein diskursiv-dialogisches Verfahren handelt, das die Befragten als Experten ihrer Orientierungen und Handlungen begreift.171 Nachdem ich anschließend das Aufnahmegerät auf den Tisch gelegt und eingeschaltet hatte, konnte mit dem jeweiligen Interview begonnen werden. Dabei haben alle meiner Gesprächspartner zuvor in die Aufnahme des Gesprächs eingewilligt. Wichtig bei der Durchführung themenzentrierter Interviews ist die sogenannte erzählgenerierende Einstiegsfrage, die möglichst offen gestellt sein soll, damit der Gesprächspartner zum längeren Erzählen angeregt und ihm ein weitgehend uneingeschränkter Beantwortungsspielraum gegeben wird. Gleichzeitig wird damit aber auch das thematische Feld für das Gespräch abgesteckt und eine gewisse Vorstrukturierung gegeben.172 Von mir wurde in diesem Sinne folgende Einstiegsfrage gewählt: ›Bitte erzählen Sie mir, was heißt es für Sie, mit einer Prothese zu leben?‹ Diese Frage ist trotz der darin enthaltenen Fokussierung auf das Leben als Prothesenträger noch so offen formuliert, dass meine Gesprächspartner letztlich selbst entscheiden konnten, mit welchem Aspekt oder Zeitpunkt in ihrem Leben sie beginnen wollten. Im weiteren Verlauf des Gesprächs habe ich versucht, möglichst wenig zu intervenieren und lediglich durch ›Mhm‹ oder Kopfnicken mein Interesse zu bekunden, um den Gesprächsfluss aufrecht zu erhalten. Während der Interviews habe ich mir dabei kurze Stichpunkte zum Gesagten auf einem Block notiert, auf die ich nach Beendigung der Einstiegserzählung näher eingehen konnte. Die Einstiegserzählungen wurden dabei meist mit Aussprüchen wie ›Haben Sie noch Fragen dazu?‹, ›Ist das so ein erster Einstieg
170 Ebd. 171 Vgl. A. Witzel: Problemzentriertes Interview, S.3. 172 Ebd.; vgl. auch V. Kalitzkus: Leben durch den Tod, S.34.
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jetzt mal?‹ oder durch mehrere Sekunden andauerndes Schweigen beendet. Dies war für mich das ausschlaggebende Moment, um erste Nachfragen zu stellen. Beim themenzentrierten Interview wird dabei im Hinblick auf das Stellen von Nachfragen zwischen sogenannter Allgemeiner Sondierung, Spezifischer Sondierung sowie Ad-Hoc-Fragen unterschieden. Nachfragen im Rahmen der Allgemeinen Sondierung beziehen sich auf thematische Aspekte, die in der auf die Einstiegsfrage folgenden Erzählsequenz angesprochen wurden, zu denen der Forschende jedoch noch genauere Details einfordern will. Diese Nachfragen dienen einer sukzessiven Offenlegung der subjektiven Problem- bzw. Themensicht, wobei allerdings Warum-Fragen vermieden werden sollten.173 Anschließend können Nachfragen im Sinne der Spezifischen Sondierung gestellt werden, die sich ebenfalls auf das bereits Erzählte beziehen und auch keine WarumFragen beinhalten sollten. Diese Nachfragen unterteilen sich wiederum in Zurückspiegelung, Verständnisfragen und Konfrontation. Bei der Zurückspiegelung unterbreitet der Interviewer mit eigenen Worten den Befragten ein Interpretationsangebot der gemachten Äußerungen, während Verständnisfragen dazu dienen, widersprüchliche Antworten oder ausweichende Äußerungen zu thematisieren. Mit Konfrontation ist schließlich gemeint, den Befragten mit eventuell aufgetretenen Widersprüchen, Unerklärtem etc. zu konfrontieren.174 Erst nach dieser Allgemeinen und Spezifischen Sondierung dürfen vom Forschenden Fragen aus dem Leitfaden bzw. sogenannte Ad-Hoc-Fragen im Sinne von Wieso-WeshalbWarum-Fragen gestellt werden, die notwendig sind, wenn bestimmte Themenbereiche, die zur Vergleichbarkeit der Interviews wichtig sind, in der bisherigen Erzählung ausgeklammert wurden. Durch das Weglassen des Einen und das Erzählen des Anderen wird jedoch auch deutlich, was meine Interviewpartner überhaupt als erwähnenswert erachteten und was nicht. Am Ende jedes Interviews habe ich meine Gesprächspartner schließlich gebeten, nochmals Bilanz über ihr (Alltags-)Leben als Prothesenträger zu ziehen, zudem habe ich die Frage gestellt, ob es noch Themen gäbe, die wir bisher noch nicht angesprochen hätten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, nochmals über das Gesagte zu reflektieren und dieses gegebenenfalls zu ergänzen. Anschließend habe ich das Ende des offiziellen Teils verbal durch Sätze wie ›So ich denke, wir haben jetzt alles‹ angekündigt und den Recorder ausgeschaltet, um mich mit meinen Gesprächspartnern auch noch ohne Aufnahmegerät unterhalten zu können. Dabei kam es teilweise vor, dass, sobald das Aufnahmegerät aus war, meine Gesprächspartner doch nochmals einige interessante Aspekte ansprachen, die im Interview selbst
173 Vgl. A. Witzel: Problemzentriertes Interview, S.4. 174 Ebd.
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noch nicht thematisiert worden sind. Diese Punkte habe ich mir auf meinem Block notiert und anschließend im Gesprächs- bzw. Gedächtnisprotokoll, welches ich zu jedem Interview angefertigt habe, ausformuliert. Insgesamt hatten die Interviews selbst eine Länge von ca. 1,5 bis 2,5 Stunden, wobei die gesamte Interviewsituation meist zwischen zwei und fünf Stunden dauerte. Nach jedem Interview habe ich meine Gesprächspartner zudem gebeten, einen von mir erstellten Kurzfragebogen auszufüllen, der Angaben zu Alter, Amputationsursache und -höhe, Prothesenmodell, Familienstand, Beruf etc. enthielt. Die auf diese Weise entstandenen Informantenkarteien ermöglichten mir schließlich die Aufstellung eines vergleichbaren Sets an Daten zu den verschiedenen Interviewpartnern.175 Als Ergänzung zu den von mir durchgeführten themenzentrierten Interviews mit Beinprothesenträgern habe ich auch ein Experteninterview mit dem Vorsitzenden des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V., Dieter Jüptner, durchgeführt, der selbst eine Beinprothese trägt. Der Status als Experte ist dabei im Grunde relativ und wird vom Forschenden verliehen.176 Letztendlich müssen Beinprothesenträger selbst als jeweilige Experten für ihr Alltagsleben angesehen werden. Da jedoch das sogenannte Experteninterview anders als das themenzentrierte Interview nicht in erster Linie auf egozentrierte Erfahrungen, auf Selbsterlebtes der Gesprächspartner, sondern vielmehr auf die Rekonstruktion von bei den jeweiligen Informanten vermuteten, besonderen Wissensbeständen fokussiert, habe ich mich aus forschungspraktischen Gründen dazu entschieden, mit dem Präsidenten des Bundesverbandes ein Experteninterview durchzuführen.177 Ziel dieses Interviews war es, genauere Informationen über die allgemeine medizinische und orthopädietechnische Versorgung von Prothesenträgern in Deutschland sowie damit verbundene politische und rechtliche Rahmenbedingungen zu erhalten. Es ging mir hier also nicht in erster Linie um die Eruierung einer individuellen Biographie, sondern vielmehr sollte der Verbandsvorsitzende im Sinne eines Experten als Funktionsträger innerhalb ei-
175 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.180/181. 176 Vgl. Meuser, Michael/Nagel, Ulrike: Experteninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht: ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. in: Garz, H./Kraimer, K. (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen: Westdt. Verlag 1991, S.441-471, hier: S.442-445. 177 Vgl. Honer, Anne: Das explorative Interview: zur Rekonstruktion der Relevanzen von Expertinnen und anderen Leuten, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 20 (1994), S.623-640, hier: S.633.
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nes institutionellen bzw. organisatorischen Kontextes angesprochen werden. Ähnlich wie das themenzentrierte Interview zeichnet sich das Experteninterview ebenfalls durch eine relativ offene Form der Durchführung aus, das heißt es geht nicht nur um die bloße Rekonstruktion spezifischer Wissensbestände, sondern vielmehr soll mittels eines situationsflexibel gehandhabten Leitfadens auch situativ-subjektiven Themensetzungen und Relevanzstrukturen der Gesprächspartner weitgehend Rechnung getragen werden.178 Ein gelegentliches Abgleiten der Gesprächspartner in private Dinge ist nach Anne Honer daher weniger als Störung des Interviews aufzufassen denn als Chance, den Datenfundus zu erweitern.179 Der entsprechende Leitfaden wurde von mir dabei auf der Grundlage intensiver Literaturrecherchen, bereits durchgeführter Interviews und informeller Gespräche mit Prothesenträgern und Orthopädietechnikern sowie gemachter Beobachtungen bei Selbsthilfegruppentreffen erstellt. Per E-Mail wurde mit Dieter Jüptner ein Interviewtermin vereinbart, die Rahmenbedingungen abgeklärt sowie mein Forschungsinteresse dargelegt. Das Gespräch selbst fand schließlich bei Dieter Jüptner zuhause statt und dauerte ca. 1,5 Stunden, wobei die gesamte Gesprächssituation etwa drei Stunden umfasste. Das Interview wurde mit einer weitgehend offen formulierten Fragestellung eingeleitet, die der Stimulierung einer selbstläufigen Sachverhaltsdarstellung dienen sollte. Anschließend wurden durch sogenannte immanente und exmanente Nachfragen Anreize zu ergänzenden Detaillierungen bzw. zur spezifischen Sachverhaltsdarstellung gegeben.180 Insgesamt ist auch bei der Durchführung von Experteninterviews darauf zu achten, dass diese nicht als stereotype Frage-Antwort-Schemata gehandhabt werden, sondern vielmehr sollte der Interviewpartner möglichst dazu stimuliert werden, etwas von seinem Erfahrungswissen preiszugeben und seine Deutungen zu präsentieren. Im letzten Teil des Interviews kann der Gesprächspartner durch gezieltes Nachfragen schließlich nochmals dazu angeregt werden, konkrete Einschätzungen vorzunehmen, Schlüsse zu ziehen oder allgemeine Diagnosen zu wagen, das heißt es soll Deutungswissen generiert werden.181 Neben themenzentrierten Interviews mit Beinprothesenträgern und dem Experteninterview mit Dieter Jüptner wurden von mir schließlich auch noch fokussierte Interviews mit fünf Orthopädietechnikern durchgeführt. Diese Interviewform
178 Ebd. 179 Ebd. 180 Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg 2008, S.131-138. 181 Ebd.
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ist im Gegensatz zu themenzentrierten Interviews durch eine stärkere Fokussierung auf einen bestimmten Gesprächsgegenstand gekennzeichnet und wurde ursprünglich in den 1940er Jahren im Zusammenhang mit Kommunikationsforschung und Propagandaanalyse von Robert Merton und Patricia Kendall entwickelt.182 Als neuere Variante fokussierter Interviews können nach Christel Hopf solche Interviews gelten, die im Rahmen teilnehmender Beobachtung durchgeführt werden.183 Die Interviews mit den einzelnen Orthopädietechnikern kamen dabei während meines Feldforschungsaufenthaltes bzw. kürzerer Stippvisiten im Orthopädietechnikzentrum zustande und dauerten zwischen 30 Minuten und 1,5 Stunden. Im Sinne des fokussierten Interviews wurde von mir auf Basis der im Orthopädietechnikzentrum gemachten Beobachtungen ein Gesprächsleitfaden erstellt, der während der Interviews offen und flexibel gehandhabt wurde, um den Befragten die Chance zu geben, auch nicht antizipierte Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen.184 Der Leitfaden beinhaltete vor allem Fragen zur Arbeit als Orthopädietechniker bzw. Prothetiker, zu (aktuellen) Entwicklungen in der Prothesentechnik sowie zur prothetischen Versorgung von Menschen mit Gliedmaßenamputation im Allgemeinen. Ein Interview fand dabei in einem der Anproberäume des Orthopädietechnikzentrums statt, zwei Interviews wurden im Raum für Ganganalyse im Kellergeschoss des Gebäudes durchgeführt, zwei weitere Interviews fanden schließlich in einer Art Abstellraum für orthopädietechnische Hilfsmittel ebenfalls im Kellergeschoss statt. Die Auswahl sämtlicher Interviewpartner für die vorliegende Untersuchung erfolgte nach theoretischem Sampling in Kombination mit dem Prinzip eines Schneeballsystems.185 Im Falle der von mir interviewten Beinprothesenträger ergaben sich die ersten beiden Interviewpartner in diesem Zusammenhang über eine der drei Selbsthilfegruppen. Weitere Kontakte zu potentiellen Interviewpartnern wurden schließlich über die Mitglieder der drei Selbsthilfegruppen, Empfehlungen aus meinem weiteren Bekanntenkreis sowie während meiner Feldforschungsphase im Orthopädietechnikzentrum hergestellt. Ein weiterer, mir vorher nicht bekannter Beinprothesenträger, der über das Internet von meinem
182 Vgl. Hopf, Christel: Qualitative Interviews – ein Überblick, in: Flick, U./Von Kardoff, E./Steinke, I. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Achte Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S.349-360, hier: S.353. 183 Ebd. 184 Ebd., S.353/354. 185 Vgl. A. Przyborski/M. Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S.177; B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.173.
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Forschungsprojekt erfahren hatte, hat sich zudem per E-Mail von selbst bei mir als möglicher Interviewpartner vorgeschlagen. Anhand erster Auswertungsergebnisse infolge bereits durchgeführter Interviews wurde im Rahmen eines theoretischen Samplings dann schließlich festgelegt, mit welchen weiteren Personen tatsächlich Kontakt aufgenommen werden sollte. Insgesamt wurde bei der Auswahl der Interviewpartner im Falle von Beinprothesenträgern darauf geachtet, dass die Gruppe möglichst heterogen zusammengesetzt ist, um Gemeinsamkeiten und Differenzen herausarbeiten zu können. So reichte das Alter meiner Interviewpartner von 22 bis 78 Jahre, wobei der jeweilige Zeitpunkt der Amputation zwischen zwei und 30 Jahren zurücklag. Es wurden sechs weibliche und fünf männliche Prothesenträger mit unterschiedlichen Amputationshöhen und -ursachen interviewt. So waren sechs meiner Gesprächspartner einseitig oberschenkelamputiert, zwei Personen einseitig knieexartikuliert, zwei Personen einseitig unterschenkel- und eine weitere Person doppelseitig unterschenkelamputiert. Sämtliche meiner Interviewpartner mit Knieex- bzw. Oberschenkelamputation waren zum Zeitpunkt der Interviews mit mikroprozessorgesteuerten Prothesenmodellen versorgt, während meine Interviewpartner mit Unterschenkelamputation mechanische Prothesensysteme trugen. Sechs Gesprächspartner waren zudem Mitglied einer Selbsthilfegruppe. Vier meiner weiblichen sowie vier meiner männlichen Interviewpartner haben eine Beinamputation aufgrund von Verkehrsunfällen erfahren, während bei den übrigen zwei weiblichen sowie einem männlichen Interviewpartner ein Bein infolge einer Blutvergiftung bzw. einer misslungenen Operation sowie eines arteriellen Verschlusses amputiert werden musste. Zum Zeitpunkt des Interviews waren zudem fünf meiner weiblichen und vier meiner männlichen Gesprächspartner verheiratet bzw. in einer Partnerschaft lebend, sowohl ein männlicher als auch eine weibliche Interviewpartnerin waren dagegen alleinstehend. Vier meiner weiblichen Gesprächspartnerinnen sowie zwei meiner männlichen Interviewpartner waren des Weiteren berufstätig, teilweise allerdings seit der Amputation nicht mehr in Vollzeit, eine weitere weibliche und drei männliche Gesprächspartner waren zum Zeitpunkt des Interviews (früh-)berentet, eine 22-jährige Beinprothesenträgerin, die ich interviewt habe, befand sich auf Ausbildungs- bzw. Studienplatzsuche. Im Falle der von mir interviewten Orthopädietechniker war zentrales Auswahlkriterium, dass diese auf (Bein-)Prothetik spezialisiert sind, wobei die Altersspanne meiner Interviewpartner zwischen Anfang 30 und Mitte 60 Jahren lag. Auf diese Weise konnten daher auch mögliche unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen in Bezug auf Entwicklungen der Prothesentechnik sowie das Verständnis von Behinderung eruiert werden.
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Sämtliche von mir geführten Interviews wurden jeweils direkt im Anschluss vollständig transkribiert, das heißt die gesprochenen und mittels eines Recorders aufgezeichneten Worte wurden von mir am PC verschriftlicht. Zur Transkription habe ich dabei das Transkriptionsprogramm ›f4transkript‹ verwendet, zudem waren die von mir verwendeten Transkriptionsregeln insgesamt recht einfach gehalten und an den von Dresing/Pehl gemachten Vorschlägen zur Transkription orientiert.186 So habe ich wortwörtlich alles transkribiert, das heißt auch ›Ähs‹ oder ›Mmhs‹ sowie Lachen, Husten etc. wurden schriftlich festgehalten. Dialektale Äußerungen wurden allerdings weitgehend geglättet, um einerseits die Anonymisierung meiner Gesprächspartner gewährleisten zu können sowie andererseits ein einfacheres Lesen zu ermöglichen. Transkriptionen sind damit verbunden nicht bloße Aufbereitungen der gesprochenen Worte, sondern sie beinhalten vielmehr eine Veränderung der Quelle und stellen somit selbst ein (wissenschaftliches) Konstrukt dar.187 Durch das gleich im Anschluss an die Interviews durchgeführte Transkribieren war es jedoch auch möglich, offene Fragen oder auffällige Lücken in weiteren Interviews berücksichtigen sowie den eigenen Interviewstil kritisch überprüfen und gegebenenfalls modifizieren zu können.188 Darüber hinaus wurde von mir zu jedem durchgeführten Interview ein Gesprächs- bzw. Gedächtnisprotokoll (Postskript) angefertigt, in dem Angaben zur Interviewsituation, zur jeweiligen Räumlichkeit, zur interviewten Person sowie zu meinen eigenen Reaktionen und Eindrücken festgehalten wurden. Ähnlich wie bei meinen Beobachtungsprotokollen habe ich auch hier wieder subjektive Bewertungen meinerseits und (reine) Beschreibungen der Interviewsituation durch die Verwendung unterschiedlicher Schriftarten voneinander getrennt. Wie sich die Analyse und Auswertung des von mir empirisch zusammengetragenen Materials nun konkret gestaltet hat, werde ich im Folgenden genauer darstellen. 2.2.4 Analyse und Auswertung des empirischen Materials Ethnographische (bzw. praxoegraphische) Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass im Verlauf des Forschungsprozesses eine große Menge an empirischem Material erhoben wird, das von Feldnotizen, Beobachtungs- und Gesprächspro-
186 Vgl. Dresing, Thorsten/Pehl, Thorsten: Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitative Forschende. Fünfte Auflage. Marburg 2013, www.audiotranskription.de/praxisbuch (Datum des Downloads: 07.10.13). 187 Vgl. B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.181. 188 Ebd., S.182.
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tokollen, Interviewtranskripten bis hin zu Fotos, heterogenen Druckzeugnissen etc. reicht und das es schließlich zu strukturieren und analysieren gilt. Ein Blick in verschiedene Methodikbücher über ethnographisches Arbeiten im Allgemeinen macht allerdings schnell klar, dass innerhalb der scientific community bis heute kein eindeutiger Konsens darüber herrscht, wie bzw. auf welche Art und Weise das gesammelte ethnographische Material tatsächlich ausgewertet werden soll.189 Darüber hinaus besteht speziell bei ethnographisch angelegten Forschungsprojekten die Gefahr, sich in der Menge der zusammengetragenen Daten zu verlieren, weshalb die britische Sozialanthropologin Karen OʼReilly empfiehlt, nicht erst sämtliches Material empirisch zu erheben und anschließend auszuwerten, sondern Datenerhebung, -auswertung und Niederschrift der Ergebnisse sollten vielmehr parallel zueinander verlaufende Prozesse darstellen, die wechselseitig ineinandergreifen. Ein derartiges Vorgehen bezeichnet OʼReilly dabei als iterative-inductive approach.190 Von Anbeginn der Forschung wird das bereits gesammelte bzw. produzierte Material intensiv durchgelesen, miteinander verglichen, zudem werden erste Hypothesen, weiterführende Fragestellungen und theoretische Überlegungen aus dem empirischen Material heraus entwickelt und darauf aufbauend so lange weiteres Datenmaterial erhoben, bis keine neuen Fragen mehr auftauchen.191 Der Forschende wechselt somit beständig zwischen empirischer Datenerhebung im Forschungsfeld und analytischer Aufarbeitung am Schreibtisch. Auch die vorliegende Studie folgt einem solchen iterativinduktiven Ansatz, gleichzeitig habe ich mich damit verbunden an drei grundlegenden Praktiken der Analyse ethnographischer Daten orientiert, die Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Boris Nieswand empfehlen und die es in konstruktiver Weise miteinander zu kombinieren gilt: Erstens Praktiken des Codierens im Sinne der sogenannten Grounded-Theory-Methodologie, zweitens Praktiken der Fallanalyse und drittens Praktiken des Zusammenfassens und Verallgemeinerns.192 Bei der Grounded-Theory-Methodologie handelt es sich um ein Verfahren der qualitativen Sozialforschung, das bereits Ende der 1960er Jahre von Barney Glaser und Anselm Strauss begründet wurde und dem Ziel folgt, aus empirischem Material heraus eine gegenstandsverankerte (grounded) Theorie zum je-
189 Vgl. u.a. M. Dellwing/R. Prus: Interaktioniatische Ethnografie; G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Niewswand: Ethnografie; OʼReilly, Karen: Ethnographic methods. London: Routledge 2005. 190 Vgl. K. O’Reilly: Ethnographic methods, S.177. 191 Ebd. 192 Vgl. G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.124.
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weils erforschten Phänomen zu formulieren. 193 Ähnlich wie der von OʼReilly beschriebene iterativ-induktive Ansatz, folgt auch die Grounded-Theory-Methodologie dem Prinzip des permanenten Vergleichs, das heißt Datenerhebung und -auswertung greifen auch hier wechselseitig ineinander.194 Zentral für die Datenanalyse im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie ist zudem das sogenannte Codierverfahren, das im Wesentlichen ein wiederholtes Durchlesen, Sortieren und Annotieren des empirischen Materials bezeichnet, um auf Basis dessen verschiedene Schlagwörter, das heißt Codes, herausarbeiten zu können, die dann im weiteren Verlauf der Analyse zu Über- und Unterkategorien bzw. Schlüsselthemen zusammengefasst werden.195 Codieren meint somit »[…] die Kategorisierungstätigkeit eines Lesers, der aus einem zufällig und chronologisch angewachsenen Datenkorpus allmählich mittels Schlagwörtern und Begriffshierarchien eine thematisch-analytische Ordnung entwickelt und mit ihrer Hilfe eben diesen Korpus umstrukturiert.«196 Die Grounded-Theory-Methodologie unterscheidet dabei insgesamt drei Arten des Codierens. Das offene Codieren dient dazu, erste Stichwörter bzw. Codes und Ideen aus dem empirischen Material herauszuarbeiten, das axiale Codieren ordnet, selegiert und dimensionalisiert die verschiedenen Codes, das selektive Codieren schließlich fügt eine story line zusammen, es verdichtet und sortiert die erarbeiteten Stichwörter und Kategorien.197 Von verschiedenen Autoren wird allerdings vor einer rigid categorisation198 im Zuge der Anwendung der Grounded-Theory-Methodologie gewarnt, weshalb für eine weniger strikte bzw. flexible Handhabung des Codierverfahrens plädiert wird, das im Forschungsverlauf unterschiedlich intensiv zum Einsatz kommt. So betonen
193 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L.: The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. London: Weidenfeld & Nicolson 1968; vgl. auch Götzö, Monika: Theoriebildung nach Grounded Theory, in: Bischoff, C./OehmeJüngling, K./Leimgruber,W. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Bern: Haupt 2014, S.444-459, hier: S.445. 194 Vgl. B. Glaser/A. Strauss: Grounded theory; A. Przyborski/M. Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S.183-217. 195 Vgl. G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.124/ 125. 196 Ebd., S.138. 197 Vgl. M. Dellwing/R. Prus: Interaktionistische Ethnografie, S.154. 198 Uhan, Samo/Malnar, Brina/Kurdija, Slavko: Grounded Theory and Inductive Ethnography: A sensible merging or a failed encounter?, in: Teorija in Praska 50 (2013), S.642-657, hier: S.643; vgl. auch K. OʼReilly: Ethnographic methods; M. Dellwing/R. Prus: Interaktionistische Ethnografie.
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unter anderem auch Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff/Nieswand, dass ein codierter Datenkorpus, der im Kontext ethnographischer Forschung entsteht, idealerweise bis zum Ende des Forschungsprozesses offen bleibt, das heißt »[…] ein Provisorium, das seine Brauchbarkeit dadurch zeigt, dass es den Bedürfnissen des Ethnografen entsprechend immer weiter verändert werden kann.«199 Ich schließe mich diesen Überlegungen an und verstehe das Codierverfahren im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie somit in erster Linie als fruchtbare Ergänzung zu ethnographischen, iterativ-induktiven Analyseverfahren, die es insbesondere ermöglicht, empirisch erhobenes Material strukturierter auszuwerten und damit verbunden analytisch-theoretisierend aufzubereiten.200 In diesem Sinne wurden von mir sämtliche Interviewtranskripte sowie Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle direkt im Anschluss an ihre Niederschrift bzw. Transkription zunächst ausgedruckt, aufmerksam durchgelesen und in verschiedene Sinnabschnitte wie beispielweise ›Amputationsgeschichte‹, ›Zeit im Krankenhaus‹, ›Zeit in der Rehaklinik‹ etc. eingeteilt. Gleichzeitig habe ich entsprechend des offenen Codierens Stichpunkte, Kernaussagen zu den verschiedenen Abschnitten, aufkommende Fragen sowie Überlegungen jeweils am Rand der Interviewtranskripte bzw. Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle notiert. Auf diese Weise konnten relativ früh im Prozess der empirischen Datenerhebung bereits erste Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede zwischen den einzelnen Interviews und Beobachtungen festgestellt werden. Wie Breidenstein/Hirschauer/ Kalthoff/Nieswand betonen, handelt es sich beim offenen Codieren dabei letztlich weniger um eine standardisierte bzw. formalisierte Analysepraxis, sondern eher »[…] um ein suchendes Herantasten an das Datenma-terial, das analytische Ideen generiert. […] Die Codierung bringt begriffliche Provisorien und Aushilfen hervor. Ob sie sich als tragfähig erweisen, wird erst im weiteren Prozess der Datenanalyse sichtbar.«201 Für dieses Frühstadium der Materialanalyse ist es daher wichtig, dass noch kein System von Begriffen gesucht wird, sondern nah am Material Codes und Themen generiert werden, weshalb alles, was interessant sein könnte markiert bzw. benannt werden soll, jedoch mit dem Ziel, es mit anderen Stellen im Material vergleichbar zu machen, um im nächsten Schritt, dem axialen Codieren, dann allmählich herauszufiltern, inwiefern die verschiedenen Codes gegebenenfalls zu übergreifenden Themen oder Kategorien zusammenge-
199 G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.131; vgl. auch M. Dellwing/R. Prus: Interaktionistische Ethnografie. 200 Vgl. hierzu auch Beilschmidt, Theresa: Gelebter Islam. Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland. Bielefeld: transcript 2015, S.76. 201 G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.129.
Amputation und Prothetik als Forschungsgegenstand | 97
fasst werden könnten.202 Mittlerweile besteht dabei auch die Möglichkeit, empirisch erhobene Daten mittels softwarebasierter Analyseprogramme wie etwa MAXQDA am PC zu codieren und zu analysieren. Ich habe jedoch auf die Anwendung solcher Analyseprogramme verzichtet und mich im Sinne von Dellwing/Prus für eine »maximal offene Forschung«203 entschieden, »[…] die nicht in erster Linie Methoden oder Interpretationsprogramme, sondern Neugier, soziologische [bzw. ethnologische, C.R.] Vorstellungskraft und Kreativität erfordert.«204 Dementsprechend habe ich mein empirisches Material sozusagen in ›traditioneller‹ wissenschaftlicher Art und Weise mit Stift und Papier geordnet, strukturiert und analysiert. So habe ich im Verlauf meiner Datenerhebung und -auswertung mir wichtig erscheinende Aussagen, Stichwörter bzw. Codes oder Abschnitte in den einzelnen Interviews sowie Beobachtungs- und Gesprächsprotokollen mit bunten Post-It-Zetteln markiert, auf denen ich wiederum kurze Verweise auf ähnliche Aussagen oder Stichwörter in anderen Interviews und Protokollen, theoretische Überlegungen oder auch Hinweise auf Forschungsliteratur notiert habe, um die verschiedenen Stellen im empirischen Material besser miteinander vergleichen zu können. Darüber hinaus habe ich für jedes Interviewtranskript im Falle der von mir interviewten Beinprothesenträger wie auch für das Interview mit Dieter Jüptner ein eigenständiges, tabellarisch aufgebautes Dokument am PC angelegt, in welchem ich den verschiedenen erarbeiteten Kategorien, Codes und Sinnabschnitten die entsprechenden Passagen aus dem jeweiligen Interview in Zitatform zugeordnet habe. Auf diese Weise war eine gute Vergleichbarkeit der Interviews möglich. Die Kernaussagen der Interviews, die ich mit Orthopädietechnikern geführt habe sowie die übergreifenden Themen, die sich aus der Analyse meiner Beobachtungsprotokolle ergeben haben, wurden von mir ebenfalls in eigenständigen Dokumenten gebündelt am PC angelegt. Parallel zum offenen und axialen Codieren habe ich zudem im Sinne von Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff/Nieswand verschiedene Einzelfallanalysen durchgeführt, um das gesammelte empirische Material analytisch noch tiefer durchdringen zu können. Einzelfallanalysen zielen dabei nicht auf die Durchsicht des Gesamtmaterials ab, sondern sie setzen am Exemplarischen an, sie greifen also »[…] kleine Ausschnitte […] aus dem Material heraus, um diese umso intensiver zu interpretieren.«205 Fallanalysen liegt damit verbunden die Vermutung zugrunde, dass sie vom Exemplarischen auch auf Verallgemeinerbares schließen las-
202 Ebd., S.126-128. 203 M. Dellwing/R. Prus: Interaktionistische Ethnografie, S.12. 204 Ebd. 205 G. Breidenstein/S. Hirschauer/H. Kalthoff/B. Nieswand: Ethnografie, S.140.
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sen.206 In diesem Sinne wurden von mir fünf Interviews mit Beinprothesenträgern ausgewählt, die ich mir genauer angesehen habe. Die Auswahl dieser fünf Einzelfälle erfolgte dabei nach dem Prinzip der Kontrastierung, das heißt die Fälle sollten eine möglichst große Varianz meiner Interviewpartner im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Amputationshöhe und -ursache, Zeitpunkt der Amputation, Prothesenmodell, familiäre Situation etc. aufweisen, um zentrale Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede besser herausarbeiten zu können. Aus diesen Einzelfallanalysen haben sich schließlich fünf Amputations- bzw. PostAmputationsgeschichten ergeben, die ich im Rahmen meiner empirischen Kapitel genauer darstellen werde. Dabei kommen meine fünf Gesprächspartner zunächst selbst ausführlich zu Wort, indem längere Interviewpassagen zitiert bzw. paraphrasiert werden, bevor dann in weiteren Unterkapiteln die Interpretation der gemachten Aussagen und deren Zusammenführung mit den restlichen von mir durchgeführten Interviews und Beobachtungen im Sinne einer vergleichenden Zusammenschau erfolgt.207 Ähnlich bin ich auch bei der Analyse der von mir angefertigten Beobachtungsprotokolle vorgegangen, das heißt ich habe mir auch hier einzelne Interaktionsverläufe bzw. Situationen wie beispielsweise einzelne orthopädietechnische Prothesenanpassungen oder Trainingseinheiten im Rahmen der rehaklinischen Amputationsnachsorge genauer angesehen und im Hinblick auf deren Bedeutung für die von mir verfolgte Fragestellung nach der (Wieder-)Herstellung von Alltag nach einer Beinamputation sowie der körperlich-leiblichen Integration von Prothesen untersucht. Auf diese Weise entstand im Verlauf meines Forschungsprozesses nach und nach ein System an verschiedenen Codes, (Kern-)Themen und Kategorien, das insgesamt nah am Datenmaterial orientiert ist, wodurch aber zugleich eine eigenständige analytische Bearbeitung möglich wurde, indem eine Themenhierarchie entstand, mit der ich mein Material neu ordnen konnte.208 In weiteren Analyseschritten, dem selektiven Codieren bzw. den von Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff/Nieswand beschriebenen Praktiken des Zusammenfassens und Verallgemeinerns, ging es schließlich darum, aus den verschiedenen erarbeiteten Kategorien und Kernthemen eine kohärente Story zu bauen, die nicht nur Kategorisierungen aneinanderreiht, sondern diese in eine breitere analytische Geschichte einbindet.209 In diesem Zusammenhang wurde der Prozess der Datenerhebung und -auswertung verstärkt begleitet von der Lektüre unterschiedlicher Arten von Literatur, die für die vorliegende
206 Ebd., S.139. 207 Vgl. auch B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S.184. 208 Ebd., S.136-138. 209 Ebd., S.156/157; M. Dellwing/R. Prus: Interaktionistische Ethnografie, S.155.
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Studie sowohl kultur- bzw. sozialwissenschaftliche, technikphilosophische als auch medizinische bzw. orthopädietechnische Fachliteratur, Ratgeberhefte für Menschen mit Gliedmaßenamputation und Prothesenträger sowie Werbematerial der verschiedenen Prothesenbaufirmen umfasst hat und wodurch das empirische Material analytisch noch weiter verdichtet werden konnte. Die im Verlauf meines Auswertungs- und Analyseprozesses auf diese Weise entstandene Story bzw. analytische Geschichte steht schließlich im Zentrum der nachfolgenden empirischen Kapitel.
3
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese
Im Zentrum dieses Kapitels stehen der medizinische Eingriff der Amputation sowie die anschließende Versorgung mit einer ersten Übergangsprothese, der sogenannten Interimsprothese, im Krankenhaus. Wie ich in meiner Arbeit einführend bereits kurz erwähnt habe, werden in Deutschland pro Jahr schätzungsweise zwischen 40.000 und 60.000 Beinamputationen aufgrund von Unfällen und Krankheiten durchgeführt. Den Hauptteil mit circa siebzig bis achtzig Prozent stellen Menschen dar, denen infolge von Diabetes oder arteriellen Verschlüssen Gliedmaßen amputiert werden mussten, was in erster Linie ältere Personen ab 60 Jahren betrifft. Etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der durchgeführten Beinamputationen sind durch Krebs bedingt und nur etwa zehn Prozent durch Verkehrs-, Arbeits- oder auch Sportunfälle.1 Die anschließendeVersorgung mit der Interimsprothese findet in der Regel noch im Krankenhaus durch einen Orthopädietechniker statt, damit die betreffenden Individuen bereits mit Prothese zur sogenannten Anschlussheilbehandlung in eine Rehabilitationsklinik entlassen werden können. Wer mit einer Prothese versorgt werden kann und wer nicht, hängt von unterschiedlichen Faktoren wie der Amputationshöhe, der Beschaffenheit des Beinstumpfes, dem Alter sowie dem allgemeinen physischpsychischen Zustand und nicht zuletzt auch vom jeweiligen sozialen Umfeld ab.2 Grundsätzlich hat in Deutschland jedoch laut Sozialgesetzbuch V (§33) jede Person, der Gliedmaßen amputiert werden mussten, ein Recht auf die Versorgung mit technischen Hilfsmitteln, zu denen unter anderem Prothesen, Gehhilfen oder Rollstühle zählen. Die dafür anfallenden Kosten werden in der Regel von der
1
Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.7; R. Baumgartner/P. Botta:
2
Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S. 33-35.
Amputation und Prothesenversorgung, S.16.
102 | Alltag mit Prothese
entsprechenden Krankenkasse übernommen.3 Der genaue Zeitpunkt der ersten Prothesenversorgung richtet sich nach der Wundheilung der Amputationsnarbe und wird vom Arzt, der die Amputation durchgeführt hat, bestimmt bzw. verordnet.4 Der Sozialdienst der Klinik kontaktiert daraufhin einen Orthopädietechniker, der die Anpassung und Anfertigung der Interimsprothese vornimmt, die in den ersten drei bis sechs Monaten nach der Amputation bis zum Erhalt einer sogenannten Definitivprothese getragen wird.5 Doch wie erleben Menschen nun den medizinischen Eingriff der Amputation, die Zeit im Krankenhaus und den Erstkontakt mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese? Wie gehen sie und ihr soziales Umfeld mit der Situation und dem veränderten Körper um? Diesen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen, wobei ich zunächst fünf ausgewählte Amputationsgeschichten von Prothesenträgern, mit denen ich ausführliche Gespräche geführt habe, präsentieren (3.1) und interpretieren (3.2) werde, um im Anschluss daran (3.3) genauer darzulegen, wie sich die Erstversorgung mit einer Prothese und damit verbunden die Herstellung einer Verbindung zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt gestaltet. Der Fokus von Kapitel 3 liegt somit in erster Linie auf den verschiedenen Narrationen meiner Forschungsteilnehmer, während Praktiken nur am Rande genauer beleuchtet werden. Dabei gehe ich im Sinne der israelischen Sozialanthropologin Michal Hoffman, die sich in einem Aufsatz mit body narratives of lower limb amputees beschäftigt hat, davon aus, »[...] that lived experiences, as reported by participants, reflect their personal biography and life story in a given cultural context [...].«6 Das bedeutet, dass sich gerade anhand der Narrationen von Menschen, die eine Gliedmaßenamputation erlebt haben herausarbeiten lässt, mit welchen soziokulturellen Vorstellungen dieser (medizinische) Eingriff verbunden ist, denn die soziale Bedeutung des Verlustes von Gliedmaßen ist aufs engste verknüpft mit kulturell vorherrschenden Bildern bzw. Wahrnehmungen vom menschlichen Körper. Wie Hoffman schreibt, lässt sich auf diese Weise besonders gut aufzeigen, »[how] amputees construct the narrative of amputation, an event that influ-
3
Vgl. Stein, Norbert: Rechtliche Rahmenbedingungen, in: Bauche, Matthias/Greitemann, Bernhard/Lotz, Klaus-Jürgen/Mittelmeier, Wolfram (Hg.): Rahmenbedingungen und Strukturen der Technischen Orthopädie in Deutschland. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik 2014, S.35-49.
4
Ebd.
5
Auf die orthopädietechnische Versorgung mit Definitivprothesen und die damit verbundenen aktuellen technischen Möglichkeiten im Bereich Beinprothetik gehe ich in Kapitel 5.3 genauer ein.
6
M. Hoffman: My ›Step Leg‹, S.179.
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 103
ences their interpretations of loss and their prospective use of prostheses […]«7 und auch die US-Soziologin Susan E. Chase betont, dass Menschen vor allem mittels Narrationen »[…] make sense of experience, construct the self, and create and communicate meaning.«8
3.1
AUSGEWÄHLTE AMPUTATIONSGESCHICHTEN
3.1.1 »Die ersten fünf Tage ging es nur ums Überleben« (Saskia Eibich) Im Jahr 1991 hatte die damals 20-jährige Saskia Eibich einen Verkehrsunfall, als sie gerade mit ihrem Motorrad auf dem Weg in den Urlaub war. Sie prallte unverschuldet mit einem entgegenkommenden Auto zusammen und merkte bereits selbst noch am Unfallort, dass es ihr das rechte Bein ab dem Oberschenkel abgetrennt hatte: »[…] ich war nicht bewusstlos, ich habʼ alles mitgekriegt, was passiert isʼ, also ich wusste auch am Unfallort schon, dass ich ne Amputation habʼ ähm, […] weil ein Arzt eben gesagt hat ähm ›Was mit meinen BEInen los sei, er muss mich umdrehen‹ und ich habʼ dann gesagt ›Ne, das geht nicht‹ ähm und dann wusste ich natürlich ›Irgendwas isʼ mit meinen Beinen‹ und dann habʼ ich so reingespürt und links habʼ ich ein bisschen was gespürt und rechts nicht und dann war […] für mich so klar, dass ich praktisch ähm amputiert bin […].«
Wie Saskia Eibich weiter erzählt, wurde sie mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht, wobei sie die ersten fünf Tage nach dem Unfall allerdings nichts mitbekam, denn »[…] da wusste ich gar nicht, ob ichʼs überlebe«. Darüber hinaus wurden ihr nach der Amputation starke Schmerzmittel und Medikamente verabreicht, da es ihr beim Unfall nicht nur das rechte Bein abgetrennt, sondern sie sich auch innere Verletzungen zugezogen hatte, zudem war ihr linkes Bein mehrmals gebrochen. Im Krankenhaus hat Saskia Eibich, die vor
7
Ebd., S.176.
8
Chase, Susan E.: Learning to listen. Narrative principles in a qualitative research methods course, in: Josselson, Ruthellen/Lieblich, Amia/McAdams, Dan P. (Hg.): Up close and personal: The teaching and learning of narrative research. The narrative study of lives. Washington DC: American Psychological Association 2003, S.79-99, hier: S.79.
104 | Alltag mit Prothese
der Amputation beruflich als Kinderpflegerin in einem Wohnheim für geistig und körperlich behinderte Kinder tätig war, daher zunächst gar nicht wirklich registriert, wie es in Zukunft für sie weitergeht: »[…] in der Anfangszeit war mir gar nicht bewusst, was auf mich zukommt, also (.) ich war so voll mit Medikamenten und Sonstigem, […] dass ich das gar nicht so überrissen habʼ, was das für mich bedeutet. Ich habʼ dann immer gesagt ›Ja ja, das schaffʼ ich schon und das geht schon‹ und ähm ich war eigentlich so […] ganz zuversichtlich und ganz motiviert und ja gut eingestellt.«
Die recht positive Einstellung, die Saskia Eibich hier beschreibt, sollte jedoch nicht lange anhalten, da sich der Wundheilungsprozess in die Länge zog, zumal der Beinstumpf nachträglich verlängert werden musste, da der Knochen durchkam und aufgrund ihrer inneren Verletzungen eine weitere Nach-OP anstand. Zudem ging während dieser Zeit ihre Partnerschaft in die Brüche, »[...] weil mein Partner eben damals gesagt hat ›Er schafft das nicht‹. Ähm war mir zu dem Zeitpunkt aber egal, weil da hatte ich andere Sorgen [...].« Allerdings hat sie sich selbst im Krankenhaus die Frage gestellt, ob sie nun überhaupt noch als Frau attraktiv sei, denn »[i]ch sah ja vorher aus wie ne Frau und dann sah ich halt aus wie eine amputierte Frau mit kaputten [sic] Unterschenkel noch dazu und Hautverpflanzung am Oberschenkel und riesen Narbe am Bauch von den inneren Verletzungen und da schaut man halt dann schon anders aus.« Saskia Eibich konnte sich und ihren veränderten Körper daher auch zunächst nicht im Spiegel ansehen wie sie beschreibt: »[...] anfangs warʼs ja so, dass ich alles verdeckt HATTE ähm, weil mein Bild, das ich gespeichert habe ja nicht mehr zu meinem Spiegelbild gepasst hat, ich konntʼ mich auch nicht im Spiegel anschauen. [...], weil das einfach so ein Bild war, das ich nicht für mich abgespeichert hatte, also das war ich gar nicht, ja, […] ich war jemand anders und nicht den [sic], den ich gesehen habʼ da im Spiegel.«
Wie Saskia Eibich im Verlauf unseres Gesprächs zudem erzählt hat, hätte sie im Krankenhaus damals gerne die Möglichkeit gehabt, sich von ihrem rechten Bein zu verabschieden. Dies war jedoch nicht möglich, »[...] weil das ja verbrannt wurde, [...] Hautteile sind auf die Hautbank gekommen und Knochenteile auf die Knochenbank, aber alles andere wurde verbrannt. Und das wärʼ halt auch so ein Ritual gewesen eben ähm, es SELber zu machen, sich zu verabschieden [...] von dem Bein [...].« Wichtig war für Saskia Eibich in dieser Zeit daher vor allem die
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Unterstützung durch ihre Familie, allerdings stand sie nach mehreren Wochen im Krankenhaus kurz vor einem Nervenzusammenbruch, denn »[...] das war schon mühsam. […] im August war der Unfall und im Oktober war dann so […] der Punkt, wo meine Ärzte im Krankenhaus gesagt haben ›Sie muss jetzt heim, weil sonst glaube ich, dreht sie komplett durch‹, also das war dann schon so, […] wo ich nach acht Wochen glaubʼ ich im Krankenhaus einfach kollabiert bin […] und es isʼ nix mehr geheilt, es ging nix voran, […].«
In der Folge wurde Saskia Eibich schließlich nach Hause entlassen, jedoch pendelte sie nach der Amputation noch gut ein Jahr lang aufgrund weiterer anstehender Nach-Operationen zwischen Zuhause und Krankenhaus hin und her, bevor sie mit einer Prothese versorgt und in eine Rehaklinik überwiesen werden konnte. 3.1.2 »Nach der Amputation bin ich in ein Loch gefallen« (Richard Schneider) Richard Schneider habe ich während meines Feldforschungsaufenthaltes im Orthopädietechnikzentrum im März 2014 kennengelernt. Eineinhalb Jahre zuvor, im November 2012, musste dem damals 75-jährigen Rentner der rechte Unterschenkel infolge eines peripheren arteriellen Verschlusses amputiert werden. Vor der Amputation hatte Richard Schneider aufgrund der Durchblutungsstörung bereits seit einigen Jahren beim Laufen ständig Schmerzen, »[...] da müssen Sie nach dreißig, vierzig Meter [sic] [...] stehen bleiben, weil Ihnen der Fuß weh tut. Und wenn Sie dann stehen bleiben, dann äh (..) funktioniert die Durchblutung wieder und Sie können wieder vierzig, fünfzig Meter gehen, dann müssen Sie wieder stehen bleiben. Und irgendwann gehtʼs halt nicht mehr und dann gehen Sie [...] in ein Krankenhaus und die erzählen Ihnen dann, was Sache isʼ [...].«
Im Krankenhaus stand die Amputation des rechten Beines zunächst noch nicht zur Diskussion, vielmehr wurde versucht, das Bein zu erhalten wie Richard Schneider erzählt. Allerdings musste er dazu mehrmals operiert werden, da ihm unter anderem ein Bypass gelegt wurde. In der Folge pendelte er die nächsten vier Jahre ständig zwischen Zuhause und Schmerzklinik hin und her, die Schmerzen wurden jedoch nicht leichter, irgendwann konnte er schließlich gar nicht mehr laufen, weshalb eine Amputation unvermeidbar war. Nach der Amputation ist Richard Schneider schließlich in ein »schwarzes Loch gefallen« wie
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er sagt, zumal er in der Klinik keine Informationen darüber erhalten habe, wie es nun für ihn weitergeht. Auch für seine Ehefrau, mit der er seit über fünfzig Jahren verheiratet ist, war die Amputation ein »RIESEN Einschnitt«, wobei das Leben des Ehepaars Schneider bereits vor der Amputation durch regelmäßige Krankenhaus- und Rehaaufenthalte geprägt war, da Richard Schneider mit 50 Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte mit der Folge, »[...] dass ich meinen Beruf (.) nicht mehr […] ausführen konnte […].« Vor seinem Schlaganfall war Richard Schneider beruflich im Bereich Film- und Fernsehen tätig, seitdem lebt er als Rentner. Durch die Amputation infolge des arteriellen Verschlusses konnten seine jahrelangen Schmerzen allerdings nur geringfügig verbessert werden wie er erzählt. Direkt nach der Amputation sollte Richard Schneider darüber hinaus zur Anschlussheilbehandlung in eine Rehaklinik geschickt werden, was jedoch nicht möglich war, da sich die Wundheilung am Beinstumpf hinauszögerte und er sich deshalb im April 2013 nochmals einer Nach-Operation unterziehen musste. Insgesamt verbrachte Richard Schneider somit zwischen 2012 und 2013 letztlich über 20 Wochen im Krankenhaus, bevor ihm eine Prothese angepasst wurde und er eine Rehaklinik aufsuchen konnte. 3.1.3 »Dann wachst du auf und hast nur noch ein Bein« (Eduard König) Im August 2011 hat sich das Leben von Eduard König und seiner Familie schlagartig verändert. Der damals 52-Jährige hatte einen schweren Motorradunfall, den er nur knapp überlebt hat und infolge dessen ihm der linke Oberschenkel amputiert werden musste. Er wurde mit inneren Verletzungen, gebrochenen Rippen und durchstochener Lunge per Rettungshubschrauber vom Unfallort ins Krankenhaus geflogen und dort einer Not-OP unterzogen. Er ist »[…] schon ohne Blutdruck eingeliefert worden, war schon mehr hinüber als noch lebendig […]« wie er selbst es schildert. Anschließend lag er eine Woche lang im Koma. Als er wieder zu sich kam, war Eduard König zunächst geschockt, denn »[...] nachher wachst so langsam [...] auf ausʼm Koma und nachher schaust einmal zuerst, naʼ habʼ ich mich hingelegt und naʼ denkʼ ich ›Was was ist jetzt das für ein Scheiß?‹, links der Fuß weg, rechts war ein Fixateur drin […]. Zuerst habʼ ich gedacht, das sind gar nicht meine Füße, das gehört gar nicht zu mir [...], bis das nachher mal realisierst, ist halt schon ein Schock […].«
Wie Eduard König, der vor seiner Amputation beruflich als Zimmerer tätig war, weiter beschreibt, wurde er durch den Unfall »[...] ausgekickt von einer Sekunde
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auf die andere, wirklich vom Leben vom aktiven Leben.« Den Unfall selbst bezeichnet er dabei als Schicksal, zumal an derselben Stelle vor 40 Jahren sein damals 21-jähriger, älterer Bruder mit dem Auto tödlich verunglückt ist. Nach der Amputation verbrachte Eduard König schließlich mehrere Wochen im Krankenhaus, da auch sein rechtes Bein so schwer verletzt war, dass dieses beinahe ebenfalls hätte amputiert werden müssen. Die Zeit in der Klinik schildert Eduard König daher auch als harte Zeit, in der er oft mit psychischen Problemen, teilweise sogar mit suizidalen Gedanken zu kämpfen hatte, denn das »[…] Leben ist komplett auf den Kopf gestellt, […] die erste Zeit hast gedacht […] ›Ja wennʼs bloß vorbei gewesen wärʼ‹, [...].« Ein Psychologe hat Eduard König in diesem Zusammenhang die Verabschiedung von seinem amputierten Bein vorgeschlagen, was er jedoch nicht gemacht hat. Allerdings habe er schon Trauer darüber empfunden, »[...] dass es fehlt, das ist ja klar (..) das ist ja ein Teil von dir […].« Wichtige Unterstützung erfuhr Eduard König in dieser Zeit vor allem von seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern, obwohl die Situation für seine Familie »[...] ja auch [...] alles andere als einfach [war] [...] und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt [....] und so selbstverständlich ist das nicht, [...] dass der Partner bei einem bleibt bei so was (räuspert sich).« Zudem wurde er im Krankenhaus auch von Freunden besucht, unter anderem von einem ehemaligen Schulkameraden, dem bereits vor dreißig Jahren ein Bein amputiert werden musste, was Eduard König wieder neuen Mut fassen ließ, zumal er vor seinem Unfall ansonsten niemanden mit Beinamputation bzw. Beinprothese gekannt hatte. Nach acht Wochen im Krankenhaus wurde er schließlich zunächst kurz nach Hause entlassen, bevor er im Oktober 2011 nochmals an seinem verletzten rechten Bein operiert werden musste, da das Schienbein mit künstlichem Knochenmaterial aufgefüttert werden sollte. In der Folge verbrachte Eduard König abermals neun Tage im Krankenhaus, bevor er dann letztendlich in eine Rehabilitationsklinik überwiesen und mit einer Interimsprothese versorgt wurde. 3.1.4 »Amputation war die einzige Lösung« (Erika Tamm) Erika Tamm ist die Gründerin der Selbsthilfegruppe 3, mit der ich im Verlauf meiner Forschung in Kontakt stand. 2012 musste der damals 59-Jährigen das linke Bein unterhalb des Knies aufgrund einer Infektion amputiert werden. Wie Erika Tamm erzählt, kam für sie die Infektion völlig unerwartet und plötzlich, sie ist »[…] von heutʼ auf morgen krank geworden und raus gerissen und (.) vorbei warʼs, also.« Grund für die Infektion war eine zu heiße Wärmflasche, die sich Erika Tamm auf ihr linkes Bein gelegt hatte und wodurch eine Blase entstanden war, die sich schließlich entzündete. Zu Beginn hat Erika Tamm noch
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versucht, die Brandblase selbst zu behandeln, allerdings ging es ihr mit der Zeit körperlich immer schlechter, weshalb sie einen Arzt aufsuchte, der eine schwere Blutvergiftung diagnostizierte. Die Amputation des linken Unterschenkels schien die einzige Möglichkeit, um ihr das Leben zu retten: »Das war ja dann also ganz akut, war Nierenversagen angesagt, die Lunge war schon äh ja die ganzen inneren Organe wären versagt, wenn man nicht amputiert hätte. Also, der Körper war vergiftet. Was ich selber nicht wahrhaben wollte, was ich auch meiner Familie immer verschwiegen habʼ, […]. […] ICH selber habʼ diese mhh ja Schwere der Krankheit nicht erkannt oder erkannt schon, aber nicht wahrhaben wollen. […] mir warʼs sehr viel übel, ich habʼ sehr viel erbrechen müssen, Schmerzen habʼ ich weggesteckt, weil ich mir immer gedacht habʼ ›Naja, es geht schon wieder, es geht schon wieder, komm, komm‹.«
Wie Erika Tamm beschreibt, wollte sie sich ihren körperlichen Ausnahmezustand selbst nicht eingestehen, sie hatte bis zum Zeitpunkt der Infektion zusammen mit ihrem Ehemann über vierzig Jahre lang eine Metzgerei geführt und war es daher gewohnt, tagtäglich viel zu arbeiten, ihr Körper musste permanent funktionieren wie sie selbst sagt: »Also ich bin nicht der Mensch, der so schmerzempfindend isʼ äh ich kann das gut wegstecken, weil es war mein ganzes Leben so. Du musst arbeiten, du musst fürʼs Geschäft da sein und es muss funktionieren (...).« Aus diesem Grund hatte sich Erika Tamm von ihrem Arzt zur Behandlung der Infektion zunächst Antibiotika verschreiben lassen, allerdings verschlechterte sich ihr Zustand zusehends, sodass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Jedoch stand zu diesem Zeitpunkt für sie eine Amputation des linken Beines immer noch nicht zur Debatte: »[…] mir gingʼs also ganz ganz schlecht äh und bin dann ins Klinikum eingeliefert worden und da stand also die Amputation noch NICHT zur Sprache, eigentlich die Behandlung von dieser Infektion und wie schlimm es isʼ. Äh war dort acht Wochen stationär, […] wo das gut war, woʼs wieder nicht gut war, wo man gemeint hat ›Ach das heilt, das vergeht alles wieder‹ und woʼs wieder schlimmer war und ich dann nach Hause gedrängt habʼ, wurde dann auch entlassen, […] und dann […] äh zuhause war ich dann dreieinhalb, vier Wochen […], woʼs mir dann wie gesagt auch mal gut, mal schlecht ging, […] mein Fuß wurde vom Pflegedienst täglich verbunden, also Verbandswechsel, äh ja, wo ich mir immer wieder eingebildet habʼ ›Oh ja, es isʼ besser‹ und ja die haben dann auch gesagt ›Ja, es schaut nicht schlecht aus und das kriegen wir schon‹ und gut (.). Man hängt ja oder man kämpft ja, ich habʼ immer mit mir selber gesprochen und habʼ gesagt ›Ich schaffʼ das und das wird schon und mein Fuß wird wieder gut‹ und vielleicht habenʼs die anderen, die Ärzte und die alle gewusst, dass es nicht mehr wird, aber ich habʼ gekämpft.«
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Nach mehrwöchigem Hin und Her zwischen Krankenhaus und Zuhause ging es jedoch irgendwann nicht mehr, Erika Tamm hatte so starke Schmerzen, dass sie sich letztendlich selbst eingestehen musste: »[…] ›Es muss mir jetzt jemand helfen, ich halte es nicht mehr aus‹. Und dann kam ich da in der Früh um vier oder fünf hat mich mein Mann ins Klinikum gefahren […] und dann hat man sofort Blut genommen, die Blutwerte waren also ganz schlecht, bin dann auf Station gekommen, wo ich auch zuvor schon war und na hat mein Mann gesagt ›Und wie siehtʼs aus?‹ und dann hat äh (.) wiederum der Oberarzt gesagt ›Das Problem ist jetzt nicht äh der Fuß, die Amputation, […] was wahrscheinlich im Raum steht, sondern sʼ Problem isʼ, ob Ihre Frau überleben wird‹, also […] der vergiftete Körper, das war sʼ Problem. Habʼ aber dann wiederum […] hohe Dosen […] an Antibiotika bekommen äh wo ich darauf angesprochen habʼ und also eine Woche bin ich dann so (.) gelegen und wo man dann gesagt hat ›So, jetzt müssen wir wahrscheinlich amputieren‹.«
In dieser Zeit waren für Erika Tamm vor allem der Oberarzt des Klinikums, ihr Ehemann sowie ihre beiden erwachsenen Kinder wichtige Vertrauenspersonen und Ansprechpartner. In einem langen Gespräch haben sie zusammen über die Amputation diskutiert und Erika Tamm Mut zugesprochen, wobei ihr der Oberarzt erklärt hat: »[…] ›Das ist einfach wie ein schlechter Apfel, ein fauliger Apfel, das muss weg und dann gehtʼs aufwärts‹ […]. Und er hat mir dann ganz kurzfristig nen Termin gesetzt, hat gesagt ›Machen wir das da und da. Und dann werden Sie sehen, paar Wochen später haben Sie ne Prothese und Sie können dann wieder laufen‹.«
Zwei Tage nach dem Gespräch wurde Erika Tamm schließlich der linke Unterschenkel amputiert. Als sie aus der Narkose aufwachte, empfand sie vor allem Erleichterung, da sie nun keine Schmerzen mehr hatte. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wie ihr Leben nach der Amputation nun weitergehen sollte, ihr fiel es anfangs zudem schwer, sich ihren Beinstumpf anzusehen oder diesen zu berühren, es war für sie ein fremdes Körperteil. Als sie diesen jedoch einige Tage nach der Amputation zum ersten Mal dann ohne Verband sah, war sie positiv überrascht, denn »[…] ich habʼ gar nix gesehen, dass da irgendwie ne Narbe gewesen wärʼ oder was, so perfekt war das gemacht. […], für mich war das (.) ›Whoa, das schaut ja gar nicht so schlimm aus‹. Und durch das, dass ich nach der Amputation auch keine Schmerzen hatte,
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[…] hat das mir dann auch wieder Kraft gegeben und habʼ mir gesagt ›Mensch, ich muss, das schaffʼ ich, das schaffʼ ich‹.«
Wichtig war für Erika Tamm während der Zeit im Krankenhaus aber vor allem auch der positive Zuspruch, den sie von ihrem Ehemann erfahren hatte, zumal dieser ganz selbstverständlich und ohne Berührungsängste ihren Beinstumpf streichelte, dem Erika Tamm den Kosenamen ›Emma‹ verliehen hatte, damit er ihr weniger fremd ist: »[…] es war für mich […] wichtig, wie ich noch im Krankenhaus war, dass er [der Ehemann, C.R.] eigentlich, wenn er mich besucht hat, dass er auch einmal den Fuß gestreichelt hat, den amputierten. Das war ganz wichtig und das HAT er gemacht und wir haben unseren, also den Fuß, dem habʼ ich nen Namen gegeben und das war unsere Emma. […] bevor er dann auch gegangen isʼ oder wenn er gekommen isʼ, er hat mich in Arm genommen, er hat mir nʼ Kuss gegeben und er hat die Emma gestreichelt, […].«
Dreizehn Tage nach der Amputation wurde Erika Tamm schließlich vom Krankenhaus zur Anschlussheilbehandlung in eine Rehabilitationsklinik entlassen, wo sie dann auch ihre Interimsprothese bekam. 3.1.5 »Du wirst ziemlich ausʼm Leben geworfen« (Christina Jahn) Christina Jahn war 21 Jahre alt, als ihr aufgrund eines Zugunglücks im Januar 2013 beide Beine ab den Unterschenkeln amputiert werden mussten. Zwei Jahre vor dem Unfall hatte sie ihr Abitur gemacht, anschließend war sie in einer internationalen Internatsvermittlungsfirma geringfügig beschäftigt, während sie sich gleichzeitig nach einem geeigneten Studienfach umsah und viel auf Reisen unterwegs war. Der Unfall und die Amputation haben Christina Jahn daher »[...] schon erst mal ziemlich ausʼm Leben geworfen [...]« wie sie erzählt. Als sie einige Tage nach ihrem Unfall im Krankenhaus aufgewacht ist, waren ihre beiden Beine allerdings noch nicht amputiert, »[...] aber halt sehr verstümmelt, unter Schmerzen mhh und ja einfach nur so [...] verkrüppelte Dinger, weil die eben [...] mit Transplantation und Gewebe und [...] Blutgefäße und was die da alles rumdoktoren können [...] die Chirurgen [...], ähm, das wieder drangenäht haben, [...].« Christina Jahn lag aufgrund hoher Infektionsgefahr im Krankenhaus deshalb auf einer isolierten Intensivstation für Schwerbrandverletzte, wo ihr nach drei Wochen schließlich das rechte Bein ab dem Unterschenkel amputiert werden musste, da dieses letztlich durch den Unfall zu stark verletzt war. Als ihre
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Eltern sie im Krankenhaus nach dem Unfall zum ersten Mal besuchen konnten, waren sie »[...] fertig mit den Nerven, [...]« und auch bei ihrem Bruder hat Christina Jahn gemerkt, »[...] er weiß nicht genau, soll er mich genau so behandeln wie vorher oder isʼ das irgendwie [...] anders [...].« Insgesamt verbrachte Christina Jahn zwei Monate auf der Intensivstation, wobei sie immer wieder operiert werden musste. Die Zeit auf der Intensivstation bezeichnet Christina Jahn daher auch als Trauma, allerdings wurden ihr starke Medikamente verabreicht, weshalb sie »[...] das ganze Ausmaß von dem, was passiert isʼ, nichʼ [...] begreifen [konnte], also, wa-was das überhaupt bedeutet, [...] du denkst [...] nur an deine Schmerzen und an die Situation, wieʼs momentan isʼ.« Nach zweieinhalb Monaten auf der Intensivstation wurde Christina Jahn schließlich in ein anderes Krankenhaus verlegt, wo ihr aufgrund einer Knocheninfektion auch noch der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Als sie nach der zweiten Amputation aus der Narkose aufwachte, war sie zunächst geschockt und hatte ein »ganz komisches Gefühl«, weil »[...] das Hirn merkt, der Körper merkt, der Geist merkt einfach, da [...] fehlt irgendwo was, da i-isʼ was weg und es isʼ erst mal sehr sehr gewöhnungsbedürftig neʼ, also. Klar im Krankenhaus, keine Frage, ein Schock erst mal, [...] also sowohl vom Gewicht, vom Gefühl, […] vom Ansehen überhaupt ja, […].«
Wie Christina Jahn weiter erzählt, konnte sie sich im Krankenhaus dabei mit niemandem austauschen, da sie vor ihrem Unfall keine Person mit Beinamputation kannte und auch in der Klinik die Einzige war. Gefehlt hat ihr zudem eine ausführliche Aufklärung darüber, wie es vor allem nach der Amputation weitergeht. Sie hatte den Eindruck, dass das Klinikpersonal zwar sehr bemüht war, aber letztendlich selbst nicht genau wusste, was nach der Amputation passiert. Christina Jahn hat daher die Eigeninitiative ergriffen und »[...] dann schon auch in [...] der Klinik schon angefangen zu googlen und zu recherchieren und zu schauen [...].« Wie sie erzählt, hat ihr das jedoch nicht die Angst vor der neuen, unbekannten Situation genommen, weshalb sie im Krankenhaus auch mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hatte, die geprägt waren von den Gedanken »Jetzt bin ich behindert« und »Ne, wenn ich nichʼ mehr laufen kann, dann will ich auch gar nichʼ mehr«. Bevor Christina Jahn in eine Rehaklinik geschickt und mit Prothesen versorgt werden konnte, wurde sie daher zunächst in eine psychiatrische Tagesklinik überwiesen.
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3.2
AMPUTATION ALS KRISENHAFTE ERFAHRUNG: DIE VERUNSICHERUNG VON ALLTAG UND KÖRPER
Wie anhand der präsentierten Erzählungen meiner Gesprächspartner deutlich wird, stellte die Amputation einen tiefen Einschnitt in ihrem bisherigen Leben dar, der verbunden war mit Gefühlen, die von Trauer, Schock oder Wut bis hin zu Selbstmordgedanken reichten. Zwar kann eine Amputation wie beispielsweise im Falle von Erika Tamm oder Richard Schneider auch eine Erleichterung bedeuten, indem dadurch monate- oder sogar jahrelangen Schmerzen ein Ende bereitet wird oder diese zumindest gelindert werden. Dennoch wurde der medizinische Eingriff von allen meinen Gesprächspartnern unabhängig von der Amputationsursache vor allem als belastendes Erlebnis bezeichnet. Die erste Zeit im Krankenhaus direkt nach der Amputation war daher meist geprägt von Verzweiflung, Angst und vor allem Unsicherheit vor der neuen, unbekannten Situation, einer Situation »[...] auf die du im Leben nicht vorbereitet [wirst]« wie es unter anderem auch der 31-jährige Lennard Beck, dem mit 20 Jahren infolge eines Motorradunfalls der linke Oberschenkel amputiert werden musste, mir gegenüber formuliert hat. Bis auf Eduard König kannte keiner meiner insgesamt elf Interviewpartner vor der eigenen Amputation Prothesenträger, wobei auch Eduard König mit dem von ihm erwähnten Schulkamerad, der ihn kurz nach der Amputation im Krankenhaus besucht hat, in keinem engeren Kontakt stand. Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang von verschiedenen meiner Gesprächspartner vor allem ein Mangel an ausführlicher Information im Krankenhaus im Hinblick darauf, wie es nach der Amputation für sie weitergeht. Hierbei handelt es sich jedoch um ein grundsätzliches Problem, da es in Deutschland trotz der doch beträchtlichen Anzahl an jährlich durchgeführten Gliedmaßenamputationen kaum auf Amputationschirurgie spezialisierte Kliniken gibt. Bezüglich einer umfassenden Aufklärung beispielsweise zur rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge, zu Möglichkeiten der prothetischen Versorgung oder zu sozialen Hilfsleistungen fehlt daher oftmals schlichtweg die entsprechende Expertise. Allerdings konstatiert unter anderem der Präsident des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. (BMAB), Dieter Jüptner, »[...] dass man auch in Krankenhäusern, wo sehr viel amputiert wird, nicht aufgeklärt wird. […] Es gibt Kliniken in Deutschland, die mit Amputierten zu tun haben äh, die sich auskennen, aber das sind sehr sehr Wenige. […] Also die Information isʼ generell in allen Bereichen einfach mangelhaft.« Aus diesem Grund hat der BMAB zusammen mit dem Unfallkrankenhaus Berlin, dem AOK Bundesverband und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) das Projekt
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›Peers im Krankenhaus (PiK)‹ ins Leben gerufen. Menschen, die selbst eine Beinamputation erlebt haben bzw. Prothesen tragen, besuchen hierbei andere Personen, denen gerade erst Gliedmaßen amputiert werden mussten, im Krankenhaus, um für diese Ansprechpartner zu sein und Aufklärung zu betreiben.9 Darüber hinaus wurde vom BMAB im Rahmen der Fachmesse »Orthopädie + Reha-Technik«, die 2012 in Leipzig stattgefunden hat, der sogenannte ›AmpuRucksack‹ der Öffentlichkeit präsentiert, der wichtiges Informationsmaterial für Menschen mit Gliedmaßenamputation enthält und von Kliniken als Serviceleistung an die betreffenden Personen verteilt werden kann.10 Aufgrund der insgesamt eher mangelnden Aufklärung war für meine unterschiedlichen Gesprächspartner vor allem der Rückhalt durch ihre Familienmitglieder bzw. Lebenspartner wichtig, wobei jedoch oftmals auch die Sorge geäußert wurde, diesen nach der Amputation zur Last zu fallen, nicht mehr selbständig sein zu können oder in die Arbeitslosigkeit abzurutschen. Die Amputation wurde in diesem Sinne vor allem als Verlust von Unabhängigkeit, Mobilität, Selbständigkeit und Kontrolle über das eigene Leben empfunden. Ähnlich wie es dabei Katrin Amelang für Menschen mit einer Lebertransplantation beschrieben hat, stellen allerdings auch die Erzählungen meiner Interviewpartner weniger Geschichten dar, in denen Alltag selbst thematisiert wird, sondern im Zentrum stehen vielmehr akute körperliche Krisen und existentielle Ausnahmezustände. 11 Alltag wird in den Beschreibungen nicht explizit angesprochen, sondern allenfalls angedeutet, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass »[d]er Verlust von Kontrolle über Körper, Leben und Zeit [...] nur schwer als Alltag erzählt werden [kann].«12 Was jedoch auffällt ist, dass der medizinische Eingriff der Amputation bzw. die Amputationsursache häufig als Ereignis geschildert wird, durch das meine Gesprächspartner aus dem Leben ›gerissen‹, ›geworfen‹ oder ›ausgekickt‹ wurden, auch wenn die Amputation aufgrund vorangehender Krankheit bereits schon seit längerer Zeit im Raum stand. Die Amputation wird im Sinne Gay Beckers von meinen Forschungsteilnehmern somit vor allem als disruption, als (plötzliche) ›Zerrüttung‹ des bisherigen Lebens dargestellt bzw. als nichtalltägliche Unterbrechung des ungehinderten Lebensvollzugs.13 Auch in verschiedenen Ratgeberbroschüren und Zeitschriften, die sich an Menschen mit Bein- bzw. Armamputation richten, wird dieser (medizinische) Eingriff über-
9
Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/peersimkrankenhaus/ (Stand: 04.01.16).
10 Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/ampurucksack/ (Stand: 11.01.16). 11 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.81. 12 Ebd. 13 Vgl. G. Becker: Disrupted Lives, S.4; K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.80.
