Alexandre Dumas: Der vierte Musketier 9783806241525

Ein Leben wie ein Abenteuerroman: Dumas - Autor, Freiheitskämpfer und Lebemann Er war einer der größten französischen S

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German Pages 272 [274] Year 2020

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Teil Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833) Ein Bild von einem Vater
Waldkind und Jäger
Von der Schreibkraft zum Dichter
Verbotene Liebschaften, vorübergehende Leidenschaften
Der Revolutionär von 1830
Der »kühnste« der romantischen Dichter
Die Affäre um den Turm von Nesle
Romantische Reisebilder: Von Bärensteaks und Ex-Königinnen
2. Teil Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848) Auf dem Weg zum historischen Roman
Superstar und Don Juan
Ehemann und Vater
Rückzug nach Florenz
Die Musketiere erobern Frankreich
Schlag auf Schlag: Der Graf von Monte-Christo
Ein Pamphlet und seine Folgen
Märchenschloss und Traumtheater
3. Teil Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870) Der Zusammenbruch
Schattenjahre
Sternstunden in Neapel
Auf Abschiedstournee
Epilog: Schlemmen mit Dumas
Zeittafel
Werkverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Werkregister
Danksagung
Abbildungsnachweis
Rückcover
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Alexandre Dumas: Der vierte Musketier
 9783806241525

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Alexandre Dumas (1802–1870) hat sein großes literarisches Werk mit ungeheurem Fleiß und beeindruckender Kreativität vorangetrieben, bis es am Ende mehrere Hundert Bände füllte. Schon zu Lebzeiten sehr erfolgreich sind seine Romane heute unbestrittene und mehrfach verfilmte Klassiker. Zum 150. Todestag hat Ralf Junkerjürgen dem vielseitigen Franzosen erstmals eine umfassende Biografie in deutscher Sprache gewidmet.

Ralf Junkerjürgen ist seit 2007 Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die französische Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts. 2018 hat er bei wbg THEISS eine erfolgreiche Biografie zu Jules Verne veröffentlicht.

Umschlagabbildungen: Porträtaufnahme von Alexandre Dumas aus dem November 1855 von Nadar (1820–1910). © akg-images/ Science Source. Illustration der Hauptfiguren aus »Die drei Musketiere« von Maurice Leloir, 1894 (Ausschnitt). © akg-images/De Agostini Picture Library.

Mit »Die drei Musketiere« und »Der Graf von Monte-Christo« eroberte Alexandre Dumas einen festen Platz in der Weltliteratur. Politisch und unternehmerisch höchst engagiert, blieb der umtriebige Franzose den sinnlichen Freuden des Lebens stets zugewandt. Zugleich Schriftsteller, Freiheitskämpfer, Gourmet und Erotomane galt er Zeitgenossen als Naturgewalt. Deutsche Leser können mit dieser einzigartigen Biografie nun die enge Verzahnung von Literatur, Gesellschaft und Geschichte des 19. Jahrhunderts in ihrer ganzen Fülle erleben.

»Was für ein einfallsreicher Dichter dieser große Junge Alexandre Dumas doch ist!« Heinrich Heine

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4127-3

Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Ralf Junkerjürgen

ALEXANDRE DUMAS Der vierte Musketier

Biografie

© privat

Ein Leben wie ein Abenteuerroman

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Alexandre Dumas

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Ralf Junkerjürgen

Alexandre Dumas Der vierte Musketier

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Mechthilde Vahsen, Düsseldorf Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4127-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4152-5 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4153-2

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Inhalt

Vorwort  — 7

1. Teil Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833) Ein Bild von einem Vater  — 11 Waldkind und Jäger  — 25 Von der Schreibkraft zum Dichter  — 40 Verbotene Liebschaften, vorübergehende Leidenschaften  — 54 Der Revolutionär von 1830  — 66 Der »kühnste« der romantischen Dichter  — 76 Die Affäre um den Turm von Nesle  — 88 Romantische Reisebilder: Von Bärensteaks und Ex-Königinnen  — 102

