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German Pages 210 Year 2016
In seinen Ausführungen macht Hans-Dieter Mutschler deutlich: Naturwissenschaft und Religion schließen sich nicht aus. Beide sind Welterklärungsmodelle mit unterschiedlichen Fragestellungen, unterschiedlichen Bezugsrahmen und entsprechend unterschiedlichen Deutungen, die aber sehr wohl zusammenpassen. Hans-Dieter Mutschler, Dr. phil., geboren 1946, Studium der Theologie, Philosophie und Physik in München, Paris und Frankfurt. Professor für Naturphilosophie an der Hochschule Ignatianum in Krakau, Lehrbeauftragter an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main.
ISBN 978-3-429-03923-3
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Alles Materie – oder was?
In seiner Kritik dieser Position zeigt Hans-Dieter Mutschler auf, dass der Materialismus keineswegs zwingend aus der Naturwissenschaft folgt und in welche inneren Widersprüche dieser sich verstrickt. Erst wenn wir beides, Materie und Geist, ernst nehmen und in ihrer inneren Beziehung zueinander sehen, werden uns die Weltphänomene verständlich.
Hans-Dieter Mutschler
Alles, was es gibt, besteht aus Atomen, Elementarteilchen oder Superstrings. Geistige Prozesse sind nichts als eine Zusammenballung solcher materiellen Partikel und daraus hinreichend erklärbar; Gott wird überflüssig – so lautet, kurz gefasst, die Position des Materialismus.
Hans-Dieter Mutschler
Alles Materie – oder was?
Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion
19.02.2016 15:06:37
Hans-Dieter Mutschler Alles Materie – oder was ? Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion
Hans-Dieter Mutschler
Alles Materie – oder was ? Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http ://dnb.d-nb.de› abrufbar. 1. Auflage 2016 © 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg www.echter.de Umschlag : wunderlichundweigand.de (Foto : Angela Waye/shutterstock.com) Satz : Hain-Team (www.hain-team.de) Druck und Bindung : CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03923-3 (Print) 978-3-429-04852-5 (PDF) 978-3-429-06271-2 (ePub)
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Der kluge und der primitive Materialismus . . . . . . . . . . . . 15
a. Der kluge Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 b. Der primitive Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution ? . . . . . . . . . . . . . 37 3. Die Leib-Seele-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
a. Die falsche Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b. Peter Bieris drei Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 c. Die Frage nach den Erlebnisqualitäten . . . . . . . . . . . . . 60 d. Das Gehirn als Beziehungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4. Die drei Dogmen des Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
a. Das materielle Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b. Das Supervenienzprinzip und die Statik des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c. Die kausale Geschlossenheit der Welt und ihre Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5. Essentialismus und die Aufhebung der Moral . . . . . . . . . . 99
a. Die Trennung von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . 99 b. Technologische Barbarei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c. Die Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6. Praktischer und theoretischer Materialismus . . . . . . . . . . 125
a. Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b. Eine andere Sichtweise : das Mittelalter . . . . . . . . . . . . 132 c. Das Habenwollen und die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . 136
7. Glaube und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
a. Es gibt kein richtiges Leben im falschen . . . . . . . . . . . . 145 b. Sozialkritik und das Vertrauen ins Sein . . . . . . . . . . . . 148 c. Der naturalisierte Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 d. Die Architektur als Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 e. Mutige Theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 8. Theologie der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
a. Das faktisch- und das normativ-Allgemeine . . . . . . . . 171 b. Der unendlich große Kosmos der Physik. Quantität und Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c. Das Leiden in der Natur. Zufall und Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 d. Verlust und Bedeutung des Symbolischen . . . . . . . . . . 198 e. Der „overview effect“ und das Unverfügbare im Verfügbaren . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Einleitung
Vor 200 Jahren war in Deutschland der Hegelianismus Mode. Wer etwas war, war Hegelianer. Die Hegel’sche Philosophie steht am Ende einer Entwicklung, die mit Kant beginnt und über Fichte und Schelling zu ihrem Höhepunkt führt, als den sich Hegel ganz eindeutig sah. Er fühlte sich aber nicht nur als Höhepunkt der Philosophiegeschichte (was arrogant genug gewesen wäre), sondern zugleich als der Höhepunkt der gesamten Kulturgeschichte seit über 5000 Jahren. Goethe hat sich in seinem „Faust“ über diese Wichtigtuerei lächerlich gemacht, aber wer etwas auf sich hielt, war vor 200 Jahren dennoch Hegelianer. 50 Jahre später war der ganze Spuk verflogen. Die völlig überhöhten Geltungsansprüche der Deutschen Idealisten hatten sich als illusorisch erwiesen. Das änderte aber nichts daran, dass man sich in Deutschland weiterhin als Spitze der kulturellen Entwicklung sah, wenn auch aus anderen Gründen. Die Deutschen hatten – so ihre schmeichelhafte Selbstdeutung – die beste Technik, die beste Naturwissenschaft, das schlagkräftigste Militär und die besten Waffen. Im Ersten Weltkrieg zerstob diese Illusion deutscher Überlegenheit, auch wenn man es nicht so recht wahrhaben wollte und sich eine ‚Dolchstoßlegende‘ zurechtphantasierte. Hier legt sich der Verdacht nahe, dass es so etwas wie eine ‚kollektive Egozentrik‘ gibt, d. h., das Kollektiv hat Neigung, sich prinzipiell überlegen zu fühlen, und zwar nicht nur anderen gesellschaftlichen Gruppierungen oder Nationen gegenüber, sondern auch bezüglich der gesamten Vergangenheit. Wir lieben es, vom hohen Ross herabzuschauen, und das war wohl schon im7
mer so. Die Griechen nannten alle Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden, ‚Barbaren‘, was lautmalerisch so viel heißt wie ‚Blabla‘. Wer kein Griechisch verstand, war allein aus diesem Grunde ein Barbar. Es spricht nichts dafür, dass wir diese kollektive Egozentrik inzwischen abgelegt hätten. Sie wandelt höchstens ihre Gestalt. Heute sind wir zumeist der Meinung, dass unsere Höchstleistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik eine Stufe der Kultur repräsentieren, verglichen mit der alle vergangenen Kulturen in Mythos, Mystik und Aberglauben versinken. Im Mittelalter glaubte man an Gott, Hexen, Engel und Teufel, fiktive Wesen, die vor dem Licht der wissenschaftlichen Aufklärung ins Nichts verschwinden. Stattdessen reden wir uns ein, realistisch zu sein und nichts als realistisch. Nach unserer Überzeugung besteht die Welt aus Atomen und alle höheren Formen sind nichts als die Zusammenballung solcher Atome und wenn wir ihre Bindungsgesetze genau genug kennen würden, könnten wir z. B. aus den Zuständen der Atome in unserem Gehirn ableiten, was wir denken, fühlen oder wollen. Der Geist würde sich als ein Sekundärphänomen der feuernden Neuronen im Gehirn erweisen. So wie der Dampf über einem sonnenbeschienenen Gewässer keine Substanz eigenen Rechtes ist, so ist der menschliche Geist nach dieser Auffassung nichts als eine Ausdünstung des Gehirns, die wir bald mathematisch berechnen können, und wo der menschliche Geist als eine eigenständige Größe verschwindet, brauchen wir von Gott erst gar nicht mehr zu reden. Gott degeneriert in dieser Sichtweise zu einem Placeboeffekt der Evolution, eine nützliche Illusion im Kampf ums Überleben, d. h., wer heute noch ernstlich am Glauben festhält, tut dies wider besseres Wissen. Eine solche Art der ‚wissenschaftlichen‘ Aufklärung dominiert heute in Intellektuellenkreisen, und derjenige, der sie sich zu eigen macht, fühlt sich haushoch überlegen über jeden tradi8
tionellen Humanismus, vor allen Dingen aber über die Religion. So gesehen, ist der gläubige Mensch im Mittelalter stehen geblieben, und die Humanisten sind kulturkonservativ zu spät Gekommene, die an ihren Überzeugungen festhalten wie jemand, der die geschnitzte Kuckucksuhr seines Großvaters an der Wand hängen lässt, auch wenn sie nicht mehr zu seinen Möbeln passt. Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass der Materialismus keineswegs aus der Naturwissenschaft folgt, und es wird sich weiter zeigen, dass er keinerlei Gründe hat, sich das gute Gewissen der Aufklärung zu machen. Es handelt sich vielmehr um eine dieser Formen kollektiver Egozentrik, die es in der Geschichte schon so oft gegeben hat. Vor 30 oder 40 Jahren war unter Intellektuellen der Neomarxismus Mode. Man schwadronierte ständig von den „sozioökonomischen Bedingungen“ und weil alles, was es gibt, sozial und ökonomisch bedingt ist, konnte man auch zu allem etwas sagen und musste niemals fürchten, widerlegt zu werden. Diejenigen, die diese Rede im Munde führten, fühlten sich ebenfalls allem „bürgerlichen Denken“ – wie sie es nannten – haushoch überlegen und pflegten ihr moralisch-intellektuelles Überlegenheitsgefühl als einen Sonderfall kollektiver Egozentrik. All das ist nun Geschichte. Diejenigen, die seinerzeit den Neomarxismus vertraten, leben immer noch unter uns, aber sie trauen sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, weil sie nur im Kollektiv stark waren. Diese kollektive Egozentrik braucht die Stallwärme Gleichgesinnter, da sie nicht auf persönlicher Überzeugung beruht, sondern auf der Selbstbestätigung durch das Rudel. Aus diesem Grunde erheben die Neomarxisten auch dann nicht ihre Stimme, wenn die Ereignisse danach schreien. Die Bankenkrise von 2007 lief in vieler Hinsicht nach Schemata ab, die Marx vor 150 Jahren prophezeit hatte. Aber die Alt-68er schwiegen beharrlich. Es hätte Mutes bedurft, jetzt aufzustehen, aber sie fühlten sich offenbar nur im Kollektiv wohl, das sich inzwischen aufgelöst hatte. 9
Vor einem Jahr schrieb der Philosoph und ebenfalls Alt-68er Johannes Rohbeck ein neues Buch über Karl Marx. Dazu gehört heute Mut. Rohbeck ist durchaus kritisch in Bezug auf seinen Meister, dem er in vielem nicht mehr folgt. Aber Rohbeck vertritt die These, dass man gerade heute wieder an bestimmte Aspekte der Marx’schen Lehre anknüpfen sollte. Recht hat er. Aber eine kollektive Befindlichkeit steht dem im Wege. Wir heulen heute mit ganz anderen Wölfen. Ich möchte also im Folgenden den materialistischen Zeitgeist kritisieren, der heute zur Norm wurde, als eine Form der kollektiven Egozentrik, erfunden zum Zwecke des Überlegenheitsgefühls. Dabei ist es aber nützlich, sich über gesamtgesellschaftliche Hintergründe zu verständigen, die diesen Materialismus überhaupt erst möglich gemacht haben. Es scheint, dass wir zwischen einem praktischen und einem theoretischen Materialismus unterscheiden sollten. Der praktische Materialismus hält alles für real und nützlich, was ihm die Sinne darbieten. Er ist die Ideologie der Konsumgesellschaft. Die Konsumgesellschaft beruht auf der illusorischen, aber nichtsdestoweniger tief gegründeten Überzeugung, dass die Befriedigung der Sinne den Sinn Lebens garantiert. Glück und Konsum gehen in dieselbe Richtung. Es gibt allerdings Umfragen, wonach die Menschen in Bangladesh oder Butan am glücklichsten sind, obwohl es sich um die ärmsten Länder auf der Welt handelt. Das hindert aber nicht, dass wir an der Illusion festhalten, Konsum oder allgemein die Sinnenlust mache uns glücklich, und eine allgegenwärtige Werbung hämmert uns diesen Unsinn ständig ein, damit wir ja nicht auf die Idee kommen, zu zweifeln. Werbung ist das nie endende Mantra der Konsumgesellschaft. Der theoretische Materialismus hat mit diesem praktischen eigentlich nichts zu tun. Er beruht auf der Überzeugung, dass alles, was es auf der Welt gibt, mit Hilfe der Naturwissenschaft erklärt werden kann, und weil sich die Naturwissenschaft auf 10
die Materie bezieht, scheint damit eine materialistische Position begründet. Weil dieser theoretische Materialismus an sich nichts mit dem praktischen zu tun hat, kann man den einen auch ohne den anderen haben, und so war das oft in der Vergangenheit. Der Marxismus war praktischer Materialismus, denn die Marxisten glaubten gerade nicht, dass sich alles auf der Welt naturwissenschaftlich erklären ließe. Sie nannten diese Position herablassend „mechanistischen Materialismus“ und hielten sie für eine „bürgerliche“ Erfindung. Sie hingegen glaubten an die Dialektik, als eine höhere Logik, die Hegel erfunden und Marx auf die Füße gestellt habe. Die Marxisten waren also keinesfalls Szientisten. Ihr Materialismus war von praktischer Natur. Umgekehrt muss der theoretische Materialist nicht auch ein praktischer sein. Man kann ohne Weiteres glauben, dass die Naturwissenschaft alles erklärt, was es auf der Welt gibt, zugleich aber seine Wissenschaft geradezu asketisch betreiben. Der theoretische Materialist muss keinesfalls von der Art sein, dass er ständig nur seine Sinnenlust maximiert. Beides hat erst einmal nicht viel miteinander zu tun, und deshalb gibt es viele Naturwissenschaftler, die in ihrem praktischen Verhalten sehr idealistisch sind, die aber mit Gott nichts zu tun haben wollen. Gleichwohl gibt es hier eine gewisse Affinität : Wenn in einer Gesellschaft die Überzeugung vorherrschend ist, real sei nur, was uns die Sinne darbieten, dann ist in einer solchen Gesellschaft der Boden dafür bereitet, auch nur das für real zu halten, was wir messen und wägen können und was in eine mathematische Formel hineinpasst. Von daher gibt es eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen theoretischem und praktischem Materialismus. Wir werden diese Wahlverwandtschaft am Ende des Buches näher darstellen. Die vorliegende Untersuchung handelt aber zunächst einmal vom theoretischen Materialismus. Es geht um eine Kritik der Ideologie, wonach alles im Universum nur eine Zusammenballung von Atomen sei und wonach wir über alles hinreichend Be11
scheid wüssten, wenn wir diese Zusammenballung verstanden hätten. In Wahrheit lässt sich die Welt nicht allein ‚von unten her‘ begreifen. Es ist wohl wahr, dass die Materie alles trägt, aber sie bestimmt deshalb noch längst nicht alle höheren Inhalte. Dies dennoch anzunehmen wäre ungefähr so, als würden wir glauben, dass der Sockel die Statue festlegt. Zwar fällt die Statue ohne den Sockel um, aber ein und derselbe Sockel trägt ganz verschiedene Statuen. Der Sockel ist nur die Möglichkeitsbedingung der Statue. Er bestimmt nicht ihren Inhalt und ihre konkrete Gestalt. So wären auch wir nichts ohne Materie, aber die Materie legt unseren Geist nicht in jeder Hinsicht fest. Der Geist hat seine eigenen Freiheitsgrade. Verständlich werden uns die Weltphänomene erst, wenn wir beides, Geist und Materie, ganz ernst nehmen. Aristoteles war der Meinung, dass sich Geist und Materie auf verschiedenen Niveaus durchdringen und dass wir ein adäquates Weltverständnis erst erlangen, wenn wir das Zusammenspiel dieser beiden gegensätzlichen Komponenten, also von Geist und Materie, richtig erfasst haben. Wir könnten daher sagen : Aristoteles betrachtete die Welt insgesamt wie einen psychosomatischen Zusammenhang. So wie wir den Menschen nicht hinreichend verstehen können, wenn wir nur seine körperlichen Funktionen berücksichtigen, so hat alles in der Welt eine Art von psychosomatischem Zusammenhang, der uns erst die Phänomene in ihrer Ganzheit begreiflich macht. Diesen Gedankengang werden wir nach und nach im Sinn einer Alternative zum heute herrschenden Materialismus entfalten. Es genügt ja nicht, den Materialismus argumentativ zurückzuweisen. Wir möchten auch gerne wissen, was an seine Stelle treten könnte. Übrigens werden wir uns zumeist nicht dem heute herrschenden Sprachgebrauch anschließen, wonach wir nicht mehr von ‚Materialismus‘ reden sollten, sondern von ‚Physikalismus‘ oder von ‚Naturalismus‘. Der Grund liegt darin, dass es im 18. Jahr12
hundert einen Klötzchenmaterialismus gab, der sich parasitär an die Newton’sche Physik angehängt hatte. Newton selbst war absolut kein Materialist, aber besonders in Frankreich wurde seine Physik materialistisch gedeutet, indem man unterstellte, das eigentlich Reale seien kleine Materieklötzchen. Als dann im 20. Jahrhundert die Quantentheorie entdeckt wurde, war diese Vorstellung unhaltbar geworden und man sagte sich : Egal, was die Physik an materiellen Bausteinen zutage fördert, das, was sie entdeckt, nennen wir nun ‚das Reale‘, mögen es Punktmassen, Elementarteilchen, Quarks oder Superstrings sein. Man tauschte also das Etikett aus und nannte den Materialismus nun vornehmer ‚Physikalismus‘. Andere wiederum grenzen ihre Weltanschauung gegen das Übernatürliche ab und behaupten, dass es nur die Natur gibt, wie sie durch die physikalischen Gesetze beschrieben wird. Daher der Begriff des ‚Naturalismus‘. Aber ontologisch gesehen, handelt es sich in jedem Fall um ein und dasselbe, nämlich um einen weltanschaulichen Materialismus, weshalb wir es bei diesem Wort belassen sollten. Es geht hier also um eine Kritik der Auffassung, wonach die Welt nicht nur aus Atomen, Elementarteilchen oder meinetwegen Superstrings besteht, sondern wonach diese materiellen Partikel alles Übrige bestimmen und auf diese Art den traditionellen Geist und damit auch gleich noch den lieben Gott überflüssig machen. Diese sehr verbreitete Auffassung wird sich als haltlos, als ideologisch verbrämt herausstellen, und wir werden deshalb nach einer Alternative fragen müssen.
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1. Der kluge und der primitive Materialismus
Es gibt einen klugen und einen primitiven Materialismus. Zunächst wollen wir uns auf den durchaus klugen Materialismus beziehen, um von vornherein den Verdacht auszuräumen, wir hielten den Materialismus ipso facto für primitiv und schlecht. Gläubige Menschen unterschätzen oft die Wucht des Negativen in der Welt, das doch eine mächtige Instanz gegen ihre Überzeugungen darstellt. Es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, angesichts von Auschwitz und Birkenau, angesichts der Gräuel von Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot oder angesichts von Hiroshima und Nagasaki immer noch an einen gütigen Gott zu glauben. Nicht dass ich es für unmöglich hielte, aber das Elend dieser Welt ist offenkundig eine furchtbare Zumutung für den Glauben, und wer sich zu einem solchen Glauben nicht entschließen kann, der hat womöglich seine guten Gründe und mag im Übrigen ein durchaus guter Mensch sein. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der Glaube etwas Selbstverständliches sein sollte. In der zweiten Hälfte dieses Kapitels soll also auch über den Primitivmaterialismus gehandelt werden, der auf der Illusion beruht, wir würden nur gewinnen, wenn wir die Religion im Mülleimer der Geschichte verschwinden lassen. Das ist nicht nur böswillig, sondern töricht. Der Verlust der Religion ist zugleich mit einem Verlust an existenzieller und moralischer Substanz verbunden, wobei man bis heute nicht sehen kann, was diesen Verlust kompensieren könnte. Diese durchaus wertvolle Substanz des Christlichen können wir in einen gesellschaftlichen und in einen individuellen Aspekt aufteilen. In beiden Be15
reichen hinterlässt der Verlust des Glaubens eine empfindliche Lücke, und diejenigen, die nicht einfach nur von Hass gegen die Religion erfüllt sind, haben diesen Verlust erkannt. Es sind dies die klugen Atheisten, und sie sind oft traurig über das Verlorengegangene. Karl Rahner unterschied schon vor 50 Jahren die triumphalistischen von den traurigen Atheisten. Letztere sind unsere eigentlichen Gesprächspartner.
a. Der kluge Materialismus Im Jahr 2004 fand in der Katholischen Akademie in München ein Gespräch zwischen dem Philosophen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger, damals noch Kardinal, statt. Das Gespräch wurde als sensationell, von manchen auch als Anstoß erregend empfunden, weil Habermas immer als der Repräsentant einer links-aufgeklärten – selbstverständlich glaubenslosen – Vernunft galt, während man Ratzinger eher zum konservativen Flügel der Kirche rechnete. Was wollten die beiden voneinander ? Eine leicht zynische Lesart würde so lauten : Da treffen sich zwei ältere Herren, deren jeweils multinationale Unternehmen Gefahr laufen, bankrott zu machen, so dass eine heilige oder auch unheilige Allianz zustande kam, so wie sich zwei umstürzende Bäume gegenseitig stabilisieren, damit es nicht so schnell zu Ende geht, sozusagen eine Art von Rentenkonkubinat. Der atheistisch eingestellte Philosoph Hans Albert schäumte vor Wut, weil er annahm, der Aufklärer Jürgen Habermas sei nun zu Kreuze gekrochen, vielleicht weil man im Alter – den Tod vor Augen – eine Rückversicherung braucht in dem Sinn, wie sich große Aufklärer und Atheisten von Voltaire bis Heinrich Heine noch auf dem Totenbett zum christlichen Glauben bekehrt haben. Man weiß ja nie, was da noch kommt. Aber diese Deutung wäre ganz falsch. Jürgen Habermas hat sich nicht zum Glauben bekehrt. Sein Motiv ist ein ganz ande16
res, und man sollte dieses Motiv nicht nur als eine strategische Ausflucht aus dem Ungenügen der eigenen Position sehen, so wie Ratzinger seinen Kontrahenten nicht einfach nur als einen reuigen Sünder sah, der in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Eine positive Lesart, die dem Sachverhalt wohl eher angemessen wäre, ist die, dass hier zwei bedeutende Vertreter ihrer jeweiligen Weltanschauung von der Sorge umgetrieben wurden, das moderne Gemeinwesen könne von innen her ausgehöhlt werden und irgendwann einmal moralisch kollabieren. Die Problematik, die hierin liegt, hat der Staatsrechtler ErnstWolfgang Böckenförde so ausgedrückt, dass unser freiheitlichdemokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Dieser Satz machte später als ‚Böckenförde- Diktum‘ Karriere. Er drückt ein Paradox demokratischer Gesellschaften aus, die die Weltanschauung ihrer Bürger nicht mehr festlegen und auf die Art sanktionieren wie noch zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar. Kantisch gesprochen, fordert der Staat nur noch Legalität, aber keine Moralität mehr, d. h., er verlangt nur noch Gesetzeskonformität. Aus welchen Gründen der Bürger den Gesetzen gehorcht, ob aus Angst vor Strafe, aus Berechnung oder aus Gutwilligkeit, betrifft den Gesetzgeber nicht weiter, denn der demokratische Staat schnüffelt nicht mehr hinter den Motiven seiner Bürger her. Aber dann kann es geschehen, dass die Sittlichkeit des Gemeinwesens nach und nach austrocknet. Der Staat ist nämlich darauf angewiesen, sich moralisch zu reproduzieren, so wie er sich auch physisch reproduzieren muss. In beiderlei Hinsicht haben wir heute ein Problem. In allen westeuropäischen Ländern werden zu wenige Kinder geboren. Die eingewanderten Muslime andererseits haben viele Kinder. Es gibt Untersuchungen, wonach bisher nur religiös geprägte Gesellschaften ihr eigenes physisches Überleben sichern konnten. Selbst die vielgelobten Kinderkrippen in der ehemaligen DDR hatten nicht die Wirkung, dass dieser atheistische Staat sein eige17
nes Überleben sichern konnte. Die hatten auch zu wenig Kinder. Für die moralische Reproduktion gilt etwas Ähnliches, denn nur eine lebendige Moral lässt sich unseren Kindern beibringen, denn wir sollten Kinder nicht nur physisch, sondern auch moralisch zur Welt bringen. Nun garantierte die traditionelle Religion eine gewisse sittliche Grundsubstanz des Gemeinwesens, aber nichts ist an deren Stelle getreten, vielmehr ist das moderne Individuum gewöhnlich auf sein eigenes Wohlergehen fixiert, vielleicht noch auf das seiner unmittelbaren Nachkommen, aber nur noch selten auf das Wohlergehen des Staates. Der Staat ist jetzt nur noch der Garant meines persönlichen Glücks. Er sperrt die Verbrecher weg, sichert meine Rente und regelt das Verkehrschaos, aber wir haben kein affektives Verhältnis mehr zu ihm. In seiner Antrittsrede von 1961 sagte John F. Kennedy den berühmt gewordenen Satz : „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ Ludwig Erhard – ständig Zigarre rauchend – war zur selben Zeit, nämlich ab 1963, Bundeskanzler geworden und hatte kurz zuvor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel geschrieben „Wohlstand für alle“. Während sein Vorgänger, Konrad Adenauer, der im Dritten Reich das eigene Leben riskiert hatte, stets darauf achtete, dass Deutschland nach den Zeiten der Barbarei wieder ein Land der sittlichen Substanz würde, heizte Erhard einseitig den Konsum an, so als hinge unser Glück allein davon ab. Es scheint, dass wir ihm seither gefolgt sind und dass der private Konsum und die Steigerung des individuellen Lebensstandards unser vorrangiges Ziel sind. Dies gilt selbstverständlich nur statistisch (rühmliche Ausnahmen bestätigen immer die Regel). Diese Dominanz des Hedonismus und des Habenwollens hat bei Josef Ratzinger für ein pessimistisches Geschichtsbild gesorgt. Er sieht die heutige Gesellschaft in Relativismus und Hedonismus versinken und empfiehlt als Gegenmittel die christliche Religion. Aus diesem Grunde führte er als Papst das Pro18
jekt einer „Neuevangelisierung Europas“ fort, das sein Vorgänger ins Leben gerufen hatte. Es ist aber nicht sicher, ob wir den herrschenden Hedonismus der Gesellschaft, den niemand bestreiten kann, moralisierend deuten sollten, denn die Menschen sind heute nicht schlechter als früher, aber vielleicht fehlt ihnen die motivierende Kraft zur Selbstlosigkeit, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu formal sind. Die Menschen sind eben Herdentiere und vielleicht nicht einmal zu Unrecht, denn wir sind auf Anerkennung und Kooperation angewiesen. Wenn sich in einer Gesellschaft wie der unsrigen das individuelle Habenwollen als Grundhaltung durchgesetzt hat, dann wird der Einzelne die Tendenz haben, sich dem anzupassen, und man sollte deshalb hier nicht zu rasch mit moralischen Kategorien und Verurteilungen arbeiten. Sicher aber scheint, dass dieses Projekt einer „Neuevangelisierung Europas“ keine guten Chancen hat. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Völker Europas erneut der Kirche beugen werden. Habermas beurteilt die Situation ebenfalls sehr pessimistisch, wenn auch aus anderen Gründen. Für ihn als Sozialphilosoph sind die multinationalen Unternehmen eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, und was ihn besonders beunruhigt, sind die fortschreitenden Medizintechnologien, die in eine neue Form der Barbarei hineinführen könnten, dann nämlich, wenn Menschen die Eigenschaften ihrer Nachkommen manipulieren, ohne dass diese die Möglichkeiten hätten, sich zu wehren. Ein weiterer Grund – aber das sagt er nicht so laut – könnte sein, dass er Zweifel am eigenen Projekt hat. Habermas ist ein großer Intellektueller, und er entwirft sein Konzept des Staates allein von der Vernunft her. Alles Substanzielle, Nationale, Patriotische, Metaphysische lehnt er ab. Daher übernahm er von Dolf Sternberger den merkwürdigen Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘. Das ist ein weit hergeholtes Hirnkonstrukt. Der Patriot opfert im Grenzfall sein Leben für den Staat, aber wer wird bereit sein, für eine Verfassung zu sterben ? 19
Vielleicht sind diesem großen Intellektuellen inzwischen doch Zweifel am eigenen Intellektualismus gekommen, denn der Staat reproduziert seine sittliche Substanz – wenn überhaupt – aus Leidenschaft und nicht aus der reinen Vernunft – so wie auch sonst die Kinder gezeugt werden. Ein aus Vernunft gezeugtes Kind würde in eine lieblose Welt hineingeboren. Jedenfalls kann man sich gut vorstellen, dass Habermas aus Verzweiflung über die sittliche Erosion der Gesellschaft dort Hilfe sucht, wo er noch genügend Substanz vermutet : bei der Kirche. Er würde natürlich nie so weit gehen, den Glauben als Remedium der modernen Krankheit zu empfehlen, denn in Wahrheit hat er ein rein instrumentelles Verhältnis zur Religion. Er sieht in ihr so etwas wie das Rohöl der Vernunft, das mit Hilfe der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgecrackt und in gebrauchsfähigen sozialen Treibstoff verwandelt werden muss. Die Religion ist ihm lediglich Mittel zum Zweck der Vernunft. Wie auch immer, wir können in diesem Dialog Ratzinger – Habermas ein Symptom dafür sehen, dass verantwortliche Vertreter gegensätzlicher Weltanschauungen das moralische Defizit der modernen Gesellschaft erkannt haben, das durch den Verlust des Glaubens hervorgerufen wurde. Auf einer kollektiven Ebene haben wir es nicht vermocht, diesen Verlust zu kompensieren, und eine Zivilreligion wie in den USA existiert bei uns nicht. An diese Zivilreligion und an den intakten Patriotismus der US-Amerikaner konnte John F. Kennedy appellieren. Ludwig Erhard hätte das nicht gekonnt, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte ja gar nicht. Wir sehen also, dass ein verantwortungsvoller Atheist wie Jürgen Habermas die Religion als etwas Wertvolles ansieht, auch wenn er nach wie vor bekennt, „religiös unmusikalisch“ zu sein. In seiner Friedenspreisrede von 2001 bezieht sich Habermas weiter auf einen religiösen Inhalt, der den Übergang vom Kollektiven zum Persönlichen markiert. Es wurde oben gesagt, dass der Verlust der Religion in beiden Bereichen eine merkli20
che Lücke hinterlässt, sowohl im Bereich der Gesellschaft als auch im Bereich des Individuellen. Die Primitivatheisten, von denen weiter unten die Rede sein wird, betrachten den Verlust der Religion als Gewinn in jeder Hinsicht. Sie verweisen auf die sattsam bekannten dunklen Seiten der Kirchengeschichte wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Zwangsbekehrungen usw., und sie führen das Elend der Welt insgesamt als ein Argument gegen die Existenz Gottes ins Feld. Ist Gott abgeschafft, dann braucht es keine Kirche mehr, ihre dunklen Seiten entfallen automatisch und das Theodizeeproblem ist gelöst. Wo es keinen guten Gott gibt, ist auch das Elend der Welt keine Instanz mehr gegen seine Güte, und wo es keine Kirche mehr gibt, gibt es auch keine Kreuzzüge. All das wird heute gebetsmühlenhaft wiederholt, aber es wird nicht besser durch diese rein mechanische Wiederholung, denn das Elend der Welt verschwindet noch lange nicht allein dadurch, dass wir Gott abschaffen. Im Gegenteil – es verschärft sich. Denn nun gibt es, wie Habermas in seiner Friedenspreisrede zu Recht bemerkt, keine Hoffnung mehr für die Opfer der Geschichte. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille : Gibt es keinen Gott, dann gibt es auch keine Auferstehung. Dann ist das Grab das letzte Wort über die Opfer der Geschichte, und Hitler hat dasselbe Schicksal wie die von ihm ermordeten Juden. Sie modern gleichermaßen im Grab. Kant hielt dies für einen unerträglichen Skandal der Vernunft, so dass er daraus einen Gottesbeweis machte. Es ist nach Kant der Vernunft schlicht nicht zuzumuten – bei Strafe ihrer Selbstzerstörung –, dass wir glauben sollen, der moralisch recht Handelnde, der von den Intriganten und Mächtigen gequält und ermordet wurde, solle auf Dauer dasselbe Schicksal erleiden wie diese Mächtigen, die sich ein gutes Leben auf seine Kosten gemacht haben. Ob dies einen Gottesbeweis hergibt, können wir auf sich beruhen lassen. Ganz gewiss jedoch ist, dass Habermas 21
recht hat, wenn er hier einen unersetzlichen Verlust sieht, den das Verschwinden der Religion nach sich zieht. Die Primitivatheisten gehen mit dem Slogan hausieren : „Glaubst du noch oder denkst du schon ?“ Danach würde ein rational denkender Mensch den Glauben von sich werfen wie ein schmutziges, zerschlissenes Hemd, um atheistisch frisch ausstaffiert einer strahlenden Zukunft der vorurteilsfreien Vernunft entgegenzusehen. Auf der anderen Seite gibt es kluge Philosophen, die den Verlust des Glaubens beklagen, auch wenn sie ihn nicht mehr nachvollziehen können. Dazu gehört z. B. der Philosoph Herbert Schnädelbach. Er bekennt, dass er nicht glauben könne, und hält das Christentum historisch für überholt. Aber als ein gebildeter Mensch geht er schon mal ins Konzert und hört den Schlusschoral aus Bachs Johannespassion : Ach, Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen. Oder Felix Mendelssohns Vertonung des 91. Psalms : Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Schnädelbach gesteht, dass er diese Musik nicht hören kann, ohne tief berührt zu werden oder sogar zu weinen. Aber wenn er das Konzert verlassen hat, dann erscheint ihm das alles nur noch wie ein wesenloser Traum von gestern. Für Menschen wie Schnädelbach ist die christliche Musik wie für unsereins der Besuch in einem Museum für griechische Kunst. Wir stehen staunend vor den Skulpturen der griechischen Götter, und ihre ästhetische Wucht springt uns an wie ein ge22
fährlicher Tiger von hinten. Keine Chance. Wir sind überwältigt und glauben für einen Moment, dass diese Götter real seien. Aber nur so lange, wie wir uns im Museum aufhalten. Draußen hingegen erfasst uns wieder der nüchterne Alltag, und die griechischen Götter werden museal und kommen herab zur bildungsbürgerlichen Reminiszenz. Um 1800 schwärmte ganz Deutschland für die griechische Mythologie. Goethe hat seinen Faust II reichlich damit ausstaffiert. Aber es wirkt gipsklassizistisch, wie ein zweiter Aufguss, und man kann auch davon ausgehen, dass Goethe selbst nicht an diese mythologischen Gestalten glaubte. Für ihn war die griechische Mythologie ein Reservoir kraftvoller Symbole, aus dem er sich bediente. Dass er all dies nicht so furchtbar ernst nahm, sieht man daran, dass er am Ende von Faust II plötzlich in eine christliche Symbolik verfällt, aber auch diese nahm er nicht wirklich ernst. Für ihn waren es einfach nur besondere kräftige Farben auf dem Pinsel seiner Poesie. Für Intellektuelle wie Schnädelbach sind Jesus, Maria und Josef eher wie Zeus, Hera und Apoll : Gestalten der Geschichte, die eine museale Rührung in uns hervorrufen, die jedoch mit unserer heutigen Situation nichts mehr zu tun haben. An das Christentum kann man heute einfach nicht mehr glauben. Dass Schnädelbach das so sieht, scheint klar, aber hat er auch recht ? Kann man heute im Ernst nicht mehr an Gott glauben ? Wer sich entschlossen hat, nicht zu glauben, mag seine guten Gründe haben, und wir werden seine Gründe achten, aber die eher objektive Behauptung, dass man heute nicht mehr glauben könne, ist schlichtweg falsch. Schnädelbach hat bei Th. W. Adorno studiert, zu einer Zeit, als die sogenannte Säkularisierungsthese in Mode war. Sie läuft darauf hinaus, dass unsere Kultur immer rationaler, diesseitiger wird. Das Religiöse verdunstet nach und nach und macht einer Rationalität Platz, die keinen Sinn mehr für Transzendenz hat. Aber diese Säkularisierungsthese ist gescheitert. Die Reli23
gion macht keinerlei Anstalten, zu verschwinden. Es ist auch nicht so, dass sie nur in der „Dritten Welt“ boomt, sodass die These zumindest für die westliche Welt wahr wäre. Je moderner, desto weniger religiös, so die Säkularisierungsthese. Das prominenteste Gegenbeispiel dafür sind aber die USA. Dort gehen Religiosität und Modernisierung Hand in Hand. Dasselbe gilt übrigens auch für Südkorea, die Philippinen, ja sogar für China, und ist es so sicher, dass sich der Aufschwung des Christentums in Südamerika und Afrika nur einfach der Tatsache der gesellschaftlichen Unterentwicklung und einem herrschenden Aberglauben verdankt ? Es ist jedenfalls so, dass die Säkularisierungsthese höchstens für Westeuropa etwas Reales bezeichnet, und dann auch nur, wenn wir die Blüte der Esoterik und den Einfluss ostasiatischer Religionen ignorieren. Jürgen Habermas hat deshalb für unsere Epoche den Begriff ‚postsäkular‘ geprägt, worauf der Religionssoziologe Hans Joas gallig bemerkte, eine Gesellschaft, die niemals wirklich säkularisiert war, könne auch nicht später postsäkular geworden sein. Für Hans Joas ist die ganze Rede von ‚Säkularisierung‘, ‚postsäkular‘ usw. ein Artefakt, eine soziologische Erfindung, die wenig mit der Realität zu tun hat. Das heißt also : Wer sich gegen den Glauben entscheidet, mag seine guten Gründe haben. Zu behaupten, Jesus Christus sei museal, überholt wie die griechischen Götter, liegt aber ganz falsch. An Zeus, Hera und Apoll glaubt niemand mehr, aber auf der Erde leben inzwischen mehr als zwei Milliarden Christen, die ihren Glauben ernst nehmen ! Die klugen Materialisten sind klug genug, sich nicht auf die Naturwissenschaft zu berufen, wie die gleich zu behandelnden Primitivatheisten. Sie haben seriösere Gründe. Heute aber dominiert ein Primitivatheismus, der glaubt, die Religion sei falsch, weil Physik und Biologie wahr seien. In der Tat kommt Gott weder in der Physik noch in der Biologie vor. Aber das ist so ähnlich, wie der Ingenieur in den Betriebsanleitungen einer Wasch24
maschine oder eines Computers nicht vorkommt. Würden wir daraus schließen, dass diese technischen Geräte auf den Bäumen wachsen und nicht vielmehr vom Menschen gemacht wurden ?
b. Der primitive Materialismus Das nun Folgende ist nicht sehr appetitlich. Der Primitivmaterialismus, der auch der ‚neue Atheismus‘ genannt wird, ist so unbedarft, dass man sich stellvertretend für seine Anhänger schämen muss, dass sie sich nicht mehr Mühe geben. Ungefähr so, als würde man den Inhalt von Einsteins Relativitätstheorie in dem Satz zusammenfassen „Es ist alles relativ“, was man zwar oft hört, was aber nur dem einleuchten wird, der keine Ahnung von der Sache hat. Die neuen Atheisten wissen in der Regel nicht, wovon sie reden. Sie haben noch nicht einmal ein elementares Handbuchwissen vom Glauben, geschweige denn, dass sie sich ernstlich mit Theologie auseinandergesetzt hätten. Es ist einfach nur peinlich. Ihr Begriff von Religion lautet ungefähr so : Wenn früher eine Sonnenfinsternis eintrat, flüchteten die Menschen in die Tempel oder in die Kirchen, denn die Sonne war der Platzhalter des Guten und die Finsternis stand für das Böse. Die Sonnenfinsternis war also zugleich eine Verdunklung des Göttlichen, d. h. des Guten. Seit Galilei und Newton haben wir jedoch die Gesetze der Planetenbewegungen und die der Monde erkannt und können eine Sonnenfinsternis präzise vorhersagen. Damit entfällt der ganze Aberglaube, und die Wissenschaft verdrängt die Religion als eine Form der primitiven Unwissenheit. Mehr Schlichtheit ist kaum denkbar. Es gibt in Deutschland eine Art Atheistenkirche, nämlich die Giordano-Bruno-Stiftung. Sie setzt sich für die Verbreitung des Unglaubens ein und beruft sich dabei vornehmlich auf die Na25
turwissenschaft. Tatsächlich sind einige Mitglieder dieser Stiftung Naturwissenschaftler wie Bernulf Kanitscheider, Franz Wuketits, Gerhard Vollmer, Ulrich Kutschera, Volker Sommer, Eckhard Voland, aber auch Philosophen wie Hans Albert oder Dieter Birnbacher. Diese Stiftung veranstaltet Wochenendseminare, wie z. B. eines über den Löffelzerbieger Uri Geller. Geller gibt vor, Löffel auf Distanz und ohne Berührung verbiegen zu können, doch die Giordano-Bruno-Stiftung erklärt uns den Trick. Sehr verdienstvoll, aber sie erhebt damit zugleich den Anspruch, religiöse Wunder entlarvt zu haben. Die fundamentale Differenz zwischen einem Mirakel und einem Wunder scheint ihnen unbekannt. Magie war schon im Alten Testament verboten, geschweige denn im Neuen Testament, aber Wunder haben eine völlig andere Bedeutung als bloße Mirakel oder als Magie. In Lourdes geschehen Heilungswunder, gut bezeugt von völlig materialistisch eingestellten Wissenschaftlern. Dagegen wird eingewandt, dass auch an ganz gewöhnlichen Kliniken unerklärliche Spontanheilungen geschehen und dass ihr prozentualer Anteil nicht geringer sei. Wäre dies eine Widerlegung der Wunder von Lourdes ? Wird ein Todkranker, der im gläubigen Vertrauen nach Lourdes pilgert und der wieder gesund wird, seine Genesung als statistische Schwankung und nicht vielmehr dennoch als ein Wunder ansehen, möge an den profanen Kliniken geschehen, was da wolle ? Tatsächlich ist das Mirakel per se kein Wunder, sondern nur ein auffälliges Geschehen, das im Glaubensvollzug eine bestimmte Bedeutung hat. Das Mirakulöse ist also nicht der entscheidende Punkt, und dass es an gewöhnlichen Kliniken Spontanheilungen gibt, ist kein Argument gegen das Wunder, das seine eigentliche Kraft aus dem Glauben zieht. Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung ist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er schrieb für diese Stiftung eine programmatische Schrift mit dem Titel „Manifest des evolutionären Humanismus“, in der er zehn neue Gebote ver26
kündet, sich also dreist mit Moses auf eine Stufe stellt. Ansonsten sagt er, was ihm so einfällt. So behauptet er, dass den Menschen „in religiösen Dingen jegliches Gefühl für intellektuelle Redlichkeit verloren“ gehe. Oder : „Kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden.“ Jesus habe für die Ungläubigen eine „Endlösung“ nach Art der Nazis vorgesehen, so dass er ihn dreist mit Josef Goebbels ( !) vergleicht. Das ist ebenso böswillig wie ignorant. So wenig wie ein Mirakel von sich aus schon ein Wunder ist, so wenig sollte man eine prophetische Rede, die aufrüttelt, wörtlich nehmen. Aber diese Art von neuen Atheisten hat noch nicht einmal ein elementares Basiswissen über den Glauben. Umso ungenierter lässt es sich lästern. So ließ sich neulich Schmidt-Salomon mit dem Ausspruch hören, das Christentum sei „die dümmste Religion auf Erden“, und vor Kurzem schrieb er sogar einen Roman, um dies zu zeigen. Religionen, die den heiligen Krieg lehren oder die das Kastenwesen rechtfertigen, scheinen ihn weniger zu stören. Man sieht, es geht hier nicht um Information, sondern um Provokation, und zwar um der Provokation willen. Der Philosoph Ansgar Beckermann, der niemals aus seinem Atheismus einen Hehl gemacht hat, kritisiert, dass die neuen Atheisten die gläubigen Menschen behandeln wie „Deppen“. Das ist zunächst auf Richard Dawkins gemünzt, den man ebenfalls zu den neuen Atheisten rechnet und der in seinem Buch „Der Gotteswahn“ alles Schlechte in dieser Welt auf die Religion zurückführt. Das heißt also, ein Atheist wie Beckermann grenzt sich trotzdem ganz deutlich von diesem Primitivatheismus ab, der sich heute so unangenehm breitmacht. In einem Fernsehinterview wurde Richard Dawkins gefragt, wie man mit der Tatsache umgehen solle, dass die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts Atheisten waren, also Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot, wenn doch alles Böse von der Religion kommt, wie Dawkins unterstellt. Er gab jedoch ungerührt zur 27
Antwort „All diese Verbrecher waren in Wahrheit gläubig“. Das heißt : Alles Schlechte ist von Hause aus religiös, so wie alles Religiöse von Hause aus schlecht ist. In den 60ern hat man ganz ähnlich argumentiert : „Alle Kommunisten sind links, also sind alle Linken Kommunisten.“ Auf Grund dieser Logik lässt sich leicht aus einer Maus ein Elefant machen : „Alle Elefanten sind Säugetiere, alle Mäuse sind Säugetiere, also sind alle Mäuse Elefanten.“ Wenn es den neuen Atheisten um Religion geht, setzen sie selbst die elementarsten Regeln der Logik außer Kraft. Hier eine weitere Kostprobe aus Dawkins „Der Gotteswahn“, die zeigt, wie unbedarft und unwissend diese Art von Religionskritik ist : Dawkins bezieht sich in diesem Buch auf die fünf Gottesbeweise des heiligen Thomas von Aquin. Diese Gottesbeweise hängen fast alle an dem Ausschluss des regressus in infinitum. Thomas argumentiert z. B. im ersten Gottesbeweis so, dass es in der Welt offenkundig Bewegung = Veränderung gibt. Nun erkläre sich aber die Bewegung nicht aus sich selbst, sondern was in Bewegung ist, muss von etwas anderem bewegt werden. In der Kette der Bewegungsursachen müsse man aber zu einem Ersten kommen, sonst würde sich auch jetzt nichts bewegen. Also könne man auf die Existenz eines ersten unbewegten Bewegers schließen, den Thomas mit Gott identifiziert. Dawkins sieht richtig, dass dieser Beweis am Ausschluss des regressus in infinitum hängt, denn nur dann kann man auf einen ersten Anfang der Bewegungsursachen schließen. Tatsächlich schließt Thomas ganz grundsätzlich das Unendliche als real Existierendes aus. Die Reihe der Bewegungsursachen kann also nicht ins Unendliche gehen. Sie muss irgendwo ihren Ursprung haben. Dagegen betont Dawkins, dass Gott nicht „gegen die Regression immun“ sei. Er ist nicht der Einzige, der so argumentiert. Seit Bertrand Russell wird immer wieder gegen Gott als Erstursache eingewandt, dass es sinnlos sei, Gott als Ursprung aller Dinge anzusehen, denn dann könne man leichthin weiterfragen, was wohl die Ursache für Gott sei. 28
Dem liegt eine prinzipielle Verwirrung zugrunde. Die Kette der Ursachen und Wirkungen, wie wir sie heute verstehen, geht grundsätzlich ins Unendliche, denn zu jeder Wirkung lässt sich eine weitere Ursache finden, weshalb auch der Urknall nichts absolut Erstes, sondern nur ein relativ Erstes ist, relativ nämlich zu den heute akzeptierten Theorien und Messdaten. Aber Gott ist nicht Ursache in diesem modernen Sinn, sondern Ursprung und das ist etwas ganz anderes, denn im Mittelalter kannte man noch nicht den modernen Kausalitätsbegriff, der den regressus in infinitum einschließt, wie wir das heute tun. Man suchte vielmehr nach einem ersten Ursprung aller Dinge, und wenn die modernen Materialisten glauben, dass solche Fragen des Mittelalters metaphysisch und deshalb sinnlos seien, dann irren sie sich sehr, denn sie fragen ihrerseits ebenfalls nach dem Ursprung aller Dinge und finden ihn in der Materie. Auch wenn ich ein Materialist bin, setze ich also ein Letztes, nicht mehr Relativierbares, d. h. einen echten Ursprung, voraus, bei dem der regressus in infinitum zum Stillstand kommt. In dieser Sichtweise ist die Materie der Grund aller Dinge, und deshalb wird kein Materialist die Frage nach der Ursache der Materie zulassen. Ließe er sie zu, gäbe es nur zwei Möglichkeiten : Entweder die Ursache der Materie wäre wiederum etwas Materielles, dann werden wir die Frage wiederholen. Oder die Ursache der Materie ist etwas Immaterielles, dann hat er seine Weltanschauung aufgegeben. Er wird also die Frage nach der Ursache der Materie grundsätzlich ablehnen. Aber warum polemisiert er dann gegen die Christen, die die Frage nach der Ursache von Gott für sinnlos halten ? Wir unterscheiden heute nicht mehr zwischen ‚Ursache‘ und ‚Ursprung‘, weil wir glauben, dass die Welt hinreichend durch Kausalanalyse begreifbar ist, wie sie in den Naturwissenschaften dargestellt werden. Aber die metaphysische Frage nach dem Ursprung ist damit noch nicht beantwortet und liegt auch auf einer ganz anderen Ebene. Will man die Texte des heiligen Tho29
mas von Aquin wirklich verstehen, dann sollte man zur Kenntnis nehmen, dass er einen Ursachenbegriff hatte, der beides einschloss, Wirkursachen und zugleich damit die Frage nach einem letzten Ursprung. Das liegt daran, dass er teleologisch dachte : Die Kette der Wirkursachen verweist zugleich auf einen höchsten, nicht mehr relativierbaren Zweck. Man kann argumentieren, dass wir heute eine solche Auffassung von Kausalität nicht mehr vertreten können. Aber dann sollte man die Texte erst einmal richtig verstanden haben. Dazu ist einiges an hermeneutischer Vorarbeit nötig, denn man kann nicht einfach davon ausgehen, dass in Texten, die 700 Jahre alt sind, die Begriffe im selben Sinn gebraucht werden wie heute. Der Theologiestudent lernt so etwas im ersten Semester. Aber Atheisten wie Richard Dawkins ersparen sich die elementarsten Kenntnisse, die notwendig sind, um solche Texte zu verstehen. Besonders abstoßend ist Dawkins’ Interpretation des vierten Gottesbeweises aus den Vollkommenheitsstufen, der ebenfalls auf dem Ausschluss des regressus in infinitum beruht. Nach Thomas gibt es Vollkommenheitsstufen im Universum. In aufsteigender Reihenfolge : Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, und diese Wertstufen verweisen auf eine höchste Vollkommenheit, die Thomas mit Gott gleichsetzt. Nun könnte man nach Dawkins dasselbe Muster anwenden, um zu beweisen, dass es einen ultimativen, unüberbietbaren Stinker gibt, und zwar auf diese Art : Es gibt Menschen, die in verschiedenem Grade stinken. Also muss es ein Höchstmaß an menschlichem Gestank geben, mithin den absoluten Stinker, der dann alles überstänke. Aber ist Gestank im Ernst eine Vollkommenheit ? Doch selbst wenn wir Dawkins’ Argument auf Wohlgerüche beziehen würden, ließe sich dann mit Thomas beweisen, dass es den wohlriechendsten Menschen geben müsse, relativ zu dem keiner besser röche ? Es scheint, dass das die Sache auch nicht besser macht, denn es geht Thomas offenkundig um essentielle Eigenschaften, nicht um akzidentelle. Gut zu riechen oder zu stinken sind ak30
zidentelle Eigenschaften des Menschen. Die Vollkommenheitsstufen, von denen Thomas spricht, sind aber essentielle Eigenschaften der entsprechenden Wesen, seien es Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen. An sich steht das in jedem Handbuch, und wer auch nur oberflächlich mit Thomas vertraut ist, weiß, dass er bei akzidentellen Verhältnissen den regressus in infinitum nicht ausschließt. Z. B. hielt er es für unmöglich, den Anfang der Zeit zu beweisen, obwohl es in der Bibel so dargestellt wird. Wäre der Ausschluss des regressus in infinitum auf die akzidentelle Bestimmung der Zeit anwendbar, dann hätte Thomas ganz leicht ihren ersten Anfang beweisen können. Selbstverständlich können wir auch Thomas’ Gottesbeweis aus den Vollkommenheitsstufen kritisieren. Sowohl die Idee einer gestuften Vollkommenheit als auch die Idee essentieller Eigenschaften werden von vielen modernen Philosophen in Frage gestellt. Aber diese Philosophen haben die Texte wirklich gelesen und sich die Mühe gemacht, sie hermeneutisch zu erschließen. Aber Richard Dawkins hat sie nur durchgeblättert und sich noch nicht einmal bei Wikipedia informiert. Was würde er von einem Theologen halten, der seine eigenen Bücher durchblättert, um sie anschließend zu kritisieren ? Vielleicht noch ein Beispiel für die Unbedarftheit der neuen Atheisten : Der Biologe Franz Wuketits ist ebenfalls Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung und schreibt ein Buch nach dem andern, in dem er eine materialistische Weltanschauung aus der Biologie glaubt ableiten zu sollen. Aus diesen zahlreichen Büchern sei hier nur ein bestimmtes Beispiel herausgegriffen, um die ganze Art des Denkens in seiner Schlichtheit zu veranschaulichen. Wuketits bezeichnet die natürlichen Organismen des Öfteren als „Pfusch“. Er denkt an so etwas wie die Kreuzung von Luft- und Speiseröhre, die zwar gewöhnlich durch einen Kehldeckel abgeschlossen werden, aber manchmal funktioniert die Klappe nicht richtig und die Speisen gelangen fälschlicherweise 31
in die Luftröhre, so dass manche sogar daran ersticken. Ein Ingenieur hätte das sicher anders gemacht. Er hätte zwei separate Eingänge geschaffen, damit Luft und Speisen getrennt in den Körper gelangen. Da das bei uns nicht der Fall ist, beurteilt Wuketits solche ‚Fehlkonstruktionen‘ als „Pfusch“. Aber warum eigentlich ? Die Natur geht doch nicht auf dieselbe Weise vor wie ein Ingenieur ! Der Ingenieur ist handlungsentlastet, wenn er ein neues Gerät entwirft. Er programmiert es in Ruhe am Computer, lässt einen Prototyp herstellen, testet seine Eigenschaften, verbessert noch dieses oder jenes und entlässt erst dann seine Neuentwicklung auf den Markt. Aber so geht die Natur nicht vor, denn die Natur muss ihre ‚Konstruktionen‘ bei voller Leistung umbauen und ständig verbessern. Hier gibt es keine Handlungsentlastung, sondern alle Organismen sind einem ständigen Selektionsdruck, d. h. einem mörderischen Wettbewerb ausgesetzt, dem sie standhalten müssen, sonst verschwinden sie von der Bildfläche. Kein Ingenieur auf Erden wäre fähig zu dem, wozu die Natur seit vier Milliarden Jahren fähig ist : bei voller Leistung und im vollen Lauf eine Maschine umzubauen und zu verbessern, sagen wir, aus einem Automobil nach und nach ein Flugzeug zu machen, das im Grenzfall bei der Bewegung auf der Erdoberfläche genauso effizient ist, wie wenn es sich in die Lüfte erhebt. Tatsächlich bemühen sich die Ingenieure seit vielen Jahrzehnten, ein Flugauto zu bauen, bringen es aber nicht fertig, weil die Anforderungen an ein Auto und an ein Flugzeug in eine ganz andere Richtung gehen. Aber die Natur hat dieses Kunststück fertiggebracht. Und da spricht Herr Wuketits von „Pfusch“ ! Dass also die natürliche Evolution merkwürdig scheinende Konstruktionen hervorgebracht hat, liegt einfach daran, dass sie keine Zeit hatte, einen Schritt zurückzutreten und wieder von vorne anzufangen. Das bereits Existierende muss bei voller Leistung umgebaut werden. Natur geht eben nicht vor wie ein Ingenieur. Es ist schlichtweg peinlich, einen Biologen daran erin32
nern zu müssen, dass Natur und Technik zweierlei sind und dass deshalb von „Pfusch“ keine Rede sein kann. Aber wieso kommt Wuketits überhaupt auf eine derart weit hergeholte Idee ? Charles Darwin sollte zunächst auf Wunsch seines Vaters Theologe werden, obwohl er schon immer eine Neigung zur Naturforschung hatte. Also fing er brav an, Theologie zu studieren, und beschäftigte sich unter anderem mit der natürlichen Theologie William Paleys. Bei Paley gibt es einen teleologischen Gottesbeweis aus der Vollkommenheit der Organismen : Wenn ich am Strand eine Uhr finde, dann werde ich auf ihren Urheber schließen, und so sei das auch mit den in der Natur vorfindlichen Organismen. Sie seien so perfekte Maschinen, dass wir auf einen göttlichen Konstrukteur schließen müssten. Über William Paley ist dann eine technizistisch imprägnierte Teleologie in den Darwinismus eingewandert und wird dort kolportiert bis heute. Das 18. Jahrhundert, in dem William Paley lebte, war das Jahrhundert des Mechanismus. Die mechanischen Artefakte, wie z. B. die damaligen Uhren, wurden immer komplizierter und kunstvoller. Also entwickelten ‚progressive‘ Theologen wie Paley eine natürliche Theologie, die sich am Technikparadigma orientierte. Allerdings stieß Paley schon damals, d. h. lange vor Darwin, auf Widerstand innerhalb der Theologenzunft. Es ist also nicht so, wie man heute ständig liest, dass Paleys natürliche Theologie erst von Darwin kritisiert wurde. Der englische Theologe Alister McGrath hat dies in einer glänzenden Studie nachgewiesen. Es ist auch von der Sache her kein Wunder, dass Paleys technizistisches Denken auf Widerstand bei den Theologen stoßen musste, denn das Verhältnis des christlich verstandenen Gottes zu seiner Schöpfung ist kein zweckrationales, von außen kommendes, sondern ein dialogisches der Anerkennung. Wer sich technisch zur Welt verhält, der hat ein monologisches, einseitiges Verhältnis der Machtausübung, nicht ein wechselseitiges des 33
Dialogs und der Anerkennung. Man kann also nicht sagen, dass Paleys natürliche Theologie aufgrund ihrer technizistischen Vorstellung irgendetwas mit dem zu tun hat, was die natürliche Theologie über die Jahrhunderte hinweg lehrte. Die oben erwähnten fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin aus der Summa theologica enthalten deshalb auch keine solchen technischen Vorstellungen. Aber bei den Gegnern des Glaubens haben sie sich seit 200 Jahren gehalten, und das gibt einen Hinweis darauf, weshalb Franz Wuketits die natürlichen Organismen als „Pfusch“ bezeichnet. Er glaubt nämlich, dass die Theologie damit steht und fällt, dass die Organismen perfekte Maschinen sind. Denn in diesem Fall – so fürchtet er – würden sie die Grundlage zu einem Gottesbeweis hergeben und das will er verhindern. Also bezeichnet er sie herablassend als „Pfusch“, um dem Glauben das Wasser abzugraben. Wir haben daher die folgende, unüberbietbar absurde Situation : Ein Biologe wie Franz Wuketits interpretiert die natürlichen Organismen nach einem ganz und gar unbiologischen Schema und bekämpft damit eine Theologie, die genauso schief ist und die schon vor 200 Jahren kaum für sinnvoll gehalten wurde. In Wahrheit ist es aber noch viel absurder : Seit 20 oder 30 Jahren gibt es die neue Disziplin der Bionik. Man hat entdeckt, dass die natürlichen Konstruktionen unseren eigenen haushoch überlegen sind, was Stoffausnützung oder den energetischen Wirkungsgrad anbelangt. Während z. B. selbst unsere Energiesparlampen immer noch einen ziemlich schlechten Wirkungsgrad haben, weil sie viel zu viel Energie in nutzlose Wärme umwandeln, erzeugen die Glühwürmchen kaltes Licht. Sie setzen praktisch die gesamte hineingesteckte Energie in Licht um. Wir sind bis heute nicht in der Lage, es ihnen gleichzutun ; und so ist das mit vielen ‚Konstruktionen‘ in der Natur. Wir würden uns z. B. glücklich preisen, wenn wir so stabile Stahlseile hätten wie die Spinnenfäden, wenn wir die Größenordnung berücksichtigen. 34
Ein Spinnennetz hält eine Hummel aus. Im vergleichbaren Maßstab wären unsere besten Stahlseile längst gerissen, wenn sie solchen Belastungen standhalten müssten. Verglichen mit den natürlichen Konstruktionen ist das, was wir machen, Pfusch und deshalb gibt es die Bionik, die von der Natur lernen möchte, und das in immer größerem Maßstab. Z. B. hat die Autoindustrie längst damit begonnen, ihre Motoren analog zu unseren Knochen aufzubauen, denn die sind nur dort verstärkt, wo die größten Belastungen auftreten, während die Natur an den anderen Stellen Material spart. Der bekannteste Bioniker in Deutschland ist wohl Claus Mattheck. Er hat insbesondere die Stabilitätseigenschaften von Bäumen untersucht, um die entsprechenden Eigenschaften unserer Türme zu optimieren. Wenn unsere Fernsehtürme den Belastungen standhalten müssten, die im Verhältnis die Bäume verkraften, dann wären sie schon längst alle umgefallen. Oder anders gewendet, man könnte unsere Türme mit viel weniger Material und besseren Stabilitätseigenschaften bauen, wenn man an der Natur Maß nähme. Wir haben also bei Wuketits eine Situation, die an Absurdität kaum zu überbieten ist : Aufgrund einer falsch verstandenen Biologie bekämpft er eine falsch verstandene Theologie und nimmt noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die Natur selbst dann, wenn sie unter den extremen Bedingungen einer ständigen Leistungssteigerung arbeiten muss, immer noch ‚Konstruktionen‘ hervorbringt, die den menschlichen haushoch überlegen sind. Damit mag es vielleicht genug sein. Es macht keinen Sinn, diesen neuen Atheisten zu viel Raum zu geben, sonst würde der Eindruck entstehen, man nähme sie ernst. Die sogenannten neuen Atheisten sind überdies nicht wirklich neu. Sie erinnern fatal an den Atheismus des späten 19. Jahrhunderts. Damals verbreitete der Biologe Ernst Haeckel die Darwin’sche Lehre in Deutschland und verband sie mit einem weltanschaulich-materialistischen Monismus ziemlich aggressiven Charakters. Wer sich mit diesem Monismus beschäftigt hat, wird sich die Augen 35
reiben : Wie kommt es, dass die neuen Atheisten alle Torheiten wiederholen, die schon vor 150 Jahren wenig überzeugend waren ? Es scheint eben, dass wir die Bodenlosigkeit unserer eigenen Exstenz und die der Welt nicht aushalten wollen. Das Mysterium bedroht unsere Selbstsicherheit. Es setzt hinter allem, was wir tun, ein Fragezeichen. Der Szientist bringt das Mysterium zum Verschwinden. Er ersetzt die Fraglichkeit durch Kausalanalyse und rekonstruiert die Welt als eine krause Mischung aus blinder Notwendigkeit und ebenso blinden Zufällen. Dann ist die Welt zwar sinnlos, aber sie lässt sich immerhin berechnen und wir wissen endgültig Bescheid.