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wiegend als »emotionale Krise«14, »schwerwiegender und belastender Eingriff«15 oder als »deutlicher Einschnitt«16, der das Leben »radikal verändert«17 beschrieben. Die Amputation wird hier explizit als biographische Zäsur thematisiert, die jedoch »[...] nicht das Ende, sondern de[n] Anfang eines neuen Lebensabschnittes [...]«18 darstellt, wie auf der Homepage des BMAB zu lesen ist. Das Leben der betreffenden Individuen wird somit in ein ›altes‹ Leben vor der Amputation und ein ›neues‹ (unbekanntes) Leben nach der Amputation unterteilt. Auch an den oben geschilderten Aussagen meiner Gesprächspartner wird deutlich, dass die Amputation in diesem Zusammenhang vor allem als Transformationserfahrung interpretiert werden kann. Damit verbunden kann es zudem zur Herausbildung neuer bzw. Infragestellung alter Identitäten 19 kommen, wie ebenfalls aus den Erzählungen meiner Forschungsteilnehmer hervorgeht und sich vor allem über den durch die Amputation veränderten Körper manifestiert, der in den oben präsentierten Amputationsgeschichten ein zentrales Thema darstellt. So wurde die Konfrontation mit dem unbekannten Anblick des eigenen Körpers nach der Amputation von den meisten meiner Gesprächspartner als Schockmo-
14 Vgl. Homepage der Zeitschrift Stolperstein, http://www.stolperstein.com/beinamputation/nach-der-beinamputation/ (Stand: 30.10.15). 15 eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, Vorwort. 16 Vgl. Homepage der Zeitschrift Stolperstein, http://www.stolperstein.com/beinamputation/ nach-der-beinamputation/ (Stand: 30.10.15). 17 Ebd. 18 Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/informationen/die-amputation/ (Stand: 01.12.15). 19 Identität verstehe ich im Sinne des Soziologen Heiner Keupp als ›Akt der sozialen Konstruktion‹ bzw. als ›Prozessgeschehen‹, das in sozialer Interaktion hervorgeht, wobei zwischen personaler und kollektiver Identität unterschieden werden kann. Während sich Erstere auf ein einzelnes Individuum bezieht, bezieht sich kollektive Identität auf Gruppen. In einem sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Verständnis geht es bei ›Identität‹ immer um die Passung zwischen dem subjektiven ›Innen‹ und dem gesellschaftlichen bzw. soziokulturellen ›Außen‹, das heißt, wie sich eine Person oder eine Gruppe von Personen selbst wahrnimmt, welche Identität sie sich selbst zuschreiben bzw. ihnen von anderen zugeschrieben wird, ist immer auch geprägt von den jeweiligen sozialen Normen und kulturellen Vorstellungen einer Gesellschaft. Dabei müssen Selbst- und Fremdzuschreibung nicht zwangsläufig übereinstimmen, was zu biographischen Diskontinuitätserfahrungen oder auch Identitätskrisen führen kann, aber nicht muss. Vgl. Keupp, Heiner: Identität, in: Farzin, Sina/Jordan, Stefan (Hg.): Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Stuttgart: Reclam 2008, S.107-110.
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ment beschrieben, wobei besonders der medizinisch kreierte Beinstumpf ein Körperteil darstellte, das nicht nur ›seltsam‹ aussah, sondern sich auch vom Gewicht her ›komisch‹ und völlig ungewohnt anfühlte. Die sichtbare, visuelle Veränderung des Körpers in seiner materiellen Dimension wirkt sich somit unmittelbar auf das leibliche Wahrnehmen der betreffenden Personen aus (Schock). Darüber hinaus offenbart sich gerade in dieser Extremsituation das Doppelverhältnis von Leibsein und Körperhaben im phänomenologischen Sinne, denn »[i]n der Situation des Nichtmehrhabens eines Glieds wird einem der Aspekt des Körperhabens (hier im Modus des Gehabthabens) in emphatischer Weise bewusst. Wo das Haben zuvor unthematisch in der fungierenden Leiblichkeit des Lebensvollzugs aufgeht, tritt es jetzt aufdringlich in den Vordergrund.«20 Das heißt, »[d]er unmittelbar erfahrbare Leib, der ich bin, wird so zum mittelbar erlebten Körper, den ich habe.«21 Wie dabei die Ethnologin Vera Kalitzkus, die sich in ihren Arbeiten schwerpunktmäßig aus medizinanthropologischer Sicht mit dem Thema Organtransplantation beschäftigt, betont, kann das leibliche Erspüren von körperlichen Veränderungen auch zu einem Gefühl der Distanzierung und Entfremdung vom eigenen Körper führen.22 Ebenso schreibt Michal Hoffman, dass vor allem für Menschen mit Gliedmaßenamputation »[…] the body represents a new realm of significance, a terra incognita waiting to be explained. (Herv.i.O.)«23 Einige meiner Interviewpartner hatten in diesem Zusammenhang anfangs vor allem Schwierigkeiten, ihren Beinstumpf anzufassen, wobei die Bezeichnung des Beinstumpfes mit Kosenamen wie ›Emma‹ oder ›Stumpi‹ als Versuch gedeutet werden kann, sich den fremd gewordenen Körper emotional neu anzueignen und vertraut zu machen. Wie allerdings speziell die beiden Beispiele von Erika Tamm und Richard Schneider zeigen, wurde ihnen ihr Körper letztlich nicht erst durch die Amputation fremd, sondern vielmehr war er dies aufgrund des vorausgehenden arteriellen Verschlusses im Falle von Richard Schneider bzw. der Infektion bei Erika Tamm schon vor der eigentlichen Operation. Das permanent schmerzende Bein stand bereits vor der Amputation im Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei diese spezifische Form der Wahrnehmung des eigenen Körpers auch mit dem Begriff dys-appearance des US-Philosophen Drew Leder bezeichnet werden kann. Leder hat aus phänomenologischer Per-
20 Breyer, Thiemo: Das Phantom im Spiegel: Ein phänomenologischer Versuch über somatosensorische Plastizität und Leibgedächtnis, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik 7 (2012), S.1-12, hier: S.4. 21 R. Gugutzer: Verkörperungen, S.55. 22 Vgl. V. Kalitzkus: Leben durch den Tod, S.203. 23 M. Hoffman: My ›Step-Leg‹, S.189.
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spektive beschrieben, dass die meisten Menschen ihren Körper im Alltagsleben in der Regel nicht bewusst als Körper wahrnehmen, er ist sozusagen ›abwesend‹ (disappearing) und wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Erst durch Faktoren wie Krankheit, Schmerz etc. rückt der Körper aufgrund seines NichtFunktionierens ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das heißt »[...] the body appears as thematic focus, but precisely as in a dys state – dys is from the Greek prefix signifying ›bad‹, ›hard‹ or ›ill‹, and is found in English words such as ›dysfunctional‹. (Herv. i. O.)«24 Wie zudem an der Amputationsgeschichte von Erika Tamm deutlich wird, wurde ihr Bein vom behandelnden Arzt, der die Amputation durchgeführt hat, zuvor mit einem ›fauligen Apfel‹ verglichen und somit gewissermaßen ›entkörperlicht‹ bzw. verobjektiviert, das heißt nicht mehr als vitales Körperteil oder zum Körper gehörig definiert, sondern als Objekt, das letztlich vom Körper abgetrennt werden kann. Für Erika Tamm wurde die Entscheidung zur Amputation dadurch im Grunde erleichtert wie sie selbst sagt, indem sie die Metapher des behandelnden Arztes vom ›fauligen Apfel‹ übernahm und das Bein somit nicht mehr als ihr Bein betrachtete, sondern eher als lästigen und schmerzhaften Gegenstand, der weg muss, damit es ihr und ihrem Körper wieder besser geht. Auf diese Weise konnte Erika Tamm dem medizinischen Eingriff der Amputation letztlich einen gewissen Sinn abgewinnen, denn dadurch wurde ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern ebenso wurde ihren Schmerzen, die sie aufgrund der Infektion hatte, ein Ende bereitet. Ähnliche Beobachtungen hat auch Michal Hoffman gemacht, die in diesem Zusammenhang schreibt, dass gerade der Gebrauch von Metaphern »[…] serves as the root of an explanation aimed at filling the vacuum of meaning accompanying drastic bodily change. It enables a symbolic removal of the diseased part of the body prior to the actual medical procedure.«25 Im Gegensatz zu Personen, die sich aufgrund einer vorausgehenden Krankheit oder Infektion mehr oder weniger bereits auf die Amputation einstellen können, erleben Menschen, denen infolge eines Unfalls plötzlich und völlig unerwartet Gliedmaßen amputiert werden müssen, einen derartigen medizinischen Eingriff vor allem als Trauma und Schockmoment, denn »[i]n a split second, what had been a complete and healthy body disappears forever.«26 In diesem Fall tritt eine (potentielle) Entfremdung vom eigenen Körper erst nach der Amputation ein wie aus den verschiedenen Erzählungen meiner Interviewpartner hervorgeht, die eine unfallbedingte Amputation erfahren haben. Die Amputation er-
24 Leder, Drew: The Absent Body. Chicago: University of Chicago Press 1990, S.84. 25 M. Hoffman: My ›Step-Leg‹, S.183. 26 Ebd., S.185.
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folgte letzten Endes grundlos, also ohne medizinische Indikation, weshalb der Verlust des Beines den irreversiblen Verlust eines eigentlich gesunden bzw. intakten Körperteils bedeutete. In diesem Zusammenhang wurde von verschiedenen meiner Interviewpartner der Wunsch geäußert, sich symbolisch von ihrem Bein verabschieden zu können, was darauf verweist, dass das Bein nicht wie im Falle von Erika Tamm als Objekt betrachtet wurde, das amputiert werden kann, sondern vielmehr als ihr Bein, als ein integraler, zu ihrem Körper und somit auch zu ihrer Person gehörender Teil, der nun plötzlich weg ist und dessen Verlust nur schwer ertragen werden kann. Einige meiner Forschungsteilnehmer haben den Unfall daher auch als Schicksal bezeichnet, was als Versuch gedeutet werden kann, der eigentlich ›sinnlosen‹ Amputation bzw. dem Verlust ihres Beines und der damit verbundenen körperlichen Transformation einen gewissen kosmologischen oder überirdischen Sinn zu verleihen.27 Deutlich wird die Entfremdung vom eigenen Körper nach der Amputation dabei exemplarisch an der Amputationsgeschichte von Saskia Eibich, die sich selbst anfangs nicht im Spiegel ansehen konnte, da das Bild, das sie von ihrem Körper abgespeichert hatte, nicht mit ihrem Spiegelbild zusammenpasste. Wie Robert Gugutzer betont, spielt das Bild, das eine Person von ihrem Körper hat, eine wichtige Rolle für das Selbstbild und damit auch für die Identität dieser Person, wobei das jeweilige Körperbild jedoch nicht etwas rein Individuelles darstellt, sondern immer auch von den vorherrschenden soziokulturellen Körperbildern und -idealen geprägt ist.28 Cassandra Crawford schreibt in diesem Zusammenhang, dass das Körperbild, das eine Person von sich selbst hat, somit weniger als state of being verstanden werden sollte, sondern vielmehr als »[...] a process or practice of ›becoming‹ [...]«29, »[...] it manifests in relation to interactions with others, [...] it is foremost intersubjectively accomplished and thus, is always ›socially situated‹ and decidedly normative. (Herv. i. O.)«30 Auch Emiliy Heavey betont, dass »[b]odily crisis are often also life crisis, and even identity crisis, as they present the individual with a new set of (embodied) circumstances, [...].«31 Als allgemein gültig empfundene, gesellschaftliche Normalitätsvorstellung gilt dabei der medizinisch als unversehrt bzw. vollständig klassifizierte Ge-
27 Vgl. u.a. auch K. Amelang/S. Beck/V. Anastasiadou-Christophidou/C. S. Constantinou/A. Johansson/S. Lundin: Learning to eat strawberries, S.60. 28 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.169. 29 C. Crawford: Body Image, S.223. 30 Ebd., S.239. 31 E. Heavey: Narrative Bodies, S.432.
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sundheits- und Leistungskörper.32 Der amputierte Körper, egal ob die Amputation aufgrund von Unfall oder Krankheit stattgefunden hat, wird dementsprechend im gesellschaftlichen bzw. medizinischen Verständnis als anormal, krank und/oder behindert definiert. Deutlich wird dies auch an verschiedenen Aussagen meiner Gesprächspartner, die sich bereits im Krankenhaus nach der Amputation mit der Selbst- wie Fremdzuschreibung als ›behindert‹ konfrontiert sahen. So stellte die 21-jährige Christina Jahn nach der Amputation ihrer beiden Unterschenkel fest ›Jetzt bin ich behindert‹ und auch der 68-jährige Oberschenkelprothesenträger Fabian Rudloff, den ich während meiner Feldforschung im Orthopädietechnikzentrum kennengelernt habe, erzählte mir im Hinblick auf seine Zeit im Krankenhaus nach der Amputation: »Du wachst aus der Narkose auf und weißt, dass du behindert bist. Das merkst du daran, weil es dein Umfeld erkennt.« Die Zuschreibung zur Kategorie Behinderung konstituierte sich somit für meine Forschungsteilnehmer in erster Linie über das äußere Erscheinungsbild ihres Körpers, das heißt über den Körper in seiner materiellen Dimension, und hing mit den Reaktionen des sozialen Umfeldes zusammen wie an der Aussage von Fabian Rudloff deutlich wird. Eine Amputation kann im Sinne von Werner Schneider und Robert Gugutzer daher auch als biographische Diskontinuitätserfahrung oder leib-körperliches Schlüsselerlebnis bezeichnet werden, denn die bisherige Erfahrung meiner Gesprächspartner als nicht-behindert wird durch die Amputation gestört und erfordert eine »[…] reconstruction of self and body […]«33, um mit den Worten des Soziologen Bryan S. Turner zu sprechen. 34 Hinzu kommen soziokulturell vorherrschende Stereotype von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit und damit verbundene Schönheitsideale, wobei die Frage ›Bin ich noch attraktiv?‹ sowohl von verschiedenen meiner weiblichen als auch männlichen Interviewpartner thematisiert wurde und zwar unabhängig vom Alter oder vom Zeitpunkt der Amputation. Darüber hinaus offenbart sich an den Erzählungen meiner Gesprächspartner aber auch im Sinne der Disability Studies insbesondere der soziale Konstruktionscharakter von impairment, indem durch den Akt der Amputation als unvollständig, anormal oder behindert angesehene Körper erst als solche hervorgebracht werden. Durch die Versorgung mit Prothesen soll den betreffenden Individuen damit verbunden nicht nur ein gewisses Maß an Mobilität zurückgegeben werden, sondern ebenso sollen deren Körper auf diese
32 Vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.66. 33 Turner, Bryan S.: Disability and the Sociology of the Body, in: Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine D./Bury, Michael (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks/London/New Delhi: Sage 2001, S.252-266, hier: S.262. 34 Vgl. auch R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.46.
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 119
Weise wieder vollständiger, in visueller Hinsicht bzw. im gesellschaftlichen Verständnis ›normaler‹ und somit letztlich weniger behindert gemacht werden. Deutlich wird dies unter anderem auch an den Beschreibungen verschiedener von mir durchgesehener Ratgeberbroschüren sowie medizinischer und orthopädietechnischer Fachbücher, in denen betont wird, dass die prothetische Versorgung von Menschen nach einer Amputation vor allem dem Prinzip »[...] eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits […]«35 folgt. Dabei hat »[...] der Versicherte Anspruch auf Ausgleich seiner Behinderung, ein Beinamputierter zum Beispiel auf Wiederherstellung seiner Gehfähigkeit [...].«36 Als Maßstab, an dem die entsprechende Versorgung zu messen ist, gelten »[d]er gesunde Mensch und seine Möglichkeiten […]«37, durch die prothetische Versorgung soll ein »[...] Gleichziehen mit einem nicht behinderten Menschen [...]«38 erreicht werden. Diskursiv wird hier somit der gesunde, nicht-behinderte Mensch und damit verbunden der gesunde im Sinne von unversehrtem Körper als Normkörper gesetzt, der dadurch zugleich auf den amputierten Körper als diskursiv konstruiertem abweichenden Körper verweist. 39 Wie Werner Schneider und Robert Gugutzer in diesem Zusammenhang schreiben, ist es daher zum einen »[…] der Körper als physisches Gebilde, der mit bestimmten materialen Eigenschaften und Kennzeichen als ›defizitärer Körper‹ überhaupt erst bestimmte Praktiken initiiert. Zum anderen konstituiert umgekehrt diese soziale Praxis von Behinderung erst den ›behinderten Körper‹ als soziales Gebilde. Hinter beidem stehen kulturell und historisch kontingente symbolische Ordnungen von Normen, Werten, Deutungen, die die gesellschaftliche Wahrnehmung von ›anderen Körpern‹ als Differenzsetzung zwischen Normalität und Abweichung sowie die darauf bezogenen institutionellen Praktiken orientieren, anleiten und legitimieren. Schließlich konturieren sich in und durch diese Ordnungen und ihre Praktiken jene körperlich-leibbezogenen Selbstverständnisse und Subjektkonstitutionen
35 Mnich, Sonja M.: Recht und Anspruch bei der Prothesenversorgung. Herausgegeben von der eurocom 2014, S.12. 36 Bauche, Matthias/Greitemann, Bernd/Lotz, Klaus-Jürgen/Martus, Helmut/Stein, Norbert/Wünschmann, Bernd: Hilfsmittelversorgung in Deutschland. Grundlagen und Probleme, in: Bauche, M./Greitemann, B./Lotz, K.-J./Mittelmeier, W. (Hg.): Rahmenbedingungen und Strukturen der Technischen Orthopädie in Deutschland. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik 2014, S.71-89, hier: S.72. 37 eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.12. 38 S. Mnich: Prothesenversorgung, S.12. 39 Vgl. R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.38.
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des Nicht-behindert-Seins/Behindert-Seins, die mit der subjektiven Erfahrung des Körperhabens und Leibseins einhergehen.«40
Wie sich dabei der Erstkontakt mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese nach der Amputation für meine Forschungsteilnehmer gestaltet hat und welchen soziokulturellen Logiken die Prothetisierung ›amputierter‹ Körper damit verbunden letztendlich folgt, werde ich im folgenden Kapitel genauer darlegen.
3.3
SCHMERZ LASS NACH! PROTHETISCHE ERSTVERSORGUNG IM KRANKENHAUS
Bevor nach einer Amputation im Krankenhaus mit der Anpassung einer Interimsprothese durch einen Orthopädietechniker begonnen wird, rückt zunächst ein bestimmtes Körperteil ins Zentrum der Aufmerksamkeit: der medizinisch kreierte Beinstumpf. Dieser sollte im Idealfall möglichst zeitnah nach der Amputation durch den Pflegedienst der Klinik mit Kompressionsverbänden gewickelt werden, um die Ansammlung von Gewebeflüssigkeit zu reduzieren, wie aus verschiedenen Ratgeberbroschüren und Infoportalen zum Thema Amputation hervorgeht.41 Diese Kompressionswicklung wird nach der Entfernung der Wunddrainagen weitergeführt durch spezielle Silikonhüllen, sogenannte Post-OPLiner, die über den Beinstumpf der betreffenden Person gezogen werden und wodurch dieser bereits in eine ›prothesenkompatible‹ Form gebracht werden soll. Gleichzeitig wird der Beinstumpf durch vorsichtige Massagereize, beispielsweise mit einem trockenen Waschhandschuh oder einer Bürste, abgehärtet bzw. desensibilisiert und so »[…] auf die neue Belastungssituation in der Prothese vorbereitet.«42 Daneben sollten in der Klinik bereits zusammen mit Physiotherapeuten Übungen zur Stärkung der Rumpf-, Arm- und Beinmuskulatur, sogenannte Stumpfgymnastik sowie erste Geh- bzw. Gleichgewichtsübungen ohne
40 Ebd., S.35/36. 41 Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.10; Homepage der Zeitschrift Stolperstein,
http://www.stolperstein.com/beinamputation/nach-der-beinamputation/
in-der-klinik/ (Stand: 07.01.16). 42 eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.30; vgl. auch Berting-Hüneke, Christa: Behandlung nach Amputationen an der unteren Extremität, in: Koesling, Connie/Barth, Heike (Hg.): Ergotherapie in Orthopädie, Traumatologie und Rheumatologie. Stuttgart: Thieme 2008, S.131-145, hier: S.135/136.
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Prothese durchgeführt werden, was der »[…] Schaffung stabiler körperlicher Voraussetzungen […]«43 für die anschließende prothetische Versorgung dient. Wie an diesen Beschreibungen deutlich wird, muss der Körper in seiner materiellen Dimension nach einer Amputation somit zunächst aktiv bearbeitet werden, um ihn auf das Tragen einer Prothese vorzubereiten oder anders ausgedrückt: Prothese-Tragen erfordert spezifisch geformte Körper. 44 Dabei sind verschiedene menschliche wie nicht-menschliche Partizipanden (Klinikpersonal, Physiotherapeuten, zukünftiger Prothesenträger, Kompressionsverbände, Silikonliner, Bürsten bzw. Massagehandschuhe etc.) auf unterschiedliche Art und Weise an der Herstellung ›prothesenkompatibler‹ Körper im Krankenhaus beteiligt und bringen diese als solche letztendlich erst in spezifischen Praktiken hervor. Die US-Sozialanthropologin Charis Thompson, die sich in einer empirischen Studie über Fruchtbarkeitskliniken in den USA aus STS-Perspektive mit der Frage nach dem dortigen ›Gemacht-Werden‹ von Eltern auseinandersetzt, hat dabei den Begriff der ontological choreography eingeführt, um das koordinierte Zusammenspiel verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten innerhalb der Fruchtbarkeitsklinik zu analysieren. 45 Der Begriff der Choreographie im Sinne Thompsons kann auch im Hinblick auf die Herstellung ›prothesenkompatibler‹ Körper im Krankenhaus genutzt werden, um das kontinuierliche Aushandeln und Justieren zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanden zu beschreiben, wobei das wesentliche Ziel der dargestellten klinischen Versorgungspraktiken nach der Amputation vor allem darin besteht, den körperlichen Zustand der betreffenden Person zu verbessern und diese auf das Tragen einer Prothese vorzubereiten. Während diese postoperativen Maßnahmen im Anschluss an die Amputation durchgeführt werden, wird vom Sozialdienst der Klinik schließlich ein Orthopädietechniker kontaktiert, der für die Anfertigung der Interimsprothese zuständig ist und zusammen mit dem medizintechnischen Artefakt das soziotechnische Ensemble in der Klinik dementsprechend erweitert. Wie ich bereits erwähnt habe, wird die Interimsprothese in den ersten drei bis sechs Monaten nach der Amputation bis zum Erhalt der Definitivprothese getragen und dient insbesondere dazu, die Fähigkeiten der betreffenden Person im Hinblick auf die nachfolgende prothetische Versorgung zu ermitteln. Eine Interimsprothese setzt sich dabei je nach Amputationshöhe aus unterschiedlichen Passteilen zusammen, in der Regel besteht sie jedoch aus einem Prothesen-
43 eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.13. 44 Vgl. auch L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.193. 45 Vgl. Thompson, Charis: Making Parents. The Ontological Choreography of Reproductive Technologies. Cambridge, Massachusetts: MIT Press 2005.
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fuß, einem sogenannten Rohradapter oder Rohrstück und einem durchsichtigen Prothesenschaft, damit der Orthopädietechniker die optimale Stumpfbettung im Schaft überprüfen kann. Beim Prothesenschaft, der handwerklich vom Orthopädietechniker angefertigt wird, handelt es sich letztlich um die wichtigste Komponente der gesamten Prothese, da dieser die eigentliche Schnittstelle zwischen Prothesenträger und medizintechnischem Artefakt darstellt und damit verbunden zwischen Prothesenträger und der ihn umgebenden Welt. Die Verbindung von Prothesenschaft und Beinstumpf kann im Sinne des Technikphilosophen Philip Brey daher auch verstanden werden als »[…] means through which the environment is experienced and acted on. […] [as] means through which the environment is perceieved.«46 Bereits die kleinste Veränderung am Schaft kann somit einen gravierenden Wandel in der Wahrnehmung des Untergrundes bewirken und hat Auswirkungen auf das körperlich-leibliche Empfinden der betreffenden Individuen bzw. bedingt damit verbunden auch maßgeblich die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments wie ich in den nachfolgenden Kapiteln noch genauer darstellen werde. Wie der Orthopädietechniker Karl Bergmann mir gegenüber in einem Gespräch zudem geschildert hat, handelt es sich bei den soeben dargestellten Abläufen nach einer Amputation eher um einen Idealfall, wohingegen die tatsächliche Situation in deutschen Kliniken eher so aussieht, »[…] dass amputiert wird, nach vierzehn Tagen, drei Wochen, kurz bevor die Fäden gezogen werden, meistens der Arzt sagt ›Ja, da müssen wir noch nen Techniker anrufen, der hier ne Prothese baut‹. In der Zwischenzeit ist KEIne stumpfkomprimierende Maßnahme durchgeführt worden, es ist ne Schwellung drin, ABER es wurde auf jeden Fall auch schon gleich ein Rehatermin vereinbart, der innerhalb von zwei bis drei Tagen stattfindet, das heißt der Techniker soll kommen, findet nen Stumpf vor, der furchtbar aufgeschwollen ist und äh soll aber trotzdem ne Prothese anfertigen, weil der Patient soll ja nur mit ProTHESE in die Reha entlassen werden. Dass diese Prothese dann innerhalb kürzester Zeit, wenn er sie denn anfertigt, viel zu groß und zu weit ist, sollte danach klar sein, weil sobald die Schwellung raus geht, passt auch die Prothese nicht mehr. […] Das wäre jetzt ein Fall, den wir leider immer wieder haben […].«
Aus diesem Grund fordert insbesondere der Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. (BMAB), dass in Zukunft im Falle einer Amputation bereits von Anbeginn ein interdisziplinäres Team bestehend aus Chirur-
46 Brey, Philip: Technology and Embodiment in Ihde and Merleau-Ponty, in: Mitcham, C. (Hg.): Metaphysics, Epistemology, and Technology. Research in Philosophy and Technology. London: Elsevier/Jai Press 2000, S.45-59, hier: S.45.
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gen, Psychologen, Orthopädietechnikern, Physiotherapeuten etc. im Rahmen sogenannter ›Prothesensprechstunden‹ zusammenarbeitet, um so die allgemeine Versorgungslage von Menschen mit Gliedmaßenamputation in Deutschland zu verbessern.47 Auch die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) konstatiert in diesem Zusammenhang in einer Stellungnahme zum Thema Amputation und Prothetik aus dem Jahr 2013 vor allem »Defizite […] sowohl in der medizinischen als auch in der therapeutischen Versorgung und technischen Betreuung, und zwar im stationären und ambulanten Bereich. Die fachmedizinische Behandlung und Stumpfnachsorge beinamputierter Menschen sowie die Hilfsmittelversorgung mit Anwendungstraining (einschl. Gangschulung) ist nicht überall gewährleistet. Es mangelt an fachspezifischem Know-how in der chirurgischen und konservativen Behandlung sowie an Kenntnissen über Möglichkeiten der Hilfsmittelversorgung, einschl. Verordnungs-, Kontroll- und Abnahmekriterien. Im therapeutischen Bereich fehlen auf diese Problematik geschulte Therapeuten, um flächendeckend eine bedarfsgerechte Versorgung zu gewährleisten. Auch das erzielte Ergebnis der technischen Hilfsmittelversorgung ist häufig nicht bedarfsgerecht.«48
Während meiner Feldforschungszeit im Orthopädietechnikzentrum hatte ich dabei die Möglichkeit, Karl Bergmann zu prothetischen Erstversorgungen ins Krankenhaus bzw. Altersheim zu begleiten, wodurch ich einen direkten Einblick bekommen habe, wie sich die Anpassung von und Versorgung mit Interimsprothesen nach einer Amputation in praktischer Hinsicht gestaltet und wie dies von den betreffenden Personen erlebt wird. Dabei habe ich beobachtet, dass auch bei der Anpassung einer Interimsprothese zunächst vor allem der Beinstumpf ins Zentrum des orthopädietechnischen Interesses rückt. So wird dieser vom jeweiligen Orthopädietechniker genau begutachtet und abgetastet, anschließend wird dessen Volumen gemessen sowie zur Anpassung des Schaftes ein Gipsabdruck davon gemacht. Es geht für Orthopädietechniker somit um die visuelle und haptisch-taktile Erkundung des Körpers der betreffenden Individuen, um das sinnli-
47 Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/ueber-uns/unsere-forderungen/ (Stand: 07.01.16). 48 Deutsche Gesellschaft für Rehabilitation (DVfR): Empfehlungen zur Verbesserung des teilhabeorientierten Versorgungsprozesses für Menschen mit Beinamputationen unter besonderer Berücksichtigung der Prothesenversorgung, 2013, S.2. OnlineDokument, http://www.dvfr.de/fileadmin/download/Stellungnahmen/DVfR-Empfehlungen_Versorgungsprozess_Amputation_-_Nov_Copy.pdf (Stand: 07.01.16).
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che Generieren von Körperwissen.49 Auf Basis dessen, was vom Techniker ertastet und visuell erfasst wurde, werden schließlich ein entsprechender Prothesenschaft angefertigt und die einzelnen Prothesenpassteile ausgewählt. Das medizintechnische Artefakt Prothese wird vom Orthopädietechniker individuell an den Körper des jeweiligen Nutzers angepasst und damit verbunden in seiner Materialität modifiziert oder anders ausgedrückt: der jeweilige Körper in seiner individuellen Materialität erfordert spezifisch geformte Prothesen(komponenten). In diesem Zusammenhang kann im Grunde auch nicht von der Prothese im Sinne einer homogenen Entität gesprochen werden wie dies bei aktuellen medialen Darstellungen oftmals der Fall ist. Vielmehr existiert »[u]nder the umbrella term prosthetics/prosthesis [...] a multiple reality [...]«50 wie es unter anderem Lucie Dalibert formuliert. Der Erstkontakt mit der Interimsprothese wurde mir von meinen Forschungsteilnehmern dabei vor allem als eher schmerzhaftes Erlebnis beschrieben. Deutlich wird dies unter anderem an der Aussage von Eduard König, der sagt: »Ich habʼ gedacht ›Da kannst nie laufen mit so nem Teil‹, das hat gedrückt und hat weh getan [...]. Das war eher deprimierend [...]. Es war zwar schön, dass wieder mal in der Senkrechten gestanden bist, [...] das schon, aber ich habʼ gedacht ›Da kannst nie laufen mit so nem Teil‹ […].« Auch Saskia Eibich äußert sich in ähnlicher Weise und betont, dass sie beim allerersten Kontakt mit ihrer Interimsprothese eher gemischte Gefühle hatte. Sie schildert: »[...] ja und dann kam die Prothese (...) und es war dann schon so, dass ich gesagt habʼ ›Off es geht gar nicht‹, also Druckschmerzen, nicht gepasst, dann konntʼ ich nicht gescheit laufen, […] war ein Fremdkörper. Also es war einfach so, dass es was Fremdes war, dass es was war, wo ich gesagt habʼ ›Ich weiß nicht, ob ich das jemals hinkriegʼ […] mit ner Prothese zu laufen‹, weilʼs einfach immer weh tat.«
Die Interimsprothese verursacht somit anfangs vor allem Schmerz, da Kunststoff auf die sensible Haut des medizinisch kreierten Körperteils Beinstumpf trifft, sie
49 Den Begriff ›Körperwissen‹ verstehe ich hier im Sinne von ›Wissen über den Körper‹, das heißt als Wissen über die physische Beschaffenheit des Beinstumpfes, über die Muskulatur, Knochenstruktur etc. Vgl. Keller, Reiner/Meuser, Michael: Wissen des Körpers – Wissen vom Körper. Körper- und wissenssoziologische Erkundungen, in: Dies. (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S.9-31. 50 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.166.
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wird als ›unbequem‹, ›eng‹ oder auch ›schwer‹ empfunden, wie aus verschiedenen Aussagen meiner weiteren Interviewpartner hervorgeht und was im Sinne der Soziologin Nina Degele vor allem als negative Erfahrung technogener Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit verstanden werden kann, denn die Art der sinnlichen Wahrnehmung des medizintechnischen Artefakts ist verbunden mit einem subjektiven Empfinden, das sich in einem leiblichen Spüren äußert.51 Hinzu kommt, dass die Interimsprothese nicht wie ein ›echtes‹ Bein aussieht und funktioniert, da zur besseren Einstellung meist auf eine hautfarbene Verkleidung verzichtet und die Interimsprothese oftmals mit steifen Gelenken ausgestattet wird, um Stürze zu verhindern. Steven Kurzman schreibt in diesem Zusammenhang aus autoethnographischer Perspektive, dass »[a] prosthesis may be oneʼs new limb for new amputees, but it looks and feels like a hunk of metal, plastic, and rubber rather than oneʼs limb.«52 Darüber hinaus fehlt die sogenannte sensible Rückkopplung, das heißt Menschen mit Beinamputation spüren vor allem anfangs nicht, wo im Raum oder auf welchem Untergrund sie mit ihrer Prothese stehen, ob sie eher die ›Zehenspitzen‹ oder die ›Ferse‹ belasten, das Gefühl endet gewissermaßen am Beinstumpf. Zudem können am Beinstumpf selbst Störungen der Sensibilität auftreten, wenn beispielsweise bei der Amputation Nerven durchtrennt worden sind. Karl Bergmann beschreibt diese Problematik Folgendermaßen: »Es geht, dass man sich draufstellen kann [auf die Prothese, C.R.], aber es fehlt die sensible Rückkoppelung [sic]. Sie [Prothesenträger, C.R.] spüren ja nicht, auf WAS sie stehen, ob sie jetzt ähm mit [...] dem Ballen oder mit der FERse auf den [sic] Untergrund stehen, sie merken halt einfach nur ›OK, da ist was da, was nen Gegendruck bietet und auf das ich mich DRAUFstellen kann‹. Aber nicht vom Gefühl her, dass sie sagen können ›OK, ich weiß jetzt genau, wo sich meine Prothese im Raum befindet‹, zumindest beim allerersten Mal nicht. [...] beim allerersten Mal ist der Eindruck, glaube ich, eher ernüchternd.«
Zwar wurde im Juni 2015 von dem Prothetik-Experten Dr. Hubert Egger die weltweit erste ›fühlende‹ Beinprothese der Öffentlichkeit präsentiert, die mittels
51 Vgl. Degele, Nina: Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie, in: Gugutzer, Robert (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: transcript 2006, S.141-163, hier: S.144; vgl. auch Böhle, Fritz/Porschen, Stephanie: Körperwissen und leibliche Erkenntnis, in: Keller, Reiner/Meuser, Michael (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S.53-67, hier: S.59 52 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.75.
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einer spezifischen, in die Prothese bzw. in den Prothesenfuß und Schaft eingebauten Sensorik dem Träger das Gefühl der verlorenen Gliedmaße wiedergeben soll.53 Die Anpassung dieser Prothese erfordert allerdings eine weitere Operation, bei der bestehende Nervenenden am Beinstumpf der betreffenden Person auf eine bestimmte Art und Weise miteinander verknüpft werden müssen, damit die Sensorübertragung zwischen Prothesenfuß ̶ Schaft ̶ Beinstumpf überhaupt funktioniert. Zudem handelt es sich bei dieser Beinprothese momentan noch um einen Prototypen, der noch nicht auf dem Markt erhältlich ist. Der Großteil an Menschen mit Beinamputation sieht sich somit nach wie vor mit der Schwierigkeit konfrontiert, ein ›unbelebtes‹ medizintechnisches Artefakt in ihre körperlich-leibliche Wahrnehmung zu integrieren. Der 31-jährige Oberschenkelprothesenträger Lennard Beck hat mir gegenüber in diesem Zusammenhang beispielsweise auch beschrieben, dass sich die Interimsprothese für ihn beim allerersten Mal »[...] irgendwie so dumpf, […]« angefühlt habe, »[...] weil du halt kein GeFÜHL hast äh drin.« Die selbst beinamputierte US-Medienwissenschaftlerin Vivian Sobchack bezeichnet ›Dumpfheit‹ dabei allerdings nicht als not feeling, sondern vielmehr als the feeling of not feeling.54 Weiter schildert Lennard Beck: »[...] wenn du dann in der Prothese stehst, dann ist das zum ersten Mal schon äh ja, du denkst dir ›Ok, ja gut äh, das fühlt sich jetzt nicht schlecht an‹, […] weil du halt mal stehst. Ansonsten äh isʼ es aber schon, […] du erwartest vielleicht mehr [...] von der prothetischen Versorgung und denkst dir erst mal ›Äh [...] das warʼs jetzt oder wie? Äh das, also das wird mich jetzt bis an mein Lebensende begleiten? Das isʼ jetzt das Gefühl äh, das ich immer haben werde oder?‹ [...] das isʼ so der erste Moment, wo du denkst ›Aha, so fühlt sich das jetzt an‹, [...].«
Einen weiteren Einblick, wie sich der Erstkontakt mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese und das damit verbundene Problem der sensiblen Rückkopplung gestaltet, gibt auch der nachfolgende Auszug aus einem meiner Beobachtungsprotokolle. Dieses habe ich angefertigt, als ich Karl Bergmann im Februar 2014 zur Prothesenversorgung einer 85-jährigen Frau ins Seniorenheim begleitet habe, der im Jahr 2013 das rechte Bein ab dem Oberschenkel aufgrund eines ar-
53 Siehe u.a. Homepage des Prothesenherstellers Endolite, Artikel zum Thema »Erste ›fühlende‹ Beinprothese« vom 10.06.2015, http://www.endolite.de/nachrichten/erstefuhlende-beinprothese (Stand: 10.07.15). 54 Vgl. Sobchack, Vivian: Beating the Meat/Surviving the Text, or How to Get Out of this Century Alive, in: Body & Society 1 (1995), S.205-214, hier: S.207.
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teriellen Verschlusses amputiert werden musste und für die Karl eine Interimsprothese angefertigt hat. Februar 2014, Seniorenheim in einer deutschen Großstadt: Als wir das Zimmer der älteren Dame betreten, sitzt diese bereits aufrecht in ihrem Bett, der Fernseher läuft. Die Frau hat kurze hellbraun-graue Haare, sie trägt eine Art grünes Blusenkleid mit großem Blumenprint darauf sowie dazu passende grüngoldene Ohrringe. Wie ich sehen kann, steckt ihr rechter Beinstumpf bereits in einem Liner. Karl begrüßt die Dame freundlich und stellt mich kurz als Orthopädietechnikpraktikantin vor. Er fragt die Frau nach ihrem Befinden und schaut sich ihren Beinstumpf samt Liner genauer an. Dann misst er mit einem Maßband den Stumpfumfang nochmals ab, um zu überprüfen, ob sich dieser seit seinem letzten Besuch wesentlich verändert hat. Anschließend zeigt Karl der Dame die Interimsprothese, die wir mitgebracht haben und erklärt ihr sehr einfühlsam wie diese sitzen wird, z.B. dass sie dadurch ihren Sitzbeinknochen vermutlich stärker als bisher spüren wird. Die Interimsprothese besteht aus einem durchsichtigen Schaft aus Plexiglas, damit Karl sehen kann, wie der Beinstumpf darin sitzt. Darüber hinaus ist die Interimsprothese für die ältere Dame mit einem steifen Kniegelenk ausgestattet, wie Karl erläutert, damit sie beim Stehen nicht einknickt, was ihr anfangs mehr Sicherheit gibt. Karl erklärt der Dame die Interimsprothese in ihren Einzelheiten ganz genau und demonstriert ihr direkt an der Prothese, was ein steifes Kniegelenk ist. Am Schaft befindet sich schließlich auch noch ein kleiner Hebel, mit dem das Prothesen-Kniegelenk manuell abgeknickt werden kann, was das Hinsetzen erleichtern soll. Die ältere Dame hört Karl aufmerksam zu, dennoch scheint sie unsicher zu sein, was an ihrem Gesichtsausdruck und an ihrem nervösen Lachen deutlich wird. Karl spricht der älteren Dame Mut zu und hilft ihr, die Prothese anzuziehen. Dann bittet er sie zu versuchen, mit der Prothese vom Bett aufzustehen. Er stellt zusätzlich einen Rollator vor die ältere Frau, an dem sie sich festhalten kann. Karl und ich stützen die Dame zudem an den Armen ab und helfen ihr, sich hinzustellen, sie hat jedoch Angst zu fallen und verzieht das Gesicht. Karl sagt zu ihr, dass sie nun ihr linkes Bein anheben soll, was die ältere Dame macht. Dann sagt er zu ihr »So, jetzt stehen Sie voll auf ihrem Prothesenbein« (O-Ton). Die ältere Dame kann das nicht glauben, sie schaut ihn verdutzt an und sagt »Jetzt ehrlich? Das Gefühl kenne ich noch nicht. Ist einfach komisch, weil ich da kein Gefühl habe« (O-Ton). Anschließend stützen Karl und ich die Dame wieder an den Armen ab, damit sie mit Rollator und Prothese einige Schritte im Zimmer umhergehen kann, was sie sichtlich anstrengt, da sie ins Schnaufen kommt. Sie läuft zudem sehr langsam und vorsichtig, da sie Angst hat zu fallen, wie sie sagt. Nach eini-
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gen wenigen Schritten helfen Karl und ich der Dame, sich wieder auf das Bett zu setzen. Sie sagt »Wichtig ist, dass ich da ein Gefühl bekomme« (O-Ton), wobei sie auf die Prothese deutet. Anschließend zeigt Karl der älteren Frau, wie sie die Interimsprothese ausziehen kann und vereinbart mit ihr, dass er in den nächsten Tagen wieder vorbei kommen wird, um nach ihr zu sehen. Ich frage die Frau, wie es für sie war, zum ersten Mal in einer Prothese zu stehen und sie meint »Wahnsinnig unsicher. Ich spüre ja nichts« (O-Ton). Dann verabschieden Karl und ich uns von der Dame und verlassen das Zimmer. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, gestaltet sich der Gebrauch von Prothesen für Menschen nach einer Beinamputation keineswegs von Anbeginn intuitiv und fühlt sich auch nicht ›natürlich‹ an. Vielmehr müssen sowohl der durch die Amputation veränderte Körper als auch das medizintechnische Artefakt Prothese von den betreffenden Individuen (neu) angeeignet und ihrem Bewegungsablauf aufeinander abgestimmt werden. Dies wird jedoch vor allem durch die beschriebene, fehlende sensible Rückkopplung erschwert. Prothesenträger müssen daher anfangs konzentriert über jeden einzelnen Schritt, über jede Muskelanspannung und Gleichgewichtsverlagerung nachdenken. Der mittels Prothesen technisierte Körper rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit und zwar in seiner materiellen Dimension bzw. im Sinne von Drew Leders dys-appearance, also als »[…] the focus of thematic attention […]«.55 Auch Lucie Dalibert, die ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt in diesem Zusammenhang, dass »[p]rostheses, in fact, provide a renewed [...] access to oneʼs bodily materiality. They not only mediate the ways in which bodies are experienced, but the concreteness or weightness – materiality – of oneʼs bodily existence also becomes intimate as a different body comes to being with prostheses and somatechnologies in general. With/in somatechnologies, bodies ›dys-appear‹.«56
Prothesenträger müssen sich somit neue physische wie informatorische Eigenschaften, die mit dem Gebrauch von Prothesen einhergehen, aneignen und internalisieren, damit sie eine Prothese nutzen und im Sinne technogenen Embodiments nicht nur in ihre körperliche, sondern auch in ihre leibliche Wahrnehmung integrieren können. Eine bedeutende Rolle hierbei spielt vor allem das rehabilitationsklinische Prothesentraining und die damit verbundene Gehschule, auf die ich in Kapitel 4 näher eingehen werde, wobei die Begriffe ›Training‹ und ›Schu-
55 D. Leder: Absent Body, S.103. 56 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.194.
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le‹ ebenfalls darauf verweisen, dass Prothese-Tragen als Set an spezifischen KörperTechniken erst erlernt und eingeübt werden muss, damit sich ProtheseTragen zu einem verinnerlichten Leibkönnen entwickeln und sich im Sinne Robert Gugutzers eine emotionale bzw. intime Ding-Person-Beziehung zwischen Prothesenträger und medizintechnischem Artefakt etablieren kann.57 Deutlich wird dies exemplarisch auch wieder an der Aussage von Lennard Beck, der im Hinblick auf seine ersten gewöhnungsbedürftigen Schritte mit einer Interimsprothese nach der Amputation sagt: »[…] du bist ja (.) über zwanzig Jahre, sagʼ ich mal, einfach so gelaufen, […] was ganz Natürliches, du hast dich daran gewöhnt und das isʼ halt dann weg. Und dann musst erst mal (.) aufpassen, […] dass du da halt einfach (.) das Gefühl dafür kriegst […] und da einfach aufpasst äh beim […] Losgehen. […] du merkst halt einfach ›Ja äh, ich muss damit [mit der Prothese, C.R.] anders laufen, muss damit anders gehen‹.«
Gleichzeitig offenbart sich hieran, dass im Grunde rein körperliche Aktivitäten wie eben Gehen, Stehen, Sitzen etc. nun gleichermaßen auf Mensch und medizintechnisches Artefakt verteilt werden müssen. Nur durch das erfolgreiche Zusammenspiel von menschlichem und nicht-menschlichem Partizipand wird Gehen, Sitzen etc. überhaupt erst möglich, wobei sich die Prothese gegenüber Prothesenträgern auch ›widerständig‹ verhalten kann wie ich in den Kapiteln 4 und 5 noch genauer darstellen werde. Neben der fehlenden sensiblen Rückkopplung einerseits, treten bei rund 50 bis 90 Prozent der Menschen, die eine Beinamputation erlebt haben, andererseits aber auch sogenannte Phantomgefühle bzw. Phantomglieder auf.58 Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass die betreffende Person den Eindruck hat, das amputierte Bein sei noch da, es handelt sich um real erlebte Empfindungen im amputierten Körperteil. Als Ursache für Phantomgefühle gilt, dass sich sowohl das Gehirn als auch die Nerven auf die neue Situation einstellen müssen.59 In den meisten Fällen wird dabei weniger das komplette Bein gespürt, sondern vielmehr nur einzelne Teile davon wie der Fuß oder die Zehen. Teilweise kann es auch vorkommen, dass Menschen nach einer Beinamputation das amputierte Bein als kürzer oder länger, dicker oder dünner, schwerer oder leichter im Vergleich zu vor der Amputation empfinden. Im Verlauf der Zeit nimmt die Stärke dieser
57 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.129. 58 Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.39/40. 59 Ebd., S.39.
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Empfindungen zwar ab, in manchen Fällen kann das Phantomgefühl jedoch dauerhaft bestehen bleiben.60 Vivian Sobchack hat aus autoethnographischer und phänomenologischer Perspektive das Empfinden von Phantomgliedern in diesem Zusammenhang vor allem als ambiguous experience61 bezeichnet, während Cassandra Crawford in ihrer Dissertation, in der sie sich ausführlich aus kulturhistorischer Perspektive mit dem Phänomen Phantomglied auseinandersetzt, auch den Begriff embodied ghosts62 verwendet. Besonders anschaulich schildert Sobchack dabei eine Situation, als sie kurz nach der Amputation ihres linken Beines ab dem Oberschenkel infolge eines Tumors zuhause auf ihrem Sofa lag und zwar sah, dass das Bein nicht mehr da war, es aber dennoch (leiblich) als Phantomglied spürte: »On the one hand […], propped up on my sofa after surgery, looking at my body stretched out before me as an object, I could see ›nothing‹ there where my […] left leg had been. On the other hand, feeling my body subjectively, along with significant […] post-operative pain, I most certainly experienced ›something‹ here – the ›something‹ sort of like my leg, but not exactly coincident with my memory of its subjective weight and length; […] Most prominent and clearly defined, I experienced my former foot: even two of the outer toes felt numb just as they had before the surgery. (Herv. i. O.)«63
Sobchack beschreibt dieses (deutliche) Spüren ihres Phantomgliedes in diesem Zusammenhang auch als »[…] the presence of an absence […]«64 und verweist zugleich auf das Paradox, dass sie im Gegensatz zu ihrem Phantomglied ihr noch vorhandenes rechtes Bein bei noch so starker Konzentration nicht in der gleichen Intensität (leiblich) zu spüren vermochte wie das amputierte linke Bein: »Indeed, I had to explicitly force myself to sense my right leg even as I could clearly see its objective location and shape. […] I also felt the weight of my right leg only vaguely. […], whereas I subjectively experienced the objective ›no-thing‹ there of my absent left leg as ›some thing‹ here, I subjectively experienced the objective ›some thing‹ there of my ›real‹ leg as almost ›no-thing‹ here at all. (Herv. i. O.)«65
60 Vgl. T. Breyer: Das Phantom im Spiegel, S.2. 61 Vgl. Sobchack, Vivian: Living a ›Phantom Limb‹: On the Phenomenology of Bodily Integrity, in: Body & Society 16 (2010), S.51-67, hier: S.51. 62 C. Crawford: Phantom Limb, S.32. 63 V. Sobchack: Living a ›Phantom Limb‹, S.57. 64 Ebd., S.58. 65 Ebd., S.58/59.
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 131
Wie an Sobchacks Darstellung deutlich wird, entsteht durch das explizite Spüren des Phantomgliedes bei gleichzeitigem Nicht-Spüren des noch vorhandenen Beins »[…] ein Dilemma für das Subjekt, das im Phantom manifest wird […] (Herv. i. O.)«66 wie der Philosoph und Sozialanthropologe Thiemo Breyer schreibt. Gleichzeitig offenbart sich hieran in (neo-)phänomenologischer Hinsicht das spezifische Räumlichkeitsverhältnis von Körper und Leib bzw. die Eigenständigkeit des Leibraumes wie sie von Hermann Schmitz beschrieben wurde. Nach Schmitz zeichnet sich der Leib durch eine sogenannte ›absolute Räumlichkeit‹ aus, die sich über die ›relationale Räumlichkeit‹ des Körpers hinaus erstrecken kann. Während der menschliche Körper nach diesem Verständnis durch Lage- und Abstandsbeziehungen in einem räumlichen System von Orten identifizierbar ist, existiert die Räumlichkeit des Leibes unabhängig von einer derartigen räumlichen Orientierung.67 Im Falle von Phantomgliedern ragt der absolute Raum des Leibes dementsprechend über den relationalen Raum des Körpers hinaus oder anders ausgedrückt: das materiell nicht mehr vorhandene Bein wird leiblich als noch vorhanden und als den Beinstumpf erweiternd gespürt, das heißt Phantomglieder bzw. die Räumlichkeit des Leibes ist in diesem Sinne nicht an körperliche Umrisse gebunden. Im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Prothesen wird dabei von internationalen Wissenschaftlern die Ansicht vertreten, dass sich das Spüren von Phantomgliedern positiv auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen durch die betreffenden Individuen im Sinne von technogenem Embodiment auswirken kann, indem leiblich gespürtes Phantomglied und medizintechnisches Artefakt in Eins fallen. Das heißt, »[p]hantoms inhabit and animate prostheses, bringing dead wood and cold steel to life. In fact, amputees who experience the complete absence of a phantom have been thought to have remarkable difficulty becoming skilfull with a prosthesis. […], while embodied ghosts animate prostheses, man-made limbs provide embodied ghosts with the kind of structure that can enable their usefulness […].«68
Damit verbunden wird Prothesen zudem eine kurative bzw. therapeutische Funktion zugeschrieben, indem diese Phantomglieder sozusagen ›zähmen‹ bzw. ›bän-
66 T. Breyer: Das Phantom im Spiegel, S.3. 67 Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Dritte, um eine Vorrede erweiterte Auflage. Bielefeld: Ed. Sirius 2015; vgl. auch Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: KlettCotta 2000, S.74. 68 C. Crawford: Body Image, S.237/238.
132 | Alltag mit Prothese
digen‹ oder diese sogar vermindern können. Insgesamt wurde das Auftreten von Phantomgefühlen nach der Amputation von den meisten meiner Forschungsteilnehmer, die davon betroffen waren, allerdings als eher unangenehm empfunden, zumal sie ihre Phantomglieder in der Regel eben nicht als komplettes Bein gespürt haben, sondern lediglich Teile davon wie einzelne Zehen, die jucken, kitzeln oder sich taub anfühlen.69 Verbunden mit Phantomgliedern können zudem nach einer Amputation auch Phantomschmerzen auftreten, bei welchen es sich um Schmerzen handelt, die (leiblich) im amputierten Körperteil empfunden werden. Die Ursache von Phantomschmerzen konnte bis heute noch nicht eindeutig geklärt werden. Mediziner und Neurologen gehen unter anderem davon aus, dass bei der Amputation beschädigte Nerven permanent Signale an das Gehirn senden, die von diesem als Schmerzen im amputierten Körperteil interpretiert werden.70 Angesichts der hier beschriebenen, eher schmerzhaften bzw. ambivalenten Erfahrungen nach der Amputation sowie im Hinblick auf den Erstkontakt mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese stellt sich nun die Frage, weshalb sich meine Forschungsteilnehner überhaupt für das Tragen von Prothesen entschieden haben anstelle alternativ beispielsweise auf den Gebrauch eines Rollstuhls zurückzugreifen? Als wesentliche Motivation für das Tragen von Prothesen wurde mir von meinen Gesprächspartnern vor allem der dadurch erhoffte Rückgewinn von Mobilität, Selbständigkeit und Unabhängigkeit genannt oder auch scheinbar banale Dinge wie mit freien Händen, das heißt ohne Krücken, eine Tasse tragen zu können und dadurch nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein zu müssen. So begründet beispielsweise der 64-jährige Clemens Albrecht, dem mit 35 Jahren infolge eines Motorradunfalls der linke Oberschenkel amputiert werden musste, seine Entscheidung für eine Prothese damit, dass es sein erster An-
69 Die britische Fotografin Alexa Wright hat im Jahr 1997 in Zusammenarbeit mit Neurologen und Neuropsychologen im Rahmen eines Projekts versucht, die von Menschen mit Bein- oder auch Armamputation beschriebenen Phantomglieder und somit ein eigentlich nicht sichtbares, leibliches Spüren zu visualisieren und damit gewissermaßen zu materialisieren, wobei die von den betreffenden Individuen empfundene Diskrepanz zwischen (sichtbarem) materiellem Körper und (unsichtbarer) leiblicher Wahrnehmung deutlich wird. Siehe hierzu Homepage von Alexa Wright, http://www.alexawright.com/afteriimages.html (Stand: 12.01.16). 70 Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.40; List, Margrit: Physiotherapie in der Traumatologie. Fünfte, vollständig überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer Medizin Verlag 2009, S.390.
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 133
spruch war, »[…] wieder selbständig zu werden. Einfach wieder laufen zu können. […] Das war eigentlich so die Erwartung. […] Ja, Unabhängigkeit, Selbständigkeit […].« Weiter sagt er: »[...] und das ist schon […] einfach auch eine Geschichte, wenn duʼs erste Mal wieder auf zwei Beinen, sprich auf der Prothese, stehst und ne Tasse Kaffee nehmen kannst. […] ich bin so ein Mensch, der sich, sagʼ mal nicht SO gern helfen lässt. […] und deswegen war mir wichtig äh Unabhängigkeit zu haben und die Prothese gibt ein riesen Stück an Unabhängigkeit. Äh man isʼ unabhängig von Hilfe, man isʼ unabhängig in Situationen und das findʼ ich ne ganz wichtige äh Geschichte […].«
Ähnlich äußert sich auch Lennard Beck, der betont: »[…] ich habʼ nie darüber nachgedacht, keine zu tragen. […] du hast das Gefühl, dass du das BRAUCHST (..), also weil du kannst mit einem Bein einfach nicht laufen […], du kannst halt hüpfen, aber äh das isʼ mega anstrengend, das isʼ schlecht für die Gelenke, es isʼ instabil, […] dann hast du halt Krücken, dann hast du die Hände nicht frei und so weiter, also das wärʼ für mich NIE ne Alternative gewesen. Also ÜBERHAUPT nicht, […].«
Der Verzicht auf den Gebrauch einer Prothese und der alternative Rückgriff auf Krücken oder einen Rollstuhl wurde von allen meinen Gesprächspartnern, unabhängig von der Amputationsursache, vom Alter oder Geschlecht, in diesem Zusammenhang daher auch entschieden abgelehnt. So macht Eduard König beispielsweise deutlich: »Ich habʼ von Anfang an gesagt ›Ich will raus aus dem Rollstuhl‹, klar. Das war mir GANZ wichtig [...]. […] du willst ja wieder mobil sein, du willst ja mehr am Leben teilnehmen. […] Und darum war mir das auch ganz wichtig, ich habʼ gesagt ›So schnell raus aus dem Rollstuhl wie möglich und wieder laufen können einigermaßen‹.«
Im Rollstuhl zu sitzen wird von Eduard König hier im Gegensatz zum Tragen einer Prothese in Verbindung gebracht mit ›nicht mobil sein können‹, ›weniger am Leben teilnehmen können‹. Wie dabei Katja Lüke in einem Aufsatz schreibt, in dem sie sich mit Körperbildern und Identitätsbildungsprozessen von Männern beschäftigt, die infolge eines Unfalls plötzlich querschnittsgelähmt (und auf einen Rollstuhl angewiesen) sind, ist insbesondere Mobilität in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung mit einem hohen Prestige besetzt, denn »[e]s sind Säuglinge, Alte, Häftlinge und Behinderte, die nicht selbst über Raum und Zeit
134 | Alltag mit Prothese
bestimmen können.«71 Mobilität steht dementsprechend für Selbständigkeit und die (Wieder-)Aufnahme als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft.72 Der Rollstuhl erschien für meine Forschungsteilnehmer im Vergleich zu Prothesen daher als schlechtere Alternative, zumal der Rollstuhl auch das kulturelle Symbol für Behinderung darstellt, verwiesen sei hier auf das allgemein bekannte Zeichen für Behindertenparkplätze oder -toiletten, das einen passiven und geschlechtsneutralen Rollstuhlfahrer zeigt. In diesem Zusammenhang betonte unter anderem auch der 52-jährige Jürgen Metzler, dem 2011 infolge eines Motorradunfalls der linke Oberschenkel amputiert wurde, mir gegenüber: »[...] so ohne Prothese im Rollstuhl sitzen, mhhhmm, ist nicht so mein Ding, [...] also man merkt das auch schon im Krankenhaus [...], in dem Augenblick, wo ich mich halt bewegen kann [...] und dann eben [...] auch mal [...] vor dem Spiegel stehen zu können, äh, ist ein ganz anderes auch Selbstwertgefühl [...].«
Im Rollstuhl zu sitzen war für ihn daher vor allem verbunden mit einem »[...] Gefühl [...] von (...) (überlegt) Hilflosigkeit [...]« wie er selbst sagt, wobei dieses Gefühl von Hilflosigkeit im Rollstuhl in ähnlicher Weise auch Martina Schubert, die Gründerin der SHG 1, beschreibt. An ihre Zeit im Krankenhaus kurz nach der Amputation, als sie noch ohne Interimsprothese im Rollstuhl saß, erinnert sie sich Folgendermaßen: »[…] als ich da im Krankenhaus war und wir waren zum Beispiel mal in der Stadt zum Shoppen mit Rollstuhl, ja, super, da ging mir das Geld aus, […] jetzt warʼs so, dass ich Geld brauchte. Jetzt sind wir schon irgendwie die Stadt runter, die Stadt hoch gerollert, so, ah da isʼ die Sparkasse, ok. Fahren wir mal zur Sparkasse. Was isʼ bei der Sparkasse? Drei Stufen. Jetzt sitzt du im Rollstuhl vor diesen drei Stufen, die jeder normal laufende Mensch einfach überwinden kann, kein Problem. Und da denkst du nicht drüber nach, wenn du zwei Beine hast. Wenn du zwei Beine hast, läufst du die drei Stufen hoch und scherst dich da nicht drum, und wennʼs ZEHN wären, das isʼ völlig Wurst. […] Du bist hilflos.«
71 Lüke, Katja: Von der Attraktivität ›normal‹ zu sein, in: Hermes, Gisela/Rohrmann, Eckhard (Hg.): Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm: AGSPAK Bücher 2006, S.128-140, hier: S.133. 72 Ebd.
Von der Amputation zum Erstkontakt mit dem ›Fremdkörper‹ Prothese | 135
Die drei Stufen zur Bank stellten für Martina Schubert im Rollstuhl ein unüberwindbares Hindernis dar und können entsprechend des sozialen Modells von Behinderung als architektonische Barriere betrachtet werden, die disability im Sinne gesellschaftlich verursachter Behinderung hervorbringt und bei den betreffenden Personen dadurch das Gefühl des spürbar Behindert-Seins bzw. des Hilflos-Seins oder (körperlich) Beeinträchtigt-Seins bedingt. Dabei schreiben Robert Gugutzer und Werner Schneider, dass vor allem architektonische Arrangements ebenso wie Alltagsgegenstände in der Regel einen Normkörper als Bezugsgröße inkorporiert haben, nach dem sie konzipiert und konstruiert werden. Das heißt, »Treppen zur und Schwellen in der Wohnung, die Breite von Türrahmen, die Höhe von Spülen und Lichtschaltern, Türklingel u.v.a. sind typischerweise auf vollständige und voll funktionsfähige Normkörper abgestimmt, nicht aber auf geh-, seh-, greif- oder hörbehinderte Menschen.«73 Gugutzer/Schneider sprechen in diesem Zusammenhang daher auch vom Behindert-Werden von Menschen durch die Ordnung der Dinge, die ›normabweichende‹ Körper zu alternativen Körperroutinen zwingt und wodurch letztendlich »[...] die sozial typisierten und routinisierten Normkörperanforderungen und damit die gegebene soziale Ordnung von Normalität/Anormalität [...]«74 reproduziert werden. In ähnlicher Weise schreibt die skandinavische Sozialanthropologin Ingunn Moser, dass »[m]ost bodies are fairly standardized, and become enabled through standardized arrangements, including, for instance, standardized physical environments. These conditions of possibility that enable bodies therefore tend to become rather transparent and disappear from view. They do, however, become visible and critical once there are non-standardized bodies in need of alternative arrangements.«75
Als Martina Schubert nach der Amputation schließlich zum ersten Mal eine Interimsprothese bekam und wieder aus dem Rollstuhl aufstehen konnte, hat sie sich daher »[...] gefühlt wie neu geboren. Du standst, hast (.) wieder die Augenhöhe gehabt (.) mit anderen und hast es Gefühl ›Wow‹. Das war wie soʼn WowEffekt, so wegen ›Wahnsinn‹. Das fühlte sich richtig richtig gut an (...).« Wie an der Aussage von Martina Schubert deutlich wird und wie mir auch von anderen Interviewpartnern geschildert wurde, bedeutete die Interimsprothese für meine
73 R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.41. 74 Ebd. 75 Moser, Ingunn: A body that matters? The role of embodiment in the recomposition of life after a road traffic accident, in: Scandinavian Journal of Disability Research 11 (2009), S.83-99, hier: S.89.
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Forschungsteilnehmer im Vergleich zum Rollstuhl trotz der damit verbundenen Schmerzen nicht nur ein höheres Maß an Mobilität, sondern vielmehr erfüllte die Interimsprothese für sie vor allem auch eine wichtige soziale bzw. sozialintegrative Funktion, indem es meinen Gesprächspartnern dadurch möglich war, anderen Personen aufrecht, auf Augenhöhe und somit ›gleichwertig‹ gegenübertreten zu können. So beschreibt Martina Schubert weiter: »[…] zwei Tage nachdem ich ausʼm Krankenhaus entlassen […] wurde, habʼ ich dann diese […] Party gemacht. […] da war mir ganz ganz arg wichtig (.) jeden Einzelnen, obwohl ich nichʼ laufen konnte, vielleicht mal drei Schritte (.) mit Schmerzen, ich saß da auch noch im Rollstuhl, mit Prothese allerdings, aber halt eben wie gesagt mit Schmerzen, war mir ganz ganz arg wichtig, den Leuten im StEHen zu begegnen. Weil, es isʼ so, wenn du im Rollstuhl sitzt und die Leute auf dich herabschauen mÜSSen (.) dann wird automatisch bei denen so ein Mitleid erzeugt (.) und wenn du ihnen aber auf Augenhöhe begegnest und sie sehen ›Wow, die steht und das geht vorwärts‹ [...], isʼ es so, dass die gleich nʼ ganz ganz anderes Gefühl für SICH haben und dir ganz anders entgegen treten.«
Das Tragen einer Prothese gab meinen Forschungsteilnehmern in diesem Sinne nach der Amputation ein Gefühl von ›Normalität‹ zurück, wie auch an der Aussage der 29-jährigen Tamara Wachinger deutlich wird, die zum Zeitpunkt unseres Interviews seit sechs Jahren infolge eines Operationsfehlers nach einer Sportverletzung rechts knieexamputiert ist und die sagt: »[…] man verliert ja soʼn Stück Normalität durch die Amputation, durch die Prothese soll das ja geändert werden […].« Mit ›Normalität‹ ist dabei vor allem auch die Annäherung an ein ›normales‹ körperliches Erscheinungsbild im Sinne eines ›vollständigen‹ Körpers gemeint. Eine wesentliche individuelle wie gesellschaftliche Funktion der prothetischen Versorgung besteht in diesem Zusammenhang darin, »[…] to return one to an acceptable degree of difference [...]«76 wie es Cassandra Crawford formuliert. Die Motivation meiner Forschungsteilnehmer, nach der Amputation eine Prothese zu tragen, reflektiert und reproduziert in dieser Hinsicht allerdings auch die (bestehende) soziale Ordnung, die sich im Sinne von Mary Douglas vor allem im, am und über den menschlichen Körper manifestiert und gesellschaftlich in erster Linie unter dem (medizinischen) Narrativ von ›körperlicher Unversehrtheit‹ bzw. ›körperlicher Vollständigkeit‹ verhandelt wird.77 (Interims-)Prothesen können damit verbunden als materialisiertes Identitätsangebot verstanden werden, indem sie den betreffenden Individuen die Auf-
76 C. Crawford: Phantom Limb, S.196. 77 Vgl. auch M. Hoffman: My ›Step-Leg‹, S.188.
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rechterhaltung einer sozialen Identität als ›kompetentes‹ Gesellschaftsmitglied ermöglichen. Allerdings wird speziell durch Interimsprothesen aufgrund der fehlenden hautfarbenen Verkleidung die durch die Amputation bedingte ›verkörperte Differenz‹ visuell weiterhin hervorgehoben, weshalb es sowohl für die meisten meiner weiblichen als auch männlichen Gesprächspartner in der ersten Zeit nach der Amputation wichtig war, die Prothese unter langer Kleidung zu verdecken. In diesem Zusammenhang kann die Interimsprothese aus einer materiellsemiotischen Perspektive auch als materieller Partizipand des Tuns betrachtet werden, der es meinen Forschungsteilnehmern nach der Amputation ermöglicht hat, Nicht-Behinderung bzw. körperliche Unversehrtheit zu performen oder um mit den Worten der britischen Sozialanthropologin Kate Milosavljevic zu sprechen: »If success within the realm of amputation means being able to pass as normal, then the prosthetic is the agent through which this passing becomes possible.«78 Die Wiederherstellung der durch die Amputation (scheinbar) verloren gegangenen ›(körperlichen) Normalität‹ spielt dabei auch eine Rolle beim Prozess der Amputationsnachsorge und dem damit verbundenen Prothesentraining während der Anschlussheilbehandlung in der Rehabilitationsklink. Von entscheidenderer Bedeutung hierbei ist jedoch, dass die betreffenden Individuen in der Rehaklinik vor allem den Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt einerseits wie mit ihrem durch die Amputation veränderten und mittels Prothesen technisierten Körper andererseits erlernen. Des Weiteren wird in der Rehaklinik Alltag zum ersten Mal nach einer Amputation explizit thematisiert. So besteht das übergreifende Ziel der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge vor allem darin, den betreffenden Personen »[...] den Weg zurück in den Alltag, [...] zu ermöglichen [...]«79 wie auf der Homepage des 1971 gegründeten isländischen Medizintechnikunternehmens Össur zu lesen ist, das neben Ottobock den zweiten Global Player im Bereich Prothetik darstellt und wie ich im folgenden Kapitel genauer erläutern werde.
78 Milosavljevic, Kate: Life and Limb: Prosthetic Citizenship in Serbia. Dissertation an der Universität von Edinburgh 2013, S.166. Online-Publikation, https://www.era.lib. ed.ac.uk/handle/1842/8261 (Stand: 11.01.16). 79 Homepage Össur, http://www.leben-mit-beinprothese.de/rehabilitation/ (Stand: 10.11. 15).
4
Anschlussheilbehandlung und Prothesentraining in der Rehaklinik
Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht eine der wenigen deutschen Rehabilitationskliniken, die auf die sogenannte Anschlussheilbehandlung von Menschen mit Beinamputation und das damit verbundene Prothesentraining spezialisiert ist. Dort habe ich im März 2015 eine Woche lang Ärzte, Physiotherapeuten, Krankengymnasten sowie verschiedene Prothesenträger bei ihren unterschiedlichen Aktivitäten begleitet, um einen tieferen Einblick in den Prozess der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge zu bekommen. Meine zentrale Ansprechpartnerin war dabei die selbst oberschenkelamputierte Physiotherapeutin und Gehschultrainerin Simone Kunzmann, zu welcher der Kontakt über die von mir besuchte Selbsthilfegruppe 1 für Prothesenträger zustande gekommen war. In der Regel wird die rehabilitationsklinische Anschlussheilbehandlung nach einer Amputation unmittelbar nach dem Krankenhausaufenthalt stationär und für die Dauer von mindestens drei Wochen durchgeführt und muss vom behandelnden Arzt bzw. vom Sozialdienst des Krankenhauses, in dem die Amputation stattgefunden hat, beantragt und in die Wege geleitet werden. Dabei ist es den betreffenden Personen nach einer Amputation letztendlich frei gestellt, ob sie eine Rehabilitationsklinik aufsuchen oder nicht, grundsätzlich besteht laut Sozialgesetzbuch IX jedoch in Deutschland für Sozialversicherte der Anspruch auf eine stationäre und/oder ambulante rehabilitationsklinische Amputationsnachsorge, den auch alle meine Forschungsteilnehmer wahrgenommen haben.1 Der jeweilige Kostenträger, das heißt die Krankenkasse oder Renten- bzw. Unfallversicherung, wählt schließlich eine entsprechende Rehaklinik aus, wobei in verschiedenen Ratgeberbroschüren sowie auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation (DEGEMED) auch an die Eigeninitiative 1
Vgl. Homepage der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation (DEGEMED), http://www.degemed.de/patientenservice/patientenrechte.html (Stand: 20.01.16).