2. Teil Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848) Auf dem Weg zum historischen Roman  — 111 Superstar und Don Juan  — 127 Ehemann und Vater  — 142 Rückzug nach Florenz  — 154 Die Musketiere erobern Frankreich  — 162 Schlag auf Schlag: Der Graf von Monte-Christo  — 176 Ein Pamphlet und seine Folgen  — 191 Märchenschloss und Traumtheater  — 203

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3. Teil Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870) Der Zusammenbruch  — 214 Schattenjahre  — 224 Sternstunden in Neapel  — 234 Auf Abschiedstournee  — 245 Epilog: Schlemmen mit Dumas  — 259 Zeittafel  — 262 Werkverzeichnis  — 265 Literaturverzeichnis  — 265 Personenregister  — 267 Werkregister  — 270 Danksagung  — 272 Abbildungsnachweis  — 272

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Vorwort

S

ein Leben ist immer noch sein bestes und unterhaltsamstes Werk, und der interessanteste Roman, der von ihm bleibt, sind seine Abenteuer«, urteilte der Literaturkritiker Ferdinand Brunetière 1885 über Alexandre Dumas. In der Tat verging zu Lebzeiten Dumas’ kaum ein Tag, an dem in der Presse nicht über ihn berichtet wurde. Er war einer der ersten Superstars der entstehenden Massenöffentlichkeit des 19. Jahrhunderts, der mit spektakulären Erfolgen, Duellen, waghalsigen Einsätzen in der Revolution von 1830, außergewöhnlichen Reisen, zahlreichen Liebschaften, Prozessen und Skandalen den Pariser Zeitungslesern über Jahrzehnte schmackhafte Nahrung bot. Bekannt und befreundet mit allen namhaften Persönlichkeiten seiner Zeit – Théophile Gautier spottete, Dumas habe um die vierzigtausend enge Freunde, Frauen und Kinder nicht mitgezählt –, stand er zugleich im Zentrum der Gesellschaft und erlebte die Umwälzungen und Wechselfälle seiner bewegten Zeit unmittelbar mit. Und dennoch irrte sich Brunetière. Überlebt haben nicht die Kenntnisse um das ereignisreiche Leben Dumas’, sondern seine Werke, die in alle Sprachen übersetzt wurden und eine moderne Mythologie ­begründet haben. Figuren wie d’Artagnan oder der Graf von Monte-­ Christo sind bis heute jedem ein Begriff und haben Generationen von Leserinnen und Lesern inspiriert. Darunter schon Heinrich Heine, der sich schwer krank und bettlägerig 1854 in einem Brief an Dumas wandte, um ihm zu danken: »Auf dem Höhepunkt meiner Krankheit, wenn ich die größten Qualen erduldete, las mir meine Frau Ihre Romane vor, und das war das Einzige, was im Stande war, mich meine Schmerzen vergessen zu lassen. Also habe ich sie alle verschlungen, und während der Lektüre rief ich manchmal aus Was für ein einfallsreicher Dichter dieser große Junge Alexandre Dumas doch ist! Gewiss sind Sie nach Don Miguel Cervantes und … Scheherazade der unterhaltsamste Erzähler, den ich kenne.« 7