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2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution ?
Die Frage zu stellen, ob der Mensch ein Produkt der Evolution sei, scheint ziemlich überflüssig. Natürlich ist er das, wir haben ja die Ausgrabungen, die es beweisen. Aber die Frage war anders gemeint : Ist der Mensch ausschließlich und in jeder Hinsicht ein Produkt der Evolution, wie sie von den Darwinisten beschrieben wird ? Selbst hier scheint vielen die Antwort selbstverständlich, ist es aber in Wahrheit nicht. Wenn nämlich der Mensch emergente, das heißt also neuartige Eigenschaften hat, die ansonsten so in der Natur nicht vorkommen, dann können diese Eigenschaften schwerlich durch die Evolution hervorgebracht worden sein, wie sie von der Biologie verstanden wird. Der Philosoph Thomas Nagel schrieb vor Kurzem ein Buch mit dem Titel „Geist und Kosmos – warum die materialistisch-neo-Darwinische Konzeption der Natur wahrscheinlich falsch ist.“ Dieses Buch hat viel Aufsehen oder sogar wütende Proteste hervorgerufen. Wie kommt ein Philosoph, der zudem bekennender Atheist ist, dazu, den Darwinismus für falsch zu halten, jedenfalls bezogen auf den Menschen ? Aber so einfach ist das nicht, denn Nagel bestreitet keineswegs, dass die Darwinistischen Prinzipien nützlich, ja unumgänglich sind, um das Werden in der Natur zu begreifen. Er bestreitet lediglich, dass diese Prinzipien hinreichend sind, menschliche Vernunft und Freiheit abzuleiten. Er hatte schon früher mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass Menschen Eigenschaften aufweisen, die ansonsten in der Natur nicht vorkommen. Diese älteren Schriften haben kein solches Aufsehen erregt, obwohl sie doch im Grunde dieselbe These vertreten, denn wenn ich der 37
Meinung bin, dass Menschen unableitbar emergente Eigenschaften wie Vernunft und Freiheit haben, die naturwissenschaftlich nicht erklärt werden können, dann muss ja doch der Darwinismus insofern unterdimensioniert sein, als dass er auf diese Eigenschaften nicht bezogen werden kann, also nicht imstande ist, sie zu erklären. Aber wie gesagt, all die Jahrzehnte, in denen Nagel dieselbe These vertrat, gab es keinen solchen Aufschrei. Man muss schon explizit sagen, dass der Darwinismus für den Menschen falsch ist, um wahrgenommen oder sogar verachtet zu werden. Nagel schlägt vor, die Gesetze der Physik durch teleologische Gesetze zu erweitern, d. h. durch Gesetze, die Sinnperspektiven eröffnen. Die Gesetze der Physik, wie wir sie gewöhnlich verstehen, gelten einfach nur. Sie haben, so gesehen, keinen Sinn, sind aber nicht etwa sinnlos, sondern einfach nur sinnfrei, so wie die Planetenbewegungen nicht etwa sinnlos sind, sondern ganz einfach kein Anwendungsbereich von Sinnkategorien. Man kann z. B. nicht fragen „Wozu kreisen die Planeten um die Sonne ?“. Hier gibt es einfach kein ‚Wozu‘, sondern nur ein ‚Dass‘. Doch wenn die Menschen aus der Evolution hervorgegangen sind und wenn sie unhintergehbar in Sinnperspektiven leben, die durch Vernunft und Freiheit aufgespannt werden, dann kann dieser Sinn nicht aus dem Nichts hervorgegangen sein. Die Möglichkeit dazu war also im Universum schon immer vorhanden, und diese reale Möglichkeit verlegt Nagel in die Grundgesetze der Physik. Es ist aber nicht ganz klar, wie man die bekannten physikalischen Gesetze durch teleologische erweitern sollte, ohne ein widersprüchliches Durcheinander zu erzeugen. Das heißt, wir brauchen Nagels Lösungsvorschlag nicht zu übernehmen. Aber sein Gedankengang wäre dennoch zu diskutieren, denn er legt den Finger in eine Wunde des Physikalismus und unserer heutigen Weltauffassung. Nagel hat – auch in seinen älteren Werken – das Verdienst, ohne Rücksicht auf den Zeitgeist das zu sagen, was ihm vernünf38
tig erscheint, sei es gelegen oder ungelegen. Er denkt zu Ende, was andere nicht zu denken wagen, denn es gibt in Bezug auf die Frage nach der Herkunft des Menschen aus der Evolution nur zwei konsistente Antworten : 1) Entweder ist der Mensch mit allen Eigenschaften das ausschließliche Produkt der Evolution, wie sie von der Biologie beschrieben wird, also ein Tier unter Tieren, oder aber der Mensch hat 2) emergente Eigenschaften, die nicht in ein evolutionäres Schema hineinpassen. In diesem Fall wird der Darwinismus für diese Eigenschaften unzureichend sein, wie Nagel zu Recht betont. Position 1) läuft darauf hinaus, dass der Mensch nichts Besonderes in der Natur ist. Schon Darwin hat das so gesehen. In seiner Sichtweise ist der Mensch zwar anders als die übrigen Tiere, aber noch längst nicht besser. Das heißt : Der Mensch kann zwar besser denken, aber nicht so virtuos klettern wie die Affen, und er fliegt auch nicht und sieht nicht so gut wie die Geier oder die Adler und er hackt auch nicht in die Bäume wie der Specht. Alle Lebewesen haben sich danach an ihre jeweilige Umwelt angepasst, und weil die Umwelten so verschieden sind, sind auch die Eigenschaften der Lebewesen grundverschieden und ihrer jeweiligen Umgebung bestens angepasst. So gesehen ist also der Mensch nicht mehr als ein Bakterium. Man könnte diese Auffassung eine ‚horizontale Weltanschauung‘ nennen, wenn wir unter ‚Vertikale‘ eine Wertehierarchie verstehen, die nach oben ausgerichtet ist. Im Handeln sind wir so etwas gewöhnt. Alle Menschen haben bestimmte Werte, die ihnen ganz wichtig sind, und andere, die sie auf der hierarchischen Skala weiter unten lokalisieren, sie denken also vertikal. Aber was wir in Bezug auf Handlungszusammenhänge ohne Weiteres als richtig unterstellen, nämlich eine solche vertikale Hierarchie, das bestreiten wir in Bezug auf die Natur. Dort gibt es keine Vertikale, keine Wertunterschiede, sondern alles liegt auf demselben Niveau, jedenfalls, wenn wir den Darwinisten folgen. Der Mensch ist in dieser Sichtweise nicht mehr, wie einstmals, die Krone der Schöp39
fung, ein Wesen mit einer hervorgehobenen Stellung in der Natur, sondern er rangiert sich gleichbedeutend ein in die Kette der übrigen Lebewesen. Es gibt Einzeller, Quallen, Pumas, Eichhörnchen und Menschen, und ihr Sein ist jeweils dasselbe, nämlich das Sein eines Organismus, der Nahrung braucht und sich fortpflanzt und der sich seiner Umgebung anpasst. Wir könnten dies eine Art von ‚Demokratisierung‘ nennen. Noch im Mittelalter war jeder von der Sonderstellung des Menschen überzeugt und davon, dass die Natur eine vertikale Gliederung aufweist : Zuerst kommen die Steine, dann die Pflanzen, dann die Tiere und ganz zuoberst schließlich der Mensch als die Krone der Schöpfung. Dieser Hierarchie entsprach eine hierarchische Gliederung in der Ständegesellschaft : Bauern, Bürger, Krieger, Adlige, Klerus und ganz oben der Kaiser oder auch der Papst. Man könnte nun vermuten, dass die Einführung der Demokratie seit der Französischen Revolution dazu geführt hat, auch die Natur ‚demokratischer‘ zu verstehen, und dann hieße dies, dass diejenigen, die wieder eine Werteordnung in die Natur einführen wollen, antidemokratisch sind und dass sie sich auf die Art eines unzeitgemäßen Konservativismus in eine autoritäre Staatsform zurücksehnen. Aber so kurzschlüssig ist das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur nicht. Eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung mag bestimmte Naturauffassungen nahelegen, sie sind dennoch nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, wie einstmals die Marxisten glaubten. Natur hat ihre Eigenständigkeit, und sie geht nicht darin auf, ein soziales Konstrukt zu sein. Es wird sich in diesem Kapitel zeigen, dass der Mensch über Eigenschaften verfügt, die sonst nicht in der Natur vorkommen, und dass es sehr künstlich ist, sie in eine rein horizontale Weltauffassung einzuebnen. Glaubt denn irgendein Darwinist im Ernst, dass Bakterien und Menschen auf derselben Stufe stehen ? Der Biologe glaubt so etwas nur, solange er sich im Laboratorium befindet. Tritt er in die Welt hinaus, dann denkt er hier40
archisch, wie jeder andere Mensch auch. Man könnte also sagen : Hier ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt ungeklärt. Natürlich werden wir im Rahmen einer reduktionistisch vorgehenden Laborwissenschaft keine Werturteile zulassen. Wir werden die reduktionistisch vorgehende Biologie nicht als solche kritisieren, sondern nur den materialistisch-weltanschaulichen Rahmen, innerhalb dessen sie so gerne gesehen wird. Wir kritisieren also die Biologie nicht als solche, denn nur um den Preis der methodologischen Reduktion ist sie eine exakte, intersubjektiv kontrollierbare Wissenschaft. Aber als Menschen können wir nicht umhin, die Tatsache zu ignorieren, dass es eine echte Höherentwicklung gegeben hat und dass damit ein Wertezuwachs verbunden war. Niemand hält sich für eine Qualle oder einen Wurm, geschweige denn für ein Bakterium. Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich in seinem Buch „Zur Naturgeschichte der Aggression“ die Sache so zurechtgelegt, dass er ein irrationales Wertempfinden von der Objektivität der Wissenschaft unterscheidet. Er sagt : „Wer da als Naturforscher um jeden Preis ‚objektiv‘ bleiben und sich dem Zwange des ‚nur‘ Subjektiven um jeden Preis entziehen will, der versuche einmal – natürlich nur im Experiment des Denkens und der Vorstellung – hintereinander eine Salatpflanze, eine Fliege, einen Frosch, ein Meerschweinchen, eine Katze, einen Hund und schließlich einen Schimpansen vom Leben zum Tode zu befördern.“ Es ist offenkundig, dass uns diese Tötungen immer schwerer fallen. Es gibt also ein qualitatives Wertempfinden, eingebunden in eine ontologische Hierarchie. Aber was heißt es, wenn wir dieses Wertempfinden ins Irrationale verschieben ? Ist es denn nicht so, dass wir durchaus vernünftig über solche Wertfragen diskutieren können, und gibt es nicht eine kompetente Literatur zur ökologischen Ethik, die sich gerade um solche Fragen des intrinsischen Wertes von Lebewesen kümmert ? Ist das, was Lorenz vorbringt, nicht etwa auch 41
ein Argument, und wäre nicht der Begriff eines ‚irrationalen Arguments‘ ein Widerspruch in sich ? Tatsächlich geht Lorenz davon aus, dass menschliche Vernunft in der wissenschaftlichen Vernunft aufgeht, und dann bleibt ihm eben nur noch das Irrationale für die überlappenden Wertfragen, die in der Biologie als solcher nicht vorkommen. Wir haben also den folgenden Sachverhalt : Die Biologie erklärt die Entwicklung der Lebewesen rein kausal, ohne alle Wertung, d. h. rein horizontal. Als Menschen können wir uns aber so nicht verstehen. Unabhängig davon, welche Moral wir vertreten, unterstellen wir doch immer eine gewisse Hierarchie von Werten, die uns mehr oder weniger wichtig sind. Wir denken also vertikal, und in diese Vertikale beziehen wir auch den Rest der Natur mit ein. Menschen sind die geborenen Metaphysiker. Sie lassen sich nicht einsperren in das Gehäuse der Wissenschaft, so nützlich sie im Übrigen sein möge, und deshalb ist die wissenschaftliche Vernunft nur Teil der Vernunft als Ganzer, und wir haben sehr wohl die Möglichkeit, im Rahmen einer solchen umfassenden Vernunft Wertfragen rational zu klären. Nicht zuletzt hierin zeigt sich, dass Vernunft nicht enggeführt werden darf. Sie transzendiert den innerwissenschaftlichen Bereich. Aber damit zeigt es sich, dass Thomas Nagel recht hatte, wenn er bestimmte Eigenschaften des Menschen aus dem evolutionären Schema herausnahm. Aber dann müssen wir uns mit dem anderen Horn des Dilemmas 2 beschäftigen : Wie macht es die Natur, Phänomene hervorzubringen, die ontologisch mehr sind als das, was die evolutionären Mechanismen nach Darwin hergeben ? Wie ist echte Emergenz möglich ? Was bedeutet das Entstehen von Neuem in der Evolution ? Solche Fragen sind nicht rein akademisch, so als handele es sich um Probleme, die die klugen Professoren in ihren Seminaren abhandeln, weil sie nichts anderes zu tun haben. Wenn wir die Meinung der meisten Biologen übernehmen, wonach die Evolutionstheorie die Eigenschaften aller Lebewesen unter Ein42
schluss des Menschen erklärt, dann ist der Atheismus unausweichlich, denn die Erklärungsgründe der Evolutionstheorie beziehen sich nur auf materielle Prozesse. Hier kommt nichts Metaphysisches ins Spiel. Das erklärt auch, weshalb so viele Biologen Materialisten sind, was für die Physiker nicht gilt. Die Physik erklärt die Natur mit Hilfe von mathematischen Formeln, die eine gewisse Schönheit und Eleganz aufweisen. Das hat viele Physiker dazu veranlasst, diese Formeln als Ausdruck eines göttlichen Intellekts aufzufassen, aber in der lebendigen Natur geht es drunter und drüber und die Darwin’schen Prinzipien sind nicht etwa elegant, sondern sie beschreiben einen tödlichen Krieg aller gegen alle. Wenn dieser Krieg Erklärungsgrund aller Lebensphänomene unter Einschluss des Menschen ist, dann sind atheistische Schlussfolgerungen unvermeidlich. Von daher ist ein gläubiger Mensch in dieser Frage gehalten, Position zu beziehen. Wenn er nicht mindestens zeigen kann, dass die Evolutionstheorie für gewisse herausragende Eigenschaften des Menschen falsch ist, dann hat er verloren. Die Frage nach der Emergenz, nach dem Entstehen des Neuen, ist ein „articulus stantis et cadentis ecclesiae“. Hier entscheidet sich schlichtweg alles ! Der Begriff der ‚Emergenz‘ kommt in zwei Versionen vor, in einer schwachen und in einer starken. Die schwache Version ist so schwach, dass es sich schon fast nicht mehr lohnt. Sie bezieht sich auf holistische Systemeigenschaften, die die Teile eines Systems nicht aufweisen. Man drückt das auch manchmal mit dem Satz aus „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Diejenigen, die diesen Satz im Munde führen, halten ihn für besonders tiefgründig, aber er ist in Wahrheit ziemlich trivial. Es gibt nämlich kaum ein System, das nicht Eigenschaften aufwiese, die seinen Teilen abgehen, so dass es so gesehen überhaupt nur Ganzheiten in der Welt gibt. Die Alten haben das mit dem Satz „omne ens unum“ ausgedrückt : Alles, was existiert, bildet eine Einheit, sonst könnte es gar nicht existieren. 43
So haben z. B. einzelne Wassermoleküle keine Oberflächenspannung, wohl aber sehr viele Moleküle. Oder ein einzelnes Luftmolekül hat keine Temperatur und keinen Druck, wohl aber eine statistische Gesamtheit derartiger Moleküle. Man sieht an solchen Beispielen, dass sich schwache Emergenz und reduktionistische Wissenschaft sehr gut vertragen, denn die Oberflächenspannung von Wasser oder der Druck und die Temperatur von Gasen können wir ganz leicht physikalisch berechnen. Man kontrastiert gerne Ganzheiten mit Aggregaten. Bei Aggregaten soll alles wirklich nur die Summe seiner Teile sein. In diesem Sinn würde man z. B. einen Sandhaufen für ein Aggregat halten. Es hat sich aber – zur Überraschung der Physiker – gezeigt, dass an Sandhaufen Lawinen nach ganz bestimmten Gesetzen abgehen, d. h., selbst hier zeigen sich Systemeigenschaften, die man nicht erwarten würde und die den Teilen abgehen. Also selbst bei einem Sandhaufen ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Wir können deshalb den Begriff der ‚schwachen Emergenz‘ auf sich beruhen lassen und wenden uns der starken Form zu, denn wenn sogar ein Sandhaufen eine Ganzheit im schwachen Sinn ist, dann grenzt schwache Emergenz praktisch nichts mehr aus. Dann ist alles eine ‚Ganzheit‘ in diesem trivialen Sinn, was uns nicht weiter beschäftigen soll. Starke Emergenz liegt hingegen vor, wenn wir die Eigenschaften einer (nun echten) Ganzheit nicht aus den Teilen und den in ihnen herrschenden Gesetzen herleiten können und wenn wir nicht imstande sind, diese Eigenschaften vorherzusagen, auch wenn wir die Vorgeschichte eines Systems komplett begriffen haben. Starke Emergenz liegt also vor, wenn radikal Neues entsteht. Wäre der Darwinistische Standpunkt 1) wahr, dann würde es nichts radikal Neues in der Natur geben. Auch der Mensch wäre dann nichts, was aus den gängigen Modellen des Darwinismus herausfiele. Der Mensch, ein Tier unter anderen. Nun haben wir aber gesehen, dass es sich dennoch so verhält, dass wir Menschen stark emergente Eigenschaften aufweisen. 44
Man wundert sich übrigens, dass es immer noch so viele Wissenschaftsgläubige gibt, die annehmen, der Mensch handle ebenfalls ausschließlich nach den Prinzipien, die der Darwinismus vorgibt. Man braucht doch nur in ein Krankenhaus zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen : In der Natur werden kranke Tiere als Erste gefressen. Die Tatsache, dass die Natur gnadenlos mit den Schwachen umgeht, ist der Motor der natürlichen Evolution. Diesen Motor der Evolution haben wir Menschen außer Kraft gesetzt. Alles, was den Menschen zu einem moralischen Wesen macht, widerspricht den evolutionären Mechanismen. Krankenhäuser, Altenheime, Behindertenheime, Irrenhäuser, all diese Art, menschlich mit den Schwachen umzugehen, kostet sehr viel Energie, die wir anderswo besser gebrauchen könnten, wenn es uns nur darum ginge, die Evolution voranzubringen. Man sollte nicht bestreiten, dass der Mensch immer noch ein Tier ist, und deshalb erhellt die Soziobiologie wichtige Zusammenhänge, wenn sie den Menschen als eine genetisch programmierte Überlebensmaschine darstellt. Aber geht der Mensch darin auf, eine solche Überlebensmaschine zu sein ? Gerade seine höheren Eigenschaften, wie Moralität und Verantwortlichkeit, sind in einem Darwinistischen Schema nicht unterzukriegen. Man muss es ganz hart sagen, und die Reduktionisten sollten sich dies einmal vor Augen führen : Wenn wir uns verhielten wie reine Naturwesen, dann würden wir die Toten nicht etwa begraben, sondern essen, und der Kannibalismus wäre eine sinnvolle Angelegenheit. Das ist es nämlich, was die Natur macht. Die Natur recycelt alles, selbst die Toten, die vom Geier oder von den Würmern gefressen werden. Weil wir aber die Toten begraben, die Kranken heilen und die Schwachen schützen, sind wir keine reinen Naturwesen, und es gibt folglich starke Emergenz, etwa im Sinn von Moralität. Natur bringt also radikal Neues hervor, und der Mensch ist mit seinen unableitbaren Eigenschaften etwas radikal Neues. Es stellt 45
sich allerdings weiter die Frage, ob es nicht auch andere starke Emergenzen in der Natur gibt. Sind wir analogielose Ausnahmeerscheinungen in der Natur ? Das wäre einigermaßen erstaunlich. Daher spricht vieles dafür, dass z. B. auch das Entstehen des Lebens ein Fall von starker Emergenz war. Die Fachleute nehmen an, dass dieses Entstehen des Lebens abhängig war von einer unglaublichen Serie von Zufällen. Hätte einer dieser Zufallsprozesse nicht stattgefunden, dann hätte sich das Leben auf der Erde niemals entwickeln können. Nun ist aber der Zufall die Negation von Gesetzlichkeit. Wir nennen das ‚zufällig‘, was sich nicht unter ein Naturgesetz subsumieren lässt. Da wir aber den Begriff der ‚Erklärung‘ an den des Naturgesetzes gebunden haben, ist der Zufall das Unerklärliche in der Natur, und wenn beim Entstehen des Lebens eine große Menge von Zufällen eine entscheidende Rolle gespielt hat, dann hieße das, dass das Entstehen des Lebens auf ewig unerklärlich bleiben muss. Im Labor versucht man natürlich, dieses Entstehen nachzuvollziehen, und man hat auch schon einige Übergänge simulieren können. Aber selbst wenn es uns gelänge, alle Übergänge technisch nachzuvollziehen, wäre keinesfalls das Entstehen des Lebens erklärt, denn eine Simulation ist noch längst keine Erklärung. Niemand würde die Reproduktion eines van-GoghGemäldes für eine Erklärung dieses Kunstwerks halten. Wenn es uns gelänge, meinetwegen über 50 Etappen, aus anorganischem Material eine Zelle hervorgehen zu lassen (in Wahrheit werden es mindestens 10 000 Etappen sein), selbst wenn wir also künstliches Leben erzeugen könnten, würde das nur möglich sein, weil wir eine große Serie von Umweltbedingungen im Labor nachgeahmt hätten, die wir jedoch nicht erklären, sondern einfach nur voraussetzen. Wir hätten die Zufallsereignisse, die für das Leben notwendig waren, reproduziert, aber nur so, wie wir einen van Gogh reproduzieren, ohne deshalb im Akt der Reproduktion zu verstehen, was der Künstler eigentlich gewollt 46
hat. Es spricht also vieles dafür, dass starke Emergenz kein einmaliges Phänomen ist. Vermutlich schafft die Natur ständig Neues, aber es fällt uns eben nur in besonderen Fällen auf, wie beim Entstehen des Lebens oder beim Entstehen des Menschen. Allerdings ist für viele Eltern die Geburt ihres Kindes ein Wunder, etwas spektakulär Neues, Erstaunliches. Vielleicht ist dieses Gefühl nicht einfach nur ein romantisch-nostalgischer Blick zurück, so wie wir gerne unsere Kindheit verklären, sondern wenn ein Kind geboren wird, erfahren wir spontan die fundamentale Eigenschaft der Natur, Neues hervorzubringen, denn jedes Leben, das entsteht, ist ein Neuanfang. Die Philosophin Hanna Arendt führte den Begriff der ‚Natalität‘ in die philosophische Diskussion ein. Alle Welt spricht von ‚Mortalität‘, weil der Mensch ein sterbliches Wesen ist. Aber weniger wird beachtet, dass jeder Mensch ein unerhörter Neuanfang ist, ein jeweils besonderer Fall von ‚Natalität‘. Aber wenn das so ist, möchten wir gerne wissen, was es mit der starken Emergenz auf sich hat, denn zunächst einmal ist das Wort ‚Emergenz‘ nur ein Etikett auf einer Flasche, deren Inhalt wir nicht kennen. Wir haben ja starke Emergenz negativ bestimmt als dasjenige, was wir nicht erklären können, weder synchron noch diachron, d. h. weder in Bezug auf das gleichzeitige Verhältnis zweier Komplexitätsebenen noch in Bezug auf das prozessuale Entstehen des Neuen. Der vielfache Gebrauch des Begriffes ‚Emergenz‘ ist ein erstaunliches Phänomen. Dieser Begriff klingt wissenschaftlich und erklärt doch eigentlich gar nichts. Es gibt allerdings viele solcher Begriffe. Später werden wir den Begriff der ‚Kausalität‘ näher darstellen. Man spricht auch gerne von ‚Selbstorganisation‘ oder von ‚Information‘ und vielem anderen, was gut und wissenschaftlich klingt. Blickt man jedoch näher hin, dann zeigt es sich, dass solche Begriffe ganz verschieden gebraucht werden, so dass sie keinen gemeinsamen Inhalt haben. Es sind wissenschaftliche Etiketten, aber was in der Flasche drin ist, wissen wir 47
nicht. So ist auch der Begriff der ‚Emergenz‘ ein Platzhalter für das, was wir nicht verstanden haben. Nehmen wir an, das Gesagte wäre richtig und die Natur wäre ein System, das imstande ist, radikal Neues im Sinne starker Emergenz hervorzubringen, dann wüssten wir gerne, wie sie das wohl macht. Hier scheint es wiederum nur zwei Möglichkeiten zu geben : Entweder die Natur hat 1) einfach nur die prinzipielle, nicht weiter erklärbare Fähigkeit, Neues zu produzieren, oder wir müssen 2) nach einer metaphysischen Erklärung suchen, die dann aber theistisch ausfallen wird. Wenn Gott existiert, dann wird verständlich, weshalb seine Schöpferkraft imstande ist, Neues hervorzubringen. Sich für 1) zu entscheiden, muss nicht irrational sein. Wir müssen sehr vieles einfach akzeptieren, ohne es erklären zu können. Z. B. nehmen wir die Existenz der Naturgesetze gewöhnlich an, ohne sie für erklärenswürdig zu halten. Die Naturgesetze gelten einfach. Oder wir akzeptieren ohne weitere Nachfrage, dass diese Gesetze sich in eleganten, schönen mathematischen Formeln ausdrücken lassen, die verhältnismäßig einfach sind. Solche Eigenschaften der Natur sind uns weiter nicht erklärungsbedürftig. Aber wenn das so ist, warum sollten wir dann nicht eine weitere Eigenschaft hinzufügen, die Eigenschaft der Natur nämlich, radikal Neues hervorzubringen ? Eine solche materialistische Position lässt sich vertreten, aber es gibt zu ihr eine gewichtige Alternative. Wenn wir 2) annehmen, dass Gott existiert, dann wird plötzlich alles erklärbar, was der Materialist fraglos und ohne weiter nachzudenken hinnimmt. Wenn nämlich Gott existiert, dann wird verständlich, weshalb die Natur geordnet ist. Dann wird verständlich, dass wir sie mit der Hilfe weniger und einfacher Gleichungen beschreiben können, und dann wird vor allem verständlich, warum die Natur radikal Neues hervorbringt. Der Theist kann alles erklären, was der Atheist nur einfach als factum brutum hinnehmen muss. Manche machen aus diesem stra48
tegischen Vorteil des Glaubens einen Gottesbeweis, aber es ist nicht ganz klar, ob die Phänomene das wirklich hergeben. Daher wird man sich schwerlich einigen können, ob 1) oder 2) vorzuziehen sei. Vermutlich steht es hier 1 :1, wie so oft. Aber dann enthält dieses weltanschauliche Patt dennoch eine wichtige Lehre. Die Materialisten stellen es gerne so dar, als habe der Theist die Beweislast, während der Atheist nur das behauptet, was sowieso jeder glaubt. Die Argumentation lautet dann in etwa : Jeder Mensch mit gesunden Sinnen ist umgeben von materiellen, zeiträumlich bestimmten Gegenständen, von denen auch jeder Mensch unterstellt, dass sie real sind. Hingegen nimmt der Theist so merkwürdige Wesen an wie Gott, die Götter, Engel, Teufel und alles Mögliche, was wir nicht sehen können. Also hat der die Beweislast, der derart exotische Existenzannahmen macht, während der Materialist nur das sagt, was jeder sagt und für wahr hält und was sich von selbst versteht. Der gläubige Mensch ist der Exot, der Atheist ist völlig normal. Würde es sich so verhalten, dann wäre die Beweislast in der Tat zu Ungunsten des Theisten verteilt, aber diese Argumentation ist tendenziös, und sie unterschlägt einen wichtigen Sachverhalt : Der Materialist stützt sich ja für seine Zwecke auf die Naturwissenschaft. Naturwissenschaft katalogisiert aber nicht einfach nur die zeiträumlichen Gegenstände. Sie entwickelt Theorien und deutet Natur in deren Licht. Dabei treten metaphysikverdächtige Eigenschaften des Kosmos zutage wie die Ordnung der Natur. Man sollte sich darüber wundern, dass die physikalischen Gesetze mit einer solchen unglaublichen Präzision im gesamten Weltall gültig sind oder dass es sie überhaupt gibt oder dass die Evolution ständig qualitativ Neues hervorbringt. Bin ich ein Materialist, kann ich keine von diesen Eigenschaften erklären, und das sind ja nicht die einzigen. Auch die berühmte Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht viel49
mehr nichts ?“ wird der Materialist achselzuckend so beantworten, dass der Kosmos eben rein faktisch schon immer existiert habe. Er könnte auch nicht existieren, aber es gibt ihn halt, weil es ihn gibt. Wir müssen also, wenn wir Materialisten sein wollen, ganz schön viel glauben, ohne es erklären zu können. Umgekehrt ist es eine Zumutung, die Existenz eines guten Gottes anzunehmen angesichts des Elends in der Welt. Die Existenz Gottes ist nichts, was sich von selbst versteht, so dass auch der Theist seine Weltanschauung nicht einfach nur zum Nulltarif erhält. Was wir aber festhalten sollten, ist dieses : Die Beweislast für oder gegen den Theismus ist zumindest gleich verteilt. Auf jeden Fall ist es unter keinen Umständen klar, dass man den Materialismus aus rationalen Gründen vorziehen sollte. Das kann vielleicht noch abschließend am Beispiel Thomas Nagels verdeutlicht werden, der nun schon öfters erwähnt wurde. Nagel lehnt starke Emergenz ab. Er ist ein Atheist und sieht wohl, dass es eine Zumutung wäre, der Natur so einfach mir nichts, dir nichts, die unerklärliche Fähigkeit zuzusprechen, radikal Neues hervorzubringen. Nagel hält das für irrational. Er muss also annehmen, dass der Kosmos von vornherein auf den Menschen hin ausgerichtet war. Aus diesem Grund ergänzt er, wie gesagt, die physikalischen Gesetze mit seinen teleologischen Gesetzen. Das hieße, dass der Mensch in der Evolution entstehen musste. Kraft der so erweiterten Naturgesetze war der Kosmos von vornherein auf den Menschen hin ausgerichtet. Der Mensch war also gewollt. Man sollte sich aber fragen, ob das noch eine materialistische Position sein kann. Diese teleologischen Gesetze der Natur verweisen in Wahrheit auf einen überweltlichen Ordner, der von vornherein die Absicht hatte, den Menschen mit all seinen Fähigkeiten entstehen zu lassen. Wenn es schon eine Zumutung ist, die schönen, symmetrischen, aber sinnfreien Gesetze der Physik für etwas rein Faktisches, letztlich Zufälliges zu halten, dann 50
ist es nicht nur eine Zumutung, sondern eine regelrechte Absurdität, zu glauben, dass Naturgesetze, die den Menschen zum Ziel haben, einfach nur faktisch gelten, ohne von jemandem gesetzt worden zu sein. Teleologie führt rasch zur Theologie. Wir sehen hier, was wir noch öfters sehen werden : Es ist gar nicht so leicht, Atheist zu sein. Man muss eben sehr viel glauben, um an nichts mehr zu glauben.
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3. Die Leib-Seele-Debatte
a. Die falsche Alternative Die Leib-Seele- oder Gehirn-Geist-Debatte ist eine besondere Herausforderung, denn der menschliche Geist verfügt über Qualitäten, die nicht leicht in ein materialistisches Schema einzuordnen sind. Ganz im Gegenteil : Es war immer der menschliche Geist, der zu der Überzeugung führte, es müsse im ganzen Universum etwas Geistiges geben, wenn der Mensch Teil der Natur sein sollte. Der Materialist hingegen wird den menschlichen Geist als ein Sekundärphänomen der feuernden Neuronen im Gehirn ansehen, sozusagen als einen wesenlosen Dampf über den Gewässern des Realen. Früher hat man einmal geglaubt, der Dampf sei essentiell verschieden vom Wasser, aber schließlich hat uns die Physik darüber aufgeklärt, dass es sich nur um verschiedene Aggregatzustände ein und desselben Stoffes handelt. Dampf ist von Wasser nicht wirklich verschieden, denn beide sind nichts als H2O. In diesem Sinn ist für den Materialisten der menschliche Geist eine materielle Eigenschaft des Gehirns, so wie das Gehirn auch chemische und elektrische Eigenschaften hat. Zum Leib-Seele- bzw. zum Geist-Gehirn-Problem gibt es seit Jahrzehnten eine immense Menge an Literatur. Es fällt aber auf, dass viele der zahlreichen Bücher zu diesem Thema mit derselben stereotypen Frage beginnen. Sie lautet : „Wie kommt der Geist in die Welt ?“ Diese Frage wird von vornherein für sinnvoll gehalten, aber sie beruht auf einer Voraussetzung, die erst zu klären wäre und die nicht einfach vorentschieden werden darf, denn wenn ich frage : „Wie kommt der Geist in die Welt ?“, 53
setze ich voraus, dass die Welt von Natur aus geistlos ist. Im gegenteiligen Fall wäre der Geist immer schon in der Welt, und die Frage würde erst gar nicht gestellt werden können. Im 18. und 19. Jahrhundert hat man eine ganz ähnliche Frage gestellt : „Wie kommt Elektrizität in die Welt ?“ Man kannte nämlich damals zunächst nur die Newton’sche Physik, und diese bezog sich nicht auf die elektrischen Kräfte. Zudem schien Elektrizität ein Ausnahmephänomen – wie der Blitz, das seltsame Verhalten des Bernsteins unter Reibung, die elektrischen Entladungen des Zitterrochens oder das Zucken von Froschschenkeln bei Luigi Galvani. Es hat sich aber später herausgestellt, dass grundsätzlich alle Materie elektrisch ist, wir bemerken es nur in der Regel nicht, weil positive und negative Ladungen gleich verteilt sind, so dass sie sich wechselseitig aufheben. In Wahrheit gibt es Elektrizität überall, und die Frage „Wie kommt Elektrizität in die Welt ?“ ist von vornherein falsch gestellt. Dasselbe gilt auch für die Frage „Wie kommt der Geist in die Welt ?“, denn die Voraussetzung dieser Frage ist die Überzeugung, dass die Welt hauptsächlich und ausschließlich aus Atomen oder irgendwelchen anderen materiellen Partikeln besteht. Aber wie sich eine so verstandene Welt zum Geist sublimiert, ist dann so schwer nachzuvollziehen wie die Behauptung Freuds, Kunst und Wissenschaft seien Sublimationen von Sexualität. Wie es die Sexualität macht, sich in eine Mozartsinfonie zu verwandeln oder in die Relativitätstheorie Einsteins, ist freilich nicht leicht zu sehen. Ebenso versteht man nicht so leicht, wie das Gehirn sich zum Geist vaporisieren kann. Aber die Frage „Wie kommt der Geist in die Welt ?“ ist wiederum einer dieser Fälle, in denen der szientifische Materialismus das Ergebnis der Untersuchung schon in die Voraussetzungen hineinverschiebt. Wir werden dieser Strategie im vorliegenden und auch in den darauf folgenden Kapiteln immer wieder begegnen. Man kann Fragen so stellen, dass bestimmte Antworten von vornherein ausgeschlossen sind, nämlich die, die man nicht ha54
ben will. Bernulf Kanitscheider, einer der neuen Atheisten, stellt gerne die folgende Frage an den gläubigen Menschen : Wo macht sich euer Gott denn bemerkbar, wenn es ihn doch nach eurer Auffassung wirklich gibt ? Wenn es diesen Gott gäbe, dann, so Kanitscheider, würden für ihn dieselben Existenzkriterien gelten wie für den Yeti im Himalaya. Hinterlässt der Yeti keine Spuren im Schnee, dann gibt es ihn halt nicht. Nun ist aber Kanitscheiders Frage so gestellt, dass er die Spuren Gottes gar nicht anerkennen würde, selbst wenn es sie gäbe, denn man kann ja doch wohl nicht unterstellen, dass Gott physische Spuren hinterlassen müsste, wenn er in der Welt anwesend sein sollte. Es könnte sein, dass die Spuren Gottes von ganz anderer Art sind als die des Yeti, so z. B. wenn Menschen ihren Peinigern verzeihen. In der Leib-Seele-Debatte wird die hier vertretene Position, dass nämlich Geist und Materie immer verschränkt vorkommen, gewöhnlich nicht zur Kenntnis genommen. Als Alternative zum Materialismus wird normalerweise nur der Substanzendualismus zugelassen, der so eklatante Mängel hat, dass der Eindruck entsteht, ein kluger Mensch könne gar nichts anderes, als den Materialismus zu akzeptieren. Die Situation ist ähnlich wie in der Politik. In der Adenauerära ließen die Konservativen nur ihre eigene Position und die der Kommunisten gelten. Da niemand gerne Kommunist sein wollte, legte man sich damit auf Adenauers Partei fest. Dass die SPD eine vermittelnde Position einnahm, wurde bestritten, denn dann hätte diese falsche Alternative ihre Plausibilität verloren, also hielt man die SPDAnhänger lieber gleich für Kommunisten. Was in der Politik üblich, ja übel ist, funktioniert auch im Kampf der Weltanschauungen. Der szientifische Materialist wird den Substanzendualismus als abschreckende Alternative wie einen Teufel an die Wand malen, um sich selbst desto nachdrücklicher zu empfehlen. In der Tat ist der Substanzendualismus wenig attraktiv. Der Substanzendualismus wurde dement55
sprechend auch nur von einer Minderheit von Philosophen gehalten. In der Antike von Plato und in der Neuzeit von Descartes und heute von fast niemand mehr. Der Substanzendualismus lehrt, dass der Mensch keine einheitliche, psychosomatische Ganzheit ist, sondern dass er in zwei völlig heterogene Teile zerfällt : Unser Leib ist demnach eine rein materialistisch agierende Maschinerie, und ganz unabhängig von ihr existiert ein sublimer Geist in dieser Maschine, der auch ganz ohne sie auskommen könnte. Diese Position hat eine gewisse Attraktivität, weil sie das Problem des Todes entschärft. Für den Substanzendualisten ist der Tod wie ein Totalschaden mit einem Auto für den Fall, dass man Sicherheitsgurte und Airbags hat. Mit diesen Einrichtungen kann ich auch einen schlimmen Unfall überstehen, selbst wenn das Auto Totalschaden hat. Der Tod ist in dieser Sichtweise wie ein solcher Totalschaden, bei dem wir unbeeindruckt aus unserem Leib aussteigen, um erleichtert in die Geisteswelten emporzuschweben. Der Tod in dieser Sichtweise würde uns nicht weiter berühren, und das erklärt die Attraktivität des Substanzendualismus. Dieses Konzept mag tröstlich sein, es zieht aber einen gravierenden Einwand auf sich : Wie soll man es sich vorstellen, dass die transzendente Seele auf den Leib einwirkt oder umgekehrt, wo doch beide so radikal verschieden sind ? Die Seele ist unzeitlich, unräumlich, immateriell, aber der Leib ist an Raum und Zeit gebunden und besteht aus nichts als Materie. Da wir ständig den Austausch zwischen Leib und Seele erfahren, und zwar in beiden Richtungen, ist diese Position extrem kontraintuitiv. Es scheint also nur der Materialismus als eine sinnvolle Alternative zurückzubleiben, wenn doch der Substanzendualismus offenkundig falsch ist. Nicht berücksichtigt wird dabei jene dritte vermittelnde Position, die von Aristoteles bis Leibniz, Hegel oder Whitehead die meisten Philosophen bevorzugten, dass nämlich Geist und Materie immer nur verschränkt vorkommen, so dass ihre Wechsel56
wirkung zur Definition von Realität selbst gehört. So wie Elektrizität nur unter gewissen Bedingungen in Erscheinung tritt, aber ansonsten überall vorhanden ist, so tritt der Geist nur bei einem komplexen Substrat, wie dem menschlichen Gehirn, in Erscheinung, während er in Wahrheit überall präsent ist. Es gibt also nichts rein Materielles auf der Welt. Das ganze Universum hat, wenn man so sagen darf, seinen psychosomatischen Zusammenhang. Aber diese vermittelnde Position wird in der LeibSeele-Debatte gewöhnlich ignoriert. So als wären alle SPD-Anhänger Kommunisten.