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der betreffenden Personen appelliert wird, sich selbst bereits im Krankenhaus über geeignete Rehakliniken zu informieren.2 Wie dabei der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu entnehmen ist, gab es in Deutschland im Jahr 2013 insgesamt rund 1.200 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, was von der DEGEMED als europaweit einzigartiges und beispielhaftes Versorgungsnetz mit großem Know-how und hohen Qualitätsstandards bezeichnet wird. 3 Allerdings kritisiert insbesondere die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) in diesem Zusammenhang, dass es bislang keine offizielle Liste von spezialisierten Rehaeinrichtungen für Menschen mit Gliedmaßenamputation bzw. Prothesenträger gibt.4 Aus diesem Grund hat der Bundesverband für Menschen mit Armoder Beinamputation e.V. (BMAB) auf seiner Homepage die sogenannte ›ampuKarte‹ eingerichtet, auf der alle bekannten Schwerpunkt-Rehakliniken aufgelistet werden, die spezielle therapeutische Maßnahmen für Menschen mit Gliedmaßenamputation oder zumindest ›Prothesensprechstunden‹ anbieten. Demnach bestehen derzeit in Deutschland 41 entsprechende Reha-Zentren bzw. Kliniken, wobei über die dortigen Qualitätsstandards laut BMAB allerdings keine genauen Aussagen gemacht werden können.5 Allgemein besteht das grundlegende Ziel der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge vor allem darin, Menschen nach einer Beinamputation bei der »[...] Wiedereingliederung in den Alltag [...]«6 Hilfestellung zu leisten und sie damit verbunden »[...] gezielt auf das Tragen einer Prothese [...]«7 vorzubereiten, um ihnen ein »[...] Höchstmaß an Mobilität und Unabhängigkeit [...]«8 sowie den Erhalt ihrer »[...] Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit [...]«9 zu ermög-
2
Vgl. eurocom: Ratgeberbroschüre Beinamputation, S.11; Homepage der DEGEMED,
3
Vgl. Robert Koch Institut (Hg.): Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstat-
http://www.degemed.de/patientenservice/patientenrechte.html (Stand: 20.01.16). tung des Bundes. Berlin 2015, S.318; Homepage der DEGEMED, http://www. degemed.de/rehabilitations-branche/zahlen-a-fakten.html (Stand: 20.01.16). 4
Vgl. Deutsche Gesellschaft für Rehabilitation (DVfR): Empfehlungen, S.7.
5
Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/reha-kliniken-und-prothesensprechstun-
6
Homepage der DEGEMED, http://www.degemed.de/patientenservice/reha-wiki.html
7
Homepage Ottobock, http://www.ottobock.de/prothetik/informationen-fuer-amputierte
8
Ebd.
9
Homepage der DEGEMED, http://www.degemed.de/patientenservice/was-kostet-die-
den/ (Stand: 19.01.16). (Stand: 20.01.16). /von-amputation-bis-rehabilitation/rehabilitation/ (Stand: 20.01.16).
rehabilitation.html (Stand: 20.01.16).
Anschlussheilbehandlung und Prothesentraining in der Rehaklinik | 141
lichen, damit sie auch nach der Amputation »[...] aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben können [...]«10 wie es unter anderem in verschiedenen Ratgeberheften, von der Prothesenbauindustrie oder auch vom Deutschen Bundesministerium für Gesundheit sowie der DEGEMED formuliert wird. Die rehabilitationsklinische Amputationsnachsorge rechnet sich in diesem Sinne nicht nur für das einzelne Individuum, sondern vor allem auch für die Gesamtgesellschaft und das Gesundheitssystem, indem gemäß dem Motto ›Reha vor Pflege‹ bzw. ›Reha vor Rente‹ durch das therapeutische Angebot die Frühverrentung und Pflegebedürftigkeit der betreffenden Personen sowie damit verbundene Kosten für die Sozialkassen verhindert werden sollen.11 Katrin Amelang, die im Rahmen ihrer ethnographischen Studie zur Herstellung von Alltag nach einer Lebertransplantation ebenfalls Feldforschung in einer deutschen Rehaklinik betrieben hat, beschreibt den rehaklinischen Aufenthalt dabei als Zwischenstation zwischen Krankenhaus und Post-TransplantationsAlltag außerhalb medizinischer Settings. Alltag im Sinne einer stabilen Praxis von Gewohnheiten und Routinen befindet sich hier im ersten, noch medizinisch angeleiteten Testlauf. Das Leben nach der Transplantation wurde von Amelangs Forschungsteilnehmern zu diesem Zeitpunkt noch nicht als ›alltäglich‹ oder ›normal‹ wahrgenommen, sondern vielmehr wird Alltag in der Rehaklinik unter spezifischen Bedingungen simuliert, eingeübt und erarbeitet.12 Die Vielzahl von Regeln im Hinblick auf den Umgang mit dem transplantierten Körper, mit denen Amelangs Gesprächspartner in diesem Zusammenhang konfrontiert wurden, analysiert sie daher als Angebote zur Herstellung von und Praxisanleitung für Post-Transplantations-Alltage vor dem Hintergrund transplantierter, instabiler Gesundheit.13 Diese Überlegungen können auch auf den Prozess der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge übertragen werden, denn so ging es auch für meine Forschungsteilnehmer vor allem darum, sich in der Rehaklinik an Alltag neu heranzutasten und durch ›nachgespielte Alltagssituationen‹ auf ihr poststationäres Leben zuhause vorbereitet zu werden. Die Simulation von Alltag bezieht sich damit verbunden explizit auch auf das in der Rehaklinik forcierte Prothesentraining, denn hierbei werden vor allem »[...] Situationen, wie sie im Alltag oft vorkommen, [...] nachempfunden [...]« wie im entsprechenden Flyer der
10 Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit, http://www.bmg.bund.de/themen/ krankenversicherung/leistungen/rehabilitation.html (Stand: 20.01.16). 11 Vgl. Homepage der DEGEMED, http://www.degemed.de/rehabilitations-branche/ wirtschaft.html (Stand: 20.01.16). 12 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.61/83. 13 Ebd.
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Rehaklinik, in der ich meine Feldforschung durchgeführt habe, zu lesen ist und wie ich im Rahmen dieses Kapitels genauer darstellen werde. Darüber hinaus spielt das rehabilitationsklinische Prothesentraining eine bedeutende Rolle im Hinblick auf die körperlich-leibliche Integration des anfangs als eher unangenehm bzw. schmerzhaft empfundenen Fremdkörpers (Interims-)Prothese durch die betreffenden Individuen und damit verbunden im Hinblick darauf, dass sich Prothese-Tragen von einer körperlichen Aneignungsphase in ein verinnerlichtes Leibkönnen transformieren kann. Im Rahmen eines intensiven Trainingsprogramms sollen sich Menschen nach einer Amputation in der Rehaklinik ihren veränderten Körper sowie das medizintechnische Artefakt aneignen, sie sollen vor allem aktiv daran arbeiten, Vertrauen in ihren Körper und in ihre Prothese zu gewinnen. Die beiden Technikphilosophen Peter-Paul Verbeek und Asle H. Kiran bezeichnen Vertrauen (trust) dabei als »[…] a central dimension in the relation between human beings and technologies [...],«14 wobei Lucie Dalibert betont, dass »[t]rust does not reside with the person living with the prosthesis nor with the latter. Rather, trust is done and achieved in their (intimate) interaction [...].«15 Das bedeutet, es handelt sich um einen komplexen Interaktionsprozess zwischen Mensch und Prothese, in dessen Verlauf die betreffenden Personen lernen sollen, sich selbst dem medizintechnischen Artefakt anzuvertrauen, »[to] deliberately and actively trust themselves to technology [...] (Herv. i. O.)«16, um mit den Worten von Verbeek/Kiran zu sprechen. Dieser Trainingsprozess beschränkt sich dabei allerdings nicht nur auf die Interaktion zwischen Menschen mit Beinamputation und medizintechnischem Artefakt Prothese, sondern vielmehr sind daran unterschiedliche menschliche und nicht-menschliche Partizipanden wie Ärzte, Physiotherapeuten, Pflegepersonal, Ernährungsberater oder eben auch materielle Gegenstände wie Gehhilfen, Übungstreppen, Barren etc. beteiligt, die zusammen in soziomateriellen Assemblagen daran ›arbeiten‹, Mensch-Medizintechnik-Beziehungen hervorzubringen. Die verschiedenen rehabilitationsklinischen Praktiken, mittels derer Post-Amputations-Alltage sowie Prothese-Tragen als Set an spezifischen KörperTechniken eingeübt werden, stehen schließlich im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen.
14 Verbeek, Peter-Paul/Kiran, Asle H.: Trusting Our Selves to Technology, in: Knowledge, Technology & Policy 23 (2010), S.409-427, hier: S.410/411. 15 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.186. 16 P. P. Verbeek/A. H. Kiran: Trusting Our Selves to Technology, S.424.
Anschlussheilbehandlung und Prothesentraining in der Rehaklinik | 143
4.1
ARBEIT AM ALLTAG ALS ARBEIT AM KÖRPER
Die Rehaklinik, in der ich meine Feldforschung durchgeführt habe, befindet sich in einer deutschen Kurstadt und liegt in einer idyllischen, ruhigen Lage. Der Eingangsbereich ist hell gestaltet, große Fenster durchfluten den Raum mit Licht, der Boden ist mit grau-beigen Fliesen ausgelegt. Mehrere Sitzecken und ein Leseraum laden zum Verweilen ein. Über eine Treppe bzw. einen Aufzug gelangt man ins erste Obergeschoss, wo sich unter anderem der Speisesaal der Klinik, die Station für Altersmedizin/Geriatrie sowie ein Gesundheitszentrum befinden, wobei Letzteres ein Thermalbad, eine Saunalandschaft und ein FitnessStudio umfasst und somit eher an eine Wellness-Oase erinnert. Dass man sich dennoch in einer Rehabilitationsklinik und nicht in einem Hotel zum Wohlfühlurlaub befindet, wird spätestens an den verschiedenen Desinfektionsbehältern, die auf jedem Stockwerk verteilt sind, klar oder auch am Speiseplan der Rehaklinik, auf dem weniger umfassende ›Schlemmer-Menüs‹ angeboten werden, sondern die Essens-Auswahl stattdessen zwischen ›Vollkost‹, ›Vegetarisch‹, ›Fit-/Herzgesundekost‹ oder ›Arthritiskost‹ getroffen werden muss. Für Menschen, die nach einer Beinamputation zur Anschlussheilbehandlung in die Rehaklinik kommen, spielt sich das Hauptgeschehen vor allem im zweiten Obergeschoss der Klinik ab. Dort befinden sich die zentralen Räumlichkeiten für physiotherapeutische Übungen bzw. krankengymnastische Anwendungen, das Kaffeezimmer des physiotherapeutischen Personals sowie ein Raum zur Medizinischen Trainingstherapie an Geräten (MTT-Raum). Es ist hauptsächlich dieses zweite Obergeschoss, wo Post-Amputations-Alltage mit Prothese eingeübt und simuliert werden, wie ich im Verlauf meiner Forschung feststellen sollte. Die Zimmer des zweiten Obergeschosses sind dabei links und rechts von einem breiten Gang angeordnet, der mit Parkettboden ausgelegt ist und in dessen Mitte zwei Holzgeländer sowie eine hölzerne Treppe stehen, die für Gehübungen mit Prothesenträgern genutzt werden. Zwischen einem der beiden Holzgeländer wurde der Boden zur einen Hälfte mit groben, großen Steinen ausgelegt, zur anderen Hälfte mit breiten Holzrillen. Beim zweiten Holzgeländer wurde der Boden mit weichen Matten gestaltet, wodurch mit Prothesenträgern das Gehen über unterschiedlichen Untergrund trainiert werden kann. In den verschiedenen Räumlichkeiten des zweiten Obergeschosses war es während meines Forschungsaufenthaltes immer recht warm, zudem lag oftmals ein eher süßlichsäuerlicher Geruch (nach Schweiß) in der Luft, was darauf verweist, dass in der Rehaklinik vor allem aktiv an der körperlichen Fitness der einzelnen Individuen gearbeitet wird und was auch daran deutlich wurde, dass sämtliche Reha-
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Patienten17, die mir begegnet sind, mit sportlichen Schuhen und Trainingsanzug bekleidet waren, wobei dem einen oder anderen von der letzten physiotherapeutischen Übung die Schweißperlen teilweise noch buchstäblich auf der Stirn standen. Da die meisten Reha-Patienten allerdings humpelten, an Krücken gingen oder im Rollstuhl saßen, war nicht immer gleich auf den ersten Blick ersichtlich, ob jemand eine Beinprothese trug oder nicht. Während meiner Forschungswoche waren dabei insgesamt lediglich drei männliche Prothesenträger zur stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehaklinik untergebracht, die ich auf ihrem schweißtreibenden Weg in den (neuen) Alltag nach der Amputation mit Prothese begleiten konnte: Herr Greiter war zum Zeitpunkt meiner Forschung 64 Jahre alt und hatte bereits zwei Wochen seines insgesamt vierwöchigen Rehaaufenthaltes hinter sich. Aufgrund einer Entzündung am großen Zeh war ihm im Oktober 2014 der linke Unterschenkel amputiert worden, wobei er nach der Amputation viele Wochen im Krankenhaus verbracht hat und von dort erst im Februar 2015 direkt zur An-
17 Ich verwende in diesem Kapitel bewusst den Begriff ›Patient‹, da dieser Begriff vom Rehaklinik-Personal hauptsächlich verwendet wurde. Wie Katrin Amelang schreibt, werden ›Patienten‹ aufgrund der lateinischen Wortherkunft meist als Erduldende oder Ertragende eines Leides mit einer gewissen Passivität verbunden und vor allem über ihre Position und Interaktion im Medizinsystem klassifiziert, weshalb der Begriff auch nur im klinischen Kontext sinnvoll ist. Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.47. Wie ich allerdings noch genauer aufzeigen werde, werden Menschen, die nach einer Beinamputation zur Anschlussheilbehandlung in die Rehaklinik kommen, vom rehabilitationsklinischen Personal weniger als ›passiv Erduldende‹ der verschiedenen therapeutischen Anwendungen betrachtet, sondern vielmehr wird an deren Eigeninitiative und Selbstverantwortung appelliert, zusammen mit Ärzten, Therapeuten etc. an der Verbesserung ihrer aktuellen Situation zu arbeiten. Der Rehabilitationsprozess wird dabei auch in verschiedenen Infobroschüren der Rehaklinik, in der ich meine Feldforschung durchgeführt habe, explizit als Teamwork zwischen Personal und Patienten angesprochen, denn so heißt es dort unter anderem »wir erarbeiten gemeinsam mit Ihnen die Ziele Ihrer Rehabilitationsmaßnahme«, »gemeinsam gehen wir mit Ihnen Stück für Stück«, »wir sind überzeugt, dass sich die Wege zu mehr Lebensqualität und Lebensfreude nur gemeinsam mit Ihnen finden lassen« etc. und was bereits auf das koordinierte Handeln eines heterogenen Netzwerks bestehend aus unterschiedlichen Partizipanden im Rahmen der stationären Amputationsnachsorge sowie des damit verbundenen Prothesentrainings verweist. Vgl. hierzu u.a. auch Chakkalakal: Gesund, bewusst und richtig.
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schlussheilbehandlung in die Rehaklinik geschickt wurde. Seine Interimsprothese hat Herr Greiter noch im Krankenhaus bekommen, allerdings war bei seiner Ankunft in der Rehaklinik sein Beinstumpf stark angeschwollen, da ihm niemand erklärt hatte, dass er während des Transportes einen Kompressionsstrumpf tragen soll. In den ersten Tagen seines Rehaaufenthaltes ging es somit zunächst vor allem darum, die Stumpfschwellung durch tägliche Wicklungen zu reduzieren wie mir Simone Kunzmann geschildert hat. Herr Greiter ist alleinstehend und stand bis zur Amputation in einem Arbeitsverhältnis im Bereich Vermessungstechnik. Auf die Zeit nach seinem Rehaaufenthalt blickte er mit Unsicherheit, da er sich nicht vorstellen konnte, wie er allein zuhause mit Prothese zurechtkommen würde. Sein persönliches Rehaziel war es daher, bis zum Tag seiner Entlassung so gut wie möglich mit seiner Interimsprothese und einer Krücke gehen zu können. Herr Vetter war zum Zeitpunkt meiner Forschung über 70 Jahre alt und hielt sich bereits seit fünf Wochen in der Rehaklinik auf. Meine Forschungswoche war seine letzte Rehawoche. Im Herbst 2014 war ihm infolge eines arteriellen Verschlusses das rechte Bein ab dem Oberschenkel amputiert worden, allerdings war Herr Vetter aufgrund eines Arterienverschlusses bereits seit 1997 rechts unterschenkelamputiert. Im Februar 2015 wurde er mit einer Oberschenkelinterimsprothese versorgt und anschließend in die Rehaklinik gebracht. Herr Vetter ist verheiratet und war zum Zeitpunkt der Nachamputation bereits in Rente. Obwohl er durch seine Unterschenkelamputation Erfahrung im Hinblick darauf hatte, was es heißt, mit einer Prothese zu leben, hat er mir gegenüber geschildert, dass die Nachamputation für ihn abermals einen enormen Einschnitt im Leben darstelle, zumal er mit Oberschenkelprothese sämtliche Bewegungen wieder neu erlernen müsse, da diese aufgrund des künstlichen Kniegelenks im Vergleich zu seiner bisherigen Unterschenkelprothese viel instabiler sei. Zum Zeitpunkt meiner Forschung in der Rehaklinik saß Herr Vetter daher auch die meiste Zeit im Rollstuhl, sein persönliches Rehaziel war in diesem Zusammenhang, bis zur Entlassung wenigstens mit Prothese und Rollator oder zwei Krücken einigermaßen laufen zu können. Herr Weil schließlich wurde im Verlauf meines Feldaufenthaltes als neuer Patient in die Rehaklinik auf der Geriatriestation aufgenommen. Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme war er 69 Jahre alt und aufgrund eines arteriellen Verschlusses seit sieben Wochen rechts unterschenkelamputiert. Herr Weil wurde mit Interimsprothese in die Rehaklinik gebracht, allerdings hatte er zusätzlich zur Amputation noch einen kleinen Schlaganfall und wurde vom medizinischen Pflegedienst in die höchste Pflegestufe (III) eingeteilt, weshalb Simone Kunzmann zunächst befürchtete, dass Herr Weils körperliche Verfassung insgesamt
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zu schlecht sein könnte, um überhaupt eine Prothese tragen bzw. in der Rehaklinik den Umgang mit seiner Interimsprothese üben zu können. Am Tag seiner Ankunft in der Rehaklinik saß Herr Weil daher auch ohne Prothese im Rollstuhl, sein persönliches Rehaziel bestand jedoch darin, bis zum Tag seiner Entlassung mit Interimsprothese und Rollator laufen zu können. Herr Weil ist alleinstehend und war zum Zeitpunkt der Amputation bereits in Rente.18 Der Tagesablauf meiner drei Forschungsteilnehmer wurde während ihres Rehaaufenthaltes dabei durch ihren jeweiligen Therapieplan strukturiert. Dieser wird noch am Anreisetag neu aufgenommener Patienten auf Basis der sogenannten ›Anschau‹ erstellt. Bei der ›Anschau‹ handelt es sich um erste Gespräche bzw. erste Untersuchungen durch einen Stationsarzt oder eine Stationsärztin sowie das therapeutische Personal der Rehaklinik, wodurch vor allem ermittelt werden soll, über welche körperlichen und mentalen Fähigkeiten die betreffenden Individuen verfügen, damit darauf abgestimmte Rehabilitationsziele definiert werden können. Zur Ermittlung und Dokumentation der personenbezogenen Daten werden dabei meist standardisierte Fragebögen, sogenannte Assessment-Formulare wie der Barthel-Index oder der Funktionale Selbständigkeitsindex (FIM) herangezogen, die es ermöglichen sollen, »[...] Alltagsfähigkeiten zuverlässig [zu] messen [...]«19, wobei mit ›Alltagsfähigkeiten‹ in erster Linie Aktivitäten wie ›Gehen
18 Frauen mit Beinamputation sowie jüngere Prothesenträger waren zur Zeit meines Forschungsaufenthaltes in der Rehaklinik nicht anwesend. Die Geschlechter- und Altersverteilung in der Rehaklinik repräsentiert damit letztlich jedoch die allgemeine demographische Entwicklung im Hinblick auf die in Deutschland durchgeführten Beinamputationen, die in erster Linie durch arterielle Verschlüsse und/oder Diabetes bedingt sind, wie ich im einführenden Kapitel meiner Arbeit bereits angedeutet habe und was hauptsächlich ältere Personen ab 60 Jahren betrifft. Wie mir zudem Simone Kunzmann geschildert hat, sind nach ihrer Beobachtung Männer tendenziell häufiger von Beinamputationen betroffen als Frauen, insbesondere infolge von peripheren arteriellen Verschlüssen, was auch aus vereinzelt geführten, internationalen Statistiken hervorgeht, wobei über die dahinter liegenden Gründe für die unterschiedliche Geschlechterverteilung allerdings keine genauen Angaben gemacht werden. Vgl. u.a. Mensch, Gertrude/Kaphingst, Wieland (Hg.): Physiotherapie und Prothetik nach Amputation der unteren Extremität. Berlin/Heidelberg: Springer 1998, S.26; Fath, Roland: Periphere arterielle Verschlusskrankheit. Es besteht Handlungsbedarf, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012), S.205-206. 19 Lüthi, Hansjörg: Assessment: Functional Independence Measure. Alltagsfähigkeiten zuverlässig messen, in: physiopraxis 4 (2006), S.32-34.
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mit/ohne Hilfsmittel‹, ›selbständ. An-/Auskleiden‹, ›selbständ. Waschen/Hygiene‹ etc. gemeint sind. Die verschiedenen Assessment-Tests sollen somit vor allem Auskunft über das Maß an Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Mobilität der jeweiligen Person geben bzw. über »[...] das körperliche Vermögen, seinen Alltag zu bewerkstelligen [...]«20 wie es Katrin Amelang formuliert, die ähnliche Beobachtungen gemacht hat. Die entsprechend verordneten therapeutischen Anwendungen werden als Therapieplan schließlich in die sogenannte Therapiekarte eingetragen, bei der es sich um ein DinA-5 großes Heft handelt, das jeder RehaPatient am ersten Morgen nach der Anreise erhält. Die Therapiekarte soll dabei einerseits der jeweiligen Person das Einleben in der Rehaklinik erleichtern, sie enthält daher wichtige Informationen über zentrale Ansprechpartner, Sprechstunden von Ärzten, Öffnungszeiten des Speisesaals etc. sowie einen Kliniklageplan, auf dem die einzelnen Stockwerke und zentralen Räumlichkeiten eingezeichnet sind. Andererseits fungiert die Therapiekarte zugleich aber auch als wichtiges Dokumentations- und Kommunikationsmittel für das interdisziplinäre Rehateam, denn das Heft muss von Patienten zu allen Anwendungen, Sprechstunden, Untersuchungen etc. mitgebracht und unterzeichnet werden lassen. Die Therapiekarte erfüllt in diesem Zusammenhang durchaus auch eine gewisse Kontrollfunktion bzw. eine disziplinierende Funktion, indem mit ihr vom Rehateam überprüft werden kann, ob die angeordneten therapeutischen Maßnahmen von den betreffenden Personen wahrgenommen worden sind oder nicht. Gleichzeitig lässt sich mittels der Therapiekarte das Erreichen oder auch NichtErreichen der festgelegten Rehaziele und die damit verbundene Entwicklung von ›Alltagskompetenzen‹ im Verlauf des Rehaaufenthaltes kontrollieren. Die beiden Medizinanthropologinnen Lenore Manderson und Narelle Warren, die ethnographische Forschung in einer australischen Rehaklinik für Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträger betrieben haben, schreiben in diesem Zusammenhang auch, dass »[s]uch benchmarks highlight the developing trajectory, or story, of restoration of ›normality‹ following a disruptive health event. Benchmarks become the foundation of therapeutic narratives of recovery.«21 Im Mittelpunkt des therapeutischen Programms, das Menschen nach einer Beinamputation in der Rehaklinik zu absolvieren haben, steht dabei in erster Linie ihr durch die Amputation veränderter und mittels Prothesen technisierter Körper. Dieser soll durch verschiedene physiotherapeutische Übungen und insbesondere durch das rehaklinische Prothesentraining nach der langen Liegephase im Krankenhaus wieder mobiler, stärker, leistungsfähiger und auf diese Weise
20 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.91. 21 L. Manderson/N. Warren: Constructing Hope, S.185.
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wieder »fit fürʼs Leben« bzw. »fit für den Alltag« gemacht werden wie es in einer entsprechenden Informationsbroschüre der Rehaklinik, in der ich meine Feldforschung durchgeführt habe, heißt. Die in der Rehaklinik anvisierte Rückkehr in bzw. Wiederherstellung von Alltag nach einer Beinamputation mit Prothese wird in diesem Zusammenhang direkt an die Arbeit am eigenen Körper gekoppelt, weshalb in Anlehnung an Katrin Amelang, die im Hinblick auf das Rehabilitationsprogramm von lebertransplantierten Menschen ähnliche Beobachtungen gemacht hat, auch von einer »[…] körperbezogenen Vorbereitung auf Alltag […]«22 gesprochen werden kann. Es geht vor allem darum, körperliche Routinen wie Gehen, Sitzen, Stehen, Treppensteigen oder eben auch selbständiges An-/Auskleiden, selbständiges Waschen/Hygiene, selbständiger Lagewechsel im Bett etc. und somit zentrale Basisfertigkeiten des täglichen Lebens, die durch die Amputation erschüttert wurden, mit einem veränderten Körper neu einzuüben bzw. zu rekultivieren. Das therapeutische Programm, das Herr Weil, Herr Greiter und Herr Vetter in diesem Zusammenhang im Verlauf ihres Rehaaufenthaltes zu absolvieren hatten, umfasste neben Gerätetraining im MTTRaum zur Stärkung der Muskulatur an Rücken, Armen, Beinstumpf sowie dem erhaltenen Bein, auch Sitz- und Wirbelsäulengymnastik in der Gruppe, Lymphdrainage, Elektrotherapie und Prothesentraining im Rahmen von Einzelübungsstunden, wobei im Garten der Rehaklinik speziell für Beinprothesenträger ein Gehparcours angelegt wurde, der für Terrain- und Geländetraining genutzt werden kann. Zwischen Montag und Freitag waren für meine Forschungsteilnehmer pro Tag dabei jeweils zwischen drei und sechs Termine in den Therapieplan eingetragen, das heißt nach der morgendlichen ärztlichen Visite und dem Frühstück, das zwischen 06:45 und 09:00 Uhr im Speisesaal der Rehaklinik eingenommen werden konnte, fanden vormittags von 08:00 bis 11:30 Uhr und nachmittags von 13:00 bis 18:00 Uhr die verschiedenen Therapieanwendungen statt. Drei Mal pro Woche wurde darüber hinaus für jeweils eine Stunde die sogenannte ›AmpuGruppe‹ angeboten, die 2014 auf die Initiative von Simone Kunzmann ins Leben gerufen wurde und die sie zusammen mit ihrem Physiotherapie-Kollegen Benni Weise leitet, der sich während meines Forschungsaufenthaltes zu einem weiteren wichtigen Ansprechpartner für mich entwickeln sollte. Bei der ›Ampu-Gruppe‹ trainieren maximal sechs Prothesenträger zusammen mit Simone und/oder Benni in Gruppensitzungen den Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt (Interims-)Prothese, das heißt es werden verschiedene Geh-, Steh- und Gleichgewichtsübungen mit und ohne Hilfsmittel wie Krücken, Rollatoren, Holzbarren etc. durchgeführt. Neben dem grundsätzlichen Training an der körperlichen Fit-
22 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.91.
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ness und an der ›richtigen‹ Handhabung der Prothese, erfüllt die ›Ampu-Gruppe‹ auch eine wichtige kommunikative bzw. psychologische Funktion, indem Prothesenträgern dadurch die Möglichkeit gegeben wird, sich untereinander auszutauschen. Gleichzeitig sollen die Gruppenteilnehmer auf diese Weise gezielt zum Training mit der Prothese motiviert werden, indem sie die Fortschritte (aber auch Rückschläge) der anderen Gruppenmitglieder direkt beobachten und mitverfolgen können, wie mir von Simone Kunzmann im Verlauf meiner Forschungswoche erklärt wurde. Ergänzt wurden die einzelnen (physio-)therapeutischen Anwendungen schließlich auch noch durch verschiedene praktische Tipps, die Herr Greiter, Herr Vetter und Herr Weil während ihres Rehaaufenthaltes sowohl durch Simone Kunzmann und Benni Weise als auch durch den Pflegedienst der Rehaklinik erhalten haben und die insbesondere neue (körperliche) Verhaltensweisen und Hygienepraktiken betrafen. So wurde meinen Forschungsteilnehmern unter anderem vermittelt, dass sie sowohl ihren Beinstumpf als auch ihre (Interims-)Prothese bzw. den Prothesenschaft und -liner regelmäßig mit warmem Wasser und einer pH-neutralen Seife reinigen sollen, um Bakterienbildung oder das Hervorrufen von Allergien zu vermeiden; sie wurden dazu angehalten, in Zukunft verstärkt auf einen erhöhten Blutdruck sowie Entzündungszeichen wie Rötungen, Hautreizungen oder Schwellungen am Beinstumpf zu achten, die durch Überlastung bzw. zu langes Prothese-Tragen vor allem in der Anfangszeit auftreten können; für Herrn Greiter standen damit verbunden zusätzlich diverse Ernährungsberatungen auf dem Therapieplan, da er aufgrund von Diabetes in Zukunft noch stärker als vor der Amputation für eine ausgewogene Ernährung sensibilisiert werden sollte, um einerseits Durchblutungsstörungen zu verhindern und damit das Risiko für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu minimieren sowie um andererseits ein gleichmäßiges Körpergewicht langfristig beizubehalten, um Volumenschwankungen am Beinstumpf zu vermeiden und damit einen guten Sitz des Prothesenschaftes zu gewährleisten. Kurz: Meine Forschungsteilnehmer wurden in der Rehaklinik gezielt zum eigenständigen ›Körpermanagement‹ angeleitet, das heißt sie wurden vom Reha-Personal zur Sorge um sich selbst und ihre (prothetisierten) Körper motiviert, wobei diese Selbstsorge und das damit verbundene Körpermanagement auch nach dem Rehaaufenthalt fortgeführt und als neues Routineverhalten zum Bestandteil von Post-Amputations-Alltagen gemacht werden sollte.23 Für meine Forschungsteilnehmer ging es während der sta-
23 Lenore Manderson und Narelle Warren haben bei ihren Feldforschungen in einer australischen Rehaklinik für Prothesenträger ähnliche Beobachtungen gemacht und sprechen in diesem Zusammenhang ebenfalls von body management im Sinne einer gezielten Bearbeitung des amputierten bzw. prothetisierten Körpers während der rehabi-
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tionären Anschlussheilbehandlung somit vor allem darum zu lernen, sich bewusst mit ihrem eigenen, veränderten Körper auseinanderzusetzen, ihren Körper anders wahrzunehmen, sich auf den neuen Körper einzustellen und nach der Amputation wieder Sicherheit im Hinblick darauf zu erlangen, was sie ihrem Körper zutrauen können und was nicht, wie Simone Kunzmann es mir gegenüber geschildert hat. Hatten meine Forschungsteilnehmer unter der Woche somit von früh bis abends volles Programm, so beschränkte sich das therapeutische Angebot am Wochenende auf eine gymnastische Gruppensitzung, die jeden Samstag für alle Rehaklinik-Patienten gleichermaßen angeboten wurde, während es am Sonntag keine verpflichtenden Termine gab. Der therapeutische Wochenplan der Rehaklinik ist zeitlich somit ähnlich einer typischen Lohnarbeitswoche gegliedert, einschließlich Sonntag als Ruhetag bzw. als Tag zur Freizeitgestaltung. Diese Orientierung des Therapieplans an bekannten Unterscheidungen von Arbeit und Freizeit bzw. von Werktagen und Wochenende erzeugt nach Amelang, die ähnliche Beobachtungen gemacht hat, bereits eine gewisse ›Alltagsnormalität‹, denn es ist gerade diese ›Normalität‹ einer (durch Erwerbsarbeit) geregelten Tagesstruktur, die für die betreffenden Personen durch eine Amputation bzw. Transplantation erschüttert wurde.24 Das heißt, »[d]ie Simulation von Alltag oder Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag betrifft hier die Existenz eines wiederkehrenden Tages- und Wochenverlaufs – inklusive eines so banalen wie vertrauten Gefühls: ›Feierabend! Endlich Wochenende!‹ [...].«25 Lenore Manderson und Narrelle Warren betonen in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass »[p]articipation in rehabilitation programs structures and adds meaning to everyday lives, particularly in inpatient settings, while also providing attainable goals, and with these, a sense of productivity which itself generates hope for the future [...].«26 Deutlich wird die Simulation von Alltag durch einen zeitlich geregelten Tages- bzw. Wochenverlauf dabei auch an einer Aussage des deutschpolnischen Leichtathleten Wojtek Czyz, dem 2001 mit 21 Jahren infolge einer Sportverletzung das linke Bein ab dem Unterschenkel abgenommen werden musste und der aus autobiographischer Sicht über seinen Rehaaufenthalt nach der Amputation schreibt: »Die Reha beginnt. Training. Ich lerne meinen Körper neu kennen. Ich bekomme einen Plan und mein Tag seit langem wieder eine
litationsklinischen Anschlussheilbehandlung. Vgl. L. Manderson/N. Warren: (Re) Learning to Walk, S.1421. 24 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.87. 25 Ebd. 26 L. Manderson/N. Warren: Constructing Hope, S.186.
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Struktur. Übungsprogramm morgens bis mittags. Den Stumpf wickeln und behandeln, Physiotherapie, Schwimmen, Krafttraining.«27 Die Simulation von Alltag in der Rehaklinik beschränkt sich allerdings nicht allein auf diese zeitliche Strukturierung des Tagesablaufs durch den Therapieplan, sondern bezieht sich im Falle der stationären Amputationsnachsorge vor allem auf das rehabilitationsklinische Prothesentraining, das sowohl von Simone Kunzmann und ihren Physiotherapie-Kollegen als auch von meinen Forschungsteilnehmern und Interviewpartnern als wesentliche Voraussetzung für die erhoffte Rückkehr in bzw. Wiederherstellung von Alltag nach der Amputation mit Prothese betrachtet wurde. Zudem war es hauptsächlich während der verschiedenen physiotherapeutischen Übungen im Rahmen des Prothesentrainings, dass Herr Greiter, Herr Weil oder Herr Vetter ihre jeweiligen Alltagsängste explizit geäußert haben und von Simone Kunzmann bzw. Benni Weise entsprechende Alltagstipps formuliert sowie damit verbunden verschiedene Alltagssituationen praktisch simuliert oder eingeübt wurden. Um die Verhandlung von Alltag in der Rehaklinik während der stationären Amputationsnachsorge nachvollziehen zu können, muss man sich daher vor allem den Prozess des Prothesentrainings genauer ansehen, das somit letztlich eine doppelte Funktion erfüllt, indem es einerseits die Grundlage für die praktische Einübung von Alltag nach einer Beinamputation darstellt und andererseits eine wichtige Voraussetzung für die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts Prothese im Sinne technogenen Embodiments bzw. für die Herstellung von Mensch-Medizintechnik-Beziehungen bildet.
4.2
PROTHESE-TRAGEN ALS KOMPLEXER LERNPROZESS UND DIE PRAKTISCHE SIMULATION VON ALLTAG
März 2015, Rehaklinik, 2. Obergeschoss, Übungsraum 1, 10:00 Uhr: Simone Kunzmann, Benni Weise und ich sind zusammen mit Herr Greiter, Herr Vetter und Herr Weil in Übungsraum 1, einem größeren Therapieraum, der sich im zweiten Obergeschoss der Rehaklinik befindet. Heute steht die ›Ampu-Gruppe‹ auf dem Plan. Der Raum ist wie der Übungsgang mit Parkettboden ausgelegt, große Fenster machen ihn hell. An der Wand gegenüber der Fensterfront sind
27 Czyz, Wojtek/Erb, Andreas: Wie ich mein Bein verlor und so zu mir selbst fand. Die unglaubliche Geschichte eines Goldmedaillengewinners. Hamburg: Edel Germany 2014, S.103.
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zwei große Spiegel angebracht, damit die verschiedenen Reha-Patienten bei ihren jeweiligen Übungen auf ihre Körperhaltung achten und sich selbst beobachten können. Vor dieser ›Spiegelwand‹ steht ein Holzbarren, zudem befinden sich mehrere Hocker und Stühle, ein Schrank, ein Trampolin, ein weiterer Stellspiegel, ein Stepper sowie eine Sprossenwand im Therapieraum. Herr Vetter, Herr Weil und Herr Greiter sitzen alle im Rollstuhl, Herr Weil trägt als Einziger seine Interimsprothese nicht, er hat sie jedoch auf seinem Rollstuhl mittransportiert. Er ist heute das erste Mal bei der ›Ampu-Gruppe‹ dabei. Simone, Benni und ich begrüßen die drei Männer und Simone erklärt, was sie heute mit diesen vorhat. Bevor jedoch mit den verschiedenen Übungen begonnen wird, möchte sich Simone zunächst den Beinstumpf von Herrn Weil ansehen, um die Stumpfnarbe zu überprüfen. Zufrieden meint sie, dass diese schon ziemlich gut verheilt sei. Anschließend hilft Simone Herrn Weil dabei, seinen Prothesenliner und die Interimsprothese anzuziehen. Herr Weil hat eine Interimsprothese mit Liner-PinSystem, das heißt am Ende des Silikonliners, den Herr Weil mithilfe von Simone auf seinen Beinstumpf rollt, ist ein ca. fünf Zentimeter langer Metallpin angebracht, mit dem Herr Weil in den Schaft seiner Interimsprothese einklicken kann, damit diese fest sitzt. Simone fragt Herrn Weil schließlich, ob er mit Prothese schon allein aus seinem Rollstuhl aufstehen kann, was dieser bejaht. Sie bittet ihn daraufhin, mit seinem Rollstuhl vor den Holzbarren im Therapieraum zu rollen und zu versuchen, sich aus dem Rollstuhl zu erheben, während er sich am Barren festhält. Herr Weil kommt der Aufforderung nach und schafft es, sich am Barren aus seinem Rollstuhl nach oben zu ziehen, Simone lobt ihn. Währenddessen kümmert sich Benni Weise um Herrn Greiter und Herrn Vetter und führt mit diesen verschiedene Geh- und Gleichgewichtsübungen durch. Benni stellt einen Rollator vor Herrn Vetter und bittet ihn, aus seinem Rollstuhl aufzustehen, um das Gehen mit Rollator trainieren zu können. Herr Vetter kommt der Anweisung nach, es fällt ihm jedoch schwer sich aus dem Rollstuhl zu erheben, mit Mühe schafft er es. Er hält sich am Rollator fest und beginnt, einige Schritte zu gehen. Er geht sehr langsam und mit winzigen Schritten, wobei seine Beinprothese rechts immer etwas hin- und herschlenkert. Nach wenigen Schritten kommt Herr Vetter schon wieder zurück und setzt sich etwas wackelig in seinen Rollstuhl, um eine Verschnaufspause einzulegen. Er verzieht das Gesicht, zieht seine Oberschenkelinterimsprothese aus und murmelt vor sich hin »Das drückt heute« (O-Ton). Sein Gesicht ist leicht gerötet, offenbar hat ihn das Laufen sehr angestrengt. Herr Vetter wendet sich an Benni und erklärt ihm, dass seine Prothese heute wieder mehr drücken würde als die Tage zuvor. Benni kniet sich daraufhin vor Herrn Vetter auf den Boden und tastet dessen Beinstumpf ab, gleichzeitig erzählt er mir, dass Herr Vetters Beinstumpfvolumen in den letzten Tagen starke
Anschlussheilbehandlung und Prothesentraining in der Rehaklinik | 153
Schwankungen aufweist, weshalb seine Interimsprothese nicht jeden Tag gleich gut passt. Benni meint daher zu Herrn Vetter, dass er eine kurze Pause machen und dann nochmals mit Rollator und Prothese einige Schritte gehen solle. Während sich Herr Vetter ausruht, wendet sich Benni Herrn Greiter zu. Er erklärt diesem, dass er heute mit ihm wie schon in den vergangenen Tagen den sogenannten ›Vier-Punkt-Gang‹, also das versetzte Gehen mit zwei Krücken und Interimsprothese trainieren möchte, da Herr Greiter mit Rollator mittlerweile gut zurechtkommt. Beim ›Vier-Punkt-Gang‹ soll Herr Greiter zuerst links mit seiner Beinprothese losgehen, während er die rechte Armstütze nach vorn setzt und dann im Wechselschritt umgekehrt sein rechtes Bein und die linke Armstütze. Herr Greiter hört aufmerksam zu und versucht dann, den ersten Schritt zu machen. Dabei muss er jedoch nochmals überlegen, wie er (Prothesen-)Bein und Armstütze versetzt vorsetzen soll. Beim Laufen muss er sich zudem sichtlich konzentrieren, er blickt die ganze Zeit auf den Boden bzw. darauf, wo er seine Schritte hinsetzt. Benni und ich gehen währenddessen neben Herrn Greiter her, um ihn im Falle eines Sturzes abzufangen. Nach einigen Schritten auf der Geraden kann sich Herr Greiter für eine Verschnaufspause in seinen Rollstuhl setzen, Benni lobt ihn für seine Gehübungen. Das Hinsetzen mit Prothese klappt bei Herrn Greiter schon recht gut. Während sich Herr Vetter und Herr Greiter in ihren Rollstühlen ausruhen, führt Simone mit Herrn Weil erste Geh- und Stehübungen am Barren durch. Sie bittet ihn zu versuchen, im Barren mit seiner Prothese einmal auf und ab zu gehen. Herr Weil kommt der Bitte nach und setzt seine ersten Schritte, während er sich mit beiden Armen am Barren einhält. Die ersten Gehversuche sind sehr langsam, doch Simone freut sich, lobt Herrn Weil und spricht ihm Mut zu, da dieser etwas verunsichert wirkt. Nach einer kurzen Pause soll Herr Weil schließlich nochmals am Barren mit seiner Interimsprothese auf- und abgehen, danach kann er sich wieder in seinen Rollstuhl setzen, der am Ende des Barrens steht, Simone hat heute keine weiteren Übungen mehr mit ihm vor. Benni dagegen möchte mit Herrn Vetter noch verschiedene Gleichgewichtsübungen am Barren durchführen. Er nimmt eine blaue weiche Matte aus dem Schrank, der im Übungsraum steht und legt diese zwischen den Barren. Herr Vetter soll sich auf die Matte stellen, dann soll er seine Hände vom Barren lösen und sein Gewicht leicht hin und her vom linken Bein auf die Beinprothese rechts verlagern. Herr Vetter kommt der Aufforderung nach, erhebt sich aus seinem Rollstuhl und stellt sich auf die Matte. Er ist etwas wackelig und sehr konzentriert, er schafft die Übung aber und freut sich. Anschließend soll er daher mit seiner Beinprothese rechts auf der Matte stehen bleiben und sein linkes Bein leicht anheben, sodass er nur noch auf seiner Beinprothese steht. Herr Vetter ist bei dieser Übung sehr wackelig und erscheint ängstlich, es ist für ihn schwer,
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nur auf der Prothese auf weichem Untergrund zu stehen. Während Benni Herrn Vetter beobachtet, meint er zu diesem »Sie müssen Ihr Becken etwas weiter nach vorn drücken, um mit der Prothese sicherer stehen zu können« (O-Ton), woraufhin Herr Vetter antwortet »Ich spürʼs ja nicht, ob vorne oder hinten« (O-Ton). Herr Vetter ist mittlerweile sichtlich ins Schwitzen gekommen und kann sich nach den verschiedenen Steh- und Gleichgewichtsübungen wieder in seinen Rollstuhl setzen. Benni meint schließlich, dass die Übungen für heute Vormittag zu Ende seien. Um 13:00 Uhr hat er mit Herrn Vetter jedoch nochmals eine Einzeltherapiesitzung. Benni, Simone und ich verabschieden uns von den drei Männern, die mittlerweile alle wieder in ihren Rollstühlen sitzen. Es ist 11:00 Uhr, die ›Ampu-Gruppe‹ ist für heute zu Ende. Das wesentliche Ziel des rehabilitationsklinischen Prothesentrainings besteht darin, Menschen nach einer Beinamputation im Umgang mit der Prothese so zu schulen, dass sie »[…] den Alltag mit einer Prothese möglichst ohne Einschränkungen bewältigen [...] können« wie es Simone Kunzmann mir gegenüber formuliert hat. Eigentlich selbstverständliche bzw. alltägliche Körperbewegungen wie Laufen, Sitzen, Stehen, Hinknien, Treppengehen, das Überwinden von Hindernissen etc. werden in der Rehaklinik mit Interimsprothese daher so lange eingeübt, bis diese einigermaßen automatisiert ablaufen und die betreffende Person nicht mehr großartig über jeden einzelnen Schritt und das medizintechnische Artefakt nachdenken muss. Der ›prothetisierte Körper‹ soll – phänomenologisch formuliert – ›transparent‹ werden und sich im Sinne von disappearance bzw. der von Don Ihde beschriebenen embodiment relations der direkten Aufmerksamkeit entziehen.28 So schreibt unter anderem auch Vivian Sobchack aus autoethnographischer Perspektive, »[…] transparency is what I wish – and strive – for in my relation to my prosthetic leg. I want to embody it subjectively. I do not want to regard it as an object or to think about it as I use it to walk. (Herv. i. O.)«29 Wie allerdings an obigem Auszug aus meinem Beobachtungsprotokoll deutlich wird, ist diese ›Medizintechnik-Körper-Transparenz‹, die eine wesentliche Voraussetzung für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments darstellt, nicht einfach so gegeben, sondern musste von meinen Forschungsteilnehmern vielmehr erst als solche durch intensives Training im Verlauf ihres Rehaaufenthaltes wenigstens annähernd hergestellt bzw. erarbeitet werden. Dabei handelt es sich um ein dynamisches »[…] body-technology-
28 Vgl. u.a. D. Ihde: Technology and the Lifeworld, S.75. 29 Sobchack, Vivian: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley: University of California Press 2004, S.172.
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enactment […]«30 im Sinne eines interaktiven »[...] becoming and [...] doing [...]«31 zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt, wobei vor allem Körperpraktiken einerseits und leibliches Verstehen andererseits eine bedeutende Rolle für die Herstellung der gewünschten ›Transparenz‹ spielen, wie ich noch genauer aufzeigen werde. Die ersten Schritte mit (Interims-)Prothese gestalten sich dabei alles andere als einfach und wurden nicht nur von Herrn Weil, Herrn Vetter und Herrn Greiter, sondern auch von anderen Prothesenträgern, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung gesprochen habe, oftmals als eher ambivalent oder sogar frustrierend erlebt. Saskia Eibich erinnert sich an ihr anfängliches Prothesentraining in der Rehaklinik beispielsweise Folgendermaßen, sie sagt: »[…] ich habʼ mir das [...] ein bissl glaubʼ ich zu einfach vorgestellt. Also ich dachtʼ mir, ich gehʼ da rein und dann gehtʼs los. Dass das weh tut und dass ich Druckschmerzen hatte und (.) dass das ein Gefühl war, das ich gar nicht kannte (.) das war eigentlich so der Punkt, wo ich dann gesagt habʼ ›Das mag ich nicht‹. […] Und dann war das so, dass […] sich das dann immer irgendwie weiter äh entwickelt hat mitʼm nicht PASSEN, also jeder hat irgendwas gemacht und jeder war in der Krankengymnastik und ich stand immer da und denkʼ mir ›Jetzt kommʼ ich schon wieder nicht rein, jetzt kommʼ ich schon wieder nicht rein. Und jetzt drückt sie mich da schon wieder‹ und das waren dann so wirklich die Zeiten, wo ich gesagt habʼ ›Ich schmeißʼ das Ding in die Ecke, ich will das nicht‹. [...] anfangs war das (.) echt Hölle […].«
Ähnlich äußert sich auch Tamara Wachinger, die meint, »[...] so nachʼm zehnten Mal Hinfallen habʼ ich das Ding in die Ecke gepfeffert und habʼs nicht mehr angezogen. […] wenn ich ne Prothese habʼ und […] ich muss den Weg anschauen, muss mir Gedanken um jeden Schritt machen, ist mir zu kompliziert.« Clemens Albrecht vergleicht das Laufenlernen mit Prothese in diesem Zusammenhang auch mit Fahrradfahren, er sagt »[…] klar bin ich am Anfang öfters mal hingefallen, das gehört aber dazu, du musst einfach lernen, damit umzugehen, so wie man Radfahren dadurch auch lernt, weilʼs einen ab und zu am Anfang einmal umhaut damit und so isʼ es halt [...] mit der Prothese auch, […].« Weiter meint er, »[...] am Anfang denkst du ja jeden Schritt so ungefähr bis sich das wieder irgendwann automatisiert, das dauert [...].« Prothese-Tragen war somit für meine unterschiedlichen Gesprächspartner – unabhängig vom Alter, der Amputations-
30 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.183. 31 Ebd., S.184.
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ursache bzw. -höhe oder Geschlecht – zunächst vor allem mit Unsicherheit, Angst vor Stürzen, starker körperlicher Anstrengung bzw. Konzentration und (Druck-)Schmerzen verbunden. Der ›prothetisierte Körper‹ meiner verschiedenen Forschungsteilnehmer war zu Beginn ihres Rehaaufenthaltes nicht ›transparent‹, sondern stand vielmehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei ist es jedoch gerade dieser Fokus auf den eigenen Körper und das medizintechnische Artefakt, insbesondere in deren Materialität, der eine wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen Umgang von Menschen mit Beinamputation und (Interims-)Prothese sowie damit verbunden für die Etablierung der gewünschten ›Transparenz‹ darstellt, denn um das Zusammenspiel zwischen Körper und Prothese ›richtig‹ aufeinander abstimmen bzw. koordinieren zu können, müssen die betreffenden Individuen nicht nur wissen, wie die Prothese funktioniert, sondern auch, welchen Muskel sie bei welcher Bewegung wie anspannen müssen. Deutlich wird dies exemplarisch an der Aussage der 45-jährigen Oberschenkelprothesenträgerin Elisabeth Rüsch, die schildert: »[Man muss] [d]as Gehen [mit Prothese] trainieren. […] also sich aufʼs Gehen konzentrieren und [...] sagen ›Ja, ich spannʼ jetzt das und das an‹, […] Bauch […] anspannen, […] das Kreuz, das Becken kippen […]. […] also da muss man halt das [...] nochmal anders lernen, was […] für die anderen ganz normal ist, muss man […] sich drauf konzentrieren, […] dass man das bewusst macht (5).«
In ähnlicher Weise schreibt Vivian Sobchack über ihr eigenes rehaklinisches Prothesentraining: »There are all sorts of physical things I had to learn to do consciously in quick sequence or, worse, simultaneously: kick the prosthetic leg forward to ground the heel, tighten my butt, pull my residual limb back in the socket and weight the prosthetic leg to lock the knee, take a step with my ›own‹ leg and unweight the prosthetic leg as I did so, tighten my stomach and pull up tall to kick the prosthetic forward, and begin again.«32
In diesem Zusammenhang bekamen meine Forschungsteilnehmer von Simone Kunzmann bzw. Benni Weise bei den verschiedenen Geh- und Stehübungen auch immer wieder Anweisungen wie ›Kopf hoch‹, ›Rücken gerader‹, ›den Fuß mehr strecken‹, ›das Becken weiter nach vorn drücken‹ etc. Michal Hoffman, die im Rahmen ihrer Feldforschungen in einer israelischen Rehaklinik für Menschen mit Beinamputation ähnliche Beobachtungen gemacht hat, bezeichnet derartige
32 V. Sobchack: Carnal Thoughts, S.217.
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Anweisungen auch als compensatory skills im Sinne von »[...] specific motor skills that enable improved maneuvering of the prosthetic device. [...], they must be learned during purposive practice. [...] compensatory skills [...] move beyond pure functionality. Their exercise enables activation of the prosthetic device but also the well-coordinated flow of movements.«33 Wie mir dabei im Verlauf meiner Forschungswoche aufgefallen ist, erfolgt die Vermittlung der verschiedenen compensatory skills bzw. der medizintechnisch verkörperten Bewegungen allerdings nicht allein über verbale Anweisungen, sondern vielmehr demonstrierten Benni Weise und Simone Kunzmann Herrn Vetter, Herrn Weil und Herrn Greiter oftmals auch direkt, wie diese ihre Schritte mit Interimsprothese setzen oder das Gleichgewicht beim Laufen auf ihre Beinprothese verlagern sollten, indem sie selbst ständig im Therapieraum oder Übungsgang des zweiten Obergeschosses auf- und abgingen. Die Vermittlung und Aneignung des körper- bzw. technikspezifischen Wissens im Hinblick auf den Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt Interimsprothese sowie dem eigenen prothetisierten Körper erfolgte im Rahmen des rehaklinischen Prothesentrainings somit nicht allein über verbale Sprache, sondern ebenso über den praktischen Einsatz von Körpern, über das körperliche Tun und das wiederholte Vorführen und Ausprobieren der jeweiligen Bewegung.34 Das heißt, der Körper als Agens fungierte als wichtiges Kommunikationsmittel zwischen Simone Kunzmann, Benni Weise, Herrn Greiter, Herrn Weil und Herrn Vetter, weshalb in diesem Zusammenhang auch vom doing body als Wissensmodus gesprochen werden kann.35 Darüber hinaus wurde durch die Amputation aber nicht nur das körperliche, sondern vor allem auch das leibliche Wissen meiner Forschungsteilnehmer darüber, wie Gehen, Stehen, Sitzen funktioniert erschüttert und musste von diesen in der Rehaklinik unter veränderten Bedingungen mit Prothese erst wieder angeeignet werden. Unter leiblichem Wissen verstehe ich dabei im Sinne Robert Gugutzers eine Wissensform, »[...] die ohne ein Nachdenken im situativen körperlichen Tun aktualisiert wird [...]«36 und die vor allem auf Erfahrung beruht. Alte Bewegungsmuster, die vor der Amputation als selbstverständlich wahrgenommen und daher unreflektiert ausgeführt wurden, traten nach der Amputation ins Zentrum der Aufmerksam-
33 M. Hoffman: Bodies completed, S.236/237. 34 Vgl. auch R. Gugutzer: Verkörperungen, S.66/67. 35 Vgl. Zimmer, Stefanie: Die materielle Realität der Virtuellen Treppe: Ethnographische Gang-Analyse von Gesunden und Schlaganfall-Patienten in der Reharobotik, in: Kontopodis, Michalis/Niewöhner, Jörg (Hg.): Das Selbst als Netzwerk. Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag. Bielefeld: transcript 2011, S.25-55, hier: S.37. 36 R. Gugutzer: Verkörperungen, S.67.
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keit, wobei meine Forschungsteilnehmer durch den Gebrauch von Prothesen mit Bewegungsabläufen konfrontiert wurden, die ihrem bisherigen körperlichleiblichen (Bewegungs-)Wissen widersprachen. Wie zudem die Ethnologin Stefanie Zimmer in einem Aufsatz über Ganganalysen von Schlaganfallpatienten herausgearbeitet hat, kann der menschliche Gang bzw. die Aktivität Gehen aus einer relational-materiellen Perspektive im Sinne der ANT als ein emergentes Phänomen konzipiert werden, das heißt als eine »[...] Organisation heterogener Elemente wie Körperteile, Empfindungen, Vorstellungen und Verfahrenswissen, die in bestimmten Relationen zueinander stehen und eine bestimmte Ordnung bilden, [...].«37 Durch einen Schlaganfall oder eben eine Beinamputation bricht diese Organisation zusammen und die betreffenden Individuen werden mit der Frage konfrontiert, wie sie dieses System im wörtlichen Sinne wieder zum Laufen bringen können.38 Laufenlernen mit Prothese erfordert in diesem Zusammenhang einen spezifischen Re-Organisationsprozess bzw. eine spezifische Form von Koordinationsarbeit, die in Anlehnung an den Soziologen und ANTVertreter John Law auch als ›heterogenes Engineering‹ bezeichnet werden kann, da in diesen Ordnungsprozess im Falle des rehabilitationsklinischen Prothesentrainings unterschiedliche menschliche und nicht-menschliche Partizipanden eingebunden sind, die miteinander interagieren und zusammen daran ›arbeiten‹, Prothese-Tragen als Set an medizintechnisch verkörperten Bewegungen erfolgreich hervorzubringen und zu stabilisieren, damit Aktivitäten wie Gehen, Sitzen oder Stehen auch nach der Amputation mit Prothese wieder möglich sind. 39 Das bedeutet, »[t]raining to be able to walk on/with a prosthesis – [...] – is training with others, both humans and non-humans (e.g. crutches, parallel bars, the physiotherapistʼs body).«40 Speziell das medizintechnische Artefakt (Interims-) Prothese kann sich dabei jedoch als gnadenloser Interaktionspartner erweisen und stellt bestimmte Ansprüche an den jeweiligen Prothesenträger, indem es von diesem ›verlangt‹, sein körperliches Verhalten und seine Wahrnehmung auf bestimmte Bewegungsabläufe hin auszurichten.41 Bringt die betreffende Person nicht das nötige Balancegefühl oder die erforderliche Muskelanspannung in die Interaktion mit ein, dann kann es passieren, dass sich das medizintechnische Ar-
37 S. Zimmer: Ethnographische Gang-Analyse, S.36. 38 Ebd. 39 Vgl. Law, John: Technik und heterogenes Engineering: Der Fall der portugiesischen Expansion, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, S.213-237. 40 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.186. 41 Vgl. auch R. Gugutzer: Verkörperungen, S.129.
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tefakt gegenüber dem jeweiligen Nutzer dahingehend als ›widerständig‹ verhält, indem es beim Laufen blockiert, schleift, hin- und herschlenkert etc. Die betreffende Person muss daraufhin körperlich auf das medizintechnische Artefakt eingehen und beispielsweise ihre Beckenkippung oder Fußstellung ändern, gleichzeitig interagiert sie damit verbunden aber auch leiblich mit der Prothese, indem sie ihre Kraft spürbar dosieren oder ihr Gleichgewicht spürbar verlagern muss.42 Die Interaktion zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt spielt sich somit nicht allein auf der Ebene des von außen wahrnehmbaren (prothetisierten) Körpers ab, sondern vor allem auch auf der Ebene des leiblichen Empfindens und Spürens. Nach Robert Gugutzer offenbart sich in derartigen Momenten eine spezifische (leibliche) Macht von Dingen, die bewirkt, dass sich Menschen auf eine bestimmte Art und Weise verhalten (müssen), wobei es im Rahmen des rehaklinischen Prothesentrainings in diesem Zusammenhang vor allem darum geht, dieses ›Machtverhältnis‹ umzukehren, das heißt der Sachdominanz des medizintechnischen Artefakts zu entkommen, indem die betreffenden Individuen lernen, ihre (Interims-)Prothese körperlich-leiblich so zu ›beherrschen‹, dass diese macht was sie wollen und nicht umgekehrt.43 Die verschiedenen Geh- und Stehübungen mit Prothese wurden von Simone Kunzmann und Benni Weise mit Herrn Greiter, Herrn Weil und Herrn Vetter im Verlauf ihres Rehaaufenthaltes daher so lange wiederholt und eingeübt, bis diese ein Gefühl der Stimmigkeit empfanden, das heißt bis sich bei meinen Forschungsteilnehmern im neophänomenologischen Sinne eine spürbare Gewissheit als Form leiblicher Erkenntnis eingestellt hat, die verschiedenen Bewegungsabläufe mit Prothese verstanden zu haben.44 Dies wurde vor allem daran deutlich, dass meine Forschungsteilnehmer mit fortschreitendem Training nicht mehr bei jedem einzelnen Schritt konzentriert zu Boden schauen mussten, sondern ihren Blick beim Laufen nach vorn richten und gleichzeitig die verschiedenen Bewegungen mit Prothese einigermaßen fließend ausführen konnten. Gleichzeitig änderte sich für meine Forschungsteilnehmer durch die Aneignung bzw. das Erlernen der verschiedenen medizintechnisch verkörperten Bewegungen nicht nur das Gefühl für den eigenen Körper und das medizintechnische Artefakt, sondern vielmehr wurde dadurch im postphänomenologischen Sinne auch ihre Wahrnehmung von Welt verändert. So haben meine Forschungsteilnehmer im Rahmen der verschiedenen Geh- und Stehübungen gelernt, ihre Umwelt trotz der fehlenden sensiblen Rückkopplung durch das medizintechnische Artefakt Interimsprothese wahrzunehmen, indem
42 Vgl. auch R. Gugutzer: Leibliche Interaktion mit Dingen, S.113. 43 Ebd., S.110-113. 44 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.66/67.
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sie beispielsweise über unterschiedliche Druckintensität am Prothesenschaft erspüren, ob sie mit ihrer Beinprothese gerade über weichen oder steinigen Untergrund laufen. Die Wahrnehmung meiner Forschungsteilnehmer wurde bzw. wird im Zusammenhang mit dem praktischen Gebrauch ihrer Prothese somit neu geformt und zwar »[...] through the device, with the device itself in some ways taken into the userʼs bodily awareness. (Herv. i. O.)«45 Wie Michal Hoffman darüber hinaus im Rahmen ihrer Feldforschungen beobachtet hat, wurde das medizintechnische Artefakt Prothese vom physiotherapeutischen Personal bei den verschiedenen Gehübungen mit Prothesenträgern meist nicht als Prothese bezeichnet, sondern vielmehr direkt als Bein oder Fuß adressiert. Die Verwendung dieser biologischen Begriffe interpretiert Hoffman dabei als diskursive Strategie, die es Menschen nach einer Beinamputation erleichtern soll, die Prothese als Teil von sich selbst empfinden zu können. Das heißt, »[...] the staff teach compensatory and discursive skills which enable incorporation of the prosthesis in body techniques while referring to it as a biological leg. Constructed as a ›social organ‹, the device is gradually transformed from an extension to an integral part of the body.«46 Gleichzeitig wird nach Hoffman damit verbunden die in der Rehaklinik anvisierte Wiederherstellung der durch die Amputation scheinbar verloren gegangenen ›(körperlichen) Normalität‹ nicht nur in funktionaler bzw. praktischer Hinsicht durch das Laufenlernen mit Prothese, sondern auch diskursiv unterstützt, indem sowohl auf die Verwendung des eher negativ besetzten und oft mit Anormalität oder Behinderung assoziierten Begriffs Prothese, als auch auf die Verwendung des Begriffs Stumpf verzichtet wird: »Physiotherapists evidently teach patients the adequate terminology to accompany the use of prostheses in their performance of body techniques. By instructing patients in this symbolic practice they teach them not only how to ›walk the walk‹ but also how to ›talk the talk‹. By doing so they silence the spoken expression of disability since we no longer hear of the ›deviant‹ bodily condition – prosthesis and stump. Disability now disappears not only from the public eye but also from the public ear; […]. […] In this sense, physical therapy re-civilizes the ›deviant‹ body by guiding patients’ practical and discursive strategies for ›passing‹ as normal, […].«47
45 R. Rosenberger/P. P. Verbeek: Postphenomenology, S.14. 46 M. Hoffman: Bodies completed, S.229. 47 Ebd., S.240/241.
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Auch mir ist im Verlauf meiner Forschungswoche aufgefallen, dass Simone Kunzmann und Benni Weise oftmals auf den Begriff Prothese verzichtet und stattdessen vom Bein oder Fuß gesprochen haben. Allerdings hatte ich nicht wie Hoffman den Eindruck, dass die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts für meine Forschungsteilnehmer dadurch maßgeblich erleichtert wurde, zumal die Tragedauer der Prothese für Herrn Greiter, Herrn Weil und Herrn Vetter aufgrund von Druckschmerzen oder starkem Schwitzen im Prothesenschaft meist eher begrenzt war, weshalb sie ihre Übungen immer wieder unterbrechen und ihre Interimsprothese ausziehen mussten. Das medizintechnische Artefakt rückte in diesen Momenten wieder verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wurde von meinen Forschungsteilnehmern in leiblicher Hinsicht weniger als zu ihrem Körper gehörend empfunden, sondern eher als Störfaktor bzw. schmerzhaftes Ding erlebt. Damit sich Prothese-Tragen tatsächlich von einer körperlichen Aneignungsphase in ein verinnerlichtes Leibkönnen transformieren und sich eine intime bzw. (positive) emotionale Beziehung zwischen Menschen mit Beinamputation und Prothese entwickeln kann, ist das rehabilitationsklinische Prothesentraining allein zudem nicht ausreichend. Vielmehr muss der Umgang mit dem medizintechnischem Artefakt auch nach der stationären Anschlussheilbehandlung weiterhin aktiv eingeübt werden, zumal einige Monate nach der Amputation und der interimsprothetischen Versorgung die orthopädietechnische Anpassung einer ersten Definitivprothese vorgenommen wird und Prothesenpassteile im Verlauf der Zeit immer wieder ausgetauscht werden müssen, wobei »[...] jede neue Prothese [...] halt auch wieder nʼ ganz anderes Laufen [ist]« wie es meine Interviewpartnerin Martina Schubert mir gegenüber formuliert hat. Wie fernerhin das Beispiel Herr Vetter zeigt, kann sich nicht nur die (Interims-)Prothese, sondern auch der eigene, durch die Amputation veränderte Körper als widerspenstiger Akteur erweisen, der die Herstellung von ›Transparenz‹ und damit verbunden die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts im Sinne technogenen Embodiments erschwert. So war Herr Vetters Beinstumpfvolumen während meiner Forschungswoche aufgrund von Wassereinlagerungen ständig starken Schwankungen unterworfen, weshalb seine Prothese mal mehr und mal weniger gut passte und er die verschiedenen physiotherapeutischen Übungen mal mehr und mal weniger aktiv ausführen konnte. Darüber hinaus schließe ich mich der Kritik der französischen Soziologin Myriam Winance an, die die von Hoffman wie auch von anderen Autoren vertretene ›Normalisierungsthese‹ im Zusammenhang mit dem Gebrauch medizintechnischer Artefakte wie Prothesen und die damit verbundene (beabsichtigte) ›Reduktion‹ von Behinderung als zu einseitig kritisiert. So betont Winance in einem Aufsatz, in dem sie sich aus phänomenologischer Perspektive
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mit dem Rehabilitationsprozess von Menschen auseinandersetzt, die infolge eines Verkehrsunfalls bzw. neuromuskulärer Erkrankungen partiell gelähmt sind, dass es im Rahmen der verschiedenen physiotherapeutischen Übungen, die in der Rehaklinik durchgeführt werden, nicht ausschließlich um die Rekonstruktion von ›(körperlicher) Normalität‹ und Funktionalität im Sinne von ›NichtBehinderung‹ geht. Vielmehr ziele das rehaklinische Training vor allem auch darauf ab, den betreffenden Reha-Patienten beizubringen, den durch Unfall oder Krankheit sowie das Tragen von Prothesen fremd gewordenen Körper wieder als ihren Körper empfinden zu können. Das bedeutet, »[n]ormalisation is but one dimension of rehabilitation practices […]. […] Re-education is not only functional, it also helps one ›to learn to feel oneʼs body‹. […] The aim of learning to walk again is not to normalize a body by re-establishing a functionality that is considered to be ›normal‹; […] Re-education works on the bodyʼs functionalities and capacities in order to encourage other feelings and capacities to appear, to encourage another body, that is once again ›mine‹, to appear.«48
Der Wunsch, dank der Prothese wieder ›normaler‹ im Sinne von ›vollständiger‹ bzw. mobiler und ›weniger behindert‹ zu sein, spielte für Herrn Greiter, Herrn Vetter und Herrn Weil wie auch für meine übrigen Interviewpartner zwar durchaus eine Rolle (siehe Kapitel 3.3). Die Hauptmotivation dafür, in der Rehaklinik trotz Schmerzen und Rückschlägen den Umgang mit der Prothese zu erlernen, lag aber seitens meiner Forschungsteilnehmer vor allem darin begründet, »nach der Reha den Alltag bewältigen zu können« wie es unter anderem der Unterschenkelprothesenträger Werner Gruyter mir gegenüber in einem Gespräch formuliert hat. Meine Forschungsteilnehmer erhofften sich damit verbunden, durch das rehaklinische Prothesentraining nach der Amputation wieder mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit in ihrem täglichen Leben zurückzugewinnen, um nicht ständig auf fremde Hilfe angewiesen sein zu müssen. Ein Ende 60-jähriger Oberschenkelprothesenträger, der während meiner Forschungswoche zur ambulanten Gehschule in die Rehaklinik kam, schilderte mir gegenüber in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die Amputation seines rechten Oberschenkels im Sommer 2014 infolge eines Aneurysmas für ihn einen »wahnsinnigen Eingriff in das Leben, in die persönliche Freiheit, in die gesamte Aktivität« dargestellt habe und er im rehaklinischen Prothesentraining in erster Linie eine Möglichkeit sieht,
48 Winance, Myriam: Pain, disability and rehabilitation practices. A phenomenological perspective, in: Disability and Rehabilitation 28 (2006), S.1109-1118, hier: S.11141115.