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Vorwort

Was könnte man einem Schriftsteller Schöneres sagen? Dumas ­gehört zu jenen Autoren, die Lust auf Lesen machen und von allen Gesellschaftsschichten gelesen wurden. Das hat man ihm lange nicht verziehen. Sein historisch beispielloser Erfolg zog schon zu Lebzeiten Neider an, die ihn als Literaturunternehmer mit Phantomschreibern brandmarkten. Aber auch die Literaturgeschichte hat ihm über 100 Jahre den Status verwehrt, der ihm zukommt. Denn Dumas bietet keineswegs reine Unterhaltung im Sinne aufregender Episoden. Seine großen historischen Romane sind vielmehr deshalb unterhaltsam, weil sie Geschichte und Drama, Analyse und Spannung mit­einander verbinden. Provoziert hat an Dumas seine ungeheure Produktivität, die ihn wohl zu dem Schriftsteller mit der längsten Publikationsliste seines an Literatur so reichen Jahrhunderts macht. Nur wer eine solche Gabe und eine solche Arbeitskraft neidlos anerkannte, konnte sie wie der Historiker Jules Michelet in einem Brief an Dumas von 1851 rückhaltlos bewundern: »Seit langem schon wollte ich Ihnen schreiben, um Ihnen mein Erstaunen mitzuteilen, in das mich Ihr unerschöpfliches Genie und der unermessliche Strom Ihrer Einfallsgabe versetzt. Sie sind mehr als ein Schriftsteller. Sie sind eine Naturgewalt, und ich hege für Sie dieselbe tiefe Sympathie wie für jene.« Waren es am Ende 300 oder 500 Bände? Das wusste Dumas selbst nicht mehr. Das Geheimnis seines Genies liegt in dieser unglaublichen Schaffenskraft, die bis kurz vor seinem Tod angehalten hat. Begabt mit einem phänomenalen Gedächtnis konnte er an mehreren Projekten zugleich arbeiten. Wenn er sich an den Schreibtisch setzte und seine Feder über die unlinierten blauen Papierbögen gleiten ließ, die er stets verwendete, dann schrieb er »an guten wie an schlechten Tagen um die 24 000 Buchstaben«, wie er behauptete. Seine Konzentrationsfähigkeit war so hoch, dass er in jeder Lebenslage schreiben und sich trotz der vielen Unterbrechungen, die sein mondänes Leben mit sich brachte, sogleich wieder unbeirrt an die Arbeit setzen und dort fortfahren konnte, wo er aufgehört hatte. Seine fast kalligrafische Schrift machte es den Setzern leicht und ersparte ihm die mühselige Korrektur der Druckfahnen. Dumas besaß das seltene Talent, stets in einem Guss zu schreiben und täglich liefern zu können. 8

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Vorwort

Doch damit nicht genug. Denn es gibt nicht nur einen Alexandre Dumas, sondern gleich drei: neben ihm, der traditionell als Dumas der Ältere bezeichnet wird, noch seinen Vater Alexandre, der auf Haiti als Sohn einer Sklavin und eines Marquis aufgewachsen ist, sowie seinen eigenen Sohn Alexandre, der ab Anfang der 1850er Jahre als einer der erfolgreichsten Schriftsteller des Zweiten Kaiserreichs den Ruhm des Vaters fortführte. Vor allem die bewegte Lebensgeschichte von Dumas’ Vater, der nach der Revolution eine steile militärische Karriere machte und der erste dunkelhäutige General der französischen Armee wurde, hat einen maßgeblichen Einfluss auf ihn und sein Werk gehabt. Als Sohn eines Mulatten war Dumas sensibilisiert für Fragen der Diskriminierung und Stigmatisierung, so dass sich in seinem Werk kaum Spuren jener eurozentristischen und rassistischen Theorien finden, die im 19. Jahrhundert aufkeimten und das Lesevergnügen bei manch anderen Autoren trüben. So beglückend ein so bewegtes Leben für einen Biografen auch ist, so schwer fällt es zugleich, sich nicht in der schieren Menge zu verlieren und Schwerpunkte zu setzen. Im Vordergrund des vorliegenden Bandes stehen die frühe Schaffenszeit, in der Dumas neben Victor Hugo der Vorreiter der Romantik in Frankreich gewesen ist und die Theaterwelt mit seinen Dramen eroberte, und seine intellektuelle Entwicklung hin zum historischen Roman, der ihn weltberühmt gemacht hat. Als Quellen dienten in erster Linie seine Memoiren, die Korrespondenz, die Reiseberichte und die zahlreichen Zeugnisse aus der Presse und seiner Bekannten und Freunde. Da im vorliegenden Format keine Fuß- oder Endnoten vorgesehen sind, habe ich mich bemüht, die Quellen stets so auszuweisen, dass Interessierte sie bei Bedarf auffinden können. Sämtliche Zitate wurde eigens für die vorliegende Biografie neu übersetzt. Um den Text nicht zu überfrachten, wurde auf eine systematische Übersetzung der Werktitel verzichtet. Die Titel werden nur dann übersetzt, wenn dies zum Verständnis nötig ist. In diesem Fall werden bei der ersten Erwähnung der französische Titel und die deutsche Übersetzung in Klammern angeboten; in Anschluss 9