b. Peter Bieris drei Prinzipien Die Leib-Seele-Debatte läuft also ziemlich stereotyp ab. Sie beginnt mit der rhetorischen Frage „Wie kommt der Geist in die Welt ?“ und schreitet dann mit großer Präzision zu einem Dreierschema fort, das der Philosoph Peter Bieri entwickelt hat, um die Leib-Seele-Debatte zu strukturieren. Es gibt kaum ein Buch, das sich auf diese Debatte bezieht, ohne mit diesem Dreierschema zu beginnen. Aber auch hier wird sich zeigen, dass das Resultat bereits vorweggenommen wurde in der Art, wie das Dreierschema angelegt ist. Es eröffnet nur Scheinalternativen und nimmt in Wahrheit das Resultat bereits vorweg. Bieris drei Prinzipien sind von der Art, dass nur zwei davon wahr sein können. Sie lauten : 1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene 2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam 3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen Prämisse 1) besteht auf dem kategorialen Unterschied zwischen Geist und Materie. Sie sind danach von prinzipiell anderer Art, also wesensverschieden. 57
Prämisse 2) beschreibt unsere gewöhnliche Lebenserfahrung, dass wir nämlich in der materiellen Welt etwas ausrichten können, was ohne uns nicht geschehen wäre. Prämisse 3) wird im folgenden Kapitel näher behandelt. Sie beschreibt die Auffassung, dass im Universum immer ein materieller Zustand den nächsten zwingend hervorbringt, dass also alles Geschehen nichts ist als ein Glied in einer unendlichen Kette von Ursachen und Wirkungen. Auf den ersten Blick scheint es so, als müsste ich immer eine der drei Bedingungen opfern, wenn ich die zwei anderen für wahr halte : 1) + 2) : Wenn das Geistige und das Materielle von völlig anderer Art sind und wenn das Geistige im Materiellen wirksam sein soll, dann kann der materielle Bereich nicht kausal geschlossen sein. 2) + 3) : Ist der Geist in der Welt kausal wirksam und ist die Welt kausal geschlossen, dann muss der Geist Teil der materiellen Welt sein, er ist also nicht wesensverschieden von der Materie, also selbst etwas Materielles. 1) + 3) : Ist der Geist wesensverschieden von der Materie und ist die Welt kausal geschlossen, dann kann der Geist in dieser Welt nicht kausal wirksam sein. Dieses Dreierschema hat eine klebrige Art von Plausibilität wie die Samen der großen Klette im Wald, die an der Kleidung haften und nie mehr abgehen wollen und nach denen man den ebenso haltbaren Klettverschluss benannt hat. Tatsächlich hat dieses Dreierschema sogar einige Anti-Naturalisten überzeugt, so dass selbst sie ihre Bücher damit beginnen. Dieses Schema produziert eine Art von psychischem Resonanzeffekt, aber nur, wenn man schon vorgängig von der Wahrheit des Materialismus überzeugt ist, denn unter welcher Voraussetzung könnte uns dieses Schema überhaupt nur plausibel erscheinen ? David Hume hat einmal Kausalität den „Zement des Universums“ genannt. D. h., die Dinge halten entweder durch Ursache 58
und Wirkung zusammen oder gar nicht. Dies ist eine materialistische These, und sie wird heute allgemein akzeptiert. Wenn man damit einverstanden ist, dann gibt es keine verschiedenen Arten von Kausalität. Es handelt sich immer um denselben Zement, der die Dinge zusammenhält. Insbesondere wären dann Handlungskausalität nach Prinzip 2 und Naturkausalität nach Prinzip 3 dasselbe. Man kann aber zeigen, dass wir nicht nur in verschiedenen Zusammenhängen ganz verschiedene Begriffe von Ursache und Wirkung benötigen ; wir werden insbesondere im nächsten Kapitel sehen, dass z. B. die Physik ganz ohne den Kausalitätsbegriff auskommt. Es kann keine Rede davon sein, dass es einen einheitlichen Zement namens ‚Kausalität‘ gibt, der das ganze Universum zusammenhalten würde. Von daher brauchen sich Prämisse 2) und 3) nicht zu widersprechen, sodass sich kein Ausschließlichkeitsverhältnis mehr ergibt. Vor allem aber wird Prämisse 3) hinfällig, weil von einer ‚kausalen Geschlossenheit der Welt‘ nun nicht mehr die Rede sein kann. Nichts hindert also, dass wir alle drei Prämissen zugleich halten, wenn wir Prämise 3 richtig verstehen. Auch hier haben wir wieder einen dieser Fälle, wo durch die Problemexposition das Resultat schon vorweggenommen wird, denn diejenigen, die das Bieri-Schema für exklusiv halten, zwingen sich zum folgenden Schluss, der dann nicht mehr überraschend ist : Sie haben sich dazu genötigt, von diesen drei Prinzipien eines zu opfern. Prinzip 3 werden sie unter keinen Umständen opfern wollen, denn sie glauben ja, es sei zwingend mit der Naturwissenschaft verbunden ; und wer will schon etwas gegen die Naturwissenschaft sagen, insbesondere wenn er sich dann im selben Boot mit den religiösen Fundamentalisten befindet ? Prinzip 3 ist also auf jeden Fall festzuhalten. Prinzip 3) können wir dann entweder mit 1) oder mit 2) kombinieren. 2) zu opfern scheint nicht ratsam, denn wir erleben uns ständig als die Ursache unserer Handlungen. Unsere soziale Existenz würde augenblicklich zusammenbrechen, wenn wir 59
diese Überzeugung aufgeben müssten. Also sind wir gezwungen, 1) zu opfern, d. h., wir werden bestreiten, dass das Mentale vom Physischen wesentlich verschieden ist. Damit haben wir den Materialismus festgeschrieben : Der Geist ist ein Sekundärphänomen der Materie. Es zeigt sich aber, dass diese Schlussfolgerung nur das explizit macht, was in die Prämissen bereits hineingesteckt wurde. Bestreitet man die wenig überzeugende These von der Kausalität als einem „Zement des Universums“, dann bricht der Gedankengang zusammen und das BieriSchema verliert seine Überzeugungskraft. Wir sehen also, dass der szientifische Materialismus ein Credo von der Art des christlichen ist, wonach Gott alles zum Guten wendet. Begegnet einem Christen etwas Gutes, dann führt er es auf Gott zurück. Begegnet ihm etwas Schlechtes, dann will ihn der gute Gott prüfen, um ihn nur desto mehr zu beglücken, wie Hiob, den Dulder. Auf diese Art steckt der szientifische Materialist seine Überzeugung in die Prämissen seiner Überlegung hinein, leitet sie daraus wieder ab und hält sie auf diese Art für gerechtfertigt. Der Unterschied ist allerdings dieser : Ein Christ wird die Rede vom ‚guten Gott‘ nicht für beweisbar halten, sondern er beruht auf einem Akt des Vertrauens, während die materialistischen Leib-Seele-Theoretiker glauben, sie hätten Logik und Wissenschaft auf ihrer Seite.
c. Die Frage nach den Erlebnisqualitäten Es gibt nur eine einzige Gegeninstanz gegen ihre Position, die sie anerkennen, und das ist die Frage nach den Erlebnisqualitäten. Diese sind für sie in der Tat ein großes Problem. Unter ‚Erlebnisqualitäten‘ versteht man subjektive Erfahrungen, zu denen nur der Einzelne direkten Zugang hat, der sie macht, also z. B. das Erleben von Glück, Trauer oder Schmerz. Diese Erfahrungen sind, grammatikalisch gesehen, nur in der ersten Person zu 60
beschreiben, d. h. in der Betroffenenperspektive, während wir sonstige Welterfahrungen in der dritten Person, d. h. in der Beobachterperspektive, beschreiben können, die sich von ihren Objekten distanziert, während wir zu solchen Erlebnisqualitäten keinen Abstand haben. Alles, was ich in Raum und Zeit beobachte und was ich in Sätzen mit Hilfe von Subjekt und Prädikat ausdrücke, kann wahr oder falsch sein. Es wird aus der Beobachterperspektive der dritten Person heraus formuliert, die objektiviert und distanziert. In dieser Perspektive kann ich mich prinzipiell jederzeit irren. Die genannten qualitativen Erfahrungen in der ersten Personperspektive, also in der Betroffenenperspektive, sind hingegen unkorrigierbar – sie können niemals falsch werden. Sage ich „Dort drüben steht eine Eiche“, dann macht mich ein anderer darauf aufmerksam, dass es sich um eine Buche handelt. Sage ich hingegen „Ich habe Zahnweh“, dann kann niemand kommen und sagen „Du irrst dich, in Wahrheit geht es dir gut und du hast keine Schmerzen.“ Ob ich Zahnweh habe oder nicht, ist allein meine Angelegenheit. Bei der Frage, ob etwas eine Buche oder eine Eiche ist, haben die anderen ein Wort mitzureden, und so ist es mit allem, was aus der Beobachterperspektive heraus formuliert wird. Nun entsteht für den szientifischen Materialisten folgendes Dilemma : Wenn er die Naturwissenschaft für den einzig verlässlichen Weltzugang hält, dann hat er sich für die Beobachterperspektive und für ein objektivierbares Wissen entschieden. Dementsprechend hält er dafür, dass alle Behauptungssätze der Naturwissenschaft auch falsch sein können. Die Betroffenenperspektive produziert aber ein Wissen, das nicht objektivierbar ist und das auch nicht falsch werden kann. Man sieht nicht, wie ein solches Wissen in objektives Wissen verwandelt werden könnte, und diejenigen, die es versucht haben, drehen sich ständig im Kreis, weil sie das voraussetzen müssen, was sie erst erklären wollen. 61
Aus diesem Grunde fordern manche eine Revision des Materialismus. Da sie mit guten Gründen nicht glauben können, dass die Erlebnisqualitäten mit dem Entstehen des Menschen aus dem Nichts aufgetaucht sind, unterstellen sie, dass es solche Qualitäten überall im Universum geben muss, wenn sie auch nicht überall in Erscheinung treten, also ein ähnlicher Fall wie die Elektrizität. Man nennt diese Position ‚Protopanpsychismus‘. Sie ist eigentlich nicht mehr mit dem Materialismus verträglich und wird hier nur erwähnt, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch die materialistische Weltanschauung Auflösungserscheinungen zeigt, die sich in Zukunft noch verstärken werden. Es ist ja nicht so, dass der Materialismus lediglich dieses Problem der Erlebnisqualitäten hat. Moralität, Normativität, Intentionalität, Reflexivität, Geschichtlichkeit, Sozialbezug – es gibt so viele Eigenschaften des Menschen, die sich in dieser Art nicht in der außermenschlichen Natur vorfinden und bei denen man nicht leicht sieht, wie sie in ein reduktionistisches Schema hineinpassen sollten. In diesem Sinn haben wir im letzten Kapitel gezeigt, dass die moralische Kompetenz des Menschen von der Art ist, dass sie nicht in ein evolutionäres Schema hineinpasst. Der Philosoph Dieter Henrich macht seit vielen Jahren darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit des Menschen, seiner selbst bewusst zu sein, unhintergehbar ist. Niemand, der sich nicht schon einmal vor dem Spiegel gefragt hat : „Bin ich das wirklich ?“ Der Blick in den Spiegel hat etwas Irritierendes. Wir sind ansonsten gewöhnt, Objekte zu betrachten, die wir gerade nicht sind. Wir bewegen uns eigentlich immer in einer Subjekt-Objekt-Differenz. Aber wenn wir uns im Spiegel betrachten oder wenn wir über uns selber nachdenken, dann stellt sich das Subjekt ein Objekt gegenüber, mit dem es zugleich identisch ist, d. h., diese Unterscheidung bricht zusammen, aber nicht so, dass wir in der Nacht irrationaler Intuition versinken. Im Gegenteil : Das Selbstbewusstsein ist die Quelle aller Moralität als der höchsten geistigen Fähigkeit des Menschen, die wir ständig voraussetzen. Aber 62
solche Überlegungen, die Henrich von Philosophen wie Fichte, Schelling oder Hegel abgeleitet hat, haben heute keine Konjunktur mehr, und das gilt auch für die anderen genannten Qualitäten des Menschen, die genauso stiefmütterlich behandelt werden. Martin Heidegger hat die Geschichtlichkeit des Menschen als eine fundamentale Eigenschaft herausgearbeitet. Es ist auch nicht einzusehen, wie prinzipiell a-historische Wissenschaften – also Physik, Chemie und Biologie – der geschichtlichen Natur des Menschen gerecht werden sollten. Man sieht ganz allgemein nicht so recht, wie der Materialismus überleben könnte, wenn er einmal anfängt, sich diesen zahlreichen Problemen zu stellen. Deshalb fängt er auch gewöhnlich gar nicht an damit und lässt sich höchstens auf die Frage der Erlebnisqualitäten ein. Aber diese Erlebnisqualitäten sind gar nicht spezifisch für uns. Sie kommen auch bei Affen oder Schweinen vor. Es wäre an der Zeit, sich dem zu stellen, was den Menschen spezifisch ausmacht und was ihn von allen Tieren unterscheidet.
d. Das Gehirn als Beziehungsorgan Vielleicht müsste noch ein weiterer Punkt näher beleuchtet werden : Wie steht es mit dem Gehirn-Geist-Verhältnis ? Ist der Geist nur eine Eigenschaft des Gehirns wie seine elektrischen und chemischen Eigenschaften, oder ist er etwas Besonderes ? Es reicht ja nicht, alle Prinzipien Bieris für logisch verträglich zu halten, um zu beweisen, dass der Geist nicht vom Gehirn festgelegt wird, d. h. dass der Geist nicht auf dem Gehirn superveniert, was einfach nur ein Ausdruck dafür ist, dass die feuernden Neuronen im Gehirn unsere Gedanken und Handlungen zwingend festlegen, so dass der Geist keine eigenen Freiheitsgrade gegenüber der Materie hat. Zunächst sieht es so aus, als würde der Geist in der Tat auf dem Gehirn supervenieren, d. h. von ihm festgelegt werden. Ent63
decken nicht die Neurowissenschaftler ständig neue Entsprechungen zwischen Geist und Gehirn ? Sie zoomen immer tiefer in die neuronalen Strukturen dieses Organs hinab und verfeinern ihre Analysen ständig, aber es ist leicht zu sehen, dass sie dabei sowohl auf faktische als auch auf prinzipielle Grenzen stoßen werden. „Individuum est ineffabile“, hieß es früher einmal. Das heißt : Das Individuelle ist kein Gegenstand einer aufs Allgemeine gehenden Wissenschaft. Nur die Geschichtswissenschaften können das Individuelle erfassen, aber sie beschreiben es nur, sie erklären es nicht. Nun spricht alles dafür, dass unsere Gehirne in ihrer Feinstruktur individuell gestaltet sind. Schon im Mutterleib macht jeder von uns ganz spezielle Erfahrungen, die je nach Umwelt verschieden ausfallen, und sobald wir den Mutterleib verlassen, verstärkt sich dieses Individuelle. Das Gehirn baut sich auch später im Leben ständig um. Während sich die Verarbeitung der Sinnesreize und die motorische Steuerung unserer Gliedmaßen in der Evolution fix herausgebildet haben, so dass wir entsprechende Module im Gehirn eines jeden Menschen finden, gilt dies weder für die höheren kulturellen Fähigkeiten noch vor allem von unserer individuellen Art, sie zu verwirklichen. Es gibt z. B. im Gehirn kein Modul für klassische Harmonik oder Kfz-Mechanik. Wir müssen davon ausgehen, dass solche Inhalte bei jedem Menschen individuell codiert sind, und zwar nicht nur so, dass sie sich von Individuum zu Individuum unterscheiden, sondern sogar so, dass sie bei ein und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten verschieden abgespeichert werden. Wenn ich heute an die klassische Harmonielehre denke und beschäftige mich morgen mit Jazzharmonik, dann verändert sich mein Begriff von klassischer Harmonielehre und wird nicht mehr demselben Zustand des Gehirns entsprechen. Da die Neurowissenschaft auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten aus ist, wird sie dieses Individuelle niemals erfassen können. 64
Man wird vielleicht einwenden, dass dies nicht ausschließt, dass der Geist dennoch auf dem Gehirn superveniert, d. h., dass er dennoch vom Gehirn hinreichend festgelegt wird. Er superveniert eben dann auf den individuellen Eigenschaften des Gehirns und nicht auf gattungsmäßig fixierbaren Arealen. Diesen Einwand hört man öfters, aber das zeigt, dass der Glaube an die Supervenienz eben doch nur ein Glaube ist, denn eine solche individuelle Supervenienz wäre niemals nachzuweisen, wenn Naturwissenschaft auf das Allgemeine hin festgelegt ist. Zu sagen : Der Geist superveniert und wird hinreichend bestimmt von den individuellen Eigenschaften des Gehirns, heißt etwas sagen, was wir niemals überprüfen können. Es kommt noch etwas anderes hinzu : Wenn es sich so verhält, dass die höheren Kulturleistungen individuell und zeitabhängig in unseren Gehirnen codiert werden, woher weiß ich dann, dass etwas dasselbe ist, sowohl für mich als auch für die anderen Individuen ? Es spricht alles dafür, dass der Satz des Pythagoras – a2 + b2 = c2 – in jedem Gehirn zu jeder Zeit anders abgespeichert oder repräsentiert wird. Das heißt : Die Repräsentation dieses Gedankens ist bei jedem Individuum und auch zu jeder Zeit verschieden. Woher weiß ich dann, dass ich gestern denselben Gedanken gedacht habe wie heute oder dass ein anderer denselben Gedanken denkt wie ich ? Es scheint nicht glaubhaft, dass das Allgemeine auf dem Individuellen superveniert. Zwischen beiden gibt es einen Bruch der Idealisierung, der wiederum eine spezifische Leistung des menschlichen Geistes bezeichnet. Der menschliche Geist ist imstande, ideale Gegenstände, wie die mathematischen, zu erfassen und in ihrer Identität festzuhalten, auch wenn unser Gehirn sich jedes Mal in einem anderen Zustand befindet. Der Neurowissenschaftler Thomas Fuchs hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass unser Gehirn ein „Beziehungsorgan“ ist, wie er es nennt. Es spricht alles dafür, dass das Gehirn ohne Leib nicht denken würde. Unser Gehirn steht in Wechselwir65
kung mit unserem Leib und dieser steht wiederum in Wechselwirkung mit einer naturalen und sozialen Umwelt. Es spricht alles dafür, dass der Geist ohne solche äußere Wechselwirkungen nicht funktionieren würde. Fuchs vergleicht das Gehirn mit einem Zentralbahnhof, in dem die Schienenstränge eines ganzen Landes zusammenlaufen. Zwar ist dieser Knotenpunkt durch seine zentrale Stellung herausgehoben, aber er erklärt nicht die Verkehrsströme außerhalb. Ist dies richtig, dann superveniert der Geist nicht auf dem Gehirn, weil das Gehirn zu seinem Funktionieren eine soziale und eine naturale Umwelt benötigt und weil es mit einem Körper vernetzt sein muss. Ein besonders neuralgischer Punkt ist, was man im Jargon ‚mentale Verursachung‘ nennt (Bieris Prinzip Nr. 2), also die Kausalwirkung des Geistes auf die Materie, was mit der Freiheitsproblematik zusammenhängt : Ich bin mir ständig bewusst, dass ich die Möglichkeit habe, in die Materie einzugreifen oder es auch sein zu lassen. Ich fühle mich frei. Der Neurowissenschaftler Benjamin Libet hatte als Erster die Idee, diese fundamentale Eigenschaft des Menschen experimentell zu prüfen. Zu diesem Zweck ließ er seine Probanden auf einem Stuhl Platz nehmen und maß den Moment, als in ihnen der Willensimpuls aufstieg, den rechten oder den linken Arm zu heben. Zugleich überprüfte er mit einem Gehirnscanner, zu welchem Zeitpunkt das Gehirn den rechten oder linken Arm ansteuert. Es zeigte sich, dass die entsprechenden Neuronen im Gehirn feuern, bevor die Menschen den Eindruck hatten, sich zu einer bestimmten Körperbewegung zu entschließen. Dies schien zu zeigen, dass wir nicht wollen können, was wir mögen, sondern was uns unser Gehirn diktiert. Diese Experimente wurden inzwischen unter verschärften Bedingungen wiederholt, und sie bestätigten das Resultat. Ist also Freiheit eine Illusion ? Werden wir vom Gehirn gesteuert, ohne es zu merken ? Diese Libet-Experimente beruhen auf einem radikalen Missverständnis von Freiheit. Wenn ein Willensimpuls in mir em66
porsteigt und wenn er zu einer Aktion führt, dann hat dies mit Freiheit so wenig zu tun, wie wenn es mich in der Nase kitzelt, sodass ich niesen muss. Auch hier steigt ein Willensimpuls in mir hoch, aber er führt offensichtlich zu einer bloßen Willkürbewegung, die mit Freiheit nichts zu tun hat. Freiheitsgeschehen ist immer mit Reflexion verbunden. Wer nicht denkt, ist auch nicht frei. Nun hatte aber Benjamin Libet seinen Probanden eingeschärft, nicht nachzudenken ! Sie sollten einfach nur passiv darauf achten, zu welchem Zeitpunkt der Willensimpuls in ihnen hochstieg, den rechten oder den linken Arm zu heben. Warum hat er das getan, obwohl es doch offensichtlich ist, dass der Mensch, der nicht denkt, auch nicht frei sein kann ? Nehmen wir an, er hätte den Menschen Zeit gelassen, zu überlegen, dann würden diese Überlegungen in den Freiheitsakt eingegangen sein. Freiheit hätte dann eine Geschichte und wäre nicht mehr punktuell lokalisierbar. Diese Lokalisierbarkeit brauchte er aber, um sein Experiment durchzuführen. Man kann sich den Sachverhalt an einem weniger abstrakten Beispiel klarmachen : Ich überlege mir, ob ich in ein bestimmtes Lokal gehen soll, das ganz ausgezeichnet ist, aber auch ein bisschen teuer. Ich wäge ab, ob ich mir das leisten kann oder ob nicht auch ein etwas bescheideneres Lokal genügen würde. Ich frage mich, ob nicht die typisch schwäbische Erziehung meiner Eltern zur Sparsamkeit meine Handlungen heute noch beeinflussen und ob ich mich nicht längst davon befreien sollte. Da ich ein Gutmensch bin, frage ich mich, ob ich nicht in ein Fast-Food-Restaurant gehen sollte, um das Ersparte für die Dritte Welt zu spenden, wo die Menschen hungern. Während ich mich auf diese Art mit allen möglichen Gedanken herumquäle, treffe ich plötzlich den Entschluss, das teure Lokal aufzusuchen, und schiebe meine Skrupel einfach weg. Ist nun der Moment des Entschlusses zugleich der Moment der Freiheit ? Sicher nicht, sondern das Abwägen der Gründe zuvor gehört mit zum Freiheitsgeschehen, sonst wäre es rein willkürlich gewesen. 67
Aber wie soll ich dieses Abwägen wissenschaftlich-experimentell verfügbar machen ? Vor allem weil doch solche trivialen Entschlüsse eigentlich nicht exemplarisch sind für Freiheitsgeschehen. Freiheit im vollen Sinne ist die Fähigkeit, die eigenen Präferenzen festzulegen. Hat man einmal eine bestimmte Wertehierarchie akzeptiert, z. B. aufgrund von Erziehung oder sozialen Einflüssen, dann dauert es oft Jahre, sie zu verändern und neu zu justieren. Aber von solchen Prozessen hängt Freiheit ab. Sie lassen sich nicht atomistisch beschreiben, sondern sie sind verwoben in eine Bildungsgeschichte, die wir nachvollziehen müssen, um ihren Sinn zu erfassen. Mit einem Wort : Es gibt Sachverhalte, die passen nicht in ein experimentelles Schema, so wenig wie man Gott mit einem Yeti vergleichen kann. Wir haben heute eine fatale Neigung, Existenz dinghaft zu verstehen. Deshalb legen wir uns auf die falsche Alternative fest, der Geist sei entweder mit dem Gehirn – als einem Ding – identisch oder er sei ein Ding hinter den Dingen im Sinn des Substanzendualismus. Daher diese abergläubische Vorstellung, der Geist sei eine Art feinstoffliches Gespenst wie ein Klopfgeist, der im Prinzip genauso aussieht wie wir auch, nur dass er hinter den Dingen sein Unwesen treibt. Der Geist : ein Ding hinter den Dingen. In Wahrheit ist der Geist nicht so sehr ein Ding als eine Art der Dinge, zu sein. Er artikuliert sich als Ausdrucksgestalt und ist deshalb der Kunst näher als der Philosophie oder der Neurowissenschaft. Die Künstler sind die Virtuosen des Ausdrucks. Im Ausdruck verschränken sich Geist und Materie zur Ununterscheidbarkeit. Das Kunstwerk entsteht nicht so, wie eine Maschine erdacht wird, deren Plan abstrakt im Büro entsteht, um dann in einer Maschinenhalle realisiert zu werden. Beim Kunstwerk stehen Planung und Ausführung ständig in einer Wechselwirkung und modifizieren sich permanent im Akt der schöpferischen Tätigkeit. Sollte das Kunstwerk etwas Geistiges ausdrücken, dann als Resultat einer solchen Wechselwirkung. 68
Der Begriff des ‚Ausdrucks‘ ist der modernen Philosophie abhandengekommen. Man findet ihn noch bei Husserl, Scheler und Cassirer, aber in der modernen Leib-Seele-Debatte kommt er nirgends mehr vor. Aber wie soll man dann das spezifische Menschliche begreifen ? Der Mensch ist ein Geistwesen als Ausdruck seiner selbst, und wenn in der Analytischen Philosophie der Geist auf das ‚Mentale‘ herabgekürzt wird, dann ist von ihm eigentlich gar nicht mehr die Rede. In vielen zeitgenössischen Schriften wird Intentionalität für ein wesentliches Charakteristikum des Geistes gehalten. Darunter versteht man das Ausgerichtetsein vieler Akte, so wie z. B. Hoffnung immer Hoffnung auf etwas oder Furcht Furcht vor etwas ist oder Wissen das Wissen von etwas. Beschränkt man sich bei der Analyse des Geistes auf solche intentionalen Zustände des Menschen, dann kommt er als psychosomatische Ausdrucksgestalt überhaupt nicht mehr in den Blick. Der Geist erscheint dann wie der Schaltplan eines Radiogeräts, der die Vernetzung der elektronischen Bauteile vom Prinzip her vollständig beschreibt, ohne dass wir zum Zwecke dieser Beschreibung Transistoren, Widerstände oder Kondensatoren in die Hand nehmen müssten. Wir können bei technischen Artefakten alles Wesentliche begreifen, ohne im Wortsinne etwas ‚begreifen‘, d. h. in die Hand nehmen, zu müssen. Aber der Mensch ist nicht von dieser Art. Wenn wir bei ihm das Konkrete der Ausdrucksgestalt weglassen, dann haben wir uns das Wichtigste erspart und der Geist, als eine Weise der Existenz, entschwindet unserem Blick. Vom Geist bleibt nur noch das Gehirn oder ein Gespenst zurück, und weil wir nicht mehr an Gespenster glauben, enden wir damit, das Gehirn für die Ursache des Geistes zu halten. So verwandelt sich uns alles in ein Ding und sogar Gott wird zu einem mythischen Yeti im Himalaya und Freiheit kürzt sich auf bloße Willkür herab. Wir werden später sehen, dass diese Verdinglichungstendenz ihren Ursprung im praktischen Mate69
rialismus hat, für den die Welt wie ein Supermarkt der gefüllten Regale ist, wo es ebenfalls lauter Dinge gibt. Wir sagen gerne „Das ist ein Unding !“, wenn wir so etwas zum Ausdruck bringen möchten wie : „Das gibt es ja gar nicht !“ Der Ausdruck ist verräterisch, denn zu sagen „Das ist ein Unding“ heißt sagen, dass etwas entweder dinghafte Realität hat oder gar nicht existiert. Die Tendenz zur Verdinglichung ist also menschlich und in unsere Sprache eingebaut. Aber wenn wir einen vollständigen Begriff von uns und unserer Welt gewinnen wollen, dann müssen wir dieser Verdinglichungstendenz widerstehen und der Realität freien Lauf lassen, sich so zu artikulieren, wie es ihr gegeben ist. Die Welt ist kein Supermarkt und wir sind nicht die vermögenden Kunden, da wir ihr Geschenk weder benoch ergreifen noch bezahlen, sondern nur in Demut annehmen können. Aber das setzt eine Änderung in der Grundeinstellung voraus. Oder wie die deutschen Idealisten sagten : Das Unbedingte ist, wie der Name schon sagt, kein Ding.
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4. Die drei Dogmen des Materialismus
Das Folgende ist vielleicht etwas abstrakt und kompliziert. Das liegt aber in der Natur der Sache. Wir beziehen uns nämlich jetzt auf eine mächtige Bewegung an den Universitäten der angelsächsischen Länder, die von dort aus auch auf unsere intellektuelle Elite ausstrahlt. Die Sache ist vergleichbar dem Verhältnis zwischen Vulgär- und Neomarxismus vor 30 Jahren. Damals gab es den Vulgärmarxismus, beruhend auf den Schriften von Lenin und Stalin. Diese Art des Marxismus war so simplistisch wie die neuen Atheisten und ihr unbedarfter Primitivatheismus, den wir im ersten Kapitel vorgestellt und kritisiert haben. Aber dann gab es damals noch den Neomarxismus mit Autoren wie Max Horkheimer, T. W. Adorno oder Ernst Bloch und sie waren durchaus gebildete Philosophen, von denen man eine Menge lernen konnte und deren verfeinerter Marxismus viel Sachkenntnis und Scharfsinn verlangte, wenn man ihn wirksam kritisieren wollte. Ausgehend vor allem von den USA dominiert in Intellektuellenkreisen zurzeit ein philosophischer Materialismus, der auf ausgefeilten Techniken der Analyse beruht. Auch dieser Materialismus stützt sich auf die Naturwissenschaft, aber mit Hilfe diffiziler Prinzipien, die nicht so leicht zu durchschauen sind. Zu denken ist an Autoren wie Donald Davidson, David Lewis, Jaegwon Kim oder Daniel Dennett oder in Deutschland an Michael Esfeld, Ansgar Beckermann oder Wolfgang Detel. So wie die Neomarxisten hochgebildete Philosophen waren, von denen man viel lernen konnte, so ist es heute auch wieder, zugleich aber sind all diese Philosophen weltanschauliche Materialisten 71
und in dieser Hinsicht beruhen ihre Überlegungen auf wenigen, nämlich auf drei Prinzipien, die man relativ einfach darstellen und kritisieren kann. Der geneigte Leser, dem dieses Kapitel zu abstrakt und abgehoben erscheint, möge sich damit begnügen, die ersten drei Seiten anzusehen, um zu wissen, was hier verhandelt wird. Er mag dann getrost den Rest überspringen und direkt im nächsten Kapitel weiterlesen, ohne den Faden zu verlieren. Es geht uns nun um Analytische Philosophen und praktisch tätige Naturwissenschaftler, für die der Materialismus eine eindeutige Konsequenz des wissenschaftlichen Weltzugriffs ist. Von daher sind solche Autoren nicht eigentlich aggressiv gegen die Religion. Sie halten die Religion einfach nur für überholt, und sie beschäftigen sich daher oft nicht des Näheren mit ihr. Sie haben eine bestimmte Weltanschauung, die den Glauben ausschließt, aber mehr so wie ein Autobesitzer, der nicht mehr auf dem Esel reitet. Er hat nichts gegen Esel, aber mit dem Auto ist es halt bequemer. Wenn jemand im Mittelalter eine Meinung durchsetzen wollte, musste er behaupten, sie käme in der Bibel vor oder bei den Kirchenvätern. Dann hatte er gewonnen. Wer hingegen heute eine Meinung durchsetzen will, muss behaupten, sie sei eine Konsequenz der Physik nach dem Motto „Wenn die Quantentheorie für uns ist, wer vermag wider uns zu sein ?“ Die Physik kennt seit langer Zeit weltanschauliche Trittbrettfahrer. In den 80er Jahren grassierte bei uns die Mode der NewAge-Physik mit Autoren wie Fritjof Capra und David Bohm. Diese Autoren behaupteten, dass die Quantentheorie zu einer ostasiatisch getönten kosmologischen Spiritualität führen müsse. Früher hatte Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, behauptet, man brauche die Vorgehensweise der Naturwissenschaft nur ins Transzendente hinein zu verlängern, um Einsicht in die höheren Geisteswelten zu erlangen. Auch die Marxisten rühmten sich ihrer Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft, obwohl ihre Dialektik dazu im Widerspruch stand. 72
Heute wird Naturwissenschaft wiederum ideologisch missbraucht, wenn auch von der anderen Seite. Man will uns einreden, sie führe konsequenterweise zum weltanschaulichen Materialismus. Es wird sich aber auch hier zeigen, dass der Materialist im Grunde dasselbe macht wie einst die New-Age-Physiker : Er projiziert seine Lieblingsideen in die Physik hinein und zieht sie dann wieder heraus, ein zirkuläres Vorgehen, das ihm Legitimität verschaffen soll. Dass mit diesem bequemen Übergang von der Naturwissenschaft zum Materialismus etwas nicht stimmen kann, sieht man schon daran, dass es sehr bedeutende, erstrangige Wissenschaftler gab und gibt, die keine Materialisten waren oder sind, wie etwa die Physiker Albert Einstein und Werner Heisenberg oder die Biologen Theodosius Dobzhansky und Francisco Ayala. Wenn die Übereinstimmung zwischen Naturwissenschaft und Materialismus so problemlos wäre, wie immer behauptet wird, dann könnte niemals der Fall eintreten, dass ein erstrangiger Wissenschaftler kein Materialist wäre. Das wäre dann so unmöglich wie es keine Astronomen gibt, die zugleich Astrologen sein könnten, oder Chemiker, die sich zugleich als Alchemisten betätigen würden. Aber das sind nur Prima-vistaÜberlegungen. Wir sollten die Sache vielleicht etwas systematischer angehen. Wenn der Materialismus wahr ist, dann sollte der Kosmos drei wesentliche Eigenschaften haben : Es müsste dann 1) ein letztes Fundament aller Dinge geben, ein Art von ‚prima materia‘, die alles Übrige trägt und hält, und zwar 2) in dem Sinn, dass der ursprüngliche materielle Seinsbestand alle höheren Eigenschaften zwingend festlegt. Es könnte dann sozusagen in den ‚höheren Stockwerken‘ nichts Neues hinzukommen. Es wäre dann der Fall, was die ‚logischen Atomisten‘ um Bertrand Russell und Rudolf Carnap vor 100 Jahren behauptet haben : Wenn wir alle Eigenschaften der letzten, fundamentalen Fakten im Universum kennen, dann könnten wir den Rest rein logisch ableiten. Es gäbe ‚in den höheren Stockwerken‘ nichts Neues. Das würde z. B. hei73
ßen, dass eine genaue Untersuchung des Gehirns hinreichend Auskunft über unsere Geisteszustände geben würde. Dieses Prinzip 2) betrifft die Statik des Universums, das Verhältnis verschiedener Komplexitätsebenen, die gleichzeitig sind. Die Wahrheit des Materialismus würde aber auch 3) auf die Dynamik des Universums durchschlagen. Es müsste dann der Fall sein, dass das Universum wie eine kausal geschlossene Maschine wirkt. Dann würde immer eins das andere zwangsläufig ergeben im Sinn einer geschlossenen Kausalkette. Wir haben also 1) eine materielle Basis, 2) eine von unten bestimmte Hierarchie und 3) eine in sich geschlossene Dynamik. Dass diese drei Prinzipien den Materialismus zwingend festlegen, sieht man leicht daran, dass ihre Bestreitung ihn sofort außer Kraft setzen würde. Wenn wir z. B. bestreiten, dass es 1) ein letztes materielles Fundament gibt, das alles Übrige trägt, dann könnte ja der Fall eintreten, dass die Wirklichkeit von oben her zusammengehalten wird. Das haben z. B. die Platoniker bzw. die Neuplatoniker geglaubt, die ebendeshalb keine Materialisten waren. Nach idealistischer Überzeugung, die man noch bei Hegel findet, wird die Welt von oben her, d. h. vom Geist her, bestimmt. Der Geist formt die Materie, nicht etwa umgekehrt. Wenn wir Prinzip 2) bestreiten würden, dass nämlich die tieferen Komplexitätsebenen die höheren zwingend festlegen, dann hätten die höheren Ebenen ihre eigene Autonomie und ihre eigenen Freiheitsgrade. Dann könnte z. B. der Fall eintreten, dass die Gehirnzustände unsere Geisteszustände nicht zwingend festlegen, sondern dass der Geist eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Gehirn aufweist. Auch dies wäre mit einer materialistischen Weltanschauung unverträglich. Und schließlich würde 3) die Auffassung, dass das materielle Geschehen kausal nicht wirklich dicht ist, zur Folge haben, dass geistige Wirkungen auf das Materielle möglich wären. Der Geist wäre als solcher kausal wirksam, hätte also Autonomie. 74
Nun lässt sich aber zeigen, dass alle drei Prinzipien auf apriori-Entscheidungen beruhen. Sie sind keinesfalls Konsequenzen der Naturwissenschaft, sondern vorgefertigte Dogmen, die vielleicht anders begründet werden könnten, aber sicher nicht aus der empirischen Wissenschaft. Der Materialismus muss ja nicht zwingend falsch sein, aber er ist sicher nicht wahr, weil die Naturwissenschaft so ist, wie sie ist, aber das wird meistens unterstellt.
a. Das materielle Fundament Das Dogma von einem letzten materiellen Fundament scheint zunächst einmal evident. Stehen wir nicht mit beiden Beinen sicher auf der Erde ? Ist nicht der materielle Untergrund das Stabile, das, was bleibt, während wir uns in Raum und Zeit frei bewegen ? Aber erstens hat diese lebensweltliche Erfahrung nichts mit Physik zu tun und zweitens gibt es Erdbeben, die uns genau deshalb in Panik versetzen, weil das für stabil Gehaltene anfängt, zu wackeln. Aber wie ist es mit der Physik ? Die Physik ist, wie alle Erfahrungswissenschaften, hypothetisch. Sie kennt nichts Letztes, Endgültiges. Unter der Voraussetzung der jetzt anerkannten Theorien und unter der Voraussetzung der jetzt gemessenen Daten folgt die und die Auffassung der physikalischen Realität, die wir auf Widerruf für wahr halten. Ändern sich diese Voraussetzungen, ändert sich auch unsere Auffassung von der physikalischen Realität, und diese Änderungen können höchst dramatisch ausfallen, wie anfangs des 20. Jahrhunderts deutlich wurde, als die Relativitäts- und die Quantentheorie all unsere traditionellen Überzeugungen über den Haufen warfen. Die Physik ist keine Letztbegründungsinstanz. Sie ist nicht dafür gemacht, eine ‚prima materia‘ zu identifizieren. All ihre Einsichten sind immer nur vorläufig. Das ist übrigens der Grund, weshalb man sich nie auf eine Ontologie 75
der Physik einigen konnte. Die Fachleute sind sich völlig uneins, was das eigentlich Reale der Physik sein könnte, und sie werden sich auch in Zukunft darüber streiten, einfach deshalb, weil das eigentlich Reale gar kein Thema der Physik sein kann, denn das eigentlich Reale wäre nicht mehr relativierbar, aber von der Art der Relativierbarkeit sind alle Ergebnisse der Physik. Aus diesem Grund war es jedes Mal verkehrt, wenn gewisse Physiker behaupteten, sie hätten nun die Weltformel gefunden und wüssten, welches die letzten Bausteine der Natur sind. Das griechische Wort ‚Atom‘ heißt auf Deutsch ‚das Unzerstörbare‘. Aber auch die Atome sind aus grundlegenderen Partikeln aufgebaut und können deshalb wieder zerstört werden, und als man dann von ‚Elementarteilchen‘ wie Quarks, Leptonen oder Bosonen sprach, war auch wieder der Begriff des ‚Elementarteilchens‘ so gewählt, als bezeichnete er etwas Letztes, Unhintergehbares. Dagegen weist nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass der Forschungsprozess jemals an ein Ende kommen könnte. Es ist nicht wie mit der Sprache, die man in Wörter, Silben und Buchstaben zerlegen kann, und dann ist eben Schluss. Es spricht hingegen alles dafür, dass die Physik niemals an ein Ende kommt. Es wird manchmal damit argumentiert, dass nach der Quantentheorie eine kürzeste Entfernung und eine kürzeste Zeit existieren, und daraus schließen manche auf die Existenz letzter Partikel. Aber erstens ist die Theorie, die auf solche Vorstellungen führt, ihrerseits nicht die letzte – weil es eine letzte Theorie nicht geben kann –, und zweitens sind die Quantenobjekte nicht so in Raum und Zeit wie Spatzen oder Äpfel. Das heißt : Selbst wenn es eine kürzeste Raum- und Zeitdimension gibt (die sogenannte ‚Planck-Länge‘ oder ‚Planck-Zeit‘), dann folgt daraus noch gar nichts für die Existenz kleinster Partikel. Es kommt aber noch schlimmer : Nicht nur gibt es kein Letztes in der Physik, diese Wissenschaft kennt noch nicht einmal den Begriff der ‚Materie‘ im Allgemeinen, sei dieser Begriff ein Letztbegriff oder nicht. Es gibt keine einzige physikalische For76
mel, in der der Begriff der ‚Materie‘ vorkäme. Allerdings haben sich manche Physiker einen laxen Sprachgebrauch angewöhnt, wonach massebehaftete Partikel = Materie wären. Aber das ist ungefähr so, wie wir auch von den ‚Lebensphasen‘, d. h. von der ‚Geburt‘ oder vom ‚Tod‘ eines Sternes reden, wenn sich ein solcher Stern aus interstellaren Gaswolken bildet oder als Supernova und dann in einem schwarzen Loch endet. Niemand glaubt ernstlich, dass Sterne Lebewesen sind, die geboren werden und sterben. Das ist nichts als eine ganz lockere Metaphorik. Ebenso verhält es sich, wenn wir von Masse als ‚Materie‘ sprechen, denn wenn Masse und Materie ernstlich dasselbe wären, dann wäre alles, was die Physik sonst noch beschreibt = Geist, denn es könnte ja nichts Materielles mehr sein. Felder wären dann z. B. etwas Geistiges. Aber der Geist kommt in der Physik noch viel weniger vor als die Materie. Geist und Materie sind keine Begriffe der physikalischen Wissenschaft wie ‚Energie‘, ‚Entropie‘, ‚Drehimpuls‘, ‚Temperatur‘ usw. Unter ‚Materie‘ könnten wir allenfalls die Totalität dessen, was die Physik beschreibt, verstehen, also nichts Einzelnes, das wir herausgreifen könnten, sei es Masse, Partikel oder was auch immer. Viele glauben, die von der Physik beschriebenen Partikel seien das eigentlich Materielle. Aber Partikel sind nach der Quantenfeldtheorie n-stellige Relationen, die nicht das Geringste mit den materiellen Substanzen zu tun haben, die wir aus dem Alltag kennen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass der Begriff der ‚Materie‘ ein Begriff aus der praktischen Lebenswelt ist. Wenn wir z. B. Holz bearbeiten, um einen Schrank herzustellen, dann wissen wir, was ‚Materie‘ ist. Materie ermöglicht unsere technische Gestaltung und setzt ihr zugleich Widerstand entgegen. Dieses Widerständige erfahren wir im Umgang mit der Materie und wir kontrastieren es mit unseren geistigen Fähigkeiten, die die Ziele der Bearbeitung des Stoffes bereitstellen. In unserem Geist entstehen also die Pläne, die Materie zu gestalten, und so gesehen ist die Urerfahrung, die wir machen, 77
nicht die einer an sich existierenden Materie, sondern die einer wechselseitigen Beziehung zwischen beiden, Geist und Materie. Was wir erfahren, ist niemals die krude Materie als solche oder der reine Geist an sich. Im handelnden Eingreifen in die Natur werden wir uns bewusst, psychosomatische Wesen zu sein mit einem sowohl materiellen als auch einem geistigen Aspekt. Die Materie an sich, von der die Materialisten träumen, gibt es nicht, und wenn es sie gäbe, dann sicher nicht für die Physik. Um auf die Frage nach den letzten materiellen Substanzen zurückzukommen : Der Philosoph Leibniz war der Meinung, dass die Natur fraktalen Charakter hat. Fraktale sind selbstähnliche Gebilde, in deren Struktur man immer weiter hinabzoomen kann, und dann entdeckt man immer weitere, phantastischere Gestalten, die zwar immer ähnlich, aber auch immer wieder ganz unähnlich sind. Dieses Hinabzoomen kommt jedoch nie an ein Ende. Wir verwickeln uns hier in einen – allerdings ästhetisch sehr befriedigenden – regressus in infinitum. Die klassischen Philosophen haben den regressus in infinitum abgelehnt, wie wir gesehen haben. Sie waren der Meinung, dass alles eine begrenzte Gestalt haben müsse, um überhaupt zu existieren. Darauf beruhte z. B. Thomas von Aquins Gottesbeweis aus der Bewegung. Jede Bewegung muss von einer früheren her in Gang gesetzt werden. Nach Thomas muss aber die ganze Kette der Bewegungen irgendwo einen Anfang haben, sonst würde sich auch jetzt nichts bewegen, und das nennt er mit Aristoteles den „ersten unbewegten Beweger“, den er dann mit Gott identifiziert. Ob dieser metaphysische Gottesbeweis schlüssig ist, können wir dahingestellt sein lassen. Er gehört jedenfalls in die spekulative Philosophie, nicht in die Naturwissenschaft. In der Naturwissenschaft gibt es keinen Ausschluss des regressus in infinitum, sondern man fragt immer von C nach B zurück und von dort nach A, und dieses Verfahren lässt sich im Prinzip beliebig oft wiederholen. Aus diesem Grunde ist auch der Urknall nichts absolut Erstes. Schon diskutieren die Physiker über ein 78
pulsierendes Weltall, das aus einer Singularität hervorgeht, sich Milliarden Lichtjahre weit ausdehnt, wieder in sich zusammenfällt, um erneut zu explodieren. Einen ersten Anfang, einen Ursprung, gibt es für die Physik nicht, sondern nur relative Anfänge gemäß dem hypothetischen Charakter neuzeitlicher Physik, die den Begriff des ‚Ursprungs‘ nicht kennt, sondern höchstens den der ‚Ursache‘, und das ist eben nicht dasselbe. Die Idee, dass es dort unten in der Materie ein letztes, nicht mehr relativierbares Fundament gibt, ist also eine Wunschvorstellung. Weil der Materialist a priori von der Wahrheit seiner Weltanschauung überzeugt ist, setzt er ein solches absolutes Fundament. Aber die Physik bestätigt seine Wunschvorstellungen nicht. Vielleicht ist die Welt bodenlos, und diese ihre Bodenlosigkeit macht uns Angst, so als würde uns ein Erdbeben an unsere Vergänglichkeit und Verletzlichkeit erinnern. Man könnte sich fragen, ob die Phantasie eines absoluten materiellen Fundaments nicht vielleicht ein Platzhalter Gottes ist, den wir so leichtfertig abgeschafft haben. Vielleicht ist es uns unerträglich, in einer Welt zu leben, in der alles wackelt, sich ändert und wieder vergeht. Aber wenn wir diese metaphysische Sehnsucht nach etwas Bleibendem haben, dann ist doch die Frage, ob die Materie nicht die schlechteste Instanz ist, unsere metaphysische Sehnsucht zu befriedigen.
b. Das Supervenienzprinzip und die Statik des Universums Auch das Supervenienzprinzip scheint zunächst einmal evident. Es besagt, dass die Welt ‚von unten her‘ gehalten und hinreichend bestimmt wird. Ist der materielle Seinsbestand geklärt, dann kann ‚in den höheren Stockwerken‘ nichts Neues mehr passieren. Als Paradebeispiel für Supervenienz wird immer das Verhältnis zwi79
schen Molekularkinetik und phänomenologischer Thermodynamik genannt. Damit ist Folgendes gemeint : Anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich die Physiker mit dem Verhalten der Gase und fanden eine ‚ideale Gasgleichung‘, die darauf hinausläuft, dass in einem geschlossenen Gefäß die Temperatur eines Gases proportional zu dem Produkt aus Volumen und Druck ist. Wenn ich also ein eingeschlossenes Gas erhitze, dann erhöht sich der Druck. Halte ich hingegen die Temperatur konstant und vermindere das Volumen, dann erhitzt sich das Gas ebenfalls, wenn auch aus einem anderen Grund. Diese Zusammenhänge haben sich zwar vielfach bestätigt, aber man würde doch gerne wissen, warum sich die Gase so verhalten. Um dieses Problem zu lösen, haben die Physiker um 1900 versucht, den Zusammenhang atomistisch zu deuten. Sie gingen davon aus, dass sich die Moleküle eines Gases verhalten wie vollelastische Kugeln, und weil sie sie nicht einzeln durchrechnen konnten, da es zu viele sind, erfanden sie eine entsprechende Statistik, und in diesem Rahmen zeigte es sich, dass z. B. die Temperatur eines Gases nichts anderes ist als die mittlere Bewegung der beteiligten Moleküle. Auf diese Art konnte man auch den Gasdruck atomistisch herleiten. Wir haben also den folgenden Sachverhalt : Die makroskopischen Größen von Druck und Temperatur eines Gases werden erklärt durch die Bewegungszustände der Moleküle, die diese Zustände zwingend festlegen. Es kann also niemals der Fall eintreten, dass die Bewegungszustände einen bestimmten Wert haben, ohne dass dadurch Druck und Temperatur eines Gases festgelegt wären, d. h., von unten nach oben gibt es ein Verhältnis der Determination. Die Basis bestimmt eindeutig den Überbau. Das Umgekehrte muss aber nicht der Fall sein : Verschiedene Bewegungszustände der Moleküle können mit ein und denselben Druck- und Temperaturwerten verknüpft sein. Man nennt das das ‚Prinzip der multiplen Realisierbarkeit‘. Es ist ein Prinzip, das wir auch von anderen Bereichen her kennen. Z. B. kann ein und dieselbe Software 80
auf ganz verschiedenen Hardware-Konfigurationen laufen. Die ersten Computer arbeiteten mit elektrischen Relais, dann mit Vakuumröhren. Heute arbeiten sie mit hochintegrierten Transistoren. Alle drei haben ganz unterschiedliche physikalische Eigenschaften, können aber dasselbe Programm verwirklichen. Das heißt : Beim Supervenienzprinzip wird nur gefordert, dass ‚von unten nach oben‘ Eindeutigkeit herrscht. ‚Von oben nach unten‘ lässt man Mehrdeutigkeit zu, sonst wären z. B. die Computertheorien des Geistes ausgeschlossen und das möchte man nicht, da sie eine große Rolle spielen. Wichtig ist einfach, dass die Basis den Überbau hinreichend bestimmt. Das Verhältnis von Molekularkinetik und phänomenologischer Thermodynamik wurde von Anfang an materialistisch gedeutet. Ludwig Boltzmann, der diese Molekularkinetik entwickelte, war weltanschaulicher Materialist, übrigens einer der wenigen unter den großen Physikern. Er betrachtete die lebensweltlich zugänglichen Größen von Druck und Temperatur als Platzhalter des Mesokosmos, zu dem auch wir selbst gehören. Nun war es ihm aber gelungen, mesokosmische Größen auf Atomzustände zurückzuführen, und weil man damals die Atome bzw. Moleküle noch ganz materialistisch für so etwas wie Billardkugeln hielt, schien unsere Lebenswelt atomistisch reduzierbar zu sein, so dass Boltzmann seine Entdeckung als eine Bestätigung seines Materialismus interpretieren konnte : Die Basis legt den Überbau zwingend fest. Im Wiener Kreis hat man dann dieses Modell auf das Verhältnis zwischen Geist und Gehirn übertragen und dachte sich, dass die Atomzustände im Gehirn unsere Geisteszustände ebenso zwingend festlegen, weil sie nämlich mit ihnen identisch sind. So wie wir sagen können, dass Druck und Temperatur nichts anderes sind als Bewegungszustände der Gasmoleküle, so können wir auch entsprechend sagen, dass unsere mentalen Zustände nichts anderes sind als die Gehirnzustände. Sie werden nur anders beschrieben. 81
Die Übertragung eines physikalischen Modells auf das Gehirn-Geist-Verhältnis war aber mehr als verwegen, denn Boltzmann fand eine gut bestätigte Gastheorie vor, er entwickelte eine mikrologische Kinetik, ebenfalls voll mathematisiert, und er konnte mit einigen Zusatzannahmen die Identität der makrologischen und mikrologischen Größen streng mathematisch nachweisen. Das war gute Wissenschaft. Die Identitätstheorien des Wiener Kreises waren dagegen nichts als willkürliche Spekulationen. Weder haben wir eine wissenschaftlich-mathematisierte Theorie der mentalen Zustände, und zwar bis heute nicht, noch haben wir eine solche Theorie des Gehirns, und auch diese ist bis heute nicht in Sicht, und dann haben wir vor allem keine Ahnung, wie diese beiden – nicht vorhandenen – Theorien in Übereinstimmung gebracht werden könnten. Man sieht hier wiederum, dass der moderne Materialismus alles andere als eine wirklich seriöse Wissenschaft ist. Er beruht einfach nur auf dem Glauben, der Materialismus möge wahr sein. Verglichen damit ist der Glaube an Jesus Christus weit rationaler, denn so, wie sich Jesus verhielt, mag man glauben, dass er der Repräsentant Gottes war, während für die psychosomatischen Identitätstheorien so gut wie nichts spricht. Um auf das Supervenienzprinzip zurückzukommen : Dieses Prinzip garantiert also, dass die Basis den Überbau zwingend festlegt, aber der Überbau kann sich auf ganz verschiedene Basisformen stützen im Sinn der multiplen Realisierbarkeit. Dieses Prinzip garantiert also, dass wir immer ‚von unten nach oben‘ zwingend schließen können, d. h., der Überbau hat keine eigenständigen Freiheitsgrade, keine Autonomie. Während nun das Materieprinzip einfach nur eine Illusion ist, ist das Supervenienzprinzip häufig erfüllt, wie gerade in diesem Fall der eingesperrten Gase, aber auch in vielen anderen Fällen. Wenn etwa der Bauingenieur die Statik eines Gebäudes berechnet, das meinetwegen aus Ziegelsteinen hergestellt wurde, dann superveniert die Statik dieses Gebäudes auf der Anord82
nung der Ziegelsteine. Es kann niemals der Fall eintreten, dass zwei Gebäude in der Anordnung ihrer Elemente übereinstimmen, sich aber in ihrer Statik unterscheiden, während das Umgekehrte sehr wohl der Fall sein kann. Völlig verschieden gestaltete Gebäude können dieselben statischen Eigenschaften aufweisen. Wir müssen das Supervenienzprinzip von Fall zu Fall überprüfen. Manchmal ist es erfüllt, manchmal nicht. Es gibt aber auch in der Naturwissenschaft Beispiele, wo das Supervenienzprinzip verletzt ist. In diesen Fällen bestimmt die Basis nicht mehr den Überbau, der damit eine gewisse Autonomie aufweist. So etwa bei den verschränkten Systemen der Quantentheorie. Verschränkte Systeme sind solche, die in Wechselwirkung standen. Solche Systeme sind wie Ganzheiten, auch wenn sie räumlich weit getrennt wurden (die sogenannten ‚nichtlokalen Wechselwirkungen‘, auf denen die Quantenkryptographie beruht). Der Zustand eines verschränkten Gesamtsystems wird aber nicht durch die Einzelsysteme festgelegt, d. h., das Supervenienzprinzip ist schon in der fundamentalsten physikalischen Theorie, nämlich der Quantentheorie, verletzt. Wer die Literatur zum Supervenienzprinzip einigermaßen kennt, wird erschüttert sein, dass diese zumeist von Philosophen produzierte Literatur gewöhnlich auf einer radikalen Unkenntnis der Physik beruht. Die meisten Philosophen, die darüber schreiben, sind bei Demokrit stehen geblieben. Ihre Physik kommt 2400 Jahre zu spät. Demokrit nahm an, dass es in den Tiefen der Materie letzte Partikel gibt, die er für unzerstörbar hielt, also wirkliche ‚Atome‘. Eine solche Physikauffassung ist bis heute unter Materialisten sehr verbreitet, aber sie hat nichts mit der Quantentheorie zu tun, die diese naiven Substanzvorstellungen außer Kraft setzt. Es ist aber nicht nur die Physik, die das Supervenienzprinzip fraglich werden lässt. In der Biologie gab es lange Zeit das sogenannte ‚Dogma der Molekularbiologie‘. Es lautete : DNA → anything else. Will be83
sagen : Die Gene determinieren alle Eigenschaften der Lebewesen, ihren Bau und ihr Verhalten. Diese Eigenschaften supervenieren also auf der DNA. Dieses Dogma wurde inzwischen widerlegt. Die Systembiologie hat gezeigt, dass es nicht nur eine Bottom-up-Kausalität von den Genen zum Phänotypus gibt, sondern dass schon in der Zelle Top-down-Kausalität stattfindet, dass nämlich von übergeordneten Instanzen Gene ab- und angeschaltet werden können. Das Supervenienzverhältnis kommt also auch hier nicht zur Anwendung. Ein besonders prominentes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau ist das Verhältnis zwischen Gehirn und Geist. Auch hier wird der Materialist argumentieren, dass das Gehirn den Geist zwingend festlegt, so dass es letztlich gar keine Wechselwirkung zwischen beiden gibt, sondern lediglich eine kausale Einbahnstraße vom Gehirn zum Geist oder schlichtweg eine Identität, wie im Wiener Kreis. Dann ist der Geist das Gehirn. Wir haben schon im letzten Kapitel gesehen, dass auch hier das Supervenienzverhältnis höchst fragwürdig scheint, und dies ist auch ein besonders prominentes Beispiel, denn letztlich interessiert uns vor allem, wie sich wohl der Geist des Menschen zu seinem materiellen Körper verhält. In der Literatur zur Supervenienzproblematik findet man außer dem genannten Standardbeispiel der Molekularkinetik und phänomenologischen Thermodynamik immer wieder ein Beispiel aus der Ästhetik, das ganz deutlich macht, welche ideologische Voreingenommenheit bei denen herrscht, die die Supervenienz für ein Grundprinzip halten, wenn es darum geht, Basis und Überbau ins Verhältnis zu setzen. Es wird nämlich argumentiert, dass die ästhetische Wirkung eines Bildes auf seiner Farbverteilung und auf den Formen des Gemäldes supervenieren. Das heißt also : Wenn ich an der ästhetischen Wirkung eines Gemäldes etwas verändern will, muss ich zum Pinsel greifen und eine Farbe oder eine Form verändern. 84
Verkehrter könnte man nicht argumentieren ! Die ästhetische Wirkung eines Gemäldes hängt nämlich mindestens ebenso sehr von der Einstellung des Betrachters ab wie von der Farb- und Formverteilung. Bin ich zum ersten Mal in einer Gemäldegalerie, werde ich dasselbe Bild ganz anders sehen als später, wenn ich weitere Erfahrungen mit bildender Kunst gemacht habe. Und selbst wenn ich nur den Prospekt zur Ausstellung lese und ein Weniges über die Epoche und die Befindlichkeit des Künstlers erfahre, werde ich dasselbe Bild mit anderen Augen sehen. Es ist extrem weit hergeholt, zu glauben, dass die ästhetische Wirkung eines Bildes allein durch seine materiellen Eigenschaften festgelegt wird. Aber warum kommt man dann auf eine solche, weit hergeholte, Idee ? An dieser Stelle wird das Apriorische, Vorurteilsbeladene des Materialismus besonders deutlich : Ästhetische Erfahrungen sind geistige Erfahrungen, aber wenn der Materialismus wahr sein sollte, dann dürfte dieses Geistige keine eigenständige Rolle spielen. Es müsste vom materiellen Bestand her zwingend festgelegt werden. Und so behauptet der Materialist dreist und entgegen jeder Erfahrung, dass der materielle Bestand eines Bildes seine ästhetische Wirkung zwingend festlegt. Um es noch einmal zu betonen : Das Supervenienzprinzip ist nicht per se falsch. Es gibt viele Bereiche, wo es erfüllt ist, aber eben auch viele andere und damit kann es kein Grundprinzip sein, das überall gültig wäre. Wir können nicht dogmatisch davon ausgehen, dass der materielle Seinsbestand komplexer Gestalten diese Gestalten in jeder Hinsicht festlegt, denn es gibt auch mächtige Gegeninstanzen, nicht zuletzt aus der Naturwissenschaft, auf die sich die Materialisten doch so gerne berufen.