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»ein Stück Freiheit zurückzugewinnen«. Neben den allgemeinen Geh-, Steh- und Gleichgewichtsübungen im Rahmen der ›Ampu-Gruppe‹, die vor allem dazu dienen, ein neues Gefühl für bzw. Vertrauen in den eigenen Körper und das medizintechnische Artefakt (Interims-)Prothese zu entwickeln, zählen zum Programm des rehaklinischen Prothesentrainings daher auch jeweils spezifische »alltagsbezogene Übungen« wie es Simone Kunzmann formuliert. Mit ›alltagsbezogen‹ ist dabei gemeint, dass von Simone und Benni Weise mit Herrn Greiter, Herrn Vetter und Herrn Weil vor allem die Bewegungen und Tätigkeiten mit Prothese verstärkt eingeübt wurden, die vor der Amputation für den individuellen Alltag meiner drei Forschungsteilnehmer von zentraler Bedeutung waren. Wie mir Simone in diesem Zusammenhang im Verlauf meiner Forschungswoche erklärt hat, stellt sie sich selbst bei der Ausarbeitung der verschiedenen physiotherapeutischen Übungen daher immer die Frage »Was ist den Leuten im Alltag wichtig? Was muss die Person können, wenn sie aus der Rehaklinik entlassen wird?«, zumal sie aufgrund ihrer eigenen Amputationsgeschichte weiß, mit welchen Ängsten und Herausforderungen Menschen konfrontiert werden, wenn sie nach der Amputation und der stationären Anschlussheilbehandlung nach Hause kommen und in einen Bereich zurückkehren, in dem vor der Amputation alles gewohnt und selbstverständlich war und wo nun plötzlich alles völlig anders ist. Zusammen mit ihren Kollegen versucht sie deshalb, das Therapieangebot so gut wie möglich an die jeweilige Lebens- und Alltagssituation ihrer einzelnen Patienten anzupassen, um ihnen die bestmögliche Vorbereitung für das Leben nach der Amputation zu bieten. Wie sich diese Alltags-Vorbereitung und damit verbunden die praktische Simulation von Alltag im Rahmen des rehaklinischen Prothesentrainings dabei konkret gestaltet, geht aus einem weiteren Auszug aus einem meiner Beobachtungsprotokolle hervor. März 2015, Rehaklinik, 2. Obergeschoss, Übungsgang und KlinikTreppenhaus, 13:15 Uhr: Simone Kunzmann und ich sind zusammen mit Herrn Greiter im Treppenhaus der Rehaklinik, er hat heute eine Einzeltherapiestunde. Simone möchte mit ihm insbesondere das Treppengehen mit Prothese trainieren, da Herr Greiter zuhause in seiner Wohnung täglich insgesamt 24 Stufen bzw. Schwellen überwinden muss. Wie Herr Greiter erzählt, ist seine Wohnung nicht barrierefrei und zu eng für einen Rollstuhl. Heute soll er daher die fünf Stufen im Kliniktreppenhaus vom zweiten ins erste Obergeschoss einmal hinunter und einmal nach oben gehen, dann wären es immerhin insgesamt schon zehn Stufen, die er am Stück mit Prothese laufen kann. Herr Greiter steht mit seinen beiden Krücken oben am Treppenabsatz, Simone erklärt ihm, auf was er beim Treppe hinabgehen als Prothesenträger achten muss: Er soll sich mit seiner rechten
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Hand am Treppengeländer einhalten und seine beiden Gehstützen in die linke Hand nehmen. Da er die Treppe nach unten geht, soll er außerdem zuerst seine Beinprothese links und dann das »gesunde Bein« (O-Ton) auf die Stufe setzen. Herr Greiter hört aufmerksam zu und macht anschließend seinen ersten Schritt. Er muss sich beim Treppe hinabsteigen sehr konzentrieren, sein Blick ist die ganze Zeit auf den Boden gerichtet. Zudem kann er nicht im Wechselschritt, also alternierend, die Treppe nach unten gehen, sondern muss immer erst seine Beinprothese auf eine Stufe setzen und dann mit dem anderen Bein nachkommen, sodass er sicher auf der Stufe steht, bevor er wieder den nächsten Schritt machen kann. Auf den letzten Stufen ist Herr Greiter bereits sichtlich erschöpft, er geht wackelig und schwitzt leicht. Nach einer kurzen Verschnaufspause soll er die Treppe wieder nach oben gehen. Dazu hält er sich mit seiner linken Hand am Treppengeländer ein, seine beiden Krücken nimmt er in die rechte Hand und macht den ersten Schritt mit seinem rechten Bein. Dabei murmelt er vor sich hin »Himmel und Hölle« (O-Ton). Simone erklärt mir, dass fast jeder Beinprothesenträger diesen Spruch kennt und als Eselsbrücke für das Treppensteigen mit Prothese benutzt. Himmel steht dabei für das »gesunde Bein« (O-Ton), da man beim Treppen HOCH gehen – also in Richtung Himmel – zuerst mit diesem auftreten soll, während beim Treppe HINUNTER gehen – also Richtung Hölle – der erste Schritt mit der Prothese gemacht wird. Nachdem Herr Greiter die Treppe langsam und konzentriert nach oben gegangen ist, kann er abermals eine kleine Verschnaufspause machen. Simone lobt Herrn Greiter und erklärt ihm dann, dass sie heute auch noch gerne »Alltag in der Küche« (O-Ton) mit ihm trainieren möchte. Wir verlassen daher das Klinik-Treppenhaus und gehen in den Übungsgang des zweiten Obergeschosses. Dort soll sich Herr Greiter ohne Krücken mit dem Bauch an eines der beiden Holzgeländer, die im Übungsgang stehen, stellen, sich an diesem festhalten und langsam seitliche Schritte machen. Währenddessen erklärt ihm Simone, dass er sich zuhause in seiner Küche ähnlich wie am Holzgeländer an der Küchentheke festhalten und dann langsam seitliche Schritte machen könne. Auf diese Weise sei es ihm dann auch möglich, mit einer Hand ein Glas zu halten, ohne dabei Angst vor Stürzen haben zu müssen. Anschließend lehnt sich Simone neben Herrn Greiter ans Geländer und simuliert gemeinsam mit diesem »Hände waschen« (O-Ton). Dazu reiben die beiden ihre Hände in der Luft aneinander, wobei Simone Herrn Greiter erklärt, dass er so angelehnt ans Waschbecken zuhause im Bad freihändig Händewaschen könne, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Herr Greiter nickt und schildert Simone, dass er Angst vor der Entlassung aus der Rehaklinik habe, da er nicht weiß, wie er zuhause in Zukunft zurecht kommen soll, zumal es in seinem Bad nur eine Badewanne, aber keine Dusche gibt und er sich nicht vorstellen kann, wie er allein
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in die Badewanne ein- und aussteigen soll. Sorgen bereitet es ihm auch, wenn er nachts beispielsweise zur Toilette muss, dann könne er nicht einfach schnell aus dem Bett herausspringen, sondern muss immer erst seine Prothese anziehen. Er sagt »Vor der Amputation konnte ich halt einfach loslaufen, das geht jetzt nicht mehr« (O-Ton). Simone hört Herrn Greiter aufmerksam zu und versucht ihn zu beruhigen, da dieser mittlerweile einen etwas verzweifelten Eindruck macht. Sie erklärt Herrn Greiter, dass sie für ihn in den nächsten Tagen einen Termin bei der Sozialberatung der Rehaklinik ausmachen wird, damit dort abgeklärt werden kann, inwiefern barrierefreie Umbaumaßnahmen in seiner Wohnung möglich sind, beispielsweise durch das Anbringen von Halterungsgriffen an der Badewanne oder einen Badelifter. Wie Herr Greiter weiter schildert, befindet sich in der Nähe seiner jetzigen Wohnung zwar ein Supermarkt, eine erste Sitzmöglichkeit zum Ausruhen bietet sich allerdings erst nach etwa 600 Metern. Er befürchtet daher, dass diese Wegstrecke für ihn zu lang zum Laufen sei, zumal er auch nicht weiß, wie er mit Prothese und Krücke schwere Einkaufstüten tragen soll. Sein Auto, das er sich erst vor drei Jahren neu zugelegt hat, kann er dazu auch nicht nutzen, weil das Auto über keine Automatikschaltung verfügt und er mit seiner Beinprothese links die Kupplung nicht betätigen kann. Simone gibt ihm daraufhin den Tipp, zum Einkaufen anstelle von Tüten auf einen Rucksack zurückzugreifen, dann habe er die Hände frei und es sei für ihn leichter, mit seiner Prothese beim Laufen das Gleichgewicht zu halten. Offenbar ist das lange Stehen in der Prothese für Herrn Greiter unangenehm, denn er verzieht das Gesicht und Simone fragt »Wo tutʼs weh?« (O-Ton), woraufhin Herr Greiter auf seinen Beinstumpf zeigt. Simone erklärt Herrn Greiter, dass sie für heute keine weiteren Übungen mehr mit ihm vorhat und er sich bis zu seinem nächsten Termin ausruhen soll. Mittlerweile ist es 13:50 Uhr, Simone und ich verabschieden uns von Herrn Greiter, der mit seinen beiden Krücken langsam Richtung Aufzug geht, um auf sein Zimmer zu fahren. Wie an der hier beschriebenen Therapiestunde mit Herrn Greiter deutlich wird, erfolgt die praktische Einübung von Alltag im Rahmen des rehaklinischen Prothesentrainings in erster Linie durch die Imitation verschiedener alltäglicher Verrichtungen bzw. Situationen wie Hände waschen, Zurechtkommen in Küche und Bad, das Trainieren alltäglicher Körperbewegungen wie Treppensteigen, verschiedene Schrittlängen machen etc. Dabei wird die vor der Amputation gewohnte Alltagsumwelt meiner Forschungsteilnehmer zum Ausgangspunkt genommen, auf deren Basis die verschiedenen Alltagsbewegungen mit Prothese trainiert werden. War es für Herrn Greiter in diesem Zusammenhang vor allem wichtig, die 24 Stufen in seiner Wohnung mit Prothese am Stück gehen oder
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schwere Einkaufstüten vom Supermarkt bis nach Hause transportieren zu können, so war es für einen anderen ehemaligen Reha-Patienten von Simone Kunzmann von zentraler Bedeutung, zuhause in seiner Wohnung sein Kaminzimmer zu erreichen, zu welchem nur eine Treppe ohne Geländer führt, weshalb Simone mit diesem verstärkt das Treppengehen ohne Geländer mit Prothese trainiert hat wie mir von ihr geschildert wurde. Ein weiterer Patient wiederum hatte nach seiner Amputation große Schwierigkeiten, mit Prothese von Stühlen ohne Armlehne aufzustehen, weshalb Simone Kunzmann mit diesem vor allem das Hinsetzen und Aufstehen von Stühlen ohne Armlehne eingeübt hat, denn auch »Sitzen und Aufstehen ist Alltag« wie sie selbst es schildert. Die Sozialanthropologin Rita Struhkamp hat während ihrer Feldforschungen in einer niederländischen Rehaklinik für Menschen mit Rückenmarksverletzungen bzw. Multipler Sklerose im Hinblick auf deren Trainingsprogramm und die damit verbundene Verhandlung von Alltag ähnliche Beobachtungen gemacht und schreibt in diesem Zusammenhang, »[t]he places that matter in a rehabilitation plan are peopleʼs own home environments, the homes of familiy members or friends, the supermarket where people will do their shopping, or the office building where they work. [...] Living in one world, they train to manage another world [...].«49 Zur praktischen Simulation von Alltag in der Rehaklinik zählt damit verbunden auch, dass mit Prothesenträgern im Gehparcours des Rehaklinik-Gartens das Gehen über unterschiedliche Untergründe wie Wiese, Kiesel- und Pflastersteine oder wackelige Brücken und Schrägen geübt wird, wie sie Bordsteinkanten überwinden, beispielsweise um von einem Gehweg hinunter zu gelangen und über eine grüne Ampel zu gehen und zwar in der Zeit, in der die Ampel grün ist. Trainiert wird mit den betreffenden Personen im Rahmen des Prothesentrainings auch, wie sie mit Prothese hinknien und wieder aufstehen können, um zuhause beispielsweise eine Spülmaschine auszuräumen oder wie sie mit Prothese über Teppiche und somit potentielle Stolperfallen laufen, indem im Übungsraum des zweiten Obergeschosses mehrere Matten unterschiedlicher Dicke ausgelegt werden, über die sie steigen müssen. Kurz: Alltag wird in der Rehaklinik in erster Linie als ›Körperumwelt‹ verhandelt, das heißt als »[...] Arena, in der mit dem neuen Körper tagtäglich agiert wird [...].«50 Gleichzeitig offenbart sich an den verschiedenen Übun-
49 Struhkamp, Rita: Dealing with Disability. Inquiries into a Clinical Craft. Dissertation an der Universität Twente 2004, S.70. Online-Publikation, http://doc.utwente.nl/ 41723/1/thesis_Struhkamp.pdf (Stand: 19.01.16). 50 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.71. Auch hier hat Amelang im Hinblick auf die Simulation von Alltag im Rahmen des rehabilitationsklinischen Programms nach einer Lebertransplantation wieder ähnliche Beobachtungen gemacht.
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gen, die während des Prothesentrainings mit meinen Forschungsteilnehmern durchgeführt wurden aber auch, dass Alltag im Allgemeinen vor allem verstanden werden kann als »[...] eine in körperlichen Routinehandlungen hergestellte Wirklichkeit [...]«51, wobei diese körperlichen Routinen wie eben Sitzen, Stehen, Gehen, Hinknien, Treppensteigen etc. durch die Amputation ›erschüttert‹ wurden und nun mit Prothese neu eingeübt und internalisiert werden müssen. Prothesenträger und rehaklinisches Personal simulieren bzw. generieren in diesem Sinne im Verlauf des Prothesentrainings letztlich in ihrem gemeinsamen körperlich-praktischen Tun Alltag als Mikrofundierung sozialer Ordnung, wobei – wie dargestellt – auch verschiedene materielle Gegenstände wie Übungsbarren, Treppen, Rollatoren etc. als ›Mitspieler‹ in diese sozialen Abstimmungsprozesse miteinbezogen werden.52
4.3
FIT FÜR DEN POST-AMPUTATIONS-ALLTAG? ENTLASSUNG AUS DER REHAKLINIK
In der Regel endet nach drei bis fünf Wochen für Menschen mit Beinamputation der stationäre Aufenthalt in der Rehaklinik. Doch wie geht es für sie danach weiter? Sind sie nach der rehabilitationsklinischen Amputationsnachsorge und dem damit verbundenen Prothesentraining tatsächlich ausreichend vorbereitet für ihren jeweiligen Post-Amputations-Alltag? Zwar besteht das wesentliche Ziel der stationären Anschlussheilbehandlung vor allem darin, die betreffenden Personen durch ein umfassendes therapeutisches Programm in körperlicher Hinsicht wieder fit fürʼs Leben bzw. fit für den Alltag zu machen. Diese körperbezogene Vorbereitung auf und Imitation von Alltag in der Rehaklinik kann jedoch letztlich immer nur unvollständig bleiben, denn das, was für meine Forschungsteilnehmer und Interviewpartner in ihrem Leben außerhalb klinischer Settings tatsächlich von zentraler Bedeutung war bzw. ist und vor der Amputation als selbstverständlicher, individueller Alltag ge-
51 Meuser, Michael: Zwischen ›Leibvergessenheit‹ und ›Körperboom‹. Die Soziologie und der Körper, in: Sport und Gesellschaft 1 (2004), S.197-218, hier: S.211. 52 Vgl. Böhle, Fritz/Weihrich, Margit: Zur Einführung. Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen, in: Dies. (Hg.): Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen. Bielefeld: transcript 2010, S.7-35, hier: S.8.
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lebt wurde, kann in der Rehaklinik nicht hinreichend simuliert werden.53 Wie mir Simone Kunzmann im Verlauf meiner Forschung geschildert hat und wie auch an der dargestellten Einzeltherapiestunde mit Herrn Greiter deutlich wurde, haben viele Patienten daher häufig Angst vor der Entlassung aus der Rehaklinik, gerade weil sie nicht in ihren alten Alltag wie vor der Amputation zurückkehren können. Vielmehr handelt es sich um die Entlassung in eine neue, unbekannte Situation, die eben erst zum Alltag gemacht werden muss und oft mit Unsicherheit vor einer ungewissen Zukunft verbunden ist. In der Rehaklinik werden den betreffenden Personen in diesem Zusammenhang verschiedene Anleitungen und Tipps für ihr poststationäres Leben nach der Amputation mit auf den Weg gegeben, feste Routinen im Hinblick auf das tägliche Leben und den Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese sind zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht ausgebildet. Die Rehaklinik kann im Sinne Katrin Amelangs somit in erster Linie als Ort verstanden werden, an dem zukünftige Alltage unter den Bedingungen des Amputiert-Seins bzw. des Prothesenträger-Seins neu justiert werden, Alltag befindet sich in der Rehaklinik noch im Testlauf.54 Sorge bereitet es Simone Kunzmann dabei vor allem, dass die meisten ihrer Patienten weitgehend auf sich allein gestellt sind, sobald sie die Rehaklinik verlassen, zumal insbesondere ältere Personen wie Herr Greiter oder Herr Weil oftmals alleinstehend bzw. verwitwet sind und daher keine familiäre Unterstützung erfahren. Wenn diese Personen dann wieder zuhause sind und beispielsweise drei Tage lang ihre Prothese nicht getragen haben, trauen sie sich nicht mehr damit zu gehen und werden unter Umständen zum Pflegefall oder sind dauerhaft an ihre Wohnung gebunden, was nicht selten soziale Isolation nach sich zieht. Darüber hinaus bestehen insbesondere im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Weiterversorgung im Anschluss an die rehabilitationsklinische Amputationsnachsorge in Deutschland derzeit teilweise noch akute Mängel wie Simone Kunzmann kritisiert und was auch aus einer Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation hervorgeht, die konstatiert, dass »[...] Ärzte, Therapeuten und Sozialstationen [...] mit den komplexen Versorgungsbedarfen beinamputierter Menschen oft überfordert […]«55 sind. So gibt es beispielsweise kaum Physio- oder Ergotherapeuten, die ambulante Gehschule für Prothesenträger anbieten, da diese Dienstleistung nicht im Leistungskatalog geführt wird und somit nicht abgerechnet werden kann. Allerdings wäre es gerade für Beinprothe-
53 Vgl. auch K. Amelang: Transplantierte Alltage, die ähnliche Beobachtungen gemacht hat. 54 Vgl. Ebd., S.106/107. 55 Deutsche Gesellschaft für Rehabilitation (DVfR): Empfehlungen, S.7.
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senträger wichtig, auch nach ihrem stationären Rehaaufenthalt die Möglichkeit zur ambulanten Gehschule in Anspruch nehmen zu können, um den sicheren Umgang mit ihrer Prothese weiterhin aktiv zu trainieren. In diesem Zusammenhang wurden Herr Greiter, Herr Weil und Herr Vetter während ihres Rehaaufenthaltes von Simone Kunzmann und ihren Kollegen daher immer wieder darauf hingewiesen, dass die Aneignung der verschiedenen Alltags-bewegungen mit Prothese ein zeit- und arbeitsintensives Unterfangen ist, das außerhalb der Rehaklinik weiterhin selbständiges Training erfordert, um den eigenen Körper fit bzw. ›prothesenkompatibel‹ und damit verbunden letztlich auch ›alltagstauglich‹ zu halten. Um meinen Forschungsteilnehmern zudem die Angst vor der neuen, unbekannten Situation zu nehmen, wurden diese vom Personal der Rehaklinik auf bestehende Selbsthilfegruppen für Prothesenträger aufmerksam gemacht oder es wurde direkt der Kontakt dazu vermittelt, damit sich Herr Greiter, Herr Weil und Herr Vetter auch außerhalb der Rehaklinik mit Menschen austauschen können, die Ähnliches erlebt haben. Des Weiteren wird bei Bedarf der Sozialdienst der Rehaklinik eingeschaltet, der bereits vor der Entlassung der jeweiligen Person abklärt, ob in deren Wohnung Umbaumaßnahmen im Hinblick auf Barrierefreiheit erforderlich sind. Wie mir von Simone Kunzmann darüber hinaus geschildert wurde, spielt speziell für jüngere Prothesenträger bzw. Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Amputation berufstätig waren, meist auch die Frage eine Rolle, inwiefern es ihnen möglich ist, nach der stationären Anschlussheilbehandlung wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Auch in diesen Fällen wird der Sozialdienst der Rehaklinik kontaktiert, der wiederum mit der betreffenden Person und dem jeweiligen Arbeitgeber abklärt, ob eine Weiterbeschäftigung im alten Beruf möglich ist oder eine Umschulungsmaßnahme empfohlen werden sollte. Inwiefern es meinen verschiedenen Forschungsteilnehmern und Interviewpartnern dabei gelungen ist, nach der Entlassung aus der Rehaklinik an Altes, Gewohntes anzuknüpfen, sich ein neues Netz an Selbstverständlichkeiten und Routinen zu erarbeiten und als Post-Amputations-Alltag zu leben, wird im nachfolgenden Kapitel genauer in den Blick genommen.
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Einblicke in das poststationäre Leben von Prothesenträgern
In diesem Kapitel wird näher beleuchtet, wie es meinen Forschungsteilnehmern und Interviewpartnern erging, als sie aus der Rehaklinik entlassen wurden und zum ersten Mal wieder nachhause in ihr (ehemals) gewohntes Umfeld zurückkehrten. Anhand fünf ausgewählter Post-Amputationsgeschichten (5.1) werde ich insbesondere den Fragen nachgehen, wie meine Forschungsteilnehmer die erste Zeit nach der Amputation außerhalb klinischer Settings erlebt und wie sie Alltag einerseits vorgefunden sowie andererseits als neues Netz von Routinen und Selbstverständlichkeiten hergestellt haben. Was zeichnet Post-AmputationsAlltage aus und wie hat sich das Leben meiner Forschungsteilnehmer seit der Amputation mit Prothese bis zum Zeitpunkt meiner Datenerhebung gestaltet, zu dem die Amputation meiner Interviewpartner teilweise ein Jahr, teilweise aber bereits über 30 Jahre zurücklag? Im Rahmen der präsentierten Post-Amputationsgeschichten kommen dabei wieder die gleichen fünf Interviewpartner zu Wort, deren Amputationsgeschichten ich bereits in Kapitel 3.1 dargestellt habe und ebenso wie bei der Interpretation ihrer Amputationsgeschichten werde ich die Aussagen meiner fünf Gesprächspartner auch in diesem Kapitel wieder mit Passagen aus den restlichen Interviews, die ich geführt habe zusammenbringen (5.2), um ein möglichst umfassendes Bild davon nachzeichnen zu können, was es heißt, nach einer Beinamputation mit Prothese zu leben. In einem weiteren Unterkapitel (5.3) werde ich darüber hinaus den Prozess der Prothesenanpassung im Orthopädietechnikzentrum genauer in den Blick nehmen, zumal Orthopädietechniker eine Schlüsselposition im Leben von Prothesenträgern einnehmen und damit verbunden sowohl für die (Wieder-)Herstellung bzw. Stabilisierung von Alltag als auch die körperlich-leibliche Integration von Prothesen von zentraler Bedeutung sind. Daran anschließend (5.4) werde ich zudem erörtern, welche Rolle das Thema Behinderung im Leben bzw. Post-Amputations-Alltag meiner Forschungsteilnehmer
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spielt und wie sich dies wiederum auf die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments auswirkt.
5.1
AUSGEWÄHLTE POST-AMPUTATIONSGESCHICHTEN
5.1.1 »Du musst dich mit dem Alltag arrangieren« (Eduard König) Als ich Eduard König im Januar 2015 für ein Interview zuhause besuche, liegt die Amputation seines linken Oberschenkels infolge eines Motorradunfalls etwas mehr als drei Jahre zurück. Nach mehreren Wochen im Krankenhaus und der Rehaklinik wieder nach Hause zu kommen, schildert Eduard König dabei rückblickend als »[...] eine knallharte Geschichte, die erste Zeit auf jeden Fall und [...] ist es immer noch, wenn ich ehrlich bin. Klar man gewöhnt sich langsam daran, aber äh es [...] sind jetzt auch schon (.) ja dreieinhalb Jahre gut, wo der Unfall passiert ist und äh du musst dich damit einfach [...] arrangieren, weil es nützt ja nichts, [...] wenn dich hängen lässt [...].«
Weiter sagt er, »[das] Alltagsleben hat sich gravierend verändert, auch mit Prothese (..). Erstens brauchst viel länger [...] du musst das Teil anziehen wie nen Schuh jeden Tag [...], brauchst länger bis gerichtet bist in der Früh und [...] bist einfach nicht mehr so mobil (.) trotz Prothese, [...].« Für Eduard König ist seine veränderte Lebenssituation daher nach wie vor belastend, zumal er seit der Amputation auch nicht mehr in seinem Beruf als Zimmerer und LKW-Fahrer tätig sein kann und stattdessen Erwerbsminderungsrente bezieht, was an seinem Selbstwertgefühl nagt wie er erzählt: »[...] meinʼ ich bin jetzt sechsundfünfzig und (..) äh ich machʼ mir da keine falschen Hoffnungen, klar mit Umschulung und so, erstens zahlen sie es nicht mehr, weil ich schon zu alt bin und zweitens da kriegst sowieso nix mehr, ich denkʼ in dem Alter, […] da tust dir als Gesunder schon schwer, dass nochmal irgendwo reinkommst […].«
Unterstützung erfährt Eduard König vor allem von seiner Ehefrau und seinen beiden jugendlichen Töchtern, allerdings bedeutet die Amputation für seine Familie »[...] auch jetzt noch eine riesen äh Einschränkung [...]«, nicht nur aufgrund der veränderten finanziellen Lage durch seine (zwangsbedingte) Erwerbs-
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losigkeit, sondern vor allem auch, weil gemeinsame Unternehmungen wie Radfahren, Skifahren oder Bergwanderungen nicht mehr möglich sind. Wie Eduard König betont, ist es für ihn jedoch wichtig, sich Ziele zu setzen und sich nicht unterkriegen zu lassen, er möchte irgendwann mit Prothese wieder Fahrradfahren können und auch auf das Motorrad will er trotz seines Unfalls in Zukunft wieder steigen, zumal er »[...] seit Mopedzeiten schon mobil [...]« war. Mittlerweile hat sich Eduard König zudem ein Auto mit Automatikschaltung zugelegt, da er bei seinem alten Wagen mit seiner Beinprothese links die Kupplung nicht mehr betätigen konnte. Zusammen mit seiner Familie lebt Eduard König in einem umgebauten Bauernhaus, das allerdings nicht barrierefrei gestaltet ist. Küche, Ess- und Wohnzimmer sowie Bad befinden sich im Erdgeschoss, sämtliche Schlafzimmer sind im Obergeschoss untergebracht, das nur über eine Holztreppe zu erreichen ist. Da Eduard König seine Beinprothese aufgrund von Schmerzen oder wunden Stellen am Beinstumpf nicht immer tragen kann und auf einen Rollstuhl zurückgreifen muss bzw. beim Duschen seine Prothese ohnehin auszieht und einen Duschhocker benutzt, muss er sich teilweise ohne Prothese rücklings die Treppe nach oben ins Obergeschoss hieven, wenn er beispielsweise vom Bad ins Schlafzimmer will. Er meint daher, »[...] das Haus umbauen steht jetzt an, [...] also das ist jetzt das Nächste, was ansteht, einfach (.) das Haus barrierenfrei [sic] umbauen eigentlich, ja (7). Fällt mir natürlich auch schwer, weil ich selber nicht mit anpacken kann [...].« Auch Restaurantbesuche mit seiner Frau gestalten sich für Eduard König nicht immer ganz einfach, vor allem in der ersten Zeit nach der Amputation, als er noch häufig im Rollstuhl saß, denn »[...] bei den Wirtschaften zum Beispiel, die meisten Klos sind im Keller unten, [...] ich habʼ da schauen müssen [...] ›Ja wo gehen wir hin? Wo istʼs Klo ebenerdig, wo rein kommst mitʼm Rollstuhl?‹ und [...] lauter so Sachen oder wennʼs bloß drei Stufen rauf gegangen ist, hast schon keine Chance mehr gehabt […]. Da hast immer schauen müssen wirklich, wo du hin bist, wo barrierenfrei war einfach [...].«
Weiter erzählt er, dass es für ihn als Prothesenträger auch schwieriger geworden ist, passende Hosen oder Schuhe zu kaufen, da Hosenbeine teilweise für seine Prothese zu eng sind und er bei Schuhen darauf achten muss, dass diese eine gerade Sohle haben, »[...] am besten ist es mit den Turnschuhen [...]. [...] sobald du ein wenig Absatz unten dran hast, musst eigentlich schon wieder anders einstellen die Prothese, weil dann die ganze Statik nicht mehr stimmt [...].« Insgesamt ist Eduard König jedoch froh, überhaupt eine Prothese tragen zu können, denn es bedeutet für ihn »[...] auf jeden Fall wieder ein Stück [...] Lebensqualität [...] und
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Mobilität vor allem, [...].« Allerdings bezeichnet er seine Prothese auch drei Jahre nach der Amputation immer noch als ›Fremdkörper‹, er sagt »[m]an gewöhnt sich zwar daran mit der Zeit, aber du bist abends dann trotzdem froh, wennʼs abschnallen kannst und befreiend ist das einfach [...]. [...] das ist und bleibt ein Fremdkörper, das wird nie [...] dein eigenes Bein, nie (11).« Weiter meint er, »[i]ch sagʼ immer, das ist am besten zum vergleichen wie wenn [...] auch im Sommer mitʼm Skischuh rumlaufen musst, so ein Gefühl ist das ungefähr mit der Prothese zu laufen (..). Die solltʼ bequemer äh und leichter sein irgendwo (6).« Eduard König ist zum Zeitpunkt unseres Interviews mit dem mikroprozessorgesteuerten Prothesensystem C-Leg1 von Ottobock versorgt, das ihm fünf Monate nach der interimsprothetischen Versorgung als Definitivprothese angepasst wurde. Im Vergleich zu seiner mechanisch gesteuerten Interimsprothese gibt ihm das C-Leg mehr Sicherheit beim Laufen wie Eduard König schildert, da das elektronische Kniegelenk die Funktionen des nicht mehr vorhandenen eigenen Kniegelenks weitgehend übernimmt und in unsicheren Situationen, beispielsweise bei Dunkelheit oder unebenem Untergrund, automatisch abbremst, wodurch die Stolpergefahr verringert wird. Wie Eduard König weiter erzählt, kann er mit dem C-Leg im Vergleich zu seiner Interimsprothese zudem »[...] natürlicher laufen […] eleganter laufen [...]. Und [du] wirst natürlich nachher in der Öffentlichkeit auch nicht mehr so (.) als Behinderter registriert, ist ja klar, umso natürlicher du laufst [sic] denkʼ ich, umso weniger wirst als Behinderter wahrgenommen (15).« Eduard König verdeckt sein C-Leg in der Regel unter langer Kleidung, »[...] sonst wirst ja überall gleich angegafft [...]« wie er schildert, er möchte sich zudem auch noch eine hautfarbene Kosmetik anfertigen lassen, denn »[...] umso weniger man das nach außen sieht, umso besser ist es auch für dich, [...]. [...] darum ist mir Kosmetik eigentlich GANZ wichtig auch, also, dass es nicht gleich jeder sieht [...].« Wie Eduard König beschreibt, fühlt er sich seit der Amputation »[...] nicht mehr so gut wie ich mich vorher gefühlt habʼ (6). Nicht mehr so attraktiv auf jeden Fall, [...]. Ich habʼ mich vorher schon wesentlich besser gefühlt, [...].« Probleme bereitet ihm darüber hinaus nach wie vor insbesondere sein Beinstumpf, dessen Volumen ständig starken Schwankungen unterliegt, weshalb Eduard König den Schaft seiner Beinprothese immer wieder neu vom Orthopädietechniker anpassen lassen muss:
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Auf die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten im Bereich Beinprothetik und die damit verbundene Versorgungspolitik der jeweiligen Kostenträger (Krankenkasse, Renten-/Unfallversicherung etc.) gehe ich in Kapitel 5.3 genauer ein.
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»[...] STUNDENlang geht das immer [beim Orthopädietechniker, C.R.], [...] da sind vier oder fünf Stunden gar nix und das TAGElang halt, [...]. Da wo ein Außenstehender meint, das lässt einmal machen, dann ist es gut [...], das ist aber nicht so, das ist ein ständiger Wandel, das ist ständig anders und da wirst nie fertig (4).«
Eduard König hofft deshalb darauf, in Zukunft langfristig seine Schmerzen und Volumenschwankungen am Beinstumpf besser in den Griff zu kriegen und seine Prothese uneingeschränkter tragen zu können: »Mir ist wichtig, dass ich einfach im Alltag wieder einigermaßen klar kommʼ und laufen kann und einigermaßen sporteln kann wieder [...].« Weiter schildert er, »[…] klar für weite Strecken brauchʼ ich nach wie vor Krücken oder halt meine Gehstöcke, das ist einfach so [...]«, »[m]usst halt mehr Pausen machen zwischendrin, wenn du langʼ stehst oder auf den Füßen bist tut dir […] der Stumpf oderʼs Kreuz weh […].« Um körperlich insgesamt wieder fitter zu werden macht Eduard König seit der Amputation daher regelmäßig verschiedene krankengymnastische Übungen, geht ins Fitnessstudio und zur ambulanten Gehschule, denn »[du] musst dich ja ein bissl fit halten [...], musst was tun, weil sonst wirst zu schwer. [...] letzten Sommer habʼ ich eine Diät mitgemacht, [...] weil [...] das [...] einfach auch für Prothese und [...] für den einen Fuß auch viel besser ist, wenn leichter bist klar und überhaupt für den ganzen Gesundheitszustand einfach, fühlst dich einfach wohler wieder, [...] wirst auch wieder beweglicher [...].«
Weiter sagt er, »[u]nd so musst halt ständig irgendwie was machen, dass einfach einigermaßen klar kommst mit dem Ganzen, einigermaßen laufen kannst […]«, »[...] musst halt schauen, wie den Alltag meisterst, [...].« 5.1.2 »Ich muss mein Leben neu ordnen« (Erika Tamm) Als Erika Tamm nach der Amputation ihres linken Unterschenkels und der fünfwöchigen Anschlussheilbehandlung in der Rehaklinik im Herbst 2012 wieder nach Hause kam, stand sie im wörtlichen Sinne vor einer ersten Herausforderung: zu ihrer Wohnung, die sich im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses befindet, führt lediglich eine Treppe mit 22 Stufen hinauf. Erika Tamm ließ sich davon jedoch nicht entmutigen, sondern stieg die Treppe mit ihrer Interimsprothese sowie der Unterstützung ihres Mannes und mithilfe einer Krücke nach oben, »[...] das war mein erster Gang [...] und das habʼ ich geschafft […]« wie sie es mir gegenüber nicht ohne Stolz geschildert hat. Grundsätzlich hat sich Erika Tamm nach der Amputation immer gesagt, »[i]ch darf mich nicht hängen las-
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sen, weil es Leben soll ja weiter gehen und ich möchtʼ ja nicht sagen ›Ich möchtʼ im Rollstuhl sitzen‹ und ›Ach mir gehtʼs schlecht‹, sondern ich möchtʼ am Leben teilnehmen und möchtʼ eigentlich fast so wie es war wieder teilnehmen (...).« Allerdings war die erste Zeit nach der Reha zuhause für Erika Tamm nicht leicht, sie hat viel geweint, »[...] weil das auch mit der Prothese oft nicht so gepasst hat, ich meinʼ, es isʼ ja heutʼ auch so, dass nicht IMMER passt, dass ich dann wieder zu weit reinrutschʼ [...]. Dann wennʼs sehr heiß isʼ, dann juckt sie. Und was machʼ ich? Pudere ich oder pudere ich nicht? Oder welche Crème verwende ich? Diese Stumpfpflege und so, [...] muss [...] jeder das rausfinden, was für ihn gut isʼ (..).«
Mit einer Prothese zu leben, ist für Erika Tamm daher eine »[...] ganz große Umstellung gewesen, es heißt ganz einfach, ich muss mich jetzt zurecht finden, ich muss mein Leben neu ordnen und ich muss damit zurecht kommen. […] schon am Morgen […], man kann nicht ausʼm Bett rausspringen, man kann nicht sagen ›Hopp, jetzt gehtʼs los‹ […], sondern es muss nacheinander gehen. Ich muss aufstehen, ich muss meine Prothese anziehen, ich muss mich einfach ordnen, zurecht finden, jeder Tag isʼ nicht gleich, die Prothese passt nicht jeden Tag gleich, manchmal tutʼs weh, [...], manchmal schlupft man gut rein, manchmal kann man gut weglaufen, manchmal kann man nicht gut weglaufen, also das fängt schon am Morgen an und so eigentlich wie der Morgen isʼ, so isʼ auch […] der Tag. [...] Aber ich versuchʼ also es Bestmögliche daraus zu machen, versuchʼ also so normal wie möglich umzugehen damit.«
Kurz nach ihrer Rückkehr aus der Rehaklinik hat Erika Tamm dabei zunächst sämtliche Teppiche, »[…] also die Stolperfallen […]« in ihrer Wohnung weggeräumt, Schränke hat sie umsortiert, um die wichtigsten Dinge greifbar zu haben, zudem hat sie in ihrem Bad eine höhere Toilette mit Halterungsgriffen sowie einen Badelifter an der Badewanne anbringen lassen. Wie Erika Tamm schildert, möchte sie die Tätigkeiten in ihrem Haushalt, »[…] die Alltagssachen […] SELBER erledigen. Das isʼ für mich […] wichtig […]«, »[a]lso ich will selbständig sein, ich […] will das einfach selber machen.« Allerdings ist sie seit der Amputation teilweise auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen, da Erika Tamm unter anderem keine schweren Einkaufstaschen mehr tragen und mit ihrer Beinprothese nicht Autofahren kann. Unterstützung erfährt sie dabei von ihrem Ehemann, den beiden erwachsenen Kindern sowie ihren Enkelkindern, sie sagt:
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»Es gibt natürlich viele Handicaps, wo ich mir denk ›Mensch‹, es fängt dann schon an beim Betten machen, ich habʼ Probleme mitʼm Gleichgewicht […]. […] Was ich nicht machen kann, […] dass ich also selber im Haus putzen kann, [...] weil ganz einfach [...] mitʼm Gleichgewicht kommen wieder die Probleme. […] Wo ich natürlich ne Hilfe brauchʼ, das isʼ […] IM Bad äh beim Baden, also Betätigen äh des Badelifters, […] also […] Prothese ausziehen und dann mit dem Badelifter runterfahren, das macht also dann meine Tochter [...] ich waschʼ mich selber, ich duschʼ mich dann selber ab, aber wenn ich dann [...] aus der Wanne raus mussʼ, da brauchʼ ich wieder ne Hilfe, weil sie mir da die Prothese geben muss und wieder anziehen hilft. [...] Ich möchtʼ […] dann nicht, dass sie mir die Wanne sauber macht oder dass sie mir da irgendwas erledigt, das machʼ ich mir alles dann wieder selber.«
Weiter meint Erika Tamm, »[i]ch glaubʼ ähh, es isʼ ein großer Vorteil, wenn die Familie einen so akzeptiert, wie man isʼ [...]«, »[…] meine Familie sagt mir immer wieder ›Du bist nicht behindert‹ (..). Also ich kriegʼ das immer wieder gesagt [...].« Wie Erika Tamm berichtet, war es für sie nach der Amputation jedoch vor allem schwierig, keiner beruflichen Vollzeitbeschäftigung mehr nachgehen zu können. Seit der Amputation bezieht sie Erwerbsminderungsrente, daneben hat sie verschiedene kleinere Jobs, denn »[...] eine Aufgabe isʼ für mich WICHtig, dass ich was machen kann. Und auch, dass ich eigentlich […] noch gebraucht werde […]. Ja ich habʼ fünfundvierzig Jahre gearbeitet, immer gearbeitet und dann isʼ das natürlich schon für mich ganz wichtig (...).« Erika Tamm ist unter anderem als Prüfungsausschussvorsitzende und als Schöffin am Gericht tätig, zudem betreut sie ihre Enkelkinder nachmittags bei deren Hausaufgaben, »[...] also ich sagʼ da nicht ›Oh, ich bin krank‹oder so, im Gegenteil.« Um dabei in Zukunft noch besser mit ihrer Prothese zurecht zu kommen, besucht Erika Tamm weiterhin eine ambulante Gehschule, zudem versucht sie, zuhause regelmäßig verschiedene Gleichgewichtsübungen durchzuführen, die sie während der stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehaklinik gelernt hat. Allerdings gibt sie zu »[...] man machtʼs halt nicht so [...]. [...] Aber allgemein vielleicht ein bisschen mehr Sport wärʼ nicht schlecht. [...] also man sollte da wirklich am Ball bleiben [...]«, denn »[...] es bringt schon viel. Aber das puh (leiser) kostet schon sehr viel Kraft [...].« Auf ihre Prothese verzichten möchte Erika Tamm dennoch nicht, sie sagt »[…] ich brauchʼ sie (..). Das isʼ für mich wichtig. Ohne Prothese bin ich […] an Rollstuhl gebunden […]. […] Dann bin ich wieder auf Hilfe von anderen angewiesen, […]. […] ja ich brauchʼ sie, es isʼ für mich lebensnotwendig (..). Also lieber kein Parfum oder kein Lippenstift, aber [...] dieses Teil brauchʼ ich (..).«
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Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist Erika Tamm mit einer mechanisch gesteuerten Unterschenkelprothese versorgt, über der sie eine hautfarbene Kosmetik trägt, denn »[i]ch habʼ [...] vom ERSTEN Tag an gesagt ›Ich möchte ne kosmetische Verkleidung‹. [...], ›ich möchteʼ nicht den Stecken‹, habʼ ich immer gesagt (lacht). [...] Und [...] ich werde nie einen Strumpf wechseln oder einen Socken, zwei werden bei mir gewechselt. Also Prothese plus der gesunde Fuß.« Weiter schildert sie, »[...] die [Prothese] isʼ [...] mittlerweile von mir voll akzeptiert und sie gehört zu mir [...]«, »[...] wenn alles passt, dann fühlʼ ich einfach, als wenn die zu mir gehört, als [...] wenn das meins isʼ.« Wie Erika Tamm erzählt, ist ihre Prothese allerdings nicht wasserfest, sie war seit der Amputation daher nicht mehr beim Baden, da sie sich nicht vorstellen kann, ohne Prothese nur mit Krücken an einen See oder Strand zu gehen, sowohl aus ästhetischen als auch aus Mobilitätsgründen. Ihr Orthopädietechniker möchte ihr daher eine Badeprothese anpassen, sofern diese von ihrer Krankenkasse bewilligt wird, wie Erika Tamm schildert. Schwierigkeiten bereitet ihr darüber hinaus nach wie vor das Treppensteigen mit Prothese, denn »[...] wenn ich die Treppen steigʼ, ich muss also Treppe für Treppe, ich [...] setzʼ gesundes Bein äh das Amputierte nach ̶ Und ich habʼ [zu meinem Orthopädietechniker, C.R.] gesagt ›Ich möchtʼ wieder so richtig Treppensteigen wie normal‹ und dann hat er gesagt ›Ja‹, aber dann muss er mir hinten den äh Schaft weiter ausschneiden und vorne vielleicht auch [...]. [...] und kam dann auch mit dem neuen Schaft, oh Gott, Katastrophe, ich konntʼ nicht laufen. [...] es hat wahnsinnig weh getan, [...] ich hätte da wirklich die Treppen richtig steigen können, aber das ging nicht, es hat sowas von weh getan, dass ich gesagt habʼ ›Bitte bitte meinen alten Schaft‹, [...] muss ich halt meine Treppe [...] steigen, [...] so wie ichʼs gehabt habʼ jetzt, [...].«
Insgesamt möchte sich Erika Tamm jedoch nicht unterkriegen lassen, sie möchte auch kein Mitleid haben und kommt mittlerweile gut mit ihrer neuen Lebenssituation zurecht, wobei für sie vor allem eine positive Einstellung wichtig ist, wie sie im Verlauf unseres Gesprächs immer wieder betont hat, auch wenn sie manchmal schlechte Tage hat, an denen ihre Prothese nicht gut passt und sie sich denkt »[...] ›blödes Teil‹«.
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5.1.3 »Man muss sich Stück für Stück wieder ins Leben arbeiten« (Christina Jahn) Als Christina Jahn und ich uns im September 2014 für ein Interview treffen, liegt die Amputation ihrer beiden Unterschenkel etwa eineinhalb Jahre zurück. Wenige Wochen vor unserem Gespräch war sie mit ihren beiden ersten, mechanisch gesteuerten Definitivprothesen versorgt worden. Das Leben seit der Amputation beschreibt Christina Jahn im Vergleich zu ihrem vorherigen Leben als »[...] ne große Umstellung [...]«, denn »[...] es geht nichʼ so weiter, wie es vorher war, definitiv. Ich habʼ viele Pläne gehabt, die ich dann erst mal nicht umsetzen konnte, die ich auch momentan noch nichʼ umsetzen kann [...].« Weiter meint sie, »[es gibt] viele Dinge, die einfach nichʼ gehen und wo man an seine Grenzen stoßt [sic] und dann im Alltag auch einfach plötzlich merkt ›Pff, also habʼ ich mir nie Gedanken drüber gemacht, aber es geht nicht oder es tut weh‹ und man muss halt viel Rücksicht drauf nehmen, […].« Als gewöhnungsbedürftig empfand sie dabei insbesondere die Situation, als sie nach der rehabilitationsklinischen Anschlussheilbehandlung zum ersten Mal wieder nach Hause kam, denn »[...] erst mal bist du in der Klinik und bist in der Reha und du bist eigentlich nur [...] in dieser Krankheitswelt und Behinderung [...] und dann bist du plötzlich also von null auf hundert in deinem normalen Leben. [...] und dann [...] denkst du plötzlich ›Du passt hier nichʼ rein‹ ja, das isʼ die ganze Welt und du [...] kannst da nichʼ mithalten [...].«
Schwierig war es für Christina Jahn in diesem Zusammenhang vor allem auch, wieder auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sein zu müssen, »[w]eil ich grad [zum Zeitpunkt der Amputation kurz nach dem Abitur, C.R.] in dem Prozess eigentlich war, wo ich sagʼ, ich gehʼ, ich brauchʼ mehr Ablösung von meinen Eltern, ich brauchʼ mehr Freiheit, [...] um halt mein [...] eigenes Leben leben zu können [...].« Freiheit, Selbständigkeit und Mobilität sind Christina Jahn sehr wichtig wie sie im Verlauf unseres Gesprächs immer wieder betont hat, denn »[...] klar, Alltag erst mal überhaupt, das isʼ der erste Schritt, überhaupt fähig zu sein, nichʼ den ganzen Tag auf Hilfe angewiesen zu sein, wieder selbständig einkaufen gehen zu können, einfach in der Früh aufstehen zu können, [...].« Aus diesem Grund ist sie teilweise auch davon genervt, wenn andere Personen sie überfürsorglich behandeln, »[...] also da sind meine Eltern schon recht gut drin, mich da zu nerven, [...] klar, dass es liebevoll gemeint isʼ, aber es isʼ super anstrengend, weil du willst möglichst viel Selbständigkeit haben, du willst möglichst noch als voller Mensch wahrgenommen werden [...].« Mittlerweile ist Christina Jahn daher von zuhause ausgezogen und lebt in einer WG in einer
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deutschen Großstadt. Die Wohnung ist allerdings nicht komplett barrierefrei gestaltet wie Christina Jahn schildert, weshalb sie mit ihrem Rollstuhl gerade so ins Bad hineinkommt, wenn sie beispielsweise duschen möchte: »[…] also ich kann mich reinfahren mitʼm Rollstuhl, aber ich kletterʼ dann vom Rollstuhl auf so ne Zwischenstufe und dann in die Dusche hinein, also ohne Prothesen, [...] weil [...] ich will ja auch meine Stümpfe dann mal waschen neʼ [...] und ja dann gehe ich wieder in den Rollstuhl und dann ziehe ich meine Prothesen an [...].«
Ihre Mitbewohner und Freunde gehen dabei recht entspannt mit der Situation um, wie sie erzählt, »[...] also da isʼ keiner dabei, der mich jetzt (.) total als anderer [sic] Mensch sieht oder mich ganz komisch behandelt [...]«, wobei sie auch die Erfahrung gemacht hat, »[...] dass wirklich (.) ganz Viele das reflektieren, was du selber [...] ausstrahlst, wie du selbst damit umgehst.« Wie Christina Jahn schildert, nimmt sie zum Zeitpunkt unseres Interviews allerdings nach wie vor psychologische Hilfe in Anspruch, um ihre neue Lebenssituation und ihren veränderten Körper besser akzeptieren zu können. Sie sagt, »[...] ich bin [...] sehr jung [...], ich bin ne Frau, da isʼ es schon auch (.) wichtig, dass man sich irgendwie wohlfühlen kann in seinem Körper und man will sich schon irgendwie auch attraktiv fühlen ja, [...]. Und ich meinʼ, es gibt so viele Frauen, die zerbrechen sich nʼ Kopf, weil sie zwei Kilo mehr haben und trauen sich nichʼ ins Schwimmbad zu gehen oder sich auszuziehen ja, wenn sie [...] in ner intimen [...] Situation sind und wie isʼ das dann, wenn die Beine nicht da sind neʼ?«
Wie Christina Jahn in diesem Zusammenhang betont, ist es jedoch wichtig, nicht im Selbstmitleid zu zerfließen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Sie versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen und meint, »[...] man orientiert sich an den Dingen, [...] die gehen [...] und dann [...] habʼ ich gemerkt ›Ok, ich werdʼ immer aktiver‹, es geht auch wieder mehr.« Weiter sagt sie, »[...] je mehr kleine Erfolge man hat, desto mehr Hoffnung [...] kriegt man auch wieder [...]«, »[...] also man [...] merkt [...] seine Einschränkungen [...], aber auch, [...] dass man sich wirklich Stück für Stück wieder ins Leben arbeiten kann [...].« Zum Zeitpunkt unseres Interviews arbeitet Christina Jahn seit ein paar Wochen auf Mini-Job-Basis in einer internationalen Internatsvermittlungsfirma, wo sie hauptsächlich Büroarbeit verrichtet, während sie sich gleichzeitig nach einem passenden Studienplatz umsieht. Mittlerweile hat sie zudem gelernt, mit ihren beiden Prothesen Fahrradzufahren, was für sie sehr wichtig ist, da sie vor der Amputation immer ein sehr aktiver Mensch und eine sehr sportliche Person war, die viel in der Welt umherge-
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reist ist und von Tennis, über Volleyball bis hin zu Halbmarathons alles ausprobiert hat. Fahrradfahren gibt ihr dabei »[...] automatisch schon mal so viel Mobilität, also [...] grad wenn man auch nichʼ viele Strecken gehen kann [...], weil [...] Fahrradfahren ist super stumpfschonend, das kann ich auch machen, [...] wenn ich nʼ bisschen Schmerzen habʼ [...]. Und dann isʼ für mich leichter, Fahrrad zu fahren als mit der S-Bahn zu fahren, weil ich dann immer die fünfhundert Meter laufen muss bis zur S-Bahn und wieder zurück [...].«
Schwierig ist es für Christina Jahn allerdings, wenn sie Freunde zu sportlichen Aktivitäten begleitet oder mit diesen abends ausgehen möchte, »[...] ich weiß noch genau, [...] wo ich […] mit Freunden auf ner […] Feier halt war und es haben halt ALLE getanzt ja (.), also das war richtig so (.) ›Bam in your face‹ ja, [...] dann saß ich halt da und (.) ja konntʼ mich natürlich nichʼ viel bewegen, konntʼ auch nichʼ lange stehen [...] und ich habʼ früher super gerne getanzt ja, […]. [...] oder ja auch wieder ne sportliche Situation, [...] war ich auch mit Freunden unterwegs […] weil alle Volleyball spielen, [...] wirklich alle, ich habʼ halt zugeschaut, habʼ natürlich gesagt ›Ne passt schon, ich schaue zu, passt schon‹, aber eigentlich sitzt du da und denkst dir ›Fuck‹ ja, denkst dir ›Scheiße, wie gerne würde ich da jetzt mitmachen‹ (.).«
In Zukunft würde sich Christina Jahn daher wünschen, »[...] dass ich auch sportlich wieder mehr machen kann, also [...] grad in Bezug auf Laufen, [...] weil ich vorher so ne [...] Läuferseele war, [...] also [...] die Strecken erweitern zu können, mehr Mobilität zu haben [...].« Was ihr jedoch nach wie vor Probleme bereitet, sind vor allem ihre beiden Beinstümpfe, die immer wieder schmerzen oder wunde Stellen haben, weshalb Christina Jahn viel Zeit beim Arzt und Orthopädietechniker verbringt, da die Schäfte ihrer beiden Unterschenkelprothesen ständig neu angepasst und die offenen Stellen an ihren Beinstümpfen behandelt werden müssen. Sie hofft aber, langfristig »[...] im Alltag besser mit meinen Prothesen gehen zu können, dass die besser passen, dass auch der Schaft gut passt, dass ich auf Dauer weniger Schmerzen und weniger wunde Stellen habʼ [...].« Die Beziehung zu ihren beiden Unterschenkelprothesen beschreibt sie dabei als »[...] so ne kleine Hassliebe [...]«, denn »[...] an Tagen, woʼs einfach schmerzt, wo man sie kaum tragen kann, wo man wunde Stellen hat, [...] wo man sich denkt ›Was willst nʼ du von mir?‹ ja (lacht) ›Geh doch nach Hause und lass dich von jemand anderem austragen, wenn du [...] an mir nicht passen möchtest‹ ja (lacht). Und ja [...] klar, trotzdem auch nʼ Gefühl von ›Hey, eigentlich sindʼs
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meine Freunde‹ ja, [...] also nʼ elementärer [sic] Teil für meine Mobilität, für meine Selbständigkeit, für nʼ unabhängiges Leben, für nʼ [...] bewegliches Leben [...], also (.) klar, dass man trotzdem wertschätzt, dass es die gibt, aber es isʼ so viel Wert, wenn du nichʼ in jeder Sekunde einfach drüber NACHdenken musst ›Passt es oder passt es nicht?‹ [...], bei mir isʼ es leider noch nichʼ so ganz an dem Zustand, [...] aber trotzdem [...], es isʼ mein [...] ja meine Babys ja, um [...] meinen Alltag zu meistern, um mein Leben zu meistern [...].«
Anfangs trug Christina Jahn an ihren beiden Definitivprothesen eine hautfarbene Kosmetik, zudem hat sie versucht, die Prothesen unter langer Kleidung zu verstecken, »[...] weil man merkt, [...] vielleicht bildet man sichʼs auch ein [...] man [...] denkt die ganze Zeit ›Die Leute glotzen‹. [...] Aber ich bin grad dabei, auch wieder mehr kurze Sachen zu tra-oder zumindest (.) also jetzt nichʼ auf Biegen und Brechen [...] kurze Sachen zu [...] tragen, um die Gesellschaft zu [...] provozieren, aber mehr, weil ich sagʼ [...] ›Warum soll ich mich da jetzt so einschränken lassen, ja?‹ [...].«
Zum Zeitpunkt unseres Interviews verzichtete Christina Jahn daher auch seit zwei Wochen auf die Verwendung ihrer hautfarbenen Prothesenkosmetik, denn »[...] ich habʼ so innerlich das Gefühl gehabt irgendwie [...], [...] ich kommʼ mir da so bescheuert vor mit der Kosmetik [...]. [...] kommʼ auch wieder leichter in meine Hosen rein ohne die Kosmetik drum rum [...].« Wie sie in diesem Zusammenhang zudem erzählt, hat sie sich selbst in der ersten Zeit nach der Amputation bzw. nach der Reha noch »[...] mehr auch in diese Schublade gesteckt [...] ›Jetzt bin ich behindert‹ [...]«, doch mittlerweile denkt sie sich »[...] ›Was isʼ das für ein beschissener Ausdruck eigentlich?‹ [...]«, »[a]lso ich HABE ne Behinderung, [...] per definitionem gesehen schon, aber ich BIN nicht behindert [...]. [...] ich glaubʼ auch, dass [...] Behinderung [...] im Kopf entsteht [...] im Sinne von [...] wie du dich selber einschränkst (..) dadurch behinderst du dich selber [...].« Weiter schildert sie, dass es für sie heute grundsätzlich das Wichtigste ist, in Zukunft wieder möglichst selbständig und unabhängig sein zu können, wobei sie auch meint, »[…] ich merkʼ, je mehr Zeit vergeht, desto weniger musst du deinen Alltag umstell-also desto mehr merkst du ›Hey‹, es gibt nʼ paar Sachen, die musst du berücksichtigen, aber wenn du dir die erst mal angewöhnt hast, dann isʼ das voll normal und dann hast du nicht das Gefühl jeden Tag ›Du lebst ein komplett anderes Leben‹ [...].«
Einblicke in das poststationäre Leben von Prothesenträgern | 183
5.1.4 »Jeder Tag ist anders« (Richard Schneider) Im Februar 2015 habe ich Richard Schneider für ein Interview zuhause besucht. Die Amputation seines rechten Unterschenkels infolge eines arteriellen Verschlusses liegt etwas mehr als zwei Jahre zurück, er ist mittlerweile mit einer mechanisch gesteuerten Definitivprothese versorgt. Am Tag des Interviews sitzt Richard Schneider allerdings ohne Prothese im Rollstuhl, da er diese bereits seit mehreren Wochen aufgrund von Schmerzen am Beinstumpf nicht tragen kann und sich deshalb auch in einer Schmerzklinik behandeln lässt wie er erzählt. Zusammen mit seiner 77-jährigen Ehefrau, die bei unserem Gespräch ebenfalls anwesend ist, lebt Richard Schneider in einem kleinen Haus am Rande einer deutschen Großstadt. Da die beiden kein Auto mehr besitzen, sind sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Diese kann Richard Schneider allerdings nur in eingeschränktem Maße nutzen, weil er seine Prothese bislang nur unregelmäßig tragen bzw. mit dieser auch noch keine allzu langen Strecken gehen kann und es mit dem Rollstuhl für ihn und seine Frau zu kompliziert ist, in einen Bus hineinoder hinauszukommen. Die Wohnung von Richard Schneider und seiner Frau verteilt sich insgesamt über ein Erdgeschoss und zwei Obergeschosse, die ausschließlich über eine recht steile Holztreppe zu erreichen sind. Wohnzimmer, Küche und Essbereich befinden sich im ebenerdigen Erdgeschoss, Schlafzimmer und Bad dagegen sind im Obergeschoss untergebracht. Wenn Richard Schneider seine Prothese nicht tragen kann, muss er sich rücklings auf dem Gesäß die Treppe nach oben hieven, um ins Bad oder Schlafzimmer zu gelangen. Am Haupteingang seines Hauses hat er darüber hinaus eine Rampe anbringen lassen, damit er auch mit dem Rollstuhl ein- und ausfahren kann. Wie Richard Schneider schildert, bedeutet das Leben seit der Amputation mit Beinprothese für ihn, »[...] hundert Prozent unbeweglich zu sein gegen meinem bisherigen Leben [...]«, denn »[i]ch äh kann meine Freunde nur telefonisch kontaktieren, [...] ich kann meine äh (4) Stammtischbrüder [...] auch nur ähm (.) sporadisch aufsuchen, [...] weil ich einfach […] Schwierigkeiten habʼ, [...] meine Schmerzen loszuwerden, die ich mit diversen Medikamenten versuchʼ äh zu lindern (5).« Seit der Amputation sind er und seine Frau daher mehr oder weniger ans Haus gebunden und auch Frau Schneider meint in diesem Zusammenhang, »[...] unser [...] Freundeskreis das legt sich ja alles. [...], wenn die nicht mehr zusammen kommen die Männer, die [...] wollen Geselligkeit, die wollen Karten spielen, die wollen dies und jenes und wenn mein Mann da nicht mehr mit kann, der [...] hat das schon probiert, aber dann isʼ mitʼm Sitzen schlecht und [...] dann meidet man das natürlich oder
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überlegt [...] ›Soll ich da überhaupt hingehen für zwei Stunden [...]?‹, das sind lauter so Sachen [...], wo man dann sich zurückzieht. [...] Das hat sich schon alles etwas eingeschränkt. Auch in meinem Bereich natürlich [...].«
Richard Schneider hofft deshalb, seine Schmerzen langfristig besser in den Griff zu bekommen und körperlich wieder fitter zu werden, damit er seine Prothese häufiger tragen kann, »[...] mein Ziel wärʼs, mit [...] dem Spazierstock einigermaßen wieder fit zu sein [...] oder beweglich zu sein. Ich brauchʼ keine großen äh (.) Strecken oder sowas, nur dass ich einigermaßen [...] mal in ein Kaufhaus mitgehʼ oder [...] mitʼm Bus fahren [kann].« Seit seiner Entlassung aus der Rehaklinik trainiert Richard Schneider zuhause daher regelmäßig auf seinem Heim-Fahrrad (Ergometer), zudem macht er mithilfe von zwei Krücken im Stehen verschiedene Gleichgewichtsübungen wie er erzählt. Er hat vom Klinikum, in dem er behandelt wurde, darüber hinaus einen Terminplan bekommen, in dem verschiedene therapeutische Anwendungen aufgelistet werden, die er weiterhin durchführen soll und die unter anderem Krankengymnastik, Ergotherapie und Physikalische Therapie umfassen. Wie Richard Schneider weiter schildert, versucht er auch »[....] unter allen Umständen mein Gewicht zu halten, was äußerst wichtig isʼ bei ner Prothese, [...].« Aufgrund seiner Probleme am Beinstumpf verbringt er zudem viel Zeit beim Orthopädietechniker, da sein Prothesenschaft immer wieder ausgebessert werden muss, »[...] dann weiß ich, dass ich ein, zwei, drei Stunden [beim Orthopädietechniker, C.R.] zu Gange bin [...].« Froh ist Richard Schneider dabei vor allem, dass seine Ehefrau ihn unterstützt und sich täglich um ihn kümmert, so hilft sie ihm beim Waschen, Baden, An- und Auskleiden etc. Er sagt, »[...] ich habʼ [...] verschiedene äh Leute kennengelernt, speziell Männer (..), [...] die ganz allein (.) daheim sind geʼ und [...] keine Frau mehr haben, die meistens gestorben isʼ die Frau [...]. Und die haben dann schon äh große Schwierigkeiten [...].« Frau Schneider fügt ergänzend hinzu, »[i]ch bin da schon beschäftigt den ganzen Tag [...]«, »[a]ber man wächst rein, weil [...] der Mensch, der Partner ja die Hilfe braucht. Und darum wird man ja da schon zur Krankenschwester, ob man will oder nicht [...]. Und steht auch mal in der Nacht auf und [...] hilft da [...] das isʼ dann also für mich eigentlich selbstverständlich, ja (5).« Richard Schneider betont, »[...] ich will keinem zur Last fallen, wenn ich was selber machen kann [...]«, allerdings muss seine Frau seit der Amputation auch sämtliche Arbeiten im Haushalt weitgehend allein verrichten, das heißt »[...] meine Frau muss Essen machen, die muss es Haus putzen, die muss die Wäsche machen, die muss die Hemden bügeln, [...] und dann komme erst ich.« Weiter berichtet Richard Schneider, »[g]enauso wie ich früher [...] das ganze Monetäre gemacht habʼ und jetzt machtʼs meine Frau, weil die zur Bank gehen
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muss [...]. [...] das verschiebt sich halt alles, [...].« Im Vergleich zu vor der Amputation hat sich das Leben laut Richard Schneider für ihn und seine Frau »[...] zu hundert Prozent verändert (..).« Damit Frau Schneider in Zukunft etwas mehr entlastet wird, haben die beiden daher einen Pflegestufe-Antrag gestellt, der jedoch nicht bewilligt wurde. Wie Richard Schneider erzählt, wurden er und seine Frau von einer Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) zuhause besucht und diese habe mit einer Uhr die Zeit gestoppt, die die beiden für alltägliche Verrichtungen wie Ankleiden, Waschen etc. benötigen. Damit eine Pflegestufe bewilligt wird, muss man mindestens 46 Minuten für diese Tätigkeiten aufwenden, Richard Schneider und seine Frau haben jedoch insgesamt nur 21 Minuten gebraucht, weshalb der Antrag letztlich abgelehnt wurde. Richard Schneider sagt, »[w]ir hätten uns vorher nicht waschen sollen und ich hätte so tun sollen, als wäre ich plem plem.« Wie Frau Schneider zudem weiter erklärt, müsste sie selbst schon lange an der Hüfte operiert werden, was aber nicht möglich sei, da sie nicht für mehrere Tage ins Krankenhaus könne, weil sie sich ja um ihren Mann kümmern muss. Mit einer Pflegestufe hätte sie während dieser Zeit eine Hilfskraft anfordern können. Richard Schneider kritisiert in diesem Zusammenhang, »[...] es fragt natürlich keiner, [...] ob ich meine Frau [...] HUNDERT Mal ausʼm Bett raus jagen habʼ müssen, weil ich irgendwelche Schmerztabletten [brauchʼ] [...] oder weil sie mir helfen muss oder sowas [...]« und Frau Schneider fügt hinzu, »[d]as hat mich schon gewundert. Ich machʼ doch alles von früh bis spät, rund um die Uhr und die [Frau vom MDK, C.R.] hat mich KEINEN Satz gefragt, wie das überhaupt isʼ [...].« Weiter meint sie, »[...] da isʼ ein jeder Tag ANDERS [...]. Weil da [...] spielt so viel rein, [...] mit den Schmerzmitteln, mit den Ruhepausen, mit dem ›Ja ich muss das jetzt machen, weil ich muss trainieren‹ und [...] im Sommer [...] da isʼ heiß [...] da musst dann natürlich das [die Prothese, C.R.] runter machen und dann rein gehen, weilʼs zu heiß isʼ draußen [...]. [...], sogar wetterabhängig isʼ das Ganze. [...] das sind alles so Sachen, die man da einfach TÄGLICH berücksichtigen muss, weilʼs halt (.) tagesbedingt isʼ [...].«
Trotz aller Schmerzen und Einschränkungen möchte Richard Schneider allerdings nicht komplett auf das Tragen seiner Prothese verzichten wie er erklärt, er bezeichnet seine Beinprothese als wichtiges Hilfsmittel, als Ersatzgliedmaße, »[...] damit ich wieder mobil bin [...]. Und mobil bin ich dann, wenn ich mich [...] im Sommer in einen Biergarten setzen kann oder [...] zum Baden gehen kann mit dieser Prothese oder [...] eine Reise mitʼm Zug machen kann [...].«
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5.1.5 »Mittlerweile ist das Leben mit Prothese mehr oder weniger Alltag« (Saskia Eibich) Als ich Saskia Eibich im August 2014 für ein Interview zuhause besuche, liegt die Amputation ihres rechten Oberschenkels 23 Jahre zurück. Zusammen mit ihrem heutigen Lebensgefährten wohnt sie in einem Haus mit Garten in einer kleineren deutschen Ortschaft. Im Erdgeschoss befinden sich Wohnzimmer, Essbereich und Küche, über eine Treppe gelangt man ins Obergeschoss, wo Schlafzimmer und Bad untergebracht sind, im Kellergeschoss befindet sich eine Waschküche. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Saskia Eibich mit dem mikroprozessorgesteuerten C-Leg von Ottobock versorgt, probeweise wurde ihr zudem dessen Nachfolgemodell, das sogenannte Genium, angepasst. Bei ihrer ersten Definitivprothese, die sie einige Monate nach der Amputation bekommen hatte, handelte es sich dagegen noch um ei mechanisch gesteuerte Oberschenkelprothese. Wie Saskia Eibich erzählt, ist »[...] das Leben mit der Prothese für mich schon mehr oder weniger Alltag [...], ich habʼ mich würde ich jetzt mal sagen, sehr gut damit arrangiert.« Allerdings musste sie ihr Leben nach der Amputation »[...] neu (.) formen [...]« wie sie weiter schildert, »[...] also ich würdʼs jetzt nicht beschreiben als komplett umstellen, sondern neu formen, also alles was vorher ging, versuchʼ ich heute auch, nur anders, also ich habʼs umgeformt [...].« Die erste Zeit nach der Amputation und der stationären Anschlussheilbehandlung beschreibt Saskia Eibich dabei rückblickend jedoch als schwierige Zeit, in der sie immer wieder mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, sie sagt, »[...] so die ersten zwei Jahre, eineinhalb Jahre, [...] das war dann so eine Zeit, [...] dass ich gesagt habʼ ›So mag ich definitiv nicht mehr weiterleben‹ [...]«, denn »[...] Vieles [war] für mich einfach nicht mehr (..) möglich [...], was ich vorher gemacht habʼ, ja. Miniröcke tragen (.) äh [...] allein sʼ damenhafte Gehen, ja einfach so [...] wie halt einfach ne Frau GEHT, war nicht mehr da. [...] auch so ähm von der ganzen Körperhaltung her, ja, mal so Beine übereinanderschlagen, [...] einfach so Kleinigkeiten, die man als Frau macht, die dann einfach ähm ja (.) nicht mehr GINGEN, was für mich dann schon so [...] das BILD einfach verändert hat, wo ich mir gedacht habʼ ›Boah, ich kann mich gar nicht mehr als Frau FÜHLEN‹, weil so [...] bestimmte BeWEgungen nicht mehr möglich sind, [...].«
Als besonders kränkend empfand sie es dabei, als sie nach ihrem Rehaaufenthalt zum ersten Mal wieder bereit dazu war, zusammen mit Freundinnen auszugehen
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und feststellen musste, dass es sich für sie als schwierig gestaltete, mit Männern in Kontakt zu kommen. Sie schildert, »[…] Männerbekanntschaften, also das (.) habʼ ich auch gemerkt, isʼ als Frau mit Prothese jetzt nicht so leicht. [...] neue Bekanntschaften […] war schwierig wirklich was aufzubauen. Also, wo ich schon gemerkt habʼ, ich weiß nicht, isʼ es Angst, isʼ es das FRAUENbild, ja ich war damals zwanzig, einundzwanzig, [...] da haben Männer natürlich auch ein Frauenbild, ich auch, so muss eine Frau ausschauen und so darf sie NICHT ausschauen und das isʼ schon was, was mich schon gekränkt hat, also wo ich [...] schon gemerkt habʼ, es gab ganz Viele, die sich mit mir unterhalten haben, die [...] Spaß hatten, [...] und die aber dann nicht mal bereit waren, auf DIEser Ebene weiter zu machen. Also das war, [...] was ich als sehr sehr kränkend empfunden habʼ ähm (..) ja, nicht als [...] Person gesehen zu werden, sondern (.) ähm ja, ich weiß nicht, als was sie mich gesehen haben, aber ich glaubʼ jetzt nicht als Person so an sich.«
Intimität und körperliche Nähe waren für Saskia Eibich daher lange Zeit ein sehr heikles Thema wie sie weiter erzählt, »[...] das war auch immer ähm ganz ganz schwierig für mich, mich unterhalb vom Nabel auch zu zeigen. Also das isʼ (.) schon was, was extrem lang gedauert hat [...]. [...] Also das isʼ schon [...] soʼn ganz nʼ komisches Gefühl von (.) ich glaubʼ sogar [...] von schämen. [...] hat schon was mit schämen auch zu tun. [...] Und es war [...] ganz lang so, dass ähm (.) ja der Sex sowieso (.) ähm lang gedauert hat, weil das einfach mitʼm Ausziehen soʼn [...] Thema auch war, also (...). War schon schwierig.«
Saskia Eibich hat in den ersten Jahren nach der Amputation deshalb weiterhin psychologische Hilfe in Anspruch genommen, was »[...] sehr sehr gut [war], sehr viel ähm (.) Positives rausgezogen, [...] woran ich auch heute noch zehre, [...].« Unterstützung bekam sie darüber hinaus von ihren Eltern und ihrer Schwester, für die diese Zeit jedoch ebenfalls alles andere als einfach war, »[...] also meine Eltern waren in der Zeit, wo ich schwach war, sehr stark [...], wobei ich aber schon äh merkʼ, [...] dass meine Mama [...] teilweise heutʼ noch [...] zu kämpfen hat, [...].« Durch die psychologische Therapie hat Saskia Eibich schließlich wieder neuen Mut gefasst wie sie erzählt, sie hat ihren Beruf als Kinderpflegerin in einem Wohnheim für geistig und körperlich behinderte Kinder aufgegeben und stattdessen eine Umschulung zur Ergotherapeutin gemacht, zumal sie dies schon vor ihrer Amputation vorgesehen hatte. Nach der Umschulung ist sie dann relativ schnell ins Berufsleben gekommen, »[...] ich habʼ Gott sei Dank keine Probleme gehabt wegen der Amputation ne Stelle zu kriegen [...].« Mittlerweile hat
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sich Saskia Eibich mit ihrer eigenen Ergotherapie-Praxis selbständig gemacht, sie ist Vollzeit berufstätig und bietet unter anderem ambulante Gehschule für Beinprothesenträger an. Wie Saskia Eibich erzählt, hat sie durch die psychotherapeutische Betreuung auch gelernt, eine neue Sensibilität für ihren veränderten Körper zu entwickeln, sie sagt: »[...] meine Körperteile kriegen positiven Zuspruch ähm gerade eben so mein linkes Bein ähm, das ja sehr viel leisten muss, [...] hört sich vielleicht blöd an, aber wennʼs mich schmerzt oder [...] viel geschafft hat, dann streichʼ ich auch darüber [...] und sagʼ ›Mensch, super, viel geleistet‹ oder ›Danke, dass noch da bist‹ [...]. [...] so vom Stumpf her isʼ es mittlerweile so, [...] der kriegt seine Streicheleinheiten genauso und seinen Zuspruch genauso ähm wieʼs linke Bein und auch wenn wieder Druckstellen oder so da sind, dann wird der genauso gepflegt [...], das sind so [...] Verhaltensregeln, die bei mir einfach sich geändert haben. Also hättʼ ich früher nie gemacht, also ich hättʼ weder mit meinen Körperteilen gesprochen, noch hättʼ ich (...) (schmunzelt) ja das so beWUSST gemacht.«
Insgesamt geht Saskia Eibich heute zudem offen mit ihrer Amputationsgeschichte um, sie zeigt sich mit und ohne Prothese in der Öffentlichkeit, »[...] ich versteckʼ mich definitiv nicht mehr, [...]« wie sie betont, wobei sie den Eindruck hat, dass sich die Reaktionen anderer Personen ihr gegenüber in den vergangenen Jahren insgesamt zum Positiveren hin verändert haben, »[a]lso das isʼ nicht mehr dieses Schauen [...] dieses [...] Gaffen.« Weiter meint sie, »[...] ich gehe auch raus, gehe mit anderen Menschen irgendwo hin, versuche sozial auch dabei zu bleiben, was manchmal nicht ganz so einfach isʼ ähm (.) [...], wo ichʼs merke zum Beispiel im Winter beim Skifahren, also ich fahrʼ auch Ski, bin Einbeinskifahrerin, wenn dann äh Kräfte nachlassen bei mir, wo andere noch fahren können, das sind dann immer so diese bissl negativen Sachen, [...]. [...] und ähm da merke ich halt, dass das vom Sozialen her dann schon schwierig wird, mitzugehen oder mitzuhalten.«
Ihre Beinprothese bezeichnet Saskia Eibich heute dabei in erster Linie als »[...] Gebrauchsgegenstand (...), der für mich da isʼ, um beidbeining durchʼs Leben zu gehen [...]«, »[...] das gehört zu mir, es isʼ an mir dran, ich gebrauchʼ es, ich pflegʼ es, ich waschʼ es, ich gehʼ damit rum (.), aber ich habʼ nicht diese Beziehung wie ich zu meinem echten Bein hatte, [...].« Wie sie zudem weiter schildert, ist es für sie auch nach über zwanzig Jahren immer noch »[...] ein sehr großer Zeitaufwand [...], den ich mehr benötige, mit einer Prothese zu leben, sprich es geht morgens schon los mit mehr Zeit Prothese anzuziehen, wieder auszuziehen,
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wenn sie nicht passt, nochmal anzuziehen ähm ja und der ganze Vorgang an sich, weil alles nicht mehr so schnell geht wie früher, [...]. Ja, dann so der ganze morgendliche Ablauf […], bei mir gehtʼs ja schon los mit Treppen steigen, mit runter kommen mh dann so Auto in die Arbeit zu fahren, das isʼ von der Geschwindigkeit her bei mir halt einfach eingeschränkt und das macht halt das Ganze von der Zeit her schon bissl aufwändiger als vor meinem Unfall [...]. Ähm ja so allgemein vom ähm täglichen Leben mit Einkauf (.) wo ich mehr Zeit brauche, vom äh schweren Transportieren mit schweren Einkaufssachen, solche Geschichten isʼ ähm ja einfach zeit-, kraftaufwändiger [...].«
Ihren heutigen Lebensgefährten hat Saskia Eibich dabei neun Jahre nach ihrer Amputation kennengelernt. Wie sie erzählt, hat es für diesen von Anfang an keine Rolle gespielt, dass sie beinamputiert ist und eine Prothese trägt, sie sagt, »[a]lso das isʼ so [...] der erste Mann, wo ich wirklich sagen kann ›Ich kann mich normal fühlen‹ [...].« Zusammen mit ihrem Lebensgefährten hätte sich Saskia Eibich daher auch gemeinsame Kinder gut vorstellen können, allerdings kamen dann »[...] wirklich [...] fünf harte Jahre, zu entscheiden, ob ich ein Kind kriegʼ oder nicht. [...] und da kam dann das Thema immer wieder mit Prothese zur Sprache, was kann ich nicht LEISten? So. Ich kann nicht hinterher rennen, wenn mein Kind über die Straße läuft, [...], ähm ich kann nʼ Schlitten nicht über einen halben Meter Berg hoch ziehen, kann ich nicht. Ich kann nicht ähm meinem Kind Skifahren beibringen, weil ich mit einem Bein und Krückenski es nicht leisten kann. [...] auch so äh Thema mit Thrombosen oder kann ich die Schwangerschaft mit meiner Prothese tragen? Muss ich sie wieder verändern lassen? [...] nach fünf harten Jahren habʼ ich dann entschieden ähm, es gibt KEIN Kind [...].«
Trotz dieser schweren Entscheidung ist Saskia Eibich heute insgesamt sehr positiv eingestellt wie sie betont, sie sagt, »[...] ich lebʼ eigentlich SEHR bewusst, also ich schiebʼ nix auf, machʼ das, worauf ich Lust habʼ (..) ähm, gönnʼ mir Sachen, die ich mir gönnen will [...]« und weiter meint sie, »[ich] probierʼ [...] wirklich alles zu machen, was geht und ich habʼ festgestellt, es geht Vieles, [...] je nachdem wie die Prothese passt und ähm ja ich probierʼ einfach viel aus und kuck einfach was geht […].«
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5.2
ZWISCHEN EINSCHRÄNKUNG UND LEBENSQUALITÄT: ALLTAG MIT PROTHESE WIEDERHERSTELLEN, ZURÜCKEROBERN UND LEBEN
Wie aus den präsentierten Post-Amputationsgeschichten meiner Forschungsteilnehmer hervorgeht, kann nach einer Amputation und der rehabilitationsklinischen Anschlussheilbehandlung in den meisten Fällen nicht einfach in den alten, gewohnten Alltag wie vor der Amputation zurückgekehrt werden. Vielmehr muss Alltag im Sinne eines Netzes an Selbstverständlichkeiten und Routinen erst als solcher unter veränderten Bedingungen mit einem veränderten Körper wiederhergestellt, angeeignet und re-organisiert werden. Meine Forschungsteilnehmer mussten ihr Leben nach der Entlassung aus der Rehaklinik ›neu ordnen‹ bzw. ›neu formen‹, sie mussten sich ›Stück für Stück wieder ins Leben zurückarbeiten‹. Deutlich wird dies exemplarisch auch an einer Aussage von Martina Schubert, die zum Zeitpunkt unseres Interviews im Mai 2014 seit zehn Jahren links knieexamputiert, mit dem mikroprozessorgesteuerten C-Leg von Ottobock versorgt ist und die schildert, »[...] also wer glaubt, dass der Ablauf oder Tagesablauf normal weitergeht wie bisher, der täuscht sich. Es wird nie wieder so sein, wie vorher (4).« Das Leben nach der Amputation mit Prothese wird von meinen verschiedenen Interviewpartnern in ihren Erzählungen in diesem Zusammenhang daher auch weniger als vollständige Rückkehr zum Gewohnten dargestellt, sondern vielmehr als Neuanfang beschrieben, der mit bestimmten Herausforderungen verbunden ist.2 Dabei wurden meine Gesprächspartner nach der Entlassung aus der Rehaklinik zuhause jedoch zunächst mit ihrem alten Alltag konfrontiert, das heißt die verschiedenen Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens, die vor der Amputation in der Regel nicht bewusst als solche wahrgenommen wurden, rückten nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies ging bei meinen Forschungsteilnehmern oftmals einher mit einem Gefühl von Unsicherheit und Frustration, da die alten Gewohnheiten und Routinen nun eben nicht mehr wie bisher gelebt werden konnten, woran zugleich aber auch die stabilisierende Funktion von Alltag im Allgemeinen deutlich wird. Exemplarisch geht dies aus der Post-Amputationsgeschichte von Christina Jahn hervor, die ̶ wie oben dargestellt ̶ meint, dass es viele Dinge gibt, »[…] die einfach nichʼ gehen und wo man […] dann im Alltag auch einfach plötzlich merkt ›Pff, also habʼ ich mir nie Gedanken drüber gemacht, aber es geht nicht […]‹ […].« Meine Forschungsteil-
2
Vgl. auch K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.227, die Ähnliches für die PostTransplantations-Geschichten ihrer Gesprächspartner herausgearbeitet hat.