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Vorwort

daran wird nur noch der deutsche Titel verwendet. Die bekanntesten Texte wiederum werden gleich mit ihrem deutschen Titel genannt. Zum Verständnis der Hinweise auf finanzielle Fragen ist zu beachten, dass ein Franc aus dem Jahre 1850 ca. 3,30 Euro entspricht. Ein letztes Wort zum Untertitel der Biografie. Manch einer mag sich fragen, warum Dumas als der vierte Musketier bezeichnet wird, da es schon im Roman vier davon gibt und er eigentlich der fünfte sein müsste. Als der Herausgeber der Zeitung Le Siècle, in welcher der Roman zuerst erschien, vorschlug, ihm den Titel Die drei Musketiere zu geben, fand Dumas dies absurd, eben weil es eigentlich vier seien, aber zugleich umso besser, weil absurde Titel größeren Erfolg hätten. Von daher darf man hoffen, dass er zufrieden damit gewesen wäre, der vierte Musketier genannt zu werden, nicht zuletzt, weil der junge d’Artagnan zum Teil autobiografische Züge hat.

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1. Teil Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

Ein Bild von einem Vater

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s ist Dienstag, der 25. Februar 1806, in Villers-Cotterêts, einer Kleinstadt gut achtzig Kilometer nordöstlich von Paris. General Alexandre Dumas, der Herkules von den Antillen, der erste dunkelhäutige General im französischen Heer, der Schrecken der Österreicher und Kriegsheld von Kairo, spürt mit nur 43  Jahren, dass es zu Ende geht. Was seine pausenlosen Kriegseinsätze nicht vermochten, schafft jetzt der Magenkrebs, der wahrscheinlich von Arsenvergiftungen während seiner Gefangenschaft in Neapel ausgelöst wurde. »Mein Gott, mein Gott, was habe ich bloß getan, dass du mich so jung dazu verurteilst, meine Frau und meine Kinder zu verlassen?«, ruft er verzweifelt und blickt auf seine Gattin Marie-Louise. Vor zwei Tagen war er noch einmal auf sein Pferd gestiegen, hatte sich aber schon nach einer halben Stunde so kraftlos gefühlt, dass er sich ins Bett legen und Marie-Louise den Arzt holen musste. Es sah ganz danach aus, dass er den Mittwoch nicht mehr überstehen würde. Am späten Nachmittag schon hatte Marie-Louise ihren dreieinhalbjährigen Sohn Alexandre vorsorglich zu ihrem Bruder gebracht. Die ältere Tochter Marie befindet sich in einer Pension in Paris. Jetzt wachen nur seine Frau und eine Nachbarin bei dem General. Marie-Louise kann den Blick nicht von ihm abwenden, so wie damals zur Revolutionszeit im August 1789, als er mit einem Dragonerregiment in ihr Städtchen eingeritten war. Weil man Plünderungen und Unruhen befürchtete, hatte ihr Vater, Claude Labouret, ein angesehener Gastwirt, das Militär zur Hilfe gerufen. Der damals 27-jährige Dumas hatte einiges Aufsehen bei den Leuten erregt, denn er war, 11