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c. Die kausale Geschlossenheit der Welt und ihre Dynamik Das Materieprinzip (1) definiert die Basis der Welt, das Supervenienzprinzip (2) ihre Statik, und das Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt definiert ihre Dynamik (3). Auf diese Weise legen diese drei Prinzipien die materialistische Weltanschauung fest, und man wird finden, dass sie in der gesamten Literatur wie Dogmen behandelt werden, an denen man anständigerweise nicht zweifeln sollte, ohne sich aus dem Verkehr vernünftig denkender Menschen zu ziehen. Das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt – im Folgenden kurz ‚Kausalprinzip‘ genannt – gilt dabei als besonders gut begründet, denn es wird so dargestellt, dass derjenige, der es bestreitet, ein abergläubischer Vitalist oder ein ebenso abergläubischer Fundamentalist sein müsse. In dieser Sichtweise ist derjenige, der das Kausalprinzip bestreitet, wie jemand, der annimmt, dass geistige Prinzipien aus einer metaphysischen Hinterwelt unter Missachtung des Energieerhaltungssatzes in den materiellen Zusammenhang eingreifen, so dass sie das kausale Geflecht zerstören, auf denen die physikalische Forschung beruht. Alle vernünftige Wissenschaft würde dadurch unmöglich gemacht. Wenn der Physiker ein Experiment vorbereitet, dann könnte er niemals sicher sein, dass nicht ein leibfreier Geist seine Anordnung stört, so dass eine methodische Reproduktion physikalischer Effekte ausgeschlossen bliebe. Dies würde in der Tat jede Wissenschaft unmöglich machen. Das heißt : Ohne die Voraussetzung einer kausalen Geschlossenheit der Welt gibt es keine vernünftige Wissenschaft, und wer diese Geschlossenheit bestreitet, ist ein Irrationalist, was insbesondere heißt, dass jeder religiöse Glaube an eine göttliche Macht nichts ist als ein überwundener Aberglaube, denn Wunder – so die These – zerstören das kausale Geflecht der Welt. 86
Es fällt auf, dass die Materialisten ihre Gegner auf eine Weise stilisieren, die ihre Position von vornherein lächerlich macht. Wer das Kausalprinzip bestreitet, ist in ihrer Sichtweise wie jemand, der die Erde immer noch für eine flache Scheibe hält oder der glaubt, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Es wird sich allerdings zeigen, dass die Bestreitung des Kausalprinzips nichts mit solchen abergläubischen Vorstellungen zu tun hat. Man kann dieses Prinzip ohne Weiteres in Frage stellen und sehr wohl Physiker oder Biologe bleiben. Zunächst einmal gilt für Kausalität dasselbe, was oben über das Materieprinzip gesagt wurde : Kausalität kommt in keiner physikalischen Formel vor. Auch Kausalität ist kein Ergebnis der Wissenschaft, sondern ein Interpretament aus der praktischen Lebenswelt. Was Kausalität ist, wissen wir zunächst einmal nicht aus der Natur, sondern aus unserem eigenen Umgang mit dem Stoff. Wenn wir eingreifend handeln, erfahren wir immer schon, was es heißt, Ursache zu sein, und wir übertragen diese Urerfahrung dann analogisch auf die Natur. Wer einen Stein schleudert und eine Glasscheibe trifft, so dass sie zersplittert, der ist die Ursache für ihre Zerstörung. Analog dazu interpretieren wir auch die subjektfreien Prozesse der Natur. Wenn ein starker Windstoß einen Ast vom Baum reißt und dieser in eine Scheibe fällt, die dadurch zerstört wird, so sagen wir : Der Ast war die Ursache für den Glasschaden. Der Erkenntnisgrund für das Ursache-Wirkungs-Verhältnis sind aber wir und nicht die Natur. Wenn Menschen Pflanzen wären, fest verankert in der Erde, d. h. ohne Ortsbewegung, könnten sie noch so intelligent sein, sie würden keine Begriffe von ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ herausfinden. Nicht die Natur ist also der Grund unseres Konzepts von Ursache und Wirkung, sondern wir selbst. Schon vor über 100 Jahren hat Bertrand Russell vorgeschlagen, den Begriff der ‚Kausalität‘ aus dem Repertoire wissenschaftlicher Begriffe zu streichen, weil er in der Physik nirgends vorkommt. Tatsächlich sind viele Philosophen der Physik die87
sem Ratschlag gefolgt und diejenigen, die es nicht taten, sind sich höchst uneinig. Von der Physik her gesehen ist völlig unklar, was Ursachen und Wirkungen eigentlich sein sollen. Das Problem ist, wie beim Materiebegriff, ein prinzipielles : Ursache und Wirkung sind eine asymmetrische Relation. Ist A Ursache von B, dann ist niemals B Ursache von A. Nahezu alle physikalischen Gleichungen sind aber symmetrisch. Schreibe ich z. B. die berühmte Einstein’sche Gleichung E = mc2 an die Tafel, dann weiß ich, dass Masse und Energie proportional sind. Ich weiß aber nicht, ob eine Veränderung der Masse die Ursache einer Veränderung von Energie ist oder andersherum. Es kommt tatsächlich beides vor. Die kausale Interpretation dieser Gleichung hängt also in der Luft, und so ist es bei den meisten Gleichungen in der Physik. Erst wenn ich praktisch handle, hebe ich die Symmetrie der entsprechenden Gleichungen auf. Wenn ich z. B. eine Atombombe zur Explosion bringe, dann tritt der sogenannte ‚Massendefekt‘ ein. Masse zerstrahlt in Energie, und dieses Zerstrahlen ist offenkundig die Ursache für die enorme Wirkung der Bombe. Aber die Asymmetrie der Ursache-WirkungsBeziehung kommt nicht durch die Natur, sondern durch mich ins Spiel. Weil ich als Handelnder einen bestimmten Effekt hervorrufen will, breche ich die Symmetrie des physikalischen Zusammenhangs. Wenn ich selbst in die Materie eingreife, ist das Umgekehrte niemals der Fall, denn die Kausalrichtung wird durch mich und nicht durch die Natur festgelegt. Dagegen lässt sich die Gleichung E = mc2 auch umdrehen und bleibt dabei immer noch dieselbe, denn wenn E = mc2 ist, dann ist auch mc2 = E. Das ist der Grund, weshalb die Philosophen der Physik niemals eine allgemein überzeugende Antwort auf die Frage gefunden haben, was wir in dieser Wissenschaft unter ‚Kausalität‘ verstehen sollten, und wenn wir in die – übrigens immense – Literatur zum Kausalitätsproblem blicken, wie sich dieses Problem auch außerhalb der Physik artikuliert, dann wird das Bild noch 88
verworrener. Keine zwei Philosophen, die sich einig wären, trotz heroischer Versuche. So schrieb z. B. der Philosoph Uwe Meixner ein dickleibiges Buch über Kausalität, in dem er ein Konzept entwickelt, das für alle Formen der Ursache-Wirkungs-Beziehung gültig sein soll. Aber in diesem Buch gibt er von Fall zu Fall immer wieder zu, dass er willkürliche Entscheidungen getroffen hat, die auch ganz anders hätten ausfallen können. Aber wie kann man dann einen Allgemeingültigkeitsanspruch stellen ? Entsprechend hat das Buch seine Wirkung verfehlt. Es wurde nicht als die vernünftigste Weise angesehen, mit dem Problem der Kausalität umzugehen, und dasselbe gilt für all die anderen Bücher, die sonst noch zur Frage von Ursache und Wirkung geschrieben wurden, und das sind nicht eben wenige. Ist das hier Gesagte richtig, dann sollte uns dies nicht verwundern. Liegt nämlich der Ursprung der Kausalitätsvorstellung in unserem handelnden Eingreifen in die Welt und übertragen wir diese Vorstellung analog auf die Natur, dann enden wir in der Beliebigkeit solcher Analogien, die jeder auf seine Weise auslegen kann. Dann wird auch verständlich, weshalb kausale Interpretationen der Physik umso weniger überzeugen, je weiter die Physik voranschreitet : In ihrer Frühzeit setzte die Physik bei unserem lebensweltlich-praktischen Naturumgang an. Newton z. B. formulierte sein zweites Axiom F = ma (Kraft = Masse mal Beschleunigung), und es war dann sehr naheliegend – und Newton hat es auch so dargestellt –, dass wir Kräfte als Ursachen interpretieren und Beschleunigungen als Wirkungen begreifen sollten, obwohl doch auch diese Formel symmetrisch ist. Wir haben in der Mechanik viele Beispiele vor Augen, wo die Symmetrie durch unser eingreifendes Handeln gebrochen wird. Wer einen Karren anschiebt, der übt eine Kraftwirkung aus, und die Beschleunigung des Karrens ist dann eben die Wirkung. Ist diese Interpretation einigermaßen plausibel, dann entsteht aber sofort eine Schwierigkeit, wenn die Physik in abstraktere Räume vordringt. Schon in der Elektrodynamik gehen wir mit 89
so unanschaulichen Größen um wie den elektrischen und magnetischen Feldern. Ihr Zusammenhang wird durch die Maxwellgleichungen beschrieben, die ebenfalls symmetrisch sind. Diese Gleichungen besagen u. a., dass ein sich änderndes elektrisches Feld ein magnetisches zur Folge hat, und umgekehrt. Aber was ist hier Ursache, was ist hier Wirkung ? Das können wir nicht mehr sagen, weil unser eingreifendes Handeln in die Welt dort kein konkretes Objekt mehr vorfindet. Elektrische und magnetische Felder können wir nicht wahrnehmen, geschweige denn direkt manipulieren, und in den darauffolgenden höherstufigen physikalischen Theorien werden die Verhältnisse immer abstrakter und entfernen sich immer weiter von unserer Lebenswelt, und so entgleitet uns die Ursache-Wirkungs-Beziehung vollständig. In der Quantentheorie hat man versucht, Kausalität parasitär an den Messprozess anzuhängen. Tatsächlich kommt durch den Messprozess eine Asymmetrie in die Quantentheorie hinein. Aber dann haben wir wieder das eingreifende Handeln des Menschen, das diese Asymmetrie hervorbringt, und es ist völlig unklar, ob etwas Entsprechendes auch in der Natur geschieht, wenn die Menschen nicht eingreifen. Ein rein innerwissenschaftliches Schema hat der Physiker und Philosoph Michael Esfeld entwickelt, der den quantenphysikalischen Messprozess vom menschlichen Eingreifen ablösen wollte, aber sein Ansatz konnte allgemein so wenig überzeugen wie alle anderen auch. Wir haben also das Resultat, dass Kausalität von der Physik nicht unterstützt wird. Die von der Physik beschriebene Welt ist eine kausalitätsfreie Zone, aber sie ist fundamental. Wenn jedoch in den Fundamenten der Welt Kausalität nicht wirklich definiert ist, was soll dann die Behauptung, die Welt sei kausal geschlossen, wenn wir doch gar nicht wissen, worum es sich dabei handeln könnte ? Man bedenke, dass die Situation in der Biologie ganz anders ist. Lebewesen sind Agenten und durchbrechen dadurch die 90
Symmetrie physikalischer Gesetze. Frisst der Löwe eine Antilope, dann ist das Umgekehrte niemals der Fall. Aber in der lebendigen Natur sind wir bereits ontologisch gesehen ein Stockwerk höher, aber was wir bräuchten, wäre eine Definition von Ursache und Wirkung im anorganischen Bereich. Physikalisch gesehen ist die Natur in kausaler Hinsicht so bodenlos, wie sie sich in den Überlegungen zur Materie gezeigt hat. Wir können aus der Physik keine Weltanschauung ableiten, sie besteht nämlich nur aus einem System mathematischer Relationen und lässt die Relate unbestimmt. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat dies vor 200 Jahren geistreich auf den Punkt gebracht : Das relationale Wissen der Physik, sagt er, ist zu vergleichen mit dem Besucher eines großen Festes, der gerne wissen möchte, mit wem er es zu tun hat. Also fragt er den Ersten, wer er sei, und erhält zur Antwort, er sei der Bruder jenes Menschen da drüben. Fragt er wiederum diesen, so erhält er zur Antwort, er sei der Vater des jungen Mannes, der dort hinten steht usw. Diese Gesellschaft definiert sich also nur durch Verwandtschaftsbeziehungen. Schließlich verliert der fremde Besucher die Geduld und fragt sich : „Wie zum Teufel komme ich eigentlich in diese ganze Gesellschaft ?“ Das heißt : Relationales Wissen lässt keine Was-Fragen zu. So wie die Physik nicht weiß, was Materie ist, weiß sie auch nichts über Kausalität. Nun spricht man aber seit David Hume von der Kausalität als von einem „Zement des Universums“, und diese Redeweise hat sich bei den Materialisten allgemein durchgesetzt. Darauf wurde schon im letzten Kapitel hingewiesen. Die Vorstellung ist die, dass das Universum entweder mit der Hilfe von Kausalität zusammenhängt oder gar nicht. Wo Kausalität keine Rolle spielt, zerfällt danach die Welt in den Staub zusammenhangloser Ereignisse. Man erinnert sich an den Psalm, wonach alles in Staub zerfällt, wenn Gott seine schützende Hand abzieht, und erkennt leicht in diesem Konstrukt einer alles verbindenden UrsacheWirkungs-Beziehung ein Surrogat Gottes. Aber wenn wir Humes 91
Begriffsbestimmung halten, würden durch die Abwesenheit der Kausalitätskategorie in der Physik die Fundamente des Seins zerbröseln, und das gibt uns einen Hinweis auf die Attraktivität dieses Kausalprinzips. Gilt das Kausalprinzip durchgehend, dann herrscht Ordnung in der Natur. Sie ist dann wie ein fest gegründetes Haus, in dem es sich wohnen lässt. Wir erkennen hier unschwer ein Nachfolgeprojekt der göttlichen Vorsehung. Wo wir Gott abschaffen, bleibt sein Thron nicht leer, sondern das metaphysische Bedürfnis der Menschen erfindet rasch einen Ersatz. Dies ist der Mythos der alles bestimmenden Kausalität. Dieser Mythos stabilisiert unsere Psyche. Mit Wissenschaft oder Philosophie hat das nichts zu tun, denn dieses Bedürfnis kommt aus dem Bauch, nicht aus dem Verstand. Es wäre jetzt aber noch der Vorwurf zu entkräften, dass eine Aufhebung der kausalen Geschlossenheit der Welt in abergläubische Vorstellungen leibfreier Geister hineinführt, die willkürlich in die Materie eingreifen und somit den Zusammenhang zerstören, auf dem alle Wissenschaft beruht. Wir könnten uns diesen Sachverhalt mit Hilfe des folgenden Gedankenexperiments deutlich machen : Nehmen wir zum Zwecke des Arguments an, es gäbe tatsächlich leibfreie Klopfgeister, die von Zeit zu Zeit in die materielle Welt eingreifen, um die Menschen zu erschrecken, also eine Art magischer Harry-Potter-Welt, wie sie die Materialisten ihren Gegnern so gerne unterstellen. Es gäbe also ein verwunschenes Schloss, in dem es von Zeit zu Zeit spukt und wo die Klopfgeister ihr Unwesen treiben, also Wesen von der Art, wie sich der Materialist gerne den Geist vorstellt. Eine Gruppe von Physikern unternähme es, diesen Sachverhalt zu überprüfen. Sie stellten Mikrophone auf und würden zweifelsfrei feststellen, dass in dem verwunschenen Schloss von Zeit zu Zeit merkwürdige Klopfgeräusche zu hören sind. Die Physiker würden aber deshalb noch längst nicht auf leibfreie Geister schließen, sondern auf eine natürliche Ursache, wie z. B. 92
Plattenverschiebungen im Erdinnern. Wenn sie diese Ursache ausgeschlossen hätten, würden sie auf vulkanische Aktivität tippen. Wenn sie auch das ausgeschlossen hätten, würden sie die Ursache in der Statik des Gebäudes vermuten. Sie würden glauben, dass Risse in dem Gemäuer bei einem bestimmten Winddruck solche Klopfgeräusche hervorrufen. Wenn sie auch diese Ursache ausgeschlossen hätten, würden sie weitere Hypothesen prüfen, und wenn all das nichts nützte, würden sie schließlich die Lust verlieren. Wozu soll es gut sein, so viel Zeit und Geld auf ein Phänomen zu verschwenden, das die Sache vermutlich nicht wert ist ? Die Physiker würden übereinkommen, dieses Phänomen ganz einfach auf sich beruhen zu lassen. Entweder es handelte sich um Zufallsereignisse oder um bislang nicht erkannte physikalische Zusammenhänge. Aber nie und nimmer würden sie auf leibfreie Klopfgeister schließen. Das heißt aber : Wenn wir den Materialisten maximal entgegenkommen und die grobschlächtige Vorstellung leibfreier Geistsubstanzen zulassen, dann wäre kein Physiker durch die Erfahrung gezwungen, ihre Existenz anzuerkennen. Und das würde in der Konsequenz darauf hinauslaufen, dass das Kausalgesetz nicht widerlegt werden kann. Aber was sich nicht widerlegen lässt, hat auch keine empirische Bedeutung. Jede Erfahrungswissenschaft muss Bedingungen angeben können, unter denen ihre Behauptungen falsch werden, d. h., sie muss falsifizierbar sein. Viele der neuen Materialisten geben als Falsifikationsinstanz leibfreie Geister an. Wenn es Klopfgeister gäbe, dann wäre ihre Weltanschauung verkehrt. Es hat sich aber gezeigt, dass selbst dann, wenn es solche Klopfgeister wirklich gäbe und wenn sie nachprüfbare und messbare Effekte produzierten, dass selbst in diesem günstigsten aller Fälle der materialistisch eingestellte Physiker niemals gezwungen wäre, ihre Existenz anzuerkennen, und das heißt eben : Das Kausalprinzip ist unwiderlegbar. Es handelt sich nicht um ein ontologisches Prinzip, das die Realität beschreibt, sondern um eine 93
Forschungsmaxime. Das Theorem von der kausalen Geschlossenheit der Welt beschreibt also nichts Existierendes, sondern es drückt eine Handlungsmaxime aus : Suche zu jedem materiellen Effekt eine materielle Ursache ! Finde ich diese Ursache, dann ist es gut, finde ich sie nicht, dann überlasse ich das Problem der zukünftigen Forschung oder ich wälze den unerklärlichen Rest auf den Zufall ab, den es auch sonst in der Natur gibt, und dann bin ich zufrieden. Nun zeigt sich, weshalb das Kausalprinzip durch das Schreckgespenst leibfreier Geister nicht etwa in Frage gestellt wird, wie die Materialisten behaupten. Die Klopfgeister sind launisch und sie klopfen, wann sie wollen. Auf einer physikalischen Ebene erscheint ihr Klopfen als zufällig, d. h., es fällt aus dem Erklärungsraster der Physik heraus, und da das Prinzip der kausalen Geschlossenheit nur eine Forschungsmaxime ist, wird sie durch solche Zufälle auch nicht in Frage gestellt. Der Materialist kann nicht widerlegt werden, und das ist eine Schwäche, wenn er darauf besteht, dass seine Weltanschauung auf Erfahrung beruht. Dies heißt mit anderen Worten : Wir können ohne Weiteres zugeben, dass das Kausalprinzip zwingend mit der Wissenschaft verbunden ist, ohne die weitere Konsequenz zu übernehmen, dass das Prinzip geistige Einflüsse auf die Welt ausschließt. Das Geistige ist eben kein legitimes Objekt der Physik, und Zufälle gibt es auch sonst genug in der Natur. Aber was ist dann mit dem Argument, dass geistige Einflüsse dem Energieerhaltungssatz widersprechen, dass also im Fall der Klopfgeister Energie aus dem Nichts entstehen müsste, wenn das Klopfen ein physikalischer Effekt sein sollte, dessen Ursache in einem rein geistigen Reich liegt, in dem es keine Energie gibt, die an die Materie gebunden wäre und die nicht aus dem Nichts erzeugt werden kann ? Dieses Argument ist sehr verbreitet, und viele halten es für evident, aber es hat ebenfalls seine Schwächen. Dieses Argument setzt nämlich voraus, dass Ursachen mit einem Energieübertrag verbunden sein müssen, um wirksam zu 94
werden. Das ist immer der Fall, wenn wir in die Welt eingreifen. Dann benötigen wir offenbar Energie. Aber wenn wir den Begriff der ‚Kausalität‘ auf das Physikalische anwenden, insofern diese Anwendung dort überhaupt plausibel ist, sehen wir sofort, dass Energieübertrag keine notwendige Bedingung für UrsacheWirkungs-Verhältnisse sein muss. Was ist z. B. die Ursache, weshalb die Planeten auf ihren Bahnen verbleiben und nicht etwa davonfliegen ? Es ist die Gravitationskraft, die von der Sonne ausgeht und die zur Folge hat, dass der Drehimpuls der Planeten konstant bleibt. Dabei wird keine Energie übertragen. Oder ein anderes Beispiel : Wenn ein radioaktives Atom zerfällt, macht es im Detektor ‚klick‘. Der Zerfall des Atoms ist also die Ursache für das ‚Klick‘. Aber dieser Zerfall ist nach der Quantentheorie nicht energetisch gepowert, sondern er ereignet sich rein zufällig und nicht etwa, weil das Atom energetisch angeregt wurde. Sollen wir deshalb darauf verzichten, den radioaktiven Zerfall für die Ursache des Klicks im Detektor zu halten ? Tatsächlich ist die Literatur höchst uneins, ob Ursachen notwendigerweise energetisch gepowert sein müssen, um ihre Wirkungen hervorzubringen. Manche nehmen das an, andere wiederum nicht. Das heißt aber : Es kann keine Rede davon sein, dass geistige Ursachen den Energieerhaltungssatz verletzen müssen, um zu wirken. Alles hängt eben vom Begriff der ‚Ursache‘ und der ‚Wirkung‘ ab, aber diese Begriffe sind notorisch unklar. Das Kausalprinzip in seiner ontologischen Interpretation zieht noch zahlreiche andere Einwände auf sich. Z. B. setzt es den Begriff der ‚Gleichzeitigkeit‘ fürs ganze Universum voraus, denn man argumentiert : Die Totalität der materiellen Bedingungen zu einem Zeitpunkt t1 hat notwendigerweise eine bestimmte Wirkung zum Zeitpunkt t2 zur Folge. Aber dann unterstellt man, dass der Begriff der ‚Gleichzeitigkeit‘ fürs ganze Universum definiert ist, wo doch Einstein gezeigt hat, dass Gleichzeitigkeit vom Beobachterstandpunkt abhängt. Das Kausalprinzip in seiner materialistisch-ontologischen Interpretation widerspricht 95
also, wie auch das Supervenienzprinzip, elementaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es handelt sich um eine bloße Erfindung, die einen Standpunkt rechtfertigen soll, den man von vornherein eingenommen hat und den man a priori für wahr hält. Wir können daher abschließend sagen, dass alle drei Prinzipien, die den Materialismus festlegen, naturwissenschaftlich gesehen in der Luft hängen. Sie beruhen auf dogmatischen A-priori-Entscheidungen. Der Materialist ist von vornherein von seiner Weltanschauung überzeugt. Er glaubt an Materie, Kausalität und Supervenienz, wie andere an Vater, Sohn und Heiligen Geist glauben, mit dem Unterschied, dass der religiös Gläubige weiß, dass sein Glaube nur Glaube und keine beweisbare Wissenschaft ist, während der Materialist ernstlich zu wissen glaubt, wo doch sein Glaube das Wissen bereits außer Kraft gesetzt hat. Man hat der Religion vorgeworfen, sie beruhe auf einem ‚sacrificium intellectus‘, d. h., man müsse seinen Verstand opfern, um an Gott zu glauben. Aber dagegen spricht die 2000-jährige Tradition der Theologie, die seit ihrem Entstehen bemüht war, die Vernünftigkeit des Glaubens nachzuweisen, so dass diejenigen, die ein solches Opfer des Verstandes forderten, Außenseiter waren. Es scheint aber, dass in Wahrheit das Opfer des Verstandes in die Fundamente des zeitgenössischen Materialismus eingelassen wurde, so dass er ohne dieses Opfer gar nicht existieren würde. Das erklärt übrigens seine Hartnäckigkeit. Man fragt sich doch, wie es kommt, dass intelligente Menschen diese auf der Hand liegenden Einwände gegen ihre Weltanschauung nicht zur Kenntnis nehmen. Das liegt eben daran, dass es sich um eine Weltanschauung handelt. Weltanschauungen sind oft irrational, d. h. argumentresistent. Sie haben eine stabilisierende Funktion im Haushalt der Psyche und sind aus diesem Grunde argumentresistent. Problematisch ist nicht, dass Menschen eine Weltanschauung haben. Das ist so notwendig wie Verdauung, Atmung oder Herzschlag. Problematisch ist, wenn sie es nicht 96
wissen oder nicht wissen wollen, dass sie insgeheim von der nachprüfbaren Wissenschaft zur Beliebigkeit der Weltanschauung übergegangen sind. Wir machen uns heute lustig über die Menschen des Mittelalters, dass sie an Hexen, Dämonen und Engel glaubten. Aber die drei genannten Prinzipien sind nicht weniger fiktiv. Dies gilt allerdings nur, wenn wir diese Prinzipien ontologisieren und materialistisch festklopfen. Wenn nicht, können wir auch einen sinnvollen Gebrauch von ihnen machen. Wir würden dann 1) darauf bestehen, dass der Begriff der ‚Materie‘ seinen Ursprung in der praktischen Erfahrung mit dem Stoff hat, nämlich als Ermöglichung der Realisation unserer Pläne und zugleich als ein Widerstand gegen sie. Die Physik wäre dann die Wissenschaft, die die Eigenschaften der Materie untersucht, und hier kann man unumwunden zugeben, dass sie ungleich mehr über diese Eigenschaften weiß, als wir erträumen könnten, wenn wir praktisch mit dem Stoff umgehen. Wir würden 2) pragmatisch mit dem Supervenienzprinzip umgehen. Wo es passt, passt es, wo es nicht passt, passt es eben nicht, und wir würden auch 3) den Begriff der ‚Kausalität‘ variabel gebrauchen. Es gibt keinen homogenen „Zement des Universums“, sondern nur pragmatisch zu bestimmende Formen von Kausalität. Einmal würden wir als Relate der Kausalitätsrelation Dinge annehmen, so wenn ein Stein die Fensterscheibe trifft. Wir würden in solchen Fällen ein deterministisches Gesetz unterstellen. In anderen Fällen würden wir als Relate Ereignisse zulassen, wie bei der Atombombe und E = mc2. In anderen Fällen würden wir von bloß statistischen Gesetzen ausgehen, wie oft in der Medizin, aber auch in der Mikrophysik und in anderen Fällen würden wir von einer singulären Form von Kausalität ausgehen, die gar keinem Gesetz genügt, weder einem statistischen noch einem deterministischen. Wenn mir ein einziges Mal in meinem Leben die Hand ausgerutscht ist, so dass ich jemanden ohrfeigte, dann gibt es dafür keine Gesetzmäßigkeit. Es ist eine singuläre Form von Kausalität, die übrigens als Relate Personen hat. Wieder ein 97
neuer Fall. Unser Umgang mit den Begriffen ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ wird also rein pragmatisch bestimmt sein und von daher wird es uns nicht stören, wenn die Physik keinen Kausalitätsbegriff kennt. Es genügt uns, wenn die Physik in ihrer Anwendung kausal interpretiert werden kann. Aber wenn wir auf diese Art die drei Prinzipien variabel bestimmen, dann taugen sie nicht mehr als Basis für einen weltanschaulichen Materialismus. Sie verweisen auf uns Menschen zurück, die wir psychosomatische Wesen sind mit einem geistigen und einem materiellen Pol. Der Materialismus hätte ausgedient.
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5. Essentialismus und die Aufhebung der Moral a. Die Trennung von Theorie und Praxis In diesem Kapitel wollen wir ein ernstes Problem behandeln, nämlich die Aufhebung der Moral durch die Wissenschaft. Das schrecklichste Beispiel dafür ist die Atombombe. Wir können zeigen, dass diejenigen Physiker, die sie erstmals entwickelt haben, zumeist nicht von moralischen Skrupeln geplagt wurden. Die Rüstungstechnologie folgt der Forschung wie ein schwarzer Schatten. Dies ist nicht zwingend. Kein Forscher muss sich am Rüstungsgeschäft beteiligen. Man kann aber zeigen, dass die moralische Verantwortung dann außer Kraft gesetzt wird, wenn wir den Anspruch stellen, Naturwissenschaft gehe auf das Wesen der Dinge, ein Anspruch, der sehr oft erhoben wird. Weil Naturwissenschaft einen sehr formalen Weltbezug hat, der keine Werte enthält, verschwinden die Werte ganz vor unserem Blick, wenn wir der Meinung sind, dass die Naturwissenschaft bereits alles Wesentliche enthält, was wir über die Welt wissen können. Das ist ungefähr so, wie manche Banker sich einreden, es sei alles in Geldwerten messbar und der Sinn des Lebens bestehe darin, wie Dagobert Duck immer mehr Geld anzuhäufen. Wenn das Geld der ausschließliche Maßstab für den Wert der Dinge ist, dann entgleiten uns alle Inhalte, auf die es ankommt. Die Bankenkrise von 2007 hat uns das sehr drastisch vor Augen geführt. Die Idee, dass die Naturwissenschaft alles Wesentliche, Wissbare über die Welt bereits enthält, ist allerdings sehr verbreitet. In den angelsächsischen Ländern ist sie Standard, und man könnte deshalb die naheliegende Frage stellen, weshalb denn die 99
Naturwissenschaft nicht aufs Wesen der Dinge gehen sollte. Das Wesen des Wassers ist H2O, das Wesen des Blitzes ist die elektrische Entladung, so liest man beständig und könnte hinzufügen : Das Wesen des Lebendigen ist die DNA, das Wesen des Geistes ist das Gehirn usw. Warum sollte dies verkehrt sein ? Der Grund ist sehr einfach : Die Naturwissenschaft ändert sich ständig. Das Wesen aber muss stabil bleiben. Die Mathematik ist dafür das beste Beispiel. Ein Kreis ist eine ebene Figur, die von einem gegebenen Punkt immer denselben Abstand hat. Diese Definition ist unveränderlich und sie trifft das Wesen dieser Figur. Zeigt mir jemand einen Kreis mit Ecken, dann bestreite ich, dass es ein Kreis ist. Die genannte Definition des Kreises gibt also notwendige und hinreichende Bedingungen für diese Figur, und deshalb lässt sich einer solchen Definition nichts abhandeln. Karl Popper hat darauf aufmerksam gemacht, dass die strengen Wesensverhältnisse der Mathematik, die absolut notwendig sind, schon in der angewandten Mathematik fraglich werden : Seine Beispiele : Wenn wir aus einer Flasche 5 + 7 Tropfen herausträufeln lassen und sie wieder einfüllen, dann kommen das nächste Mal nicht notwendigerweise 12 Tropfen heraus, sondern vielleicht 11 oder 13. Oder wenn wir zwei Karnickel in einen Korb legen, dann sind es am Ende vielleicht vier, weil sie inzwischen Junge bekommen haben. Die Präzision der Mathematik verwischt sich in ihrer Anwendung. Und wie ist es mit der Physik ? Im 18. Jahrhundert glaubte man, dass Gravitation das Wesen der physikalischen Kraft sei. Im 19. Jahrhundert kamen Elektrizität und Magnetismus hinzu. Ende des 19. Jahrhunderts waren die besten Physiker davon überzeugt, dass die Physik im Prinzip vollendet war und dass es nur noch darum ging, die bestehenden Grundgleichungen auf besondere Fälle anzuwenden. Doch dann entdeckte man im 20. Jahrhundert die Kernkräfte, starke und schwache Wechselwirkung, und so scheint das immer weiter zu gehen. Von einem 100
feststehenden Wesen kann hier keine Rede sein, und das gilt für alle der oben genannten Beispiele. Das Wesen des Lebendigen ist die DNA ? Das hat man lange geglaubt, aber die Systembiologie hat dieses Dogma widerlegt. Das Wesen des Geistes ist das Gehirn ? Das glauben manche heute noch, aber es zeigt sich, wie bei der DNA, dass das Gehirn mit dem Leib und der sozialen und naturalen Umgebung in einer Wechselwirkung stehen muss, um Geist hervorzubringen. Auf diese Art ändern sich die Auffassungen der Wissenschaft ständig, und man hat keine Chance, Wesensverhältnisse a-historisch festzuklopfen, sooft man das auch versucht hat, weil die Menschen das Endgültige lieben. Jedenfalls fällt auf, dass der Essentialismus in der Naturwissenschaft eine unglaubliche Resistenz hat, obwohl er dort am allerwenigsten hingehört. Der skeptische amerikanische Philosoph Richard Rorty zweifelt praktisch an allen Gewissheiten der philosophischen und religiösen Tradition. Für ihn ist der Mensch ein geschichtliches Wesen durch und durch. Alles ändert sich und wird durch die Gesellschaft mal so, mal anders festgelegt. Er ist also überzeugter Relativist, der die Kontingenz all unseres Handelns und Erkennens nicht oft genug betonen kann. Die traditionelle Rede vom ‚Wesen der Dinge‘ ist für ihn erledigt. Nichts hat ein Wesen. Aber derselbe Relativist Richard Rorty besteht darauf, dass die Naturwissenschaft das Wesen der Dinge auf den Punkt bringt, im krassen Widerspruch zu allem, was er ansonsten gelehrt hat. Man wird dieses Festhalten an den Wesensbestimmungen in der Naturwissenschaft überall im angelsächsischen Bereich finden. Wenn wir schon an nichts mehr glauben, dann glauben wir wenigstens noch an die Physik. Tatsächlich enthalten weder die Physik noch die Chemie und Biologie oder die Informatik und Kybernetik Aufschluss über das metaphysische, innere Wesen der Dinge. Dafür sind sie einfach nicht gemacht. Diese Wissenschaften liefern uns gleichsam die Umrisszeichnungen der Realität. Je schärfer sie diese Um101
risse zeichnen, desto eher verschwinden die Qualitäten vor unserem Blick. Wenn man z. B. sagt, das Wesen der Farben seien elektromagnetische Wellen, messbar in Nanometern, dann enthält diese Definition nichts von den Erlebnisqualitäten, die mit den Farben verbunden sind. Wir haben ja doch eine gewisse Rot-, Blau- oder Grünempfindung. Es wurde oft gesagt, dass diese Empfindungen nicht zur Sache gehören, sondern dass sie rein subjektive Zustände seien, wie z. B. der Geschmack von Gulasch. Aber diejenigen, die so argumentieren, sind gewöhnlich dieselben, die sich gerne auf Darwin berufen. Doch das geht nicht gut zusammen. Wenn bestimmte Farben mit bestimmten Erlebnisqualitäten korreliert sind, dann hätte sich diese Korrelation niemals evolutionär herausbilden können, wenn sie keinen Überlebensvorteil gehabt hätte. Ein Wesen, das mit seinen Sinnesreizungen Erlebnisqualitäten verbindet, denen überhaupt nichts entspricht, wäre längst ausgestorben. Wenn das aber so ist, dann können elektromagnetische Wellen nicht das Wesen der Farbe sein, denn in der physikalischen Beschreibung fehlt etwas Wesentliches, und wir werden sehen, dass sogar ein bedeutender Physiker wie Werner Heisenberg dem Rechnung trägt. Aus diesem Grund spricht all dies nicht gegen die Naturwissenschaft. Wir kommen nicht weiter ohne sie. Es spricht einzig und allein gegen den sinnlos überhöhten Geltungsanspruch, Naturwissenschaft enthülle das verborgene Wesen der Dinge. An diesem Anspruch ist schon die klassische Metaphysik gescheitert, und wir müssen deshalb etwas weiter ausgreifen, um die Engführung, in der wir uns befinden, zu begreifen. Es geht darum, die Überschätzung der Theorie gegenüber der Praxis zu begreifen, und die hat eine lange Geschichte, denn die Überschätzung der Theorie gegenüber der Praxis ist ein griechisches Erbe. Für Plato und Aristoteles war das ‚theorein‘, die ‚Schau‘, das Höchste im Leben. In ihrem Denken spielte allerdings die Theorie eine ganz andere Rolle als heute. Die Theorie, die Schau, war bei den Griechen zweckfreie Kontemplation. Einen solchen Theoriebegriff 102
haben wir heute nicht mehr. Theorie ist für uns = Naturwissenschaft, distanzierte Betrachtung, vermittelt durchs Experiment, und zugleich Grundlage für unsere technische Weltbewältigung. Das heißt also, dass sich die Bedeutung des Theoriebegriffs seit den Griechen um 180º gedreht hat. Bei ihnen ging es um passive, zweckfreie Betrachtung, heute geht es um aktives Eingreifen. Kontemplation spielt in unserer Kultur kaum eine Rolle mehr. Wir sind zumeist hektisch damit beschäftigt, Produktion und Konsumtion am Laufen zu halten, und die Theorien, die an den Universitäten produziert werden, dienen meist dem Zweck der industriellen Vermarktung. Man hat zu Recht gesagt, dass es heute sehr schwerfallen würde, Albert Einstein an der Universität zu halten. Er interessierte sich nämlich nicht für praktisch verwertbares Wissen, sondern dachte jahrzehntelang nach über das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie. Seine Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt den Kosmos als Ganzes. Das hat weiter keinen praktischen Nutzwert. Heute wird aber fast alles nach seinem Nutzwert taxiert, und wenn sich ein junger Physiker für Allgemeine Relativitätstheorie interessiert, dann rät man ihm ab : Das ‚bringt nichts‘ und wird auch nicht weiter finanziell unterstützt. Unsere modernen Theorien sind das Gegenteil von dem, was man in der Antike oder im Mittelalter so genannt hätte. Damals glaubte man – und wohl zu Recht –, dass der Mensch die Ruhe pflegen sollte. Der Mensch war nicht das Maß aller Dinge, sondern das Sein eignete sich ihm erst dann zu, wenn er schwieg. Eine solche Haltung gestatten wir uns höchstens noch am Sonntagnachmittag zur Erholung, also auch wieder als Mittel zum Zweck. Werktags aber übertönen die Hektik des Verkehrs oder der Arbeitswelt und die allzeit dudelnden Radios und Fernseher die Stille, auf die wir nicht mehr zu hören gewohnt sind, und wer sich einfach nur hinsetzt und denkt, tut ja nichts und trägt nicht bei zum Bruttosozialprodukt ; deshalb spielt er zumindest 103
mit seinem Handy, damit er etwas zu tun hat, oder er setzt seinen Walkman auf, damit er ja nicht von der Stille gestört wird. Kontemplation war auf das Wesen der Dinge gerichtet. Die Vorstellung war vorherrschend, dass sich uns dieses verborgene Wesen der Dinge nur dann zueignet, wenn wir schweigen. Das ist zunächst einmal eine religiöse Grundhaltung, die aber philosophisch eingemeindet und umfunktioniert wurde. Diese Verschiebung von der Intuition zum Intellekt ist aber nicht unproblematisch. In Ostasien hat es so etwas nie gegeben. Dort wird die Kontemplation nicht intellektualistisch verfremdet, was ihre hohe Attraktivität für den westlichen Menschen erklärt. In Ostasien finden wir das Gegenteil unserer selbst. Im Westen aber hat sich schon früh der Intellekt der Kontemplation bemächtigt, um sie in ein System philosophischer Begriffe und Prinzipien zu verwandeln. Die Zielvorstellung hinter all dem ist leicht nachvollziehbar, obwohl sie vermutlich auf einem Irrtum beruht : Die Welt ist bunt, chaotisch und unvorhersehbar, sie produziert Glücks-, mehr noch Unglücksfälle, und wir haben deshalb eine leicht zu verstehende Sehnsucht, den Schleier der Phänomene hinwegzuziehen, um ihr verborgenes und ihr bleibendes Wesen zu erkennen. Die klassische Metaphysik, die im Abendland fast 2000 Jahre vorherrschend war, suchte im Wesen der Dinge das Beharrende, sozusagen die Spielregeln des Kosmos. Wenn ich z. B. Schach spiele, dann ist jede Bewegung kontingent ; jede könnte auch ganz anders sein, während die Regeln des Spiels gleich bleiben. In diesem Sinn suchte die alte Metaphysik den bleibenden Sinn in der Flut der Erscheinungen. Das Wissen sollte notwendig sein, so wie man notwendigerweise die Regeln des Schachspiels einhält, wenn man das Spiel ernstlich spielen will. Dieses apriorische Wissen ging also auf das Wesen der Dinge, das man sich als ewig, d. h. als notwendig, vorstellte. Übrigens gewinnt an dieser Stelle der Begriff der ‚Notwendigkeit‘ seinen eigentlichen Sinn wieder : Die Erkenntnis des bleibenden Wesens wendet die Not der stets wechselnden Erfahrung und ihres bedrohlichen 104
Charakters. Für den Philosophen hatte alles ein verborgenes Wesen, aber er war imstande, dieses verborgene Wesen zu erkennen, und so konnte er jedem Phänomen den richtigen Ort im Gesamt der Dinge zuweisen, und die Ordnung, die er erkannt hatte, war ewig : „sapientis est ordinare.“ Dies war ein schöner Traum, aber er ist spätestens im 20. Jahrhundert zerplatzt. Schon Ende des 18. Jahrhunderts ließ Kant die Alarmglocken läuten. Wie, so fragte er, kommt es, dass die Philosophen alle paar Jahrzehnte ein neues System entwickeln, dass sie jedes Mal mit dem Anspruch auftreten, die endgültige Wahrheit auf den Punkt gebracht zu haben, dass sie sich aber ständig widersprechen ? Hier stimmte etwas ganz Entschiedenes nicht. Kant hat deshalb dem Menschen die Einsicht in das verborgene Wesen der Dinge abgesprochen und verwies ihn auf die Naturwissenschaft und ihre experimentell kontrollierbaren Resultate und deren Voraussetzungen. Die Philosophie stutzte er auf bloße Erkenntnistheorie herab. Aber es half nicht viel. Schon zu Lebzeiten Kants fingen Fichte, Schelling, vor allem aber Hegel wieder an, Metaphysik im alten Stil zu treiben, aber mit einem noch höheren Geltungsanspruch. Für Hegel brachte die Philosophie die Gedanken Gottes vor Erschaffung der Welt zum Ausdruck. Das hat dann im 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die Philosophie insgesamt in Misskredit geriet, und von diesem Schlag hat sie sich bis heute noch nicht erholt, selbst wenn die zeitgenössischen Philosophen nicht mehr mit derart überhöhten Geltungsansprüchen auftreten. Wozu rufen wir all dies in Erinnerung zurück ? Können wir nicht diese alten Geschichten Geschichte sein lassen, um uns entscheidbaren Fragen zu widmen, die uns heute eher interessieren ? Mit einem solchen Befremden reagieren die meisten Zeitgenossen. Es gibt aber mehrere Gründe, sich an die Geschichte der Metaphysik zu erinnern. 1) Sind in den spekulativen Systemen der Vergangenheit auch tiefe Wahrheiten enthalten, die wir uns nicht ersparen sollten. 105
Dazu gehört auch 2) die von ihnen gelehrte Verschränkung zwischen Theorie und Praxis, die uns heute abhandengekommen ist ; und 3) wird sich zeigen, dass wir die Sehnsucht nach dem konstanten Wesen der Dinge keineswegs losgeworden sind, sie hat sich einfach nur in die Naturwissenschaft hinein geflüchtet, wo sie inkognito geht. Aber wenn man die eigene Geschichte ignoriert, wird man auch die eigene Gegenwart missverstehen und ist gezwungen, die alten Fehler zu wiederholen. Alle klassischen philosophischen Systeme gehen davon aus, dass Theorie und Praxis zwingend aufeinander bezogen sind. Bei Plato sind die Ideen die transzendenten Objekte des Verstandes in seinem theoretischen Bemühen. Doch die höchste Idee ist die Idee des Guten, die allem Seienden Wert verleiht und in der zugleich die Sittlichkeit des Menschen begründet ist. Praxis hat ihren Ort im Herzen der Theorie. In diesem Sinn sind Theorie und Praxis durch die gesamte Geschichte der abendländischen Metaphysik hindurch immer miteinander verbunden. Hegel, in dem viele den Höhepunkt dieser Geschichte der Metaphysik sehen, überblendet auf allen Ebenen seiner spekulativen Philosophie immer zugleich theoretische und praktische Gesichtspunkte. Das ändert sich mit der kulturellen Dominanz der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert. Philosophen, die sich an ihr orientieren, verzichten oft ganz auf die praktische Philosophie, wie z. B. Rudolf Carnap oder Williard van Orman Quine. Das ist etwas ganz Ungewöhnliches : In der gesamten Geschichte der Philosophie stand Praxis fast immer im Mittelpunkt und nun scheint sie bei manchen ganz zu fehlen ! Weil das wenig überzeugend ist – wir sind ja gezwungen zu handeln –, hat man an den Universitäten eine glatte Zweiteilung eingeführt. Man ist entweder praktischer oder theoretischer Philosoph, und die Lehrstühle werden auch separat ausgeschrieben. Die Metaphysik gehört jetzt zur theoretischen Philosophie und hat mit Moralbegründung nichts mehr zu tun. Dies ist die Aufgabe einer davon getrennten praktischen Philosophie. Wie 106
kommt es aber zu einer solchen ungesunden Trennung zwischen Theorie und Praxis ? Sie wird durch den wissenschaftlichen Zugriff ständig neu produziert ! In der Einleitung war von einer ‚kollektiven Egozentrik‘ die Rede, die für jedes Zeitalter gilt, also auch für unseres. Unsere heutige Egozentrik besteht wesentlich darin, zu glauben, dass wir Wissenschaft und Technik frei Haus bekommen. Wir machen in beiden Bereichen ständig Fortschritte, aber dass dieser Fortschritt seinen Preis hat, kommt uns nur selten zu Bewusstsein und dann eher in Bezug auf die Technik als auf die Wissenschaft. Die Technik greift konkret in die Welt ein, und so können wir sehen, wenn etwas schiefläuft. Die wissenschaftliche Theorie gibt sich dagegen unschuldig. Das Wissen ist von Hause aus metaphysisch harmlos, so unsere Überzeugung. In Wahrheit wirft alles seinen Schatten, und das gilt auch für die Theorie. Ihre Vorteile, ihr Triumph stehen uns ständig vor Augen, aber der dunkle Schatten, den sie wirft, kommt uns nur selten zum Bewusstsein. Dieser dunkle Schatten der Naturwissenschaft ist aber die direkte Konsequenz des hellen Lichtes, das sie im selben Maße verbreitet. Es ist hier wie überall. Wo Licht ist, ist auch Schatten, und wo viel Licht ist, ist umso mehr Schatten, und dieser Schlagschatten, den die Naturwissenschaft wirft, ist einfach nur die Kehrseite ihres Triumphes, der Fähigkeit nämlich, zu objektivieren. Naturwissenschaft erzeugt objektives, überprüfbares, reproduzierbares Wissen. Der Preis dafür ist die Verdrängung des Praktischen, Werthaften, das nun keine Rolle mehr spielt. Kein Physiker wird behaupten, Elektrizität sei wertvoller als Gravitationskraft, weil sie repulsiv und attraktiv zugleich ist, während die Gravitationskraft nur in der einen Richtung wirkt. Kein Biologe wird behaupten, Pandabären seien wertvoller als Spinnen oder Fledermäuse, weil sie schnuckeliger sind, während wir uns vor Spinnen oder Fledermäusen ekeln. Dass der Naturwissenschaftler solche Werturteile meidet, hat den einfachen Grund, 107
dass sie allzu subjektiv sind. Ich könnte ja auch Magnetismus oder Quallen und Würmer vorziehen oder eine Schwäche haben für Mondfinsternisse. Die Wertfreiheit der Wissenschaft betrifft selbstverständlich nur die Objekte. Als Handelnder ist auch der Wissenschaftler eingelassen in ein sozial bestimmtes System von Zielen, Werten, Zwecken und Normen. Diese sollen aber bei der Beschreibung der Objekte keine Rolle spielen. Das heißt also : Wir als praktisch Handelnde treten in einen Gegensatz zu den Objekten, die wir neutral beschreiben. Während wir nicht umhinkönnen, bestimmte Werte für gültig zu erachten, erstirbt das Werthafte in den Objekten, die wir beschreiben. In der Biologie geht das so weit, dass ein Darwinist niemals behaupten wird, irgendein Lebewesen sei besser als das andere. Biologisch gesehen, stehen sie alle auf ein und derselben Stufe. Diese Wertneutralität des Objektes hat zur Folge, dass uns die Naturwissenschaften im Regen stehen lassen, wenn wir wissen möchten, nach welchen Prinzipien wir handeln sollten. Schreibt Albert Einstein seine berühmte Formel E = mc2 an die Tafel, dann wissen wir nicht, ob wir Atomkraftwerke oder Atombomben bauen sollen, obwohl beide nach dieser Formel funktionieren. Moderne Theorien haben also eine Eigenschaft, die die traditionell metaphysischen Theorien nicht hatten : Sie grenzen Praxis aus. Das praktische Handeln steht nun plötzlich auf einem ganz anderen Blatt. All dies sind keine rein akademischen Fragen. Letztlich geht es nämlich um Sein oder Nichtsein. Das lässt sich gerade an der Frage nach der Atomkraft verdeutlichen.