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nehmer standen somit einerseits vor der Aufgabe, sich mit ihrem alten, vorgefundenen Alltag zu arrangieren und andererseits neue (körperliche) Routinehandlungen bzw. Verhaltensweisen zu etablieren und zum Post-AmputationsAlltag zu machen. Ähnlich wie es Katrin Amelang im Hinblick auf die PostTransplantations-Geschichten ihrer Forschungsteilnehmer beschrieben hat, wurde auch in den Erzählungen meiner Gesprächspartner, deren Amputation noch nicht allzu lange zurückliegt, das Neue und Ungewohnte eines Lebens mit Prothese dabei noch stärker thematisiert, während es von denjenigen, die bereits seit mindestens zehn Jahren beinamputiert sind, eher in Nebensätzen erwähnt und somit zur Nebensächlichkeit erklärt wurde.3 Deutlich wird dies exemplarisch an der Aussage des 64-jährigen C-Leg-Trägers Clemens Albrecht, den ich im Januar 2015 für ein Interview zuhause besucht habe und der zu diesem Zeitpunkt seit knapp 30 Jahren infolge eines Motorradunfalls links oberschenkelamputiert ist. Er sagt, »[a]lso das Leben hat sich durch die Amputation und die Prothese (.) praktisch nicht verändert, außer so kleine Beeinträchtigungen, [...].« Obwohl Clemens Albrecht hier betont, dass sein Leben durch die Amputation keine großartige Veränderung erfahren hat, verweist er im selben Satz jedoch zugleich auf ›kleine Beeinträchtigungen‹, die mit einem Leben als Prothesenträger verbunden sind. Denn so schildert Clemens Albrecht unter anderem auch, »[...] an bestimmten [...] Dingen musst dich [...] umgewöhnen. Zum Beispiel isʼ für jemand [sic], der Prothese trägt, eine Dusche immer noch eine Herausforderung. Äh mich hatʼs schon ein, zwei Mal in Duschen einfach hingehaut, man hat nur ein Bein, man rutscht aus [...].« Weiter meint er, »[...] man überlegt sich Wege, die möglichst WENIG Treppen haben, [...] man überlegt die kürzeren Wege, man äh (...) überlegt wahrscheinlich auch mehr (..) was man tut oder wie manʼs tut […]. [...] es gibt sicher noch mehr, wo man dann einfach äh Dinge anders macht als manʼs früher gemacht hat [...]. […] Und sonst im normalen Alltag ändert sich ja nichts oder hat sich eigentlich auch nix geändert. Ob einkaufen, kochen, [...] gibtʼs keinerlei [...] Änderungen. Wahrscheinlich nimmt manʼs aber auch gar nicht mehr so wahr. [...] man hat das ja drin [...] ich glaubʼ, dass das einfach schon automatisch isʼ.«
Die von Clemens Albrecht hier im letzten Satz angesprochene Automatisierung verweist dabei auf einen Veralltäglichungsprozess, das heißt das Leben nach der Amputation mit Prothese ist für Clemens Albrecht mittlerweile zum normalen Alltag geworden und daher sozusagen nicht der Rede wert und auch Saskia Eibich betont in ihrer Post-Amputationsgeschichte, dass das Leben mit Prothese
3
Vgl. Ebd., S.188/189.
192 | Alltag mit Prothese
für sie mittlerweile mehr oder weniger Alltag ist. Dieser Veralltäglichungsprozess setzt allerdings nicht automatisch ein, sondern stellt vielmehr das Resultat verschiedener Lernprozesse und täglicher praktischer Arbeit dar, die meine Forschungsteilnehmer leisten und in deren Folge neue Routinen etabliert werden mussten, wobei ebenso Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen und auch das Personal des medizinischen bzw. Gesundheitssektors in unterschiedlichem Ausmaß an der Herstellung und Aufrechterhaltung von Post-AmputationsAlltagen mit Prothese beteiligt sind.4 Die Wiederherstellung von Alltag nach einer Amputation mit Prothese erforderte von meinen Forschungsteilnehmern somit verschiedene Formen der von Juliet Corbin und Anselm Strauss beschriebenen ›Alltagsarbeit‹ (everyday life work) und betrifft sowohl die Re-Organisation der Wohnsituation bzw. des Haushalts, des allgemeinen Tagesablaufs, familiärer Verhältnisse und Rollenverteilungen als auch des Berufslebens und schließt darüber hinaus die Arbeit am eigenen (prothetisierten) Körper und der eigenen Biographie sowie die Integration bestimmter medikaler Zeiten und Praktiken ins tägliche Leben mit ein.5 Dabei fokussieren meine Forschungsteilnehmer in ihren Post-Amputationsgeschichten vor allem auf das Leben mit einem ›neuen‹, ›anderen‹ Körper, der die Herstellung oder Re-Organisation von Alltag wesentlich beeinflusst und auch immer wieder herausfordern kann, denn so hing bzw. hängt es maßgeblich vom Zustand des eigenen Körpers und insbesondere von dessen ›Prothesenkompatibilität‹ ab, inwiefern es meinen Forschungsteilnehmern gelang, nach der Entlassung aus der Rehaklinik alte Routinen fortzuführen oder aber neue Selbstverständlichkeiten zu etablieren und als Post-AmputationsAlltag zu leben.6 In diesem Zusammenhang wurde von den meisten meiner Gesprächspartner nach ihrer Rückkehr aus der Rehaklinik zunächst vor allem die eigene Wohnumwelt und damit die »[…] gegenständliche Organisiertheit des Alltagslebens […]«7 so weit wie möglich an den ›neuen‹ Körper angepasst, indem beispielsweise auf Teppiche als potentielle Sturzquelle in der Wohnung verzichtet oder die Küche so eingerichtet wurde, dass sämtliche Gerätschaften und Schränke mit nur wenigen Schritten oder auch ohne Prothese mit Krücken zu erreichen sind. Wie mir zudem von Martina Schubert geschildert wurde, haben sie und ihr heutiger Lebensgefährte ihr Haus danach gekauft, »[...] dass ich alles auf einer Ebenen [sic] habe (.), was ich brauche [...]. [...] du solltest immer
4
Vgl. Ebd., S.190.
5
Vgl. J. Corbin/A. Strauss: Managing Chronic Illness.
6
Vgl. auch K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.187/188, die für ihre lebertransplantierten Gesprächspartner ebenfalls wieder Ähnliches beobachtet hat.
7
R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.41.
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so weit denken, dass du vielleicht, wenn du die Prothese NICHT tragen kannst, die Stufen überwinden kannst mit [...] Krücken oder mitʼm Rollstuhl […]« und auch Lennard Beck, der nach seiner Interimsprothese mit dem mikroprozessorgesteuerten C-Leg versorgt wurde, hat mir erzählt, dass er auf der Treppe seines dreistöckigen Reihenhauses verschiedene Gegenstände platziert, die er mit nach oben bzw. unten transportieren kann, um sich Laufwege zu ersparen. Alltag ist somit auch außerhalb der Rehaklinik für meine Forschungsteilnehmer vor allem als ›Körperumwelt‹ relevant, wobei die materiellen Gegebenheiten des täglichen Lebens in den eigenen vier Wänden im Vergleich zu öffentlichen Settings noch leichter modifiziert werden können, beispielsweise durch barrierefreie Umbaumaßnahmen wie das Anbringen von Treppen- oder Badeliftern, Rampen an Eingangstüren, Handgriffen in der Dusche etc. Beim Besuch von Restaurants dagegen stehen bzw. standen meine Forschungsteilnehmer oftmals vor dem Problem, dass diese nicht immer barrierefrei gestaltet sind, wie exemplarisch an der PostAmputationsgeschichte von Eduard König deutlich wird, der sich vor allem in der ersten Zeit nach seiner Amputation zusammen mit seiner Ehefrau häufig überlegen musste ›Wo gehen wir hin? Wo ist es barrierefrei?‹ Das Thema Barrierefreiheit in Bezug auf Restaurants, Gaststätten oder auch öffentliche Institutionen und Einrichtungen wie Bahnhöfe, Kinos, Hotels etc. wurde dabei auch immer wieder bei den verschiedenen, von mir besuchten Selbsthilfegruppentreffen für Prothesenträger angesprochen. So wurde hier oftmals die Frage diskutiert, wo möglichst wenig Treppen sind, wo es Aufzüge gibt, an welchen Bahnhöfen möglichst ebenerdig in einen Zug ein- und ausgestiegen werden kann oder auch, ob es in bestimmten Restaurants und Kinos möglichst viel ›Beinfreiheit‹ gibt, da Prothesenträger sich Sitzplätze oftmals so aussuchen (müssen), dass genügend Platz ist, um ihre Beinprothese auszustrecken. Prothese-Tragen führt damit verbunden zu einer veränderten Wahrnehmung von Raum (und Zeit), was auch an einer Aussage von Simone Kunzmann deutlich wird, die mir während meiner Feldforschungswoche in der Rehaklinik geschildert hat, dass sie seit ihrer Amputation im Vergleich zu vorher viel vorausschauender laufe und ihre Umwelt anders wahrnehme. Sie sagt: »Das Blickfeld ändert sich. Ich sehe von Weitem schon Hindernisse, die mein Mann gar nicht sieht.« Mit Hindernissen meint Simone Kunzmann dabei vor allem Unebenheiten auf Gehwegen wie Äste, abfallende Bürgersteige, herumliegende Kabel, Kopfsteinpflaster, glatte oder rutschige Stellen beispielsweise bei Regen oder im Winter bei Schnee etc. Auch Clemens Albrecht betont in ähnlicher Weise, »[w]enn ich irgendwo hingehʼ und sehʼ den Weg und den Weg, dann denkʼ ich, dass [ich] schon relativ automatisch den nehme, der für mich zumindest […] vom Anschein her ein-
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facher zu gehen isʼ. […] man betrachtet die Welt möglicherweise auch mit nem kleinen […] Ausschnitt seiner Beeinträchtigung […]. […] Äh Bürgersteige hängen ja normalerweise bisschen von rechts nach links, damitʼs Wasser in die Ding läuft. Und […] das haben die ja bis heute nicht geschafft, die Prothesen so zu machen, dass die quasi die Bewegung eines normalen Knies nachmachen. […] wenn Sie links amputiert sind, dann isʼ so, wenn Sie auf dem rechten Bürgersteig gehen, isʼ im Normalfall kein Problem, weil der nach links ein bisschen hängt und dann isʼ das ok. Wenn das aber umgekehrt isʼ, dann isʼ die Prothese […] höher als die normale [als das andere Bein, C.R.] und das isʼ unheimlich schwer, dann zu laufen. […] Sie müssen ganz massiv schauen, dass Sie über die Prothese drüber kommen und […] darum wechsle ich oft die Straßenseiten, da hat am Anfang meine Frau gesagt ›Wieso gehst du jetzt auf die anderen [sic] Straßenseite?‹, sagʼ ich ›Du, weil ich da einfach besser LAUFEN kann‹ […].«
Im postphänomenologischen Sinne beeinflusst das Tragen von Prothesen somit maßgeblich die Wahrnehmung der Umwelt durch meine Forschungsteilnehmer. Mensch und medizintechnisches Artefakt treten in eine ›vermittelnde Beziehung‹ zueinander, in eine mediating relation, indem Prothesen als medizintechnische Artefakte »[…] coshape the contact between human beings and their world; they determine how human beings can be present in the world, and the world to them.«8 Das Leben seit der Amputation mit Prothese wurde mir von allen meinen Interviewpartnern damit verbunden im Vergleich zu vorher zudem als kraft- und zeitaufwändiger beschrieben, da für sämtliche Aktivitäten des täglichen Lebens insgesamt mehr Zeit und Kraft eingeplant werden muss, angefangen vom Aufstehen am Morgen und dem Anziehen der Prothese, das heißt der tagtäglichen praktischen Herstellung des ›prothetisierten‹ Körpers, über das Duschen bis hin zum Einkaufen, Autofahren oder Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel. Meine Forschungsteilnehmer müssen bzw. mussten ihren (neuen) Tagesablauf somit insbesondere nach kraft- und zeitraubenden Tätigkeiten hin organisieren, wie an den oben präsentierten Post-Amputationsgeschichten deutlich wird oder auch an der Aussage von Martina Schubert, die meint, »[a]lso es isʼ grundsätzlich so, dass du für alles länger brauchst. Du brauchst fürʼs Duschen länger, du brauchst fürʼs [...] Fertigmachen länger [...]. [...], also das merke ich schon (.), dass ich auf jeden Fall länger brauche. Egal, was du machst.« In diesem Zusammenhang kommt es häufig auch zur Re-Definition familiärer Rollenverteilungen, indem beispielsweise Ehemänner oder Lebenspartner nun im Haushalt, beim wöchentlichen Einkauf und Wohnungsputz mitanpacken müssen oder umgekehrt
8
Verbeek, Peter-Paul: What Things Do. Philosophical reflections on technology, agency, and design. Pennsylvania: The Pennsylvania State University Press 2005, S.116.
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Ehefrauen plötzlich die Rolle als Hauptgeldverdienerin und damit Ernährerin der Familie übernehmen, wie das Beispiel von Eduard König zeigt, der seit seiner Amputation nicht mehr in seinem Beruf als Zimmerer tätig sein kann, da dies körperlich für ihn zu anstrengend wäre und der stattdessen Erwerbsminderungsrente bezieht, was an seinem Selbstwertgefühl nagt wie er schildert. Auch für Erika Tamm war es schwer, nach dem Rehaaufenthalt nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren zu können, obwohl sie bereits kurz vor der Rente stand. Sowohl Eduard König als auch Erika Tamm bezeichnen sich selbst als ›Schaffer‹, das heißt ihr Prä-Amputations-Alltag wurde vor allem durch ihre berufliche Tätigkeit geprägt und strukturiert. Nun zwangsbedingt Erwerbsminderungsrente zu beziehen oder nur noch Teilzeit-Tätigkeiten nachgehen zu können widerspricht dem Selbstbild, das meine Gesprächspartner bis zum Zeitpunkt ihrer Amputation von sich hatten und erforderte von diesen eine Re-Definition ihrer bisherigen (Berufs-)Biographie und damit verbundener Identitäten bzw. Selbstverständnisse im Sinne der von Corbin/Strauss beschriebenen biographical work.9 Anderen meiner Forschungsteilnehmer wiederum gelang es relativ problemlos, nach der Amputation in ihren alten Beruf zurückzukehren oder in einen neuen Beruf einzusteigen, so beispielsweise Saskia Eibich oder auch meinen beiden Gesprächspartnern Clemens Albrecht und Jürgen Metzler. Der 52-jährige Jürgen Metzler, dem 2011 infolge eines Motorradunfalls das linke Bein ab dem Oberschenkel amputiert werden musste und der vor seiner Beinamputation als Inhaber einer eigenen Hotelvermittlungsfirma tätig war, konnte auch danach in seinem Beruf weiterarbeiten, was für ihn den Umgang mit seiner neuen Lebenssituation sowie die Rückkehr in seinen Berufsalltag wesentlich erleichtert hat. Allerdings hat er seine Mitarbeiter auf die veränderte Situation vorbereitet wie er schildert: »[…] dass man gesagt hat ›Passt auf‹ am Anfang ›Prothese, ich ziehe sie auch mal aus‹, weil doch äh gerade die Probeversorgung am Anfang, die muss erst einmal sitzen, man hat das Gefühl noch nicht so dafür […] bei mir war es […] so, dass es halt doch mal beim Sitzen irgendwo im Oberschenkel noch zwickt und dass ich dann gesagt habe ›Ich schlüpfe auch untertags RAUS‹, ich habe meinen Bürostuhl da, dann rolle ich durch die Gegend (lacht leicht).«
Wie Jürgen Metzler weiter berichtet, hat er von seinen Mitarbeitern dabei immer positive Unterstützung erfahren, »[…] von dem her, denke ich, dass es, also damals eben auch für mich wirklich LEICHTER zu bewältigen war, als für jetzt jemanden, der das Umfeld vielleicht eben nicht hat […].« Auch Clemens Alb-
9
Vgl. J. Corbin/A. Strauss: Managing Chronic Illness, S.231.
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recht konnte nach seiner Amputation weiterhin seiner beruflichen Tätigkeit als Sozialpädagoge nachgehen, wobei er insbesondere die sozialintegrative Funktion betont, die das medizintechnische Artefakt Prothese für ihn in diesem Zusammenhang hatte, denn »[…] wenn das [die Prothese, C.R.] nicht gewesen wäre, hättʼ ich ja nicht mehr arbeiten können. […] Also ich bin ja ganz normal in Altersrente gegangen mit dreiundsechzig, war auch nie arbeitslos, […].« Die Rückkehr in einen Beruf nach der Amputation spielte für das Selbstwertgefühl meiner Forschungsteilnehmer eine wichtige Rolle, zumal Erwerbsarbeit sowohl als gesellschaftlicher wie individueller ›Normalitätsmarker‹ verstanden werden kann, der gesellschaftliche Teilhabe und Integration abbildet und zwar in ökonomischer wie sozialer Hinsicht, denn »[w]er arbeitet, gilt als produktiver Teil der Gesellschaft […]«10 wie Katrin Amelang es formuliert, die bei ihren Forschungen für Menschen mit Lebertransplantation ähnliche Beobachtungen gemacht hat. Darüber hinaus hat die Rückkehr ins Berufsleben auch eine wichtige Funktion für die Wiederherstellung von Alltag nach einer Amputation, denn die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit kann das poststationäre Leben außerhalb (reha-)klinischer Settings strukturieren, indem dadurch bestimmte (zeitliche) Regelmäßigkeiten vorgegeben werden.11 Eine ähnliche (stabilisierende) Funktion wie die Rückkehr ins Berufsleben hatte im Hinblick auf die Wiederherstellung von Alltag nach einer Beinamputation für viele meiner Interviewpartner in diesem Zusammenhang auch die Rückkehr ins Familienleben bzw. der Rückhalt durch Familienangehörige, da diese meine Forschungsteilnehmer bei der Schaffung von neuen Routinen sowie der Anpassung an neue Regeln unterstützten und damit die Etablierung von Post-Amputations-Alltagen wesentlich erleichterten. Darüber hinaus symbolisiert Familie selbst Alltag und dessen Selbstverständlichkeit, allerdings wird auch der Alltag von Familienangehörigen durch eine Amputation meist erschüttert und bedarf der Re-Organisation, denn Familienangehörige »[...] sind emotional von Sorgen und Ängsten berührt, […] sozial davon betroffen, wenn Freundeskreise sich zurückziehen, und ökonomisch, wenn sich aufgrund der Erkrankung [bzw. Amputation, C.R.] das gemeinsame Einkommen reduziert. Die mit diesem Involviert-Sein einhergehenden Arbeiten und Anpassungsleistungen betreffen fast alle Lebensbereiche, […].«12
10 K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.208. 11 Ebd., S.213. 12 Ebd., S.204.
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Besonders deutlich wird dies an der Post-Amputationsgeschichte von Richard Schneider, dessen Ehefrau seit seiner Amputation die Rolle einer Krankenschwester übernimmt wie sie selbst sagt, zudem regelt sie sämtliche Bankgeschäfte, eine Aufgabe, die vorher lediglich von ihrem Mann ausgeübt wurde. Da Richard Schneider seine Beinprothese aufgrund von andauernden Schmerzen am Beinstumpf nicht regelmäßig tragen kann, sind er und seine Frau weitgehend ans Haus gebunden, soziale Kontakte haben sich dadurch deutlich reduziert. Wie Frau Schneider schildert, ist die körperliche Verfassung ihres Mannes darüber hinaus von Tag zu Tag unterschiedlich, weshalb sie gemeinsame Unternehmungen wie beispielsweise Kaufhaus- oder Museumsbesuche nicht im Voraus planen können, sondern immer abwarten müssen ›Wie ist der Tag?‹ Alltag ist für das Ehepaar Schneider somit auch knapp zwei Jahre nach der Amputation nicht selbstverständlich, sondern etwas, das der beständigen Bearbeitung und Aushandlung bedarf. Das Leben seit der Amputation mit Prothese bedeutet für Richard Schneider und seine Frau daher vor allem Einschränkung in verschiedensten Bereichen wie die beiden während unseres Gesprächs geschildert haben. Der Begriff Einschränkung im Hinblick auf die Frage, was es heißt, nach einer Beinamputation mit Prothese zu leben, fiel dabei grundsätzlich im Verlauf jedes einzelnen Interviews, das ich mit Prothesenträgern geführt habe und wurde mal mehr, mal weniger stark hervorgehoben. Mit diesem Begriff beziehen sich meine Gesprächspartner jedoch insbesondere auf die Aktivitäten und Gewohnheiten, die ihren je individuellen Alltag vor der Amputation ausgemacht haben und die nun nicht mehr wie bisher gelebt werden können. So schildert Christina Jahn in ihrer Post-Amputationsgeschichte beispielsweise, dass sie es insbesondere sehr vermisst, ihre sportlichen Hobbies wie Joggen, Marathonlaufen oder Volleyball- bzw. Tennisspielen nicht mehr ausüben zu können, da dies für sie mit ihren beiden Prothesen nicht möglich ist. Eingeschränkt fühlt sie sich zudem in ihrer Spontaneität und Flexibilität, da sie seit ihrer Amputation ständig auf Fahrdienste durch Familie oder Freunde angewiesen ist, weil sie selbst mit ihren beiden Unterschenkelprothesen nicht Autofahren kann und sich erst ein Auto mit Handgas zulegen müsste. Bedeutete Alltag vor der Amputation für Christina Jahn vor allem, ihr Leben frei und unabhängig leben zu können, selbständig einkaufen gehen, Reisen unternehmen oder ihren sportlichen Hobbies nachgehen zu können, so verweist sie in ihrer Post-Amputationsgeschichte in erster Linie auf die Nicht-Alltäglichkeit ihres Lebens seit der Amputation, da diese vorher selbstverständlichen Tätigkeiten für sie nicht mehr bzw. noch nicht möglich sind. Allerdings macht sie in ihrer Erzählung gleichzeitig deutlich, dass sie versucht, sich ins Leben zurückzuarbeiten und so gut wie möglich an alte Gewohn-
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heiten anzuknüpfen. Froh ist Christina Jahn daher vor allem darüber, dass sie mittlerweile gelernt hat, mit ihren beiden Unterschenkelprothesen Fahrradzufahren, da dies für sie eine Erweiterung ihres Mobilitätsradius und damit verbunden auch ihrer Unabhängigkeit bedeutet, zumal sie mit ihren beiden Unterschenkelprothesen noch keine allzulangen Strecken gehen kann. Eine weitere Schwierigkeit besteht für Christina Jahn allerdings auch darin, dass sie seit ihrer Amputation oftmals keine passenden Schuhe oder Hosen mehr findet, ein Problem, das mir auch von meinen übrigen Interviewpartnern immer wieder geschildert wurde. So lässt sich Richard Schneider in sein rechtes Hosenbein beispielsweise von einer Schneiderin seitlich Reißverschlüsse einsetzen, damit er mit seiner Beinprothese besser hineinkommt und Martina Schubert beschreibt aus ihrer Sicht als Leiterin der Selbsthilfegruppe 1 für Prothesenträger im Hinblick auf die allgemeine Schuhproblematik: »Also es isʼ eigentlich so nʼ O-Ton von den Meisten, […] du musst letzten Endes mitʼm Maßband […] Schuhe kaufen gehen (.), weil jeder [Prothesen-]Fuß irgendwo ne Voreinstellung hat […] und da muss der Schuh passen und sobald du nʼ Schuh hast, der etwas höher isʼ hinten, musst du entweder den Schuh vom Prothesentechniker umbauen also umschrauben lassen oder du hast ne Kippung nach vorne und du belastest den Stumpf wieder anders.«
Speziell für Menschen mit Oberschenkelamputation gestaltet es sich in diesem Zusammenhang zudem teilweise schwierig, Schuhe oder auch Socken überhaupt anzuziehen, da Oberschenkelprothesen in der Regel nicht einfach seitlich oder nach oben abgeknickt werden können bzw. keine Sitzhocke damit eingenommen werden kann. Das heißt, die betreffende Person muss sich entweder nach unten bücken, um Schuhe anzuziehen, was vor allem für ältere Personen oftmals schwierig ist, oder aber sie ziehen zuerst ihrer Prothese Schuhe bzw. Socken an, bevor sie selbst ihre Beinprothese anlegen. In der vom Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation herausgegebenen Verbandszeitschrift »AmpuTee« heißt es in diesem Zusammenhang beispielsweise auch: »Meist sind es die ›Kleinigkeiten des Alltags, die zum Problem werden‹: Was ziehe ich zuerst an? Die Prothese? Die Hose? Und was ist mit den Socken und Schuhen?«13 Als Lösungsvorschlag wird in der Zeitschrift dabei auf sogenannte Drehadapter hingewiesen, bei welchen es sich um Prothesenpassteile für Menschen mit Knieex- oder Oberschenkelamputation handelt und die vom Orthopädietechniker
13 Vgl. AmpuTee ̶ Zeitschrift des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. 1 (2013), S.25.
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zwischen Prothesenschaft und Prothesenkniegelenk eingesetzt werden können und ein Hochschlagen der Beinprothese ermöglichen.14 Allerdings werden derartige Drehadapter häufig nicht von der Kranken- bzw. Rentenkasse oder Unfallversicherung finanziert, was der Präsident des BMAB, Dieter Jüptner, mir gegenüber in einem Gespräch kritisiert hat, denn dadurch werde letztlich verhindert, dass Prothesenträger ein selbständiges Alltagsleben führen können. Dass die Wiederherstellung bzw. Re-Organisation von Alltag nach einer Amputation mit verschiedenen Anstrengungen und Einschränkungen verbunden ist, wird dabei auch an einer Aussage von Lennard Beck deutlich, für den das Leben mit Prothese selbst zehn Jahre nach der Amputation immer noch eine Herausforderung darstellt wie er schildert. Er sagt: »[…] also ich findʼ das schon ne Beeinträchtigung (.) im täglichen Leben, weil du halt äh jeden Tag dieses Ding anziehen musst. Also äh mhh es gibt keinen Morgen, wo du einfach aufstehst und sagst ›Ich gehʼ jetzt so ins Bad‹ äh entweder du brauchst Krücken, du musst hüpfen oder du […] ziehst halt das Ding an. Und das begleitet dich den ganzen Tag […]. […] ich bin jetzt fast zehn Jahre amputiert äh, es isʼ äh selbst nach dieser Zeit immer noch […] ne Anstrengung, du musst ein bissl aufpassen beim Laufen, ja, die Prothesen sind sehr gut geworden mittlerweile, aber du musst natürlich schon äh ein bissl schauen, weil sonst liegst schneller auf der Nase als dir lieb isʼ.«
Lennard Beck bezeichnet seine Beinprothese hier als ›Ding‹, was darauf verweist, dass er das medizintechnische Artefakt in leiblicher Hinsicht weniger als zu seinem Körper bzw. zu seiner Person gehörend empfindet, zumal er auch weiter meint, »[…] ne Prothese kann […] nicht nʼ normales Bein ersetzen, also das […] kannʼs nicht, ja, das […] wirdʼs auch nie, […].« Dennoch ist er froh, überhaupt eine Prothese tragen zu können, denn »[…] die hilft mir schon, also ich brauchʼ die. […] ich hättʼ natürlich gern mein Bein zurück, isʼ klar, […] aber ich bin froh, dass ich sie HABʼ, na, also, dass es einigermaßen gut funktioniert und so weiter, also das schon. Also ich könntʼ mir NICHT vorstellen, ohne Prothese äh dauerhaft zu sein, […].« Seine Beinprothese ist für Lennard Beck daher in erster Linie ein praktisches Hilfsmittel, »[d]as […] isʼ ne Unterstützung, es isʼ n (..) ja, klassisch Hilfsmittel. […] das isʼ die Dudendefinition und die sehʼ ich auch so, die trifft ganz gut.« Ähnlich wie Lennard Beck haben sich alle meine Interviewpartner geäußert, das heißt trotz der verschiedenen Einschränkungen, die von ihnen im Hinblick auf
14 Ebd.
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ihr Leben mit Prothese genannt wurden, möchte keiner meiner Gesprächspartner dauerhaft auf das Tragen einer Prothese verzichten, denn das medizintechnische Artefakt bedeutet für meine Forschungsteilnehmer nach der Amputation in erster Linie auch einen Rückgewinn an Lebensqualität, wie mir immer wieder beschrieben wurde. Der Begriff Lebensqualität wird von meinen Interviewpartnern im Zusammenhang mit der Prothese dabei vor allem mit den Schlagworten Mobilität, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Erleichterung und Freiheit in Verbindung gebracht. Clemens Albrecht sieht in seiner Beinprothese in diesem Sinne »[...] die Unterstützung, die mir hilft [...], ein (.) möglichst selbständiges, unabhängiges Leben zu führen [...]« und auch Saskia Eibich betont, »[...] sie [die Prothese, C.R.] bedeutet sehr VIEL, weil ohne Prothese wärʼ mein Leben nicht so, […] wieʼs wärʼ. Also ich könntʼ nicht arbeiten, ich könntʼ nicht (.) Spazierengehen so wie ichʼs kann, ich könntʼ nicht Radfahren so wie ichʼs ka-also ich […] könntʼ mein Leben definitiv nicht so führen, […] wie ichʼs führʼ.« Jeden Tag die Prothese tragen zu können, wird von allen meinen Interviewpartnern in diesem Zusammenhang als wichtige Voraussetzung dafür gesehen, ihr Leben nach der Amputation überhaupt (wieder) als Alltag leben zu können, wie exemplarisch auch an einer Aussage von Christina Jahn deutlich wird, die meint, »[...] wenn die Prothese nicht sitzt, [...] dann passt irgendwie nichts so richtig neʼ. Kannst dann natürlich deinen Alltag nicht gescheit meistern [...].« Die Wiederherstellung von Alltag bzw. das Anknüpfen an alte oder das Etablieren von neuen Routinen und Selbstverständlichkeiten nach der Amputation wird von meinen Gesprächspartnern in ihren Erzählungen somit direkt mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese in Verbindung gebracht. Gleichzeitig unterliegt das medizintechnische Artefakt selbst einem gewissen Veralltäglichungsprozess wie aus den verschiedenen Post-Amputationsgeschichten meiner Forschungsteilnehmer hervorgeht. So schildert Jürgen Metzler, der zum Zeitpunkt unseres Interviews mit dem mikroprozessorgesteuerten Genium von Ottobock versorgt ist, im Hinblick auf den täglichen Umgang mit seiner Prothese beispielsweise: »Inzwischen ist es tatsächlich so, dass ich die Prothese in der Früh anziehe wie wenn man einen Schuh anzieht. [...] Also wirklich das Erste in der Früh man steht auf, äh, also ich gehe nicht mal erst zum Zähne putzen, sondern ich schlüpfe in die Prothese rein, [...] und dann geht der Tag im Endeffekt los und abends wird die Prothese dann wieder ausgezogen.«
Weiter meint er, »[i]ch überrasche mich teilweise selber, [...] wie selbstverständlich man das Ganze nehmen kann.« Der Vergleich des medizintechnischen Artefakts mit Schuhen oder Kleidungsstücken, den Jürgen Metzler hier anstellt, wur-
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de dabei auch von anderen meiner Interviewpartner immer wieder geäußert. So vergleicht Eduard König seine Beinprothese mit einem Skischuh, Saskia Eibich mit einem Wanderschuh und Clemens Albrecht schildert, »[...] so wie ich ne Hose anziehʼ, ziehʼ ich am Morgen die Prothese an und abends wenn ich ins Bett gehʼ, ziehʼ ich die aus […]«, »[...] das isʼ für mich was Normales, [...]. Das isʼ so ein ganz normaler Vorgang (lacht), so wie jeder seine Hose, sein was weiß ich anzieht und damit [...] hat sich die ganze Geschichte (..).« Clemens Albrecht vergleicht seine Beinprothese allerdings nicht ausschließlich mit einem Kleidungsstück, sondern er bezeichnet seine Prothese auch als seinen ›Lebenspartner‹ und ebenso wurden von meinen übrigen Gesprächspartnern häufig positiv besetzte Anthropomorphisierungen wie ›die Prothese ist mein bester Freund‹ oder ›das sind meine Babys‹ im Zusammenhang mit ihrer Beinprothese verwendet. Dies verweist auf die enge intime, emotionale Beziehung, die meine Forschungsteilnehmer ganz offenkundig mit dem medizintechnischen Artefakt eingehen, indem dieses mit Gefühlen bedacht wird als sei es ein Mensch, das heißt die Prothese ist nicht nur ein bloßer Nutzungsgegenstand, sondern in vielen Fällen auch ein ›geliebtes Objekt‹.15 Von den meisten Prothesenträgern, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung gesprochen habe, wurde mir als Aufbewahrungsort für ihre Prothese in diesem Zusammenhang zudem meist das Schlafzimmer genannt. Das Schlafzimmer als intimer, vertrauter Raum verweist in diesem Sinne einerseits ebenfalls wieder auf die emotionale Bindung, die meine Forschungsteilnehmer zum medizintechnischen Artefakt entwickeln, da das Schlafzimmer nun eben gleichermaßen mit dem jeweiligen Ehepartner als auch mit dem ›Lebenspartner‹ bzw. ›besten Freund‹ Prothese geteilt wird. Andererseits hat die Aufbewahrung des medizintechnischen Artefakts im Schlafzimmer oder neben dem Bett aber auch ganz ›banale‹ praktische Gründe, indem die Prothese dadurch nachts sofort griffbereit ist, um beispielsweise zur Toilette gehen zu können. Inwiefern das medizintechnische Artefakt von meinen Forschungsteilnehmern dabei als Lebenspartner, eine Art Kleidungsstück, bloßes körperliches Anhängsel, funktionales Hilfsmittel oder aber im Sinne technogenen Embodiments tatsächlich leiblich als zu ihrem Körper bzw. zu ihrer Person gehörend wahrgenommen wird, hängt letztlich von unterschiedlichen Faktoren ab und ist vor allem situationsbedingt. Eine wesentliche Rolle hierbei spielen jedoch einerseits die Passform und der Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts sowie andererseits die Reaktionen der sozialen Umwelt und von nahestehenden Personen (siehe hierzu auch Kapitel 5.3 und 5.4). So schildert beispielsweise Erika Tamm,
15 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.129.
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dass es für ihren Ehemann von Anbeginn selbstverständlich war, ihren Beinstumpf zu streicheln oder ihre Beinprothese ohne Scheu zu berühren, was für sie selbst wiederum die Akzeptanz des medizintechnischen Artefakts als zu ihrer Person bzw. zu ihrem Körper gehörend wesentlich erleichtert hat. Lucie Dalibert, die ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die körperlich-leibliche Integration medizintechnischer Artefakte daher auch: »[...] for the somatechnology to become incorporated, oneʼs individual relation with the somatechnology no matter how intimate is not sufficient. The ability to relate visually, affectively, haptically is entangled with other bodies: incorporating a somatechnology entails incorporating other bodies, for instance loved ones – their gaze, their touch.«16
Die Post-Amputationsgeschichte von Saskia Eibich dagegen verdeutlicht, dass die negativen Erfahrungen, die sie im Zusammenhang mit neuen Männerbekanntschaften gemacht hat bewirkt haben, dass sie sich in der ersten Zeit nach der Amputation nur schwer mit ihrem eigenen veränderten Körper identifizieren und eine positive Beziehung zu ihrer Prothese aufbauen konnte, wobei sie vor allem den Eindruck schildert, von Männern seit ihrer Amputation häufig nicht mehr als Frau oder Person wahrgenommen zu werden. Das Absprechen von Weiblichkeit bzw. weiblicher Attraktivität, mit dem Saskia Eibich als Prothesenträgerin konfrontiert wurde, erklärt sie selbst damit, dass sie nicht mehr gängigen gesellschaftlichen Schönheitsidealen von Weiblichkeit entsprach und auch Christina Jahn äußert im Hinblick auf ihren eigenen ›prothetisierten Körper‹, »[a]lso wenn ich […] denke ›Definition: Was isʼ weiblich? Was […] soll ne tolle Frau sein? Was sind die ganzen Ansprüche der Gesellschaft? Was wird als schön angesehen oder als perfekt angesehen?‹, dann stimmt das jetzt definitiv nicht immer damit ein [...].« Wie die US-amerikanische Körperforscherin Margo DeMello schreibt, sind Frauen im Vergleich zu Männern generell einem höheren Schönheitsdruck (von außen) ausgesetzt, denn »[...] in cultures around the world, men view women primarily through the lens of their appearance [...]«17, »[…] women are expected to be sexually attractive, and since they are defined so intensely by their appearance, then having a body that falls short of the norms of beauty is a heavey burden for a woman to carry.«18 Darüber hinaus verweist die Technikwissenschaftlerin Wendy Faulkner darauf, dass Technik im Allgemeinen
16 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.227. 17 DeMello, Margo: Body Studies. An Introduction. London: Routledge 2014, S.177. 18 Ebd., S.30.
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im gesellschaftlichen Verständnis in erster Linie meist mit Mann bzw. Männlichkeit gleichgesetzt wird, während kulturelle Vorstellungen von Weiblichkeit eher mit ›Natürlichkeit‹ verknüpft werden. Sie spricht daher auch von einem »[…] symbolic gendering of technology […]«19 und ebenso betont die USMedienwissenschaftlerin Anne Balsamo, dass »[…] femininity is culturally imagined as less compatible with technology […].«20 Der ›prothetisierte‹, ›technisierte‹ weibliche Körper widerspricht somit soziokulturellen Vorstellungen einer scheinbar ›natürlichen‹ und/oder ›erotischen‹ Weiblichkeit, wobei die soziokulturelle Gleichsetzung von Technik gleich männlich bzw. unweiblich im Zusammenhang mit Prothetik vermutlich auch damit zu erklären ist, dass insbesondere die öffentliche Wahrnehmung von Prothesenträgern (in Deutschland) einerseits lange Zeit durch die vornehmlich männlichen Kriegsversehrten der beiden Weltkriege geprägt wurde, andererseits dominieren bei gegenwärtigen populärkulturellen Darstellungen darüber hinaus meist männliche Mensch-Maschine-Hybride wie Terminator oder Iron Man.21 Die insgesamt eher negativen Erfahrungen, die Saskia Eibich gemacht hat, führten schließlich dazu, dass sie sich selbst nicht mehr als Frau fühlen konnte wie sie es beschreibt, zumal sie es aufgrund ihrer vermeintlich verminderten weiblichen Attraktivität und Ästhetik auch vermied, Röcke oder kurze Hosen zu tragen. Aber nicht nur durch die Reaktionen außenstehender Personen wurde das subjektive Empfinden von Weiblichkeit bei Saskia Eibich reduziert, sondern vor allem auch durch die Funktionalität des medizintechnischen Artefakts selbst, da es ihr dadurch nicht mehr möglich war bzw. ist, ihre Beine übereinander zu schlagen oder ›wie eine Frau‹ zu gehen, zumal sie als Prothesenträgerin aufgrund der dadurch mangelnden Stabilität beim Gehen keine hohen Schuhe bzw. High-Heels mehr tragen kann.22 In diesem Zusammenhang schildert auch Marti-
19 Faulkner, Wendy: The Technology Question in Feminism: A View from Feminist Technology Studies, in: Womenʼs Studies International Forum 24 (2001), S.79-95, hier: S.85; vgl. auch Buchner-Fuchs, Jutta: Technik und Gesellschaft, in: Hengartner, Thomas/Rolshoven, Johanna (Hg.): Technik – Kultur. Formen der Veralltäglichung von Technik. Technisches als Alltag. Zürich: Chronos 1998, S.51-83. 20 Balsamo, Anne: Reading Cyborgs, Writing Feminism, in: Kirkup, G./James, L./ Woodward, K./Hovenden, F. (Hg.): The Gendered Cyborg: A Reader. London: Routledge 2000, S.148-158, hier: S.151. 21 Vgl. hierzu auch Grant, Ruby: Going Commando: Prosthetics and the Politics of Gender, in: Platform: Journal of media and communication 6 (2015), S.61-73, hier: S.61. 22 Grundsätzlich besteht zwar die Möglichkeit, auch mit einer Prothese Absatzschuhe zu tragen, beispielsweise durch einen höhenverstellbaren Prothesenfuß. Allerdings haben
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na Schubert, dass das Tragen einer Prothese vor allem in der Anfangszeit durchaus Auswirkungen auf ihre Selbstwahrnehmung als Frau hatte, denn »[d]u kannst nicht mehr locker laufen [...]. […] Wahrnehmung als Frau insofern, weil das mit den hohen Schuhen, das kannst du gleich mal knicken [...]. […] dann hast du halt nur noch Sportschuhe an und […] diese niedrigen Latschen und (.) kannst einfach nichʼ mehr das anziehen, was du früher hattest, ja. Und nʼ Sportschuh mitʼm Rock oder nʼ Kostümchen sieht einfach immer dämlich aus (lacht leicht), eh. […]. Die schlanken Hosen, die Leggings, die Jeans, das kannst gleich mal knicken, weil die Prothese da nichʼ rein passt und so weiter und so fort. Und ja (.), die Wahrnehmung isʼ schon ne andere. […] bin äh komplett ins Sportliche übergewechselt so von der Kleidung her.«
Sowohl die Funktionalität als auch Ästhetik von Prothesen beeinflusst somit die individuelle wie kollektive Wahrnehmung von Weiblichkeit und ›verhindert‹ in diesem Sinne ein doing gender, das heißt die Performance von Weiblichkeit nach außen hin, was insbesondere von meinen jüngeren weiblichen Forschungsteilnehmerinnen eine Re-Definition ihrer Geschlechtsidentität entsprechend der von Corbin/Strauss beschriebenen Biographiearbeit (biographical work) erforderte.23 Zwar wurde der Aspekt der durch die Amputation und das Tragen von Prothesen scheinbar verminderten Attraktivität teilweise auch von meinen männlichen Interviewpartnern angesprochen wie exemplarisch an der Post-Amputationsgeschichte von Eduard König deutlich wird, die direkte Konfrontation mit dem Absprechen von geschlechtsspezifischer Attraktivität durch außenstehende Personen wurde mir jedoch hauptsächlich von meinen weiblichen Gesprächspartnerinnen geschildert. Auch das Thema Kinder wurde lediglich in den PostAmputationsgeschichten meiner (jüngeren) weiblichen Interviewpartnerinnen erwähnt. So schildern sowohl Saskia Eibich als auch Martina Schubert, dass sie sich letztlich gegen das Bekommen von Kindern entschieden haben, da sie sich als Prothesenträgerin dieser Aufgabe nicht vollkommen gewachsen fühlen, weil sie ihrem Kind beispielsweise nicht einfach schnell hinterherrennen könnten, wenn dieses auf die Straße läuft, da Rennen mit Prothesen in der Regel nicht
mir alle meine Interviewpartner – egal ob weiblich oder männlich – geschildert, dass sie seit der Amputation nur noch ganz flache Schuhe, meistens Turnschuhe tragen, weil dadurch beim Gehen mit Prothese das Gleichgewicht besser gehalten und körperliche Überbelastungen vermieden werden können. Einzelne meiner Gesprächspartnerinnen haben das Tragen hoher Schuhe mit Prothese zwar ausgetestet, sind dann aber aus den soeben genannten Gründen wieder auf flache Schuhe umgestiegen. 23 Vgl. J. Corbin/A. Strauss: Managing Chronic Illness.
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möglich ist. Christina Jahn spricht in diesem Zusammenhang in ihrer Erzählung zudem den Umstand an, dass sich durch eine Schwangerschaft die Beschaffenheit des Beinstumpfes aufgrund von hormonellen Schwankungen und Wassereinlagerungen ständig verändern würde und eine möglicherweise ›gut‹ sitzende Prothese dann vom Orthopädietechniker permanent neu angepasst oder für die Dauer der Schwangerschaft sogar komplett auf das Tragen einer Prothese verzichtet werden müsste, was für meine Forschungsteilnehmerinnen einen abermaligen Verlust von Mobilität und damit verbunden auch von Selbständigkeit bedeuten würde. Die Bewahrung von Selbständigkeit wurde jedoch von allen meinen Interviewpartnern – unabhängig vom Geschlecht oder Alter – als äußerst wichtig für ihr Selbstwertgefühl beschrieben, wie exemplarisch auch an der PostAmputationsgeschichte von Erika Tamm deutlich wird, die betont, dass sie sämtliche Aktivitäten im Haushalt so weit wie möglich selbständig verrichten und keinem zur Last fallen möchte. Für Erika Tamm wie auch für meine restlichen Gesprächspartner ist es daher von zentraler Bedeutung, ihre Prothese jeden Tag tragen zu können, denn wie ich bereits beschrieben habe, sehen meine Forschungsteilnehmer das Tragen ihrer Prothese als eine wesentliche Voraussetzung dafür an, ihr Leben nach der Amputation tatsächlich auch als Alltag leben zu können. Um dabei langfristig eine möglichst gute Passform ihrer Prothese gewährleisten zu können, müssen Menschen nach einer Beinamputation allerdings auch außerhalb der Rehaklinik eine beständige und aktive Bearbeitung ihres Körpers im Sinne von Körpermanagement betreiben. So fiel im Verlauf der verschiedenen Interviews und Gespräche, die ich mit Prothesenträgern geführt habe, früher oder später meist der Satz ›Du musst dich fit halten‹. Gleichzeitig wurde mir von meinen Forschungsteilnehmern damit verbunden geschildert, dass sie seit ihrer Amputation eine neue Sensibilität gegenüber ihrem veränderten Körper entwickelt haben, wobei vor allem dem Körperteil Beinstumpf besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, denn von der Beschaffenheit des Beinstumpfes hängt es im Wesentlichen ab, ob eine Beinprothese ›gut‹ sitzt oder nicht, das heißt ob eine Prothese dauerhaft getragen werden kann oder nicht. Schon die kleinste Volumenschwankung oder wunde Stellen am Beinstumpf können sich negativ auf den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts auswirken und bedingen damit verbunden nicht nur maßgeblich die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments, sondern auch die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung von Post-Amputations-Alltagen. Arbeit am Alltag erfordert in diesem Sinne von meinen Forschungsteilnehmern somit auch außerhalb der Rehaklinik eine fortdauernde Arbeit an ihrem Körper. Wie dabei an den präsentierten Post-Amputationsgeschichten meiner Interviewpartner deutlich wird, umfasst diese Körperarbeit neben der Aneignung neuer Hygienepraktiken wie spe-
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zieller Beinstumpfpflege, vor allem auch verschiedene Fitness- und Gymnastikübungen, die ins tägliche Routinehandeln integriert werden müssen oder die Umstellung bisheriger Ernährungsgewohnheiten. So besucht Eduard König seit seiner Amputation regelmäßig ein Fitnessstudio und eine ambulante Gehschule, zudem hat er eine Diät gemacht wie er beschreibt, Richard Schneider trainiert zuhause auf seinem Heim-Fahrrad und auch Clemens Albrecht schildert: »Also man achtet schon mehr auf die Signale des Körpers, [...] weil durch eine [...] weitere Beeinträchtigung zum Beispiel der Wirbelsäule natürlich auch das Gehen mit der Prothese schwieriger werden würde, das heißt dass da dann schon die Gefahr besteht, dass auch so Selbständigkeit, Unabhängigkeit beeinträchtigt werden. Deswegen achtet man schon darauf und isʼ auch der Grund, warum ich eben Sport mache, weil ich einfach weiß äh wenn ich das nicht mache, merkʼ ich sofort, [...] dass ich dann anfangʼ also bissl Kreuzschmerzen zu kriegen, [...].«
Mit regelmäßigem Sport hat Clemens Albrecht dabei erst nach seiner Amputation angefangen wie er erzählt: »Also vorher habʼ ich zwar auch [...] Sport gemacht, aber das war eher so mal bolzen oder so, also [...] in keiner Weise gezielt [...]. Das isʼ [...] eine Geschichte, die wirklich durch den Unfall entstanden isʼ. Einfach die Erkenntnis [...] ›Du musst was tun, um dich einigermaßen fit zu halten oder fitter als sonst‹ und das machʼ ich eigentlich ziemlich konsequent.«
Ähnlich äußert sich Martina Schubert, die sagt, »[j]a, und jetzt machʼ ich halt eben alles Mögliche, was zu tun isʼ, das isʼ Physiotherapie, Ergotherapie [...], dann machʼ ich Fitness, um Muskelaufbau zu betreiben, dass wenigstens die Muskeln, die noch da sind, noch erhalten bleiben. Dann noch ähm nʼ Osteopathen, der auch noch mit drauf kuckt, ja, und alles was [...] zu machen isʼ [...].«
Wie an diesen Aussagen deutlich wird, soll der eigene Körper vor allem durch verschiedene Fitness- und Gymnastikübungen fit, das heißt ›prothesenkompatibel‹ und damit verbunden ›alltagstauglich‹ gehalten werden. Dabei ist es jedoch gerade auch der eigene Körper, der die Wiederherstellung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Alltag immer wieder verunsichern kann, zumal insbesondere Schmerzen als negativ empfundene leibliche Wahrnehmung ebenfalls zum Leben von Prothesenträgern gehören, denn wie unter anderem Martina Schubert betont, »[hat] jeder Prothesenträger [...] Schmerzen, [...] es gibt glaubʼ ich
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WENIG, ganz ganz wenig Leute, die einfach sagen ›Ich habʼ keine Schmerzen, oder keine Probleme‹. Es IST einfach damit verbunden, nur man lernt, damit zu leben, [...].« Der letzte Satz von Martina Schubert verweist allerdings darauf, dass auch der Umgang mit Schmerzen letztlich einem Veralltäglichungsprozess unterliegt, das heißt Schmerzen werden ebenfalls zum Alltag von Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträgern. In diesem Zusammenhang mussten meine Forschungsteilnehmer aber auch lernen, verschiedene medikale Zeiten und Praktiken in ihr ›neues‹ Leben zu integrieren, wie beispielsweise die Einnahme entsprechender Schmerzmedikamente oder die Behandlung wunder Stellen am Beinstumpf durch den jeweiligen Hausarzt, was der von Corbin/Strauss beschriebenen illness-related work entspricht.24 Wie zudem aus den präsentierten Post-Amputationsgeschichten meiner Interviewpartner hervorgeht, sind insbesondere regelmäßige Besuche beim Orthopädietechniker aus dem Leben von Prothesenträgern nicht mehr wegzudenken, sie werden zum Alltag von Menschen, die sich nach einer Amputation für das Tragen von Prothesen entschieden haben. Im Idealfall werden Orthopädietechniker zu lebenslangen Begleitern und zu wichtigen Vertrauenspersonen von Prothesenträgern, es entwickelt sich eine körpernahe Beziehung im wörtlichen Sinne. Wie Katrin Amelang dabei in ihrer ethnographischen Studie beschreibt, symbolisiert insbesondere die Lebertransplantationsambulanz einen nicht reduzierbaren Moment der Klinik im poststationären Alltag von lebertransplantierten Menschen, sie sind lebenslang mit dieser medizinischen Institution verbunden, da sie diese aufgrund verschiedener Nachsorgeuntersuchungen regelmäßig aufsuchen müssen.25 In ähnlicher Weise kann auch das Orthopädietechnikzentrum verstanden werden, das als ›medikaler Ort‹26 oder ›medikale Institution‹ in das Leben von Prothesenträgern diffundiert
24 Vgl. Ebd. 25 Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.123/124. 26 Unter ›medikalen Orten‹ verstehe ich im Sinne des Volkskundlers Alois Unterkircher in erster Linie jene Orte, an denen sich Ausdifferenzierungen des medizinischen Angebots bzw. des Gesundheitssektors und Spezialisierungen des medizinischen Marktes manifestieren, wie beispielsweise Arzt- und Therapeutenpraxen oder eben auch Institutionen wie Orthopädietechnikzentren, Sanitätshäuser etc. Vgl. Unterkircher, Alois: Medikale Räume – Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit. Tagungsankündigung des Netzwerks Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung, in: H-Soz-Kult vom 13.10.2008, http://www.hsozkult.de/event/ id/termine-10096 (Stand: 12.05.16); vgl. auch Eschenbruch, Nicholas/Hänel, Dagmar/Unterkircher, Alois (Hg.): Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit. Bielefeld: transcript 2010.
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und eben zum integralen Bestandteil von Post-Amputations-Alltagen bzw. zu einer Art zweitem Zuhause von Prothesenträgern wird, zumal Prothesenschäfte und -passteile im Laufe der Zeit immer wieder ausgetauscht oder neu angepasst werden müssen. Die orthopädietechnische Prothesenanpassung spielt damit verbunden nicht nur eine wichtige Rolle für die Stabilisierung von Alltag nach einer Beinamputation mit Prothese, sondern ebenso für die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts im Sinne technogenen Embodiments. Aufgrund der zentralen Bedeutung, die regelmäßige Besuche beim Orthopädietechniker im Leben meiner Forschungsteilnehmer einnehmen, werde ich den Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung im nächsten Unterkapitel daher genauer in den Blick nehmen und damit verbunden erörtern, was technisch im Bereich Beinprothetik heute tatsächlich schon alles möglich ist und wer Anspruch auf welches Prothesenmodell hat.
5.3
DAS ORTHOPÄDIETECHNIKZENTRUM ALS FESTER BESTANDTEIL VON POST-AMPUTATIONSALLTAGEN
Während meiner Forschung hatte ich die Möglichkeit, meine beiden Interviewpartnerinnen Martina Schubert und Elisabeth Rüsch mehrmals zur orthopädietechnischen Prothesenanpassung zu begleiten. Darüber hinaus habe ich zwischen Februar und März 2014 eine mehrwöchige Feldforschungsphase in einem größeren Orthopädietechnikzentrum durchgeführt, das zu den wenigen der insgesamt knapp 2.000 orthopädietechnischen Handwerksbetriebe in Deutschland zählt, die auf die prothetische Versorgung von Menschen mit Arm- oder Beinamputation spezialisiert sind.27 Die meisten deutschen Orthopädietechnikwerkstätten und Sanitätshäuser verdienen ihren Jahreshauptumsatz in erster Linie durch die Anfertigung von Bandagen, orthopädischen Schuheinlagen, Kompressionsstrümpfen oder die sogenannte Orthetik, bei der im Gegensatz zur Prothetik nicht fehlende Gliedmaßen ersetzt, sondern vorhandene Gliedmaßen durch Schienen, Stützkorsetts etc. stabilisiert werden sollen.28 Für viele Prothesenträger gestaltet es sich daher oftmals alles andere als einfach, den für sich ›richtigen‹
27 Vgl. Stein, Norbert/Honstein, Alena: Marktanalyse – Technische Orthopädie, in: Bauche, Matthias/Greitemann, Bernhard/Lotz, Klaus-Jürgen/Mittelmeier, Wolfram (Hg.): Rahmenbedingungen und Strukturen der Technischen Orthopädie in Deutschland. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik 2014, S.49-71. 28 Ebd.
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Orthopädietechniker zu finden. Zwar erfolgt der erste Kontakt zwischen Menschen mit Beinamputation und Orthopädietechniker in der Regel noch im Krankenhaus kurz nach der Amputation bzw. während der stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehaklinik, damit eine entsprechende Interimsprothese angepasst werden kann. Allerdings kommt es dabei immer wieder vor, dass der betreffende, meist vom Sozialdienst der (Reha-)Klinik kontaktierte Orthopädietechniker eben nicht über ausreichend Expertise im Hinblick auf die Anpassung von Beinprothesen verfügt. Der Präsident des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation, Dieter Jüptner, schildert in diesem Zusammenhang: »Die meisten Leute haben […] kein Orthopädietechnikhaus, was […] kompetent isʼ. […] muss man echt so brutal sagen, weil ähm äh viele Häuser äh, die heute Prothesen bauen, äh bauen im Jahr ein oder zwei Prothesen, das können Sie vergessen, […]. […] bis ein Amputierter nach der Amputation endlich mal das Haus gefunden hat, wo er das Gefühl hat ›Hier werdʼ ich optimal betreut, hier bekommʼ ich ne optimale Prothese‹, das zieht sich hin. Ich bin seit jetzt fast genau zehn Jahren amputiert, ich habe in den zehn Jahren [...] das siebte OT-Haus jetzt. Und jetzt habʼ ich das Gefühl, ich bin bei nem guten OTHaus, aber dafür fahrʼ ich auch zweihundertfünfzig Kilometer von hier aus (7).«
Auch bei den verschiedenen Selbsthilfegruppentreffen von Prothesenträgern, die ich im Verlauf meiner Forschung besucht habe, war eines der dominierenden Themen der Austausch über geeignete Orthopädietechniker. Dabei besteht in rechtlicher Hinsicht für Menschen mit Beinamputation nach §9 SGB IX grundsätzlich die Möglichkeit, den Orthopädietechniker beispielsweise nach der interimsprothetischen Versorgung zu wechseln, allerdings nur, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht schon mit der prothetischen Folgeversorgung, das heißt mit der Anpassung einer ersten Definitivprothese begonnen wurde.29 Das Orthopädietechnikzentrum, in dem ich meine Feldforschung durchgeführt habe, liegt etwas außerhalb einer deutschen Großstadt, es ist jedoch gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto zu erreichen. Zum Haupteingang führt eine Treppe mit sieben Stufen hinauf, was für viele Prothesenträger bereits ein erstes Hindernis darstellen kann, allerdings wird die Treppe von den Mitarbeitern des Orthopädietechnikzentrums gerne zu Gehübungen genutzt, wie ich im Verlauf meiner Feldforschung beobachten konnte. Im Eingangsbereich des
29 Vgl. Homepage des BMAB, http://bmab.de/informationen/der-weg-zur-prothese/ (Stand: 12.05.16).
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Orthopädietechnikbetriebes, der direkt in den Wartebereich übergeht, befindet sich eine große Anmeldetheke, dieser gegenüber ist ein leicht erhöhtes Podest angebracht, auf dem ein ›Rollstuhl-Fahrrad‹ ausgestellt wird. Große Fenster machen den Eingangs- und Wartebereich hell. An das Podest schließen sich Toilettenräume und eine Teeküche an. Es folgen Regale mit Informationsmaterial sowie eine größere Wartebank, die von einer Tür mit der Aufschrift ›Modellabnahme‹ unterbrochen wird. Gegenüber der Wartebank befinden sich ein weiterer, kleinerer Wartebereich mit Spielsachen für Kinder, drei Umkleidekabinen mit Vorhängen und zwei Anprobezimmer. Hinter den Umkleidekabinen gibt es einen längeren Gang mit großem Spiegel, der zum Probelaufen mit Prothese gedacht ist. An der Wand im Wartebereich hängen verschiedene Werbeplakate über Prothesenpassteile, in einer Glasvitrine sind mehrere orthopädische Schuhmodelle ausgestellt, teilweise auch im Sneakers-Design. Sämtliche Räumlichkeiten des Orthopädietechnikzentrums sind mit grünlich-türkisem Laminatboden ausgelegt, daneben dominieren die Farben Weiß und Grau. Zentraler Ansprechpartner während meiner Feldforschungszeit war der Orthopädietechnikermeister Karl Bergmann. Ihn und seine Kollegen Michael Huber, Frederik Kühne, Herrn Eberle 30 sowie den selbst unterschenkelamputierten Orthopädietechniker Matthias Baier konnte ich bei ihren verschiedenen Aktivitäten als Prothetiker begleiten. Während meines mehrwöchigen Aufenthaltes kamen zudem pro Tag zwischen ein und drei Prothesenträger ins Orthopädietechnikzentrum, von denen ich manche bereits über die verschiedenen, von mir besuchten Selbsthilfegruppen kannte, andere wiederum habe ich dort neu kennengelernt. Wie ich dabei während meiner Feldforschung beobachten konnte, spielt sich das Hauptgeschehen des Orthopädietechnikzentrums vor allem im Wartebereich ab. Dort finden bereits erste Gespräche zwischen Orthopädietechniker und Prothesen- bzw. Orthesenträger statt, zudem werden die Anpassungen der verschiedenen medizinischen und medizintechnischen Hilfsmittel oftmals direkt im Wartebereich durchgeführt, weshalb die betreffenden Personen häufig nur mit Unterwäsche bekleidet neben den anderen Wartenden sitzen oder vor deren Augen im Wartebereich auf- und abgehen müssen, um die Passform von Prothesen, Bandagen oder Orthesen austesten zu können. Diese partielle Nacktheit scheint für die verschiedenen Besucher des Orthopädietechnikzentrums bzw. für meine Forschungsteilnehmer allerdings kein Problem darzustellen, sondern vielmehr wird diese und das mit Prothesen- bzw. Orthesenanpassungen verbundene Ab-
30 Ich verwende hier bewusst keinen Vornamen, da Herr Eberle von seinen Kollegen während meiner Feldforschung im Orthopädietechnikzentrum ebenfalls ausschließlich in dieser Form angesprochen wurde.
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tasten von Beinmuskulatur, Hautbeschaffenheit des Beinstumpfes etc. teilweise bis in den Schrittbereich hinauf als Selbstverständlichkeit akzeptiert. Ähnliche Beobachtungen hat auch die Ethnologin Christine Holmberg während ihrer Feldforschung auf einer klinischen Station für Frauen mit Brustkrebs in Deutschland gemacht, das heißt auch dort wird von den betreffenden Frauen Nacktheit zu Untersuchungszwecken wie selbstverständlich zur Schau gestellt, was zugleich aber auch vom Klinikpersonal erwartet wird. Die Klinik bezeichnet Holmberg dabei als ›intimen Ort‹, weshalb nicht immer extra Räume zur Verfügung gestellt werden für noch größere Intimität.31 Auch das Orthopädietechnikzentrum kann in diesem Sinne als ›intimer Ort‹ bezeichnet werden, wobei zwischen den meisten Orthopädietechnikern und Orthesen- bzw. Prothesenträgern ein sehr vertrautes Verhältnis besteht, wie ich beobachten konnte, zumal sich diese häufig bereits seit mehreren Jahren kennen und daher einen eher freundschaftlichen Umgang miteinander pflegen. Es werden oft Scherze untereinander gemacht und die Mitarbeiter des Orthopädietechnikzentrums erklären den verschiedenen Personen, die zu ihnen kommen, sehr einfühlsam und ohne die Verwendung komplizierter medizinischer oder orthopädietechnischer Fachbegriffe die verschiedenen Anwendungen, Passteile etc. Saskia Eibich sagt über das Verhältnis zu ihrem Orthopädietechniker beispielsweise: »Wir haben einen sehr guten Austausch, […] also wir haben ne sehr intensive Zeit und auch ne sehr körpernahe Zeit. Es wird ja auch äh viel am Körper auch ähm hantiert, getestet ähm (.), ja, nachgetastet, wo was liegt und das sind halt schon auch sehr intime Stellen, wo auch die Prothese endet […]. Es isʼ sehr vertraut, also ich bin mit meinem Mechaniker wirklich sehr vertraut und ähm er weiß auch mittlerweile, was ich spürʼ und was ich nicht spürʼ. […] was für mich heutʼ schon ein großes Drama wird, wenn der mal nicht mehr arbeitet, […].«
Auch von den verschiedenen Orthopädietechnikern, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung gesprochen habe, wurde in diesem Zusammenhang immer wieder die soziale Komponente ihres Berufes betont, denn so geht es nach Aussage von Karl Bergmann nicht nur um das bloße Bereitstellen bzw. Anfertigen von medizintechnischen Hilfsmitteln wie Prothesen oder Orthesen, sondern eine bedeutende Rolle spielt auch, sich in die jeweilige Person hineinzuversetzen und deren Bedürfnisse zu ermitteln, weshalb »[...] ein ganz ein wichtiger Faktor [ist], dass es Vertrauensverhältnis zum Orthopädietechniker da ist.« Ähnlich äußert
31 Vgl. Holmberg, Christine: Diagnose Brustkrebs. Eine ethnografische Studie über Krankheit und Krankheitserleben. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2005, S.47.