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

wie sein Sohn später schreiben sollte, »einer der attraktivsten jungen Männer, denen man begegnen konnte. Er hatte einen dunklen Teint, samtbraune Augen und jene gerade Nase, die der Mischung von amerikanischen und europäischen Rassen zu eigen ist. Seine Zähne waren weiß, seine Lippen anziehend, sein Hals thronte fest auf den mächtigen Schultern, und er besaß trotz seiner Größe von über 1,80 Meter die Hände und Füße einer Frau.« Solch zierliche Füße und Hände galten als Zeichen edler Herkunft, und seine Kameraden munkelten in der Tat, dass der imposante Mulatte mit den feinen Händen und der guten Erziehung der Sohn eines Marquis sei. Und welchen Eindruck musste er erst auf die damals 19-jährige ­Marie-Louise gemacht haben! Er, der Hüne aus Übersee, der die Welt gesehen hatte, während sie als einziges Kind ihrer Eltern in der Provinz aufgewachsen war. Wie aufregend, dass der schöne Dragoner ausgerechnet in ihrem Haus einquartiert wurde! Und welch ein Glücksfall, dass er sich ebenfalls zu der jungen Schönheit hingezogen fühlte! Vier Monate sollte Dumas im Hause der Labourets verbringen. Was im August mit scheuen und bewundernden Blicken anfing, wurde durch den täglichen Umgang bald vertraut und ebenso schnell zu einer Liebesbeziehung, die am 6. Dezember in der Verlobung gipfelte. Ihre Verbindung scheint nicht lange platonisch geblieben zu sein, denn schon wenig später schrieb Vater Claude an einen Freund, dass er den Moment der Hochzeit kaum erwarten könne: »Den Grund dafür kannst du dir wohl denken.« Der zukünftige Schwiegersohn sollte nicht nur sein Versprechen halten und Marie-Louise im November 1792 heiraten, sondern auch eine jener rasanten Karrieren machen, die in Umbruchzeiten möglich sind. Nach der Hochzeit war er zwei Wochen bei ihr geblieben und ließ sie schwanger zurück, als er wieder zu seiner Truppe musste. Ab diesem Moment bestand ihre Ehe aus einem Wechsel aus langen Trennungen und kurzem Wiedersehen. Sie schrieben sich regelmäßig, aber die Briefe waren Wochen, mitunter sogar Monate lang unterwegs. Es war ein Leben in ständiger Angst davor gewesen, dass er gar nicht mehr zurückkommen würde. Frankreich war seit der Revolution ununterbrochen in Kriege und 12

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Ein Bild von einem Vater

Kämpfe verwickelt, und daher hatte er Marie-Louise 1791, sogar noch vor ihrer Hochzeit, als Erbin eingesetzt. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Alexandrine Aimée verbrachte er im September 1793 vier Tage bei seiner kleinen Familie, um dann wieder lange fortzubleiben. Ende 1794 kam er für einige Monate, um sich von einer anstrengenden Operation in den Alpen zu erholen. Sein nächster Einsatz führte ihn nach Ägypten, diesmal blieb er ganze zwei Jahre fort. Einmal hörte Marie-Louise drei Monate nichts von ihm und musste mit dem Schlimmsten rechnen. Im September 1799 erfuhr sie, dass er in Neapel in Gefangenschaft saß. Da waren ­Erleichterung und Sorge gleich groß gewesen. Im Juni 1801 wurden sie endlich wieder vereint und waren seitdem zusammengeblieben, viereinhalb Jahre lang, die längste Zeit in ihrer 13-jährigen Ehe. 1802 hatten sie einen Sohn bekommen, den kleinen Alexandre. Doch der General war nicht mehr derselbe. In Neapel hatte man ihn mehrmals mit Arsen vergiftet und er litt unter den Folgen. Genauso ­gelitten hatte auch sein Lebensmut. Er, der einst so tatkräftig gewesen war, der sich im Kampf jeder Gefahr aussetzte, konnte die Untätigkeit, zu der er verdammt war, nicht ertragen. Und jetzt lag er im Sterben. Marie-Louise war erst Mitte dreißig und mochte ahnen, dass sie ihn lange überleben würde – ganze 32 Jahre. Gegen 22 Uhr bat er um geistlichen Beistand, und man holte eilig den befreundeten Abt Grégoire herbei. Beichten aber wollte der ­General nicht, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Einmal rief er nach seinem kleinen Sohn, dann winkte er ab, das arme Kind, fügte er hinzu, man solle es nicht aufwecken. Während die Glocken Mitternacht schlugen, starb er in den Armen seiner Frau. Währenddessen schlief sein Sohn Alexandre im Zimmer einer Cousine. In eben jenem Moment, als der Vater starb, so will sich sein Sohn später erinnern, seien er und seine Cousine von einem heftigen Schlag an die Tür geweckt worden. Für den Jungen bestand kein Zweifel daran, dass sein Vater sich von ihm verabschieden wollte, eine Vorstellung, die er in seinen Memoiren zu einer rührenden Szene verarbeitete: 13