b. Technologische Barbarei Während des Dritten Reiches kamen die Amerikaner zu der Überzeugung, dass die Deutschen an einer Atombombe arbeiteten, was sich später als wahr herausstellte. Allerdings wusste 108
der amerikanische Geheimdienst spätestens seit 1944, dass die Deutschen nicht in der Lage waren, eine solche Bombe zu produzieren. Sie hatten einfach nicht die nötigen Mittel. Beim amerikanischen Projekt zum Bau der ersten Atombombe, dem s ogenannten „Manhattan-Projekt“, arbeiteten zeitweise 150 000 Menschen, und an deren Spitze standen die besten Physiker der Welt. So viele Mittel standen dem Deutschen Reich nicht zur Verfügung, „Gott sei Dank“, möchte man sagen. Es war übrigens Albert Einstein, der weltbekannte Pazifist und Humanist, der Präsident Roosevelt davon überzeugte, dass die Amerikaner eine Atombombe bauen sollten, was er später bereute. Die Amerikaner hatten die besten Physiker zu ihrem Megaprojekt eingeladen mit der verführerischen Aussicht, beliebige Summen und die besten Laboratorien zur Verfügung zu stellen, um ein Team von Spitzenphysikern zu bilden. Das überzeugte jeden und moralische Skrupel spielten alsdann keine Rolle mehr. Auch nach der Explosion der ersten Atombombe war es nur eine kleine Minderheit von Physikern, wie Hans Bethe und Robert Oppenheimer, der Leiter des Projekts, die von Skrupeln befallen wurden. Die anderen schienen damit keine Probleme zu haben. Sogar Einstein, der berühmte Pazifist und Humanist, bedauerte zu diesem Zeitpunkt, nicht am Projekt beteiligt worden zu sein. Auch er hätte zu gerne an der Atombombe mitgewirkt. Man verzichtete aber auf seine Mitwirkung, weil er politisch links stand und weil man befürchten musste, dass er die Geheimnisse an die Russen verraten würde. Das amerikanische Atombombenprojekt, das sinnigerweise ‚Trinity Project‘ hieß, war offenkundig für die beteiligten Physiker so etwas wie ein großes Experiment zum Test ihrer Theorien oder wie ein großes Spielzeug. Immerhin hieß eine der ersten Bomben „gadget“, was so viel heißt wie „Spielzeug“, und die erste, über Hiroshima abgeworfene Bombe hieß verniedlichend „Little Boy“. 109
Praktisch alle am Manhattan-Projekt beteiligten Physiker verdrängten den militärischen Kontext, in den sie sich verstrickt hatten, und sahen das Ganze wie eine große Versuchsanordnung zum Test ihrer Theorien. Die Theorie hatte wieder einmal über die Praxis gesiegt. Dass sie im Begriff waren, die verbrecherischste Waffe aller Zeiten zu bauen, war nicht in ihrem Fokus. Wie konnte so etwas geschehen ? Wie konnte ihnen eine so offenkundige Tatsache verborgen bleiben ? Einen Schlüssel dazu liefern die Schriften bedeutender Physiker, wie die von Max Planck und Albert Einstein. Max Planck hat einiges zum Verhältnis Naturwissenschaft und Religion geschrieben, in denen er behauptete, dass es zwischen beiden keinen Gegensatz gebe. Seine Vorstellung war die, dass der religiöse Mensch mit seinen Geisteskräften in die Tiefen des Seins vordringe und dass die Physik im Grunde dasselbe tun würde. Beide, der religiöse Mensch und der Physiker, verlassen die oberflächliche Welt der bloßen Phänomene und steigen zu den Wesensgründen des Seins hinab und sie treffen sich dort im selben Objekt. Religion = Wissenschaft. Diese Vorstellung ist höchst merkwürdig. Man wird ohne Weiteres zugeben, dass der Physiker in die Tiefen der Materie hinabzoomt, aber nähert er sich damit zugleich den Wesensgründen des Seins, nähert er sich Gott ? Dies anzunehmen ist sehr weit hergeholt und tatsächlich war Max Plancks Vorstellung von Religion etwas gewöhnungsbedürftig. Rein nominell war er ein evangelischer Christ, zeitenweise sogar Vorsitzender im Gemeinderat seiner Kirche, aber es ist bekannt, dass er niemals betete, dass Jesus Christus für ihn keine Rolle spielte und dass ihm alles Personale der christlichen Religion ewig fremd blieb. Dies ist nicht weiter erstaunlich. Wir haben gesehen, dass Naturwissenschaft wertfrei ist, was ihre Objekte anbelangt. Das wissenschaftliche Objekt eröffnet also keine Sinnperspektiven, keine Normen, keine Ziele oder Zwecke oder allgemein keine Werte, d. h., all das, was unser personales Handeln in einen Sinnhorizont hi110
neinrückt, fällt hier aus. Dann ist es aber nicht erstaunlich, dass der so gesonnene Physiker mit dem Personalen der christlichen Religion nichts anfangen kann. Er kann auch nichts mit ihrem geschichtlichen Charakter anfangen. Die Naturgesetze sind ungeschichtlich und Max Planck war Determinist, was Geschichtlichkeit a priori ausschließt. Er hat sich also seine Religion ziemlich formal und eigenwillig zurechtgelegt. Auch Albert Einstein hatte eine ganz ähnliche Grundeinstellung. Auch für ihn ging das Sein in seinem physikalisierbaren Aspekt auf. Auch er glaubte, dass die Physik die eigentliche Wahrheit über die Welt enthält. Da in seiner Physik die Zeitkoordinate eine ähnliche Rolle spielt wie die Raumkoordinaten, leugnete er alles Werden. Alle Veränderung, alles Geschichtliche spielte sich nur in den betrachtenden Subjekten ab, so ähnlich wie wir nicht glauben werden, dass der Geschmack von Gulasch eine objektive Qualität des Fleisches ist. Er entsteht erst auf der Zunge. In diesem Sinn betrachtete Einstein alle Veränderung als eine rein subjektive Erfahrung unserer Innenwelt. Die objektiv existierende Welt enthielt dagegen kein Werden. Wir nennen das heute auch das ‚Blockuniversum‘. Wie Planck, so lehnte daher auch Einstein alles Personale ab. Sein Weltmodell enthält nur physikalische Größen und naheliegenderweise ebenfalls keine Ziele, Werte, Zwecke oder Normen. Was Einstein ‚Gott‘ nennt, ist im Grunde nur der Garant der Berechenbarkeit von Welt. Er hat sich deshalb öfters zu Spinoza bekannt. Bei Spinoza liegt der Welt des Werdens eine ewige, ideell bestimmte Seinsstruktur zugrunde, in der sich nichts ändert und die auch keinen personalen Charakter hat. Folglich gibt es auch bei Spinoza keine Finalursachen und keinen persönlichen Gott. Der Spinozismus Einsteins gibt einen Hinweis auf die philosophisch-weltanschaulichen Hintergründe solcher Physiker. Was wir oben über die klassische Metaphysik gesagt haben, dass sie nämlich beansprucht, das Wesen der Dinge zu erkennen, ist hier 111
in die Physik hineingewandert. Anstelle der Spekulation soll nun die empirische Wissenschaft den Zugang zum verborgenen Wesen der Dinge eröffnen. Von daher war es sehr wichtig, an die alte Metaphysik zu erinnern. Ihr Grundanliegen ist nämlich nahtlos auf die Naturwissenschaft übergegangen. Sie ist heute der Platzhalter des Seins und Wesens, auch wenn es viele nicht so nennen. Diesen problematischen Übergang hat als einer der wenigen Martin Heidegger kritisch reflektiert. Für Heidegger ist der Positivismus die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln und in seinem ersten großen Werk, „Sein und Zeit“, macht er deshalb die Gegenrechnung auf : Der Mensch ist von Hause aus ein Werdender und das starre Sein der Physik und Metaphysik ist eine bloße Abstraktion. Für Einstein hingegen ist die Zeitlosigkeit der physikalischen Gesetze ein Trost in den Wechselfällen des Lebens, die für ihn wie substanzlose Schatten sind. Das Eigentliche ist das starre Sein physikalischer Gesetze, und diese ändern ihre Gestalt in der Zeit nicht. Wir sehen, was hier geschieht : Die ewige Sehnsucht des Menschen, den Wechselfällen des Lebens nicht länger ausgesetzt zu sein, die Sehnsucht nach dem Eigentlichen, Wesenhaften, nach dem Stabilen, Unveränderlichen hat sich von der Metaphysik in die Physik hinein verlagert. Man hat zu Recht vom Menschen als einem ‚animal metaphysicum‘ gesprochen. Es scheint, dass der Mensch eine unausrottbare Sehnsucht nach dem Stabilen, Ewigen hat, eine Sehnsucht, die wohl ihr Identifikationsobjekt ändert, über das Dass dieser Sehnsucht wird aber nicht verhandelt. Sie gehört zum Menschen wie Liebe, Lust und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn oben gesagt wurde, dass die traditionelle Metaphysik sich mit uneinlösbaren Geltungsansprüchen belastete, wenn gesagt wurde, dass sie versuchte, die Kontemplation in ein handhabbares Resultat zu verwandeln, und dass dies zu ihrem Niedergang geführt hat, dann ist der Übergang von der Metaphysik zur Physik noch problematischer, denn die Erfahrungs112
wissenschaft ist von vornherein ungeeignet, unsere weltanschaulichen Sehnsüchte zu befriedigen. Es scheint aber, dass dies der Schlüssel für die erschreckenden Phänomene ist, die sich beim Manhattan-Projekt offenbarten. Wenn der Physiker davon überzeugt ist, dass seine Formeln das verborgene Wesen der Dinge zum Ausdruck bringen, dann wird alles andere sekundär. Die Welt des Handelns erscheint nun wie eine kontingente Außenrelation, wie ein dudelndes Radio im Hintergrund, das keine Bedeutung mehr hat. Worum es nun eigentlich geht, ist jetzt die Erkenntnis der verborgenen Zusammenhänge in den Tiefen der Materie. Dort liegt die Wahrheit und unsere praktische Lebenswelt degeneriert zum wesenlosen Schein. Einer der bedeutendsten Physiker, die beim Manhattan-Projekt mitarbeiteten, war der Nobelpreisträger Richard Feynman. In der über 700 Seiten starken Biographie des Wissenschaftsjournalisten James Gleick findet man nicht das geringste Bedauern über die Mitwirkung am Bau der Atombombe. Auch Feynman war nur und ausschließlich an Physik interessiert. Alles Praktische blieb bei ihm außen vor. Wir könnten eine solche Existenzform tolerieren, ja schätzen, wenn wir daran denken, welche wertvollen Ergebnisse Feynman zutage gefördert hat. Wir könnten weiter darauf hinweisen, dass auch Künstler oft genug nichts anderes mehr wahrnehmen als ihre Kunst. Mozart war extrem unpraktisch und unpolitisch. Das macht seine Kunst nicht weniger genial. Aber was wir nicht tun sollten ist, die extreme Grundhaltung solcher Künstler oder dieser Nur-Wissenschaftler zu übernehmen. Tatsächlich finden wir insbesondere in der angelsächsischen Welt die Auffassung verbreitet, die Naturwissenschaft erforsche das verborgene Wesen der Dinge. Darüber wird gar nicht mehr diskutiert. Das hat dann zur Folge, dass viele Wissenschaftler gänzlich unbekümmert für das Militär arbeiten. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) wird auch „der höchste Tem113
pel der Technikentwicklung“ genannt. Die Wissenschaftler, die dort arbeiten, berichten stolz, dass sie sich nicht mit moralischen, politischen oder metaphysischen Fragen beschäftigen. Sie forschen gewissermaßen wertfrei. Aber wir haben gesehen, dass diese Wertfreiheit nur für die Objekte der Untersuchung gilt, nicht für das Wissenschaftshandeln der beteiligten Akteure. In einer zerstörerischen Dialektik schlägt jedoch die Wertfreiheit der Objekte auf das forschende Subjekt um. Es fühlt sich irgendwann einmal genauso wertneutral und objektiv wie die von ihm beschriebenen Gegenstände. Das gilt dann auch für die Technikentwicklung, bei der sogar die Objekte nicht mehr wertneutral sind, denn sie sind ja ex definitione Mittel zum vorausgesetzten Zweck, mithin von sich aus werthaft bestimmt. Auch hier sollte uns das Dritte Reich eine Lehre gewesen sein. Die Deutschen hatten zur Zeit des Naziregimes die besten Techniker auf der Welt. Es ist bekannt, dass sie sich fast ausnahmslos in den Dienst des Verbrechens stellten. Wernher von Braun war einer der bekanntesten von ihnen. In der von Bernd Ruland geschriebenen und von von Braun autorisierten Biographie wird er als ein strahlender Held dargestellt, dem es nur um die Sache ging, nämlich die Eroberung des Weltraums. In dieser Sichtweise, d. h. der Sichtweise von Brauns selber, ist diese Eroberung des Weltraums ein spektakulärer Schritt wie der Moment, als vor 360 Millionen Jahren die ersten Fische an Land gingen. Mit einem solchen Pomp stattet von Braun seine eigenen Entdeckungen aus, und er stand nicht davon ab, sich als den von Gott berufenen Propheten einer neuen Phase der Evolution zu verstehen. Tatsächlich sprach er sehr häufig von Gott, so dass sogar die Pfarrer anfingen, seine Schriften von der Kanzel zu lesen, um zu zeigen, dass sich moderne Technik und Religion nicht widersprechen. Von Brauns politische Verstrickungen wurden in Rulands Biographie als vernachlässigbare Kollateralschäden hingestellt, die nur am Rande erwähnt wurden. Die Zeitläufe waren halt so, dass man mit den Nazis paktieren 114
musste, um seine hehren Ziele zu erreichen. Dagegen hat Rainer Eisfeld ein gut recherchiertes Buch geschrieben, in dem er die Gegenrechnung aufmacht. Tatsächlich war Wernher von Braun ein eiskalter Karrierist. Er hat sich nach der Machtergreifung den Nazis angedient und war sogar Mitglied der SS. Die V2-Raketen wurden in unterirdischen KZs montiert aus Angst vor den Luftangriffen der Alliierten. In diesen unterirdischen KZs herrschten besonders bestialische Verhältnisse, sodass pro Monat ungefähr 5000 Häftlinge starben. Von Braun hat all das gewusst, aber den Sachverhalt nach dem Kriege bagatellisiert, so als habe er all das nur am Rande mitbekommen, während er doch als SS-Mitglied in verschiedenen KZs unterwegs war, um ‚geeignete‘ Häftlinge zu rekrutieren (wie er sagte). Er traf sich auch gerne mit Adolf Hitler, um seine Raketentechnik zu empfehlen, und in der Tat versetzten die V2-Angriffe auf London die Engländer in Panik. Hitler war von von Braun tief beeindruckt und verglich ihn mit dem germanischen Donnergott Thor. All das kommt in der von ihm autorisierten Biographie nicht vor, auch nicht, wie er sich gegen Ende des Krieges den Amerikanern andiente, um eine weiche Landung zu machen. Tatsächlich haben ihn die Amerikaner an den Einwanderungsbehörden vorbei in die USA geschleust, so dass er einem Entnazifizierungsverfahren entging. In seiner Selbstwahrnehmung war von Braun ein Wissenschaftler, dem es ausschließlich um die Sache ging, ein Realist durch und durch. Während wir bei Künstlern kritischer sind, lassen wir eine solche Selbstdeutung bei Naturwissenschaftlern und Technikern eher durchgehen. Leni Riefenstahl z. B. die ‚Reichsfilmregisseurin‘, die zahlreiche Propagandafilme für die Nazis gedreht hat, rechtfertigte sich hinterher, sie sei eine unpolitische Person, der es nur um das Ästhetische gegangen sei. Wir kaufen ihr aber solche Ausreden nicht ab. Im Bereich von Naturwissenschaft und Technik sind wir weniger streng. 115
Womöglich noch makabrer als der Fall von Braun ist der Fall Ernst Heinkel, der sogar eine Autobiographie geschrieben hat. Ernst Heinkel baute als Erster Düsenflugzeuge mit Strahltriebwerken. Er beschreibt die Politik zur Zeit des Dritten Reiches als einen „komischen Lärm im Hintergrund“ und redet sich heraus : „Wir neigen nur noch wenig zu ideologischen Wertungen der Ereignisse und ich tue dies ganz besonders, weil mir keine philosophischen Interessen und noch weniger ideologisch-politische Interessen in die Wiege gelegt wurden, dafür aber umso mehr einfacher Tatsachensinn.“ Das ist immer wieder der Sieg der vorgeblich reinen Theorie über die Praxis, die für sekundär gehalten wird. In diesem Fall hätte die Praxis so aus dem Ruder laufen können, dass die Atombomben nicht nur auf Hiroshima und Nagasaki, sondern auch auf Mannheim und Ludwigshafen gefallen wären. Die Amerikaner hatten fertige Pläne in der Schublade, welche deutschen Städte sie bombardieren wollten für den Fall, dass sich der Krieg noch länger hinziehen würde. Heinkel hat faktisch alles dafür getan, dass dieser Fall eintrat, denn seine Düsenflugzeuge waren den Propellerflugzeugen der Alliierten bei Weitem überlegen. Unser Glück war, dass sich Hitler nicht von Heinkel überzeugen ließ, Düsenjager in Mengen zu produzieren. Hätte er sich überzeugen lassen, dann wären die Atombomben auf Deutschland gefallen und es wäre Heinkels Schuld gewesen. So viel zum „einfachen Tatsachensinn“ der Ingenieure. Vielleicht sollten wir jetzt einen Moment innehalten, um uns über das Gesagte Rechenschaft abzulegen. Die Primitivatheisten, von denen im ersten Kapitel die Rede war, können sich nicht genug tun, die Verbrechen der Kirche anzuprangern, um ihr das Existenzrecht abzusprechen. Insbesondere Richard Dawkins führt alles Schlechte in der Welt auf die Religion zurück, alles Gute aber auf die Naturwissenschaft. Nun ist es aber so, dass der Missbrauch ganz allgemein den guten Gebrauch nicht etwa aufhebt : abusus non tollit usum. 116
Überall, wo sich Macht anhäuft, gibt es Korruption und Vetternwirtschaft. Das gilt für die Kirche so gut wie für die Wirtschaft, die Parteien, die Gewerkschaften, das Gesundheitswesen und natürlich auch für die Politik. Wenn wir aus dem Machtmissbrauch schließen wollten, dass das, worauf er sich bezieht, abgeschafft werden muss, dann könnten wir sofort in die Wälder zurückgehen, um uns von Wurzeln und Gräsern zu ernähren, und selbst dort würden die Stärkeren ihre Macht gegenüber den Schwächeren missbrauchen. Wer das Prinzip „abusus non tollit usum“ außer Kraft setzt, hat sich gegen das Leben entschieden. Er träumt sich in eine Welt ohne Korruption hinein, die es nicht gibt. Wenn das so ist, dann sollten die Primitivatheisten mit ihren Pauschalurteilen aufhören. Denn wenn die Kirche durch ihre Kreuzzüge und Hexen- und Ketzerverbrennungen das Existenzrecht verwirkt hat, dann sollten wir aufgrund derselben Logik die Schließung aller physikalischen Institute und Ingenieurbüros fordern, denn verglichen mit der Atombombe waren alle Hexen- und Ketzerverbrennungen nur wie ein harmloses Lagerfeuer. Es hilft auch nichts, zu sagen, dass die Kirche einen moralischen Anspruch stellt, das ist auch im Gesundheitswesen oder in den Gewerkschaften der Fall, ja sogar bei den Parteien und auch die Naturwissenschaft tritt mit einem Wahrheitspathos auf. Es hilft nichts : Entweder wir akzeptieren den Grundsatz, dass ein Missbrauch den guten Gebrauch nicht aufhebt, dann gilt das für die Kirche so gut wie für die Physik, oder aber wir bestreiten diesen Grundsatz, dann haben wir uns gegen das Leben entschieden und träumen den illusionären Traum Rousseaus vom ‚an sich‘ guten Menschen, der nur durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verdorben wird. Dieser Traum ist unglaublich bequem : Schuld sind immer nur die anderen. Wir messen also mit zweierlei Maß und haben Neigung, die Bereiche von Wissenschaft und Technik für eine heile Welt zu halten. Man sollte aber nicht glauben, dass sich an dieser Ein117
stellung seit dem Zweiten Weltkrieg irgendetwas geändert hätte. James Watson und Francis Crick entdeckten in den 1950ern die Doppelhelix, und Crick beschrieb diese Entdeckung in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Ein irres Unternehmen“. Tatsächlich machte diese Entdeckung ihm und Watson einen irren Spaß. In seinem Buch ist aber niemals von Moral oder Politik die Rede. Die Speicherung der Information des Lebendigen in den Genen zu entdecken wird so beschrieben, als ginge es um die Frage, wie groß der Erdumfang oder die Elementarladung des Elektrons ist, d. h. eine rein theoretische Frage, bei der die Praxis keine Rolle spielt. Dabei wissen wir bis heute nicht, was die Gentechnologie für die Ökosphäre bedeuten wird. Die Natur lässt sich für einen neuen Organismus Millionen Jahre Zeit, und in dieser langen Zeit stabilisiert sich der neue Organismus, was seine inneren Funktionen anbelangt. Zugleich wird er perfekt auf seine Umwelt hin abgestimmt. Wir aber greifen sehr rasch in die Gene ein und haben keine Ahnung, welche Folgen das auf die Dauer haben wird. Crick war sogar ein Freund der Eugenik und hätte es gerne gesehen, wenn wir in die Keimbahn des Menschen eingreifen oder den Menschen anders selektionieren würden, und er warf der Religion vor, diesen ‚Fortschritt‘ zu behindern. Was würde er dazu sagen, dass es heute die Chinesen sind, die als Erste in die menschliche Keimbahn eingegriffen haben ? Das heißt : Sein ‚Fortschritt‘ gedeiht am besten in einer Diktatur. Aber Wissenschaftler wie Crick glauben, sich in einer Art von moralfreiem Raum zu bewegen. Wir sehen also, dass die nur scheinbar abstrakten Überlegungen zur vorgeblichen Wesenserkenntnis der Wissenschaft und der Verschiebung der Metaphysik in die Physik ihre gefährlichen Konsequenzen hat. Wissenschaft und Technik sind nicht harmlos, wenn sie mit dem Gewicht des Wesenhaften belastet werden. Dann drängen sie Praxis an den Rand. So lebt es sich natürlich bequemer. Wir könnten diese Dialektik mit einer ganz ähnlichen aus dem Bereich des Sozialen vergleichen, und dann 118
würde auch deutlich, dass Wissenschaftskritik nichts zu tun hat mit Wissenschaftsfeindlichkeit, wie oft unterstellt wird. Wir sprechen von ‚Gesetzen‘ sowohl im sozialen Bereich als auch im Bereich der Natur. Obwohl sich Naturgesetze und soziale Gesetzmäßigkeiten unterscheiden, haben sie doch auch manches gemein, weshalb wir dasselbe Wort verwenden, und die Dialektik, die das Gesetzesdenken der Wissenschaft in Barbarei verwandelt, gibt es auch im Bereich des Sozialen, d. h. der Rechtsordnung. Das „corpus iuris civilis“ der Römer war in Westeuropa bis ins 19. Jahrhundert hinein gültig. Man sagt allgemein, dass die Griechen den Römern in fast jeder Hinsicht überlegen waren, es sei denn im Rechtswesen. Aber die Römer hatten zugleich ein Gefühl dafür, dass das Recht überzogen werden kann und dass es dann ins Gegenteil umschlägt : „summum ius summa iniuria.“ Was heißt das ? Wir können das hohe Gut des Rechts in sein Gegenteil verkehren, wenn wir die Rechtskonformität des Handelns verabsolutieren oder, anders gewendet, wenn wir alles regeln wollen und der moralischen Verantwortlichkeit des Einzelnen keinen Raum mehr lassen. Dann haben wir eine Art von Rechtsdeterminismus, der dem kausalen Zement Humes in der Natur entspricht. Die Gesellschaft wird rechtlich zementiert, indem wir die Gesetzeskonformität zum höchsten Gut erklären, gleichsam zum Wesen der Handlung, wodurch sich die Handlung von ihrer moralischen Qualität entleert. Die Römer waren oft in dieser Gefahr, ebenso später die Preußen mit ihrem Gehorsamkeitspathos. Dies steckt auch hinter der Kritik Jesu an den Pharisäern und Sadduzäern oder allgemein hinter seiner Kritik am Gesetzesdenken. Dabei ist er aber kein Feind des Gesetzes als solchen, so wenig wie Paulus, bei dem man eine ähnliche Polemik findet. Es geht hier einfach nur darum, dass Gesetzeskonformität das Handeln nicht ausfüllt, sondern entleert, wenn es verabsolutiert wird. Es ist nicht sein ursprüngliches Wesen, alles 119
zu regeln, und wenn man es dennoch dazu macht, dann artet es in Barbarei aus : „summum ius summa iniuria.“ Die lakonische, treffsichere Art der Römer, solche Einsichten kompakt zur Geltung zu bringen, ist unschlagbar. Hier ein anderes Beispiel, das auf denselben Sachverhalt bezogen werden kann : „corruptio optimi pessima“ = „Die Entartung des Besten führt zum Schlimmsten“. Das Gut der Rechtssicherheit als ein sehr hohes Gut verkehrt sich sofort ins Gegenteil, wenn man es verabsolutiert. Das ist so ähnlich, wie ein kluger Verbrecher gefährlicher ist als ein dummer oder wie die Verbrechen der Kirche umso schrecklicher sind, je höher ihre Ideale waren. Festzuhalten bleibt aber, dass eine Kritik an dieser Dialektik nicht zugleich den durchaus positiven Grund der Sache betreffen muss. Wer die Kirche kritisiert, muss kein Feind des Christentums sein, sonst wäre Papst Franziskus ein Antichrist mit seiner scharfen Kritik an den Missständen in der römischen Kurie. Im selben Sinn ist der, der Wissenschaftskritik betreibt, kein Feind der Wissenschaft. Er ist sich nur dessen bewusst, dass das hohe Gut der Erkenntnis dialektisch in sein Gegenteil umschlägt, wenn man es mit dem sinnlosen Gewicht einer essentialistischen Deutung belastet. So wie die Verrechtlichung des Handelns das Leben tötet und die Moral an den Rand drängt, so wird das hohe Gut der Wissenschaft korrumpiert, wenn sie die metaphysische Last tragen muss, das Wesen der Dinge zur Geltung zu bringen, wofür sie nicht gemacht ist. Es gibt natürlich auch pauschalierende Kritik. Eine solche ungerechte Kritik der Religion haben wir im ersten Kapitel kennengelernt, und es gibt weiter eine pauschalierende Kritik der Wissenschaft in der Esoterik oder im religiösen Fundamentalismus. Aber das ist kein Grund, jede Religions- oder Wissenschaftskritik für pauschalierend zu halten, denn nach dem Muster „corruptio optimi pessima“ dürfen wir in beiden Fällen auf ein sehr helles Licht schließen, das diese dunklen Schatten wirft.
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c. Die Alternative Aber weder im Bereich des Sozialen noch im Bereich von Wissenschaft und Technik ist diese Dialektik zwingend, die das höchste Gut in eine wahrhafte Plage verwandelt. Es ist nicht zwingend, dass ein Naturwissenschaftler den völlig überhöhten Geltungsanspruch stellen muss, seine Wissenschaft erforsche das verborgene Wesen der Dinge. Tatsächlich gibt es genügend Gegenbeispiele von Wissenschaftlern, die sich ihrer Grenzen bewusst sind. Werner Heisenberg z. B., dem wir zusammen mit Erwin Schrödinger die Quantentheorie verdanken, hat ein interessantes Buch über Goethes Farbenlehre geschrieben, in dem er dieser Farbenlehre einen eigenen Realitätsbezug zugesteht. Wenn die Physik die Farben untersucht, ist das eine Sache. Wenn ein Künstler die Farben darstellt, so erkennt er einen ganz anderen, aber ebenfalls wesentlichen Aspekt am selben Sachverhalt. Man muss nicht Newton gegen Goethe ausspielen, wie das zumeist geschieht. Es kann nach Heisenberg keine Rede davon sein, dass die Physik einen privilegierten Zugang zur Realität hat, der alles andere auf den zweiten Platz verweisen würde. Obwohl die Auffassung, die Physik beschreibe das verborgene Wesen der Dinge, sehr verbreitet ist, gibt es auch Physiker, die das Gefährliche und Einseitige dieser Haltung zutreffend beschrieben haben. Dazu sollte man auf jeden Fall Wolfgang Pauli rechnen. Pauli steht etwas im Schatten der Großen, aber das haben diese nicht so gesehen. Einstein verhandelte mit ihm auf Augenhöhe. Wolfgang Pauli war ein Wunderkind, ein Senkrechtstarter. Schon im Alter von 18 Jahren hatte er die Allgemeine Relativitätstheorie begriffen, die damals ganz neu war, und er stellte sie auf eine so genialische Weise dar, dass sich sogar Einstein selbst verwunderte. Pauli war jedoch zunächst auch einer dieser NurPhysiker, die glauben, die Welt der Formeln sei die ganze Welt. Durch tragische Schicksalsschläge gebeutelt, erkannte er jedoch, 121
dass die Welt der Praxis und der konkreten Existenz durch die physikalische Formalisierung unterbestimmt wird. Das Wesentliche war ihm entglitten. Er suchte Hilfe bei dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung, wodurch sich ihm das eigene Unbe wusste erschloss, das in keine Formel passt und das sich vielmehr in Symbolen und nicht in mathematischen Formeln ausdrückt. In diesem Zusammenhang ging ihm auch die Bedeutung der Religion auf, obwohl er immer kritische Distanz zum Christentum hielt. Pauli war berühmt für seine Schlagfertigkeit und seinen zynischen Witz. Als bei einer Physikertagung der Materialist Paul Dirac über den Priesterbetrug herzog und über den Nonsens des christlichen Glaubens, bemerkte Pauli trocken : „Unser Freund Dirac hat eine Religion und die lautet ‚Es gibt keinen Gott und Dirac ist sein Prophet‘.“ Hier ist lakonisch zusammengefasst, was wir oft bemerkt haben : Der Atheismus beruht häufig auf Selbstvergötzung. Pauli erkannte jedenfalls mit der Zeit, dass die Naturwissenschaft dann ein gefährliches Unternehmen wird, wenn man sie für das Ganze hält. Dann deliriert Praxis und die Moral verschwindet vor dem Blick des Spezialisten. Pauli versuchte nun in einem sehr schmerzhaften, lebenslangen Prozess, die Welt von Intuition und Intellekt, Mythos und Wissenschaft in Übereinstimmung zu bringen. Es ging ihm nicht darum, das eine auf Kosten des anderen zu verwirklichen, wie die Esoteriker. Pauli war sehr kritisch gegenüber der heute modischen Neomystik, die letztlich darauf hinausläuft, die Wissenschaft in Spekulation aufzulösen. Nach Pauli können wir selbstverständlich nicht auf die Wissenschaft verzichten, aber sie hat ihre Grenze dort, wo das Praktische ins Spiel kommt, und die Prätention, wir könnten mit ihrer Hilfe das innere Wesen der Dinge erkennen, ist eine gefährliche Illusion, denn damit wird das Handeln ortlos. Pauli war übrigens einer der wenigen First-Class-Physiker, die nicht am Bau der Atombombe beteiligt waren, obwohl er wäh122
rend des Zweiten Weltkrieges in den USA lebte. Als er danach in die Schweiz zurückkam, bezeichnete er die Stimmung unter amerikanischen Physikern als „kriminell“. Er sei froh, wieder in die neutrale Schweiz zurückgekehrt zu sein. So deutlich und kritisch wie er hat sich sonst niemand zum Manhattan-Projekt geäußert. Man vergleiche damit die Haltung von Werner Heisenberg und seinem Schüler Carl-Friedrich von Weizsäcker. Die beiden blieben während des Dritten Reiches in Deutschland und wurden von Hitler beauftragt, eine Atombombe zu bauen. Es war im Dritten Reich unmöglich, eine höhere Stellung – wo auch immer – einzunehmen, ohne von der Diktatur in Anspruch genommen zu werden. Insbesondere Wissenschaft und Technik wurden gleichgeschaltet und militärisch verzweckt. Man kann sicher sein, dass Heisenberg und von Weizsäcker keine Sympathisanten des Dritten Reiches waren, aber sie waren auch keine Märtyrer. Nachdem der Spuk verflogen war, haben sie sich herausgeredet, wie so viele. Sie hätten gegenüber Hitler so getan, als seien sie ernstlich am Bau einer Bombe interessiert, in Wahrheit hätten sie aber die Sache in die Länge gezogen. Hinterher waren alle Widerstandskämpfer. Inzwischen kam heraus, dass diese Behauptungen auf Selbstrechtfertigung hinausliefen, aber sie zeigen doch, wie schwer es uns fällt, mit Schuld umzugehen, vor allem wenn sie die vermeintlich unschuldige Wissenschaft betrifft, und das selbst in solchen Fällen, wo die Schuld vermutlich ziemlich gering war, denn es macht einen Unterschied, ob man in einer Diktatur nolens volens mit ins Verderben hineingezogen wird oder ob man sich aktiv an ihr beteiligt, wie Wernher von Braun. Das Problem einer Abspaltung der Praxis von der Theorie zeigt sich in aller Deutlichkeit in der Karriere, die von Weizsäcker dann nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Er ging nämlich von der Physik zur Philosophie über und hat in der Folge zwei Sorten von Literatur produziert, die völlig reibungs- und 123
berührungsfrei nebeneinander herliefen. Einmal Überlegungen zur Physik, die essentialistisch argumentierten, wonach die Physik das Wesen der Dinge erkennt. Sodann Schriften zur praktischen Philosophie, nämlich zur Politik und Ethik, die aber mit seiner Theorie überhaupt nichts zu tun hatten, d. h., seine praktischen Schriften könnten wahr und wertvoll sein, seine theoretischen aber ganz falsch oder auch umgekehrt. Es verbindet sie nichts. Wir begegnen hier an einem prominenten Beispiel dieser Trennung zwischen Theorie und Praxis, die das Verhängnis unserer Zeit ist und der wir auch schon bei Carnap und Quine begegnet sind. Hier gäbe es sinnvollerweise nur eine Möglichkeit : Wir sollten aufhören, Naturwissenschaft mit dem Gewicht des Wesenhaften zu belasten. Naturwissenschaft bezahlt ihre Präzision durch Abstraktion vom Konkreten. ‚Präzision‘ kommt übrigens vom Lateinischen ‚praecindere‘ = ‚abschneiden‘. Was da abgeschnitten wird, sind die existenziellen, affektiven Erfahrungen der Betroffenenperspektive der ersten Person, ferner alles Teleologische, Werthafte, sämtliche Sinnperspektiven. Folglich wären wir aufgefordert, den Blickwinkel zu drehen : Praxis würde primär sein und Theorie müsste von dorther verortet werden, wie das die Pragmatisten, allen voran John Dewey, gesehen haben. Dann könnten wir Wissenschaft in unsere gewöhnlichen Lebensvollzüge einordnen, und sowohl die Moral als auch unsere Erlebnisqualitäten hätten den Ort, der ihnen zukommt.
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6. Praktischer und theoretischer Materialismus a. Subjekt und Objekt Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass es unvernünftig ist, die Wissenschaft für eine Instanz zu halten, die Einblick in das innere Wesen der Dinge gibt. Dann nämlich wird die Moral ortlos und die Theorie neutralisiert Praxis. Im Kontrast dazu sollten wir die Spannung zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Lebenswelt aufrechterhalten oder, was damit zusammenhängt, die Spannung zwischen Geist und Materie. Realität besteht immer in einer Vermittlung dieser beiden Spannungspole. Wir werden daher zunächst einmal erneut auf diese Art der Vermittlung von Subjekt und Objekt, Wissenschaft und Lebenswelt zurückkommen, die durch eine einseitig verstandene Wissenschaft zerstört wird oder zumindest aus dem Blickfeld gerät, um dann nach den Hintergründen dieses zerstörerischen Prozesses zu suchen. Solche Hintergründe liegen im sozialen und im geschichtlichen Bereich und sie beeinflussen unser Denken und Handeln weit mehr, als uns lieb sein kann. Das gegenwärtige Bewusstsein hat sich auf die Weise einer kollektiven Egozentrik auf die Höchstwerte Wissenschaft und Technik festgelegt, die durch eine schrankenlose Ökonomisierung zementiert werden, so dass sie als alternativlos erscheinen. Dies umso mehr, als der real existierende Sozialismus eklatant versagt hat, so dass wir keine politischen Alternativen mehr sehen. Es ist von daher nützlich, in einem kurzen geschichtlichen Rückblick auf solche Alternativen aufmerksam zu machen, wie z. B. das Mittelalter, das wir mit einer gewissen Gegenwartsfixierung immer noch 125
als eine ‚finstere‘ Epoche bezeichnen. Es ginge jedoch darum, zu unserer eigenen Epoche denselben kritischen Abstand zu gewinnen, der uns bei vergangenen Epochen so leichtfällt in der Art, wie uns die Fehler der anderen jederzeit deutlicher ins Auge springen als unsere eigenen. Aufgrund einer Kritik der alternativlos scheinenden Verbindung von Ökonomie, Technik und Wissenschaft werden wir auch eine Verbindungslinie zwischen theoretischem und praktischem Materialismus ziehen können, diese beiden Formen des Materialismus, die schon in der Einleitung unterschieden wurden und von denen es hieß, sie seien logisch unabhängig. Das sind sie wohl, aber sie hängen zumindest psychologisch oder vielmehr sozialpsychologisch zusammen, und das gilt es im zweiten Teil dieses Kapitels des Näheren auszuführen, um den Inhalt des letzten Kapitels ins Soziale und Geschichtliche hinein zu verlängern. Wir setzen nun also zunächst einmal die Überlegungen des letzten Kapitels fort, um sie dann in einem historischen und sozialen Sinn zu vertiefen. Unsere spontane Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, Ich und Gegenstand, ist gewöhnlich die, dass es ‚da draußen‘ eine Welt an sich gibt, die völlig unberührt von unserem Erkennen ist, die reine Objektivität des Kosmos und, davon säuberlich getrennt, humane Innenzustände, d. h. subjektive Erlebnisse, die mit der objektiven Welt weiter nichts zu tun haben, sondern die sich zu ihr verhalten wie wesenlose Träume und willkürliche Phantasien zur wissenschaftlichen fassbaren Welt der harten Fakten. Das heißt : reine Objektivität auf der einen und reine Subjektivität auf der anderen Seite. So sehen wir das zumeist. Diese Stilisierung liegt auch dem öfters dargestellten wissenschaftlichen Essentialismus zugrunde. Gemäß diesem Essentialismus beschreibt die Wissenschaft die Welt, wie sie an sich ist, was der Philosoph Thomas Nagel den „view from nowhere“ genannt hat, d. h. den „Blick von Nirgendwo“ : Der Physiker blickt auf die Welt, als blickte 126
er nicht. Das ist natürlich völlig widersinnig und Nagel möchte auch mit seiner suggestiven Formel gerade auf diesen eklatanten Widerspruch hinweisen. Es gibt also einen irrationalen Mythos der Objektivität, der dem szientifischen Essentialismus zugrunde liegt. Das Irritierende an diesem Sachverhalt ist nur : Es verträgt sich sehr gut, dass wir auf einer wissenschaftlichen Objektebene durchweg rational sind und zugleich auf einer Metaebene der Geltungsansprüche nicht weniger irrational. Man muss schon zu Freud’schen Kategorien greifen, um sich einen solchen schroffen Gegensatz begreiflich zu machen. Thomas Nagel geht nun davon aus, dass Subjekt und Objekt immer nur vermittelt vorkommen, d. h., es gibt weder eine rein objektive noch eine rein subjektive Welt, ein Konzept, das an Hegel erinnert, für den das An-sich und das Fürsich immer nur in der Vermittlung mit dem An-und-für-sich real ist. Wir haben oben gezeigt, dass selbst der kulinarische Geschmack ein objektives Moment der Zuträglichkeit in sich birgt. Was uns schmeckt, ist gewöhnlich das, was unserem Körper guttut, so dass selbst das Subjektivste, der Geschmack, noch einen Anteil an Objektivität hat. Am anderen Ende des Spektrums unserer Erkenntnisvermögen zeigt es sich, dass auch die Physik nicht einfach nur objektiv ist. Es macht keinen Sinn, eine rein objektive Welt von einer rein subjektiven abzugrenzen. Seit fast 100 Jahren wird gestritten, was der Messprozess in der Quantentheorie bedeuten soll. Das Problem scheint, dass wir durch unseren experimentellen Eingriff die beobachteten Mikroobjekte stören. Das war in der klassischen Physik so nicht der Fall. Wenn ich etwa das zu beobachtende Objekt der klassischen Mechanik beleuchte, dann übt das Licht zwar eine Wirkung auf das Objekt aus, aber diese Wirkung ist weit unterhalb der Messgrenze. Ich beobachte also das Objekt, als beobachtete ich es nicht : der paradoxe „view from nowhere“. In der Quantentheorie ist aber der Eingriff, den ich vornehme, von dersel127
ben Größenordnung wie das, was ich beobachte. Es ist, als wollte ich mit Boxhandschuhen Klavier spielen. Die Art meines Zugriffs ändert das zu Greifende oder das zu Begreifende. In einem solchen Fall wissen wir nicht mehr, wie sich das Objekt jenseits unseres Eingriffs als ein solches verhalten würde. Die berühmte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie schreibt diesen paradoxalen Sachverhalt fest : Die Natur an sich ist nicht mehr Objekt unserer Forschung, sondern nur die von uns gedeutete Natur. Selbstverständlich ist diese Deutung nicht willkürlich. Sie liefert reproduzierbare Resultate, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass uns die reine Objektivität verloren ging, die für so lange Zeit das unerreichbare Ideal der Physik war, denn auch längst vor der Quantentheorie spielte Subjektivität in der Physik eine entscheidende Rolle. So hat man z. B. jahrhundertelang nur deterministische Prozesse untersucht. Man hatte also einen selektiven Blick, denn das Determinierte lässt sich leichter ausrechnen, also blendete man das Chaotische aus. Aber nicht die Natur war determiniert, sondern unsere Gleichungen von ihr, und wir haben eben nicht damit gerechnet, dass das einen Unterschied machen könnte. Wir haben daher das folgende Resultat : Das, was nur subjektiv schien, wie unser Geschmack, hat auch eine objektive Komponente, und das, was rein objektiv schien, wie die Physik, ist plötzlich subjektiv vermittelt. Mit einem Wort : Subjektivität und Objektivität kommen in Graden. Niemand wird bestreiten, dass Geschmacksnerven stärker subjektiv geprägt sind als die Experimente der Quantentheorie. Aber was man nicht mehr sagen kann, ist, dass es sich um einen absoluten Gegensatz handelt von der Art ‚A und non-A‘. Draußen der Kosmos und davon durch eine Kluft getrennt die Innenwelt des Bewusstseins. Die Logiker unterscheiden konträre und kontradiktorische Gegensätze. A und non-A ist ein kontradiktorischer Gegensatz, denn A und non-A können nicht zugleich wahr sein. Man muss sich für A oder für non-A entscheiden. Beides geht nicht zusam128
men. Aber es gibt auch konträre Gegensätze, die ein Kontinuum aufspannen wie Tag und Nacht oder arm und reich. Solche Gegensätze kennen alle Grauabstufungen und Zwischentöne wie die Morgen- und Abenddämmerung oder den bürgerlichen Mittelstand und von dieser Art ist auch der Gegensatz subjektiv – objektiv. Er lässt Grade zu. Man kann das den verschiedenen Wissenschaften, aber auch unserer Lebenswelt ansehen. In den Wissenschaften ist ein Maß für Objektivität der Anteil an Mathematik und formaler Logik, den sie enthalten. Mathematik und Logik sind die objektivsten Wissenschaften, die es gibt. Manche Diskurse, wie die Physik, eignen sich hervorragend zur Formalisierung. In einem physikalischen Textbuch kommen oft 90 % Formeln und nur 10 % natürlich-sprachlicher Text vor. In der Chemie sind es schon weniger Formeln und noch weniger in der Biologie. Man hat zwar versucht, die Biologie zu axiomatisieren, aber es hat zu nichts geführt. Nur Teilbereiche dieser Wissenschaft, wie z. B. die Spieltheorie, haben eine mathematische Gestalt. In der Soziologie finden wir gewöhnlich keine Mathematik und auch nur wenige rein formallogisch nachvollziehbare Schlüsse, alles andere ist Hermeneutik. Im Rahmen der physikalischen Selbstorganisationstheorie haben manche Autoren versucht, auch die Soziologie zu mathematisieren, aber es hat ebenfalls zu nichts geführt. Am weitesten weg von all dem ist die Geschichtswissenschaft, die weder mathematisiert ist noch viele rein deduktiv nachvollziehbare Schlüsse enthält. Ein anderes Kriterium der Objektivität sind die Naturgesetze. Die strengsten Gesetze gibt es wiederum in der Physik, die Darwin’schen Gesetze sind schon weniger streng, d. h. bloß grob statistisch, und ob es im Sozialen und Geschichtlichen überhaupt Gesetze gibt, bleibt fraglich. Heroen von Hegel und Marx bis Spengler und Teilhard de Chardin haben versucht, die Gesetze der Geschichte herauszufinden, aber sie konnten nur wenige überzeugen. 129
Auch im Alltag rechnen wir damit, dass bestimmte Einstellungen objektiver sind als andere. Das gilt vor allem im Verhältnis zwischen Fakten und Werten. Sage ich : „In diesem Raum sind 12 Stühle“, dann ist das – wenn es wahr ist – ein Faktum, worüber es keine Diskussion mehr gibt, man kann ja einfach nachzählen. Sage ich hingegen : „Es ist gut, dass es in diesem Raum 12 Stühle gibt“, dann habe ich gewertet und werde mich so leicht nicht jedem verständlich machen können, denn vielleicht ist heute Abend in diesem Raum eine interessante Diskussion und wir würden besser 18 Personen erwarten und ebenso viele Stühle aufstellen. Dann wäre es nicht gut, dass sich in diesem Raum nur 12 Stühle befinden. Dieses erhöhte Maß an Subjektivität bei Wertaussagen gegenüber rein faktischen Urteilen hat aber nicht zur Folge, dass Werte völlig irrational wären. Wir können ja durch Gründe und Gegengründe zu einem Konsens kommen, ob wir lieber 18 oder 12 Stühle aufstellen sollten. Aber eines ist sicher : Werturteile sind subjektiver als Tatsachenurteile, und das erklärt, weshalb wir sie in der Naturwissenschaft nicht gebrauchen können, wo es auf maximale Objektivität ankommt. Als Höchstmaß an Subjektivität gilt im Allgemeinen das Ästhetische. Aber auch hier ist nicht alles bloß willkürlich, sondern im Prinzip zugleich sachhaltig. Sage ich : „Bach ist ein großer Künstler“, dann lässt sich das zwar nicht beweisen, aber jeder Mensch mit einigem Geschmack und einiger Kenntnis wird mir beipflichten. Sage ich : „Bach ist ein großer Künstler“, dann ist dies eben nicht beliebig, obwohl ästhetische Geschmacksurteile etwas von den kulinarischen an sich haben, weshalb wir sie mit demselben Wort bezeichnen. Das heißt also : Menschen verfügen über eine unglaubliche Bandbreite an Arten der Einsicht, die jeweils in verschiedenem Maße subjektiv oder objektiv eingefärbt sind. Daraus würde man normalerweise schließen, dass wir nur hinreichend Kenntnis über die Welt und unsere Stellung in ihr erlangen können, wenn wir von allen Disziplinen und von allen 130
unseren kognitiven und praktischen Einstellungen zugleich Gebrauch machen. Es ist wie mit unseren Sinnen. Niemand verzichtet freiwillig auf den Gebrauch seiner Augen und Ohren oder auf den Tastsinn, und wenn jemand dazu gezwungen ist, dann nennen wir ihn ‚krank‘. Es wird also jeder zugeben, dass wir von allen Fähigkeiten zugleich Gebrauch machen sollten, aber damit ist noch nicht festgelegt, was wir für wichtig oder für weniger wichtig halten sollten. Tatsächlich führt die Knappheit der Ressourcen, unter der wir leiden wie auch der Rest der Natur, dazu, dass wir Prioritäten setzen müssen und dass wir sogar eine regelrechte Wertehierarchie aufstellen müssen, um begründete Entscheidungen zu treffen. Wir müssen im Konfliktfall wissen, was höchste Priorität hat oder in einem abgestuften Verhältnis weniger bedeutsam ist. Fundamental ist jedoch, dass diese Wertehierarchie von uns festgelegt wird. Sie ist nicht in den Tiefen der Natur festgeschrieben wie die physikalischen Gesetze, von denen wir überzeugt sind, dass sie im ganzen Universum gelten und dass wir keine Möglichkeit haben, sie zu ändern. Die kulturellen Prioritäten bilden sich in einem geschichtlichen Prozess heraus, und sie haben schließlich den Charakter eines Apriori, d. h. einer scheinbar unveränderbaren Voraussetzung, von der wir dann ausgehen sollten. In Wahrheit gelten solche historischen Apriori nur so, wie das Grundgesetz Deutschlands gilt – darüber wird nicht mehr abgestimmt. Die Unveränderlichkeit des Grundgesetzes hat dennoch ihre historischen Wurzeln, was für die Naturgesetze nicht gilt. Im Fall des Grundgesetzes war es die traumatische Erfahrung des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges, die zu seiner Formulierung geführt hat. Auf eine solche Art setzen wir alle unsere kollektiven Prioritäten fest und halten sie nach einiger Zeit für ‚natürlich‘, fast wie gottgegeben. Insofern der Materialismus unsere gegenwärtige Epoche bestimmt, hat er – gegen alle Vernunft – eine bestimmte Ontologie festgelegt, die nun als Norm gilt. Diese Ontologie lautet : Das 131
eigentlich Existierende sind die Atome und nichts als die Atome, und was es sonst noch gibt, Pflanzen, Tiere, Menschen, soziale Körperschaften, sind einfach nur bestimmte Zusammenballungen solcher Atome. Die Welt ist, wenn wir so sagen dürfen, eine einheitliche Knetmasse, die der Zufall in verschiedene Formen knetet, die wir dann als etwas Eigenständiges wahrnehmen. So glaubt der Mensch, etwas Besonderes im Universum zu sein, aber er irrt sich. Er besteht aus Atomen wie alles andere auch. Die Überlegungen zu Thomas Nagel haben aber gezeigt, dass diese Ontologie viel zu einfach ist. Sie setzt voraus, dass es uns möglich sei, subjektfrei das reine Objekt oder An-sich zu erkennen : die Materie. In Wahrheit sind Subjekte geistbegabte Wesen und ihr Blick auf die Objekte unterscheidet sich je nachdem, wie stark der Objekt- und der Subjektpol sich vermitteln. Wir sehen in dieser Welt immer nur geformte Materie und die Form hat teil am Geist. Eine rein geistfreie Welt gibt es nicht, genauso wie es für uns Menschen keinen materiefreien Geist geben kann. Wenn dem aber so ist, müssten wir unsere Prioritäten neu setzen. Es sollte uns nicht mehr genügen, die Kausalverhältnisse der Materie zu berechnen, um eine effiziente Technik ins Werk zu setzen. Nützlich, wie diese Verfahren auch sind, sollten sie in der Hierarchie unserer Werte nicht den höchsten Platz einnehmen. Dies zu betonen ist wichtig, denn wenn wir die übliche materialistische Ontologie übernehmen, brauchen wir mit der Religion erst gar nicht mehr anzufangen, und das ist ja auch der Grund, weshalb der Materialismus eine so große Verbreitung gefunden hat. Unser gängiges Seinsverständnis unterstützt ihn.