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sich Karl Bergmanns Kollege, der 30-jährige Prothetiker Frederik Kühne, der meint, dass er teilweise beinahe schon psychologische Arbeit leistet, »[...] weil die Situation von der Psyche her natürlich für die Menschen sehr schwierig isʼ, wenn ich eine Gliedmaße verliere [...], seiʼs [...] wie andere Menschen mit dir umgehen ›Äh die hat ja eh nur einen Arm‹ oder ›Die hat ja eh nur ein Bein‹, die soziale Komponente, äh ›Bin ich jetzt noch vollwertig?‹, also ›Kann ich meinen Beruf ausüben?‹, Existenzängste. Also man hat da schon Einiges zu bewältigen und man muss manchmal auch sehr sehr feinfühlig und taktil auch an [...] die Sache dran gehen, [...].«
Wichtig ist es Frederik Kühne daher vor allem, »[…] den Mensch [sic] zu behandeln, so wie er isʼ. Den Mensch [sic] abzuholen an der Situation, die er hat. Ihm versuchen das Gefühl [zu geben], dass man ihm helfen möchte, dass man ihm einfach sagen kann ›Ich kann Ihnen […] anbiete[n], ähm mit mir zu arbeiten, […] dass Sie […] wieder einigermaßen ins Leben so zurückfinden, dass Sie Ihren Alltag bewältigen können‹. Weil der ALLtag isʼ das, was eigentlich […] das Schwierige isʼ. Also, den Alltag zu bewältigen als Prothesenträger […].«
Wie an diesen Aussagen von Frederik Kühne und Karl Bergmann deutlich wird, können Orthopädietechniker somit buchstäblich als wichtige ›Alltagshelfer‹ von Prothesenträgern verstanden werden, indem sie diesen nicht nur eine möglichst bequem sitzende Prothese anpassen, sondern sich mit ihnen ebenso über psychische und soziale Probleme austauschen, mit denen Menschen nach einer Beinamputation oftmals konfrontiert werden, seien dies berufliche bzw. private Existenzängste oder negative Reaktionen außenstehender Personen ihnen gegenüber im Hinblick auf ihren durch die Amputation und das Tragen von Prothesen veränderten Körper. Ähnliche Beobachtungen hat auch Steven Kurzman gemacht, der betont, dass »[a]mputees often use the fit and alignment of the prosthesis as an idiom through which to address issues of loss, disruption, body image, physical function, and their standing vis a vis cultural values of abledness, selfreliance, and independence.«32 Wie mir in diesem Zusammenhang zudem aufgefallen ist, wurde – anders als in der Rehaklinik – der Begriff ›Patient‹ von den verschiedenen Orthopädietechnikern in der Regel nicht verwendet, stattdessen sprachen sie meist von ›Kunde‹ oder ›Anwender‹. Darauf angesprochen wurde mir erklärt, dass der Begriff ›Patient‹ gerade deshalb bewusst nicht verwendet wird, da dieser in erster Linie und in einem eher negativen Sinne ›kranksein‹
32 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.97/98.
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bzw. ›Krankheit‹ suggeriere, was auf Prothesenträger aber nicht unbedingt zutreffe, denn wenn jemandem beispielsweise aufgrund eines Unfalls ein Bein amputiert werden musste, dann sei diese Person nicht krank im ›klassischen‹ medizinischen Sinne. Auch das Thema Behinderung und damit verbundene gesellschaftliche Bewertungen von Menschen und deren äußerer körperlichen Erscheinung wurde von den verschiedenen Orthopädietechnikern, mit denen ich gesprochen habe, sehr reflektiert behandelt und oftmals auch kritisch hinterfragt. So meint der selbst unterschenkelamputierte Prothetiker Matthias Baier beispielsweise »[…] so Heidi Klum like. So muss man ausschauen und alles, was daneben ist, da fühlt man sich verunsichert und ich glaube, dass die ganze Menschheit im Moment ganz schön […] auf ähm (.) ja Komplettheit aus ist [...]« und sein Kollege Michael Huber betont, »[...] ICH SEHE ja den Menschen jetzt auch nicht als beHINdert, wenn der da sitzt. [...] ich habe auch kein MITLEID mit den Leuten oder sowas, also es IST halt so. Ich meine, das ist mein TÄGlicher Job, das ist ja für mich nix Neues, wenn da Leute mit einem oder [...] keinem Bein sitzen (..).« Auch Steven Kurzmann, der im Rahmen seiner Forschungen ebenfalls wieder ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt in diesem Zusammenhang, dass »[a] part of the somatic culture of prosthetics shops is a sense that amputation is not difference but simply the way things are: the loss of a limb becomes completely normalized.«33 Die orthopädietechnische Anpassung von Beinprothesen gestaltet sich dabei insgesamt als komplexer und langwieriger Prozess, der meist mehrere Stunden dauert und sich in der Regel über mehrere Tage, Wochen oder sogar Monate erstreckt. Die Hauptschwierigkeit für Orthopädietechniker besteht vor allem darin, handwerklich einen ›gut‹ sitzenden Prothesenschaft anzufertigen, an dem dann die übrigen, industriell gefertigten Passteile wie Prothesenkniegelenke, Wadenteile, Prothesenfüße etc. angebracht werden können, die von Prothesenbaufirmen wie beispielsweise Ottobock oder Össur stammen. Wie ich bereits in Kapitel 3 beschrieben habe, stellt der Schaft die eigentliche Schnittstelle zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt dar, weshalb eine gute Schaftpassform eine wesentliche Voraussetzung für die (erfolgreiche) körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments ist. Die ›optimale‹ Schaftund damit auch Prothesenpassform muss jedoch in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Orthopädietechniker, Prothesenträger und Prothese erst als solche hergestellt bzw. ausgehandelt werden. Den Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung verstehe ich in Anlehnung an Myriam Winance des-
33 Ebd., S.98.
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halb vor allem als shared work und empirical tinkering, »[...] dispersed in a collective of humans and non-humans [...]«34, wobei die verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanden sowohl materiell-körperlich, leiblich als auch sinnlich miteinander interagieren wie ich noch genauer aufzeigen werde. Das Orthopädietechnikzentrum, in dem ich meine Feldforschung durchgeführt habe, kann darüber hinaus grundsätzlich als regelrechtes Sammelsurium an Sinnesreizen verstanden werden. So waren während meiner Forschungszeit im Wartebereich den ganzen Tag über dumpfe Hämmer-, Bohr- und Schleifgeräusche aus dem Werkstattraum zu hören, der sich im hinteren Teil des Gebäudes befindet, Geruch nach Klebstoff lag in der Luft, zudem waren auf dem grünlichtürkisen Boden und insbesondere an den Händen der verschiedenen, meist ganz in Weiß gekleideten Orthopädietechniker Reste von Gips zu sehen, was auf deren vornehmlich handwerkliche Tätigkeit und damit verbunden auf die zentrale Bedeutung des Haptisch-Taktilen in der orthopädietechnischen Praxis verweist (siehe Kapitel 5.3.2). Der 68-jährige Oberschenkelprothesenträger Fabian Rudloff, der bereits seit über vierzig Jahren beinamputiert und ein Kunde von Karl Bergmann ist, beschreibt diese sinnlichen Eindrücke im Orthopädietechnikzentrum auch Folgendermaßen, er sagt: »Das Abmessen, Gipsen und vor allem der Geruch, das Auf- und Abgehen ist immer noch das Gleiche in all den Jahren. Vor allem früher ist das eine Flut an Reizen gewesen. Ich erinnere mich noch an den Geruch nach ›alten Männern‹, früher waren ja noch viele Kriegsversehrte beim Orthopädietechniker.« Interessant an dieser Aussage von Fabian Rudloff ist dabei vor allem der von ihm angesprochene ›Geruch nach alten Männern‹, der auf eine kulturspezifisch geprägte sinnliche Wahrnehmung verweist, da sich in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg das Hauptklientel der meisten Orthopädietechnikwerkstätten in Deutschland vor allem aus (männlichen) Kriegsversehrten der beiden Weltkriege zusammensetzte. Heute sind Kriegsversehrte aus den Orthopädietechnikbetrieben dagegen weitgehend verschwunden, stattdessen waren während meiner Feldforschungsphase hauptsächlich Eltern mit ihren Kindern, die mit Bandagen, Schuheinlagen oder Orthesen versorgt wurden im Orthopädietechnikzentrum sowie in deutlich geringerem Umfang Prothesenträger verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Amputationsursachen. Bevor ich nun genauer auf die einzelnen Schritte der orthopädietechnischen Prothesenanpassung eingehe, soll zunächst jedoch ein kurzer Blick auf die der-
34 Winance, Myriam: Care and disability. Practices of experimenting, tinkering with, and arranging people and technical aids, in: Mol, Annemarie/Pols, Jeannette/Moser, Ingunn (Hg.): Care in practice. On tinkering in Clinics, Homes and Farms. Bielefeld: transcript 2010, S.93-117, hier: S.95.
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zeitigen technischen Möglichkeiten im Bereich der beinprothetischen Versorgung in Deutschland geworfen und damit verbunden erörtert werden, wer überhaupt Anspruch auf welches Prothesenmodell hat, zumal Orthopädietechniker bei der Zusammenstellung von (Definitiv-)Prothesen heutzutage aus einer Vielzahl an industriell gefertigten Passteilen und Materialien wählen können, die kaum mehr zu überblicken ist. 5.3.1 Aktuelle Rahmenbedinungen und Möglichkeiten der beinprothetischen Versorgung in Deutschland Zum Standard in der beinprothetischen Versorgung zählen in Deutschland heutzutage Beinprothesen in sogenannter Modular-Bauweise.35 Modular bedeutet, dass die einzelnen Prothesenbestandteile, also Prothesenfuß, Kniegelenk und Prothesenschaft durch Spezial-Adapter miteinander verbunden sind, wodurch diese flexibel ausgetauscht und durch ein justierbares Verbindungselement statische Korrekturen vorgenommen werden können. Materialien, die beim Bau von Prothesen in diesem Zusammenhang zudem hauptsächlich zum Einsatz kommen, umfassen ›klassische‹ Werkstoffe wie Holz, Metall oder Leder, Kunststoffe wie Polyurethan, Gießharz und Silikon sowie Leichtmetalle wie Titan- und Carbonfasern.36 Die einzelnen, auf dem Markt erhältlichen Prothesenpassteile werden in Deutschland dabei im sogenannten Hilfsmittelverzeichnis aufgelistet, das vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherer (GKV) erstellt und ständig aktualisiert wird.37 Das Hilfsmittelverzeichnis liefert umfassende Informationen über die Art und Qualität der auf dem Markt verfügbaren Produkte und klärt über die damit verbundene Leistungspflicht der jeweiligen Kostenträger (Krankenkasse, Unfall- oder Rentenversicherung etc.) auf. Laut Angaben des GKVSpitzenverbandes ist in Deutschland die Kostenübernahme für medizinische Hilfsmittel, zu denen Beinprothesen gezählt werden, durch die einzelnen Kostenträger nur möglich, wenn die Produkte im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind.38 Darüber hinaus muss jede prothetische Neuversorgung zunächst vom behan-
35 Vgl. R. Baumgartner/P. Botta: Amputation und Prothesenversorgung, S.128/129. 36 Ebd., S.134/135. 37 Vgl. Homepage des GKV-Spitzenverbandes, http://www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/hilfsmittel/hilfsmittelverzeichnis/hilfsmittelverzeichnis.jsp (Stand: 26.11.14). 38 Vgl. European Manufacturers Federation for Compression Therapy and Orthopaedic Devices (eurocom) (Hg.): Von der Herstellung bis zum Patienten – der Weg der Zulassung von medizinischen Hilfsmitteln. Positionspapier der eurocom e.V. 2013, S.2.
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delnden Hausarzt per Rezept verordnet werden, wobei auf dem Rezept bereits möglichst genau die einzelnen Prothesenpassteile, die für die jeweilige Person in Frage kommen, angegeben werden sollten.39 Während Beinprothesen für Menschen mit Unterschenkelamputation in ihren Bewegungsabläufen dabei nach wie vor rein mechanisch gesteuert sind, das heißt komplett aus eigener Muskelkraft bewegt werden müssen, besteht für Personen mit Knieex-, Oberschenkel- oder Hüftexamputation seit den 1990er Jahren auch die Möglichkeit, mit mikroprozessorgesteuerten, sogenannten ›intelligenten‹ Beinprothesensystemen versorgt zu werden. 1997 wurde mit dem C-Leg von Ottobock die weltweit erste mikroprozessorgesteuerte Beinprothese auf dem Markt eingeführt, die laut FirmenHomepage eine »neue Dimension des Gehens«40 einläuten sollte. C-Leg steht für computerized leg, also computerisiertes Bein, wobei dieser Name nach Ansicht der Soziologin Corinna Jung, die sich in einem Aufsatz im Rahmen einer technografischen Analyse mit dem C-Leg auseinandersetzt, bereits darauf verweist, was das Herstellerunternehmen mit dieser Konstruktion erreichen will: ein Bein und keine Prothese.41 Der Name C-Leg deutet somit an, dass Mensch und Medizintechnik idealerweise miteinander verschmelzen sollen, wobei das medizintechnische Artefakt aufgrund der eingebauten Elektronik seinem biologischen Vorbild, dem menschlichen Bein, in der Funktionsweise so nahe wie möglich kommen soll.42 Beim C-Leg handelt es sich um ein elektronisches Kniegelenksystem mit hydraulischer Stand- und Schwungphasensicherung. Es kostet 25.000 Euro43 und besteht aus insgesamt 500 Einzelteilen, die zusammen etwa 1,3 kg wiegen, wobei das elektronische Kniegelenk durch ein komplexes Sensorsystem
39 Vgl. S. Mnich: Prothesenversorgung, S.28. 40 Vgl. Homepage Ottobock, http://www.ottobock-group.com/de/historie/ (Stand: 01.12. 14). 41 Vgl. Jung, Corinna: Die Erweiterung der Mensch-Prothesen-Konstellation. Eine technografische Analyse zur ›intelligenten‹ Beinprothese. Working Paper Technische Universität Berlin 2004, S.14. Online unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/ handle/document/1175/ssoar-2004-jung-die_erweiterung_der_mensch-prothesen-konstellation.pdf?sequence=1 (Stand: 01.12.14). 42 Auf die enge intime bzw. emotionale Beziehung, die Prothesenträger mit ihrer Prothese im besten Fall eingehen sollen, verweisen unter anderem auch verschiedene Slogans wie ›Mensch und Technik: Eine Partnerschaft‹, mit denen das C-Leg von Ottobock beworben wird. Vgl. u.a. Ottobock (Hg.): Broschüre »C-Leg Produktilinie. Information für Anwender«, ohne Datierung, S.6. 43 Mechanisch gesteuerte Oberschenkel- bzw. Unterschenkelprothesen sind demgegenüber mit einem Preis von etwa 6.000 bis 10.000 Euro vergleichsweise ›billig‹.
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gesteuert wird, das in Echtzeit Daten erfasst und erkennt, in welcher Schrittphase sich Prothesenträger gerade befinden. Auf diese Weise passt sich das C-Leg automatisch an unterschiedliche Gehgeschwindigkeiten an, es bremst in unsicheren Situationen automatisch ab und ermöglicht das Bewältigen von Schrägen sowie alternierendes Treppabgehen, also Treppabgehen im Wechselschritt.44 Mittels sich anpassender Standphasenwiderstände sind zudem kleine Hindernisse wie unübersichtliches Gelände oder dichtes Gedränge für die betreffenden Personen überwindbar, ohne dass diese sich beim Laufen ständig auf ihre Prothese konzentrieren müssen, das heißt angestrebt wird mit dem C-Leg ein weitgehendes ›Vergessen‹ der Prothese, diese soll im Sinne der von Don Ihde beschriebenen embodiment relations ›transparent‹ werden und sich der direkten Aufmerksamkeit entziehen.45 Durch die eingebaute Elektronik soll Menschen mit Knieex-, Hüftex- bzw. Oberschenkelamputation im Vergleich zu mechanisch gesteuerten Beinprothesen dabei insbesondere ein höheres Maß an Sicherheit geboten und der Körper insgesamt entlastet werden, indem mittels eines integrierten Stolperschutzes und einer kontrollierten Stand- bzw. Schwungphase automatisch die Sturzgefahr vermindert wird. Das C-Leg verfügt darüber hinaus über drei unterschiedliche Modi, die beispielsweise das Ausüben von Aktivtäten wie Fahrradfahren, Eislaufen, Inline-Skating oder Skilanglauf ermöglichen sollen.46 Damit die eingebaute Elektronik allerdings reibungslos funktioniert, muss der Akku des C-Leg täglich über Nacht per Ladekabel an einer Steckdose aufgeladen werden. Ein Anschluss für das Ladekabel befindet sich dabei auf der Vorderseite des Kniegelenks. Angepasst werden darf das mikroprozessorgesteuerte Prothesensystem zudem ausschließlich von Orthopädietechnikern, die zuvor ein umfassendes Seminar sowie einen von Ottobock begleiteten Zertifizierungsprozess absolviert haben. Zur Anpassung und individuellen Einstellung des C-Leg ist dabei eine spezielle Software namens C-Soft sowie die kabellose Einstellhilfe BionicLink erforderlich, wobei Ottobock mit Letzterer die Bluetooth-Technologie in der Beinprothetik eingeführt hat.47 Mittlerweile liegt das C-Leg, mit dem laut Ottobock seit 1997 weltweit über 60.000 Personen versorgt wurden, in der vierten Generation vor (C-Leg 4), daneben sind in den vergangenen Jahren verschiedene Weiterentwicklungen der mikroprozessorgesteuerten Beinprothese entstanden, wie beispielsweise das Genium (2011), das Genium X3 (2014) sowie das C-Leg
44 Vgl. Ottobock (Hg.): Broschüre »C-Leg Produktlinie. Information für den Fachhandel«, ohne Datierung. 45 Vgl. auch C. Jung: Die Erweiterung der Mensch-Prothesen-Konstellation, S.14. 46 Vgl. Ottobock: Broschüre C-Leg Fachhandel. 47 Ebd.
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compact (2004) oder das Kenevo (2015), die alle ähnlich aufgebaut sind wie das C-Leg, in ihrer Funktionalität aber nochmals verfeinert bzw. optimiert wurden.48 Wie mir dabei von den verschiedenen Orthopädietechnikern, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung gesprochen habe beschrieben wurde, gilt vor allem das Genium-Prothesensystem in orthopädietechnischen Fachkreisen als das weltweit leistungsfähigste und modernste Beinprothesensystem, das derzeit auf dem internationalen Markt erhältlich ist, wobei es mit einem Verkaufspreis von knapp 50.000 Euro nochmals deutlich teurer ist als das C-Leg. Als zentrale Weiterentwicklungen des Genium gegenüber dem C-Leg werden in der entsprechenden Produktbroschüre unter anderem genannt, dass mit diesem mikroprozessorgesteuerten Prothesensystem nicht nur alternierendes Treppab-, sondern auch Treppaufgehen sowie Gehen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Schrittlängen oder auch Rückwärtslaufen möglich sind, wobei den betreffenden Personen durch die optimierte Elektronik insbesondere ein noch höheres Maß an Sicherheit geboten werden soll.49 Das Genium verfügt zudem über eine längere Akkudauer von fünf Tagen und kann über Induktion aufgeladen werden. 2014 wurde das elektronische Beinprothesensystem schließlich in der wasserfesten und korrosionsbeständigen Version als Genium X3 auf dem internationalen Markt eingeführt. Das Genium X3 soll es Beinprothesenträgern möglich machen, beim Baden, Duschen oder Schwimmen nicht mehr auf eine Badeprothese zurückgreifen zu müssen, was bisher erforderlich war, da die verschiedenen, auf dem Markt angebotenen Prothesenmodelle – egal ob mechanisch oder elektronisch gesteuert – in der Regel nicht wasserfest bzw. korrosionsbeständig sind.50 Das Genium X3 besitzt zudem einen integrierten Running-Modus, der für sportliche Aktivitäten wie beispielsweise Joggen oder Rennen entwickelt wurde, was bislang ebenfalls ausschließlich mit speziellen Sportprothesen möglich war.51
48 Vgl. Homepage Ottobock, http://www.ottobock.de/cleg.html (Stand: 06.07.16). 49 Vgl. Ottobock (Hg.): Broschüre »Genium – Information für Anwender«, ohne Datierung, S.5. 50 Von Ottobock werden unter der Produktlinie ›Aqualine‹ entsprechende Badeprothesen angeboten, die allerdings rein mechnisch gesteuert und zur besseren Sicherheit mit rutschfesten Prothesenfüßen ausgestattet sind. Vgl. Homepage Ottobock, http://www. ottobock.de/prothetik/beinprothetik/systemuebersicht/aqualine/ (Stand: 08.09.16). 51 Mit den meisten Beinprothesen ̶ einschließich C-Leg und Genium ̶ kann beim Gehen eine Maximalgeschwindigkeit von 5 bis 8 km/h erreicht werden, mit dem Genium X3 dagegen ist eine Maximalgeschwindigkeit von bis zu 15 km/h möglich. Das Genium X3 wurde dabei unter finanzieller Mitwirkung des US-Militärs entwickelt, was auf
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Von Ottobock wird die Genium-Produktlinie dabei als Bionic Prosthetic System angepriesen, also als bionisches Beinprothesensystem, wodurch wieder ähnlich wie beim C-Leg das von Ottobock angestrebte Ziel deutlich wird, mit seinen Prothesenkonstruktionen in funktionaler Hinsicht möglichst nahe an das biologische Vorbild, das menschliche Bein, heranzukommen. Der Begriff Bionik setzt sich aus Biologie und Technik zusammen und stellt ein Forschungsfeld dar, das versucht, Phänomene aus der ›Natur‹ bzw. Biologie auf technische Entwicklungen zu übertragen.52 Dementsprechend soll mittels des Genium bzw. Genium X3 der ›natürliche Gang‹ des Menschen ›technologisch nachgebildet‹ werden, wie auf der Firmen-Homepage zu lesen ist, denn »[...] die bestmögliche Art des Gehens ist die Natürliche, Physiologische. Genau diesen Gang können Sie mit dem Genium fast identisch nachbilden, Phase für Phase. Egal auf welchem Untergrund, egal in welcher Geschwindigkeit.«53 Mit ›natürlichem‹, ›physiologischem‹ Gang ist in diesem Fall ein nach biomechanischen Kriterien definierter Gang gemeint, der sich in unterschiedliche Schwung- bzw. Standphasen sowie Be- und Entlastungssequenzen einteilen lässt, die wiederum mit unterschiedlicher Fußstreckung, Kniebeugung oder Beckenkippung einhergehen. Biomechanische Ganganalysen spielen bei der Entwicklung von Beinprothesen grundsätzlich eine bedeutende Rolle, denn um überhaupt Prothesen entwickeln zu können, die in funktionaler Hinsicht tatsächlich bzw. annähernd wie ein menschliches Bein funktionieren, muss bekannt sein, was beim Gehen, Laufen oder Rennen etc. mit dem menschlichen Körper passiert. Erste wissenschaftliche Ganganalysen wurden bereits im frühen 19. Jahrhundert durch die Brüder Wilhelm und Eduard Weber in ihrem Werk »Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge« (1836) angestellt, im Zusammenhang mit der großen Anzahl an Kriegsversehrten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden dann schließlich in den USA und Europa spezielle Ganglabore, in denen die verschiedenen menschlichen Bewegungsabläufe mittels Videoaufnahmen, Sensormessungen etc. seither genau erforscht werden.54 Ziel dieser Ganganalysen ist es, Beinprothesen in ihrer Funktionsweise
die nach wie vor bestehende, enge Verbindung zwischen Prothesenbauindustrie und Militär verweist. 52 Vgl. Homepage Internationales Bionik-Zentrum, http://www.bionik-zentrum.de/ default.asp?navA=home&navID=1&editable=1 (Stand: 01.12.14). 53 Vgl. Homepage Ottobock, http://www.ottobock.de/prothetik/beinprothetik/systemuebersicht/genium-beinprothesensystem/ (Stand: 02.12.14). 54 Vgl. R. Baumgartner/P. Botta: Amputation und Prothesenversorgung, S.183; Weber, Wilhelm/Weber, Eduard: Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung. Göttingen: Dieterich 1836.
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so zu konstruieren, dass mit diesen ein möglichst energie- und kraftsparendes Gehen möglich ist, denn wie René Baumgartner und Pierre Botta in ihrem Grundlagenwerk zu Amputation und Prothesenversorgung schreiben, erfordert das Gehen mit einer Unterschenkelprothese im Vergleich zum Gehen als NichtProthesenträger aufgrund der eingeschränkten Muskelkraft bereits einen Mehraufwand an Energie von 50 Prozent, mit einer Oberschenkelprothese sogar von 100 Prozent.55 Mit ›natürlichem‹, ›physiologischem‹ Gang ist allerdings nicht nur ein möglichst energiesparender, nach biomechanischen Kriterien definierter Gang gemeint, sondern vor allem auch der aufrechte Gang, der von Ottobock als zentrales, evolutionär bedingtes Kennzeichen von Mensch-Sein schlechthin beschrieben wird. So ist unter anderem auf der von Ottobock betriebenen Homepage »www.gehen-mit-prothese.de« zu lesen: »Der aufrechte Gang ist ein wesentliches Merkmal, das den Mensch [sic] von anderen Lebewesen unterscheidet. Über Jahrmillionen hinweg entwickelte sich ein gekonntes Zusammenspiel von Knochen, Muskeln, Sehnen und Nerven zu fein abgestimmten, harmonischen Bewegungsabläufen. Sie legten die Basis des menschlichen Fortschritts: Da die Hände nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden, waren sie frei für anderes. Beispielsweise um Werkzeuge zu schaffen und zu gebrauchen. Und der Mensch ging seinen Weg. Und das tut er noch heute. Jeder einzelne. Und zwar im eigentlichen, als auch im übertragenen Sinne: Der Mensch ist frei in seinen Entscheidungen. Er beschreitet seinen individuellen Lebensweg, stellt sich Herausforderungen, trifft Entscheidungen, macht Erfahrungen. Dass das Leben nicht immer vorhersehbar ist, ist auch eine Erfahrung, die jeder Mensch schon einmal gemacht hat. Und gerade dann ist es wichtig, das Beste daraus zu machen.«56
Der aufrechte Gang des Menschen wird hier direkt in Verbindung gebracht mit ›menschlichem Fortschritt‹, ›Werkzeuge schaffen‹, ›die Hände frei haben‹, ›seinen eigenen Weg gehen‹, ›frei in seinen Entscheidungen sein‹ etc. und erinnert fast schon an das Jargon der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als unter anderem Philosophen wie Immanuel Kant oder Johann Gottfried Herder den Menschen als vernunftbegabtes Wesen postulierten, das sich durch seine geistige Freiheit und seine Schaffenskraft von anderen Lebewesen abhebt. Gleichzeitig wird damit verbunden in gewisser Weise aber auch suggeriert, dass ein weniger aufrechter oder humpelnder Gang dementsprechend von weniger
55 R. Baumgartner/P. Botta: Amputation und Prothesenversorgung, S.189. 56 Vgl. Homepage Ottobock »Gehen mit Prothese«, http://www.gehen-mit-prothese.de/ (Stand: 02.12.14).
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Mensch-Sein im Sinne von able-bodiedness zeugt. Steven Kurzman schreibt in diesem Zusammenhang auch, »[w]e place an enormous amount of social significance and value judgment upon ourselves and others according to how we walk […]. […] On a level of social meaning, the way in which somebody walks is seen as a reflection of their confidence and ability.«57 Mittels ›bionischen‹ Beinprothesen wie dem Genium bzw. Genium X3 soll daher letztlich nicht nur der aufrechte, physiologische und damit (vermeintlich) ›natürliche‹ Gang des Menschen nach einer Beinamputation rekultiviert werden, sondern vielmehr geht es damit verbunden auch um die medizintechnische Transformation von impairment-disability in able-bodiedness bzw. abledness, das heißt die betreffenden Personen sollen auf diese Weise nach der Amputation wieder als ›vollwertige‹ (kompetente) Gesellschaftsmitglieder sozial (re-)integriert werden und im wörtlichen Sinne ihren eigenen Weg frei und aufrecht gehen. Neben Ottobock haben dabei auch andere Prothesenbaufirmen in den vergangenen Jahren kontinuierlich neue mikroprozessorgesteuerte bzw. als bionisch deklarierte Beinprothesenmodelle auf den Markt gebracht, exemplarisch zu nennen sind hier das my.leg Echelon des britischen Herstellers Blatchford, dessen Firmen-Niederlassungen in Deutschland unter dem Namen Endolite geführt werden, oder das Rheo Knee von Össur. 2005 wurde von Össur zudem das Power Knee der Weltöffentlichkeit präsentiert, bei dem es sich um das weltweit erste Beinprothesensystem mit eingebautem Elektro-Motor handelt und das für etwa 100.000 Euro erhältlich ist.58 Mikroprozessorgesteuerte Prothesen wie das C-Leg oder Genium sind zwar durch die eingebaute Sensorik in der Lage, für die Vorwärtsbewegung den Schwung beim Gehen zu nutzen, indem sie das Gelenk bremsen und freigeben, doch die Beinprothese wird dadurch nicht automatisch aktiv angehoben. Erst durch den Motorbetrieb des Power Knee wurde dies möglich gemacht.59 Das Power Knee wird dabei von Össur im Vergleich zu den elektronischen Prothesenmodellen von Ottobock noch offensichtlicher als ›intelligentes‹ Prothesensystem angepriesen, das als eigenständiger Akteur vorausschauend ›handelt‹ und somit aktiv mit dem jeweiligen Träger bzw. der jeweili-
57 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.154. 58 Vgl. Homepage Össur, http://www.ossur.de/prothetik/bionic-technology/power-knee (Stand: 06.07.16). 59 Vgl. Homepage Össur, http://www.ossur.de/Pages/16746 (Stand: 03.12.14); vgl. auch Von Richthofen, Dietrich: Mikroprozessor steuert Prothese. Mit künstlichem Knie Treppen steigen, in: Handelsblatt vom 29.08.2006, http://www.handelsblatt.com/technik/medizin/mikroprozessor-steuert-prothese-mit-kuenstlichem-knie-treppen-steigen/ 2699080.html (Stand: 15.12.15).
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gen Trägerin interagiert. Deutlich wird dies auch an einer entsprechenden Grafik über das Power Knee auf der Homepage des Prothesenherstellers, bei der das Prothesensystem direkt mit den Eigenschaften ›Wahrnehmen‹, ›Denken‹, ›Handeln‹ in Verbindung gebracht wird, das heißt mit Eigenschaften, die im Grunde lediglich Menschen zugesprochen werden.60 Wie mir allerdings von verschiedenen Orthopädietechnikern beschrieben wurde, ist das Power Knee aufgrund des integrierten Motors mit einem Gewicht von 2,7 kg verhältnismäßig schwer und beim Gehen relativ laut, weshalb es immer wieder vorkommt, dass Prothesenträger, die mit diesem Prothesensystem versorgt worden sind, nach einiger Zeit wieder auf andere, das heißt leichtere und auch leisere Prothesenmodelle umsteigen möchten. Darüber hinaus distanziert sich das Unternehmen Ottobock klar von Prothesen wie dem Power Knee, denn Ottobock folgt dem Prinzip »Der Anwender soll die Prothese bewegen und nicht die Prothese den Anwender« wie es ein Guide des von Ottobock in Berlin betriebenen Science Centers mir gegenüber während einer Besichtigung formuliert hat. 61
60 Vgl. hierzu Homepage Össur, http://www.ossur.de/prothetik/Bionic-Technologie/ POWER-KNEE/Technologie (Stand: 12.09.14). 61 Das Science Center wurde von Ottobock 2009 in Berlin direkt am Potsdamer Platz eröffent und sieht von außen ziemlich futuristisch aus. Bei der architektonischen Gestaltung sollen laut Unternehmens-Homepage (ähnlich wie bei den von Ottobock angebotenen bionischen Prothesen) Hightech und ›Natur‹ in harmonischer Weise zusammenfließen. So umspannen unter anderem organisch verformte weiße Fassadenbänder den abgerundeten Baukörper, was dem Vorbild menschlicher Muskelfasern nachempfunden ist. Das Gebäude wird in Zeitschriften etc. daher auch oft als ›Muskelhaus‹ bezeichnet. Auf insgesamt 450 Quadratmetern, die über drei Etagen verteilt sind, empfängt den Besucher im Inneren eine medial inszenierte Ausstellung zum Thema ›Bewegung und Mobilität‹. Das Science Center versteht sich in erster Linie als Ort der interaktiven Wissensvermittlung, es werden unter anderem die historische Entwicklungsgeschichte des deutschen Medizintechnikunternehmens dargestellt, als auch aktuelle Prothesenmodelle ausgestellt und in ihrer Funktionsweise erklärt, mithilfe eines Simulators kann von Besuchern darüber hinaus die Neurostimulation bei Menschen mit Schlaganfall simuliert warden. Das Science Center bildet somit letztlich auch eine optimale Werbeplattform für die von Ottobock angebotenen Produkte. Als Ergänzung zum Science Center soll zudem 2019 auf der ehemaligen Bützow Brauerei in Berlin ein Think-Tank von Ottobock eröffent werden, das sogenannte Future Lab. Dort sollen sich 200 Mitarbeiter in enger Zusammenarbeit mit der Berliner Start-Up-Szene Gedanken über zukünftige medizintechnische Entwicklungen machen. Siehe unter anderem auch Homepage Ottobock zu den Future Lab Plänen, http://www.ottobock.de/
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In Kombination mit den verschiedenen, hier beschriebenen Prothesenmodellen bzw. Kniegelenken werden von den unterschiedlichen Prothesenbaufirmen schließlich auch dazu passende Prothesenfüße angeboten, die ebenfalls entweder rein mechanisch oder mikroprozessorgesteuert sind und die vor allem ein möglichst kraft- und energiesparendes Laufen ermöglichen sollen. Erhältlich sind damit verbunden zudem unterschiedliche kosmetische Verkleidungen, die an der jeweiligen elektronisch bzw. mechanisch gesteuerten Beinprothese angebracht werden können. Neben sogenannten ›lebensnahen‹ Kosmetiken aus Schaumstoff oder Silikon, die in verschiedenen Hauttönen erhältlich sind und das medizintechnische Artefakt auch in optischer Hinsicht möglichst nah an das biologische Vorbild des menschlichen Beines heranrücken sollen, um den betreffenden Personen dadurch ein soziales Pasing als vollwertige bzw. unversehrte, nichtbehinderte Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten, lässt sich gegenwärtig zunehmend auch der Trend zu individuell-ausgefallenen Prothesendesigns beobachten. Die Prothese wird in diesem Zusammenhang nicht mehr länger unter hautfarbener Kosmetik bzw. langer Kleidung versteckt, sondern offen und selbstbewusst gezeigt, wobei durch ein ausgefallenes Design weniger der durch die Amputation vermeintlich bedingte körperliche Makel des ›Nicht-KomplettSeins‹ vertuscht, sondern vielmehr die Persönlichkeit und Individualität des Trägers bzw. der Trägerin unterstrichen werden soll.62 Der ›prothetisierte‹ Körper wird damit verbunden bewusst in seiner ›Andersheit‹ gezeigt und die auffällig gestaltete Prothese als Teil der eigenen Identität oder auch als Zugewinn an Prestige präsentiert. Vermittelt wird die Botschaft, dass ein Leben mit modernen bzw. individuell gestalteten Prothesen stolz und selbstbestimmt geführt werden kann und man sich nicht zu verstecken braucht.63 Wie Prof. Dr. Hans Georg Näder, geschäftsführender Gesellschafter von Ottobock, in diesem Zusammenhang in Interviews auch immer wieder betont, möchte das deutsche Medizintechnikunternehmen mit seinen Prothesenkonstruktionen und -designs grundsätzlich den gesellschaftlichen Blick auf Behinderung verändern und zwar weg von der
news_14464.html sowie zum Science Center, http://www.ottobock.com/de/sciencecenter/ (Stand: 10.07.16). 62 Vgl. Kramer, Michael: Prothesendesign – Im Spannungsfeld von Imitat und Blickfang, in: RehaTreff 4 (2013), S.41-43. 63 Ebd.; vgl. auch S. Kienitz: Prothesen-Körper; Nolte, Mathis/Gußmann, Elena: Tagungsbericht: Die Mobilisierung des Körpers. Prothetik seit dem Ersten Weltkrieg, 13.03.-14.03.2014 Dresden, in: H-Soz-Kult vom 15.05.2014, http://www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-5368 (Stand: 16.07.14).
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Mitleidsperspektive.64 Die von Ottobock oder auch Össur angebotenen Beinprothesenmodelle werden daher weniger als medizintechnische Hilfsmittel vermarktet, sondern eher als Lifestyle-Produkte präsentiert, die ein aktives, unabhängiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen sollen, was nicht zuletzt auch an den beiden Firmenmottos Quality for life (Ottobock) bzw. Life without limitations (Össur) deutlich wird. Die Werbeanzeigen der beiden Prothesenbaufirmen folgen in ihrem jeweiligen Aufbau dabei weitgehend einem ähnlichen Schema, denn so werden in den unterschiedlichen Produktbroschüren sowie auf den Firmenhomepages hauptsächlich aktive, vielseitig interessierte und meist auch sportliche Prothesenträger im Alter von Anfang 20 bis Ende 50 Jahren dargestellt, wobei zu jedem Prothesenmodell – egal ob mechanisch oder mikroprozessorgesteuert – verschiedene Anwendergeschichten präsentiert werden. Das heißt, jedes Prothesenmodell wird über einzelne Prothesenträger repräsentiert, die namentlich vorgestellt werden, in der jeweiligen Broschüre mittels eingeblendeter Zitate (scheinbar) direkt zu Wort kommen und dem Leser über ihre Amputationsgeschichte, ihre Hobbies, ihren Beruf, ihre Familie, kurz: über ihr aktives und ausgefülltes (Alltags-)Leben mit Prothese berichten, was zusätzlich auch noch durch entsprechende Abbildungen visuell unterstrichen wird.65 Was bei den verschiedenen Werbeanzeigen allerdings ebenfalls auffällt ist, dass Prothesenträger, die älter als 60 Jahre sind und damit der eigentliche Großteil von Menschen mit Beinamputation in Deutschland (und den USA bzw. Europa) eher selten dargestellt werden. Ähnliches hat auch Lucie Dalibert beobachtet, die in diesem Zusammenhang schreibt, dass »[t]he imaginary and imagery surrounding prosthetics tends to differ from the actual bodies that are fitted with prosthetics and are considerably older and less active. […], while elderly people represent the main market for prostheses […], elderly bodies tend to become invisibilised, especially as prostheses become more putatively ›high-tech‹, i.e. no longer uniquely based on mechanics but equipped with microprocessors.«66
64 Vgl. Viering, Jonas (2009): Stille Stützen (3). Weg vom Mitleid, in: DIE ZEIT vom 12.03.2009, http://www.zeit.de/2009/12/SE-Bock (Stand: 12.11.14). 65 Vgl. hierzu die einzelnen Produktbroschüren von Ottobock und Össur, die auf den jeweiligen Homepages zum Dowload zur Verfügung stehen. Eine umfassende Analyse von Werbeanzeigen der Prothesenbauindustrie sowohl in Deutschland als auch im internationalen Vergleich steht bislang noch aus und würde einer genaueren Betrachtung durchaus lohnen. 66 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.229.
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Wie jedoch grundsätzlich an den verschiedenen, hier beschriebenen Prothesenmodellen deutlich wird, besteht derzeit eine Vielzahl an Möglichkeiten in der beinprothetischen Versorgung. Die Auswahl des jeweiligen Prothesenmodells bzw. der einzelnen Passteile für die betreffende Person hängt dabei allerdings von unterschiedlichen Faktoren wie der Amputationsursache und -höhe, der Beschaffenheit des Beinstumpfes, der allgemeinen physisch-psychischen Konstitution und nicht zuletzt auch von der Unterstützung des jeweiligen Individuums durch sein näheres soziales Umfeld ab. Bevor daher nach der interimsprothetischen Versorgung mit der Anpassung einer (ersten) Definitivprothese begonnen werden kann, müssen Orthopädietechniker zunächst ermitteln, welche Passteile für die jeweilige Person überhaupt in Frage kommen. Wie ich in diesem Zusammenhang während meiner Feldforschung beobachten konnte, greifen Orthopädietechniker hierzu auf einen Profilerhebungsbogen des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) zurück, um ihre Kunden in verschiedene Aktivitätsklassen bzw. Mobilitätsgrade von 0 bis 4 einzuteilen, welche die Grundlage für die Wahl des Prothesentyps liefern. 67 So wurden ›intelligente‹ Prothesen wie das C-Leg, Genium (X3) oder Rheo Knee in erster Linie für aktive Prothesenträger mit einem Mobilitätsgrad von 3 oder 4 konzipiert, das Kenevo und C-Leg compact für weniger mobile und/oder ältere Prothesenträger mit einem Mobilitätsgrad von 1 oder 2. Um beispielsweise mit einem Genium X3 versorgt zu werden, ist zudem eine Körpergröße von mindestens 1,64 m erforderlich, damit die einzelnen Passteile überhaupt an das elektronische Kniegelenk angebracht werden können, was bedeutet, dass Personen mit Knieex- oder Oberschenkelamputation, die kleiner als 1,64 m sind, nicht für eine Versorgung mit dem Genium X3 in Frage kommen. Meine Forschungsteilnehmer waren nach ihrer Beinamputation somit zunächst spezifischen Klassifikationsprozessen ausgesetzt, bevor sie überhaupt mit einer für sie passenden (Definitiv-)Prothese versorgt werden konnten. Dabei wurden insbesondere ihre Körper auf unterschiedliche Art und Weise vermessen, getestet, mit anderen Körpern verglichen, dementsprechend in verschiedene Kategorien der Mobilität, Aktivität bzw. Leistungsfähigkeit eingeteilt und dadurch letztlich in eine hierarchische Rangordnung gebracht, die bestimmt, wer Zugang zu bzw. Anspruch auf welches Prothesenpassteil hat und wer nicht.68 Zwar haben gesetzlich versicherte Personen nach
67 Vgl. R. Baumgartner/P. Botta: Amputation und Prothesenversorgung, S.146. 68 Der jeweils zugeteilte Mobilitätsgrad ist nicht endgültig, sondern kann im Verlauf der Zeit auch neu festgelegt werden. Vgl. zur Klassifizierung von Körpern im Allgemeinen zudem Waldschmidt, Anne: ›Wir Normalen‹ ̶ ›Die Behinderten‹?: Erving Goffman meets Michel Foucault, in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Die Natur der Gesell-
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einer Beinamputation in Deutschland in rechtlicher Hinsicht grundsätzlich den Anspruch auf die Versorgung mit Prothesen(passteilen), die dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts entsprechen, allerdings unterliegt die Versorgung mit medizinischen und medizintechnischen Hilfsmitteln in Deutschland gemäß SGB V § 12 dem sogenannten Wirtschaftlichkeitsgebot, das heißt die Leistungserbringer (Orthopädietechniker) dürfen Leistungen (Anpassung von bestimmten Prothesen bzw. Passteilen) nur erbringen und die einzelnen Kostenträger diese nur genehmigen, wenn die Versorgung medizinisch notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist.69 Bei einer anstehenden prothetischen Neuversorgung müssen Prothesenträger zusammen mit ihren Orthopädietechnikern daher nachweisen können, dass ihnen das angedachte neue Prothesenmodell im Vergleich zu ihrer bisherigen Prothese eine deutliche Erleichterung beim Gehen, Stehen, Sitzen, Überwinden von Hindernissen etc. bietet. Aus diesem Grund machen Orthopädietechniker meist Videoaufnahmen ihrer Kunden, welche diese beim Gehen mit ihrer bisherigen und der potentiellen neuen Prothese zeigen und die zusammen mit einem entsprechenden Antrag beim jeweiligen Kostenträger eingereicht werden, um den Gebrauchsvorteil gemäß des Wirtschaftlichkeitsgebots aufzeigen zu können. Dies ist insbesondere bei einer angedachten Versorgung mit mikroprozessorgesteuerten Prothesen erforderlich, da es immer häufiger vorkommt, dass Versicherungen meist nur ungern und erst nach längeren Verhandlungen die Kosten für teure Prothesen wie das C-Leg oder Genium übernehmen und Prothesenträger ihre prothetischen Neuversorgungen vor Gericht einklagen müssen, obwohl gerade ›intelligente‹ Beinprothesensysteme alle fünf bis sieben Jahre komplett ausgetauscht werden sollten, da nach dieser Zeit von den Herstellerfirmen keine Garantie mehr übernommen wird.70 Dieter Jüptner, Präsident des Bundesverbandes für Menschen mit Armoder Beinamputation, merkt im Hinblick auf die derzeit bestehenden Rahmenbedingungen im Bereich der (bein-)prothetischen Versorgung in Deutschland daher kritisch an: »[...] die theoretischen Möglichkeiten sind da, praktisch isʼ alles noch nʼ bisschen im Argen […].« Speziell für privatversicherte Personen gestaltet sich die Antragsstellung auf eine prothetische Neuversorgung im Vergleich
schaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 und 2. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2008, S.5799-5809, hier: S.5806. 69 M. Bauche/B. Greitemann/K.-J. Lotz/H. Martus/N. Stein/B. Wünschmann: Hilfsmittelversorgung, S.72. 70 Vgl. u.a. auch S. Mnich: Prothesenversorgung; C. Jung: Die Erweiterung der MenschProthesen-Konstellation.
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zu gesetzlich Versicherten in Deutschland dabei häufig als noch komplexer und bürokratisch aufwendiger, da diese keinen durch das SGB gesetzlich geregelten Anspruch auf die Versorgung mit medizinischen bzw. medizintechnischen Hilfsmitteln haben, die dem neuesten technischen Stand entsprechen, sondern vielmehr hängt deren prothetische Versorgung davon ab, welche Vereinbarungen zwischen ihnen und ihrer Versicherung getroffen wurden.71 Auch die Kosten für ein ausgefallenes Prothesendesign oder eine hautfarbene kosmetische Verkleidung, die genau an den eigenen Hautton angepasst und vielleicht sogar noch mit Kunsthärchen versehen ist, werden in der Regel nicht von den einzelnen Kostenträgern – egal ob privat oder gesetzlich versichert – übernommen, sondern müssen von Prothesenträgern selbst finanziert werden. Wer sich ein entsprechendes Design oder Prothesenmodell nicht leisten kann bzw. nicht finanziert bekommt, ist somit unter Umständen sozialer Diskriminierung als ›Behindete(r)‹, ›inkompetent‹ oder ›nicht-vollwertiges Gesellschaftsmitglied‹ ausgesetzt. Sportprothesen werden in Deutschland darüber hinaus lediglich für Kinder und Jugendliche oder Leistungssportler von den verschiedenen Versicherungen finanziert, nicht aber für Hobbysportler im erwachsenen Alter, des Weiteren besteht kein rechtlicher Anspruch auf die Versorgung mit einer Zweitprothese, beispielsweise einer Badeprothese. Auch spezifische Prothesenpassteile für weibliche Personen sind im Vergleich zu Prothesenkomponenten für Männer derzeit noch in geringerem Umfang auf dem internationalen Markt erhältlich, das heißt die verschiedenen Passteile wie Prothesenfüße etc. werden in der Regel nach einem bestimmten ›Normkörper‹ hin konzipiert, bei dem es sich nach wie vor in erster Linie um den (jungen, weißen) männlichen Körper handelt.72 So schildert meine Interviewpartnerin, die 29-jährige Tamara Wachinger beispielsweise: »[...] ich habʼ halt unter meiner Prothese nʼ Männerfuß und mein anderer Fuß isʼ extrem schmal. Dann gibtʼs schon Probleme. Also, wenn mir dann links irgend nʼ Schuh gefällt oder passt, passt der meistens rechts nicht [...]. Ja weil Damenfüße gibtʼs nicht (.) wirklich. Also es gibt halt nʼ Fuß, aber das ist Herrenfuß angepasst (...). Und gerade so Frauen, wo jetzt irgendwie im Kostüm oder sowas anziehen müssen, müssen halt gescheite Schuhe tragen, die haben da oft Probleme. [...] das fällt bei mir jetzt nicht so wirklich auf, weil ich
71 Vgl. S. Mnich: Prothesenversorgung; Grau, Ulrich: Hilfsmittelverordnung für Privatpatienten. Erstattung teilweise ausgeschlossen!, in: Abrechnung aktuell 9 (2004), S.10, http://www.iww.de/aaa/archiv/hilfsmittel-hilfsmittelverordnung-fuer-privatpatienten-erstattung-teilweise-ausgeschlossen-f39734 (Stand: 21.11.16). 72 Vgl. u.a. auch R. Grant: Going Commando; L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.226/227.
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meistens (.) eher sportlichere Schuhe anhabʼ (..) ja. Aber ich habʼ auch Schuhe, woʼs dann eng wird oder wo man [...] vorspannen muss oder so (12).«73
Die geringere Verfügbarkeit spezifischer Passteile für Prothesenträgerinnen hängt dabei vermutlich vor allem damit zusammen, dass die (euro-amerikanische) Prothesenbauindustrie lange Zeit auf die Konstruktion und Anfertigung von Passteilen für die vornehmlich männlichen Kriegsversehrten der beiden Weltkriege ausgerichtet war, die es durch die Bereitstellung standardisierter und industriell gefertigter Prothesenpassteile vor allem wieder schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zu re-integrieren galt, während sich erst seit einigen Jahren das Bestreben seitens der Prothesenbauindustrie beobachten lässt, zunehmend auch Passteile anzufertigen, die auf die spezifischen Anforderungen und Bedürfnisse von Frauen bzw. deren Körper ausgerichtet sind.74 Die nach wie vor größte Herausforderung im Bereich (Bein-)Prothetik stellt darüber hinaus neben der in Kapitel 3 beschriebenen, fehlenden sensiblen Rückkopplung vor allem die Schafttechnologie dar, denn »[…] wenn der Schaft nicht passt, dann nützt die beste Technik nix, […]« wie es mein Interviewpartner Clemens Albrecht mir gegenüber formuliert hat und auch Martina Schubert meint, »[w]enn du einen schlecht sitzenden Schaft hast, der Druckstellen bewirkt oder Schmerzen bewirkt, dann kann das Knie noch so gut sein, noch so teuer sein, der Fuß noch so teuer sein, ähm, aber du kannst nicht damit gescheit laufen und hast Schmerzen.« Zwar forschen Prothesenbaufirmen wie Ottobock und Össur intensiv an der Optimierung der Schafttechnologie bzw. insbesondere an der Optimierung der hierbei verwendeten Materialien, jedoch liegt die Anfertigung und Anpassung eines gut sitzenden Prothesenschaftes letztlich im handwerkli-
73 Die israelische Designerin Aviya Serfaty hat dieses ›Problem‹ erkannt und hat unter dem Namen ›Outfeet‹ eine Beinprothese speziell für Frauen designt. Siehe Homepage der Designerin, http://www.aviyaserfaty.com/outfeet (Stand: 07.09.16). 74 Wie ich im einleitenden Kapitel meiner Arbeit bereits erwähnt habe, gibt es bislang kaum einschlägige Studien, die sich explizit mit der historischen Entwicklung der Prothesenversorgung von sowie der Herstellung spezifischer Prothesenpassteile für Frauen beschäftigen. Diese Forschungslücke hat – wie beschrieben ̶ auch der Historiker Mathis Nolte erkannt, den ich im Rahmen einer Tagung kennengelernt habe und der sich in seinem Dissertationsprojekt mit der Frage nach dem Verhältnis von Prothetik und Weiblichkeit vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auseinandersetzt, siehe Homepage der Bergischen Universität Wuppertal, http://www.geschichte.uniwuppertal.de/personen/wissenschafts-und-technikgeschich-te/mathis-nolte-ma/forsch ung.html (Stand: 09.09.16).
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chen Können von Orthopädietechnikern begründet.75 Wie sich dieser Prozess der orthopädietechnischen Schaft- bzw. Prothesenanpassung nun konkret gestaltet, steht schließlich im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen. 5.3.2 Orthopädietechnische Prothesenanpassung und technogenes Embodiment als Teamwork in soziomateriellen Assemblagen Das wesentliche Ziel jeder orthopädietechnischen Prothesenanpassung besteht darin, einen Prothesenschaft so anzufertigen und die verschiedenen Passteile so einzustellen, dass die betreffende Person beim Laufen, Sitzen, Stehen etc. so wenig wie möglich über das medizintechnische Artefakt nachdenken muss. Es geht somit ähnlich wie beim rehaklinischen Prothesentraining vor allem um die Herstellung von größtmöglicher ›Transparenz‹. Deutlich wird dies exemplarisch an einer Aussage von Martina Schubert, die meint, dass eine Prothese bzw. der Schaft so sitzen muss, »[…] dass du das Gefühl hast, es isʼ letzten Endes ein Übergang, also, dass du nicht das Gefühl hast, es ist ein […] Klotz am Bein, sagʼ ich mal, oder ein […] Gegenstand was nicht zu dir gehört, sondern wenn es gescheit gebaut ISʼ, dann vergisst du, dass du dort neʼ Prothese hast.« Ähnlich äu-
75 Prothesenschäfte werden in der Regel aus Gießharz oder thermoplastischen Kunststoffen angefertigt. Um die Schaftproblematik langfristig zu umgehen, wird gegenwärtig auch an der sogenannten Osseointegration bzw. Endo-Exo-Prothese geforscht, bei der es sich um ein im Knochen des Beinstumpfes verankertes und durch den Hautmantel nach außen geführtes Implantat handelt, an welches dann die verschiedenen Passteile (künstliches Kniegelenk, Unterschenkel, Fuß etc.) direkt angedockt werden. Bei dieser Methode entfällt somit der Prothesenschaft, das medizintechnische Artefakt wird stattdessen im wörtlichen Sinne zum integralen Bestandteil des menschlichen Körpers. Allerdings ist die Osseointegration sowohl in medizinischen als auch orthopädietechnischen Fachkreisen aufgrund hoher Infektionsgefahr am Beinstumpf gegenwärtig noch sehr umstritten und wird bislang daher noch nicht als Standard praktiziert. Vgl. u.a. Homepage Ottobock, http://www.ottobock-group.com/de/das-unternehmen/forschung-und-entwicklung/ (Stand: 01.12.14); Homepage Osseointegration Germany, http://www.osseointegration-germany.de/index.php/de/ (Stand: 14.12.15). Interessant wäre in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, welche Auswirkungen die Osseointegration auf das technogene Embodiment von Beinprothesenträgern hat bzw. inwiefern sich dies insbesondere auf das leibliche Empfinden der betreffenden Personen auswirkt und ob hierbei Unterschiede im Vergleich zu den bisherigen Prothesenmodellen mit Schaftsystem bestehen.
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ßert sich auch Erika Tamm, die schildert, »[j]e besser die Prothese sitzt, desto weniger hat man das Gefühl, es ist ein Fremdkörper. Manchmal vergesse ich die Prothese dann sogar.« Allerdings ist diese ›Transparenz‹ des medizintechnischen Artefakts nicht einfach so gegeben, sondern muss im Rahmen eines längerwierigen Anpassungsprozesses erst als solche hergestellt werden. Wie ich in diesem Zusammenhang während meiner Feldforschung beobachten konnte, tasten Orthopädietechniker zu Beginn jeder Prothesenanpassung dabei zunächst den Beinstumpf ihrer jeweiligen Kunden intensiv ab, messen dessen Länge und Umfang, zudem werden vorhandene Druckstellen, die möglicherweise durch den Schaft der Interimsprothese bzw. der bisher getragenen Prothese entstanden sind, mit Lippenstift, Edding oder Kugelschreiber am Beinstumpf markiert, um diese bei der Anfertigung des neuen Prothesenschaftes berücksichtigen zu können. Es geht für Orthopädietechniker somit ̶ wie schon bei der Anpassung der Interimsprothese ̶ vor allem um die sinnliche bzw. haptisch-taktile Erkundung des Körpers von Prothesenträgern, wobei Steven Kurzman diesen Prozess aus autoethnographischer Perspektive auch beschreibt als »[...] a literal mapping of landmarks on patientsʼ bodies, creating a geographic representation of strengths and vulnerabilities, places on the body which will bear weight and places that will hurt if subjected to too much pressure [...].«76 Anschließend wird ein Gipsabdruck vom Beinstumpf angefertigt, auf Basis dessen schließlich der neue Schaft für die jeweilige Definitivprothese hergestellt wird, an dem wiederum die einzelnen Passteile von mechanischen bis elektronischen Gelenken, Rohradaptern und Prothesenfüßen sowie die verschiedenen Kosmetiken angebracht werden. Mittlerweile besteht zwar auch die Möglichkeit, anstelle eines Gipsabdruckes den Beinstumpf der betreffenden Person abzuscannen und via PC mittels einer speziellen Software ein 3-D-Modell des Prothesenschaftes zu entwerfen, das dann als Positivmodell gefräst werden kann. Von den meisten Orthopädietechnikern, mit denen ich während meiner Forschung gesprochen habe, wird jedoch das eigene Abtasten des Beinstumpfes, das sinnliche Generieren von Körperwissen sowie das handwerkliche Anfertigen eines entsprechenden Gipsabdruckes sowie des Prothesenschaftes favorisiert. Karl Bergmann betont in diesem Zusammenhang exemplarisch die Bedeutung des Haptisch-Taktilen für seine Arbeit als Orthopädietechniker und Prothetiker, er spricht vom »[...] ganz bewusste[n] mal nen Stumpf in die Hand nehmen, zu FÜHLEN ›Wie ist die Muskulatur? Habe ich hier Fettgewebe? Habe ich hier einen harten muskulären Stumpf? Habe ich nen ganz nen weichen geriatrischen Stumpf? Sind da Narben am Stumpf, die be-
76 S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.65.
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rücksichtigt werden müssen? Wo sind schmerzhafte Stellen in Form von knöchernen Auswüchsen unter der Muskulatur?‹ [...] ich trete ja mit ihm [dem Prothesenträger, C.R.] in Kontakt. Ich arbeite an seinem Körper (..) und (..) das wird uns der Computer [...] nicht abnehmen können, diese Sensibilität.«
Auch Karls Kollege, Michael Huber äußert sich in ähnlicher Weise, er meint, dass »[...] jeder Mensch [...] anders [ist], man kann von einem Scan halt einfach nicht alles ablesen, was man ertastet, [...].« Dabei müssen Orthopädietechniker teilweise bis in den Intimbereich der jeweiligen Person hinauf abtasten, speziell im Falle von Menschen mit Oberschenkel- oder Hüftexamputation, was einiges an Fingerspitzengefühl erfordert, damit das Abtasten nicht als ›Betatschen‹ missverstanden wird. Wie zudem an der obigen Aussage von Karl Bergmann deutlich wird, arbeitet er am Körper der jeweiligen Prothesenträger, weshalb der Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung im wörtlichen Sinne auch als Körperarbeit verstanden werden kann, die bestimmte Körperberührungen bzw. -kontakte beinhaltet, die üblicherweise geltende Distanzregeln teilweise außer Kraft setzen und daher als ambivalent erlebt werden können.77 So schreibt Steven Kurzman über das mit der orthopädietechnischen Prothesenanpassung verbundene Abtasten des Beinstumpfes beispielsweise auch, »[i]tʼs an uncomfortable moment of crossing bodily boundaries: prosthetists […] have to learn to touch people in a way that would otherwise be inappropriate, and amputees have to get used to having their stump palpated, squeezed, and caressed. But itʼs also crucial to the process of knowing and mapping stumps and bodies and how they experience these tactile sensations.«78
Wie ich in diesem Zusammenhang zudem beobachtet habe, überprüfen Orthopädietechniker oftmals auch mit ihrem Handrücken die Hauttemperatur am Beinstumpf ihrer Kunden, um etwaige Überbelastungen, die beispielsweise durch den Schaft der Interimsprothese entstanden sind, zu erspüren und den neuen Schaft für die Definitivprothese dementsprechend weiter oder enger zu machen. Orthopädietechniker treten mit Prothesenträgern somit nicht nur in körperlichen und sinnlichen, sondern vor allem auch in leiblichen Kontakt, denn je nachdem, was sie selbst leiblich am Körper ihrer Kunden wahrnehmen bzw. erspüren, ob sie
77 Vgl. Meuser, Michael: Körperarbeit – Fitness, Gesundheit, Schönheit, in: Bellebaum, Alfred/Hettlage, Robert (Hg.): Unser Alltag ist voll von Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2014, S.65-81, hier: S.67. 78 S. Kurzman: Communication and Alignment, S.235.
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die Hauttemperatur am Beinstumpf als zu ›warm‹ oder ›kalt‹ empfinden, stellen sie die Prothesenkomponenten neu ein. Im Sinne Robert Gugutzers kann hierbei auch von einer spürenden Verständigung als einer Form leiblichen Verstehens zwischen Orthopädietechniker und Prothesenträger gesprochen werden, womit eine Interaktion unter Anwesenden gemeint ist, »[...] die durch deren wechselseitige spürende Wahrnehmung gesteuert wird. In der spürenden Verständigung orientieren die Interaktionspartner ihr Handeln an dem, was sie vom Anderen an sich selbst leiblich wahrnehmen [...].«79 Wurde ein neuer Schaft erstellt und die (Definitiv-)Prothese in ihren einzelnen Bestandteilen zusammengebaut, geht es für Orthopädietechniker und Prothesenträger schließlich darum, den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts zu erproben. Einen Einblick, wie sich dieser Prozess genau gestaltet, gibt dabei der nachfolgende Auszug aus einem meiner Beobachtungsprotokolle, das ich während meiner Feldforschung im Orthopädietechnikzentrum angefertigt habe. Februar 2014, Orthopädietechnikzentrum, Umkleidekabine, 11:20 Uhr: Karl Bergmann und ich betreten eine der Umkleidekabinen im Wartebereich des Orthopädietechnikzentrums. Dort sitzt bereits Karls Kunde Ulrich Wienert auf einem Stuhl, er ist 56 Jahre alt und seit einem Verkehrsunfall im Jahr 2012 rechts unterschenkelamputiert. Ulrich Wienert hat dichtes graues Haar, trägt eine Brille und ein dunkelblaues Hemd. Seine Schuhe, seine mechanische Beinprothese sowie seine Jeanshose hat er bereits ausgezogen, er sitzt somit in Unterhose vor Karl und mir. Karl stellt mich kurz als Orthopädietechnikpraktikantin vor und fragt, ob es in Ordnung ist, wenn ich bei Ulrich Wienerts Prothesenanpassung zusehe, was dieser bejaht. Wie mir Karl erklärt, hat Ulrich Wienert in den vergangenen Tagen probeweise einen neu angepassten Schaft austesten können, heute möchte Karl überprüfen, ob er noch Veränderungen vornehmen muss. Karl bittet Ulrich Wienert, seine Prothese anzuziehen und einige Schritte umherzugehen. Ulrich Wienert, der über seinem Beinstumpf einen Liner mit Pinsystem trägt, nimmt seine Prothese und schlüpft in diese hinein. Anschließend steht er vom Stuhl auf und beginnt, einige Schritte zu gehen. Allerdings verzieht er dabei sofort das Gesicht und meint, dass der Schaft drückt und er nicht richtig damit laufen kann. Karl gibt Ulrich Wienert daraufhin einen weißen, dünnen Stab, mit dem dieser in den durchsichtigen Schaft fahren und ihm zeigen soll, wo genau es drückt. Ulrich Wienert kommt der Anweisung nach und meint mit einem Lächeln an mich gewandt: »Wenn man medizinisch nicht vorbelastet ist, also wenn man selbst die medizinischen Fachausdrücke nicht kennt, kann man dem Techniker
79 R. Gugutzer: Verkörperungen, S.65.
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nur zeigen, ob die Prothese sitzt oder nicht. Der Techniker muss das dann in seine Sprache übersetzen« (O-Ton). Anschließend soll Ulrich Wienert die Prothese wieder ausziehen und Karl verschwindet damit in der Werkstatt. Nach etwa einer halben Stunde kommt Karl mit der Prothese zurück in die Umkleidekabine und bittet Ulrich Wienert abermals, die Prothese anzuziehen und damit umherzugehen. Dieser steht mit seiner Prothese vom Stuhl auf, stolpert dabei fast und meint sofort, dass der Schaft immer noch drückt. Karl bittet ihn, dennoch einige Schritte zu gehen, wobei er Ulrich Wienert genau beobachtet. Anschließend schraubt Karl am Prothesen-Fußgelenk herum, dann soll Ulrich Wienert wieder vorlaufen, er kann seinen Prothesenfuß nun jedoch kaum abknicken und meint, dass er »meilenweit von einer Wohlfühlform entfernt« (O-Ton) sei. Er überlegt nach passenden Worten, um zu beschreiben, wie sich die Prothese bzw. der Schaft anfühlt, während Karl da sitzt und Ulrich Wienerts Stumpf im durchsichtigen Schaft betrachtet. Dann bittet er Ulrich Wienert, die Prothese nochmals auszuziehen, damit er sich dessen Beinstumpf genauer ansehen kann. Ulrich Wienert kommt der Aufforderung nach und zeigt Karl, wo der Schaft am Beinstumpf drückt. Daraufhin holt Karl aus dem Schaft eine hautfarbene Einlage heraus, bei der es sich um ein Stumpfendbelastungskissen handelt, wie er mir erklärt. Anschließend soll Ulrich Wienert abermals mit seiner Beinprothese im Umkleideraum auf- und abgehen und dieser meint sofort, dass der Schaft jetzt besser passt. Karl erklärt Ulrich Wienert schließlich, dass er den Schaft in den nächsten Tagen nochmals neu ausschleifen möchte, weshalb er diesem so lange seinen alten Schaft auf die Prothese montieren wird. Ulrich Wienert erklärt sich einverstanden und zeigt Karl ein letztes Mal, wo genau sein Stumpf im Schaft drückt. Anschließend misst Karl mit einem Meterstab Ulrich Wienerts Stumpfund dann die Schaftlänge ab, dann nimmt er die Beinprothese und verschwindet damit in der Werkstatt, um den neuen gegen den alten Schaft auszutauschen. Nach einigen Minuten kommt er zurück, gibt Ulrich Wienert die Prothese mit dem nun darauf angebrachten alten Schaft und macht mit ihm einen neuen Termin zur Anprobe aus. Anschließend verabschieden Karl und ich uns von Ulrich Wienert und verlassen die Umkleidekabine. Die Anpassung hat insgesamt über eineinhalb Stunden gedauert. Wie an dieser Schaftanprobe von Ulrich Wienert exemplarisch deutlich wird, gestaltet sich die Aushandlung der optimalen Passform und damit verbunden die Herstellung der gewünschten ›Transparenz‹ des medizintechnischen Artefakts als komplexer Prozess, wobei eine besondere Schwierigkeit vor allem darin besteht, dass Prothesenträger oft nicht explizit durch verbale Sprache erklären können, warum der Schaft bzw. die Prothese nicht gut sitzt, sie spüren einfach, dass
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es nicht passt. Es handelt sich um ein spezifisches (erfahrungsbasiertes) leibliches Wissen, das nun irgendwie dem Orthopädietechniker erläutert werden muss. Deutlich wird dies auch an einer Aussage von Martina Schubert, die während einer Prothesenanpassung, zu der ich sie begleitet habe, geschildert hat: »Du FÜHLST wie du läufst oder wie die Prothese passt. Der Orthopädietechniker sieht das nur. Das muss dann aber irgendwie kompatibel sein.« Orthopädietechniker und Prothesenträger müssen somit erst eine gemeinsame Sprache finden, um eine ›gute‹ Prothesen- bzw. Schaftpassform aushandeln zu können. Wie mir in diesem Zusammenhang im Verlauf meiner Feldforschung aufgefallen ist, verwenden viele Prothesenträger dabei häufig Metaphern, um den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts zu beschreiben, wobei vor allem neue oder ›schlecht‹ sitzende Schäfte von meinen Forschungsteilnehmern meist mit ›zu engen Schuhen‹ verglichen wurden, was exemplarisch ebenfalls wieder an einer Aussage von Martina Schubert deutlich wird, die sagt: »[...] jeder neue Schaft [...] bedeutet auch wieder andere Druckstellen, andere Druckpunkte am Schaft, [...]. [...] Ich sagʼ immer, das isʼ wie ähm, wenn duʼn schönen ausgelatschten Schuh hast, ja, und kaufst dir jetzt nʼ italienischen Lackschuh, wo du erst mal rein musst und laufen musst, bis dir die Füße bluten [...], damit er halt eben bequem wird. [...] bis man da erst mal ins Laufen kommt, dauertʼs natürlich ne Zeit und dann muss man halt eben von dem alten Schluffen, den man da an hatte, erst mal weg und muss sich [...] auf die neue Prothese einlassen.«
Der Gebrauch von Metaphern kann dabei als kulturelle Praxis der Sinndeutung verstanden werden, mit der eigentlich nicht verbalisierbare körperliche bzw. leibliche Empfindungen zum Ausdruck gebracht werden können.80 Der jeweilige Orthopädietechniker übersetzt diese Metaphern dann in seine biomechanische Fachsprache und stellt den Schaft bzw. die einzelnen Prothesenpassteile entsprechend neu ein. Allerdings kann es hierbei auch zu Kommunikationsproblemen zwischen Techniker und Prothesenträger kommen wie aus einer Aussage von Clemens Albrecht hervorgeht, der meint: »[…] ich habʼ mal hier bei XY [Name einer orthopädischen Fachklinik, C.R.] mir ne Prothese machen lassen, die hat einfach nicht gepasst, der Schaft hat nicht gepasst. Und der
80 Vgl. Becker, Gay: Phenomenology of Health and Illness, in: Ember, Carol R./Ember, Melvin (Hg.): Encyclopedia of Medical Anthropology. Health and Illness in the Worldʼs Cultures. Vol. 1, Topics. New York: Kluwer Academic/Plenum Publishers 2004, S.125-137, hier: S.128; M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.114.