b. Eine andere Sichtweise : das Mittelalter Es ist, wie gesagt, sehr nützlich, sich mit vergangenen Epochen zu beschäftigen, die ganz andere Prioritäten festgelegt haben. Dann können wir nämlich die ‚kollektive Egozentrik‘ 132
vermeiden, von der in der Einleitung schon die Rede war, d. h. die Egozentrik, die uns ins Ohr flüstert, wir seien die Besten und Größten und die eigene Epoche sei die aufgeklärteste, die rationalste und überhaupt moralisch überlegen. Aber auch die höchste Form von Rationalität, wie in der Physik, kann sich mit gefährlichem Irrationalismus beladen, wie wir beim Manhattan-Projekt oder am Beispiel der Nazi-Ingenieure gesehen haben. Jesus sagt in seiner prophetisch-übertreibenden, aber durchaus angemessenen Art, dass wir oft sehr deutlich den Splitter im Auge unseres Bruders sehen, nicht aber den Balken im eigenen. Das gilt auch für ganze Zeitalter. Z. B. gibt es heute noch die herablassende Rede vom ‚finsteren Mittelalter‘. Diese Rede hat ihren Ursprung in der Renaissance. Damals bewunderte man die Griechen, hielt sich selbst für ihresgleichen und bezeichnete die Zwischenepoche herablassend als ‚Mittelalter‘. Das war dann eine obskure Zeit der Barbarei und des Priesterbetrugs, sozusagen eine überflüssige Epoche, vor deren dunklem Hintergrund sich die eigene Gegenwart umso strahlender abhob. Das gleiche Selbstlob liegt dem Begriff der ‚Aufklärung‘ zugrunde. Klarheit und Licht charakterisiert demnach das 18. Jahrhundert, im Verhältnis zu welchem alle anderen Epochen, insbesondere aber das Mittelalter, ziemlich finster aussahen. Dies sind krasse Fälle von kollektiver Egozentrik, ohne Gefühl für den Balken im eigenen Auge. Schon ein Blick auf die Kathedralen hätte aber das Fehlurteil vom finsteren Mittelalter leicht korrigieren können. So viel Schönheit auf einem Fleck hat man kaum jemals gesehen. Aber man hatte sich nun einmal eingeredet, das Mittelalter sei eine finstere Epoche. Dies umso mehr, als die Renaissance – von Italien ausgehend – die Sinnenlust schätzte, während das Mittelalter aufs Jenseits ausgerichtet war. Bis heute glauben viele, dass der mittelalterliche Mensch zu dumm und zu stumpf gewesen sei, um das Leben zu genießen, und dass finstere Priester-Intriganten die Menschen daran ge133
hindert hätten. Oder wie Heinrich Heine sagte : „Sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser.“ Aber um zu genießen, müssen die Primärbedürfnisse befriedigt sein, und das war bei den meisten Menschen im Mittelalter nicht der Fall. Man kann sich ihre bittere Armut heute kaum mehr vorstellen. Hinzu kommt, dass es damals für die Mehrheit keine medizinische Versorgung gab. Diese armen Menschen starben früh, und wenn dann noch, wie im Spätmittelalter, die Pest hinzukam, die ganze Landstriche entvölkerte, darf man sich doch nicht wundern, wenn diese Menschen des Mittelalters ihre Welt als ein Jammertal ansahen. Man hat Anstoß an den spätmittelalterlichen Höllendarstellungen eines Hieronymus Bosch genommen, dass er so ungeniert in Grausamkeiten schwelgte, um seine offenbar sadistische Phantasie auszutoben. Aber er brauchte dazu weit weniger Phantasie, als wir glauben, und vor allem keinen Sadismus. Er musste einfach nur seine Umwelt genau beobachten, dann hatte er genügend Stoff für seine Höllendarstellungen. Da musste nichts erfunden werden. Die Menschen der Renaissance hatten gut reden. Italien war reich geworden, die Fürsten liebten den Prunk, und so konnte man sich einen Hedonismus leisten, der dem Mittelalter unzugänglich geblieben war. Bis heute wird es so dargestellt, als seien die Menschen im Mittelalter von der Kirche daran gehindert worden, ihr Leben zu genießen. Aber das ist ungefähr so ähnlich, als würde man die Menschen in der Sahelzone auffordern, sich lustvoller zu verhalten, ein Zynismus, den wir uns aber gegenüber dem Mittelalter selbstherrlich genehmigen. Wiederum ein Fall kollektiver Egozentrik. Die weltliche Armut war damals zugleich mit einem großen spirituellen Reichtum verbunden. Niemals gab es mehr Mystiker und Heilige als im Mittelalter, und die großen Kathedralen, die wir bewundern, waren der Ausdruck dieser sublimen Spiritualität. Können wir da mithalten ? Hat unsere Epoche einen Benedikt von Nursia, einen Franz von Assisi oder eine Katha134
rina von Siena hervorgebracht ? Werden unsere Wolkenkratzer einmal mit den Kathedralen des Mittelalters für gleichwertig gehalten werden ? Natürlich gab es im Mittelalter Finsteres, wie Hexenglaube, Exorzismus, Kreuzzüge, Judenverfolgungen und vieles andere mehr. Aber was wird man einmal in 500 Jahren über unsere Epoche sagen, eine Epoche der Umweltzerstörung, der Verschwendung nicht regenerierbarer Ressourcen, der globalen Ungerechtigkeit, der sinnlosen Hochrüstung und der wahnwitzigen Kriege oder sogar Genozide ? Ich möchte damit einfach nur sagen : Epochen haben, wie einzelne Menschen, ihre positiven und ihre weniger schönen Seiten. Zu den weniger schönen Seiten des Mittelalters würden wir den herrschenden Aberglauben rechnen, aber kaum jemand ist bereit, zu den weniger schönen Seiten unserer eigenen Epoche diesen verbreiteten Wissenschaftsaberglauben zu rechnen, der uns einflüstert, wir hätten das Wesen der Dinge fest im Griff, und die geradezu selbstzerstörerische Überzeugung, das menschliche Leben werde schon gelingen, wenn wir alle Bereiche technisieren und eine Ökonomie unterstützen, die durch ständigen Durchsatz Konsumgüter in immer größeren Mengen bereitstellt. Tatsächlich glaube ich, dass wir als das Zeitalter der technischen Barbarei in die Geschichte eingehen werden, wenn sich unsere Enkel mit einem geplünderten Planeten begnügen müssen, dessen Klima verrückt spielt, weil wir zu viele Treibhausgase in die Luft entlassen haben. Aufgrund kollektiver Egozentrik reden wir uns dennoch gerne ein, besser zu sein als die Altvorderen, und übersehen dabei den Balken in unserem Auge. Er besteht darin, dass wir Zweckrationalität groß-, Grundsatzrationalität aber kleinschreiben, dass wir das Erkennen höher schätzen als das Handeln, dass wir am Wissen genug haben und die Werte sich selbst überlassen oder auch, dass wir Aktion über Kontemplation stellen. Sprechender Ausdruck dieser falschen Gewichtung sind die bereits erwähnten Philosophen Carnap und 135
Quine, die nur an Theorien interessiert waren, wodurch ihnen die Praxis heimatlos wurde und deshalb in ihren Werken weiter keine Rolle spielte. Andere, wie z. B. Bertrand Russell, haben ein theoretisches und ein praktisches Werk hinterlassen, aber die beiden Teile des Werkes verbindet einfach nichts, genau wie bei Carl Friedrich von Weizsäcker, der schon im letzten Kapitel erwähnt wurde.
c. Das Habenwollen und die Wissenschaft Solche Philosophen verkörpern die moderne Trennung zwischen Theorie und Praxis. Sie verteilen sich wie auf zwei Welten. Diese beiden Welten werden durch die wissenschaftliche Objektivierung ständig neu hervorgerufen, jedenfalls wenn wir sie mit dem Gewicht des Wesenhaften belasten. Aber warum kommen wir überhaupt auf eine so merkwürdige Idee ? Es scheint, dass dies an einer Prioritätensetzung liegt, die uns kaum bewusst wird, die aber epochalen Charakter hat. Wir legen nämlich den Akzent auf Vorhersage, auf Kontrolle, auf Präzision und Wiederholbarkeit, d. h., wir denken primär nomologisch. Nach Kant ist Natur „das Dasein der Dinge unter Gesetzen“ und er ging so weit, die Gesetze der Moralität für genauso präzise zu halten wie die Gesetze der Physik. Sein kategorischer Imperativ sollte das Gegenstück zum Newton’schen Gravitationsgesetz sein. In der Moral sollten Gesetze von derselben Präzision herrschen wie in der Physik. Aber wenn das oben Gesagte richtig ist, dann nimmt die Präzision ab, wenn wir uns dem subjektiven Pol nähern. Das eben ist ja der Grund, weshalb Carnap und Quine nichts zur praktischen Philosophie geschrieben haben und weshalb Russell seine diesbezüglichen Schriften selber für unwissenschaftlich hielt. Wir haben also ein positives Vorurteil für Präzision und Objektivität. Der Hintergrund liegt im machtförmigen Verhalten der Menschen, das seit der Industriel136
len Revolution des 19. Jahrhunderts ständig zugenommen hat. Die Situation, in der wir uns heute befinden, hat ihre Geschichte. Wer das Deutsche Museum in München besucht, wird dort eine große Zahl von Artefakten der vorindustriellen Zeit finden, die einen äußerst mühsamen Eindruck machen. Eine Getreidemühle aus dem 18. Jahrhundert war z. B. gänzlich aus Holz gefertigt. Die Wellen und Zahnräder verschlangen durch die entstehende Reibung die meiste Energie ; die musste durch Wasserräder erzeugt werden, und wenn der Bach nicht genügend Wasser führte, wurde eben nicht gemahlen. Das größte Wasserkraftwerk der vorindustriellen Epoche, das den Park von Versailles bewässerte, leistete gerade mal 10 PS. So viel hat heute jedes Moped. Wir, die wir genügend Kraftmaschinen für alle erdenklichen Zwecke zur Verfügung haben, können uns das Mühsame der vorindustriellen Technik kaum mehr vorstellen. Heute hat ein Kleinwagen 200 PS, sonst verkauft er sich nicht. Durch Industrialisierung, Mechanisierung und mathematische Beschreibung leben wir im energetischen Schlaraffenland, verglichen mit solchen vorindustriellen, vorwissenschaftlichen Zeiten. Man sollte sich aber hüten, diesen Fortschritt der Mechanisierung pauschalierend zu verteufeln, denn die Plackerei vor Erfindung der Kraftmaschinen war enorm und wenig effizient, und wir sollten vor allem die Mechanisierung der Landwirtschaft nicht vergessen, die letztlich den Hunger in Europa besiegte. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten die Menschen in die USA aus, weil sie nichts zum Beißen hatten. Die andere Seite ist die, dass der durch die Industrialisierung hervorgerufene Massenwohlstand die Gier – eine fundamentale menschliche Eigenschaft – anheizte. Wer hat, will ständig mehr. Dies gilt nicht nur für Manager und Politiker, sondern ebenso für die breite Masse. Und das hat im 20. Jahrhundert dazu geführt, dass eine Minderheit auf dem Globus einer Mehrheit die einfachsten Güter wegnimmt, um immer mehr zu haben. Wir leben in einer Zeit der schreienden, weltweiten Ungerechtigkeit. 137
Jetzt hat das Habenwollen als Grundhaltung gesiegt, und wir haben offenkundig vergessen, dass wir vor 150 Jahren genau in derselben Lage waren wie heute die Ärmsten in Afrika, die nun zu uns drängen und die wir am liebsten wieder zurückschicken würden. Die Gier, immer mehr haben zu wollen, heizt eine gigantische Maschinerie der Produktion und Konsumtion an, die den technischen Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben hat, und weil dieser Fortschritt vom Fortschritt der Naturwissenschaft abhängt, investieren wir in die Forschung, um unseren Wohlstand zu sichern und zu mehren und um die besseren Waffen herzustellen. Selbstverständlich gibt es auch Naturforscher, die an der Wahrheit um ihrer selbst willen interessiert sind, aber sie stehen unter einem gewaltigen Verwertungsdruck, und dies kommt nicht von ungefähr. Alle naturwissenschaftlichen Theorien, die auf ein nomologisches Wissen ausgerichtet sind, schaffen nolens volens Machtinstrumente, auch wenn sie das nicht direkt beabsichtigen. Einstein verfolgte mit seiner Gleichung E = mc2 kein Verwertungsinteresse, aber diese Formel ließ sich dennoch technologisch ausbeuten. Die Biologen mögen noch so sehr an der Sache des Lebens interessiert sein, die Industrie steht in den Startlöchern, um zu profitieren. Mit diesen Überlegungen haben wir eine Verbindung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Materialismus hergestellt. In der Einleitung wurde zwischen diesen beiden Formen des Materialismus unterschieden. Der theoretische Materialismus glaubt, dass die Welt rein naturwissenschaftlich erklärbar sei. Der praktische Materialismus ist Sensualismus : Real ist, was uns die Sinne darbieten, und weil sie uns Lust gewähren, optimiert der praktische Materialist seine Sinnenlust und hält damit sein Leben für gelungen. Es wurde in der Einleitung weiter gesagt, dass diese beiden Formen des Materialismus logisch unabhängig sind, so dass man die eine ohne die andere haben kann. Das ist durchaus möglich, 138
und es gibt auch konkrete Beispiele für diese logische Unabhängigkeit. So war z. B. Ludwig Feuerbach ein praktischer Materialist, also ein überzeugter Sensualist, aber mit Naturwissenschaft hatte er nicht viel zu tun. Umgekehrt war der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Physiker Paul Dirac zwar weltanschaulicher Atheist, aber ebenso fleißig wie zurückhaltend und alles andere als ein Hedonist. Doch insgesamt erzeugt die gesamtgesellschaftliche Situation eine unterirdische Verwandtschaft, eine gewisse fundamentale Affinität zwischen diesen beiden Arten des Materialismus. Wenn in einer Gesellschaft das Habenwollen dominiert, wenn sich dieses Habenwollen einer schrankenlosen Technisierung bedient, die ihrerseits auf die Naturwissenschaft verwiesen bleibt, dann verbinden sich praktischer und theoretischer Materialismus zu einer unheiligen Allianz. Die gesamtgesellschaftliche Situation erzeugt dann eine Atmosphäre der Konzentration auf das Grobsinnliche, die sich in eine essentialistisch verstandene Wissenschaft hinein fortsetzt. So wie unser praktisches Verhalten auf die sinnlichen Gegenstände als die eigentliche Realität fixiert ist, so fixieren und verdinglichen wir die Objekte der Wissenschaft zu ‚Dingen an sich‘ oder zu ewigen Wesenheiten im Sinn des Essentialismus. Auf diese Art verstärken und stabilisieren sich beide Formen des Materialismus und verfestigen sich zum Apriori der Epoche im Sinn einer kollektiven Egozentrik, die dann keine Alternativen mehr zulässt. Auf diese Art erklärt sich das hässliche Phänomen des Primitivatheismus, das im ersten Kapitel beschrieben wurde. Der Physiker Bernulf Kanitscheider ist wie eine Verkörperung dieses versteckten Zusammenhangs. Er vertritt nämlich den theoretischen und den praktischen Materialismus zugleich und beides in einer extremen Form und so wird seine Gestalt wie zum Symbol unserer Zeit, die sich in ihm wiederfindet. Auch Kanitscheider ist Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung und er vertrat schon immer einen radikalen Physikalismus. Freiheit ist 139
für ihn eine Illusion, Liebe ein rein chemisches Phänomen, die Religion ist die Wurzel aller Übel, während die Naturwissenschaft einseitig für das Gute und für die Aufklärung steht. Man wird bei diesem Autor niemals ein Wort über die Begeisterung der besten Physiker auf der Welt finden, die Atombombe zu bauen. Man wird aber auch bei ihm niemals ein Wort über die segensreiche Wirkung des Christentums finden, etwa bei der Durchsetzung der Menschenrechte oder bei der Abschaffung der Sklaverei. Stattdessen ist immer nur von Kreuzzügen, Inquisition und Ketzerverbrennungen die Rede, wenn es um die Religion geht. Naturwissenschaft = gut, Religion = schlecht, so lautet die allzu simple Formel. Derselbe Bernulf Kanitscheider schrieb im Alter krass hedonistische Bücher über Lustmaximierung, besonders im sexuellen Bereich. Er fordert z. B. den Vollzug des Geschlechtsverkehrs in der Öffentlichkeit, in Parks, Kneipen, Cafés oder Bibliotheken, um die Lustmaximierung effizienter zu gestalten, weil er offenkundig sonst nicht genügend Möglichkeiten dafür hat. Er fordert die Freigabe der Drogen und versteht dies im Sinn krass individualistischer Selbstverwirklichung. Es komme nicht auf die Gemeinschaft, sondern einzig und allein darauf an, meine, die individuelle Lust zu optimieren. Wir könnten es auch weniger freundlich ausdrücken : Das richtige Verhalten ist nach Kanitscheider der schrankenlose Egoismus, und in diesem Sinn bekämpft er alle Formen von Moral, die den Egoismus einschränken, also das Christentum nicht weniger als den Humanismus, ja er tadelt sogar die Freud’sche Psychoanalyse, weil Freud von ‚Sublimation‘ sprach, da er wohl sah, dass wir unsere Triebenergien nicht einfach nur ausleben können, wenn Kultur, wenn Kunst und Wissenschaft entstehen sollen. Erstaunlich ist, dass diese individualistische Ethik keinen merklichen Protest hervorgerufen hat. Wir sind auf eine Weise ‚tolerant‘ geworden, die schon wieder etwas Charakterloses an sich hat, denn es gab seit 2000 Jahren noch niemals eine Ethik, die auf das Verallgemei140
nerungsprinzip verzichtet hätte, d. h., es gab noch nie eine individualistische Ethik, was so viel ist wie ein eckiger Kreis. Interessant an Kanitscheider ist die ungenierte Verbindung von praktischem und theoretischem Materialismus, die übrigens streng widersprüchlich ist, denn Kanitscheider bestreitet dem Menschen in theoretischer Hinsicht die Freiheit, die er im Praktischen fordert. Was soll es heißen, dass wir alle gesellschaftlich sanktionierten Lustbremsen außer Kraft setzen sollen, das Christentum so gut wie den traditionellen Humanismus, ja sogar Freuds Dialektik der Sublimation im kulturellen Bereich, wenn wir doch gar keine Freiheit haben, so oder anders zu handeln ? Kanitscheider ist wie ein Symbol der Affinität zwischen Hedonismus und Egoismus auf der einen und Physikalismus auf der anderen Seite. Sie verbinden sich in seiner Person, wenn auch auf widersprüchliche Weise. Man versteht nun, woher die unglaubliche Durchschlagskraft des zeitgenössischen Materialismus herrührt. Sie verdankt sich einer Prioritätensetzung, die wir nur halb bewusst, aber kollektiv desto effizienter vollzogen haben. Die Entscheidung nämlich, Konsumtion und Produktion zu den höchsten Göttern im Pantheon unserer Überzeugungen zu machen. Solange diese Götter herrschend sind, wird die Religion als ein Ammenmärchen erscheinen, über das Primitivatheisten ihre unbedarften Witze vom ultimativen Stinker machen. In einer Gesellschaft, die auf dieser Einstellung beruht, hat alles, wie Kant sagen würde, seinen Preis und nichts mehr eine Würde, und so geht sogar die Würde der Wissenschaft verloren, die letztlich zum Steigbügelhalter des Konsumwahns wird. Und weil wir die Wissenschaft als Garanten des ökonomischen Fortschritts sehen, rückt sie an die Stelle der herkömmlichen Metaphysik und wird zur Instanz, die uns vorgeblich das Wesen der Dinge enthüllt. Es zeigt sich : Wer überhaupt an Religion interessiert ist, wird sich kritisch zu den ungeprüften Prämissen unserer Kultur ver141
halten müssen. Viele glauben, dass der tödliche Gegensatz zwischen dem antiken Kaiserkult und dem erstarkenden Christentum eine Sache der Vergangenheit war. Heute hingegen sind wir aufgeklärt, liberal, tolerant. Mag sein. Aber die Gesellschaft als Ganzes ist dennoch gefangen in kollektivem Fehlverhalten und Überzeugungen, die das genaue Gegenteil von dem sind, was das Christentum wollen sollte. Bezüglich Wissenschaft und Technik gibt es eine Wahl zu treffen : Haben wir genug an der theoretischen Durchdringung und an technischer Effizienzsteigerung oder ist uns all dies nur ein Mittel zum Zweck, das Zwecklose, Spielerische, das Selbstgenügsame und Spontane zur Geltung zu bringen, als dessen Aufgipfelung der Glaube seinen Ort hat, der ansonsten im kulturellen Rauschen der Postmoderne untergehen muss ? Vielleicht sollten wir das Dasein im Ganzen anders begreifen. Wir würden dann die Dauer höher schätzen als die Hektik, das Empfangen höher als das Tun. Wir würden die Kontemplation pflegen und das Habenwollen auf den zweiten Rang verweisen. Wir würden technikfreie Räume schaffen, so wie wir heute damit angefangen haben, in gewissen Bereichen Natur sich selbst zu überlassen. Wir würden den Ausdrucksgestalten so viel Aufmerksamkeit widmen wie der Kausalanalyse, d. h., die Kunst hätte denselben Stellenwert wie die Wissenschaft. Wir würden das geschichtlich Unvorhersehbare so hoch schätzen wie die Vorhersage, den qualitativen Diskurs nicht weniger als den quantitativen, und mathematische Präzision wäre nicht länger ein falsches Maß für Rationalität oder Vernünftigkeit. Das Subjektive wäre uns nicht weniger wert als das Objektive, die Achtung nicht weniger als der Nutzen. Die Griechen haben die Idee vom ‚guten Leben‘ entwickelt. Das gute Leben war für sie das erfüllte Leben, d. h. ein Leben, in dem der Mensch all seine Fähigkeiten im harmonischen Zusammenspiel verwirklicht. Sie haben zu diesem Zweck bestimmte Wertehierarchien aufgestellt, die heute anders ausse142
hen müssten, weil die Zeit eine andere geworden ist. Aber sie hatten die Idee, dass der Mensch Möglichkeiten der verschiedensten Art in sich trägt und dass es unsere Pflicht sei, diesen Reichtum zu entfalten und zur Geltung zu bringen. Wenn wir uns an dieses Konzept erinnern würden, würden wir unsere Praxis so ernst nehmen wie die Theorie. Wissenschaft und Lebenswelt kämen in ein Überlegungsgleichgewicht. Dann würden wir die Idee einer ‚Welt an sich‘ verabschieden. Sie wäre ein Grenzbegriff, ein Horizont, der zurückweicht, wenn wir ihn fassen wollen. Wir würden unsere subjektiven Intuitionen so ernst nehmen wie die wissenschaftliche Objektivität, die sowieso nie an ein Ende kommt, und die religiösen Fragen, die letztlich in der Verlängerung dieser Sehnsucht nach dem Horizont einer ‚Welt an sich‘ liegen, würden wieder ihren legitimen Ort im Haushalt unserer Seele haben. Das große Elend der heutigen Zeit ist, dass wir diese Fragen schon gar nicht mehr stellen, so dass die Antworten in der Luft hängen. Man sagt oft im Sinn einer Kritik : Die Theologen geben Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. Es könnte aber ebenso gut sein, dass wir die falschen Fragen stellen und dass uns deshalb die Antworten der Theologen so fremd geworden sind. Wenn wir z. B. die Theodizeefrage stellen, dann muss sich Gott vor uns rechtfertigen. In einer solchen Sichtweise wird Luthers fundamentale Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott ?“ unverständlich. Aber vielleicht hat er die entscheidendere Frage gestellt. Im Leben kommt eigentlich alles darauf an, die richtigen Fragen zu stellen.
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7. Glaube und Wissenschaft
a. Es gibt kein richtiges Leben im falschen Einer der berühmtesten Sätze des Sozialkritikers Theodor Wiesengrund Adorno lautet : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dieser Satz ist seinerseits zugleich richtig und falsch, wie vieles bei Adorno. So auch eine andere berühmte Äußerung von ihm : „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ Er meint in beiden Fällen offenbar dasselbe : Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse krass widersprüchlich sind, dann können wir uns nicht in eine stimmige, private Welt zurückziehen und die Augen vor dem desolaten Zustand der Gesellschaft verschließen. Allerdings wurden sogar in Auschwitz Gedichte geschrieben, und zwar von den Opfern selbst. Hätte man es ihnen verbieten sollen ? Mit dem richtigen und dem falschen Leben scheint Adorno Verhältnisse vor Augen zu haben vergleichbar der Restaurationsepoche Metternichs nach dem Wiener Kongress, also im frühen 19. Jahrhundert. Dies war die Zeit eines selbstzufriedenen spießigen Biedermeier. Wenn man schon keine politische Freiheit hatte, dann wollte man wenigstens das Privatleben in der Kleinfamilie genießen : „Trautes Heim, Glück allein.“ Das „allein“ ist hier bezeichnend. Es drückte sich in der Biedermeierkunst jener Zeit so aus, dass sie sich auf die häusliche Idylle beschränkte. Öffentliche Verhältnisse wurden nicht weiter dargestellt und die häuslichen noch nicht einmal ironisch wie bei Carl Spitzweg, den man deshalb zu Unrecht für einen Biedermeierkünstler hält. Die Maler des Biedermeier waren nicht so doppelbödig wie er, sondern sie beschränkten sich darauf, die 145
Kleinfamilie als den Ort des ungetrübten Glücks darzustellen. Man denke an Maler wie Ludwig Richter, Wilhelm von Kobell oder Ferdinand Georg Waldmüller. Von Waldmüller, einem Günstling Metternichs, gibt es zahlreiche Darstellungen religiöser Feste, so etwa ein berühmtes Bild über den Fronleichnamsmorgen. Dieses Bild ist derart harmlos, dass es schon wieder weh tut. Waldmüller malt hübsch weiß gekleidete Kinder am Morgen des Fronleichnamsfestes, die Muttis und Papis lächeln tief beglückt, selbstverständlich strahlt die Sonne vom azurblauen Himmel, es blühen die Frühlingsblumen, die Vögelein singen, Schmetterlinge flattern fröhlich, und ein jeder ist es zufrieden und lacht. Man würde sich wundern, wenn diese hübschen Kinder im strahlenden Weiß auch mal aufs Klo müssten, statt Nektar und Ambrosia zu verströmen, oder wenn ihre Eltern einen handfesten Ehekrach hätten. Waldmüllers Biedermeierkunst hat auf diese Art etwas durchaus Verlogenes, gemäß dem Wort : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wir werden im Folgenden von dieser Einsicht Adornos Gebrauch machen : Wenn eine Gesellschaft im Wesentlichen auf Konsumoptimierung ausgerichtet ist, die durch schrankenlose Technisierung und eine Instrumentalisierung der Wissenschaft realisiert wird, dann kann Glaube in einer solchen Gesellschaft nur ehrlich bleiben, wenn er diese Rahmenbedingungen kritisiert, und weil dies oft nicht geschieht, gibt es heute regelrechte Biedermeiertheologien, die ihren Frieden mit der Welt geschlossen haben, um auf das Bestehende einen kraftlosen Überbau zu setzen. Die Situation erinnert an die Zeiten des Cäsaropapismus, als alle Welt davon überzeugt war, dass die Fürsten von Gottes Gnaden seien. Die Lehre Jesu steht quer zu solchen Vorstellungen. Er hat sich nicht mit den Herrschenden identifiziert, und so wäre heute wie damals Protest angesagt. Dies ist der Wahrheitsgehalt von Adornos vielzitiertem Satz. Man kann nicht ehrlich bleiben, wenn man ganz bewusst die Augen vor dem Verhängnis verschließt. Das wäre so ähnlich, als 146
würden wir heute die Augen vor dem Elend der Dritten Welt verschließen, als wäre es uns gleichgültig, wenn völlig verzweifelte Menschen in den Krallen krimineller Schlepperbanden übers Mittelmeer geschleust werden, häufig genug ertrinken oder nachher in den Gemüseplantagen Spaniens unter barbarischen Bedingungen schuften wie die Sklaven, nur damit unser Gemüse zehn Cent billiger ist als bei der Konkurrenz. In den Kirchen ist das Bewusstsein solcher Ungerechtigkeiten lebendig. Was die Moral betrifft, so wissen wir, dass ein Christentum, das die Augen vor der Armut in der Welt verschließt, falsch wäre, wie das aufgesetzte Glück des Biedermeier, das fatal an die stets lächelnden Gesichter auf den Propagandaplakaten der Kommunisten erinnert und das eher auf ein Grinsen hinausläuft. In dieser Hinsicht ist es wahr : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ In einer anderen Hinsicht ist es aber ganz verkehrt. Adorno war Neomarxist und Sozialdeterminist, wie alle Marxisten bzw. Neomarxisten. Sie glaubten, dass man durch Sozialtechnologie den guten Menschen hervorbringen könnte. Wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die richtigen wären, dann wäre der Mensch gut, ist er doch nach Marx nichts als das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Dass die russische Revolution die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen konnte, war den Neomarxisten klar, aber sie glaubten, dass die Revolution unter anderen Umständen hätte gelingen können und dass dann der „neue Mensch“ entstanden wäre, ein Mensch, „der des Menschen Freund“ sein würde, wie es Bert Brecht ausgedrückt hat. Die Überzeugung also war, dass man Moralität herstellen kann wie Autos oder Handys. Man muss nur den richtigen Leuten den Kopf abschlagen. All dies ist schrecklicher Unsinn, und so gesehen könnte man ganz im Gegenteil sagen : „Nur im falschen Leben gibt es das richtige“, denn die Verhältnisse sind niemals ideal, und die Menschen müssen schmerzhaft lernen, auch unter sehr bedrücken147
den Verhältnissen ein gutes Leben zu leben. Aber es macht einen Unterschied, ob wir diese bedrückenden Verhältnisse ausblenden und verdrängen oder ob wir uns ihrer bewusst sind, um uns nach Kräften zu wehren. Das Biedermeier war apolitisch und stahl sich sein privates Glück, weshalb die lächelnden Muttis und Papis und die süßen Kleinen so verlogen aussehen. Spießbürgerliche Propaganda für eine Welt, die es niemals gegeben hat.
b. Sozialkritik und das Vertrauen ins Sein Während wir also in moralischer Hinsicht unsere Lektion gelernt haben und uns zu Recht weigern, öffentliche und private Moral zu trennen, steht es in einer anderen Hinsicht nicht so gut um uns : Das Christentum enthält zwar eine Moral, aber es geht nicht im Moralischen auf. Der Kern des Christentums ist eine neue Einstellung zur Realität als Ganzer, innerhalb deren dann die Moral ihren Ort haben wird, aber sie ist nicht alles, denn der Christ begreift die Realität als ein Geschenk. Das verstehen wir unter ‚Gnade‘, diesem Zentralbegriff des christlichen Glaubens. Will man das Geschenk der Realität annehmen, dann fordert dies eine Umkehr, wie das Neue Testament nicht müde wird zu betonen. Geschenk, Umkehr, Gnade, das hört sich alles etwas seltsam an. Wer wird denn so dumm sein, ein Geschenk abzulehnen ? Wenn wir genau das kriegen, was wir wollen, dann sind wir glücklich. Aber manchmal bietet man an uns etwas an, was wir nicht haben wollen, sondern haben sollten, und dann wird die Sache schon schwieriger. Es gibt nämlich Geschenke, die uns demütigen. Wer arm ist, den erinnert sogar die monetäre Gabe umso schmerzhafter an seine Armut. Selbst wenn ich es gut meine, muss ich also darauf achten, den Armen nicht zu demütigen, damit er nicht an seine alte Wunde erinnert wird, dass ich nämlich begütert bin und dass er nichts hat. Deshalb stecken 148
wir dem Armen das Geld ohne viel Aufhebens zu, damit er es ohne Gesichtsverlust annehmen kann. In geistlicher Hinsicht ist all das noch viel dramatischer. Da sind wir nämlich alle arm – alle. Niemand von uns liebt so, wie er lieben könnte oder sollte, noch nicht einmal sich selbst. Die göttliche Liebe ist daher mit einer tiefen Demütigung verbunden, weil wir erst in ihrem Licht unsere wirkliche Armut erkennen. Diesen Anblick würden wir uns gerne ersparen, aber dann haben wir die Luke zu Gott verschlossen. Selbst ein kleines Geschenk anzunehmen, das man bitter nötig hat, ist also schwierig, aber das Geschenk unendlicher Liebe anzunehmen ist eine regelrechte Zumutung. Die Texte des Neuen Testaments hören sich oft ziemlich harmlos an. Wir sollen einander lieben, wie Gott uns geliebt hat. Aber wie hat uns denn Gott geliebt ? Bis zum Tod am Kreuz ! Die Schlichtheit biblischer Texte könnte leicht über ihren Tiefsinn und ihre Radikalität hinwegtäuschen. Im weitesten Sinn ist für den Christen die gesamte Realität ein Geschenk, und zwar in ihren positiven und ihren negativen Aspekten. Auch diese Grundeinstellung ist sehr schwer zu erlernen und noch schwerer zu bewahren. Aus zwei Gründen : Einmal widerspricht sie der verbreiteten Gschaftlhuberei, alles machen, manipulieren und kontrollieren zu wollen, um alles im Griff zu haben, also letztlich Chef zu sein. Man muss vielmehr ganz still werden, wenn man den Geschenkcharakter der Realität annehmen will. Und dann gibt es da noch die vielen großen und kleinen Enttäuschungen und Verletzungen, in denen wir zunächst einmal eher die gegenteilige Erfahrung machen, dass uns nämlich etwas weggenommen und nicht etwa geschenkt wird. Aber oft erweisen sich selbst schlimme Schicksalsschläge als ein Segen, dann nämlich, wenn wir sie aus der Distanz des geduldig Durchlebten rückwirkend betrachten. Das Christentum lehrt im Tiefsten keine neue Moral. Alles Moralische in der Bibel kommt auch in anderen Religionen oder 149
sogar in säkularen Systemen vor. Die Moral ist für das Christentum wie Messer und Gabel für das Essen. Man isst mit Messer und Gabel, aber man isst nicht Messer und Gabel. Daher die scharfe Polemik Jesu gegen die Pharisäer und ihr beständiges Moralisieren. Sie stellten die Moral über die Gabe, das Sollen über das Geschenk. Wenn wir eine neue Haltung zum Sein erlernen möchten, dann müssen wir die alte, von der Gesellschaft stabilisierte und sanktionierte Einstellung verwerfen. Es wurde schon öfters darauf hingewiesen, dass unsere Gesellschaft eine fatale Neigung hat, das Glück im Konsum und im Habenwollen, in der ständigen Aktivität und in der Zerstreuung zu suchen und dass diese kollektive Fehlhaltung über den Transmissionsriemen der Ökonomie bis in die Naturwissenschaft hineinreicht. Von daher sollte jede Theologie zugleich Sozialkritik und Wissenschaftskritik sein. Wer das Bestehende so nimmt, wie es ist, der lebt noch im Biedermeier. Das ist selbstredend bequemer, aber es ist das falsche Leben, wie Adorno sagen würde. Nun ist natürlich nicht alle Theologie angepasst. Es gab große Theologen wie Paul Tillich, die die Herausforderung angenommen haben. Tillich hat ursprünglich über den Deutschen Idealismus promoviert, aber die Erfahrung des Ersten Weltkrieges zerschlug seinen metaphysisch-idealistischen Glauben. Vor allem aber die noch schrecklichere Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ließ ihn das Dämonische unserer Epoche erkennen. Die heutigen Theologen haben den Teufel abgeschafft, und wenn damit ein bocksfüßiger, gehörnter, stinkender Unhold gemeint war, mag dies ein Befreiungsschlag gewesen sein. Aber sie haben uns zugleich damit eine Metapher für das radikal Böse weggenommen, das es nun mal gibt. Dadurch sind wir sprachlos geworden, und wegen dieser Sprachlosigkeit sind wir völlig hilflos, wenn das radikal Böse in Erscheinung tritt. Aber Tillich hielt sich nicht an die verordnete Harmlosigkeit moderner Gutmenschen, sondern legte den Finger in die klaf150
fende Wunde seiner Zeit : Technik und Wissenschaft sind zwar an sich gut, aber wenn eine Epoche wie die unsrige das Habenwollen und die Manipulation für das Wichtigste hält, wenn sie eine aufs Sein gerichtete Vernunft mit bloßer Zweckrationalität verwechselt, dann bemächtigt sich unser eine dämonische Kraft als ein Zerrspiegel des Göttlichen. Tillich setzt zwar bei der Soziallehre der Frankfurter Schule an und bestätigt ihren kritischen Impuls, aber er bettet ihn zugleich in ein christliches Weltund Menschenbild ein, so dass er zweierlei lehrt : einmal die Fundamentalopposition gegen eine fehlgeleitete Gesellschaft und zum anderen ein Vertrauen in das Sein als einer versteckten Präsenz der Gnade im Endlichen. Denn das ist ja die Pointe am Christentum : Entgegen einer verbreiteten Fehldeutung ist das Christentum nicht weltflüchtig. Gegen den Anschein des Bösen vertraut es auf die rettende Kraft Gottes. Es hält an der alten scholastischen Lehre fest, dass das Sein im Kern gut ist : „omne ens bonum“. Alle echten Theologen verbinden Sozialkritik mit einem prinzipiellen Vertrauen in das Sein. Dies unterscheidet sie dann doch von der Frankfurter Schule. Man findet eine ähnliche Grundeinstellung auch bei Karl Rahner, der nach damaligen Kategorien politisch links war. Aber eben nicht nur. In einem schmerzhaften Prozess überwand er die traditionelle neuscholastische Doktrin, die er mit Kant und Heidegger konfrontierte, und mühte sich lebenslang, einen tragfähigen Seinsbegriff zu formulieren, der der Auseinandersetzung mit der Moderne, vor allem mit der Naturwissenschaft, gewachsen wäre. Dass sich die Wissenschaft unter den herrschenden Bedingungen zugleich mit dämonischer Energie auflud, hat er wohl gesehen. Er fasst dies unter dem Begriff der „gnoseologischen Konkupiszenz“. Konkupiszenz im allgemeinen Verständnis ist die Disposition des Menschen zum Bösen. Diese Disposition muss nicht explizit in Erscheinung treten. Niemand muss böse sein. Aber eine gewisse Neigung dazu steckt in jedem von uns. So gesehen ist der Be151
griff der ‚Konkupiszenz‘ ein moralisch-praktischer Begriff. Aber Rahner bezieht ihn auch auf das Erkenntnisvermögen (‚Gnosis‘ ist das griechische Wort für ‚Erkenntnis‘). Auch unser Erkenntnisvermögen hat nach Rahner eine Disposition nicht so sehr zum Bösen als zur Lüge und zur Selbsttäuschung. Rahner bezieht sich hier auf die damals schon bestehende Tendenz, aus der Naturwissenschaft eine materialistische, in sich geschlossene Weltanschauung zu machen. Von daher findet man auch bei Rahner die geforderte Verbindung von Sozial- und Wissenschaftskritik. Nun sind aber nicht alle Theologen so konsequent. Wer beides, Sozial- und Wissenschaftskritik, betreibt, muss gegen den Strom schwimmen, denn nach dem, was hier verschiedentlich ‚epochale Egozentrik‘ genannt wurde, verfallen wir sehr gerne in Selbstgerechtigkeit und finden das gut, was immer und überall geschieht. Der momentane Durchschnitt wird dann zur Norm, zum Gesollten, und die geforderte Umkehr fällt aus oder reduziert sich auf eine aufgesetzte Moral. Natürlich ist es mit den Theologen wie mit den Menschen : Bequem ist angenehm. Von daher ist die Theologie in derselben Gefahr, in der wir alle sind, uns anzupassen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und uns einzureden, wir seien im besten Einvernehmen mit dem Chef des Weltalls. Im 19. Jahrhundert gab es den sogenannten Kulturprotestantismus, der von Hegel vorbereitet war. Hegel hatte den Gott des Christentums durch ein rein immanentes Prinzip ersetzt und die Heilsgeschichte durch die Profangeschichte. Er glaubte, dass sich in der politischen Geschichte das verwirklichen würde, was in der Bibel als eschatologische Hoffnung lebt, nämlich als eine Erfüllung, die in dieser Welt nur punktuell aufblitzt, um sich ansonsten unter einer gigantischen Serie von Zufällen und Katastrophen zu verbergen, um erst im Reich Gottes in Erscheinung zu treten. Hegel aber wollte den universalen Sinn ans Licht des Tages zerren, den Glauben durch das Wissen ersetzen, und er versah deshalb die poli152
tischen Verhältnisse mit der Gloriole des Gesollten, so als wäre der preußische Staat der präsente Gott. Diese Vorstellung beeinflusste gegen Ende des 19. Jahrhunderts Theologen wie Albrecht Ritschl, Adolf Harnack, Ernst Troeltsch und andere. Sie fühlten sich im Bestehenden wohl und hielten das für christlich, was es ohnehin schon gab, weil sie an die prästabilisierte Harmonie von Politik und Religion glaubten. Wir werden nun einige erschreckende Beispiele theologischer Blindheit anführen, die zeigen, dass die Kirche keine heile Welt ist. Während wir uns an Theologen wie Tillich oder Rahner orientieren sollten, machen sich andere die Sache leicht, indem sie den Dingen ihren Lauf lassen, um sich eine gründliche Wissenschafts- und Sozialkritik zu ersparen.
c. Der naturalisierte Glaube So gibt es z. B. inzwischen, von den USA ausgehend, eine neue theologische Richtung des ‚naturalistic faith‘, begründet von dem Biochemiker und Theologen Arthur Peacocke und heute fortgesetzt von Theologen wie Philip Clayton und Nils Gregersen. Solche Theologen akzeptieren den szientifischen Materialismus und Reduktionismus en bloc und glauben dennoch, Theologen bleiben zu können. Sie schwimmen mit dem Strom und reden sich ein, sie könnten dennoch auf diese Art ihr Christentum bewahren oder sogar verbreiten. Bei Clayton läuft es darauf hinaus, dass er alles nacherzählt, was er bei den materialistisch eingestellten Emergenztheoretikern gelesen hat, und nachdem er gemeinsam mit ihnen der Welt jede Art von Geist ausgetrieben hat, hängt er im letzten Kapitel seiner Bücher kompensatorisch jeweils ein christliches Credo an, das aber dort so verloren wirkt wie ein Eichhörnchen in der Wüste oder ein Wiedehopf in der Antarktis, und während er sich schmeichelt, besonders modern zu sein und den ungläubigen Zeitgenossen das 153
Evangelium näherzubringen, nehmen ihn diese überhaupt nicht mehr ernst, und warum sollten sie auch, denn von außen wirkt ein solcher Theologe ideologisch : Die Welt kann sein, wie sie will, der Theologe hat immer recht. Von Karl Popper sollten wir gelernt haben, dass ein Diskurs, der nicht widerlegbar ist, auch nicht wahr sein kann. Wenn das Christentum immer recht hat, dann ist es tautologisch wie A = A. Das kann niemand bestreiten, es bestreitet aber auch niemand, weil es nichts sagt. Die Leichtfertigkeit, mit der gewisse Theologen des ‚naturalistic faith‘ den Naturalismus, also den Materialismus, mit dem christlichen Glauben kurzschließen, gibt es auch in Bezug auf die Technik. So schrieb der Dresdner Theologe Christian Schwarke ein Buch über „Technik und Religion“, in dem er die tödliche Spannung zwischen einer übertechnisierten Welt und dem aufs Empfangen angewiesenen Glauben leichtfertig und rein verbal hinwegerklärt. Es gäbe keinen solchen Gegensatz. Wenn wir richtig hinschauten, würden wir Gott in den technischen Gebilden genauso leicht erkennen wie in denen der Natur. Man stelle sich vor : Ich soll Gott in einem lärmenden Schaufelbagger genauso leicht erkennen wie in der Blüte eines Enzians, der sich der Sonne entgegenstreckt ! Was für ein Unsinn ! Schwarke kritisiert an keiner Stelle die Übertechnisierung der modernen Welt, er lässt alles beim Alten und dekretiert einfach, dass es das Problem der Entfremdung durch Technisierung überhaupt nicht gibt ! Er geht sogar so weit, die penetrante Anwesenheit religiöser Symbole in der Werbung als Argument dafür ins Feld zu führen, dass es keinen wirklichen Gegensatz zwischen Religion und Technik gebe ! Die allgegenwärtige Werbung ist aber der deutlichste Ausdruck des Konsumismus, und der Missbrauch religiöser Symbole für ihre Zwecke ist der Gipfel der Verkehrtheit, aber gerade dies wird von einem Theologen wie Schwarke als Berufungsinstanz für die Präsenz Gottes in der modernen technischen Welt angesehen ! Gott ist hier wie ein argumentativer Joker, den man aus der Tasche zieht, wenn sonst nichts mehr sticht. 154
Theologie bewegt sich hier auf demselben Niveau wie die Esoterik, denn einige Jahrzehnte zuvor hatte ein gewisser Robert Pirsig den Bestseller „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ geschrieben. Pirsig meint dort, es sei klar, dass „die Ursache der Trostlosigkeit der Technik im Unvermögen der Technologen wie der Technikgegner liegt, Qualität in der Technik wahrzunehmen … Die Gottheit wohnt in den Schaltungen eines Digitalrechners oder den Zahnrädern eines Motorradgetriebes ebenso bequem wie auf einem Berggipfel oder im Kelch einer Blüte.“ So kann man die Realität schönreden und solche rein verbalen Kunststücke finden wir auch bei den anderen der oben genannten Autoren im Rahmen des ‚naturalistic faith‘, die über Naturwissenschaft und Glaube geschrieben haben. So behauptet z. B. Arthur Peacocke, dass der Gegensatz zwischen Religion und Physik ein „Mythos“ sei, und so setzt auch er auf eine positivistisch verstandene Wissenschaft Gott als die „höchste Information des Universums“ unvermittelt drauf – aus dem Informationsbegriff lässt sich schließlich alles kneten, weil er notorisch vieldeutig ist. Auch bei Peacocke finden wir keine Sozial-, Technik- oder Wissenschaftskritik. Das Bestehende bleibt in seinem Bestand erhalten und wird lediglich religiös überhöht. Wir können es uns nicht ersparen, den peinlichsten Fall von freiwilliger Gleichschaltung zu erwähnen. Es ist der Fall des wohl bedeutendsten evangelischen Theologe des späteren 20. Jahrhunderts : Wolfhart Pannenberg. Er hat ein umfangreiches Werk von seltenem Scharfsinn und von ebenso seltener Gelehrsamkeit hinterlassen. Daran ist nicht zu rütteln. Allerdings hat er sich in einer bestimmten Hinsicht so gewaltig vertan, dass es auch seine besten Werke ins Zwielicht rückt. 1994 schrieb der amerikanische Physiker Frank Tipler ein phantastisches Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Physik der Unsterblichkeit“. Dieses Buch ist der Ausdruck einer Allmachtsphantasie, die wie eine Apotheose des neuzeitlichen Fort155
schrittsglaubens wirkt. Tipler skizziert nämlich eine Weise, wie es die Menschen fertigbringen würden, das gesamte Universum zu manipulieren, um die Unsterblichkeit technologisch und eigenmächtig herzustellen. Zu diesem Zweck soll die menschliche Intelligenz von ihrem Körpersubstrat abgelöst werden, auf einen Stick geladen und mit Raketen ins Weltall geschossen werden. Weil wir diese vom Körper abgelöste Intelligenz ständig wieder kopieren können, haben wir genügend Zeit, das gesamte Weltall zu besiedeln. Nun ist aber das Weltall nach Tipler ein chaotisches System und in solchen Systemen gibt es immer wieder Singularitäten, besonders sensible Punkte, an denen man mit relativ wenig Energie sehr große Effekte erzielen kann. Wir müssen also nur an der richtigen Stelle eine Wasserstoffbombe zünden, und schon entwickelt sich das Weltall in eine ganz bestimmte, von uns gewünschte Richtung. Es stürzt dann nämlich analog zum Urknall in einem winzigen Punkt zusammen, der zugleich ein Informationsmaximum wäre – so jedenfalls Tipler. Dieses Informationsmaximum ist praktisch unendlich, so dass es alle jemals gelebt habenden Menschen perfekt simulieren kann, und weil eine perfekte Simulation mit dem Simulierten identisch ist – wiederum nach Tipler –, werden wir alle in dieses Informationsmaximum hinein computational auferstehen. Oder, wie es im Korintherbrief heißt : „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg ?“ Tatsächlich fühlt sich Tipler wie der Prophet einer neuen physikalistischen Religion, und er paraphrasiert sogar Martin Luther : „Hier stehe ich, ein Physiker, und kann nicht anders.“ Tiplers Vorstellung ist in jeder Hinsicht wahnwitzig und man kann den Verdacht nicht loswerden, dass Verlage so etwas drucken einzig und allein, um Geld zu machen, nicht weil sie diesen Unsinn im Ernst glauben würden. An Tiplers Konstruktion stimmt nämlich nichts. So sind z. B. Menschen nicht einfach nur vom Körper ablösbare, auf einen Chip zu speichernde Intelligenz, sondern integrale Leib-Seele-Einheiten. Oder im End156
punkt der kosmologischen Entwicklung würden so hohe Drücke und Temperaturen herrschen, dass keine technische Konstruktion überleben würde. Es wird also keinen solchen Endzeitcomputer geben. Aber selbst wenn es ihn gäbe, selbst wenn er die perfekte Simulation aller jemals gelebt habenden Menschen zustande bringen würde, woher weiß der Endzeitcomputer, wer wirklich gelebt hat und wen er einfach nur aus dem Nichts heraus berechnet ? Wie sollte er Fiktion und Realität unterscheiden können ? Die Einwände gegen diesen ScienceFiction-Roman unter dem Vorwand der Wissenschaft liegen also auf der Hand. Aber ausgerechnet für diesen haarsträubenden Unsinn setzte sich Wolfhart Pannenberg ein. Er korrespondierte mit Tipler und ließ sich im Vorwort zu dessen Machwerk im zustimmenden Sinn zitieren und setzte sich bei verschiedenen Veranstaltungen entschieden für ihn ein, zum Entsetzen der Zuhörer, die nichts mehr verstanden. Was soll das heißen ? Wie kann ein Theologe von Rang die Tatsache ignorieren, dass Tipler das Gegenteil von dem anstrebt, was das Christentum seit 2000 Jahren gelehrt hat ? Der Kern des Christentums ist, wie nicht oft genug gesagt werden kann, die Gnade, das Geschenk, das, was wir nicht manipulieren, sondern nur annehmen können. Der Kern der Computertechnologie ist hingegen das Machen und Herstellen und im Falle Tiplers sogar das Herstellen von Unsterblichkeit. Tipler denkt den materialistischen Machbarkeitswahn der Moderne zu Ende. Zwischen diesem technologischen und dem christlichen Konzept kann es keine Vergleichbarkeit geben. Sie verhalten sich wie A und non-A. An Tiplers Position ist – christlich gesehen – nichts zu retten. Wenn ein Theologe diesen auf der Hand liegenden Sachverhalt verkennt, dann heißt es, dass er unsensibel ist für die gesamtgesellschaftliche Tendenz seit der Industriellen Revolution, das Glück der Menschen durch Machbarkeit zu erzwingen. Es heißt, dass solche Theologen den herrschenden gesellschaftli157
chen Trend ignorieren, der ihr eigenes Anliegen von vornherein verunmöglicht.
d. Die Architektur als Symbol Im Alten Testament gab es die Heils- und die Unheilspropheten. Die echten Propheten waren die, die die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisierten, die damals, so wenig wie heute, dem entsprachen, was Gott will. Die Sozialkritik von Amos oder Hosea sucht ihresgleichen. Verglichen mit Amos wirken selbst die schärfsten Sozialkritiker, wie z. B. der Schweizer Jean Ziegler, harmlos. Sehr häufig wurden die alten Propheten verfolgt, also Propheten wie Amos, Elias, Jesaja oder Jeremia, denn sie waren scharfzüngige Dissidenten. Demgegenüber gab es die Propheten des Bestehenden, die Jasager, die die Menschen in ihrer falschen Haltung bestärkten, statt sie zur Umkehr zu bewegen. Im Alten Testament ist es häufig so, dass die Unheilspropheten die wahren, die Heilspropheten aber die falschen sind. Solche unechten Heilspropheten gibt es auch heute wieder. Sie versichern uns, dass unsere Kultur auf dem rechten Wege sei, dass es an unserer Art, Technik und Wissenschaft zu betreiben, nichts zu kritisieren gebe, und dann verzieren sie den umfassenden Rahmen des Falschen mit einer religiös-kompensatorischen Innenwelt, die dadurch ebenfalls falsch wird gemäß Adornos Einsicht, die hier wirklich greift : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wir könnten uns den Sachverhalt auch metaphorisch so verdeutlichen : Durch die gesamte Geschichte war die Architektur ein Symbol der jeweiligen epochalen Befindlichkeit. Wir brauchen nur eine gotische Kathedrale zu betrachten, um zu sehen, wie die Menschen des Mittelalters in ihrem hierarchischen Denken einen steten Verweis auf das Höchste sahen. Die Türme der gotischen Kathedralen sind wie steinerne Finger, die auf Gott 158
hinweisen. Dies ändert sich aber radikal in der Architektur des 20. Jahrhunderts. Hier dominiert das Flachdach, d. h. die Gebäude haben keinen Abschluss mehr nach oben, also keinen symbolischen Transzendenzbezug mehr. Die Architektur ist in letzter Zeit wieder etwas phantasievoller geworden, aber über Jahrzehnte hat man einfach undifferenzierte Klötze hochgezogen. Symptomatisch dafür war das alte World Trade Center in New York. Es war der architektonische regressus in infinitum : Ein Stockwerk wie das andere und wenn in der Nacht ein Dämon zwei oder drei solche Stockwerke draufgesetzt hätte, dann hätte es am nächsten Morgen niemand bemerkt. Die Vertikale spielt in dieser Architektur allem Augenschein zum Trotz keine Rolle. Sie wird neutralisiert, also das Gegenteil der alten gotischen Kathedralen mit ihrer Betonung der vertikalen Hierarchie. Solche Gebäude, die schon von der Form her die Vertikale negieren, sind wie der Ausdruck des modernen Denkens, das keinen Abschluss mehr kennt, was dann durch das Flachdach besonders hervorgehoben wird. Auf dem Evangelischen Kirchentag des Jahres 2001 in Frankfurt am Main wurde schlagartig deutlich, was es heißt, wenn man das moderne Denken unvermittelt sakralisiert. Symbolblinde Organisatoren hatten seinerzeit die merkwürdige Idee, die Flachdächer der Frankfurter Bankentürme – auch solche Klötze – mit aufblasbaren Apostelfiguren zu bestücken, die dem segnenden Jesus vom Corcovadoberg in Rio de Janeiro nachempfunden waren. Das Ganze war teuer, hässlich und sinnlos. Während der Corcovado als eine natürliche Erhebung den sakralen Abschluss zwar nicht verlangt, aber doch ermöglicht, negieren die modernen Hochhäuser einen solchen Abschluss. Sie sind der architektonische regressus in infinitum. Die modernen Gebäude sind nicht auf einen krönenden Abschluss hin angelegt und die Banken schon gar nicht. Entsprechend jammervoll wirkten die zwölf heimatlosen Apostel auf den Geldhäusern 159
Frankfurts. Man hielt sie allgemein für misslungen, gemäß dem Satz : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wir können hierin ein Symbol der kompensatorischen Religiosität der modernen Heilspropheten sehen oder vielleicht noch einen Schritt weiter gehen : Die modernen Großstädte, jedenfalls in ihrer traditionellen Form, sind die Negation von Natur. Obwohl wir von der Natur durch und durch abhängig sind, nehmen wir es in den Großstädten nicht mehr wahr. Wir begegnen dort immer nur noch uns selbst, nicht mehr dem anderen, denn die Natur steht für das nicht von uns Gemachte, das Selbstständige, Sperrige, Autonome. Wir verzehren zwar die Güter der Natur in großen Mengen, wir verbrauchen ihre Rohstoffe, wir überlasten ihre Regelkreisläufe, aber wir sehen es nicht. Die Großstadt ruft in uns die Illusion der Autarkie hervor. Die Lebensmittel kommen ja aus dem Supermarkt, so ähnlich wie unsere Radios und Handys aus der Fabrik kommen. Die durch und durch künstliche Welt der Großstadt erzeugt dann in uns sehr leicht eine kompensatorische Sehnsucht nach unverbrauchter Natur. Aus diesem Grunde ist eine beträchtliche Mehrheit der Städter der Auffassung, es sollte wieder Wölfe, Bären und Luchse in unseren Wäldern geben. Die Betroffenen aber, die auf dem Lande leben, besonders die Viehhalter, sind aus verständlichen Gründen dagegen. Sie haben nämlich mit den Klauen, Zähnen und dem Hunger dieser Tiere zu tun. Wir könnten nun die Naturferne unserer Großstädte als ein Symbol unserer Glaubensferne ansehen und den Versuch, in dieser künstlichen Welt den Glauben zur Geltung zu bringen, als ein Bild der spirituellen Kompensation, die dann entsteht, wenn wir das ganze System nicht mehr in Frage stellen. In Bezug auf die Großstädte geschieht eine solche Infragestellung heute durchaus. Z. B. hat die Frankfurter Stadtverwaltung beschlossen, die Stadt nicht mehr beliebig wuchern zu lassen, sondern erst jenseits eines weit gespannten Grüngürtels, der rund um die Stadt frei bleiben soll. Es wächst also die Einsicht, dass eine durch und 160
durch künstliche Welt keine Welt des Menschen mehr sein würde, weil wir dort die fundamentale Erfahrung unserer Verwurzelung und Abhängigkeit von der Natur nicht mehr machen könnten. Aber viele Großstädter sind da anderer Meinung. Nur noch kahle Betonwände zu sehen stört sie nicht, und als Platzhalter der Natur genügen ihnen die Geranien vor dem Fenster, die keine Klauen und Zähne haben und die ebenso gut auch aus Plastik sein könnten. Tatsächlich findet man in Bürogebäuden oder auch bei Behörden, Banken oder beim Zahnarzt immer mehr Plastikblumen, so wie man auch Kaminfeuer oder Aquarien auf dem Bildschirm bewundern darf. Dieses Kompensatorische hat sein Pendant in einer aufgesetzten Religiosität, die den Betrieb des Ganzen nicht mehr stört, sondern sich zur übertechnisierten, naturfernen Realität verhält wie die aufgeblasenen, heimatlosen Apostelfiguren auf den Frankfurter Hochhäusern. Von dieser Art ist der „naturalistic faith“ der Peacocks und Claytons oder die Technikdeutung Schwarkes. Wir können das Verquere, das dem zugrunde liegt, mit der Geldwirtschaft vergleichen, mit dem diese Weltanschauung auch versteckt zusammenhängt. Wer naiv fragt, wo Gott in der heutigen wissenschaftlichen Weltkonstruktion oder in der modernen Technik zu finden sei, der verhält sich wie jemand, der Gott im Geld suchen würde mit dem Argument, Gott sei überall, also auch im Geld. Das mag vielleicht wahr sein, aber für uns nicht deutlich, denn das Geld hat seine Sinnspitze nur als Mittel zum Zweck, während Gott selbstzwecklich ist. Derjenige, der fragt, wozu Gott gut sei, steht schon außerhalb. Gott ist gut, weil er gut ist, und alle monetären Kategorien kommen hier zu spät, denn das Geld ist keine Substanz, sondern eine bloße Relation als Mittel zu ihr äußerlichen Zwecken. Deshalb ist ein Thema wie „Gott und Geld“ sinnlos. Sollte beides einen wie auch immer gearteten Be161
zug haben, dann nur über die Handlungen der Menschen, für die das Geld Mittel zu einem höheren Zweck wird. Wer mit seinem Geld Gutes tut, der mag zu Gott eine Beziehung aufbauen, aber nur weil seine Handlung diesen Bezug hat, nicht weil das Geld per se einen Gottesbezug einschließen würde. Genauso verhält es sich in den Bereichen von Wissenschaft und Technik. Per se sind sie reduktionistisch und haben mit der Welt des Glaubens so wenig zu tun wie Gott mit dem Geld. Erst wenn wir Wissenschaft und Technik in einen umfassenderen Zusammenhang stellen, können wir die Querverbindungen sehen. Erst wenn wir die neutralen Funktionen der Naturwissenschaft in unsere qualitative Lebenswelt rückübersetzen, wenn wir sie hermeneutisch anreichern, erst dann lässt sich eine Brücke über den Abgrund schlagen, und dasselbe ist der Fall mit der modernen Technik. Der Schaufelbagger repräsentiert als solcher nicht etwa Gott, wie Schwarke annimmt. Er steht nur für die Machtausübung des Menschen und Gott ist eben nicht nur der Mächtige, sondern zugleich der Liebende. Was haben denn Liebe und Technik miteinander zu tun, und weshalb reagieren wir so allergisch, wenn einer von ‚Liebestechnik‘ spricht ? Die Liebe kommt in der kalten Technik nur zum Tragen, wenn wir das Technische als Mittel zu qualitativen Zwecken gebrauchen, wenn wir mit der Technik, wie auch mit dem Geld, Gutes tun, erst dann mag etwas vom Göttlichen aufblitzen, aber nicht wegen, sondern durch die Technik. Die Technik als solche ist stumpf und stumm. Sie redet nicht. Schwarke dekretiert auch hier ganz einfach, dass Technik das Vehikel des „Unverfügbaren“ sei. Das Gegenteil ist der Fall ! Technik steht eindeutig und ohne Wenn und Aber für die Verfügungsmacht des Menschen über die Natur. Dazu ist sie gemacht und das Unverfügbare kommt erst in die Technik, wenn sie mit Nichttechnischem in Zusammenhang gebracht wird, wie etwa mit dem ethischen Handeln. Das heißt also : Wir müssen einen Schritt zurücktreten. Wir müssen die Fixierung auf Wissenschaft und Technik durchbre162
chen, ihre Binnenwelt auflösen, um sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, und das heißt, wir müssen die Einrichtung der heutigen Gesellschaft kritisieren, die eine prinzipiell materialistische Stoßrichtung hat. Dieser praktische Materialismus des Habenwollens und des ständig wachsenden Konsums durchdringen sich im Bereich von Wissenschaft und Technik mit einer Ideologie des rein Diesseitigen, und erst wenn wir diese Ideologie kritisieren, haben wir das Recht, wieder von so etwas wie ‚Gott‘ zu reden. In einer Gesellschaft, die vom Habenwollen und vom Konsumismus dominiert wird, ist die Rede von ‚Gott‘ inhaltsleer, und sie erzeugt deshalb keine Resonanz mehr in den ausgedörrten Seelen. Da helfen auch keine neuen Bibelübersetzungen oder wohlgemeinte Predigten für den ‚modernen Menschen‘. Das Ganze muss von Grund auf saniert werden. Es wäre nun aber ganz falsch, zu glauben, dass alle Theologen angepasst sind, so dass sie das Problem der Wissenschaftskritik nicht sehen würden. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass große Theologen wie Paul Tillich oder Karl Rahner sehr wohl wussten, dass wir in wissenschaftlich-technischen Engführungen befangen sind und dass wir einen umfassenderen Seinsbegriff bräuchten, um diese Engführungen zu vermeiden. Solche Theologen gibt es auch heute noch, und manche von ihnen haben sich gerade mit den Engführungen im Bereich der Naturwissenschaft beschäftigt, um Raum zu schaffen für den echten Glauben, der sich nicht mit dem falschen Leben im falschen zufrieden gibt. In Bezug auf die Naturwissenschaft ginge es darum, ihren eingebauten Reduktionismus zu durchschauen und zu kritisieren. Dieser Reduktionismus ist per se nicht schlecht, vielmehr beruht der Erfolg der Naturwissenschaft gerade auf ihm. Indem Naturwissenschaft von allem Qualitativen abstrahiert, indem sie Ziele, Werte, Zwecke und Erlebnisqualitäten ausblendet, ist sie imstande, das Seiende als Fall eines abstrakten Naturgesetzes zu begreifen. Aber eben deshalb erfasst sie nicht mehr das 163
ganze Objekt. Was sie erfasst, ist das Objekt unter einer ganz bestimmten Rücksicht. Es verhält sich damit ungefähr so, als würde jemand, der keine Ahnung vom Schachspiel hat, zwei Spieler beobachten, um die Gesetzmäßigkeiten ihres Spiels herauszufinden. Nach kurzer Zeit würde er eine Liste anlegen, welche Züge einem Bauern, einem Turm oder der Königin erlaubt sind, und er würde glauben, das Spiel hinreichend begriffen zu haben. Vom nomologischen Standpunkt des Naturwissenschaftlers aus gesehen, der auf Gesetzmäßigkeiten aus ist, wäre das auch ganz richtig, aber vom teleologischen Standpunkt der beteiligten Akteure her gesehen wäre es ganz ungenügend, denn die Regeln des Schachs geben keine Auskunft über die Strategie der beteiligten Spieler. Man muss schon wissen, dass hier eine Strategie verfolgt wird, um sie als solche zu erkennen. Wer nur auf die Gesetzmäßigkeiten achtet, wird sie niemals zu Gesicht bekommen. Wenn wir den Sinn eines Spiels erkennen wollen, dann müssen wir das Register wechseln. Aus diesem Grunde sehen die Biologen in der Evolution keinen Sinn und keine Richtung, was wiederum kein Schaden ist, wenn sie sich ihrer methodischen Ausblendungen bewusst sind und sich auf das Labor beschränken. Jede Methode erschließt und verbirgt zugleich, und das große Problem heute ist, dass wir glauben, die Erfolge der naturwissenschaftlichen Methode müssten nicht mit einem Verlust erkauft werden ; und das ist insbesondere von Bedeutung, wenn es um das Lebendige geht.
e. Mutige Theologen Im Jahr 2009 war Darwin-Jubiläum : 150 Jahre seit Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“. Rechtzeitig zu diesem Jubiläum erschienen einige theologische Publikationen, um das Verhältnis Evolution – Schöpfung zu klären, so jeweils ein Buch der Theologen Hans Kessler und Christian Kummer. Der ent164
scheidende Punkt, um den es hier geht, sollte gerade mit dem Vergleich des Schachspiels deutlich gemacht werden : Wenn wir uns auf die abstrakten Gesetzmäßigkeiten der Natur festlegen, dann verlieren wir notgedrungen die Strategie der Natur aus dem Blick, wenn sie eine hat. Das ist natürlich von vornherein nicht so klar, aber eines kann man sicher sagen : Sollte die Natur nicht nur ein Kausal-, sondern auch ein Sinnzusammenhang sein, dann wird er in der Biologie nicht zu Gesicht kommen, sondern höchstens von einem umfassenderen Standpunkt aus, der dann aber metaphysisch zu begründen wäre. Die Fragen nach Sinn und Zweck sind metaphysische Fragen. Eine Frage nennen wir ‚metaphysisch‘, wenn sie sich aufs Ganze bezieht, während sich empirische Fragen immer nur auf einen bestimmten Aspekt des Seienden beschränken. Dies ist das Feld der Erfahrungswissenschaften wie Physik, Chemie oder Biologie. Man hat oft eingewendet, dass sich die physikalische Kosmologie auf das Ganze bezieht, aber das ist so nicht ganz richtig. Die physikalische Kosmologie bezieht sich zwar auf das Ganze, aber wiederum nur unter einer ganz bestimmten Rücksicht. Sie behandelt z. B. den Kosmos nicht als einen, der den Menschen hervorgebracht hat, denn die physikalische Kosmologie bezieht sich nicht auf den Menschen und auch nicht auf das außermenschliche Leben. Das heißt : Auch in der Kosmologie haben wir keinen umfassenden Seinsbegriff, sondern nur einen, der sich durch die Physik definiert. Wollen wir ernstlich einen Blick aufs Ganze werfen, dann genügt die Erfahrungswissenschaft nicht mehr, sondern wir müssen zur Metaphysik übergehen und ihre näheren Bestimmungen entfalten. Das heißt also : Wollen wir keine kompensatorische Biedermeiertheologie wie im ‚naturalistic faith‘, dann müssen wir auf einen ursprünglicheren Naturbegriff zurückgehen, der der Forschung voraus- oder auch ihr zugrunde liegt. Zu diesem Zweck entwickelt Kessler eine sogenannte ‚Schichtenontologie‘, also die Vorstellung, dass das Sein in Graden kommt, in nicht aufeinan165
der reduzierbaren Formen, die sich hierarchisch überlagern, während Kummer als doppelt qualifizierter Theologe und Biologe zeigt, wie das Lebendige nur hinreichend verstanden werden kann, wenn wir so etwas wie eine Aristotelische ‚Entelechie‘ annehmen, d. h. ein Prinzip der Form und der immanenten Zweckmäßigkeit. Die Details sind hier ohne Belang. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass es auch Theologen gibt, die gegen den Strom schwimmen, denn wer sich heute noch auf eine Metaphysik der Natur beruft und wer von dort aus die Geltungsansprüche der Szientisten zurückweist, wonach sie das Wesen der Dinge schon in der Tasche haben, der erscheint dem Mainstream der Intellektuellen nicht etwa als ein mutiger Schwimmer gegen den Strom, sondern als ein metaphysischer Geisterfahrer. Während alle in die richtige Richtung steuern, hat er sich zu einem selbstmörderischen Kamikazeflug entschlossen. Allerdings gilt in Sachen Wahrheit nicht die Mehrheit, sondern das bessere Argument, und es scheint, dass diese kritischen Theologen das bessere Argument auf ihrer Seite haben. Jedenfalls haben sie den Mut, dem Zeitgeist zu widersprechen, und das ist es, was ein Christ jederzeit tun sollte. Manche Theologen, wie z. B. Tobias Müller oder Bernhard Dörr, machen die Prozessmetaphysik A. N. Whiteheads als Vermittlungsinstanz stark. Diese Metaphysik ist sehr anspruchsvoll, und wer sie vertritt, setzt sich starken Einwänden von allen Seiten aus. Aber immerhin gibt es solche Theologen, die dem standhalten. Man muss einfach sehen, dass man die Schöpfungstheologie nicht zum Nulltarif haben kann. An sich gibt es überhaupt nichts zum Nulltarif auf dieser Welt, aber ganz sicher nicht die Theologie. Die christliche Theologie ist eben nicht nur eine Morallehre, sondern sie beinhaltet die Überzeugung von der Natur als einem Sinnzusammenhang. Demjenigen, der nur die erfahrungswissenschaftliche Perspektive kennt, löst sich dieser Sinnzusammenhang in eine krause Mischung von Zufall und Notwendigkeit auf. Regel166
lose Zufälle und blinde Notwendigkeit, das ist alles. Um unseren Vergleich mit dem Schachspiel nochmals zu bemühen : Wer dieses Spiel nicht kennt und wer nur auf die Gesetzmäßigkeiten der Spielfiguren achtet, der wird im Spiel ebenfalls nichts anderes wahrnehmen als eine solche krause Mischung aus Zufall und Notwendigkeit. Dass ich den Läufer nur diagonal, den Turm aber senkrecht und waagrecht ziehen kann, wird durch die Schachregeln festgelegt. Dass ich im konkreten Fall den Läufer nur zwei und nicht etwa drei oder vier Felder quer ziehe, folgt nicht aus den Regeln, ist also relativ zu ihnen zufällig. Aber gerade in diesem Zufälligen verbirgt sich die Strategie der Spieler. Sollte die Evolution einen Zweck haben, dann würde er sich für den Blick dessen, der sich auf die Gesetzlichkeit beschränkt, in einem Meer von Zufälligkeiten untergehen. Der Metaphysiker aber zeigt, dass der Zufall Sinnträger sein kann. Zufall und Notwendigkeit sind nicht das letzte Wort. Worauf es also ankommt, ist, dass der Theologe den Blick aufs Ganze freihält, dass er zeigt, wie die eingeschränkte Perspektive der Naturgesetzlichkeit einen zwar fruchtbaren, aber eben nur einen eingeschränkten Blick freigibt, der seine Sinnspitze eher in der technischen Weltbewältigung als in der Wesenserkenntnis hat. Und was die technische Weltbewältigung anbelangt, so beruht auch sie auf einem ebenfalls sehr fruchtbaren, aber zugleich auch eingeschränkten Blick. Technologisch gesehen, wird alles Seiende zum Mittel für die von uns gesetzten Zwecke. Das Seiende hat nun keinen Eigenwert mehr. Man könnte es auch so ausdrücken : Technologisch gesehen, gibt es in dieser Welt nur behandelbare Materie, keine autonomen Lebewesen, geschweige denn echte Moralität. Deshalb degeneriert einem reduktionistisch eingestellten Biologen wie Richard Dawkins das Lebendige zu einer „genetisch programmierten Überlebensmaschine“, wie er es nennt, und die Moralität zum rein strategischen Verhalten. In beiden Bereichen kommt das Gute als solches nicht mehr zur Geltung. 167
Wenn man nun, wie gezeigt, diese eingeschränkten Weisen des Umgangs mit der Welt verabsolutiert, wenn wir uns einreden, wir hätten mit ihrer Hilfe das Wesen der Dinge schon perfekt im Griff, wenn wir die Effizienz der wissenschaftlich-technischen Verfahren zum Höchstwert hochstilisieren, dann erscheinen Wissenschaft und Technik wie ein einziger Gotteswiderlegungsbeweis. Der Materialismus wird dann alternativlos, weil sich jetzt der praktische in den theoretischen Materialismus hinein fortsetzt. Das verdinglichte Verständnis von Wissenschaft und Technik wird dann zum Erfüllungsgehilfen unserer Manipulations- und Konsumgier, die grenzenlos sind : „Geiz ist geil.“ Wenn sich eine Gesellschaft im Ganzen auf solche schiefen Prinzipien hin festlegt, dann wird der regressus in infinitum zur Pflicht. Ständige Steigerung des Bruttosozialprodukts, ständige Steigerung der Verfügbarkeit beliebiger Warenströme, immer größere Teilchenbeschleuniger, immer mehr Pferdestärken, immer mehr Speicherplatz im Computer, ständige Leistungssteigerung im Sport usw. Wuchert im menschlichen Körper eine Zellsorte unabhängig vom Ganzen, dann nennen wir das ‚Krebs‘. Es könnte sein, dass das unbegrenzte Wachstum in Ökonomie und Technik eine solche universale Krebskrankheit ist. Nun gab es einige verantwortungsvolle Technikphilosophen, die diesen selbstzerstörerischen Trend aufgrund intimer Kenntnis des Sachverhalts kritisiert haben. So schrieb z. B. der Physikochemiker und Philosoph Hans Sachsse gegen Ende seines Lebens ein Buch, in dem er unseren Umgang mit der Technik von Grund auf kritisierte. Wohlgemerkt einer, der jahrelang in der Industrie gearbeitet hatte und der wusste, wovon er redete. Unsere Gesellschaft verhält sich nach Sachsse wie ein Teenager ohne Führerschein, der den Zündschlüssel des Vaters gestohlen hat, um den Rausch der Geschwindigkeit zu genießen. So etwas endet leicht im Straßengraben. Oder der Physiker und Technikphilosoph Friedrich Rapp schrieb, ebenfalls am Ende seiner Karriere, ein Buch mit dem 168
Titel „Destruktive Freiheit – ein Plädoyer gegen die Maßlosigkeit der modernen Welt“. Das Buch war als Vermächtnis gedacht. Ein kluger, verantwortungsvoller Philosoph wendet sich hier am Ende seines Lebens voll Sorge an die Öffentlichkeit, um sie vor einem Irrweg zu warnen. Das Buch wurde kaum gelesen, so wie die Warnungen von Sachsse kaum zur Kenntnis genommen wurden. Wer fundamentale Kritik an unserem Sozialverhalten übt, der macht sich leicht unbeliebt oder man ignoriert ihn ganz einfach. Sachsse und Rapp waren keine Atheisten. Sie hatten das getan, was wir alle tun sollten : Sie hatten sich dem allgemeinen Trend der Maßlosigkeit entgegengestellt, um den Blick für das Unverfügbare freizuhalten. Nur dann hat man ein Recht, das Wort ‚Gott‘ überhaupt in den Mund zu nehmen. Es gibt gegen Adorno durchaus ein richtiges Leben im falschen, aber nur dann, wenn man sich der Falschheit bewusst ist und mit Kräften dagegen ankämpft, mag der Kampf noch so aussichtslos erscheinen. Auch David erschien zunächst einmal aussichtslos im Kampf gegen Goliath und hat doch gewonnen. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt Paulus.
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8. Theologie der Natur
a. Das faktisch- und das normativ-Allgemeine Es wird im Allgemeinen unterschieden zwischen einer ‚natürlichen Theologie‘ und einer ‚Theologie der Natur‘. Die natürliche Theologie müht sich, mit den Mitteln der bloßen Vernunft – unabhängig von aller Offenbarung – die Existenz Gottes einsichtig zu machen. Es handelt sich um eine philosophische Disziplin, die keine Glaubensvoraussetzungen macht. Im Grenzfall macht sie sich anheischig, die Existenz Gottes zu beweisen. Dagegen geht die Theologie der Natur vom Glauben aus, den sie als wahr unterstellt, um dann zu fragen, ob denn unser Wissen von der Natur im Referenzrahmen der Theologie überhaupt noch Sinn macht. Das ist von vornherein nicht so klar. Wenn wir bedenken, wie riesig der Kosmos in zeitlicher und räumlicher Hinsicht ist, dann wird fraglich, ob wir den Menschen noch als die Krone der Schöpfung betrachten können, wie die Bibel annimmt, und wenn wir bedenken, dass in der Natur jeder jeden frisst, dann wird die Rede vom ‚guten Schöpfergott‘ höchst fraglich. Auf der anderen Seite muss unser Naturwissen in die Schöpfungstheologie integrierbar sein, sonst ist sie nicht mehr vertrauenswürdig. Es geht also um das alte Programm des Anselm von Canterbury, nämlich eines „fides quaerens intellectum“, d. h. eines Glaubens, der die vernünftige Vergewisserung sucht, nicht um ihn zu beweisen, sondern um zu zeigen, dass er nicht unvernünftig ist. Dabei geht es um Sein oder Nichtsein des Glaubens. Das Christentum hat sich seit den Kirchenvätern auf die Seite der Vernunft und gegen den irrationalen Mythos gestellt, und 171
wenn der Glaube der Vernunft, d. h. auch der wissenschaftlichen Vernunft, widerspräche, dann müsste man ihn aufgeben. Zunächst einmal könnten wir vermuten, dass das Programm eines „fides quaerens intellectum“ bezüglich der Naturwissenschaft heute nicht mehr durchführbar sei. Wir haben gesehen, dass Naturwissenschaft auf der Objektebene von allen Zielen, Werten, Sinnperspektiven oder Normen abstrahiert. Der von der Naturwissenschaft beschriebene Kosmos ist wertneutral, und das widerspricht direkt der Bibel, die durchweg lehrt, dass Gott ein Ziel mit seiner Schöpfung hat. Die Schöpfung müsste also von Werten durchdrungen sein, und genau das bestreitet die Naturwissenschaft und deshalb kommt der Konflikt zwischen beiden nicht von ungefähr und ist auch nicht so leicht aus der Welt zu schaffen, wie manche glauben. Wir könnten weiter darauf hinweisen, dass eine werthafte Interpretation von Natur leicht abergläubisch, zumindest aber im schlechten Sinne antropomorph ausfallen müsste. Über Jahrtausende haben die Menschen in den Metallen und Edelsteinen eine natürliche Hierarchie vermutet, symbolisch werthaft angeordnet auf verschiedenen Seinsstufen. Dasselbe haben sie von den Elementen geglaubt : Erde, Wasser, Luft und Feuer waren in dieser Reihenfolge immer ‚edler‘. Die Beweglichkeit der Luft und des Feuers stand symbolisch für das Geistige, die Erde für das Endliche, für den Verfall, denn in der Erde enden wir schließlich alle einmal, während sich die Seele in die Lüfte schwingt, wie das Feuer, das immer nach oben strebt, wo alles licht und frei ist. Wir werden solche Metaphern allenfalls noch in der Poesie dulden, die wir nicht sonderlich ernst nehmen. In der Wissenschaft haben solche Symbole ausgedient, und wer wieder Sinn, Ziel und Zweck in die Kosmologie einführt, wie Thomas Nagel, der im dritten Kapitel erwähnt wurde, der bekommt die Verachtung der scientific community zu spüren. Aber an dieser Stelle gibt es keine Kompromisse. Wenn die Welt nur aus wertfreien Fakten besteht, dann kann sie nicht von 172
Gott erschaffen sein, der der Gute ist. Es ist zwingend, dass es das Gute in der Welt geben muss, wenn Glaube möglich sein soll, denn der Glaube ist nicht voraussetzungslos, und ohne Metaphysik werden wir hier nicht weiterkommen, denn vor allem die These, dass es in der Natur Werte gibt, ist nur metaphysisch begründbar, wobei wir allerdings vorsichtig sein müssen, nicht zu viel zu beweisen, denn in der Vergangenheit waren die Philosophen viel zu optimistisch, wenn sie unterstellten, dass in allem eine Idee am Werke ist, die alle Prozesse auf ein gutes Ende hinführt. Das Gegenteil unterstellt der Szientist : Es gibt in einem ontologischen Sinn überhaupt keine Werte, insbesondere nicht in der Natur. Allerdings haben wir im dritten Kapitel im Zusammenhang mit dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz darauf hingewiesen, dass wir von einem lebensweltlichen Standpunkt aus kaum vermeiden können, die Reiche der Natur zu werten. Wir können es uns nicht abgewöhnen, zu glauben, dass ein Mensch mehr ist als ein Schimpanse und ein Schimpanse mehr als eine Qualle oder diese mehr als ein Einzeller. Die Frage nach den Werten, nach dem Guten in der Natur, steht also auf der Agenda. Allerdings drohen hier zahlreiche Fallstricke. Nicht nur der eines schlechten Anthropomorphismus, sondern vor allem der, dass wir das Gute weder in der Natur noch sonst wo frei Haus bekommen. Das Gute ist selten, wie die Goldkörner in einem kalifornischen oder kanadischen Fluss, und man braucht ein besonders geschultes Auge, um es überhaupt zu erkennen. Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, dass es durchaus verantwortungsvolle Theologen gibt, die es sich nicht leicht machen und die auch bereit sind, den metaphysischen Preis für eine Schöpfungstheologie zu bezahlen, der darin besteht, den Kosmos auf Sinnperspektiven hin zu beziehen, die in der Naturwissenschaft noch nicht enthalten sind. Zu diesem Zweck müssen sie ihren Geltungsanspruch beschränken, denn wenn Naturwissenschaft bereits alles enthält, sogar das verborgene Wesen der 173
Dinge, dann folgt aus der Abwesenheit Gottes in den Formeln der Physik zwingend der Atheismus, ebenso aus der Biologie, wo Gott genauso wenig vorkommt. Allerdings sollten wir mit metaphysischen Aussagen vorsichtig sein, wenn wir sie als ein verbindendes Glied zwischen Naturwissenschaft und Theologie einfügen. Die Metaphysik war in der Geschichte dieser Disziplin oft mit überhöhten Geltungsansprüchen belastet und sie war oft auf eine Weise optimistisch, die wir heute nicht mehr akzeptieren können. Darauf haben wir bereits im sechsten Kapitel hingewiesen. Bei Plato war die höchste Idee die Idee des Guten, und weil alle anderen Ideen von dieser höchsten Idee abhängig waren, war die Welt von Natur aus gut. Dies führte in der Folge zu einer transzendentalen Ontologie, die das Gute zum Seinsbestand der Dinge rechnete : „omne ens bonum“. Vom Wesen her ist alles Existierende wertdurchdrungen und deshalb im Prinzip gut. Im Mittelalter ging man so weit, zu behaupten, sogar der Teufel sei als solcher gut, er habe lediglich einen verderbten Willen. Würden wir also z. B. behaupten wollen, Adolf Hitler und Josef Stalin seien an sich gut, trotz ihrer verabscheuungswürdigen Taten ? Würden wir behaupten, dass in den Tiefen ihrer Seele das Gute lebendig war, unbeschadet ihres gewissenlosen Verhaltens ? Man hat gemäß diesem merkwürdigen Konzept das Böse als ‚privatio boni‘ definiert, als Abwesenheit des Guten nach dem Muster der Blindheit oder Taubheit. Wer blind oder taub ist, ist immer noch ein Mensch mit allen positiven Eigenschaften, die er sonst noch hat und die unberührt bleiben von seinem Mangel. Wir könnten also von einem ‚akzidentellen Defekt‘ sprechen. Das Böse wäre dann so etwas wie ein Charakterfehler. Aber würde das nicht auf eine skandalöse Verharmlosung hinauslaufen, wenn wir an Hitler oder an Stalin denken ? Es ist Verharmlosung, sie trotz ihrer Taten ‚gut‘ zu nennen. Würden wir dieses fundamental Gute auch auf Naturkatastrophen beziehen, Überschwemmungen, Erdbeben, Tsunamis, Wirbelstürme, Vulkan174
ausbrüche oder Epidemien ? Würden wir wirklich glauben, dass all dieses Schlechte und Schädliche rein akzidentell sei, während die Substanz der Dinge davon unberührt bliebe, aus dem Grunde, weil doch alles an sich gut ist ? Würden wir also, mit anderen Worten, das Negative in der Welt mit einer in den Schmutz gefallenen Münze vergleichen, die man jederzeit blank reiben kann, als käme sie gerade frisch aus der Prägemaschine, so dass das Negative keine intrinsische Eigenschaft der Dinge wäre ? Das Böse, ein Oberflächenphänomen ? Einen solchen metaphysischen Optimismus hat Leibniz auf die Spitze getrieben, als er behauptete, wir lebten in „der besten aller möglichen Welten“. Man kann nicht sagen, dass so etwas schon in der Bibel steht, und zwar auf der ersten Seite, wo Gott die Schöpfung „sehr gut“ nennt. „Sehr gut“ ist sie qua Schöpfung, aber nicht in ihrer durch die Sünde verunstalteten Form und wenn ein Christ an die gute Schöpfung glaubt und wenn er sogar das Prinzip „omne ens bonum“ unterschreibt, dann eher im Sinn einer Verheißung denn als abrufbares Resultat oder als beweisbare philosophische Doktrin. Das Gute ist nicht flächendeckend, sondern eher wie ein glückhaftes Ereignis, das unvorhersehbar eintritt und schon wieder verschwindet, es hat etwas Quecksilbriges an sich. Bei den Engländern heißt dieses Metall, das unter Normalbedingungen flüssig ist, ‚quicksilver‘, also ein ‚schnelles‘ Silber, das blitzt und wieder verschwindet und das man nicht gut greifen kann. Diese Vorüberlegungen sind nötig, weil wir durch moderne Wissenschaft und durch eine allzu optimistische philosophische Tradition gerne unterstellen, dass das Gute eine allgemeine Eigenschaft des Kosmos sein müsste wie die Schwerkraft, die alles durchdringt. So hat es ja auch Thomas Nagel gesehen, als er vorschlug, die bekannten physikalischen Gesetze durch teleologische zu ergänzen, weil der Kosmos auf den Menschen hin ausgerichtet sei, also eine idealische Komponente habe. In diesem Fall wäre die ganze Entwicklung zutiefst werthaft durchdrun175
gen wie von einer Naturkraft. So wurde auch das Prinzip, dass letztlich alles gut sei, in der Regel verstanden. Aber dann kann man leicht widerlegt werden. Im Grunde ist dann jede Katastrophe eine Widerlegungsinstanz für das Gute. Geschichtsmächtig erfahrbar wurde dies anlässlich des schrecklichen Erdbebens von Lissabon im Jahr 1755, das sich ausgerechnet am Allerheiligenfest ereignete und bei dem auf einen Schlag 30 000 Menschen umkamen, vor allem weil sie sich zu dieser Zeit in der Kirche aufhielten, so dass sie von den herabfallenden Steinen erschlagen wurden. Und ausgerechnet das Rotlichtviertel Lissabons, ‚Alfama‘, blieb unzerstört ! Wie konnte Gott so etwas zulassen, fragte sich damals schon der sechsjährige Goethe, und Voltaire schrieb sofort ein Spottgedicht über Leibniz’ „beste aller möglichen Welten“, in der wir nach dessen Meinung leben. Nun fand dieses Erdbeben im 18. Jahrhundert statt, d. h. zur Zeit der Aufklärung. Nicht nur in der Menschheitsgeschichte, auch in der Natur sollte es vernünftig zugehen, so glaubte man, da alles auf das Gute hin ausgerichtet war, und unter dieser Voraussetzung war natürlich das Erdbeben von Lissabon ein Schlag ins Gesicht. Würde auch ein gläubiger Christ so reagiert haben ? Würde er sich nicht daran erinnern, dass das biblische Buch der Apokalypse ähnliche Katastrophen schildert, von denen gerade nicht unterstellt wird, dass sie dem Heilsplan Gottes zuwiderlaufen ? Und wenn wir schon die Ereignisse auf Gottes Ratschluss zurückführen möchten – was arrogant genug ist –, würden wir uns dann nicht daran erinnern, dass es die Portugiesen waren, die als erste Kolonialmacht der Geschichte die halbe Welt ausraubten, so dass die Pracht ihrer Kirchen gestohlen war ? Und würden wir uns nicht weiter daran erinnern, dass der Meister selbst, Jesus Christus, den schändlichsten Tod erleiden musste, obwohl er nichts Böses getan hatte ? Mit einem Wort : Würden wir nicht immer schon wissen, dass bestimmte Katastrophen mit 176
zum Dasein gehören und dass ein solches Erdbeben – christlich gesehen – kein prinzipieller Einwand gegen den Glauben sein wird, sondern höchstens gegen den platten Vernunftoptimismus der Aufklärung, den die Bibel gerade nicht lehrt ? Die Idee, dass im Grunde alles gut sei, ist entweder ein Glaubensartikel, den man nicht beweisen kann, oder er ist offenkundig falsch. Aber wir haben eben die merkwürdige Tendenz, das, was wir für real halten, nach dem Modell einer Naturkraft zu verstehen, die überall wirksam sein müsste. Deshalb glauben wir an das Gute nur, wenn es flächendeckend in Erscheinung tritt, und wenn dies nicht der Fall ist, dann glauben wir, die Welt sei schlecht, Gott sei schlecht oder er existiere überhaupt nicht. Gott, wenn es ihn gibt, muss nach dieser Auffassung zuhanden sein, sozusagen experimentell überprüfbar auf die Art einer Naturkraft, und das Gute, als sein Platzhalter, sollte auch möglichst leicht erkennbar sein und nicht wie die Goldkörner in einem kanadischen oder kalifornischen Fluss, die man so leicht übersehen kann. Wenn wir also daran festhalten, dass es Sinn und Wert im Universum gibt, dann müssen wir dies nicht nach Maßgabe einer Naturkraft verstehen, die überall nachweisbar sein sollte gemäß dem Prinzip „omne ens bonum“. Die Situation wird dann eher vergleichbar sein mit vorbildlichen Menschen. Wenige sind wirklich gut, wenige sind wirklich schlecht, und die meisten von uns halten sich im Mittelfeld bedeckt. Es gibt aber moralische Vorbilder, sozusagen die Goldkörner der Menschheit, d. h. Gestalten wie Franziskus, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Albert Schweitzer oder Mutter Teresa. Rein quantitativ fallen sie nicht ins Gewicht. Soziologisch gesehen sind sie irrelevant. Aber nur deshalb, weil wir den falschen Maßstab anlegen. Das heißt also : Wenn wir des Guten ansichtig werden möchten, dann sollten wir den quantitativen Maßstab, von dem die empirischen Wissenschaften Gebrauch machen, außer Kraft setzen, denn das Gute wirkt nicht flächendeckend, sondern exemplarisch. Es ent177
geht jeder Statistik und ist wie die Goldkörner im Sand, für die man das Auge erst einmal mühsam geschult haben muss. Das ist übrigens auch so eine Sache : Während wir durchaus akzeptieren, dass Moral Übung voraussetzt, bis das Gute zur selbstverständlichen Disposition wird, die in der entscheidenden Situation spontan zur Geltung kommt, während wir also durchaus zugeben, dass Moral gelernt sein will, glauben wir gerne, dass das für die Religion nicht gilt. Die gibt es umsonst. Aber wenn unser Vergleich mit den Goldkörnern stimmt, dann muss auch das Auge für die religiöse Substanz der Dinge geschult werden und vielleicht sind uns in dieser Hinsicht die Buddhisten überlegen, die über Jahre, Tag für Tag und Stunde für Stunde meditieren, um für das Gold der religiösen Erfahrung empfänglich zu werden. Die eben genannten Vorbilder bringen zum Ausdruck, wie wir sein könnten oder sein sollten, nicht wie wir faktisch sind. Auf eine Million Menschen kommt vielleicht eine Mutter Teresa. Soziologisch gesehen ist sie völlig unbedeutend, aber normativ gesehen eine Zentralfigur. Es gibt also zwei Arten des Allgemeinen : das faktisch-Allgemeine und das normativ-Allgemeine. Faktisch allgemein sind der Entropiesatz, der Energieerhaltungssatz, die Darwin’schen Gesetze und vieles andere mehr. Normativ allgemein ist das Gute, das einen Anspruch an uns stellt, oder normativ allgemein sind solche hervorragenden Gestalten der Geschichte, an denen wir uns orientieren sollten. Beim normativ-Allgemeinen wird es sich oft um ein einzelnes Individuum handeln, das geschichtlich unvorhersehbar auftritt. Das normativ-Allgemeine ist also mit dem verbunden, was Naturwissenschaft ignoriert : Individualität und Geschichtlichkeit. Praxis bemisst sich also an anderen Maßstäben als die Theorie, aber es hat sich öfters gezeigt, dass wir dazu neigen, die Theorie überzugewichten und die Praxis sich selbst zu überlassen. Bevor wir auf die Natur zu sprechen kommen, bezüglich deren eine solche Verdrehung des Blickwinkels noch weniger üb178
lich ist als gegenüber den Menschen, kommen wir auf eine damit verwandte Fragestellung, die Frage nämlich, ob es in der Menschheitsgeschichte einen moralischen Fortschritt gegeben hat, d. h. eine finale Ausrichtung hin auf das Gute. Die Antwort auf diese Frage hängt ganz vom Maßstab ab, den wir anlegen, und je nachdem werden wir mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ antworten. Wenn wir einen quantitativen Maßstab anlegen, können wir sicher nicht von einem moralischen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit sprechen. Wir sehen dann keine klare Ausrichtung auf das Gute hin. Gerade die spezielle Geschichte Deutschlands wäre dann das beste Gegenbeispiel. Dieses Land der großen Dichter und Denker, das Land Beethovens, Goethes und Schillers oder Hölderlins, aber auch das Land der großen Erfinder wie Werner von Siemens oder Carl Benz, also das Land der großen Genies und Kulturschöpfer, stürzte innerhalb kürzester Zeit in die bestialischste Barbarei der Menschheitsgeschichte ab und scheint die Idee eines moralischen Fortschritts endgültig ad absurdum zu führen. Die Französische Revolution, der wir die moderne Demokratie verdanken, schlug sehr rasch in den Terror Dantons und Robespierres um und in der Folge in das ungezügelte Machtstreben Napoleons. Wir können also, wenn wir die positiven Seiten der Geschichte aufzählen, immer ebenso viele negative finden, und die Geschichte erscheint uns von diesem Standpunkt aus nicht unähnlich dem Stammbaum der sich evolvierenden Arten nach Darwin, wo wir ebenfalls keine klare Richtung ausmachen können. Wenn wir aber qualitativ denken und wenn wir nicht erwarten, dass das Gute sofort flächendeckend wirksam sein muss wie eine Naturkraft, dann können wir in exemplarischen Ereignissen, wie gerade der Französischen Revolution, dennoch einen Fortschritt erkennen. Ähnlich in der Abschaffung der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert. Wir würden dann normativ denken und die Sollensansprüche der Humanität und Gleichheit auch dann für einen Fortschritt halten, wenn sie in vielen Län179
dern keine Anwendung finden. Das Gute ist uns eben nicht zuhanden, sondern es blitzt auf, zeigt uns eine Richtung und verschwindet wieder, es ist quecksilbrig. Wollen wir diesen Gedanken des unvorhersehbar aufblitzenden Guten auf die Natur anwenden, so widerspricht dem eine jahrhundertelange Gewohnheit, wonach allenfalls die Geschichte, nicht aber die Natur, von Sinnperspektiven durchdrungen sein kann, denn wir lassen die qualitative Perspektive des Betroffenseins allenfalls für den Menschen zu, während uns die Natur zum neutralen Rechenexempel wurde. Aber einer der größten mathematischen Physiker, Werner Heisenberg, hat das ganz anders gesehen. Heisenberg sagt : „Der Schimmer der Farben, die ohne jede Trübung von ihren Blüten leuchten, ein Windhauch, der den Duft der Rose zu uns herüberträgt, berührt das Innerste unserer Seele. Das ist wohl ein objektiver Tatbestand, so wie irgendein Tatbestand der Naturwissenschaft.“ Heisenberg war immerhin einer der Entdecker der Quantentheorie. Man ist also angesichts der Objektivierungsleistungen der Physik nicht darauf verpflichtet, unsere subjektiven Erlebnisqualitäten für Illusionen zu halten und unsere Wertintuitionen zu verdrängen. Jeder, der am Sonntag im Wald spazieren geht und der sich auf den intimen Lebenszusammenhang des Waldes einlässt, hat das Gefühl, etwas Wertvolles erlebt zu haben und nicht einfach nur eine Holzplantage oder ein System genetisch programmierter Überlebensmaschinen. Zu erinnern ist noch einmal an die Differenz zwischen dem faktisch-Allgemeinen und dem normativ-Allgemeinen. Das faktischAllgemeine ist das, was überall vorkommt und dessen Gesetzmäßigkeiten die Naturwissenschaft untersucht. Das normativ-Allgemeine ist das Exemplarische, das quantitativ gar nicht ins Gewicht fällt, das aber durch seine Bedeutsamkeit Licht auf das wirft, was uns ansonsten bedeutungslos erscheinen würde. Die Biologen haben z. B. niemals herausfinden können, was ‚Leben‘ eigentlich sei. Sagt man ‚Lebewesen haben Stoffwechsel‘, dann ist ein Virus kein 180
Lebewesen. Sagt man ‚Lebewesen‘ bringen Nachkommen hervor, dann wäre der Maulesel kein Lebewesen. Sagt man ‚Lebewesen‘ verwandeln chemisch gebundene Energie in Bewegungsenergie, dann sind Autos und Motorräder Lebewesen. Tatsächlich wissen wir aus unserem Selbstvollzug, was es heißt, zu leben. Von dieser exemplarischen Form des Lebens schließen wir analogisch auf andere Formen und bezeichnen sie dann als ‚lebendig‘. Das heißt : Noch nicht einmal die Naturwissenschaft kommt ohne exemplarisches Wissen aus, und das hat sich auch im fünften Kapitel bezüglich des Materie- und des Kausalitätsbegriffs gezeigt. Nun ist der Mensch zwar Schlüssel zur Natur, nicht aber ihr Inhalt. Was die Natur des Näheren an Geheimnissen birgt, sagen uns die Naturwissenschaften. Das können wir aus unseren Selbstvollzügen nicht erraten. Aber der Zugang zur Natur erschließt sich uns nur über die eigene Natur des Menschen. Wollen wir nun ernstlich eine Theologie der Natur skizzieren, dann müssen wir zunächst einmal einen Schritt zurücktreten. Der quantitative Blick auf Natur muss in den qualitativen zurückgenommen werden, die Beobachterperspektive muss der Betroffenenperspektive weichen und die Kette der Ursachen und Wirkungen gerinnt uns zum Symbol. Der Adler, der in der freien Natur herumfliegt, stilisiert sich uns nun zu einer Art von Wappentier als Symbol für ein menschliches Grundverhältnis, das im Licht des Glaubens das Unendliche präsent macht. Dies aber nicht im Sinn einer Gegebenheit. Das Unendliche ist uns nie gegeben, höchstens geschenkt. Es ist kein Resultat, das wir schwarz auf weiß nach Hause tragen können, sondern vielmehr eine Sehnsucht, ein Horizont, kurz : ein Glaube, und so war es gemeint, wenn das Symboltier des Evangelisten Johannes der Adler war, denn sein Evangelium beginnt sofort mit dem Höhenflug einer Logos-Spekulation. All dies ist uns heute verloren gegangen, weil die Natur durch Quantifizierung ihre symbolische Prägnanz verloren hat. Es ginge aber darum, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. 181
b. Der unendlich große Kosmos der Physik. Quantität und Qualität Wir wollen nun im Sinn einer ‚Theologie der Natur‘ den qualitativen und durchaus selektiven Blick auf jene Sachverhalte richten, die gewöhnlich als Instanzen für den Atheismus gelten, wie etwa die gigantische Größe des Universums in zeitlicher und räumlicher Hinsicht oder die penetrante Anwesenheit des Zufalls, also des Sinnlosen, in der Evolution oder die Tatsache, dass die Natur ein Schlachthaus ist, wo jeder jeden frisst. Nach modernen Maßen gemessen hatte der Kosmos des Alten Testaments einen Durchmesser von vielleicht 5000 km. Sehr überschaubar, vor allem weil der Mensch sich im Mittelpunkt wähnte. Der Mensch war also gewollt, der Kosmos seine Heimat, sozusagen ein Haus, das er bewohnen durfte. Doch der wissenschaftliche Fortschritt seit Kopernikus, Kepler und Galilei dezentrierte unsere Stellung im Universum. Man hat das später eine ‚Kränkung‘ genannt. Kepler selbst hat es zunächst noch nicht so gesehen. Er meinte, es sei theologisch passender, wenn die Sonne im Mittelpunkt stehe. Sie sei das sprechende Symbol Gottes, und der gehöre in den Mittelpunkt, nicht der Mensch. Diese wohlwollende Interpretation wurde aber in der Folge immer unplausibler, weil sich der Kosmos vor unserem Blick ins Unermessliche weitete, so dass sich unser Standpunkt als provinziell, wenn nicht als belanglos herausstellte. Der Molekularbiologe Jaques Monod hat diesen Sachverhalt suggestiv auf den Punkt gebracht : Er sagt über die objektive (= die naturwissenschaftliche) Erkenntnis : Sie „zerstört alle mythischen Ontogenien, auf denen für die animistische Tradition – von den australischen Ureinwohnern bis zu den materialistischen Dialektikern – die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote beruhen sollten. Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, 182
seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“ Diese Stelle wird immer wieder zitiert. Sie drückt ein Gefühl der Heimatlosigkeit aus, das viele Menschen angesichts der unermesslichen Weiten des Alls empfinden. Es sieht so aus, als bräuchte es uns nicht zu geben, d. h., als würde nichts fehlen, wenn wir nicht existierten. Der Kosmos ist in dieser Sichtweise völlig sinnlos, eine absurde Veranstaltung für niemand und von niemandem. Manche, die dennoch an der Religion festhalten, flüchten sich angesichts dieser interstellaren Weiten in den Buddhismus, der keinen persönlichen Gott als den Schöpfer des Universums kennt. Für den Buddhisten ist der Kosmos eine Illusion, und dass wir imstande sind, uns unendliche Illusionen zu machen, das wissen wir auch ohne die moderne Kosmologie. Dieser Ausweg ist möglich, aber keinesfalls zwingend. Die Angst vor dem unendlichen Kosmos, das Gefühl der Verlorenheit – Heidegger würde sagen : des „Geworfenseins“ – setzt nämlich einen quantitativen Maßstab voraus, der sich keineswegs von selbst versteht. Es ist wohl wahr : Quantitativ gesehen sind wir eine vernachlässigbare Größe, und das würde sich auch nicht ändern, wenn wir auf anderen Planeten intelligentes Leben vorfänden, denn selbst dann wäre auch dieses Leben eine unwahrscheinliche Ausnahmeerscheinung in einem Kosmos, der – so scheint es – auch ganz gut ohne diese Art von vernachlässigbarer Größe auskommen würde, die sich selber so wichtig nimmt. Wenn wir aber den Referenzrahmen wechseln, wenn wir von einem quantitativen zu einem qualitativen Maßstab übergehen, dann zeigt sich plötzlich, dass der Mensch nach allem, was wir wissen, ein Komplexitätsmaximum im Universum ist. Unser Gehirn enthält so viele Neuronen, wie die Milchstraße Sonnen 183
enthält, und jede dieser unzähligen Neuronen ist mit 10 000 auf eine komplizierte Weise vernetzt. Gehen wir also von einem quantitativen zu einem qualitativen Standpunkt über, dann verschwindet die bedrohliche Größe des Universums und das Gefühl des Menschen, ein Zentralphänomen zu sein, rechtfertigt sich erneut. Das sieht man übrigens auch an dem suggestiven Bild Monods vom „Zigeuner am Rande des Universums“. Dieser Vergleich setzt voraus, was er bestreitet, denn das Universum hat weder Zentrum noch Peripherie. Wir könnten unseren Ort also nur am Rande des Universums einnehmen, wenn es ein Zentrum gäbe, von dem aus sich die Peripherie bemisst. Es ist auch sehr merkwürdig, dass Monod den Kosmos „taub“ und „gleichgültig“ nennt. Wir würden doch niemals sagen, dass die Zugspitze oder das Matterhorn gleichgültig oder taub seien. Wer taub oder gleichgültig ist, könnte auch hören oder Anteil nehmen. Ein Hund kann taub sein, ein Stein nicht, obwohl er auch nichts hört. Das heißt eben : Monod lebt immer noch von Sinnunterstellungen. Zutiefst wünscht er sich immer noch, dass der Kosmos für den Menschen da sein sollte. Das heißt : Auch Monod entgeht nicht der Subjektzentriertheit unseres Erkennens. Der „view from nowhere“ lässt sich nicht durchhalten, d. h., eine rein objektive Erkenntnis gibt es nicht, wie er glaubt. So viel also zum Universum in räumlicher Hinsicht. Aber die zeitliche Erstreckung könnte uns womöglich noch in größere Nöte versetzen. Immerhin ist das Universum zwischen 13 oder 14 Milliarden Jahre alt. Wir könnten also, wenn wir an einer theologischen Karikatur interessiert wären, sagen : Wenn Gott den Menschen wollte, weshalb hat er sich dann so viel Zeit gelassen ? Wäre das nicht so ähnlich, als würde ein Theaterstück erst 10 000 Jahre nach seiner Ankündigung gespielt, dann nämlich, wenn die daran Interessierten zu Staub zerfallen sind ? Was für eine Absurdität ! Aber auch hier hängt alles vom Maßstab ab, den wir anlegen. 184
Die Kernprozesse im Weltall brauchen sehr viel Zeit, und die Sterne durchlaufen oft mehrere Zyklen, die nach Jahrmilliarden gerechnet werden. Dabei werden immer schwerere Elemente ausgebrütet. Unsere Sonne verbrennt Wasserstoff zu Helium. Das sind relativ einfache Elemente. Um nur ein komplexes Eisenoder Kohlenstoffatom zu erzeugen, sind mehrere Sternenzyklen erforderlich. Damit es uns geben kann, treibt der Kosmos – wenn wir so sagen dürfen – ziemlich großen Aufwand, wenn wir den Menschen und seine gigantische Komplexität als ein Ziel ansehen, und das dürfen wir, da wir uns jetzt nicht mehr im Bereich des Beweisbaren aufhalten, sondern im Bereich der theologischen Interpretation. Wir wollen wissen, ob die heutige Kosmologie mit einer solchen Interpretation verträglich ist, und das ist sie sehr wohl, aber nur wenn wir bereit sind, das Register zu wechseln und qualitativ statt quantitativ zu denken. Sollte Gott den Menschen gewollt haben, dann musste er dafür sorgen, dass die Bedingungen für seine Existenz gegeben waren und das waren eben die schweren Elemente wie der Kohlenstoff, der zum Aufbau unseres Körpers nötig ist. Zu diesem seinem Zweck treibt Gott offenbar unendlich großen Aufwand. Was tun nicht die Eltern für ihre Kinder ! Nichts ist ihnen zu viel ! Und Gott sollte sich mit weniger zufrieden geben ? Wir können die unendlichen Weiten und das unendliche Alter des Kosmos ohne weiteres als Ausdruck der unendlichen Liebe Gottes zum Menschen ansehen und diese Deutung wäre mit allem verträglich, was uns die Wissenschaft über das Universum lehrt. Es ist einfach nicht wahr, dass wir uns als „Zigeuner am Rande des Universums“ fühlen müssen. Wer sich so versteht, der war von vornherein von der Wahrheit seines Unglaubens überzeugt, und wer umgekehrt von seiner Wahrheit überzeugt ist, den wird die Kosmologie nicht das Gegenteil lehren. Dieser Sachverhalt bestätigt sich auch in der Diskussion um das sogenannte Anthropische Prinzip. Es gibt eine verbreitete Auffassung, wonach die Naturgesetze so sein müssen, wie sie 185
sind. Sie sind also notwendig. Allerdings enthalten diese Naturgesetze Konstanten, wie Lichtgeschwindigkeit, Elementarladung, Feinstrukturkonstante, Planck’sches Wirkungsquantum usw., die von ihrem numerischen Wert her auch anders sein könnten, als sie faktisch sind. Wir kennen diese Naturkonstanten ziemlich genau, aber die Physiker haben sich überlegt, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn sie etwas andere numerische Werte hätten. Das Resultat ihrer Überlegungen war ziemlich überraschend : Wären die Naturkonstanten ihrem Wert nach nur ein Geringes verschieden von den jetzigen, dann könnte es uns nicht geben, weil sich dann niemals Kohlenstoffatome gebildet hätten, auf denen alles Leben, also auch das unsrige, beruht. Man hat dann noch eine Menge anderer Kontingenzen gefunden, Zufälle, die eingetreten sein mussten, damit es uns gibt, und es werden immer mehr. Das sieht zunächst so aus, als habe der Kosmos im Voraus gewusst, dass es uns geben sollte, als sei er von Natur aus auf den Menschen hin ausgerichtet. Tatsächlich verhält es sich nicht so. Wer nicht von vornherein von der Existenz Gottes überzeugt ist, für den beweist das Anthropische Prinzip überhaupt nichts. Wären nämlich die Naturkonstanten anders, als sie sind, dann gäbe es uns halt nicht, und es bliebe für ewig dunkel. Der Kosmos hätte nicht im Menschen die Augen aufgeschlagen, d. h., wenn wir nicht bereits unterstellen, dass das geschehen sollte, dann enthält die ewige Nacht keinen Widerspruch in sich. Wissenschaftlich oder philosophisch gesehen muss es uns nicht geben. Anders verhält es sich, wenn wir bereits gläubig sind : Dann ist die Wahl der Naturkonstanten eine Entscheidung zugunsten des Menschen, so wie die zeitliche Erstreckung des Kosmos unter dieser Voraussetzung ein Ausdruck unendlicher göttlicher Liebe ist. Es versteht sich, dass ein Materialist diese Argumente nicht überzeugend finden wird. Muss er auch nicht. Es geht hier lediglich um die Selbstbestätigung des Glaubens in einem Me186
dium, das man gewöhnlich für glaubensfeindlich hält. Das ist es aber nicht. Glaubensfeindlich wird die Naturwissenschaft nur, wenn wir sie essentialistisch deuten, dass sie nämlich das Wesen der Dinge zum Ausdruck bringt. Dann stellen wir Quantität über Qualität, die Beobachter- über die Betroffenenperspektive oder die Wissenschaft über die Lebenswelt. Aber es gibt keine guten Gründe, dies zu tun. Im Übrigen zahlt auch der Materialist seinen Preis. Der Physiker Steven Weinberg vertritt eine essentialistische Deutung der Physik : Wenn es Gott gäbe, dann müsste sich das in den Naturgesetzen bemerkbar machen. Da man aber in diesen Gesetzen keine Spur Gottes findet, gibt es ihn nicht, so jedenfalls Weinberg. Sein Buch über „Die ersten drei Minuten“ (des Weltalls) endet mit einem Bekenntnis zur Sinnlosigkeit der Welt, denn je weiter die Physik voranschreitet, desto präziser, aber auch desto abstrakter, neutraler und unvorstellbarer werden ihre Modelle : „Je begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser erscheint es auch. Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst … Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.“ So pathetisch können Physiker sein ! Aber die eigentliche Paradoxie von Weinbergs Standpunkt liegt darin, dass das Universum, so gesehen, eine Wüstenei sich ausbreitender Sinnlosigkeit ist und dass es dennoch ein sinnverstehendes Wesen hervorbringt ! Wie kommt der Sinn in diese Wüstenei von Sinnlosigkeit ? Müsste man nicht eher sagen : Wenn die wissenschaftliche Version des Universums die Sinnfolie aus allem Dasein herauszieht, dann auch aus dem Menschen. Dann ist auch der Mensch nichts als ein System feuernder Neuronen im Gehirn, und die sinnfreien Gesetze der Natur schlagen auf sein Selbstverständnis durch. Hier gibt es nur zwei konsequente Standpunkte : Ent187
weder die Welt ist durchgängig physikalisierbar (wie Weinberg annimmt), dann verschwindet die Sinnfolie nicht nur aus den Objekten, sondern auch aus dem Subjekt, oder aber es gibt den Sinn, aber dann nicht nur im Menschen, sondern auch in der Natur, die ihn hervorgebracht hat. Aber Weinberg hat nicht den Mut, diese Konsequenzen zu ziehen, die sich doch aus seinem Ansatz zwingend ergeben. Er will sich als dem forschenden Subjekt einen Rest an Sinngehalt bewahren, die er dem Kosmos als Ganzem abspricht. Es ist wie bei Jaques Monod, der in seiner Rede vom Menschen als einem „Zigeuner am Rande des Universums“ immer noch jenes Zentrum mitdenkt, das er zuvor den Menschen feierlich abgesprochen hatte. Das heißt : Die Tatsache, dass auch der Wissenschaftler auf den Menschen als ein sinnverstehendes Wesen zurückgeworfen ist, eröffnet jenen Fragehorizont, auf den die Religion eine Antwort findet. Es fällt dem szientifischen Materialisten also schwer, den „view from nowhere“ durchzuhalten. Er tut so, als wäre seine Existenz – kosmologisch gesehen – belanglos, aber dann denkt er sich doch wieder eine Zentralinstanz hinzu oder die Möglichkeit, dass der Kosmos auf ihn hören könnte, oder er besteht darauf, dass das Weltall eine Wüstenei von Sinnlosigkeit sei, reserviert sich aber den Sinn für seine Forschertätigkeit und kann dann nicht mehr erklären, wie der Kosmos ein solches sinnverstehendes Wesen hervorgebracht haben sollte. Krasser noch als bei Monod tritt diese Paradoxie bei Bernulf Kanitscheider in Erscheinung. Wir sind diesem Autor, Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, schon öfters begegnet. Er ist einer der härtesten Physikalisten und Materialisten in Deutschland, indem er Freiheit bestreitet, die Liebe für ein rein chemisches Phänomen hält oder indem er das moralische Verhalten auf den individuellen Egoismus herabkürzt und im Übrigen der Meinung ist, alles Schlechte in der Welt käme von der Religion und alles Gute von der Physik. 188
Derselbe Bernulf Kanitscheider schrieb ein – im Übrigen interessantes – Buch über die Entwicklung der physikalischen Kosmologie. Darin beschreibt er diese Entwicklung als einen Aufklärungsprozess, der von anthropomorphen zu immer abstrakteren Modellen führt. Alle neueren Versuche, Mensch und Kosmologie ins Verhältnis zu setzen – bei Autoren wie Teilhard de Chardin oder Whitehead –, lehnt er entschieden ab. Wie bei Steven Weinberg wird der Kosmos im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung immer sinnloser, so stellt er es zumindest dar. Umso mehr sind wir erstaunt, den letzten Satz des Buches, gleichsam sein Fazit, zu lesen, wo er sich charakteristischerweise auf Jaques Monods Zigeuner bezieht : „Auch wenn wir tatsächlich kosmische Zigeuner sind, die an einem undefinierbaren Ort inmitten eines unendlichen Universums leben, so können wir unsere kurze Lebensspanne sinnvoll dadurch nützen, dass wir ein wenig von unserer großräumigen Einbettung zu verstehen suchen, unserem Universum, das uns hervorgebracht hat, unserer Heimat.“ Wir haben hier also denselben Gedanken wie bei Weinberg, dass nämlich der durch und durch sinnlose Kosmos ein sinnverstehendes Wesen hervorgebracht haben soll, aber Kanitscheider geht noch einen Schritt weiter als Weinberg, indem er diesen Sinn zugleich auf seine kosmologische Wurzel zurückführt. Aus diesem Grund ist das Universum für ihn nicht nur eine Wüstenei, sondern eine „Heimat“. Ein erstaunlicher Satz. Was ist anthropomorpher als der Begriff der Heimat, und hat uns Kanitscheider nicht auf jeder zweiten Seite seines Buches eingeschärft, der wissenschaftliche Fortschritt führe von der Mythologie über die Metaphysik zur rein diesseitigen Empirie ? Wie kommt er dazu, den Kosmos – von einem physikalischen Standpunkt aus wohlgemerkt – als unsere „Heimat“ zu bezeichnen ? In einer späteren Publikation redet er von einem Übergang „Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum.“ Jetzt 189
erhält das Universum sogar die Eigenschaft, „kreativ“ zu sein, was man früher Gott zugesprochen hatte. Die Gründe für diesen Theologieersatz findet er in der physikalischen Selbstorganisationstheorie, die heute oft diese Ersatzfunktion erfüllt. Weil der Mensch ein ‚animal metaphysicum‘ ist, dessen Sinnbedürfnis durch die Wissenschaft nicht hinreichend befriedigt wird, projiziert man einfach diese Sehnsüchte in eine beliebige Wissenschaft hinein. Früher war das die Quantentheorie und heute eben die Selbstorganisations- und die Chaostheorie oder seit neuestem auch die Neurowissenschaft. So heißt z. B. ein neues Buch von Gerhard Roth „Wie das Gehirn die Seele macht“. Es wäre doch viel konsequenter, zu meinen, dass es die Seele überhaupt nicht gibt. Aber der Szientist hat seine eigenen weltanschaulichen Bedürfnisse und fühlt sich deshalb gezwungen, das, was er ausgegrenzt hat, in seinen Formeln wiederzufinden, die dafür aber ganz untauglich sind. Und so findet Kanitscheider das Schöpferische, Sinnvolle, die Heimat in seiner physikalischen Kosmologie, die doch darauf beruht, all dies Anthropomorphe auszugrenzen und zu neutralisieren. Man wird sich an die Kompensationstheologie des letzten Kapitels erinnern. Es handelt sich um dasselbe Phänomen, das wir hier beschreiben : Die mitleidlose Härte des Ökonomischen, das rein Machtförmige der Technik und die radikale Neutralität der Naturwissenschaft erzeugen sowohl im Gläubigen als auch im Ungläubigen die Sehnsucht nach Kompensation, die sich mittels solcher Extrapolationen erfüllt, die aber beide Male das zugrundeliegende Problem nicht bewältigt, wie die ein Prozent ‚Kunst am Bau‘, die bei uns vorgeschrieben sind. Statt einer phantasievoll gestalteten Architektur verzieren wir ungeschlachte Betonklötze mit einem Prozent Kunst, so wie wir den wissenschaftlich-technischen Komplex unberührt lassen, um uns einzureden, der physikalische Kosmos sei dennoch unsere Heimat oder die Technik enthülle das Unverfügbare, wo sie doch ausschließlich dafür gemacht ist, die Welt zu manipulieren. 190
Doch die Arabesken der Selbstorganisationstheorie verweisen auf ein weltanschauliches Defizit, das auch der Materialist als ein animal metaphysicum empfinden wird. Man vergleiche damit die Ehrlichkeit von Materialisten wie Jürgen Habermas oder Herbert Schnädelbach, die im ersten Kapitel erwähnt wurden. Sie geben den Verlust, der durch das Verschwinden der Religion hervorgerufen wird, durchaus zu und sie vertrösten sich auch nicht mit solchen billigen Surrogaten. Ein durch und durch ehrlicher Philosoph war auch Immanuel Kant. In seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ steht ein Satz, der später auf seinem Grabstein eingemeißelt und seither immer wieder zitiert wurde : „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt : der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Man könnte diesen Satz leichthin so deuten, dass Kant zwei Säulen der Erfahrung anerkennt, die Newton’sche Physik und den kategorischen Imperativ, der sich im Gewissen als Sollensanspruch bemerkbar macht. Die Gestirne werden in ihren Bewegungsabläufen genauso vom Gravitationsgesetz bestimmt, wie unser Innenleben unter der Einwirkung des Sittengesetzes steht. Man hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass beide Gesetze rein formal sind, vielleicht allzu sehr. Wenn wir das so sehen, dann wäre es nicht verkehrt, aber auch nicht hinreichend, denn Kant spricht ja von „Bewunderung und Ehrfurcht“, also von Emotionen und von Betroffenheit. Er geht hier über das rein Intellektuelle hinaus und bezieht offenkundig auch den Kosmos in diesen Akt des Betroffenseins mit ein. Es wurde in diesem Buch öfters darauf hingewiesen, dass die geforderte Verdrehung des Blickwinkels von der Beobachter- zur Betroffenenperspektive, von den Fakten zu den Symbolen und ihrer Ausdrucksgestalt notwendig ist, um überhaupt in die Lage versetzt zu werden, in der das religiöse Weltverhalten sinnvoll wird. Wir sehen hier, dass Kant dem einen nachvollziehbaren 191
Sinn verleiht, was Naturwissenschaftler wie Monod, Weinberg oder Kanitscheider nur gegen ihre eigene Absicht zum Ausdruck bringen konnten. Kant war ehrlich, während wir uns heute gerne etwas vormachen.
c. Das Leiden in der Natur. Zufall und Zweckmäßigkeit Manche glauben, dass die Biologie die härtere Nuss für eine theologische Interpretation der Natur darstellt als die Physik. Der Grund ist das Theodizeeproblem, das sich nach dieser Auffassung durch die Tatsache verschärft, dass in der Natur jeder jedem nachstellt und dass die empfindsamen Lebewesen seit Jahrmillionen sehr viel leiden müssen, im Vergleich zu denen die Existenz des Menschen seit vielleicht 50 000 Jahren eine vernachlässigbare Größe darstellt. Der ehemalige Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek wünschte sich, am Ende seines Lebens vom Löwen gefressen zu werden. Dies sei der angenehmste Tod überhaupt, denn der Löwe töte sein Opfer mit einem einzigen Biss ins Genick. Fertig. Gibt es im Tierreich das Quälen um des Quälens willen ? Gibt es den in der Vorstellung vorweggenommenen Tod ? Weiß die Kuh auf der Wiese, dass sie geschlachtet wird ? Kennt das Tier die Angst vor der Angst, die oft schlimmer ist als die Angst selber ? Mit einem Wort : Es ist durchaus nicht einzusehen, weshalb sich das Theodizeeproblem durch die Darwinische Evolutionslehre verschärft haben sollte. Auschwitz genügt bei Weitem. Es stellt sich aber in der Biologie ein analoges Problem zu der Größe des Kosmos in der Physik. Wenn wir annehmen, dass das Lebendige auf den Menschen hin ausgerichtet war, dann sind wir auch hier erschüttert über die rund vier Milliarden Jahre mühsamer Entwicklung, die dazu nötig waren. Vor allem ist es ja so, dass sich der Stammbaum des Lebens unendlich verzweigt. 192
Er ist kein unilineares Geschehen mit dem Menschen als seiner eindeutigen Sinnspitze, sondern so, wie unsere Erde ein gleichgültiger Punkt in einem Meer von Galaxien ist, so entspringt auch der Mensch dem Baum des Lebens an einer beliebigen Stelle, ohne dass der Baum auf ihn hindeuten würde, wie ein Fahnenmast, der eine Flagge trägt und um deretwillen er überhaupt nur existiert. Wenn wir einen qualitativen Blick auf die Natur werfen, dann fallen uns ihre Highlights auf, der Adler oder der Löwe, die jeweils an der Spitze der Nahrungskette stehen und die wir deshalb auf unseren Wappen oder auch unseren Fahnen und Münzen abgebildet haben. Solche Tiere können es sich leisten, nur wenige Nachkommen aufzuziehen, denn sie werden nicht von anderen gefressen. Umgekehrt brauchen diejenigen, die das Pech hatten, sich unten an der Nahrungskette aufhalten zu müssen, sehr viele Nachkommen, damit wenigstens einige überleben. Der Rest wird gefressen oder stirbt sonst wie. Das ist auch im Pflanzenreich der Fall. Selbst ein Mammutbaum wird eine Million Samen produzieren müssen, damit ein einziger Baum seine stattliche Größe erreicht. Der Rest geht auf dem Weg dahin verloren. Es gibt genügend Vögel, die seine Samen fressen. Der gnadenlose Kampf der Natur erfordert ein solches, wahnwitzig erscheinendes Opfer. Hinzu kommt, dass uns die Darwinisten darüber aufklären, dass die Veränderungen der Lebewesen Zufallscharakter haben. Auch hier finden wir eine enorme Streubreite. Die meisten Mutationen sind schädlich, einige sind neutral, und nur sehr wenige erhöhen die Fitness und verschärfen damit eigentlich nur den Krieg aller gegen alle. Es gibt ein permanentes Wettrüsten in der Natur, das sich – so müssen wir leider feststellen – in die Menschheitsgeschichte hinein fortsetzt. All dies sieht nicht sehr nach einem guten Schöpfergott aus. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass wir die Perspektive radikal verändern müssen, wenn wir das Gute oder den Sinn in der Natur finden wollen. Zunächst einmal ist es – so gesehen – 193
völlig irrelevant, dass wir weder im Kosmos noch auf dem Baum des Lebens einen hervorgehobenen Platz einnehmen. Von Jesus hat man gesagt : „Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen ?“ Jesus kam aus der Provinz, aus der Unterschicht. Seine exemplarische Bedeutung hängt eben nicht von seinem Stand, seiner Bildung oder von der Tatsache ab, dass er aus der Hauptstadt kommen sollte, sondern allein vom Gehalt seines Wirkens. Wir haben auch gesehen, dass ontologische Wertungen selektiv sein dürfen. Aus der Betroffenenperspektive haben wir Gründe, den Menschen über das empfindsame Tier, das empfindsame Tier über das unbewusste und das unbewusste Tier über die Pflanze zu stellen, übrigens eine hierarchische Ordnung, die in der ökologischen Ethik heute erneut diskutiert wird. Unser moralisch-praktischer Zugang zur Natur ist nicht neutral, sondern wertend, und deshalb erscheint uns die Entwicklung vom moralisch-praktischen Standpunkt aus als ein Wertezuwachs und wir begreifen die Verschwendung von Nachkommen als Fülle und wie beim Entstehen der schweren Elemente im Kosmos als eine Mühe um unseretwillen. Wir können also ein und dasselbe Phänomen radikal verschieden deuten und beide Deutungen sind konsequent, wenn wir die investierten Prinzipien offenlegen. Denken wir qualitativ, dann ist die Natur wie ein Künstler, der ständig Neues produziert. Picasso soll an die 50 000 Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Plastiken geschaffen haben. Vermutlich hat er sich dabei nicht sehr viel gedacht, sondern er hatte den unbewussten Drang, sich ständig künstlerisch zu artikulieren. Diesen Drang hat Natur offenbar auch und wenn wir diesen Drang und diese Fülle darwinistisch als eine Notwendigkeit des Überlebens ansehen, so hindert nichts, dass wir denselben Sachverhalt im Sinn einer schöpferischen Fülle interpretieren, die darauf hinausläuft, ein ontologisches Maximum, genannt ‚Mensch‘, hervorzubringen. Es sei aber nochmals betont, dass wir uns nun im Bereich einer Theologie der Natur aufhal194
ten oder auch einer narrativen Theologie, die nichts beweist, sondern lediglich darauf hinweist, dass wir die Welt auch anders sehen können, als wir das gewöhnlich tun. Neben den genannten Problemen, die oft als ein Hindernis des Glaubens angesehen werden, wie die Größe des Kosmos oder die Grausamkeit der Evolution, gibt es noch eine andere Schwierigkeit, die sich uns aufdrängt : Gemäß darwinistischer Einsicht steckt hinter der Entfaltung des Lebens nicht etwa ein Plan, sondern der nackte Zufall. Die Lebewesen ändern sich zufällig, und die besser Angepassten bleiben übrig, das ist die ganze Wahrheit. Was man früher für zweckmäßig und sinnvoll hielt, sind also nichts als Zufallsschwankungen. Aber so wie wir zeigen können, dass die Unendlichkeit des Kosmos und die Verlorenheit des Menschen in ihm davon abhängen, welchen Maßstab wir wählen, so ist es auch hier. Wir werden zeigen, dass sich Zufall und Zweckmäßigkeit nicht ausschließen, wenngleich der zugrundeliegende Gedanke etwas ausführlich und mühsam sein wird. Was zufällig ist, ist nicht sinnvoll, und was Sinn macht, muss zuvor gewollt sein, so die These. Jaques Monod sagt : „Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolut blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution – diese zentrale Erkenntnis der modernen Biologie ist heute nicht mehr nur eine unter anderen möglichen oder wenigstens denkbaren Hypothesen ; sie ist die einzig vorstellbare, da sie allein sich mit den Beobachtungs- und Erfahrungstatsachen deckt.“ Dies ist wieder ein Fall von szientifischem Essentialismus, denn nur für diesen kann es so etwas wie den „reinen Zufall“ oder die „absolut blinde Freiheit“ geben. Aber wenn irgendetwas auf dieser Welt nicht absolut ist, dann der Zufall. Viele denken, dass der Zufall in der Welt vorkommt, so wie es auch Häuser, Wolken oder Spatzen gibt. Aber in einem solchen Sinn ‚gibt‘ es den Zufall nicht. Während wir auf Häuser, Wolken oder Spatzen hindeuten können, um sie zu identifizieren, 195
können wir auf den Zufall nicht hindeuten, denn er ist eine Reflexionskategorie. Wir beurteilen etwas als zufällig, und zwar dann, wenn unsere Schemata versagen. Das, was nicht in unsere Schemata passt, nennen wir ‚zufällig‘. Wenn ich in der Stadt zufällig den Fritz treffe, dann nenne ich das so, weil ich nicht beabsichtigt hatte, ihm zu begegnen. Meine Absichten sind der Referenzrahmen, innerhalb dessen ich das Geschehen einordne, und weil Fritz dort nicht vorgesehen war, nennen ich das Treffen mit ihm ‚zufällig‘. So ist es auch in der Wissenschaft. Die Quantentheorie formuliert die exaktesten Naturgesetze, die wir kennen, aber den Einzelfall kann sie nicht beschreiben. Also nennen wir ihn ‚zufällig‘. Oder in der Biologie beurteilen wir Mutationen als ‚zufällig‘, weil sie nicht auf die funktionalen Zusammenhänge des Organismus abgestimmt sind wie in der Gentechnologie. Dort verändern wir die Gene nach einer klaren Zielvorstellung, aber gemessen daran sind natürliche Mutationen ‚zufällig‘. Weil wir aber stets von einem Referenzrahmen her denken, kann es durchaus vorkommen, dass ein und derselbe Prozess im einen Rahmen determiniert erscheint, im anderen aber zufällig. Es kann also ohne Weiteres der Fall sein, dass ein und dasselbe Geschehen zugleich determiniert und zufällig ist, je nach Perspektive. So werden z. B. viele Mutationen durch hochfrequente Strahlungen ausgelöst, die der Physiker perfekt durchrechnen kann. Er könnte deshalb im Prinzip vorhersagen, welches Gen wie getroffen wird und welche Konsequenzen das haben würde. Und trotzdem nennt der Biologe einen solchen Prozess ‚zufällig‘, weil er ihn nicht von seiner Genese, sondern von seinen Auswirkungen auf den funktionalen Zusammenhang des Organismus her beurteilt. Des einen Zufall ist des anderen Notwendigkeit. Aber des einen Zufall kann auch des anderen Zweck sein, denn es gibt eine solche Dialektik auch zwischen Zweck und Zufall. Hier lautet die allgemeine Überzeugung : Was zufällig ist, ist genau deshalb nicht zweckmäßig, und umgekehrt, und diese Über196
zeugung führte nicht nur bei Jaques Monod dazu, die Zufallsmutationen in der Evolution für eine antitheologische Instanz zu halten. Wenn es so viele Zufälle in der Evolution gibt, dann kann Gott gar nicht mehr eingreifen, um seine Zwecke zu verwirklichen, die Zufälle stören ihn bei der Arbeit. Es ist aber leicht zu sehen, dass diese essentialistische Deutung des Zufalls verkehrt sein muss. Galilei war der Erste, der die physikalischen Gesetze technologisch anwandte, militärtechnologisch näherhin gesagt. Er konnte nämlich mit seinen Formeln den schrägen Wurf berechnen, also auch die Bahnen von Kanonenkugeln. Je nachdem, wie steil man die Kanone ausrichtete, flogen die Kugeln mehr oder weniger weit weg, und Galilei war der Erste, der exakt vorhersagen konnte, wohin sie fliegen. Nun ist die Ausrichtung der Kanone nicht in den Formeln der Physik enthalten, sonst könnten wir sie ja nicht frei wählen. Es handelt sich um kontingente Anfangsbedingungen. Sie sind also relativ zur Physik zufällig. Von einem Handlungskontext aus gesehen sind sie aber zweckmäßig, denn der Kanonier will ja das Haupt des Gegners treffen. Es ist also in diesem Fall ein und derselbe Prozess sowohl zufällig als auch zweckmäßig, je nach Blickwinkel, und das heißt, dass sich Zufall und Zweck keineswegs ausschließen, wie man ständig hört. Das hat gewaltige Konsequenzen für unseren Begriff von der Natur. Wir sind keineswegs darauf festgelegt, mit Monod von einem „absoluten Zufall“ zu sprechen, sondern wir können dem Biologen seine Zufallsmutationen zugestehen, ohne dass dies eine theologische Interpretation der Evolution ausschließen würde. Teilhard de Chardin sprach vom „geplanten Zufall“, was nur scheinbar paradox klingt. Zufall und Zweckmäßigkeit können, müssen aber nicht, in dieselbe Richtung gehen. Man sollte nämlich auch nicht abergläubisch sein. Wer in jedem Zufallsereignis den Finger Gottes sieht und sich womöglich noch anmaßt, seine Motive zu erkennen, der ist aber197
gläubisch. Die Römer haben daraus eine ganze Industrie gemacht. Sie versuchten, die Zukunft aus dem Flug der Vögel oder aus den Eingeweiden der Schlachttiere zu erkennen, d. h., sie haben beliebige Zufälle als Sinnträger interpretiert. So weit muss man nicht gehen. Es genügt, die logische Verträglichkeit von Zweck und Zufall aufzuzeigen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, dass wir die Evolution schöpfungstheologisch deuten können.
d. Verlust und Bedeutung des Symbolischen Im Mittelalter waren die Menschen noch von einer christlichen Grundhaltung geprägt. Von daher war ihnen die Natur eine Ausdrucksgestalt mit Verweischarakter. Die reale Welt war zugleich symbolisch, und manche Symbole waren exemplarisch. Solche Symbole waren keine Etiketten auf den Dingen, sondern die Sache selbst. Die Natursymbole an den Kathedralen sind uns heute kaum mehr verständlich. Wir lesen sie als bloße Fakten, nicht als Bedeutungsträger. Der Verlust, der hierin liegt, lässt sich am Verschwinden der Tiersymbole auf den Wappen verdeutlichen, wovon schon die Rede war und die das Exemplarische des Symbolbezugs verdeutlichen. Auf solchen Wappen kommen vor der Adler, Löwe, Bär, Stier, Hirsch oder Kranich, aber auch die Rose, Lilie oder die Eiche. Warum gerade diese Naturformen und nicht etwa das Karnickel, das Reh oder das Eichhörnchen, warum nicht der Fliegenpilz, das Gänseblümchen oder die Osterglocke ? Selbstverständlich artikuliert sich darin auch ein Machtanspruch. Löwen und Adler stehen jeweils an der Spitze der Nahrungskette, und es dürfte kein Zufall sein, dass die Wappen im Zusammenhang mit den Kreuzzügen des späten Mittelalters aufgekommen sind, was zum Teil auch rein praktische Gründe hatte, dass sich nämlich die Krieger im Gefecht leichter erkennen konnten und wussten, wer Freund und Feind war. Etymo198
logisch hängt das Wort ‚Wappen‘ mit ‚Waffen‘ zusammen. Aber das scheint nicht die ganze Wahrheit, denn schließlich stehen weder Lilie noch Rose oder Eiche an der Spitze der Nahrungskette, und auf manchen Wappen sieht man einen Kranich oder Hirsch, die der Wolf gerne frisst, wenn er sie erwischt. Es scheint hier also noch ein ästhetisches Moment der Ausdrucksqualität mit hereinzuspielen, das einen trans-utilitaristischen Sinn hat. Das Wappentier der USA ist der Weißkopfseeadler, und es gibt wohl niemanden, der ein solch prächtiges Tier nicht sehr schön finden würde, jenseits allen Imponiergehabes, ganz so, wie wir den Pfau zwar ‚eitel‘ nennen, aber er gefällt uns eben doch. Heute allerdings sind die Wappen fast überall verschwunden, vielleicht auch weil sie von den Nazis so gewissenlos missbraucht wurden. Oder aber sie haben sich in die Subkultur der Bierflaschen, Bierseidel und Bierdeckel geflüchtet und toben sich in Trivialmythen wie ‚Harry Potter‘, ‚Herr der Ringe‘ oder ‚Tintenherz‘ aus, wo sie eine geradezu mittelalterliche Urständ feiern und im selben Maße überrepräsentiert sind, wie sie in der modernen Welt notorisch fehlen. In Hogwarts School hat jedes der vier Häuser ein besonderes Wappen mit überreicher Natursymbolik. Natursymbole gibt es auch bei den Wappen der deutschen Bundesländer, deshalb hängen sie noch im Bundesrat, aber ansonsten sieht man sie nur noch selten und der Adler im Plenarsaal des Deutschen Bundestages ist fett wie eine flugunfähige Dronte. Zu Zeiten der D-Mark war noch auf allen Pfennigmarken rückseitig eine Eiche abgebildet, und auf den Kehrseiten der Markstücke ein Adler. Auf den französischen Franc- und den italienischen Liramünzen fanden sich hauptsächlich Pflanzensymbole. Die Polen sind zwar in der EU, verwenden aber immer noch ihren alten Złoty mit vielen Natursymbolen auf ihren Münzen und Scheinen. Dort, wo die Euromünzen eingeführt wurden, verzichtet man auf jede Natursymbolik, und auf den Euroscheinen finden wir 199
zumeist nur Architektur, Brücken, Aquädukte, Kirchenfenster, Triumphbögen usw. Der moderne Mensch lebt zumeist in den großen Städten, wo die Natur ausgeschlossen wird, so dass wir nur noch uns selber und unseren eigenen Produkten begegnen, daher sind auch die Natursymbole aus unserem Blickfeld verschwunden und spielen fast keine Rolle mehr, es sei denn nostalgisch wie im englischen Königshaus, dessen Pomp sich umgekehrt proportional zu seiner politischen Bedeutsamkeit verhält. Aber so, wie wir uns mit viel Aufwand darum bemühen, den Adler vor dem Aussterben zu bewahren, so sollten wir auch die Symbolgestalt der Natur vor ihrem Verschwinden retten, denn es könnte sein, dass wir ansonsten der Sprache der exemplarischen Ausdrucksgestalten verlustig gehen. Z. B. fand sich auf der Rückseite der alten 500-DM-Scheine ein Löwenzahn mit Raupe. Dies ist eine uralte Symbolik der Verwandlung im Tod und der Hoffnung auf Unsterblichkeit. Die Griechen gebrauchten dasselbe Wort für die Seele (psyche) und für den Schmetterling, und im Mittelalter war die Verwandlung der eher hässlichen Raupe in einen hübschen Schmetterling ein Symbol der Auferstehung von den Toten. All dies ist uns abhandengekommen. Natur hat keine exemplarische Bedeutung mehr, weil sie auch sonst keine Bedeutung mehr hat, und mit den realen Schmetterlingen verschwanden auch solche symbolischen Bedeutungszuschreibungen von Tod und Auferstehung. Die Mehrheit der Kinder wächst heute in den großen Städten auf, wo sie das Wunder der Verwandlung nicht mehr erleben können. Wenn es wahr ist, dass der Mensch nur durch das Andere zu sich selber kommt, dann ist uns eine wichtige Dimension des Mensch-Natur-Bezugs verloren gegangen. Solche trivial erscheinenden Überlegungen zum Verschwinden der Wappen aus unserer Lebenswelt können als Anzeichen eines Verlustes gelesen werden, der unsere Naturwahrnehmung insgesamt bestimmt. Nicht sinnvoll ist es allerdings, in kulturkonservative Jeremiaden über die Moderne zu verfallen. Es zeigt sich nämlich, dass sich die symbolisierende 200
Kraft des Menschen oft mitten im Bereich des Technischen und der Wissenschaft durchsetzt.
e. Der „overview effect“ und das Unverfügbare im Verfügbaren Besonders eindrücklich in dieser Hinsicht ist, was Frank White in seinem gleichnamigen Buch den „overview effect“ genannt hat. Es geht hier um die eigentümliche Erfahrung, die die amerikanischen Mondfahrer bei ihrer Rückkehr zur Erde gemacht haben. Sehen wir von der Erde aus den Mond am Himmel stehen, so ist das eindrücklich genug. Es muss aber ungleich eindrücklicher sein, unseren blauen Planeten vor dem tiefschwarzen Hintergrund des Weltalls zu sehen mit seiner wundersam hauchdünnen Lufthülle, die alles Leben ermöglicht. Die Raumfahrer hatten fast durchweg das Gefühl, dass unser Heimatplanet etwas Kostbares ist, mit dem wir sorgsamer umgehen sollten, und vielen von ihnen vermittelte seine Schönheit zugleich eine religiöse Erfahrung. Sie machten also eine zugleich ästhetische und moralische Erfahrung, deren Einheit spirituellen Charakter hatte. Einige von ihnen änderten daraufhin ihr Leben und setzten sich für den Umweltschutz ein. Man muss bedenken, dass die Raumfahrer eigentlich keine Zeit für religiöse Kontemplation oder mystische Schwärmereien haben. Eine Stunde im Weltall kostet ungefähr 300 000 Dollar. Aus diesem Grunde ist der Raumfahrer an einen strengen Zeitablauf gebunden, aber viele von ihnen sparten sich lieber eine Stunde von der ohnehin kurzen Nachtruhe ab, einfach nur, um zu schauen und um zu bewundern. Es wurde in diesem Buch oft gesagt, dass wir allgemein die Tendenz haben, Kontemplation zu vernachlässigen, so dass sie dem Aktionismus zum Opfer fällt. Hier war es praktisch umgekehrt, dass sich nämlich die Raumfahrer kostbare Zeit für die 201
Kontemplation reservierten, die eigentlich gar nicht vorgesehen war. Der „overview effect“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir nicht etwa Wissenschaft und Technik bekämpfen und zur Seite schieben müssen, um religiöse Erfahrungen zu machen. Es geht vielmehr um eine neue Einstellung zu den Dingen, und wenn im letzten Kapitel gesagt wurde, dass die theologische Interpretation des Technischen als solchen ein sinnloses Programm ist, dann sieht man hier, worauf es eigentlich ankommt : Das Technische kann ein Weg zu Gott sein, wenn es in das Außertechnische eingebunden wird. Der Raumfahrer bewegt sich zwar in einer hypertechnisierten, künstlichen Binnenwelt, aber diese Binnenwelt ist nur der Ausgangspunkt für eine Erfahrung des Universums, das uns vorausliegt und das wir nicht gemacht haben. Der Geschenkcharakter der Realität, das Unverfügbare, kommt immer erst in den Blick, wenn wir das Übertönend-Geschäftige, Laute unserer Alltagswelt hinter uns gelassen haben. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die religiöse Erfahrung nicht in der konstatierenden Einstellung des Faktensammelns gemacht werden kann, sondern nur in der Betroffenenperspektive der Welt als einer Ausdrucksgestalt, die mit der Kunst verwandt ist. Von daher könnte man sich fragen, ob die Theologie nicht gut beraten wäre, das Ästhetische ernster zu nehmen, als es normalerweise geschieht. Es fällt schon auf, dass Theologen wie Romano Guardini oder Hans Urs von Balthasar, für die das Ästhetische zentral war, ihrerseits nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dabei gibt es gute Gründe, zu glauben, dass das Ästhetische dem Religiösen näher verwandt ist als alle Theorie, sei sie philosophisch oder empirisch. Allerdings findet man bei Guardini oder von Balthasar nicht viel zu Wissenschaft und Technik. Es gibt aber von Guardini eine interessante kleinere Schrift aus den 1920er Jahren, nämlich seine „Briefe vom Comer See“, eigentlich eine einzige Jeremiade gegen die moderne Technik, die damals anfing, die oberitalienische Idylle zu zerstören. Er regt sich besonders über die knatternden 202
Motorboote auf dem Comer See auf und klagt und klagt über die modernen Zeiten, die alles Schöne ruinieren, weiß aber im Grunde, dass seine Klagen sinnlos sind, weil die Technisierung mit der Wucht einer neuen Epoche hereinbricht, die niemand aufhält, schon gar nicht ein eher konservativ eingestellter katholischer Priester. Aber weil Guardini weiß, dass man geschichtliche Umwälzungen akzeptieren muss, phantasiert er eine zukünftige Haltung, die durch die Technisierung das Mysterium erneut zur Geltung bringen würde. Er sagt : „Ich sehe Menschen, die im heutigen wirklichen Leben stehen, denen aber wieder die Märchengestalten durch all die Vernunft hindurch laufen – denke an Friedrich Bluncks Märchen von der Niederelbe ! Doch nicht wie ein Spuk zur Nacht, wenn man sich aus den praktischen Gebilden des neuzeitlichen Lebens hinwegträumt. Sondern die Märchen kommen aus den Maschinen selber, und unsere Wirklichkeit erfährt mitten im hellen Tag jene Verwandlung in das ‚Andere‘, die eben ‚Märchen‘ heißt.“ Man könnte sagen : In solchen Phänomenen wie dem „overview effect“ hat sich diese Verwandlung ins ‚Andere‘ schon heute ereignet ! Wir müssen nur sehen lernen. Das Leitmotiv des letzten Kapitels war ein Satz von Theodor W. Adorno. Er lautete : „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dieser Satz war seinerseits zugleich richtig und falsch. Falsch, insofern wir nicht auf die Revolution und eine befreite Gesellschaft warten müssen, um das richtige Leben zu leben, denn sonst müssten wir ewig warten. Richtig war der Satz, insofern wir uns nicht in eine private Idylle zurückziehen dürfen, wenn es in der Gesellschaft drunter- und drübergeht. Drunter und drüber geht es in mehrfacher Hinsicht. Zum einen, weil der elementare Egoismus reicher Nationen oder reicher Gesellschaftsschichten innerhalb einer einzelnen Nation dazu führt, dass die Armen immer ärmer werden und die Reichen immer reicher. Das hat inzwischen Ausmaße erreicht, die skandalös sind, und jeder Theologe ist sich dessen bewusst. 203
Weniger bewusst sind sich viele Theologen, dass wir auch ein Problem mit der Natur haben, das genauso skandalös ist. Umweltzerstörung, Artenschwund, Überfischung der Meere, Verschwendung nicht regenerierbarer Ressourcen, Abholzung der Regenwälder usw. Wer hier nicht protestiert, macht sich genauso schuldig, und es ist ein großes Verdienst von Papst Franziskus, dies wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Aber es geht nicht nur um Windkraftwerke, Solarzellen, Elektromotoren und Stoffrecycling, so schön das alles ist ; es geht um eine Grundeinstellung, die zu verändern wäre. Oben wurde gesagt, dass wir in einer Welt des praktischen Materialismus leben, einer Welt des Habenwollens und des ständig erhöhten Durchsatzes von Waren. Ein sich ständig schneller drehendes Karussell von Produktion, Konsumtion, Vermüllung und hektisch vorangetriebener Technisierung. Es wurde weiter gesagt, dass die Eigendynamik der Ökonomie nicht nur die Technik (was man verstehen könnte) verzweckt, sondern auch die Naturwissenschaft. Der Naturwissenschaftler ist heute gehalten, verwertbares Wissen zu produzieren, d. h. solches, das sich gut verkaufen lässt. In einer solchen Situation ist es unverantwortlich, wenn sich der Glaube eine biedermeierliche Enklave jenseits dieser Verdinglichungstendenzen genehmigt oder sich mit Kompensationstheologien beruhigt, wonach wir alles beim Alten lassen können, weil es genügt, die ganze Maschinerie theologisch zu überhöhen, so wie man früher die Schlachtschiffe getauft hat. Die Überlegungen zum overview effect sollten uns eine Lehre gewesen sein. Die Mondlandungen der Amerikaner beruhten auf einer Technologie, deren Leistungen staunenswert sind. Die Saturnraketen der Apollomission bestanden aus einer Million Einzelteilen, die mit einer Präzision von 99 Prozent arbeiteten, sonst wäre das Risiko einer Katastrophe zu groß gewesen. Die Mondfahrer folgten einem minutiös durchstrukturierten Tagesablauf, der keine 204
Freiräume kannte. Aber sie nahmen sich Zeit für Kontemplation und Staunen, Zeit für das Nichttechnische, das Ästhetische. Sie staunten über das Wunder Erde, die wirklich unsere Heimat ist, sie waren besorgt über die Verletzlichkeit der irdischen Lufthülle, denn die Abgase der großen Städte und Industrieanlagen sieht man leicht auch vom Weltraum aus. Während sie sich der Schönheit unseres Planeten hingaben, fühlten sie zugleich die Verpflichtung, ihn zu erhalten. Die fundamentale Erfahrung, dass Leben ein Wert ist, dass unsere Erde exemplarisch für das Wunder des Lebens steht, dass die Weiten des Kosmos und seine erschreckende Leere dieses Wunder nur umso größer machen, dieser Umschlag der Betrachtungsweise von der Quantität zur Qualität, von der Berechnung zum Ausdruck, von der Kausalität zur Form setzte sie instand, etwas von dieser göttlichen Kraft zu erfahren, die den Kosmos durchdringt und die sich nur dem zueignet, der bereit ist, seine Gewohnheiten zu durchbrechen, und seien es die, die ihm durch eine lange wissenschaftliche Ausbildung anerzogen wurden. Das Göttliche zeigt sich nur dem Blick, der eine entschiedene Umkehr vollzieht. Sich beschenken zu lassen ist eine täglich zu erneuernde Kunst.
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In seinen Ausführungen macht Hans-Dieter Mutschler deutlich: Naturwissenschaft und Religion schließen sich nicht aus. Beide sind Welterklärungsmodelle mit unterschiedlichen Fragestellungen, unterschiedlichen Bezugsrahmen und entsprechend unterschiedlichen Deutungen, die aber sehr wohl zusammenpassen. Hans-Dieter Mutschler, Dr. phil., geboren 1946, Studium der Theologie, Philosophie und Physik in München, Paris und Frankfurt. Professor für Naturphilosophie an der Hochschule Ignatianum in Krakau, Lehrbeauftragter an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main.
ISBN 978-3-429-03923-3
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Alles Materie – oder was?
In seiner Kritik dieser Position zeigt Hans-Dieter Mutschler auf, dass der Materialismus keineswegs zwingend aus der Naturwissenschaft folgt und in welche inneren Widersprüche dieser sich verstrickt. Erst wenn wir beides, Materie und Geist, ernst nehmen und in ihrer inneren Beziehung zueinander sehen, werden uns die Weltphänomene verständlich.
Hans-Dieter Mutschler
Alles, was es gibt, besteht aus Atomen, Elementarteilchen oder Superstrings. Geistige Prozesse sind nichts als eine Zusammenballung solcher materiellen Partikel und daraus hinreichend erklärbar; Gott wird überflüssig – so lautet, kurz gefasst, die Position des Materialismus.
Hans-Dieter Mutschler
Alles Materie – oder was?
Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion
19.02.2016 15:06:37