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[Orthopädietechniker, C.R.] hat dann immer gesagt ›Das gibtʼs nicht, die muss passen‹, sagʼ ich ›Du, ICH muss die tragen und nicht du. Ich glaubʼ, du kannst dir das nicht vorstellen wie das isʼ, wenn du da rein steigst und das kneift, das zwickt, das isʼ unangenehm‹. Es isʼ, [als] wenn Sie nen Gürtel umhaben, der Ihnen ständig alles eindrückt […].«
Neben der Verwendung von Metaphern spielen daher ähnlich wie beim Prothesentraining in der Rehaklinik insbesondere auch Körperpraktiken im Sinne von doing body eine bedeutende Rolle beim Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung, das heißt der Körper als Agens fungiert auch hier als wichtiges Kommunikationsmedium zwischen Orthopädietechniker und Prothesenträger und der damit verbundenen Verhandlung körperlich-leiblicher Empfindungen im Hinblick auf den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts. Wie ich in diesem Zusammenhang beobachten konnte und wie auch an der beschriebenen Schaftanprobe von Ulrich Wienert deutlich wird, müssen Prothesenträger mit ihrer neu angepassten Prothese permanent in der Umkleidekabine bzw. im Wartebereich des Orthopädietechnikzentrums auf- und abgehen, während sie vom jeweiligen Orthopädietechniker genau beobachtet werden, der anhand Gesichtsausdruck und Körperhaltung seines Kunden oder seiner Kundin den Tragekomfort der Prothese bzw. des Schaftes vor allem visuell erfasst. Orthopädietechniker müssen somit in der Lage sein, körperliche Zeichen wie verzerrte Gesichter, Schwitzen, rote Wangen etc. deuten zu können, um auf die leiblichen Bedürfnisse von Prothesenträgern wie Schmerzen oder auch Angst vor Stürzen eingehen zu können und das medizintechnische Artefakt dementsprechend umzuformen oder neu einzustellen.81 Es handelt sich in diesem Sinne um einen spezifischen orthopädietechnischen Blick, der im Laufe der Zeit insbesondere durch Erfahrung erworben wird, weshalb in Anlehnung an die Kulturanthropologin Cristina Grasseni auch von einer skilled vision, vom orthopädietechnischen Sehen als verkörperten, angeeigneten und geschulten Sinn gesprochen werden kann. 82 Die-
81 Vgl. hierzu auch Manzei, Alexandra: Zur gesellschaftlichen Konstruktion medizinischen Körperwissens. Die elektronische Patientenakte als wirkmächtiges und handlungsrelevantes Steuerungsinstrument in der (Intensiv-)Medizin, in: Keller, Reiner/Meuser, Michael (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S.207-229. 82 Vgl. Grasseni, Cristina: Good Looking: Learning to be a Cattle Breeder, in: Dies. (Hg.): Skilled Visions. Between Apprenticeship and Standards. New York: Berghahn Books 2007, S.47-66; vgl. auch Arantes, Lydia Maria: Kulturanthropologie und Wahrnehmung. Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung, in: Arantes, Lydia Ma-
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ser orthopädietechnische Blick stellt dabei einerseits eine Form körperlichen Wissens dar, andererseits aber auch ein Mittel, um Körperwissen zu erlangen. Darüber hinaus kam es während der verschiedenen, von mir beobachteten Prothesenanpassungen auch immer wieder vor, dass Orthopädietechniker selbst im Wartebereich oder Anproberaum auf- und abgingen, um meinen Forschungsteilnehmern beispielsweise das ›richtige‹ Abrollen über den Prothesenfuß zu demonstrieren. Dieser Prozess des wechselseitigen Auf- und Abgehens von Orthopädietechniker und Prothesenträger, die orthopädietechnisch-visuelle Erfassung des Tragekomforts von Prothesen bzw. Schäften, die haptisch-taktile Erkundung von Beinstümpfen und das ständige Neueinstellen der einzelnen Prothesenkomponenten wird dabei so lange wiederholt, bis Prothesenträger das Gefühl haben, dass das medizintechnische Artefakt und insbesondere der Prothesenschaft ›gut‹ sitzt, das heißt bis dieser keine Schmerzen oder Druckstellen mehr bereitet und beim Laufen nicht mehr über jeden einzelnen Schritt nachgedacht werden muss. In diesem Moment kann bei Prothesenträgern schließlich das Empfinden entstehen, mit dem medizintechnischen Artefakt ›verschmolzen‹ zu sein, die Prothese wird dann nicht mehr länger als bloßes körperliches Anhängsel, sondern vielmehr als Teil der eigenen Person erlebt. So schildert Martina Schubert beispielsweise: »Wenn der Schaft, die Passform des Schaftes und der Bau des Schaftes SO gut isʼ und dann natürlich der Aufbau der ganzen Prothese in Lotlinie und wie der Fuß steht, wie das Knie steht, wenn das alles passt, dann hast du nicht das Gefühl, dass du nʼ Fremdkörper hast, sondern du empfindest das gar nichʼ mehr als Fremdkörper, sondern als dein Eigen.«
Wie an dieser Aussage deutlich wird, spielt der Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung und insbesondere die Anfertigung eines gut sitzenden Prothesenschaftes somit eine immens wichtige Rolle für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments, wobei dieser Prozess als Teamwork und Koordinationsarbeit in soziomateriellen Assemblagen verstanden werden kann, da hier verschiedene Menschen und Nicht-Menschen miteinander materiell-körperlich, leiblich als auch sinnlich interagieren und auf diese Weise Mensch-Medizintechnik-Beziehungen in practice hervorbringen. Beschränkt sich die Interaktion im Falle der Anpassung von rein mechanisch gesteuerten Beinprothesen dabei noch weitgehend auf Orthopädietechniker, Prothesenträger und medizintechnisches Artefakt, so erweitert sich das soziomateri-
ria/Rieger, Elisa (Hg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: transcript 2014, S.23-39.
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elle Ensemble bei der Anpassung von mikroprozessorgesteuerten, ›intelligenten‹ Beinprothesen wie C-Leg, Genium oder Rheo Knee um weitere menschliche wie nicht-menschliche Partizipanden, die zusammen an der Herstellung von humanartifact-relations mitwirken. So ist zur Einstellung dieser Prothesenmodelle – wie beschrieben – eine spezielle PC-Software erforderlich, mit der das elektronische Kniegelenk zunächst individuell vom Beugewinkel bzw. der Streckung her auf das Körpergewicht sowie die Körpergröße der betreffenden Person eingestellt werden muss. Zudem sind bei der Erstanpassung dieser Prothesenmodelle in der Regel Mitarbeiter des technischen Außendienstes der entsprechenden Herstellerfirma anwesend, die Orthopädietechnikern beratend zur Seite stehen, wobei die Ausweitung dieser heterogenen Akteurs-Ketten den Prozess der orthopädietechnischen Prothesenanpassung zusätzlich verkomplizieren kann wie aus einem weiteren Auszug aus einem meiner Beobachtungsprotokolle hervorgeht. Februar 2014, Orthopädietechnikzentrum, Anproberaum, 09:20 Uhr: Ich bin zusammen mit Fabian Rudloff und den beiden Orthopädietechnikern Herr Eberle und Michael Huber in einem der beiden Anproberäume des Orthopädietechnikzentrums. Fabian Rudloff ist 68 Jahre alt und seit über 40 Jahren rechts oberschenkelamputiert, heute soll er mit einem neuen C-Leg versorgt werden, da er sein altes C-Leg bereits seit sieben Jahren trägt und die Herstellerfirma daher keine Garantie mehr für das elektronische Kniegelenk übernimmt. Herr Eberle hat das neue C-Leg samt neuem Schaft, der bereits vor zwei Wochen angepasst wurde, aus der Werkstatt mitgebracht, nun soll Fabian Rudloff dieses anziehen und sich damit hinstellen. Fabian Rudloff kommt der Anweisung nach und Michael Huber gibt verschiedene Daten in einen Laptop ein, der im Raum steht. Er erklärt mir, dass er via Software das neue C-Leg individuell auf Fabian Rudloff einstellt, um das elektronische Kniegelenk jedoch vollständig kalibrieren zu können, muss sich Fabian Rudloff für einen kurzen Moment nur auf seine Beinprothese stellen und eine Art Standwaage machen. Am Kniegelenk der Prothese blinkt daraufhin ein kleines Licht auf und Michael Huber meint, dass das C-Leg nun kalibriert sei. Er bittet Fabian Rudloff, im Anproberaum einige Schritte aufund abzugehen. Während dieser läuft, wird er von Michael Huber gefragt, ob er mehr »Spitzfuß« (O-Ton) haben möchte, was Fabian Rudloff bejaht. Daraufhin gibt der Orthopädietechniker abermals etwas in den Laptop ein, er kann auf diese Weise den Beugewinkel des C-Leg verstellen wie er mir gegenüber erläutert. Fabian Rudloff geht weiter im Anproberaum auf und ab, allerdings meint er, dass das Prothesenknie beim Laufen nicht richtig abknickt. Ich beobachte ihn und tatsächlich bleibt die Beinprothese ziemlich steif. Herr Eberle gibt Fabian
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Rudloff daraufhin verschiedene Tipps, wie dieser beim Laufen seinen Prothesenfuß aufsetzen soll, damit das elektronische Kniegelenk über die in den Prothesenfuß eingebaute Sensorik auslöst. Fabian Rudloff läuft weiter, das Prothesenknie bleibt jedoch steif. Michael Huber holt daher eine sogenannte Vierpunktwaage unter der Liege im Zimmer hervor und steckt diese an der Steckdose an. Fabian Rudloff soll sich darauf stellen, damit Michael Huber dessen Belastungsschwerpunkte genau messen kann. Anschließend soll Fabian Rudloff wieder vorlaufen, wobei Michael Huber weiterhin Daten in den Laptop eintippt. Die Tür zum Anproberaum geht auf und Karl Bergmann kommt herein. Die beiden anderen Orthopädietechniker schildern ihm kurz das Problem mit Fabian Rudloffs neuem C-Leg, dann sitzen sie zu dritt vor dem Laptop und überlegen, weshalb das elektronische Kniegelenk beim Gehen nicht abknickt, denn von der SoftwareEinstellung her müsste es eigentlich passen wie Michael Huber meint. Karl Bergmann schraubt daraufhin am Prothesen-Kniegelenk des C-Leg herum und bittet Fabian Rudloff, nochmals im Raum auf- und abzugehen, wobei er ihn genau beobachtet. Das Kniegelenk bleibt weiter steif, weshalb Karl Bergmann vermutet, dass Fabian Rudloff beim Gehen eine falsche Bewegung macht und deshalb das Kniegelenk nicht ausgelöst werden kann. Er gibt ihm daher die Anweisung »Ganz über den Ballen laufen« (O-Ton) und Michael Huber, der auf den Laptop schaut, sagt zu Karl »Das Gelenk bleibt bei 12° stehen« (O-Ton). Herr Eberle demonstriert Fabian Rudloff daraufhin nochmals genau, wie dieser beim Laufen über seinen Prothesenfuß abrollen soll, indem er selbst im Raum auf und ab geht. An mich gewandt meint er dabei »Der Sinn der Elektronik soll eigentlich sein, dass man gehen kann, ohne an die Prothese zu denken« (O-Ton). Fabian Rudloff macht mittlerweile einen leicht genervten Eindruck, er sagt »Das war ja noch nie so« (O-Ton), »Weiß nicht, wie ich gehen soll, dass das [zeigt auf Prothese] macht, was es soll« (O-Ton). Und weiter meint er »Der Schaft ist super, ein Traum. Das ist das Wichtigste. Ich habe sozusagen keine Prothese an. Allerdings muss ich ganz extrem über den Ballen gehen, dann geht es aber auch nicht immer« (O-Ton). Er lächelt mich an und sagt »Das ist der Moment, in dem die Orthopädietechniker anfangen, die Kunden zu hassen« (O-Ton). Karl Bergmann wendet jedoch ein »Nein, nicht die Kunden, nur die Technik« (O-Ton). Fabian Rudloff setzt sich schließlich auf die Liege im Raum und Karl Bergmann schraubt an dessen Prothesen-Kniegelenk herum. Dann soll Fabian Rudloff abermals vorlaufen, das Gelenk knickt jedoch immer noch nicht richtig ab. Bei einigen Schritten klappt es, bei den nächsten dann wieder nicht. Fabian Rudloff vermutet daher, dass es sich um einen Wackelkontakt im Prothesen-Computer handeln könnte. Karl Bergmann erklärt mir, dass für die eingebaute Elektronik die jeweilige Prothesenbaufirma zuständig sei, da könnten oder dürften sie als
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Orthopädietechniker selbst nichts umkonstruieren. Sie könnten das C-Leg höchstens einschicken und vom Prothesenhersteller überprüfen lassen. Zuvor soll sich Fabian Rudloff jedoch nochmals mit seiner neuen Prothese hinstellen und abermals eine Standwaage machen, damit Michael Huber das C-Leg neu kalibrieren kann. Anschließend soll Fabian Rudloff wieder einige Schritte auf und ab gehen, dabei wird er von Karl Bergmann genau beobachtet, der Fabian Rudloff nochmals einige Anweisungen gibt, wie dieser mit seiner Prothese gehen soll. Fabian Rudloff meint schließlich leicht verärgert »Wenn das so ist, dass ich darüber nachdenken muss, wie ich gehe, das kann es nicht sein« (O-Ton). Karl Bergmann ist der Meinung, dass das Problem vermutlich an Fabian Rudloffs Gehverhalten liege, dieser protestiert jedoch dagegen, da das bei seinem alten C-Leg noch nie vorgekommen sei, dass das Gelenk nicht richtig abknicke. Michael Huber schaltet sich in die Diskussion ein und macht den Vorschlag, das neue C-Leg einzuschicken, um dieses auf Fehler überprüfen zu lassen. Währenddessen könnte Fabian Rudloff sein altes C-Leg tragen, auf das der neue Schaft montiert wird, da dieser ja gut passe. Karl Bergmann stimmt dem zu und sagt »Man steckt nicht drin, in der Technik« (O-Ton). Fabian Rudloff sitzt nun wieder ohne Prothese auf der Liege und Michael Huber erklärt, dass es sich vermutlich um einen Produktionsfehler handle, denn die Kurve auf dem Laptop zeige an, dass das Knie gestreckt sei, obwohl es tatsächlich noch leicht gebeugt ist. Das könne eventuell der Grund sein, weshalb das Kniegelenk nicht auslöse. Karl Bergmann und Michael Huber verlassen den Anproberaum, um den neuen Schaft auf Fabian Rudloffs altes C-Leg zu schrauben. Nach einigen Minuten kommen die beiden Orthopädietechniker zurück ins Zimmer und geben Fabian Rudloff sein altes C-Leg. Dieser zieht seine Prothese an, läuft damit auf und ab und meint »Das ist ein völlig anderes Gehen als vorher. Also nicht vom Schaft her, sondern unten vom Unterschenkel her. Das ist ein ganz anderes Gefühl, ich weiß auch nicht warum« (O-Ton). Wenn Fabian Rudloff mit seinem alten C-Leg läuft, wird das Prothesen-Kniegelenk abgeknickt. Herr Eberle meint schließlich, dass er sich bei Fabian Rudloff melden werde, sobald das neue C-Leg überprüft wurde, damit sie einen neuen Termin zur Anprobe ausmachen können. Dann verabschieden die drei Orthopädietechniker und ich uns von Fabian Rudloff, für heute ist die Anprobe zu Ende. Sie hat insgesamt knapp vier Stunden gedauert. Wie an der hier beschriebenen Prothesenanpassung von Fabian Rudloff deutlich wird, hängt die körperlich-leibliche Integration von Prothesen nicht ausschließlich vom Tragekomfort des Prothesenschaftes ab, sondern auch von der Funktionalität des medizintechnischen Artefakts. Eine Prothese, die nicht ›funktioniert‹, die bei den verschiedenen Bewegungen ›schleift‹ oder sich nicht abknicken lässt,
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löst Frustration und Ärger aus, auch wenn der Schaft als bequem empfunden wird. Zwar sollen insbesondere ›intelligente‹ Prothesen die Herstellung der gewünschten ›Transparenz‹ erleichtern, indem die eingebaute Elektronik eigentlich genuin körperliche Bewegungen übernimmt bzw. diese unterstützt, allerdings erfordern mikroprozessorgesteuerte Beinprothesen wie das C-Leg oder Genium die Aneignung einer ganz bestimmten KörperTechnik, des sogenannten Vorfußkontaktes, womit ein spezifisches Abrollen über den Prothesenfuß gemeint ist, damit das elektronische Kniegelenk überhaupt auslöst und abgeknickt werden kann. Wie das Beispiel von Fabian Rudloff jedoch zeigt, ist dieser Vorfußkontakt nicht ganz einfach und muss von Prothesenträgern erst als solcher erlernt und internalisiert werden, damit ein reibungsloses Laufen, Gehen oder auch alternierendes Treppensteigen mit diesen Prothesenmodellen möglich ist. Das heißt, die Handlungen des Nutzers werden durch die mikroprozessorgesteuerte Prothese technisch konditioniert, das medizintechnsiche Artefakt erfordert vom betreffenden Individuum die Anpassung seiner Körperhaltung bzw. -bewegung, seiner Wahrnehmung und seines Verhaltens an spezifische sozio-technische Skripte, die vom Hersteller in die Prothese eingeschrieben sind, wobei jedes neu angepasste Modell häufig mit der erneuten Aneignung des Vorfußkontaktes einhergeht.83 Die einzelnen Körperbewegungen und das medizintechnische Artefakt müssen somit explizit aufeinander abgestimmt werden, damit die Funktionsweisen der jeweiligen Prothese von der betreffenden Person voll ausgeschöpft werden können, wobei dieser wechselseitige Abstimmungsprozess vor allem im praktischen Tun erfolgt. Lucie Dalibert, die bei ihren Forschungen ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt in diesem Zusammenhang auch, »[t]he improvement that a prosthetic component – here a microprocessor-equipped knee joint – is expected to bring [– safety and fluid walking –, C.R.] is neither direct nor straightforward. Rather, it demands a re-learning and is done in practice; it is done in movement(s).«84 Sind die wechselseitigen Anpassungen von Prothesenträger und Prothese erfolgreich, dann ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung von ›Transparenz‹ und damit für die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts gegeben. Im neophänomenologischen Sinne kann hierbei auch von einer ›solidarischen Einleibung‹ gesprochen werden, die nach Robert Gugutzer dadurch charakterisiert ist, dass keiner der menschlichen
83 Vgl. Akrich, Madeleine: Die De-Skription technischer Objekte, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, S.407-429; S. Hirschauer: Praktiken und ihre Körper, S.79. 84 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.187.
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bzw. nicht-menschlichen Partizipanden eine dominante Rolle gegenüber dem Anderen einnimmt, sondern sich die Beteiligten des soziomateriellen Ensembles in einem gemeinsamen Rhythmus einschwingen.85 Bekommt die betreffende Person den Vorfußkontakt jedoch nicht hin, dann bleibt das elektronische Kniegelenk wie im Falle von Fabian Rudloff steif, was zur Folge hat, dass sich sogar sehr aktive Prothesenträger in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten fühlen, wobei die Prothese als ›widerspenstiger‹ Akteur ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wie ich bei den verschiedenen Prothesenanpassungen immer wieder beobachten konnte. Gleichzeitig offenbart sich in diesen Momenten die bereits im Rehakapitel beschriebene (leibliche) Macht von Dingen bzw. des medizintechnischen Artefakts, da die elektronisch gesteuerte Beinprothese von der betreffenden Person ›verlangt‹, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu bewegen. Für meine Forschungsteilnehmer äußerte sich dies im eher negativen Sinne als leiblicher, das heißt spürbarer Zwang, das tun zu müssen, was die Prothese will, das medizintechnische Artefakt wird in seiner Wirkung somit konkret erfahrbar und als ›Störfaktor‹ empfunden.86 Im Gegensatz zu der oben erwähnten ›solidarischen Einleibung‹ kann hierbei nun von einer ›antagonistischen Einleibung‹ gesprochen werden, das heißt Mensch und medizintechnisches Artefakt stellen Antagonisten dar, wobei die mikroprozessorgesteuerte Prothese nicht ›gehorcht‹ oder eigensinnige Bewegungen ausführt, auf welche die betreffende Person wiederum körperlich durch die Anpassung ihrer Fußstellung oder Beckenkippung als auch leiblich durch ihre spürbare Dosierung der Kraft bzw. der Gleichgewichtsverlagerung reagieren muss, damit ein erfolgreiches Mensch-Medizintechnik-Zusammenspiel gelingen kann.87 Die körperlich-leibliche Sachaneignung des medizintechnischen Artefakts durch die betreffende Person erfolgt dabei vor allem im ›Bewegungslernen‹, das heißt durch das wiederholte Ausführen und Ausprobieren des Vorfußkontaktes.88 Speziell mikroprozessorgesteuerte Prothesen erfordern jedoch nicht allein das Erlernen des Vorfußkontaktes, sondern auch für das Umschalten in die verschiedenen Modi, mit denen Aktivitäten wie Fahrradfahren oder Skilanglauf ermöglicht werden sollen, muss der Prothesenfuß in einer spezifischen Art und Weise belastet werden. So ist beispielsweise beim C-Leg für das Umschalten vom ersten in den zweiten Modus ein dreimali-
85 Vgl. R. Gugutzer: Leibliche Interaktion mit Dingen, S.113. 86 Ebd., S.111/112; Rammert, Werner: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S.14. 87 Vgl. R. Gugutzer: Leibliche Interaktion mit Dingen, S.113. 88 Ebd., S.117.
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ges Wippen auf dem Prothesenvorfuß nötig und zwar innerhalb eines genau definierten Zeit- und Belastungsrhythmus, bis ein Beep- oder Vibrationssignal zu hören bzw. spüren ist, welches dem Prothesenträger mitteilt, dass die Umstellung erfolgreich war. Im Sinne von Don Ihde kann hierbei auch von einer hermeneutic relation gesprochen werden, die Mensch und medizintechnisches Artefakt miteinander eingehen, wobei mit hermeneutic relation gemeint ist, dass »[...] humans have to interpret signs that are produced and displayed by technology.«89 Ein C-Leg, Genium oder Rheo Knee, das blinkt, piept oder vibriert, erfordert von den betreffenden Individuen – Prothesenträger wie auch Orthopädietechniker – die ›richtige‹ Interpretation dieser Zeichen, zugleich rückt in diesen Momenten das medizintechnische Artefakt in seiner Materialität allerdings wieder verstärkt ins Zentrum der (sinnlichen) Aufmerksamkeit und wird von Prothesenträgern in körperlich-leiblicher Hinsicht weniger als Bein, sondern eher wieder als Prothese und medizintechnisches Artefakt erlebt wie ich beobachten konnte. Für Personen, denen diese unmittelbare körperlich-leibliche sowie sinnliche Interaktion mit ihrer Prothese bzw. ihrem C-Leg zu kompliziert ist, gibt es auch eine spezielle Fernbedienung, mit der die verschiedenen Modi eingestellt werden können. Darüber hinaus wurde 2015 von Ottobock die sogenannte Cockpit App auf den Markt gebracht, die es den jeweiligen Prothesenträgern ermöglicht, ihre mikroprozessorgesteuerte Beinprothese direkt mit ihrem Smartphone via Bluetooth zu bedienen. Der ›prothetisierte‹ Körper wird auf diese Weise zunehmend in das ihn umgebende technische Ensemble eingebunden, was nach Werner Schneider letztlich einer Verflüssigung von Körpergrenzen als kulturell fixierter Innen-Außen-Konzeption gleichkommt.90 Insgesamt hatte ich während meiner Forschung dabei den Eindruck, dass meine Forschungsteilnehemer elektronisch gesteuerten Prothesen im Vergleich zu rein mechanisch gesteuerten Modellen grundsätzlich mehr Handlungsträgerschaft im Sinne von agency zusprechen, das heißt ›intelligente‹ Beinprothesen werden eher als eigenständiger Akteur wahrgenommen, wobei sich diese Handlungsträgerschaft vor allem dann offenbart, wenn die mikroprozessorgesteuerte Prothese eben nicht so funktioniert wie vorgesehen. Der Ende 60-jährige Oberschenkelprothesenträger Hans-Peter Dechsel, der bereits seit über 50 Jahren links beinamputiert ist und den ich im Orthopädietechnikzentrum kennengelernt habe, hat sich in diesem Zusammenhang beispielsweise auch bewusst gegen das Tragen einer mikroprozessorgesteuerten Prothese entschieden. Zum Zeitpunkt
89 T. Röhl: From witnessing to recording, S.52; vgl. auch D. Ihde: Technology and the Lifeworld, S.80-97. 90 Vgl. W. Schneider: Der Prothesen-Körper als gesellschaftliches Grenzproblem, S.383.
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meiner Forschung war er mit einer mechanisch gesteuerten Oberschenkelprothese versorgt, konnte jedoch eine Woche lang probeweise das Genium von Ottobock austesten. Wie er mir am Ende der Probewoche geschildert hat, möchte er weiterhin seine mechanische Beinprothese behalten, denn bei dieser könne er selbst bestimmen, wie er sich bewegt, indem er mittels seines Beinstumpfes die Prothesenbewegung steuere. Mit dieser Prothese habe er die Freiheit so zu laufen, wie er will, bei Prothesen wie dem C-Leg oder Genium dagegen sei das anders, da werde er mehr »von der Technik fremdbestimmt«. Ähnlich haben sich auch andere meiner Gesprächspartner geäußert, die mit mikroprozessorgesteuerten Prothesenmodellen versogt sind. So meint die 29-jährige Tamara Wachinger über ihr C-Leg beispielsweise, »[da] hast du halt ne Technik unter dir, die auch teilweise halt mal macht, was sie will. Also mein C-Leg geht oft Berg runter, wenn da gar kein Berg ist (lacht).« Und auch Martina Schubert schildert, »[...] ich [...] hatte dann eigentlich hauptsächlich das Knie gelaufen (.), das war dann so ein Freischwingendes [mechanisch Gesteuertes, C.R.], wo ich das Gefühl hatte ›Wow, super‹, äh, ›Ich muss nicht das machen, was das Knie will‹ [...], sondern ähm ›Das Knie muss machen, was ich will‹, also ich will jetzt […] vom Spazierweg in die Pampa, also macht das Knie das mit. Und bei dem Elektronischen warʼs genau umgekehrt.«
Die ›Eigenständigkeit‹ oder auch ›Widerspenstigkeit‹ elektronisch gesteuerter Prothesen wurde bzw. wird jedoch nicht nur von Prothesenträgern selbst als solche wahrgenommen, sondern auch von den verschiedenen Orthopädietechnikern, die ich begleitet habe, wie exemplarisch an der beschrieben Prothesenanpassung von Fabian Rudloff deutlich wird, bei der Karl Bergmann, Michael Huber und Herr Eberle dem neu angepassten C-Leg in gewisser Weise ›ohnmächtig‹ gegenüberstanden, da sich die Beinprothese nicht ›verhielt‹ wie eigentlich vorgesehen, was zur Folge hatte, dass keine (erfolgreiche) Mensch-MedizintechnikBeziehung zwischen Fabian Rudloff und seinem neuen C-Leg hervorgebracht werden konnte. Trotz dieser ›Komplikationen‹, die speziell bei der orthopädietechnischen Anpassung bzw. beim Gebrauch von mikroprozessorgesteuerten Beinprothesen auftreten können, möchte jedoch – abgesehen von Hans-Peter Dechsel – keiner meiner knieex- oder oberschenkelamputierten Forschungsteilnehmer, die mit elektronischen Prothesenmodellen versorgt sind, auf das Tragen derselben verzichten, da ihnen die eingebaute Elektronik im Vergleich zu mechanisch gesteuerten Prothesen vor allem mehr Sicherheit in den verschiedensten Situationen bietet, wie mir immer wieder geschildert wurde. So bremst das elektronische Kniegelenk beim Gehen auf unebenem Gelände beispielsweise automatisch ab oder reguliert grundsätzlich die Stand- und Schwungphase automa-
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tisch, wodurch die Stolpergefahr erheblich verringert und der gesamte Bewegungsablauf erleichtert wird. Clemens Albrecht schildert in diesem Zusammenhang: »Die Sicherheit bei dem Gelenk, das ich jetzt habe, das isʼ so ein elektronisch Gesteuertes, isʼ natürlich erHEBlich größer geworden als es […] bei meiner ersten [mechanisch gesteuerten, C.R.] Prothese war, [...] isʼ einfach auch äh für Prothesenträger ein riesen Fortschritt, weil man früher sehr viel mehr darauf achten musste ›Wo tretʼ ich hin?‹ äh ›Wie isʼ das Gelände?‹, da muss man eigentlich bei diesen neuen Gelenken nur noch ganz wenig drauf achten, weil die Sicherheit so groß isʼ, selbst wenn man stolpert, kann man sich sehr leicht abfangen, das heißt, dass da die […] Achtsamkeit oder die Konzentration auf die Prothese sehr viel geringer isʼ als sie früher war.«
Darüber hinaus wird durch die eingebaute Elektronik der Körper der betreffenden Person insgesamt stärker entlastet, indem körperliche Kompensationsbewegungen, die Prothesenträger aufgrund der neuen Belastungssituation und fehlenden Muskelkraft oftmals machen, besser ausgeglichen werden können, eben »weil das Gelenk mitdenkt« und automatisch in der jeweiligen (Bewegungs-) Situation entsprechend ›reagiert‹ bzw. ›gegensteuert‹ wie es Markus Heßler, der Außendienstleiter von Ottobock, mir gegenüber während einer Prothesenanpassung formuliert hat. Damit verbunden können elektronisch gesteuerte Beinprothesen letztlich auch Aktivitäten des täglichen Lebens und somit die (Wieder-) Herstellung bzw. Stabilisierung von Alltag nach einer Beinamputation erleichtern, indem körperliche Routinehandlungen – nach einiger Übung im Umgang mit der Prothese – damit flüssiger und mit weniger Eigenkraftaufwand ausgeführt werden können. Deutlich wird dies auch an einer Aussage meines Interviewpartners Jürgen Metzler, der über sein Genium sagt: »[...] also ich kann zum Beispiel jetzt äh auf einer Schräge stehen, was vorher nicht möglich ist [sic]. Ich kann äh, KLEINE Schritte machen, was vorher auch nicht möglich gewesen ist, [...]. Ich bin ganz froh, dass ich es [das Genium, C.R.] habe (.), weil es halt doch, sage ich mal, das tägliche Leben nochmal ein Stückchen erleichtert. Allein über diese Funktionalität die es kann, äh, [...] Beispiel auch im Stehen, wo man wirklich mal sagt ›Hier, ich kann den Fuß mal belasten, egal in welcher Situation, er verriegelt und ich kann mich darauf verlassen, dass ich auch darauf stehen kann und nicht wegknicke‹.«
Wie mir allerdings Fabian Rudloff in einem Gespräch geschildert hat, fällt es ihm in emotionaler Hinsicht trotz der funktionalen Vorteile, die ihm das C-Leg insgesamt bietet relativ schwer, zu dieser elektronisch gesteuerten Prothese eine
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(intime) Beziehung aufzubauen. In den ersten Jahren nach seiner Beinamputation wurde Fabian Rudloff noch mit Holzprothesen versorgt, wobei »[d]as alte Holzbein [...] so eine Wärme [hatte]« wie er beschreibt, »[d]as haben die neuen Prothesen nicht mehr, die sind halt rein technisch«, »[d]u hast die Beziehung nicht mehr dazu, das ist das Technische«. Wie an dieser Aussage deutlich wird, beeinflusst somit auch die haptische Qualität der verschiedenenen Prothesenmodelle die Herstellung von Mensch-Medizintechnik-Beziehungen, das heißt die betreffenden Personen entwickeln dem medizintechnischen Artefakt gegenüber ein bestimmtes Gefühl, wobei dieses Gefühl unter anderem auch von dessen Oberflächenbeschaffenheit abhängt.91 Wie Fabian Rudloff zudem weiter berichtet, durfte er seine alten Holzprothesen behalten, die er dann jedes Mal feierlich mit einem Glas Sekt in der Hand in einem Fluss versenkt hat, »[...] weil man geht ja mit denen buchstäblich durch dick und dünn.« Das sei mit heutigen Prothesen – egal ob elektronisch oder mechanisch gesteuert – auch nicht mehr möglich, da die einzelnen Passteile nach Ablaufen der Herstellergarantie entweder vom Orthopädietechniker eingesammelt oder an die jeweilige Prothesenbaufirma zurückgeschickt werden und letztlich im Müll landen.92 Zusammenfassend kann schließlich im Hinblick auf die orthopädietechnische Anpassung von Beinprothesen festgehalten werden, dass es sich hierbei um einen komplexen Prozess handelt, der jedoch für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments eine wichtige Rolle spielt, wobei die verschiedenen an diesem Prozess beteiligten menschlichen wie nicht-menschlichen Partizipanden (Prothesenträger, Orthopädietechniker, Mitarbeiter technischer Außendienst der jeweiligen Prothesenbaufirma, medizintechnisches Artefakt Prothese, Laptop/Software, Vierpunktwaage etc.) auf unterschiedliche Weise sowohl materiell-körperlich, leiblich als auch sinnlich miteinander interagieren, um (erfolgreiche) Mensch-Medizintechnik-Beziehungen hervorzubringen. Es geht bei diesem Prozess der shared work und des empirical
91 Vgl. R. Gugutzer: Leibliche Interaktion mit Dingen, S.108/109. 92 Um dieser Verschwendungspraxis entgegenzuwirken, wurde unter anderem von dem ehemaligen Berliner Orthopädietechniker Klaus Dittmer, den ich im Rahmen einer Tagung kennengelernt habe, die Initiative ›Propedia‹ ins Leben gerufen, bei der teure ausrangierte Prothesenpassteile wieder verwertet und von Orthopädietechnikern in Entwicklungsländern bzw. Krisengebieten vor Ort beispielsweise Minenopfern weltweit zur Verfügung gestellt und angepasst werden. Siehe hierzu u.a. auch Homepage des BMAB über Klaus Dittmers Initiative ›Propedia‹, http://www.bmab.de/initiativepropedia/ (Stand: 22.09.16).
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tinkering letztlich darum, im Hiniblick auf die Passform und den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts Prothese eine Position zu finden, »[…] that suits the person, a position in which he/she feels comfortable, in which there is less pain and in which new actions are possible [...].«93 Denn eine Prothese bzw. ein Schaft, der ›gut‹ sitzt, ermöglicht der betreffenden Person ein Aufgehen im Tun, weil der Fokus von der Prothese weg und auf andere Aktivitäten gerichtet werden kann, wodurch wiederum das Ausüben verschiedener Alltagspraktiken erleichtert wird.94 Allerdings wird durch jede prothetische Neuversorgung oder Neuanpassung einzelner Prothesenkomponenten eine einmal etablierte, funktionierende Beziehung zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt bzw. die körperlich-leibliche Integration von Prothesen immer wieder herausgefordert und muss als solche erneut hergestellt werden, weshalb es sich bei technogenem Embodiment um einen höchst relationalen und situationsbedingten Prozess handelt, um ein ongoing enactment, um es mit den Worten der skandinavischen Sozialanthropologin Ingunn Moser zu formulieren.95 Prothese-Tragen ist im Zusammenhang mit den aktuellen technischen Möglichkeiten darüber hinaus immer nur zeitlich begrenzt möglich, da Kunststoff auf die empfindliche Haut des Beinstumpfes trifft, was eben immer wieder zu Druckschmerzen oder wunden Stellen führt. Wie mir zudem von verschiedenen meiner Gesprächspartner erzählt wurde, führt insbesondere Hitze im Sommer zu starkem Schwitzen im Prothesenschaft, was häufig mit Juckreiz oder einem süßlich-säuerlichen Geruch verbunden ist, der von meinen Forschungsteilnehmern vor allem bei Interaktionen mit fremden Personen als unangenehm oder auch peinlich empfunden wird. Die Prothese in ihrer Materialität rückt in diesem Moment (wieder) ins Zentrum der sinnlichen Aufmerksamkeit, sie wird zum unliebsamen Ding, zum Fremdkörper, sie löst Frustration und Ärger aus. Sämtliche meiner Forschungsteilnehmer und Interviewpartner sind daher froh, wenn sie ihre Prothese hin und wieder ausziehen können. Zufrieden mit einer Prothese zu leben und diese nicht nur körperlich, sondern auch leiblich als Teil von sich selbst empfinden zu können, hängt letztlich aber nicht nicht allein vom Tragekomfort bzw. der Passform und der Funktionalität der Prothese ab, sondern auch vom jeweiligen soziokulturellen Kontext, in dem der Gebrauch des medizintechnischen Artefakts generell stattfindet. Wie dabei aus den Erzählungen meiner Interviewpartner hervorgeht, haben vor allem gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen von Behinderung und damit verbundene Reaktionen der sozialen Umwelt meinen Forschungsteil-
93 M. Winance: Care and disability, S.102. 94 Vgl. auch R. Gugutzer: Verkörperungen, S.129/130. 95 Vgl. I. Moser: A body that matters, S.84.
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nehmern gegenüber wesentlichen Einfluss darauf, inwiefern es diesen gelingt, sich in positiver Weise mit ihrem durch die Amputation veränderten und mittels Prothesen technisierten Körpers zu identifizieren und eine intime Beziehung zu ihrer Prothese aufzubauen. Welche Rolle das Thema Behinderung im Leben bzw. Post-Amputations-Alltag meiner Forschungsteilnehmer dabei konkret spielt und inwiefern sich dies wiederum auf die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments auswirkt, werde ich im nachfolgenden Kapitel daher genauer in den Blick nehmen.
5.4
PROTHESENTRÄGER UND DIE ALLTÄGLICHE (DE-)KONSTRUKTION VON BEHINDERUNG
Wie ich bereits in Kapitel 3 dargestellt habe, kann eine Gliedmaßenamputation nicht nur als Ereignis betrachtet werden, durch das der Alltag der betreffenden Personen in die Krise gerät und neu angeeignet werden muss, sondern eine Amputation kann auch als körperlich-leibliche Transformations- sowie biographische Diskontinuitätserfahrung verstanden werden. 96 Meine als nicht-behindert sozialisierten Forschungsteilnehmer und Interviewpartner fanden sich nach ihrer Beinamputation noch im Krankenhaus zum ersten Mal mit der Zuschreibung ›behindert‹ konfrontiert, wobei sich diese Fremd- wie auch Selbstzuschreibung vor allem über ihr durch die Amputation verändertes körperliches Erscheinungsbild und entsprechende Reaktionen des sozialen Umfeldes konstituierte. Darüber hinaus werden Menschen mit Beinamputation in Deutschland aber auch offiziell als behindert klassifiziert, indem ihnen auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens bzw. der sogenannten Versorgungsmedizinischen Grundsätze, bei welchen es sich um bundesweit gültige Richtlinien handelt, je nach Amputationshöhe, Beschaffenheit des Beinstumpfes sowie der allgemeinen physisch-psychischen Verfassung ein bestimmter Grad der Behinderung (GdB) von 20 bis 100 zugeteilt wird.97 Dies entspricht ganz dem in Kapitel 2.1 beschriebenen medizi-
96 Vgl. auch R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.46. 97 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Versorgungsmedizin-Verordnung. Versorgungsmedizinische Grundsätze 2015, https://www.bmas.de/Shared Docs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710-versorgundsmed-verordnung.pdf?__ blob=publicationFile (Stand: 14.07.16); Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, http://www.bmas.de/DE/The-men/SozialeSicherung/Versorgungsmedizin/versorgungsmedizin.html;jsessionid=14879005E16FCDACF874E1B4D923 EB09 (Stand: 14.07.16).
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nischen Modell von Behinderung, welches diese in erster Linie mit körperlicher/kognitiver Schädigung oder funktionaler Beeinträchtigung gleichsetzt und was auf den soziokulturellen Konstruktionscharakter von impairment verweist, indem Behinderung bzw. behinderte Körper durch den Akt der medizinischen Klassifikation erst als solche hervorgebracht werden. Dabei gelten Personen in Deutschland ab einem GdB von 50 als schwerbehindert, was grundsätzlich Menschen mit Beinamputation betrifft, da bei einseitiger Unterschenkelamputation in der Regel ein GdB von 60 zugesprochen wird, bei beidseitiger Unterschenkelamputation oder einseitiger Hüftexamputation ein GdB von 80, bei einseitiger Oberschenkelamputation ein GdB von 70 sowie bei beidseitiger Oberschenkelamputation ein GdB von 100.98 Die Amputation erforderte von meinen Forschungsteilnehmern somit eine Re-Definition ihres eigenen Selbstbildes, zumal insbesondere wissenschaftliche und bürokratische Klassifikationen bei den klassifizierten Individuen meist eine neue Erfahrung des Mensch-Seins bedingen, wie der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking in verschiedenen Studien herausgearbeitet hat und was er als making up people bezeichnet.99 Das heißt, »[o]b wir als gesund oder krank, als zu dick oder zu dünn, [als behindert oder nicht-behindert, C.R.] klassifiziert werden, prägt unser Selbstverständnis und die Handlungsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.«100 In diesem Zusammenhang wurde mir von verschiedenen meiner Gesprächspartner immer wieder der Eindruck geschildert, seit ihrer Amputation von außenstehenden Personen oftmals nicht mehr als ›ganzer Mensch‹ oder ›vollwertiges Gesellschaftsmitglied‹ wahrgenommen zu werden, weshalb es für alle meine Interviewpartner vor allem in der ersten Zeit nach der Amputation und der rehabilitationsklinischen Anschlussheilbehandlung wichtig war, ihre Prothese immer zu tragen und diese unter langer Kleidung und/oder einer hautfarbenen Kosmetik zu verstecken, um nach außen hin eben nicht auf den ersten Blick als ›Behinderter‹ identifiziert zu werden. Wie dabei der US-Disability-Forscher Tobin Siebers
98
Ebd.
99
Vgl. Hacking, Ian: Making up People, in: Heller, T./Sosna, M./Wellberry, D. (Hg.): Reconstructing Individualism. Stanford: Stanford University Press 1986, S.222-236; Hacking, Ian: Leute erfinden, in: Ders.: Historische Ontologie. Beiträge zur Philosophie und Geschichte des Wissens. Zürich: Chronos 2006, S.119-137; vgl. auch Klausner, Martina: Klassifikationen und Rückkopplungseffekte, in: Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/ Sørensen, Estrid (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S.245-275, hier: S.276.
100 M. Klausner: Klassifikationen und Rückkopplungseffekte, S.277.
Einblicke in das poststationäre Leben von Prothesenträgern | 249
schreibt, werden als (körper-)behindert klassifizierte Personen häufig mit dem Absprechen sozialer Kompetenzen konfrontiert, was seiner Meinung nach vor allem mit einer gegenwärtig vorherrschenden ideology of ability, also einer Ideologie der (Leistungs-)Fähigkeit zusammenhängt, die in erster Linie über den unversehrten Körper definiert wird.101 Auf Basis dieser Ideologie werde schließlich auch festgelegt, was als ›menschlich‹ und was als ›unmenschlich‹ gelte, das heißt »[t]he lesser the ability, the lesser the human being.«102 Ähnlich äußern sich die beiden schottischen Disability-Forscher Kevin Paterson und Bill Hughes, die ebenfalls betonen, dass »[…] ›social competence‹ is informed and coded by non-impaired carnality […]«103 und auch Ingunn Moser schreibt, »[...] disabled people frequently are not attributed competent normal agency and subjectivity. Unlike able-bodied people, who are seen to have it inherently, agency and subjectivity are often, and in an almost systematic way, distributed away from disabled people. (Herv. i. O.)«104 Das Absprechen sozialer Kompetenz im Falle von als behindert klassifizierten Personen erklärt der US-Disability-Forscher Lennard J. Davis unter anderem damit, dass Behinderung im Allgemeinen dem neoliberalen Glauben an das freie und autonome Subjekt widerspricht, da Behinderung im gesellschaftlichen Verständnis trotz aller Inklusionsbestrebungen und Debatten um die Anerkennung menschlicher Vielfalt, die sich seit einigen Jahren in Deutschland sowie verschiedenen europäischen Ländern und auch den USA beobachten lassen, nach wie vor meist mit Hilflosigkeit, Unselbständigkeit etc. assoziiert wird.105 Als behindert kategorisierte Menschen werden damit verbunden häufig als ›Fremde‹ in der ›eigenen‹ Gesellschaft angesehen, ihre ›verkörperte Differenz‹ wird weniger als selbstverständliche Diversitätsdimension verstanden, sondern vielmehr dazu benutzt, sie als tragische, von Leid geprägte Fi-
101 Vgl. Siebers, Tobin: Disability and the Theory of Complex Embodiment – For Identity Politics in a New Register, 2012, S.274. Online-Dokument, https://www. academia.edu/2651226/Disability_and_the_Theory_of_Complex_Embodiment--For _Identity_Politics_in_a_New_Register (Stand: 07.07.16). 102 Ebd. 103 Hughes, Bill/Paterson, Kevin: Disability Studies and Phenomenology: The carnal politics of everyday life, in: Disability & Society 14 (1999), S.597-610, hier: S.607. 104 I. Moser: Disability and the promises of technology, S.385/386. 105 Vgl. Davis, Lennard J.: Why Is Disability Missing From the Discourse in Diversity?, in: The Chronicle of Higher Education vom 24.09.2011. Online unter http:// chronicle.com/article/Why-Is-Disability-Missing-From/129088/ (Stand: 10.09.16).
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guren zu stereotypisieren. 106 Der selbst im Rollstuhl sitzende Wissenschaftler Volker Schönwiese ist zudem der Meinung, dass die Angst vor der eigenen ›Abweichung‹ im Rahmen der gesellschaftlich projektiven Funktion von Behinderung agiert und zum Erschrecken beim Anblick von (vermeintlich) ›normabweichenden‹ Personen, zum meist unbewussten Wunsch, dass diese Personen nicht so sein sollten wie sie sind oder zu unmittelbar empfundenen Mitleidsgefühlen führt.107 Für meinen Interviewpartner Eduard König ist es daher auch drei Jahre nach seiner Beinamputation immer noch wichtig, dass seine Prothese nicht als solche sichtbar ist, weil »[...] sonst wirst ja überall gleich angegafft [...].« Über seinem C-Leg trägt er deshalb eine hautfarbene Kosmetik, wobei ihm das mikroprozessorgesteuerte Prothesenmodell im Vergleich zu seiner mechanisch gesteuerten Interimsprothese auch in funktionaler Hinsicht ein soziales Pasing als ›nicht-behindertes‹, ›kompetentes‹ Gesellschaftsmitglied ermöglicht, indem seine körperlichen Bewegungen durch die eingebaute Elektronik ›natürlicher‹, ›eleganter‹, kurz: ›normaler‹ wirken wie er selbst es in seiner Post-Amputationsgeschichte schildert. Auch Lennard Beck hat mir in ähnlicher Weise beschrieben, dass er nach wie vor unter allen Umständen versucht, mit seinem C-Leg »[…] so gut wie möglich zu laufen […], ich bin jetzt kein übertriebener Fanatiker, was mein Gangbild angeht, […] aber […] ich versuchʼ natürlich schon, so das Ganze zu machen, dass keiner möglichst meint, dass ich ne Prothese tragʼ, ja.« Aus diesem Grund trägt Lennard Beck wie Eduard König über seinem CLeg ebenfalls eine hautfarbene Kosmetik, »[…] also ich kuck halt, dass es möglichst so aussieht […] wie nʼ echtes Bein […]«, denn »[…] es [ist] nicht angenehm […], […] wegen was Negativem oder was nicht der Norm entspricht […] im Mittelpunkt […] zu stehen, ja.« Und weiter meint er, »[…] wenn du doch mal irgendwo ohne Prothese bist, […] kleine Kinder äh die […] fragen natürlich oder […] fragen ihre Mama und die Mama schaut dann beschämt weg und
106 Vgl. Wangui Murugami, Margaret: Disability and Identity, in: Disability Studies Quarterly 29 (2009), ohne Pagination. Online unter http://dsq-sds.org/article/view/ 979/1173 (Stand: 07.09.16); Jeske, Ina/Ruther, Carolin: Tagungsbericht: Alles anders? Zur Bedeutung der Kategorien Gender und Diversität in der interdisziplinären Forschung, 21.03.2014 – 22.03.2014 Augsburg, in: H-Soz-Kult vom 13.06. 2014, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5422 (Stand: 10. 12.16). 107 Vgl. Schönwiese, Volker: Behinderung und Identität: Inszenierungen des Alltag, in: Mürner, C./Langner, A. (Hg.): Behinderte Identität? Neu-Ulm: AG-SPAK-Bücher 2011, S.143-163, hier: S.147.
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sagt ›Jetzt gehen wir‹ oder […] was auch so ne komische Zielgruppe isʼ, […] pubertierende Mädels so zwischen vierzehn und sechzehn […]. Die können damit auch nicht umgehen, […]. (..) Die machen schon mal ne blöde Bemerkung oder lachen oder keine Ahnung oder das willst dir halt dann auch ersparen, […] na hast du die Prothese dann auch AN, ja, die trägst du dann auch immer und (.) versuchst schön brav zu laufen […].«
Wie an diesen Aussagen deutlich wird, sind es vor allem die als negativ empfundenen Reaktionen fremder Personen wie ›blöde Kommentare‹, ›Gaffen‹ oder ›beschämtes Wegschauen‹, die bedingen, dass Lennard Beck und Eduard König ihr Haus nur mit Prothese verlassen, um ein mögliches Abwerten ihrer Person zu vermeiden, wobei ihnen das ›unsichtbare‹ medizintechnische Artefakt ein doing visibile normality ermöglicht und für meine beiden Forschungsteilnehmer in dieser Hinsicht vor allem eine sozial-integrative Funktion erfüllt.108 Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass gesellschaftliche Vorstellungen von Amputation, prothetisierten Körpern und Behinderung im Allgemeinen nach wie vor in einem eher negativen Sinne meist als Abweichung von einer medizinisch bzw. gesellschaftlich definierten Norm und eben weniger als Teil menschlicher Vielfalt wahrgenommen werden. Dies geht auch aus der Aussage einer Ende 60-jährigen, doppelseitig unterschenkelamputierten Prothesenträgerin hervor, die sich bei einem von mir besuchten Treffen der Selbsthilfegruppe 3 im Hinblick auf entsprechende Reaktionen der sozialen Umwelt Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträgern gegenüber Folgendermaßen geäußert hat, sie sagt: »Die Leute schauen, weil du nicht der gesellschaftlichen Norm entsprichst.« Diese als negativ empfundenen Reaktionen außenstehender Personen können sich dabei auch negativ auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments auswirken wie die Beispiele von Eduard König und Lennard Beck zeigen, denn so wird das medizintechnische Artefakt von meinen beiden Forschungsteilnehmern in ihren Erzählungen meist als ›Ding‹ oder ›Fremdkörper‹ bezeichnet und somit weniger als zu ihrem Körper gehörend bzw. als Teil ihrer eigenen Person empfunden, sondern eher als notwendiges Übel, das ihnen wenigstens ein weitgehend mobiles Leben und nach außen hin eben ein soziales Pasing als ›kompetentes‹ Gesellschaftsmitglied ermöglicht. Lucie Dalibert, die bei ihren Forschungen über Menschen mit implantierten Rückenmarks-
108 Vgl. auch Winance, Myriam/Marcellini, Anne/De Léséleuc, Éric: From repair to enhancement: the use of technical aids in the field of disability, in: Bateman, S./Gayon, J./Allouche, S./Gofette, J./Marzano, M. (Hg.): Inquiring into human enhancement. Interdisciplinary and International Perspectives. Houndsmills, Basingsoke, New York: Palgrave Macmillan 2015, S.119-137, hier: S.121.
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stimulatoren bzw. Prothesenträger in den Niederlanden ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt in diesem Zusammenhang auch, dass »[l]iving with somatechnology is intrinsically linked with who and what counts as human. […] enacting healthy able-bodiedness insofar as it affords a certain degree of material and visible anonymity is a particular concern when living with somatechnology – one that is also critical for its incorporation.«109 Der Soziologe Erving Goffman hat dabei bereits in seiner 1963 veröffentlichten Studie »Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität« darauf hingewiesen, dass Menschen mit sichtbaren (Körper-)Behinderungen daher bei alltäglichen Interaktionen oftmals verschiedene Strategien des sogenannten Stigma- bzw. Identitätsmanagements anwenden (müssen), um eine weitere Beschädigung der eigenen Identität durch negative Reaktionen anderer Personen zu verhindern.110 Zu den von Goffman beschriebenen Techniken der Bewältigung beschädigter Identität zählt unter anderem das sogenannte Kurvieren, das heißt es wird versucht, die Aufdringlichkeit des vermeintlichen Makels auf ein Minimum zu reduzieren, beispielsweise durch das Verwenden einer hautfarbenen Prothesenkosmetik oder durch das Verstecken der Prothese unter langer Kleidung. Dabei muss jedoch genau darauf geachtet werden, dass die Prothese nicht als solche sichtbar wird, da sich ihre sozial-integrative Funktion ansonsten schnell ins Gegenteil verkehren kann und die betreffende Person somit unter Umständen (wieder) gesellschaftlicher Diskriminierung bzw. Stigmatisierung ausgesetzt wird.111 Robert Gugutzer und Werner Schneider merken in diesem Zusammenhang ebenfalls an, dass besonders als körperbehindert klassifizierte Menschen häufig ein aktives Identitätsmanagement im Goffmanʼschen Sinne betreiben müssen, welches ihren individuellen und sozialen Bedürfnissen entspricht. Das bedeutet, »[d]ie körperliche Selbstdarstellung, die im Alltagsleben von jedem Gesellschaftsmitglied zumeist unbewusst geleistet wird, verwandelt sich so unter Umständen zur bewusst einzusetzenden Interaktionsstrategie, zur gezielten und mehr oder weniger durchgängig zu betreibenden Identitätspolitik. Der Körper kann hierbei als Medium genutzt werden, um ein Selbst zu präsentieren, das die Differenz zum Normkörper möglichst gering halten will und den eigenen behinderten Körper in entsprechender Weise instrumentalisiert. Oder
109 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.225. 110 Vgl. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975 [1963]; M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung, S.154. 111 E. Goffman: Stigma, S.128-131.
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umgekehrt: Der anormale Körper wird gezielt in seiner Andersheit inszeniert, um den Widerstand gegen die herrschende Wissensordnung zum Ausdruck zu bringen, sich ihren hegemonialen Selbstzuschreibungen zu entziehen. (Herv. i.O.)«112
Gerade in Bezug auf den letzten Satz des Zitates oder die Aussage, dass der gesellschaftlich als ›anormal‹ klassifizierte Körper gezielt in seiner ›Andersheit‹ inszeniert wird, korrespondiert mit dem im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Trend, die Prothese nicht mehr länger unter hautfarbener Kosmetik oder langer Kleidung zu verstecken, sondern diese vielmehr selbstbewusst und offen zu zeigen, entweder durch den vollständigen Verzicht jedweder Kosmetik oder aber durch die Wahl eines möglichst ausgefallenen Prothesendesigns. Die USSoziologin Cassandra Crawford bezeichnet diese neue bzw. gezielte Visibilität von Prothesen dabei auch als ein bewusstes becoming public von Prothesenträgern im Sinne einer bewusst getroffenen Entscheidung, sich nicht mehr länger zu verstecken und sich dem gesellschaftlichen Zwang, so ›normal‹ wie möglich auszusehen, zu unterwerfen oder sich dadurch einschränken zu lassen, zumal eine hautfarbene Kosmetik oftmals mit Einbußen in der Funktionalität des medizintechnischen Artefakts verbunden ist.113 Deutlich wird dies exemplarisch auch an einer Aussage von Martina Schubert, die ihr C-Leg mittlerweile ebenfalls offen und ohne die Verwendung einer hautfarbenen Kosmetik zeigt und die ihr persönliches becoming public Folgendermaßen beschreibt: »Ich habʼ irgendwann mal hier hinterʼm Haus gewerkelt und habʼ so ne [...] Jeanspant angehabt, also ganz kurz [...] und habʼ dann gedacht ›Oh, du musst noch einkaufen. Ziehst du dich jetzt um?‹, na habʼ ich gesagt ›Nö, warum denn?‹. Und bin so in die Stadt gefahren und bin so durch die Stadt gelaufen, also mit wirklich kurzer Jeans (...) ähm, ja und das war auch für mich ok und habʼ dann gesagt ›Scheiß egal, die Leute sollen kucken, ich merkʼ auch, dass sie kucken‹ [...].«
Ein derartiges becoming public lässt sich dabei für die meisten meiner Interviewpartner nachzeichnen, denn so verzichteten von meinen insgesamt elf Gesprächspartnern bis auf Lennard Beck, Eduard König und Erika Tamm zum Zeitpunkt meiner Forschung alle auf das Tragen einer hautfarbenen Kosmetik und zeigten ihre Beinprothese stattdessen offen oder auch mit einem ausgefallenen Design, wobei Erika Tamm betont, dass sie selbst auch kein Problem damit hat, ihre Prothese zu zeigen, wenn sie von Personen direkt darauf angesprochen
112 R. Gugutzer/W. Schneider: Der ›behinderte‹ Körper, S.42/43. 113 Vgl. C. Crawford: Body Image, S.234/235.
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wird. Sie schildert, »[...] es gibt Leute, die interessiert das. Wie zum Beispiel die Dame, mit der ich da vorige Woche gesprochen habʼ, [...] sagʼ ich ›Wollen Sieʼs sehen?‹, na habʼ ich meine Hose hochgekrempelt und habʼ ihr das gezeigt.« Auch Elisabeth Rüsch versteckt ihre Beinprothese nicht mehr länger, sondern hat sich ihr C-Leg mit bunten Fischen verzieren und den Prothesenschaft in Wellenoptik gestalten lassen, zudem möchte sie auch bei ihrem im Mai 2016 neu angepassten Genium X3 auf eine hautfarbene Kosmetik verzichten, wie sie mir geschildert hat. Dieser Entschluss meiner Forschungsteilnehmer, ihre Beinprothese bewusst und offen zu zeigen, kann dabei im neophänomenologischen Sinne auch als körperlich-leiblicher Widerstand gegen die vorherrschende soziokulturelle bzw. visuelle Ordnung verstanden werden, die vor allem über den unversehrten Gesundheits- und Leistungskörper definiert und von meinen Forschungsteilnehmern leiblich, das heißt spürbar als diskriminierend oder einschränkend empfunden wird, wobei dieser Widerstand nun nach außen hin durch das bewusste Zeigen der Prothese verkörpert und zum Ausdruck gebracht werden kann.114 Speziell im Falle meiner weiblichen Interviewpartnerinnen kann das bewusste Zeigen der Prothese darüber hinaus auch als körperlich-leiblicher Widerstand gegen gesellschaftlich verbreitete Gender-Stereotype und Weiblichkeistideale gesehen werden, die den ›prothetisierten‹, ›technisierten‹ Körper – wie in Kapitel 5.2 beschrieben – in erster Linie als ›unweiblich‹ ansehen und die nun von meinen Forschungsteilnehmerinnen durch die Sichtbarkeit ihrer Prothese kritisch in Frage gestellt werden. Allerdings kann es damit verbunden passieren, dass Prothesenträger bzw. -trägerinnen von außenstehenden Personen weiterhin als ›irgendwie unmenschlich‹ wahrgenommen werden, denn so wurde eine 40jährige Oberschenkelprothesenträgerin, mit der ich im Rahmen eines von mir besuchten Selbsthilfegruppentreffens gesprochen habe und die ihr C-Leg ohne hautfarbene Kosmetik offen zeigt, im Urlaub von fremden Personen beispielsweise mit dem Ausspruch »Oh look, bionic people« konfrontiert und somit zwar weniger als behindert im ›klassischen‹ Sinne angesehen, stattdessen aber in die Nähe eines (geschlechtsneutralen) Maschinen-Menschen oder Cyborgs gerückt. Der australische Kulturanthropologe Jack-David Fletcher, der ähnliche Beobachtungen gemacht hat, schreibt im Hinblick auf den Gebrauch von Prothesen daher auch: »The hegemonic view that these technologies render the recipient as less than human places individuals – particularly those deemed disabled – in a […] no-win situation; even with the addition of prosthetic limbs which aim to restore the body to a state of hegemonic
114 Vgl. R. Gugutzer: Verkörperungen, S.55-58.
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normalcy, these bodies still remind the ›abled‹ of what can go wrong, and are a firm embodiment of an ›impure‹ body. […], these bodies are further positioned as Other and, […] as nonhuman in the sense that they are somehow recognised as more machine than human; […].«115
Meine Forschungsteilnehmer finden sich in ihrem täglichen Leben somit verschiedenen kulturellen Zuschreibungen von außen ausgesetzt, die reichen von ›Behinderter‹ über ›nicht-menschlich‹, ›inkompetent‹ bis hin zu ›MaschinenMensch‹ etc. Dennoch kann das beschriebene becoming public meiner Interviewpartner grundsätzlich als Anzeichen dafür gesehen werden, dass diese sich trotz aller negativen Erfahrungen oder Zuschreibungen, die sie seit ihrer Amputation im Zusammenhang mit den genannten Reaktionen der sozialen Umwelt gemacht haben, letztlich doch positiv mit ihrem durch die Amputation veränderten Körper einerseits sowie dem medizintechnischen Artefakt Prothese andererseits identifiziert haben und akzeptieren, »[…] that the body that inhabits the present is never the same body that inhabited the past [...].«116 Deutlich wird dies exemplarisch auch an einer Aussage von Saskia Eibich, die meint, »[...] vom Körperbild her isʼ es mittlerweile so, dass ich mich so akzeptiert habʼ, dass ich nʼ Stumpf habʼ, dass ich nʼ kaputtes linkes Bein habʼ und dass es mein Bild isʼ und das wird auch nicht mehr anders. [...] Mittlerweile isʼ es so, dass sie [die Prothese, C.R.] wirklich zu mir gehört.« Wie mir Saskia Eibich zudem weiter geschildert hat, hat sie selbst heute auch kein Problem mehr damit, sich ohne Prothese in der Öffentlichkeit zu zeigen, denn »[...] mittlerweile ziehe ich auch meinen Fuß am Strand aus, bauʼ meine Krücken zusammen [...] und gehʼ dann so Schwimmen und dann merkʼ ich schon immer, dass immer alle, die mich noch nicht kennen, einfach auch schauen [...]. [...] Kinder interessiert das natürlich immer, ja, [...] wenn da plötzlich nʼ Bein liegt, ja, die sind beim Schwimmen, es isʼ kein Mensch da und es liegt ein Bein auf ner Wiese, ja, und [...] wo ich dann wirklich auch mal auf das Kind oder auch [...] auf Leute zugehʼ und sagʼ ›Hey, wennʼs euch interessiert, ich erzählʼ euch alles. Ich zeigʼ auch alles, isʼ überhaupt kein Thema, ich habʼ kein Problem damit, wenn ihr keins damit habt‹ […].«117
115 Fletcher, Jack-David: Transhuman Perfection: The Eradiction of Disability Through Transhuman Technologies, in: Battaglia, F./Carnevale, A. (Hg.): Humana Mente. Journal of Philosophical Studies 26 (2014), S.79-94, hier: S.85. 116 C. Crawford: Body Image, S.235. 117 Wie an dieser Aussage von Saskia Eibich ebenfalls deutlich wird, bezeichnet sie ihre Prothese hier nicht als Prothese, sondern sie spricht von ihrem ›Fuß‹ oder ›Bein‹,
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Dieses neue Selbstbewusstsein meiner Forschungsteilnehmer ihrem eigenen ›amputierten‹ bzw. ›prothetisierten‹ Körper wie auch ihrer sozialen Umwelt gegenüber hat sich allerdings erst im Verlauf der Zeit als solches entwickelt bzw. musste von diesen vielmehr im Rahmen einer aktiven Biographiearbeit (biographical work) in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normalitäts- und Normativitätsvorstellungen erarbeitet werden und ist verbunden mit einer kritischen Reflexion sowie Infragestellung der ihnen (vor allem von außen) zugeschriebenen Kategorie Behinderung im medizinischen Sinne. Deutlich wird dies unter anderem an der Post-Amputationsgeschichte von Christina Jahn, die sich ̶ wie dargestellt ̶ kurz nach der Amputation ihrer beiden Unterschenkel selbst als behindert identifiziert hat, ein Jahr später zum Zeitpunkt unseres Interviews jedoch meint: »Also ich HABE ne Behinderung, [...] per definitionem gesehen schon, aber ich BIN nicht behindert [...]. [...] ich glaubʼ, [...] dass [...] Behinderung [...] im Kopf entsteht [...] im Sinne von [...] wie du dich selber einschränkst (..) dadurch behinderst du dich selber [...].« In ähnlicher Weise haben sich die meisten meiner Interview- und Gesprächspartner geäußert, so wurde mir von Simone Kunzmann während meiner Feldforschung in der Rehaklinik beispielsweise beschrieben, »[a]lso, es hört sich jetzt blöd an, aber ich sagʼ dir das jetzt einfach, also ich fühlʼ mich nicht behindert, [...]« und auch Martina Schubert meint, »[...] es isʼ jetzt die große Frage ›Was isʼ behindert?‹. [...] Ich bin ein Mensch mit Einschränkung, ja, kann mein Leben aber selber in die Hand nehmen [...]«, »[…] wenn du da sagst ›Ich kann das nicht‹, dann setzt du dir die Grenzen im Kopf. Wenn du aber offen bist und sagst ›Ich verSUCHE das und ich MACHʼ einfach mal‹, dann wirst du ja sehen, […] ob du es kannst oder nichʼ, ob du […] insofern behindert bist, dass duʼs kannst oder nichʼ.« Ähnliche Beobachtungen hat auch Steven Kurzman bei seinen Forschungen gemacht, das heißt auch die von ihm interviewten US-amerikanischen Prothesenträger bezeichnen sich selbst in erster Linie als not disabled und als abled with an impairment.118 Die Distanzierung vom Begriff sowie der Zuschreibung zur Kategorie Behinderung sowohl durch Kurzmans als auch meine Forschungs-
was darauf verweist, dass sie das medizintechnische Artefakt als zu ihrem Körper bzw. zu ihrer Person gehörend akzeptiert, auch wenn sie ihre Prothese im beschriebenen Moment gar nicht trägt, weshalb im Sinne Emily Heaveys auch von einer narrative incorporation of prosthetic parts gesprochen werden kann, wobei Saskia Eibich ihren eigenen Körper in diesem Zusammenhang letztlich narrativ auch als über die Hautgrenze hinaus expandierend konstruiert. Vgl. E. Heavey: Narrative Bodies, S.444. 118 Vgl. S. Kurzman: Performing able-bodiedness, S.167/168.
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teilnehmer bedeutet dabei allerdings nicht, dass diese Behinderung grundsätzlich negieren oder verdrängen. So verwenden meine Interviewpartner den Begriff Behinderung durchaus auch immer wieder in Bezug auf sich selbst, aber sie verorten diese nicht mehr ausschließlich in bzw. an ihrem Körper oder verstehen sie in einem negativen Sinne als leidvollen, defizitären Zustand, der irgendwie überwunden oder ›korrigiert‹ werden muss wie dies das medizinische Modell von Behinderung suggeriert. Vielmehr verweisen meine Gesprächspartner in ihren Narrationen auf den situativen Charakter des Behindert-Werdens, wobei neben der eigenen körperlichen (Tages-)Verfassung je nach Situation ganz unterschiedliche Faktoren wie die genannten Reaktionen der sozialen Umwelt, aber auch von nahestehenden Personen sowie die Passform der Prothese, die Gegebenheiten der jeweiligen materiellen bzw. architektonischen Umwelt und nicht zuletzt auch diverse bürokratische Regelungen eine Rolle spielen, die dementsprechend zu Behinderung oder auch Nicht-Behinderung führen. Das bedeutet, »[d]isability and the mechanisms of in- and exclusion related to it come about in concrete, every day practices. All kinds of factors are involved in such practices, including a personʼs specific body and technological aids, but also the physical structure of buildings and the actions of others […].«119 Es handelt sich im Sinne Michael Schillmeiers somit letztlich um multiple Realitäten von Behinderung, mit denen meine Forschungsteilnehmer in ihren Post-Amputations-Alltagen konfrontiert werden und die sich nicht mit einem einzigen, von den Disability Studies formulierten Modell von Behinderung beschreiben lassen. 120 Wie ich dabei bereits in Kapitel 5.2 dargestellt habe, haben insbesondere die Reaktionen enger Familienangehöriger sowie von Ehe- und Lebenspartnern einerseits wesentlichen Einfluss darauf, inwiefern es meinen Forschungsteilnehmern nach der Amputation gelang, sich positiv mit ihrem eigenen Körper zu identifizieren und eine emotionale bzw. intime Beziehung zu ihrer Prothese zu etablieren. Andererseits prägen deren Reaktionen damit verbunden aber auch maßgeblich die Selbstwahrnehmung meiner Forschungsteilnehmer als behindert oder aber nicht-behindert. So schildert Saskia Eibich über ihren heutigen Lebensgefährten, dass dieser der erste Mann seit ihrer Amputation war, bei dem sie sich endlich wieder ›normal‹ fühlen konnte, da dieser sie und ihren ›amputierten‹ bzw. ›prothetisierten‹ Körper so akzeptiert wie sie sind und auch Martina Schu-
119 M. Hoogsteyns/H. Van der Horst: Wearing the arm, S.60. 120 Vgl. Schillmeier, Michael: Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis, in: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: transcript 2007, S.79-103, hier: S.88.
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bert sagt über ihre Familie und engen Freunde, »[d]ie nehmen mich so wahr, wie ich bin, also, ich als Mensch und nichʼ ich als Behinderte.« Hoogsteyns/van der Horst haben bei ihren Forschungen mit Armprothesenträgern in den Niederlanden ähnliche Beobachtungen gemacht und schreiben in diesem Zusammenhang daher auch, dass »[...] family relationships appeared central to peopleʼs understanding of disability [...].«121 Allerdings kann das familiäre Setting umgekehrt aber auch das Gefühl des Behindert-Seins bei den jeweiligen Individuen erst als solches bedingen oder verstärken, indem sich Familienmitglieder für die betreffende Person schämen und von dieser verlangen, in der Öffentlichkeit ihre Prothese unter langer Kleidung zu verstecken oder aber, wenn von diesen übertrieben viel Hilfe angeboten wird. Fabian Rudloff hat mir während seiner Prothesenanpassung im Orthopädietechnikzentrum beispielsweise erzählt, dass er angebotene Hilfe zwar grundsätzlich schön findet, übertriebene Hilfe dagegen empfindet er als negativ, denn »[...] dadurch wird dir selbst ja der Spiegel vorgehalten, der zeigt, dass du es allein scheinbar nicht schaffst, dass du behindert bist.« Und auch Clemens Albrecht meint, »[a]lso ich hasse das sogar, [...] wenn man praktisch ständig so betüttelt wird als wärʼ man ein bissl, nicht ganz dicht oder nicht ganz äh ja nicht ganz so viel wert oder sonst was. […] meine Frau, die hat auch manchmal so Anwandlungen, ich sagʼ dann zu ihr ›Ich sagʼ dir schon, wenn ich Hilfe brauchʼ‹ […].« Für meine Forschungsteilnehmer ist es daher von zentraler Bedeutung, auch nach der Amputation so viele Tätigkeiten wie möglich selbständig zu erledigen, wobei sie ihre Beinprothese damit verbunden in den meisten Situationen vor allem als enabling technology erleben, da diese ihnen ein weitgehend mobiles und unabhängiges Leben ermöglicht. Vom Großteil meiner Gesprächspartner wurde mir in diesem Zusammenhang auch geschildert, dass sie sich selbst als nichtbehindert empfinden, so lange sie ihre Prothese tragen können und diese keine Schmerzen bereitet, wohingegen sie sich selbst als spürbar behindert wahrnehmen, wenn sie aufgrund von Schmerzen oder wunden Stellen am Beinstumpf auf das Tragen ihrer Prothese verzichten und stattdessen auf einen Rollstuhl oder Krücken zurückgreifen müssen, da dies für sie mit einem Verlust an Mobilität und Unabhängigkeit verbunden ist. Deutlich wird dies an einer Aussage von Martina Schubert, die sagt: »Erst mal bin ich froh, dass es überhaupt (.) die Möglichkeit gibt ähm, eine Prothese tragen zu können, weil [...] wenn (.) ich die Prothese nicht tragen kann aus verschiedenen Gründen, weil der Stumpf offen isʼ oder ähm weil grad irgendwie was nicht richtig passt,
121 M. Hoogsteyns/H. Van der Horst: Disability, family and technical aids, S.831.
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dann […] isʼ tatsächlich die Situation da, dass du dich behindert fühlst. […] ich habʼ mal jetzt drei Wochen die Prothese auch äh ausziehen müssen, weil ich nʼ offenen Stumpf hatte […] und dann sitzt du im Rollstuhl, du rollerst da hin und machst und tust ähm, aber dann willst du mal irgendwie an die frische Luft und schon stehst du dann vor der Balkontür und kommst nicht raus (.), weilʼs einfach ne große Stufe hat.«
Wie Martina Schubert hier beschreibt, war es ihr zuhause aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Prothese nicht tragen konnte und im Rollstuhl sitzen musste nicht möglich, die Stufe zu ihrer Balkontür zu überwinden, das heißt das spezifische materielle Setting, in dem sich Martina Schubert befand, bewirkte bei ihr das Empfinden des Behindert-Seins oder wie es Ingunn Moser aus einer materiellsemiotischen Perspektive formuliert: »A body becomes an able body through the enabling material practices it is involved. Equally, a body becomes a disabled body through the disabling material practices in which it is involved […].«122 Der Rollstuhl bedeutet für Martina Schubert im Vergleich zu ihrer Prothese weniger Mobilität und stellt für sie in der beschrieben Situation somit vor allem eine disabling technology dar, weil sie damit nicht ›fähig‹ ist bzw. dazu ›befähigt wird‹, die Stufe zu ihrem Balkon zu überwinden. Sowohl das materielle Artefakt Rollstuhl als auch die materiellen Gegebenheiten in ihrer eigenen Wohnung koproduzieren in dieser spezifischen Situation disability und bewirken bei Martina Schubert das (leibliche) Empfinden des Behindert-Seins, wohingegen Martinamit-Prothese die Stufe zum Balkon überschreiten kann. Für Menschen dagegen, die beispielsweise aufgrund von Querschnittslähmung auf einen Rollstuhl angewiesen sind, stellt dieser in der Regel vermutlich aber eher eine enabling technology dar, da er ihnen ein weitgehend mobiles, unabhängiges und selbständiges Leben ermöglicht. So schreibt der britische Disability-Forscher Alan Roulstone auch, »[t]he wheelchair is […] a master symbol of independence to some disabled people, […].«123 Wie an der Aussage von Martina Schubert allerdings ebenfalls deutlich wird, bedingen letztlich nicht nur die beschriebenen materiellen Rahmenbedingungen bei ihr das Gefühl des Behindert- oder Eingeschränkt-Seins, sondern dieses Empfinden wird vor allem auch durch Schmerzen als körpergebundener, negativer leiblicher Wahrnehmung ausgelöst, da es ihr dadurch eben nicht möglich ist, ihre Prothese zu tragen und was darauf verweist, dass »[b]odies with prostheses
122 I. Moser: A body that matters, S.88. 123 Roulstone, Alan: The Wheelchair: Enabled or Disabled? Houston, We’ve Had a Problem, in: Ders.: Disability and Technology. An Interdisciplinary and International Approach. London: Palgrave Macmillan 2016, S.181-207, hier: S.181.
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are feeble bodies: their abilities […] can be disrupted at any moment, causing the disability and the sensation of being disabled to emerge.«124 Exemplarisch geht dies auch aus der Post-Amputationsgeschichte von Saskia Eibich hervor, die beschreibt, dass sie sich bei bestimmten Aktivitäten zusammen mit Freunden, wie beispielsweise Skifahren oder Wandern, teilweise sozial ausgegrenzt fühlt, da sie ab einem gewissen Zeitpunkt an ihre körperlichen Grenzen stößt und eine Pause machen oder ihre Prothese ausziehen muss, weil ihr Beinstumpf schmerzt, während alle anderen noch weiter fahren bzw. laufen können. Das bedeutet, Behinderung wird in dieser Situation nicht durch gesellschaftliche oder soziale Barrieren hervorgerufen, sondern von Saskia Eibich in ihrem eigenen Körper als embodied experience of impairment verortet.125 Darüber hinaus kann sich auch das medizintechnische Artefakt Prothese als disabling technology erweisen, wie exemplarisch am Beispiel von Tamara Wachinger deutlich wird, die zwar »[...] nie einbeinig rumlaufen [...]« wollte, mittlerweile aber oftmals komplett auf das Tragen ihres C-Leg verzichtet und stattdessen auf zwei Krücken zurückgreift, da sie in gewissen Situationen ihre Prothese eher als hinderlichen Klotz am Bein(stumpf) empfindet, wie sie selbst schildert. Sie sagt: »[…] also ich nutzʼ die Prothese ja nur so teilweise, also ich […] laufʼ schon mit der, ich laufʼ aber auch viel ohne Prothese, ähm mit Prothese […] man hat so bissl nʼ Klotz am Bein ähm (..) teilweise ist man nicht so schnell, […]. [...] Gut, jetzt zum Beispiel Einkaufen ist mit Prothese geschickter. Wenn man jetzt nʼ Sprudelkasten tragen muss oder Einkaufstasche ähm oder irgendwas Schweres istʼs besser. Wenn man jetzt sich schneller bewegen will irgendwie (.) mobiler sein, […] das geht halt mit Prothese findʼ ich, also für mich, nicht so gut, […] isʼ mir persönlich zu langsam (...). [...] Ich kombinierʼ das halt auch soʼn bissl mit Krücken, mit Prothese, das Eine kann man mit Krücken besser, das Andere mit ähm Prothese […].«
Der bewusste Verzicht auf den Gebrauch von Prothesen muss dabei aus den Augen der Mehrheitsgesellschaft als unverständlich erscheinen, denn »[f]rom the accepted social point of view, this choice literally leaves the body exposed to stigma and social rejection […]«126 wie Michal Hoffman es formuliert, die im Rahmen ihrer Forschungen ähnliche Beobachtungen gemacht hat, da auch zwei ihrer Interviewpartner bewusst auf das Tragen ihrer Prothese verzichten und stattdessen auf Krücken zurückgreifen. Wie an der Aussage von Tamara Wa-
124 M. Winance/A. Marcellini/E. De Léséleuc: From repair to enhancement, S.126/127. 125 Vgl. B. Hughes/K. Paterson: Disability Studies and Phenomenology, S.608. 126 M. Hoffman: My ›Step-Leg‹, S.181.
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chinger jedoch deutlich wird, erklärt sie ihren situationsbedingten Verzicht auf die Prothese bzw. den situationsbedingten Gebrauch von zwei Krücken vor allem mit praktischen Gründen, da ihr manche Tätigkeiten eben mit Prothese leichter fallen, andere wiederum mit zwei Krücken ohne Prothese. Das Beispiel von Tamara Wachinger zeigt in diesem Zusammenhang aber auch in exemplarischer Weise, dass »[a] personʼs abilities are […] the result […] of the practical arrangements that people make in order to be able to go about their daily activities [...].«127 So mag Tamara-ohne-Prothese-mit-Krücken von außenstehenden Personen in erster Linie vermutlich eher als behindert wahrgenommen werden, sie selbst empfindet je nach Situation jedoch genau das Gegenteil. Wie mir von Tamara Wachinger allerdings weiter geschildert wurde, trägt sie ihre Prothese vor allem immer dann, »[…] wenn ich seriöser wirken will […].« Tamara arbeitet als selbständige Grafikdesignerin, weshalb sie ihre Prothese anzieht, »[…] wenn ich weiß, die Menschen, bei denen ich mich jetzt zum Beispiel vorstelle oder […] bei Kunden, die sehr (...) auf ihren Körper achten oder die nʼ sehr hohen Anspruch oder ja auf das Normale [haben und] ähm sehr körperbetont sind […] und ich kennʼ die nicht gut genug (4), dann äh stellʼ ich mich mit Prothese vor, […].«
Diese Aussage verweist letztlich wieder darauf, dass soziale Differenzierungsprozesse in erster Linie über die äußere Erscheinung des menschlichen Körpers ablaufen und dadurch Aussagen über die vermeintliche Kompetenz der jeweiligen Person gemacht werden, das heißt Tamara Wachinger »[...] must enact healthy able-bodiedness [...]«128, um von ihren (potentiellen) Kunden als kompetentes Gesellschaftsmitglied bzw. als kompetente Geschäftsfrau wahrgenommen zu werden. Genau aus diesem Grund verzichtet allerdings Martina Schubert ab und an bewusst auf das Tragen ihrer Prothese wie sie mir geschildert hat, »[…] damit die Leute mal darauf hingewiesen werden, ähm, und dass die die Angst verlieren, behinderten Menschen gegenüber zu treten. Und da merkt man immer wieder, dass es unterschiedliche Arten gibt, wie die Menschen reagieren. Es gibt ängstliche Menschen, ähm oder Menschen, die sich wegdrehen und sagen ›Oh Gott, das will ich nicht sehen. Oh Gott, das will ich nicht sehen das Elend‹ […] und mir isʼ es arg wichtig, das zu zeigen, dass die Leute da ein bisschen Tuchfühlung mit kriegen. Und auch mal sich gedanklich damit auseinander setzen, wie es wäre, wenn einem das [eine Amputation, C.R.] widerfährt.«
127 M. Winance/A. Marcellini/E. De Léséleuc: From repair to enhancement, S.124. 128 L. Dalibert: Posthumanism and Somatechnologies, S.217.
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Wie mir im Verlauf meiner Forschung jedoch ebenfalls aufgefallen ist, präsentieren sich meine Forschungsteilnehmer teilweise auch explizit als ›dezidiert Behinderter‹, indem sie auf das Tragen ihrer Prothese verzichten und auf einen Rollstuhl zurückgreifen, was vor allem dann der Fall ist, wenn es um die Bewilligung von Versorgungsanträgen geht. Meine Forschungsteilnehmer spielen damit verbunden bewusst mit dem Bild von Behinderung, das in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit vorherrscht und welches Behinderung – wie beschrieben – immer noch in erster Linie mit Leid, ›gebrochen‹ sein etc. verknüpft, wobei vor allem der Rollstuhl als das kulturelle Symbol für Behinderung schlechthin gilt. Bei einem von mir im Januar 2014 besuchten Selbsthilfegruppentreffen wurde einer 31-jährigen, doppelseitig unterschenkelamputierten Frau von Martina Schubert beispielsweise geraten, »[s]ei so behindert wie es irgendwie geht, wenn es um Versorgungsanträge geht […]. Gehe auch nicht mit Prothesen ins Versorgungsamt, sondern setzʼ dich in den Rollstuhl und […] lass dich schieben. Die wollen beschissen werden.« Eine derartige Performance als explizit ›Behinderter‹ ist dabei im Falle von Prothesenträgern vor allem gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland geschuldet, die es ihnen teilweise erschweren, Anträge für notwendige Versorgungen mit verschiedenen Hilfsmitteln bewilligt zu bekommen. Laut Dieter Jüptner, dem Präsidenten des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation, hängt dies unter anderem damit zusammen, dass Prothesenträger in der deutschen Verwaltungslandschaft oftmals nicht als Menschen mit Behinderung wahrgenommen werden. Er schildert: »Das Problem der Prothesenträger ist, dass sie im Alltag nicht auffallen. Das isʼ für uns als Verband nʼ Problem, weil (.) bei sämtlichen Gesprächen mit ähm öffentlichen Verwaltungen (.) oder mit […] Presseleuten, mit Politikern ähm stellt man fest, dass die keine Ahnung davon haben. Weil die eben niemanden kennen, der mit Prothese rumläuft. Man sieht die ja nicht. Wenn draußen einer hinkt, dann kann der ne Prothese tragen, er kann aber auch nʼ […] Hüftschaden haben […]. Der isʼ nichʼ erkennbar als Prothesenträger. Und […] in der öffentlichen Verwaltung äh […] in den ähm Barrierefreinormen, die es gibt, gibt es ähm als Behinderungen die Rollstuhlfahrer, die Blinden, die Gehörlosen (.) und damit hat sichʼs bereits. Es gibt keine Amputierten. Und das führt dann dazu ähm, dass Sie wenn Sie mit ähm Politikern sprechen, in der Regel erst mal auf Unwissen oder Unverständnis stoßen.«
Wie an dieser Aussage deutlich wird, befinden sich Prothesenträger somit in der paradoxen Situation, dass sie offiziell zwar auf der Grundlage des ihnen ärztlich zugeteilten GdB als schwerbehindert gelten, in der öffentlichen bzw. bürokrati-
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schen Wahrnehmung aber häufig nicht als Menschen mit Behinderung registriert werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ihre Beinprothese nicht als solche sicht- oder erkennbar ist, mit der Folge, dass sich meine Forschungsteilnehmer bei Behördengängen daher teilweise dazu gezwungen fühlen, sich durch den Gebrauch eines Rollstuhls in der Rolle des vermeintlich ›typisch Behinderten‹ zu präsentieren, um entsprechende Versorgungsanträge bewilligt zu bekommen, auch wenn sie sich selbst in ihrem täglichen Leben nicht in erster Linie über die ihnen medizinisch zugeschriebene Kategorie Behinderung definieren oder sich selbst nicht permanent als spürbar behindert empfinden. Als besonders negative Erfahrung wurde mir von verschiedenen meiner Gesprächspartner in diesem Zusammenhang vor allem der bürokratische Kampf um die Bewilligung eines Behindertenparkausweises beschrieben, denn um einen Parkausweis zu bekommen, müssen die betreffenden Personen (in Deutschland) mindestens einen GdB von 80 haben und zwar nur an den unteren Extremitäten. Da aber eine einseitige Oberschenkelamputation beispielsweise ›nur‹ einen GdB von 70 ausmacht, reicht das nicht, um einen Behindertenparkausweis zu bekommen. Zur Bewilligung des Parkausweises muss darüber hinaus auf Basis der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein spezifisches Merkzeichen, die sogenannte ›außergewöhnliche Gehbehinderung (aG)‹ attestiert werden. Um jedoch das Merkzeichen aG zugesprochen zu bekommen, muss »[…] das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein […]«129, das heißt die betreffende Person kann sich »[…] wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen […]«130 wie es in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen heißt. Als Berechnungsgrundlage fungiert dabei die Gehstrecke, welche die betreffende Person beispielsweise vom Auto bis zum Supermarkt zurücklegen kann und auf deren Basis schließlich entschieden wird, wer das Merkzeichen aG zugesprochen bekommt und wer nicht. Das ›Problem‹ im Falle von Beinprothesenträgern ist allerdings nicht unbedingt die zurückzulegende Gehstrecke, sondern vielmehr, dass sie ihre Autotür möglichst weit aufmachen müssen, um mit ihrer Prothese überhaupt aussteigen zu können. Dieser Aspekt wird bei der Vergabe der entsprechenden Ausweise bzw. bei der Verteilung der entsprechenden Merkzeichen allerdings nicht berücksichtigt, wie von meinen Forschungsteilnehmern kritisiert wird. So schildert Jürgen Metzler, der einseitig oberschenkelamputiert ist, beispielsweise:
129 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Versorgungsmedizin-Verordnung, S.146. 130 Ebd., S.145.
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»[…] ich habe auch darum [um den Parkausweis, C.R.] kämpfen müssen, […] dass ich mich teilweise schon frage, ob da wirklich Leute dransitzen, die das tatsächlich so richtig beurteilen können. Weil äh, […] man muss sich das vorstellen (dreht sich auf Stuhl seitlich, um zu demonstrieren, wie er aus Auto aussteigt), Sie sitzen ja in einem Auto drin und Sie wollen jetzt aussteigen. Jetzt müssen Sie ja als Erstes mal / der Fuß, der steht ja SO im Auto drin, anheben und SO rausstellen. Die Türe ist aber hier vorne angeschla-gen (..). Das heißt, damit ich hier vorbeikomme, muss ich sie weit aufmachen. Ist beim Einsteigen das Gleiche, […].«
Weiter meint er: »Kann passieren, wenn ich einen Tag viel unterwegs war, […] dass ich am nächsten Tag nicht auftreten kann. Und äh, das wird aber da irgendwo nicht berücksichtigt bei der ganzen Geschichte und da sage ich mal, ohne jetzt irgend eine Gruppe da benachteiligen zu wollen, Blinde dürfen sich hinstellen, ich musste dann schmunzeln und habe mir gedacht ›Ok, welcher Blinder [sic] kann Autofahren?‹ (..). Aber äh, ich gehe mal davon aus, dass ein Blinder zumindestens [sic] noch gut zu Fuß ist. Ich sage ja nichts, wenn einer wirklich schlecht zu Fuß ist, aber diese Regelung, die ist heute für mich wirklich ein bisschen an dem vorbei, was man braucht, [...].«
Ähnlich wie Jürgen Metzler hat sich eine Vielzahl meiner Forschungsteilnehmer geäußert, mit denen ich gesprochen habe, das heißt die Meisten mussten um die Bewilligung eines Behindertenparkausweises kämpfen oder haben diesen bis heute nicht bekommen. Laut Aussage des Sozialverbandes VdK sind Behindertenparkplätze für die betreffenden Individuen »[…] eine kleine, aber sehr wichtige Hilfe im Alltag [...].«131 Allerdings werden durch die reale Vergabepolitik der Behindertenparkausweise im Falle von Beinprothesenträgern weniger deren Post-Amputations-Alltage erleichtert oder stabilisiert, sondern vielmehr Exklusionseffekte erzeugt, was exemplarisch auch auf den sozialen Konstruktionscharakter von disability und die alltägliche Wirkweise von Klassifikationssystemen verweist, denn wie Martina Schubert es formuliert: »Also es isʼ ein Kampf, mit der Bürokratie und […] es geht einzig und allein nur da darum, nʼ Stempel zu bekommen, dass ich auf so einem bescheuerten (.) Parkplatz parken darf. […], dass man wieder am normalen Leben teilhaben kann […] wird damit halt eben [...] verhindert.« Der Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation hat aus diesem Grund ein Parkplatzabstandschild entworfen, das von Pro-
131 Homepage des Sozialverbandes VdK Deutschland e.V., http://www.vdk.de/deutschland/pages/themen/behinderung/9229/behindertenparkplaetze (Stand: 25.11.14).
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thesenträgern für einen Betrag von 4,50 Euro erworben und beim Parken an der Autotür angebracht werden kann, um andere Personen darauf hinzuweisen, beim Einparken einen entsprechenden Freiraum zu lassen.132 Wie dabei an der Gestaltung des Schildes auffällt, wird hier allerdings keine Person mit Prothese dargestellt, sondern vielmehr eine beinamputierte Person ohne Prothese mit zwei Krücken. Visuell wird hier somit ebenfalls wieder auf gesellschaftlich vorherrschende Bilder von Behinderung rekurriert, indem eben (bewusst) das Bild einer ›nicht-vollständigen‹, ›versehrten‹, auf ›Gehstützen angewiesenen‹ Person gezeigt wird, denn die Darstellung mit Prothese ohne Krücken hätte vermutlich nicht den gleichen, mit dem Schild intendierten Effekt bzw. es wäre für außenstehende Personen vermutlich nicht sofort erkennbar, dass das Schild auf ›Behinderung‹ verweisen soll. Zusammenfassend kann nun angesichts der hier beschriebenen Beispiele festgehalten werden, dass meine Forschungsteilnehmer in ihrem täglichen Leben bzw. in ihren Post-Amputations-Alltagen auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Behinderung konfrontiert werden, wobei deutlich geworden ist, dass sich Behinderung weder auf einen bloßen körperlichen oder medizinisch definierten Tatbestand reduzieren lässt, noch als allein sozial bedingt verstanden werden kann. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein vielschichtiges Phänomen, das je nach Situation durch unterschiedliche Faktoren verursacht wird, sei dies durch die körperlich-leibliche (Tages-)Verfassung meiner Interviewpartner, durch den Tragekomfort des medizintechnischen Artefakts Prothese, durch die jeweiligen Gegebenheiten der materiellen Umwelt, diverse bürokratische Regelungen oder durch verschiedene Reaktionen nahestehender sowie fremder Personen, wobei sich insbesondere die beiden Letztgenannten wiederum positiv oder auch negativ auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments auswirken können. Wie ich dargestellt habe, lässt sich für den Großteil meiner Interviewpartner dabei insgesamt jedoch eine positive Identifizierung mit ihrem eigenen Körper einerseits sowie dem medizintechnischen Artefakt Prothese andererseits nachzeichnen. Insbesondere das beschriebene becoming public meiner Forschungsteilnehmer und das damit verbundene offene Zeigen ihrer Prothese kann zudem als Widerstand gegen die vorherrschende soziokulturelle Ordnung gesehen werden, der einhergeht mit einer kritischen Infragestellung gesellschaftlich verbreiteter Vorstellungen von Behinderung. In diesem Zusammenhang wurde von verschiedenen meiner Gesprächspartner oftmals
132 Vgl. hierzu Homepage des BMAB, http://www.bmab.de/parkplatzabstandschild/ (Stand: 28.11.16).
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auch der Wunsch geäußert, dass in Zukunft in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht offener und positiver mit dem Thema Behinderung umgegangen werden sollte, denn »[…] es isʼ halt was ganz Normales, gehört halt irgendwie so zur Gesellschaft dazu […]« wie es meine Interviewpartnerin Tamara Wachinger formuliert. Auch Christina Jahn erhofft sich, dass der Umgang zwischen als behindert und als nicht-behindert klassifizierten Personen zukünftig selbstvertsändlicher bzw. ungezwungener wird, um ein allgemeines Umdenken in puncto Behinderung zu erreichen und deutlich zu machen, »[…] dass man eben NICHʼ behindert ist durch die Behinderung, die man hat, sondern dass man beFÄHIGT isʼ durch die FÄHIGkeiten, die man hat, […].« Bleibt zu hoffen, dass sich diese Wünsche in naher Zukunft tatsächlich erfüllen und in die Tat umsetzen lassen.
6
Zusammenfassende Überlegungen
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage was es heißt, in Deutschland nach einer Beinamputation mit Prothese zu leben: Wie wird der (medizinische) Eingriff der Amputation und die Versorgung mit einer Prothese von den betreffenden Personen erlebt? Wie gestaltet sich ihr (Alltags-)Leben nach der Amputation? Und inwiefern gelingt es ihnen, mit der Prothese ein für sie zunächst fremdes medizintechnisches Artefakt in ihre körperlich-leibliche Wahrnehmung zu integrieren? Wie ich im einführenden Kapitel meiner Arbeit dargelegt habe, resultierte mein zentrales Forschungsinteresse insbesondere aus der Beobachtung, dass bei gegenwärtigen medialen Darstellungen von Prothesenträgern meist die Debatte um Human Enhancement, also um die vermeintlich technische Optimierung des menschlichen Körpers mittels moderner Prothetik im Vordergrund steht, während die Frage, wie sich das Alltagsleben als Prothesenträger gestaltet weitgehend ausgeblendet bzw. das Bild von der außergewöhnlichen Prothetik und dem völlig problemlosen Leben mit Prothese vermittelt wird. Das wesentliche Ziel meiner Arbeit bestand daher vor allem darin, diesen öffentlichen und medialen Darstellungen eine andere Erzählung gegenüber zu stellen, indem ich Beinprothesenträger unterschiedlichen Alters selbst zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten ließ. Die Darlegungen zum Forschungsstand haben zudem gezeigt, dass speziell Studien, die sich aus gegenwartszentrierter Perspektive dem Thema Amputation und Prothetik widmen, bislang innerhalb der internationalen sowie deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften weitgehend fehlen. Mit der vorliegenden Arbeit sollte daher auch ein erster Schritt zur Schließung dieser Forschungslücke gemacht werden. Durch die von mir gewählte ethnographische Vorgehensweise war es dabei möglich, einen tieferen und differenzierten Einblick in die gelebte Realität von Beinprothesenträgern in Deutschland zu erhalten, vermeintlich Selbstverständliches kritisch zu hinterfragen und auf diese Weise ein bislang in der öffentlichen wie auch wissenschaftli-
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chen Wahrnehmung eher wenig beachtetes Thema ins Zentrum des Interesses zu stellen. In meinen drei empirischen Kapiteln konnte ich in diesem Zusammenhang aufzeigen, dass sich das (Alltags-)Leben nach einer Beinamputation mit Prothese keineswegs so einfach gestaltet wie dies die verschiedenen medialen Darstellungen oft glauben machen möchten. Vielmehr wurde insbesondere anhand der in Kapitel 3 und 5 präsentierten Amputations- bzw. Post-Amputationsgeschichten meiner Forschungsteilnehmer deutlich, dass eine Amputation vor allem als Ereignis verstanden werden kann, durch das sowohl der gewohnte Alltag der betreffenden Person im Sinne eines geregelten Netzes an Selbstverständlichkeiten und Routinen als auch der vertraute eigene Körper verunsichert werden, in die Krise geraten und neu angeeignet werden müssen, denn so war es den wenigsten meiner Forschungsteilnehmer möglich, ihr Leben nach der Amputation genauso fortzuführen wie gehabt. Sie mussten sich mit ihrer neuen Lebenssituation arrangieren, alte Gewohnheiten mit einem veränderten Körper neu aushandeln sowie neue Routinen etablieren und eben erst wieder zum Alltag machen. Auch die Versorgung mit einer Prothese gestaltete sich für meine Gesprächspartner zunächst vor allem als schmerzhaftes Erlebnis, was ich als negative Erfahrung technogener Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit interpretiert habe und wodurch die Herstellung einer working partnership zwischen Mensch und Medizintechnik vor eine erste Herausforderung gestellt wurde. Darüber hinaus wurden meine Forschungsteilnehmer durch das Tragen von Prothesen mit Bewegungsabläufen konfrontiert, die ihrem bisherigen (erfahrungsbasierten) körperlich-leiblichen Bewegungswissen widersprachen, da eigentlich genuin körperliche Bewegungen wie Gehen, Stehen, Sitzen nun gleichermaßen auf Mensch und medizintechnisches Artefakt verteilt werden mussten, was jedoch vor allem durch die beschriebene fehlende sensible Rückkopplung erschwert wurde. Prothese-Tragen führt damit verbunden nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung der (Um-) Welt, sondern ebenso zu einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Körpers, denn so rückte der von den meisten meiner Interviewpartner vor der Amputation in der Regel als selbstverständlich und funktionierend erlebte Körper nach der Amputation und der Versorgung mit einer ersten Prothese aufgrund seines Nicht-Mehr-Funktionierens ins Zentrum der Aufmerksamkeit und zwar im Sinne von Drew Leders dys-appearance. Prothese-Tragen wurde von mir damit verbunden als Set an spezifischen KörperTechniken analysiert, wobei die verschiedenen medizintechnisch verkörperten Bewegungen von meinen Forschungsteilnehmern erst im Rahmen eines intensiven Trainingsprozesses erlernt und internalisiert werden mussten, damit sich Prothese-Tragen tatsächlich von einer körperlichen Aneignungsphase in ein verinnerlichtes Leibkönnen transformieren
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konnte. Wie ich in diesem Zusammenhang anhand meiner ethnographischen Forschungsergebnisse aufgezeigt habe, ist sowohl die Aneignung des ›amputierten‹ Körpers sowie des medizintechnischen Artefakts Prothese als auch die Wiederherstellung bzw. Re-Organisation von Alltag nach einer Amputation somit vor allem mit Arbeit auf verschiedenen Ebenen verbunden. Post-AmputationsAlltage und technogenes Embodiment wurden von mir daher in Anlehnung an Katrin Amelang und Juliet Corbin/Anselm Strauss in erster Linie als Resultat spezifischer Herstellungspraktiken innerhalb und außerhalb klinischer bzw. orthopädietechnischer Settings beschrieben und analysiert. Dabei sind an diesen Praktiken unterschiedliche menschliche wie nicht-menschliche Partizipanden beteiligt, die sowohl materiell-körperlich, leiblich als auch sinnlich miteinander interagieren, um einerseits eine ›funktionierende‹ Beziehung zwischen Menschen mit Beinamputation und medizintechnischem Artefakt Prothese hervorzubringen sowie andererseits Post-Amputations-Alltage zu etablieren und zu stabilisieren. Aufgrund meiner empirischen Beobachtungen habe ich in theoretischer Hinsicht deshalb auf eine Kombination phänomenologischer sowie praxistheoretischer Ansätze zurückgegriffen, um sowohl die körperlich-leiblichen bzw. sinnlichen (Erfahrungs-)Dimensionen eines Lebens mit Prothese als auch die spezifischen Vollzugswirklichkeiten im Hinblick auf die Konstituierung von Alltag nach einer Beinamputation sowie technogenen Embodiments in ihrer Komplexität und prozessualen Erzeugung besser beleuchten zu können. Damit verbunden war es zudem möglich, das konkrete ›Mit-Handeln‹ und ›Mit-Wirken‹ materieller Gegenstände bzw. (medizin-)technischer Artefakte an der Hervorbringung und Gestaltung sozialer Realitäten in den kulturwissenschaftlichen Blick zu nehmen. Mit einer derartigen Herangehensweise schließe ich mich dabei den in Kapitel 2.1 dargestellten Überlegungen des Europäischen Ethnologen Stefan Beck sowie der beiden Techniksoziologen Cornelius Schubert und Werner Rammert an, künftig Praxistheorie und Phänomenologie im Sinne einer ›Phänopraxie‹ bzw. ›Techno-Phänomenologie‹ stärker miteinander zu verbinden, zumal insbesondere die Beschreibung von Post-Amputations-Alltagen und technogenem Embodiment in dieser Arbeit gezeigt hat, dass sich diese beiden Analyseschwerpunkte nur durch eine multitheoretische Betrachtungsweise annähernd erfassen und erklären lassen. Wie ich in Kapitel 4 herausgearbeitet habe, spielt dabei insbesondere die rehabilitationsklinische Amputationsnachsorge eine bedeutende Rolle bei der Wiederherstellung von Alltag nach einer Beinamputation und der (Wieder-) Aneignung des ›amputierten‹ Körpers sowie des medizintechnischen Artefakts Prothese. In der Rehaklinik wird nicht nur ein erster Grundstein für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments ge-
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legt, sondern vielmehr sollen dort nach einer Amputation auch die ersten Weichen für den Weg ›zurück‹ in den Alltag gestellt werden. Die Rehaklinik wurde von mir im Sinne Katrin Amelangs daher als ›Zwischenort‹ zwischen Krankenhaus und Zuhause beschrieben, an dem in die Krise geratene Alltage unter den Bedingungen des Amputiert- bzw. Prothesenträger-Seins neu justiert und eingeübt werden sollen.1 Es ging für meine Forschungsteilnehmer darum, sich in der Rehaklinik an Alltag neu heranzutasten und eine neue Sensibilität für ihren durch die Amputation veränderten und mittels Prothesen ›technisierten‹ Körper zu entwickeln. Anhand verschiedener Auszüge aus meinen Beobachtungsprotokollen, die ich während meiner Feldforschung in der Rehaklinik angefertigt habe, konnte ich dabei deutlich machen, dass die in der Rehaklinik forcierte Wiederherstellung bzw. die praktische Einübung von Alltag und die Neuaneignung des ›prothetisierten‹ Körpers Hand in Hand gehen, denn so wird Alltag in der Rehaklinik vor allem als ›Körperumwelt‹ bzw. als eine in körperlichen Routinehandlungen hergestellte Wirklichkeit verhandelt, wobei es eben gerade körperliche Routinen wie Gehen, Stehen, Sitzen etc. sind, die durch eine Amputation und das Tragen von Prothesen zerrüttet werden und neu angeeignet werden müssen. Arbeit am Post-Amputations-Alltag ist somit eng verknüpft mit der Arbeit am eigenen Körper, der in der Rehaklinik nach der Amputation wieder fit fürʼs Leben bzw. ›alltagstauglich‹ gemacht und auf die neue Belastungssituation, die durch das Tragen von Prothesen entsteht, vorbereitet werden soll. Wie ich damit verbunden zudem aufgezeigt habe, spielen bei der Herstellung von Alltag einerseits und Mensch-Medizintechnik-Beziehungen andererseits im Rahmen des rehaklinischen Prothesentrainings vor allem Körperpraktiken sowie leibliches Verstehen eine bedeutende Rolle. So werden Prothese-Tragen als Set an spezifischen KörperTechniken und Alltag als Mikrofundierung sozialer Ordnung in der Rehaklinik in erster Linie im gemeinsamen und aktiven körperlich-praktischen Tun von Prothesenträger und Rehapersonal im Zusammenspiel mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese sowie anderen materiellen Gegenständen hervorgebracht und eingeübt. Dabei rückt zu Beginn des Rehaprozesses zunächst der ›amputierte‹ bzw. ›prothetisierte‹ Körper in seiner materiellen Dimension ins Zentrum der Aufmerksamkeit, indem durch das Einüben verschiedener compensatory skills Körper und medizintechnisches Artefakt in ihren Bewegungsabläufen aufeinander abgestimmt werden müssen. Wie ich in diesem Zusammenhang anhand der Beschreibung einzelner Trainingseinheiten mit Prothesenträgern dargestellt habe, handelt es sich hierbei um ein dynamisches body-technologyenactment, wobei die Vermittlung und Aneignung der verschiedenen compensa-
1
Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage.
Zusammenfassende Überlegungen | 271
tory skills vor allem im aktiven Bewegungslernen, das heißt über den praktischen Einsatz von Körpern erfolgte. Dabei wurden die verschiedenen Bewegungen mit Prothese vom physiotherapeutischen Personal mit meinen Forschungsteilnehmern so lange eingeübt, bis diese nicht mehr konzentriert über das medizintechnische Artefakt und jede einzelne Muskelanspannung oder Gleichgewichtsverlagerung nachdenken mussten, bis sich bei diesen im neophänomenologischen Sinne eine spürbare Gewissheit als Form leiblicher Erkenntnis eingestellt hat, die einzelnen Bewegungen mit Prothese verstanden zu haben. Ein wesentliches Ziel des rehaklinischen Prothesentrainings bestand damit verbunden vor allem in der Herstellung größtmöglicher ›Transparenz‹, das heißt der ›prothetisierte‹ Körper sollte durch seine spezifische Bearbeitung wieder mehr in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt werden, es ging letztlich um die rehaklinische Transformation von dys-appearance in disappearance bzw. im postphänomenologischen Sinne um die (praktische) Herstellung von embodiment relations zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt. Wie ich veranschaulicht habe, wird in der Rehaklinik allerdings lediglich ein erster Grundstein für das Zustandekommen von Mensch-Medizintechnik-Beziehungen bzw. für die körperlich-leibliche Integration von Prothesen im Sinne technogenen Embodiments gelegt, denn der Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt muss auch außerhalb rehaklinischer Settings von den betreffenden Personen weiterhin aktiv eingeübt werden. Darüber hinaus kann auch die praktische Einübung von Alltag in der Rehaklinik immer nur unvollständig bleiben, denn die verschiedenen und insbesondere auch individuellen Selbstverständlichkeiten und Routinen, die das Leben meiner Forschungsteilnehmer vor der Amputation geprägt haben und von diesen als Alltag gelebt wurden, können dort nicht gänzlich simuliert werden. Dennoch erfüllte der rehabilitationsklinische Aufenthalt für meine Forschungsteilnehmer eine wichtige Funktion, da ihnen hier hilfreiche Tipps im Hinblick auf ihr Leben nach der Amputation sowie den Umgang mit dem medizintechnischen Artefakt Prothese gegeben wurden und ihnen dadurch auch ein Stück weit die Angst vor der neuen, unbekannten Situation genommen werden konnte wie mir immer wieder geschildert wurde. Wie ich im Rahmen meiner Studie ebenfalls aufgezeigt habe, gibt es in Deutschland allerdings kaum auf Amputationsnachsorge und Prothesentraining spezialisierte Rehakliniken, was von den von mir begleiteten und befragten Physiotherapeuten wie auch von zentralen Verbänden wie dem Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation (BMAB) sowie der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation als gravierende Versorgungslücke im deutschen Gesundheitswesen angesehen wird. Speziell der BMAB appelliert daher verstärkt an die Politik, diesem Missstand in Zukunft Rechnung zu tragen, wobei damit verbunden insbesondere auch die Ein-
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richtung einer nationalen Amputationsstatistik sowie eines Prothesenregisters eingefordert wird, um den Versorgungsprozess im Allgemeinen besser koordinieren zu können.2 Gegenwärtig sind die meisten Menschen mit Beinamputation bzw. Prothesenträger darüber hinaus auch nach ihrer Entlassung aus der Rehaklinik weitgehend auf sich allein gestellt, da Ärzte, Therapeuten und Sozialstationen – wie beschrieben – mit den komplexen Versorgungsbedarfen häufig überfordert sind und bislang auch nur unzureichende Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteursgruppen stattfindet. Wie ich in Kapitel 5 herausgearbeitet habe, war die erste Zeit zuhause, außerhalb (reha-)klinischer Settings für viele meiner Forschungsteilnehmer daher oftmals geprägt von Unsicherheit und Frustration, zumal sie mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert wurden und ihre vor der Amputation gewohnten Selbstverständlichkeiten bzw. Routinen, das heißt ihren (alten) Alltag nun eben nicht mehr wie bisher fortführen und leben konnten. Es handelte sich somit weniger um eine Rückkehr in Alltag nach der Amputation, als vielmehr um dessen Neuaushandlung bzw. Wiederherstellung und Re-Organisation. Dennoch wurde mir das Leben nach der Amputation mit Prothese von verschiedenen meiner Interviewpartner aber auch immer wieder als Alltag beschrieben, wie exemplarisch aus den beiden Post-Amputationsgeschichten von Clemens Albrecht und Saskia Eibich hervorging, die betonen, dass das Leben mit Prothese für sie (mittlerweile) Alltag ist. Meine Gesprächspartner stellen Alltag in ihren Erzählungen somit vor allem narrativ her, gleichzeitig wurde an ihren Post-Amputationsgeschichten aber auch deutlich, dass sie nach ihrer Amputation außerhalb der Rehaklinik weiterhin verschiedene Anstrengungen unternehmen mussten, um ihr Leben tatsächlich wieder als Alltag leben zu können. Das heißt, ähnlich wie es Katrin Amelang für ihre lebertransplantierten Gesprächspartner beschrieben hat, konnte auch von meinen Forschungsteilnehmern Alltag nach der Amputation erst durch seine Problematisierung und strategische Bearbeitung wieder als unproblematische Selbstverständlichkeit und unhinterfragte Routine produziert und gelebt werden.3 Anhand der Erzählungen meiner Interviewpartner habe ich dabei herausgearbeitet, dass diese strategische Alltagsbearbeitung vor allem die ReOrganisation der Wohnumwelt umfasste, die nun an den neuen Körper angepasst wurde, sie beinhaltete die Neu-Strukturierung des allgemeinen Tagesablaufs, der insbesondere nach kraft- und zeitraubenden Tätigkeiten hin organisiert werden musste sowie die Neu-Aushandlung familiärer Verhältnisse bzw. Rollenvertei-
2
Vgl. Homepage des BMAB, http://www.bmab.de/ueber-uns/unsere-forderungen/
3
Vgl. K. Amelang: Transplantierte Alltage, S.240.
(Stand: 27.01.17).
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lungen und des Berufslebens. Darüber hinaus schloss sie die aktive und fortdauernde Arbeit am eigenen Körper mit ein, der vor allem durch Gymnastik- und Fitnessübungen ›prothesenkompatibel‹ und damit ›alltagstauglich‹ gehalten werden soll. Wie ich dargestellt habe, wird die Möglichkeit jeden Tag die Prothese tragen zu können von meinen Forschungsteilnehmern als wichtige Voraussetzung dafür gesehen, ihr Leben nach der Amputation tatsächlich wieder als Alltag leben zu können. Alltag wird von ihnen damit verbunden auch außerhalb (reha-) klinischer Settings in erster Linie als ›Körperumwelt‹ verhandelt, das heißt es ist ihr ›veränderter‹ Körper, der ihren (neuen) Alltag und die damit verbundenen Aktivitäten prägt. Dabei beinhaltet die außerhalb der Rehaklinik zu leistende Körperarbeit auch das Befolgen neuer Hygieneregeln wie regelmäßiger Beinstumpfpflege, die Umstellung bisheriger Ernährungsgewohnheiten sowie verschiedene medikale Zeiten und Praktiken, die ins tägliche Routinehandeln integriert werden müssen bzw. mussten. Hierbei diffundiert insbesondere das Orthopädietechnikzentrum als medikale Institution in das Leben von Prothesenträgern und wird zum festen Bestandteil von Post-Amputations-Alltagen, da Prothesenpassteile – wie beschrieben – im Verlauf der Zeit immer wieder ausgetauscht oder neu angepasst werden müssen. Eine zentrale Erkenntnis, zu der ich im Verlauf meiner Forschung in diesem Zusammenhang gekommen bin, ist die enorme Bedeutung, die speziell Orthopädietechniker für Prothesenträger haben. Diese spielen nicht nur eine wichtige Rolle im Hinblick auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen, indem sie den betreffenden Personen eine möglichst bequeme Prothese anpassen, sondern Orthopädietechniker stellen vor allem auch wichtige Vertrauenspersonen und im wahrsten Sinne des Wortes wichtige ›Alltagshelfer‹ von Prothesenträgern dar. Es sind in erster Linie Orthopädietechniker, die Menschen nach einer Beinamputation über die verschiedenen Möglichkeiten der prothetischen Versorgung, bestehende Rehakliniken und ambulante Gehschulen aufklären, die ihnen beim Ausfüllen entsprechender Versorgungsanträge helfen oder Kontakt zu Selbsthilfegruppen vermitteln. Darüber hinaus leisten Orthopädietechniker auch psychologische Arbeit, indem sie sich mit den betreffenden Personen über Herausforderungen in deren Post-AmputationsAlltagen wie beispielsweise berufliche und private Existenzängste oder negative Reaktionen außenstehender Personen austauschen. Orthopädietechniker und Prothesenträger gehen damit verbunden im Idealfall eine lebenslange und beinahe schon ›intime‹ Beziehung ein, wobei es allerdings nur wenig Orthopädietechnikwerkstätten in Deutschland gibt, die auf die Anpassung von Prothesen spezialisiert sind. Für Prothesenträger ist es deshalb oftmals schwierig, den für sich ›richtigen‹ Orthopädietechniker zu finden, der über ausreichend Expertise und Einfühlungsvermögen verfügt. Viele Prothesenträger, mit denen ich im Verlauf
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meiner Forschung gesprochen habe, nehmen daher Fahrtwege von teilweise mehreren hundert Kilometern in Kauf, um beim Fachmann bzw. der Fachfrau ihres Vertrauens versorgt werden zu können. Den Prozess der Prothesenanpassung im Orthopädietechnikzentrum habe ich dabei in Anlehnung an Myriam Winance als shared work und empirical tinkering beschrieben, als Teamwork und Koordinationsarbeit in soziomateriellen Assemblagen, da hier ähnlich wie in der Rehaklinik wieder verschiedene menschliche und nicht-menschliche Partizipanden zusammen daran ›arbeiten‹, MenschMedizintechnik-Beziehungen hervorzubringen bzw. zu stabilisieren. Die Beobachtung des situativen Verlaufs einzelner Prothesenanpassungen während meiner Feldforschung hat gezeigt, dass es sich hierbei um einen komplexen und auch langwierigen Prozess handelt. Die Hauptschwierigkeit besteht für Orthopädietechniker vor allem darin, handwerklich einen möglichst ›gut‹ sitzenden Prothesenschaft anzufertigen, da dieser die eigentliche Schnittstelle zwischen Mensch und medizintechnischem Artefakt und somit auch zwischen Prothesenträger und der ihn umgebenden (Um-)Welt darstellt. Der Prothesenschaft bedingt damit verbunden maßgeblich die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments. Wie ich gezeigt habe, gestaltet sich die Anpassung eines ›gut‹ sitzenden Prothesenschaftes jedoch vor allem in der Hinsicht schwierig, dass Prothesenträger oftmals nicht explizit durch verbale Sprache erklären können, warum der Schaft nicht ›gut‹ sitzt, sie spüren einfach, dass es nicht passt. Es handelt sich um ein spezifisches leibliches Wissen, das dem Orthopädietechniker irgendwie erläutert werden muss. Orthopädietechniker und Prothesenträger müssen somit erst eine gemeinsame Sprache finden, um eine ›gute‹ Schaft- und damit auch Prothesenpassform aushandeln zu können. Hierbei spielen abermals Körperpraktiken im Sinne von doing body sowie leibliches Verstehen eine bedeutende Rolle, zudem kommt insbesondere dem Seh- und Tastsinn eine wichtige Funktion in der orthopädietechnischen Praxis der Prothesenanpassung zu: durch intensives Abtasten des Beinstumpfes und das damit verbundene sinnliche Generieren von Körperwissen, genaues Beobachten von Gesichtsausdruck und Körperhaltung, leiblich-spürende Verständigung sowie wechselseitiges Auf- und Abgehen von Orthopädietechniker und Prothesenträger wird die ›optimale‹ Schaftpassform vor allem im praktischen Tun hervorgebracht. Wie ich dargestellt habe, kann in diesem Moment bei den betreffenden Personen schließlich das Empfinden entstehen, mit der Prothese regelrecht ›verschmolzen‹ zu sein, das medizintechnische Artefakt wird nicht mehr länger als körperliches Anhängsel, sondern leiblich als Teil des eigenen Körpers bzw. der eigenen Person erlebt. Die wechselseitige Verschränkung von Körper, Leib und Prothese erfolgt somit vor allem im aktiven und praktischen Tun, weshalb technogenes Embodiment von mir in der vor-
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liegenden Arbeit als doing technogenes Embodiment bzw. technogenes Embodying beschrieben und analysiert wurde. Wie ich herausgearbeitet habe, ist diese körperlich-leibliche Verbundenheit mit der Prothese allerdings höchst relational, situationsbedingt und nach aktuellem Stand der Prothesentechnik auch immer nur zeitlich begrenzt möglich. Prothese-Tragen führt früher oder später zu wunden Stellen oder Druckschmerzen am Beinstumpf, da mit dem Prothesenschaft letztlich Kunststoff auf menschliche Haut trifft. Darüber hinaus beeinflussen auch ökologische Faktoren die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments wie an den Post-Amputationsgeschichten meiner Forschungsteilnehmer deutlich wurde. So bedingt insbesondere Hitze im Sommer oftmals starkes Schwitzen im Prothesenschaft, was zu Juckreiz oder einem unangenehmen süßlich-säuerlichen Geruch führen kann, wodurch das medizintechnische Artefakt (wieder) ins Zentrum der sinnlichen Aufmerksamkeit rückt und zum unliebsamen Ding bzw. Fremdkörper wird. Von verschiedenen Orthopädietechnikern, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung gesprochen habe, wurde in diesem Zusammenhang daher kritisiert, dass sich speziell die Prothesenbauindustrie in Zukunft stärker auf die Entwicklung neuer Materialien für den Schaftbau konzentrieren sollte. Aktuell werde jedoch hauptsächlich auf die Entwicklung von High-End-Produkten wie eben mikroprozessorgesteuerte Beinprothesensysteme fokussiert, die aufgrund hoher Preise und der damit verbundenen teils restriktiven Politik der Krankenkassen allerdings oft nur nach langen Verhandlungen oder gerichtlichen Prozessen bewilligt werden und dann auch nichts nützen, wenn der Prothesenschaft nicht richtig passt. Um die allgemeine ›Schaftproblematik‹ langfristig zu umgehen, wird von Prothesenbaufirmen aktuell zwar auch an der sogenannten Osseointegration bzw. Endo-Exo-Prothese geforscht, einer Methode, die ursprünglich aus der Zahnmedizin stammt und bei der das medizintechnische Artefakt direkt in den Knochen der betreffenden Person implantiert wird, sodass auf einen Prothesenschaft verzichtet werden kann. Die Prothese wird damit im wörtlichen Sinne zum Bestandteil des menschlichen Körpers. Allerding ist dieses Vorgehen in medizinischen und orthopädietechnischen Fachkreisen aufgrund hoher Infektionsgefahr an der körperlichen Eintrittsstelle derzeit noch umstritten und wird daher nicht als Standard praktiziert. Für künftige Forschungsprojekte würde sich hier jedoch im Hinblick auf die Analyse der körperlich-leiblichen Integration von Prothesen die Frage ergeben, inwiefern sich das implantierte medizintechnische Artefakt auf das technogene Embodiment von Prothesenträgern und damit verbunden auch auf deren Post-Amputations-Alltage auswirkt. Wie ich in Kapitel 5 ebenfalls herausgearbeitet habe, ist die körperlichleibliche Integration von Prothesen allerdings nicht allein vom Tragekomfort und
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der Passform des Schaftes bzw. von der Funktionalität des medizintechnischen Artefakts abhängig, sondern wesentlichen Einfluss auf die Qualität der Beziehung, die meine Forschungsteilnehmer mit ihrer Prothese eingehen, haben vor allem auch die Reaktionen fremder sowie nahestehender Personen. So konnte exemplarisch an der Post-Amputationsgeschichte von Saskia Eibich aufgezeigt werden, dass es sich speziell für meine jüngeren weiblichen Interviewpartnerinnen oftmals als schwierig gestaltete, nach der Amputation eine positive Beziehung zu ihrer Prothese sowie zu ihrem veränderten Körper aufzubauen. Bedingt wurde dies unter anderem durch negative Reaktionen männlicher Personen ihnen gegenüber und dem damit verbundenen Absprechen von weiblicher Attraktivität, denn der ›prothetisierte‹ Körper widerspricht gesellschaftlichen Vorstellungen einer scheinbar ›natürlichen‹ bzw. ›erotischen‹ Weiblichkeit. Speziell die Frage nach der Ko-Konstruktion von Technik und Geschlecht oder auch von Technik und Alter könnte im Rahmen weiterer Forschungsprojekte dabei noch genauer in den Blick genommen werden: Wie schreiben sich gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht und/oder Alter in (medizin-)technische Artefakte ein, beispielsweise schon während ihrer Konstruktion bzw. Herstellung? Und wie werden (Geschlechts-)Identitäten durch Technik geformt? Zur Beantwortung dieser Fragen könnte in methodischer Hinsicht auch eine Feldforschungsphase in Unternehmen der Prothesenbauindustrie durchgeführt werden, um genauer zu untersuchen, wie die jeweiligen medizintechnischen Artefakte ›geskripted‹ werden. Die Erzählungen meiner Forschungsteilnehmer haben jedoch nicht nur verdeutlicht, dass Gender-Stereotype die körperlich-leibliche Integration von Prothesen beeinflussen, sondern ebenso haben sie gezeigt, dass hierbei auch gesellschaftlich verbreitete Bilder von Behinderung eine wesentliche Rolle spielen, die damit verbunden ebenfalls die Möglichkeiten und Grenzen technogenen Embodiments bedingen. Dabei konnte ich anhand meiner empirischen Ergebnisse veranschaulichen, dass meine Forschungsteilnehmer in ihrem Post-AmputationsAlltag letztlich mit multiplen Realitäten von Behinderung konfrontiert werden, die auf unterschiedliche Art und Weise ihr Leben prägen, sich auf unterschiedliche Art und Weise auf die körperlich-leibliche Integration von Prothesen auswirken und sich nicht mit einem einzigen der in Kapitel 2.1 beschriebenen Modelle von Behinderung im Sinne der Disability Studies erklären lassen. Vielmehr wurde an den Erzählungen meiner Forschungsteilnehmer deutlich, dass Behinderung weder als rein körperliche Beeinträchtigung, noch als allein sozial bedingt verstanden werden kann, sondern vielmehr das Resultat eines komplexen, interaktiv und vor allem situativ hergestellten Beziehungsgeflechts bestehend aus Körpern, leiblicher Wahrnehmung, materiellen Objekten, Diskursen und Prakti-
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ken angesehen werden sollte. Die Analyse der Erzählungen meiner Interviewpartner hat darüber hinaus gezeigt, dass in Deutschland trotz aller Inklusionsbestrebungen und Debatten um die Anerkennung menschlicher Vielfalt nach wie vor eher negative Bilder von Behinderung vorherrschend sind, die diese in erster Linie in einem medizinischen Sinne mit körperlicher/kognitiver Einschränkung gleichsetzen und als leidvollen Zustand deuten, wobei als behindert klassifizierten Personen damit verbunden aufgrund ihrer ›normabweichenden‹ körperlichen Erscheinung oftmals auch soziale Kompetenzen abgesprochen werden. Wie ich dargestellt habe, laufen soziale Differenzierungsprozesse in erster Linie über das äußere körperliche Erscheinungsbild eines Menschen ab, wobei in euro-amerikanischen Gesellschaften vor allem der unversehrte, vollständige, fitte Gesundheits- und Leistungskörper medizinisch als zentrale Normalitätsvorstellung definiert wird, von welcher der ›amputierte‹ Körper abweicht, der mittels Prothesen wieder ›vollständiger‹, ›normaler‹ und somit letztlich weniger ›behindert‹ gemacht werden soll. Für meine als nicht-behindert sozialisierten Interviewpartner war es daher – wie beschrieben – insbesondere in der ersten Zeit nach der Amputation wichtig, ihre Prothese immer zu tragen und unter langer Kleidung zu verstecken, wobei ihnen das ›unsichtbare‹ medizintechnische Artefakt im Sinne eines materialisierten Identitätsangebotes die Performance als ›kompetentes‹, ›vollwertiges‹, weil ›körperlich vollständiges‹ Gesellschaftsmitglied ermöglicht hat. Damit verbunden tragen bzw. trugen meine Forschungsteilnehmer allerdings letztlich zur Reproduktion der bestehenden soziokulturellen Ordnung bei, die in erster Linie auf binären und als ›natürlich‹ angenommenen Codes wie männlich/weiblich, alt/jung, gesund/krank oder eben behindert/nicht-behindert beruht, indem sie mittels des nicht sichtbaren medizintechnischen Artefakts nach außen hin Nicht-Behinderung performen. Speziell Prothesenträger haben dabei eine ambivalente Position inne und zwar in mehrfacher Hinsicht: So werden sie zwar auf der Basis eines ärztlichen Gutachtens aufgrund ihres ›amputierten‹ Körpers offiziell bzw. medizinisch als schwerbehindert klassifiziert, werden in der deutschen Verwaltungslandschaft aber oftmals nicht als Menschen mit Behinderung wahrgenommen, was insbesondere dann der Fall ist, wenn sie ihre Prothese tragen und diese eben nicht sofort als solche sicht- oder erkennbar ist. Damit verbunden werden sie bei entsprechenden Richtlinien zur Barrierefreiheit oder der Vergabe von Behindertenparkausweisen oftmals nicht berücksichtigt, was zu sozialen Exklusionseffekten führen kann, das heißt verschiedene Einschränkungen im Post-Amputations-Alltag von Prothesenträgern werden vor allem auch bürokratisch konstruiert. Tragen meine Forschungsteilnehmer ihre Prothese jedoch nicht, dann erscheinen sie aufgrund ihrer äußeren körperlichen Erscheinung als ›irgendwie unmenschlich‹ und vermeintlich ›in-
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kompetent‹. Tragen sie ihre Prothesen und sind diese auch als solche sichtbar, indem beispielsweise auf eine hautfarbene Kosmetik verzichtet wird, dann erscheinen sie allerdings ebenfalls als ›irgendwie unmenschlich‹, weil sie von außenstehenden Personen dann oftmals in die Nähe von Maschinen-Menschen oder Cyborgs gerückt werden, wobei diese Fremdwahrnehmung vor allem durch mikroprozessorgesteuerte Prothesenmodelle, die blinken, piepen oder vibrieren noch zusätzlich befördert wird. Der zu beobachtende Trend, die Prothese trotz dieser verschiedenen Zuschreibungen von außen nicht mehr unter langer Kleidung oder einer hautfarbenen Kosmetik zu verstecken, wurde von mir in diesem Zusammenhang als bewusstes becoming public und als körperlich-leiblicher Widerstand meiner Forschungsteilnehmer gegen die vorherrschende soziokulturelle Ordnung interpretiert, der insbesondere mit einer kritischen Infragestellung verbreiteter Vorstellungen von Behinderung verbunden ist. Diese kritische Reflexion über Kategorisierungs- und Klassifizierungsprozesse und das damit verbundene neue Selbstbewusstsein meiner Forschungsteilnehmer ihrem eigenen ›amputierten‹ bzw. ›prothetisierten‹ Körper wie auch ihrer sozialen Umwelt gegenüber bildete sich bei diesen jedoch erst im Verlauf der Zeit in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normalitäts- und Normativitätsvorstellungen allmählich heraus bzw. musste von ihnen im Rahmen einer aktiven Biographiearbeit ausgehandelt werden. Am Beispiel von Prothesenträgern war es damit verbunden möglich, Behinderung in der vorliegenden Studie als kulturwissenschaftliche Analysekategorie zu nutzen, um gesellschaftliche wie auch individuelle Differenzierungspraktiken und damit einhergehende Exklusionsmechanismen kritisch zu hinterfragen und auf diese Weise zu einem vertieften Verständnis der verschiedenen Kategorisierungsprozesse selbst zu gelangen. Obwohl Behinderung neben Gender, Alter oder Ethnizität zu den zentralen Diversitätsdimensionen menschlicher Gesellschaften zählt, wurde dieses Phänomen speziell von der Europäischen Ethnologie/Volkskunde bisher allerdings eher stiefmütterlich behandelt. Die vorliegende Studie hat jedoch gezeigt, dass sich ein genauerer Blick auf Behinderung lohnt und von der Europäischen Ethnologie/Volkskunde daher auch in Zukunft stärker ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt werden sollte, wobei der Analysefokus nicht auf das Beispiel von Prothesenträger beschränkt bleiben muss. Speziell im Hinblick auf die Prothesenthematik wären jedoch interkulturelle Vergleichsstudien denkbar, die genauer untersuchen, wie sich die Versorgung und der Umgang mit Prothesen beispielsweise in weniger privilegierten Ländern gestaltet, welche Bilder vom menschlichen Körper sowie von Behinderung/Nicht-Behinderung damit verbunden transportiert werden und wie sich dies wiederum auf technogenes Embodiment und den PostAmputations-Alltag der betreffenden Individuen auswirkt. Auch ein Vergleich
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von Beinprothesenträgern mit Armprothesenträgern würde sich anbieten, um bestehende Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede im Hinblick auf die körperlich-leibliche Integration des medizintechnischen Artefakts sowie die damit verbundenen Konsequenzen für das Alltagsleben der jeweiligen Personen herausarbeiten zu können. Ebenso steht noch eine umfassende Analyse von Werbeanzeigen der Prothesenbauindustrie aus, um aufzuzeigen, welche Körperbilder, Vorstellungen von Technik, Alter, Geschlecht und/oder Behinderung hierbei präsentiert werden. Dabei haben die empirischen Ergebnisse meiner Arbeit generell gezeigt, wie wichtig ein genauerer Blick auf vermeintlich ›unspektakuläre‹ soziale Phänomene wie den Alltag von Prothesenträgern sein kann. Auch wenn ich im Rahmen der vorliegenden Studie nicht gänzlich erfassen konnte, was von meinen Forschungsteilnehmern letztendlich als individueller Alltag gelebt wird und was sie unter Alltag subsumieren, war es dennoch möglich ein Bild davon nachzuzeichnen, was es heißt, in Deutschland nach einer Beinamputation mit Prothese zu leben. Darüber hinaus lassen sich durch meine empirischen Ergebnisse auch Rückschlüsse auf Alltag im Allgemeinen ziehen. So sind es gerade in die Krise geratene Alltage, welche die zentrale Bedeutung und Entlastungsfunktion eines funktionierenden Alltags für das Leben von Menschen exemplarisch zum Vorschein bringen. Gleichzeitig wurde anhand meiner empirischen Forschungsergebnisse deutlich, wie eng Alltag und Körper miteinander verbunden sind, denn alles was Menschen tun, tun sie letztlich mit ihrem Körper. Alltag kann somit auch als Körperordnung im wörtlichen Sinne konzipiert werden bzw. genauer gesagt als KörperLeib-Ordnung, denn auch das leibliche Wahrnehmen und Spüren prägt maßgeblich jeden Aspekt unseres Lebens. Allerdings ist dies den meisten Menschen in der Regel nicht immer bewusst, wir nehmen meist weder unseren Alltag noch unseren KörperLeib explizit als solche wahr, sondern wir setzen diese vielmehr als selbstverständlich und funktionierend voraus. So schreibt beispielsweise auch der britische Körpersoziologe Nick Crossley: »Die körperliche Grundlage all unseres Handelns ist so habituell, dass wir die meiste Zeit überhaupt keine Notiz davon nehmen.«4 Erst wenn etwas nicht mehr ›stimmt‹ oder nicht mehr funktioniert wie gehabt, rücken Alltag und Körper bzw. Leib ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Durch eine Amputation und das Tragen von Prothesen bricht Alltag als KörperLeib-Ordnung (vorübergehend) zusammen und muss als solche erst wiederhergestellt werden. Von meinen Forschungsteilneh-
4
Crossley, Nick: Phänomenologie, in: Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.): Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2017, S.315-333, hier: S.325.
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mern wurde mir damit verbunden auch immer wieder geschildert, dass sie seit ihrer Amputation bewusster leben und die kleinen Dinge des Lebens mehr zu schätzen wissen, denn sie haben es am eigenen KörperLeib erfahren, wie es ist, aus Alltag ausgegliedert zu werden und welche Arbeit es erfordert, sich ein neues Netz an Selbstverständlichkeiten und Routinen anzueignen. Auch mein eigenes Bewusstsein für die eher weniger ›aufregenden‹ Seiten im Leben hat sich im Verlauf meiner Forschung verändert, denn so weiß ich meinen ›banalen‹ Alltag seither tatsächlich mehr zu schätzen. Darüber hinaus nehme ich seit meinen Forschungen mit Prothesenträgern meine (materielle) Umwelt im Vergleich zu vorher anders war, es fällt mir beispielsweise immer wieder auf, wie viele öffentliche Plätze, Institutionen und Bahnhöfe nicht barrierefrei gestaltet sind. Die Erkenntnisse der vorliegenden Studie können damit verbunden auch für künftige Forschungsprojekte jenseits der Prothesenthematik fruchtbar gemacht werden, indem bei der Analyse von Alltag im Allgemeinen oder verschiedenen alltagskulturellen Phänomenen im Speziellen stärker als bisher geschehen herausgearbeitet wird, welche Rolle Körper bzw. Leib bei der Hervorbringung, Aufrechterhaltung oder auch Infragestellung von sozialer Realität spielen und wie sie das Alltagsleben von Menschen prägen. Die Analyse technogenen Embodiments hat zudem gezeigt, dass es insbesondere bei der Frage nach dem Umgang von Menschen mit (medizin-)technischen Artefakten verschiedene Aspekte zu berücksichtigen gilt, das heißt es sollte sowohl ihr körperlich-materielles, leibliches als auch sinnliches Zusammenspiel betrachtet und danach gefragt werden, wie eine Beziehung zwischen ihnen in praktischer Hinsicht zustande kommt. Wie wichtig dabei vor allem die Frage nach dem praktischen Umgang von Menschen mit medizintechnischen Artefakten in Zukunft weiterhin sein wird, machen auch verschiedene Projekte und Veranstaltungen deutlich, wie beispielsweise die Tagung »Mensch-Technik-Interaktion in medikalisierten Alltagen«, die im Oktober 2016 vom Netzwerk »Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung« in Göttingen veranstaltet wurde und auf der ich mein Forschungsprojekt im Rahmen eines Vortrages präsentiert habe oder auch ein 2016 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgeschriebener Wettbewerb zum Thema »Zukunft der Pflege: Mensch-Technik-Interaktion in der Praxis«.5 Besonders die Pflegebranche steht angesichts gegenwärtiger demographi-
5
Vgl. u.a. Wöhlke, Sabine/Palm, Anna: Call for Papers zur Tagung »Mensch-TechnikInteraktionen in medikalisierten Alltagen«, 06.10.-07.10.2016 in Göttingen, in: HSoz-Kult vom 31.01.2016, http://www.hsozkult.de/event/id/termine-30024 (Stand: 06.02.17); Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, http://
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scher Entwicklungen vor besonderen Herausforderungen, da laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes die Zahl an pflegebedürftigen Menschen in Deutschland von derzeit rund 2,6 Millionen auf bis zu 3,4 Millionen im Jahr 2030 steigen wird, wobei dies vor allem ältere Personen ab 70 Jahren betrifft.6 Um deren Selbständigkeit und Lebensqualität möglichst langfristig erhalten oder auch Pflegefachkräfte wie pflegende Angehörige besser entlasten zu können, werden zunehmend verschiedene (medizin-)technische Assistenzsysteme wie Pflegeroboter, automatisierte Sturz- und Notfallerkennungssysteme oder intelligente Systeme zur Vermeidung von Dekubitus etc. eingesetzt.7 Speziell kulturwissenschaftliche Studien könnten hier ansetzen und mit ihrer spezifischen methodischen Herangehensweise auf der Mikroebene genauer untersuchen, wie die betreffenden Individuen mit medikaler Technik im Alltag umgehen und wie sich damit verbunden die konkrete alltägliche bzw. körperlich-leibliche sowie sinnliche Interaktion zwischen Mensch und (medizin-)technischem Artefakt gestaltet. Für künftige Forschungsprojekte ergeben sich somit verschiedene weiterführende Fragestellungen, die einer genaueren Betrachtung lohnen, sowohl im Bereich Prothetik als auch im Bereich der kultur- bzw. sozialwissenschaftlichen Gesundheits-, Körper- und Technikforschung sowie der volkskundlich-ethnologischen Alltagsforschung im Allgemeinen. Mit der vorliegenden Studie wurde lediglich ein erster Schritt in diese Richtung unternommen.
www.technik-zum-menschen-bringen.de/foerderung/bekanntmachungen/zukunft-derpflege (Stand: 08.02.17). 6
Vgl. Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, https://www. bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-1237.html (Stand: 08.02.17).
7
Ebd; S. Wöhlke/A. Palm: Call for Papers.
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Danksagung
Die vorliegende Arbeit wäre nicht ohne die Unterstützung verschiedener Menschen zustande gekommen, denen ich auf diesem Wege meinen herzlichsten Dank aussprechen möchte. An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang meine Forschungsteilnehmer zu nennen, die ich ein Stück weit auf ihrem Weg begleiten durfte und die mir sowohl Einblick in ihr Alltags- als auch Berufsleben gegeben haben. Ich wurde mit einer unglaublichen Offenheit empfangen und nehme aus dieser Zeit viele besondere Erlebnisse und Eindrücke mit. Großer Dank gilt darüber hinaus meinem Doktorvater Prof. Dr. Günther Kronenbitter, der mich von Anbeginn in meinem Vorhaben bestärkt hat, stets ein offenes Ohr für mich hatte, mich in schwierigen Phasen immer wieder aufs Neue motiviert und mir zugleich die Freiheit gegeben hat, eigene wissenschaftliche Wege zu beschreiten. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Sabine Doering-Manteuffel und meinem Drittprüfer Prof. Dr. Werner Schneider für die vertrauensvolle Begleitung meines Forschungsprojekts, ihre wertvollen Anmerkungen sowie die konstruktive Diskussion während der Disputation. Bei Prof. Dr. Michael Simon bedanke ich mich zudem herzlich für die Übernahme des externen Gutachtens zu meiner Dissertation. Dr. Julia von Hayek und den Mitgliedern des Zentrums für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung der Universität Augsburg danke ich für den anregenden Austausch zu meiner Arbeit im Rahmen der verschiedenen Forschungskolloquien und Veranstaltungen. Mein Dank geht damit verbunden auch an alle Fachkolleginnen und -kollegen für die inspirierenden Diskussionen auf Tagungen, bei Kongressen oder in Forschungslaboren. Der Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Augsburg danke ich darüber hinaus für die Bezuschussung meiner Kongressreisen. Ebenso gedankt sei der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mein Forschungsvorhaben im Rahmen eines Promotionsstipendiums gefördert hat. Dadurch wurde mir nicht nur der nötige finanzielle und zeitliche Freiraum gegeben,
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um mich auf meine Forschung zu konzentrieren, sondern ich habe durch mein Stipendium auch viele neue, nette Menschen kennengelernt. Eine große moralische Stütze waren zudem meine lieben Kollegen und Freunde Birte Bambusch-Groetzki, Leonie Herrmann, Roman Tischberger, Christoph Salzmann, Ina Hagen-Jeske, Lena Grießhammer, Julia Hackenberg und Stephanie Lange, mit denen ich nicht nur meine Ideen diskutieren konnte, sondern die auch für den nötigen Ausgleich fernab des Schreibtisches gesorgt haben. Ein großes Dankeschön geht damit verbunden an das gesamte Team des Augsburger Lehrstuhls für Europäische Ethnologie/Volkskunde für die tolle Arbeitsatmosphäre. Es hat jeden Tag Spaß gemacht, ins Büro zu kommen. Schließlich möchte ich noch meinem privaten Umfeld danken, das maßgeblich zum Gelingen meines Forschungsvorhabens beigetragen hat. Andreas, ich danke dir für dein Vertrauen in mich und dafür, dass du für mich da bist, wenn ich dich brauche. Meinen Eltern, Dr. Roman und Roswitha Ruther, sowie meinem Bruder Florian danke ich für ihre liebevolle Unterstützung und ihre unglaubliche Geduld. Ich konnte mit ihnen stets die einzelnen Kapitel meiner Dissertation besprechen und ich kann grundsätzlich immer auf sie zählen. Ich bin unendlich dankbar, dass es euch gibt und dass ich so eine tolle Familie habe!
Carolin Ruther Augsburg, im März 2018
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie September 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
Sonja Hnilica, Elisabeth Timm (Hg.)
Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1
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