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

»Wohin gehst du, Alexandre?«, rief meine Cousine mir zu, »wohin gehst du denn?« »Das siehst du doch«, antwortete ich ruhig, »ich mache Papa auf, der sich von uns verabschieden will.« Das arme Mädchen sprang ganz erschrocken aus dem Bett, packte mich, als ich meine Hand auf das Schloss legte, und zog mich mit ­Gewalt in mein Bett zurück. Ich wehrte mich in ihren Armen und schrie aus voller Kraft: »Adieu, Papa! Adieu, Papa!« Dann fuhr so etwas wie der Hauch eines Atems über mein Gesicht und beruhigte mich. Dennoch schlief ich mit Tränen in den Augen und Schluchzen in der Kehle wieder ein. Am nächsten Tag weckte man uns bei Tageslicht. Mein Vater war genau zu der Stunde gestorben, als der laute Schlag, von dem ich gesprochen habe, an die Tür prallte! Wie zuverlässig mag die Erinnerung an ein Ereignis sein, das er mit dreieinhalb Jahren erlebte und über vierzig Jahre später zu Papier bringt? Dumas selbst hat keine Zweifel daran, er fügt sogar noch eine Zeichnung in den Text ein, um zu beweisen, dass die Tür von außen unzugänglich war und niemand anklopfen konnte. Aber die Psychologie hat uns gelehrt, dass übersinnliche Ereignisse dieser Art als Wunschfantasien zu verstehen sind, die mit einer solchen Authentizität erlebt werden können, dass man sie für real hält. Und kommt in dieser Szene nicht der verständliche Wunsch zum Ausdruck, eine enge, privilegierte, ja übernatürliche Verbindung zu einem Vater zu haben, den er kaum kennenlernen konnte und dessen Vor- und Nachnamen er trug? Musste der frühe Verlust des Vaters, »das größte Unglück meines Lebens«, wie Dumas es beurteilte, diesen nicht zu einer mythischen Figur machen, um welche die Fantasie ihre Fäden spann? »Ich betete meinen Vater an«, schreibt Dumas weiter. »Vielleicht war das Gefühl, das ich heute Liebe nenne, in jenem Alter nichts als ein naives Staunen über jene herkulische Statur und jene riesige Kraft, die er mehrmals vor mir bewiesen hatte, vielleicht war es auch nichts 14

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Ein Bild von einem Vater

weiter als eine kindliche und stolze Bewunderung für seine bestickte Uniform, für seinen dreifarbigen Federbusch und für seinen großen Säbel, den ich kaum hochzuheben vermochte. Jedenfalls ist mir die Erinnerung an meinen Vater heute noch in jeder Linie seines Körpers, in jedem Zug seines Gesichts noch so gegenwärtig, als hätte ich ihn erst gestern verloren. Und so liebe ich ihn schließlich immer noch, ich liebe ihn so zärtlich, so innig und so wahrhaftig, als ob er über meine Kindheit gewacht und ich das Glück gehabt hätte, auf seinen starken Arm gestützt, von der Kindheit ins Jugendalter hinüberzugehen.« Dieser Vater ist in der Fantasie lebendig geblieben und hat seinen Sohn dort sein Leben lang begleitet. Lag es nicht nahe, dass Dumas die Erinnerung an den mythischen Vater aus der Karibik, der in den Koalitionskriegen in kurzer Zeit vom einfachen Dragoner zum General aufgestiegen war, literarisch wachzuhalten wünschte? Dumas unterbricht den Erzählfluss seiner Memoiren und spricht den Vater mit der rhetorischen Figur der Apostrophe direkt an: »Wie du siehst, mein Vater, habe ich keine einzige jener Erinnerungen ausgelassen, die du mir zu bewahren aufgetragen hast. Denn seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht habe, lebt die Erinnerung an dich in mir wie ein heiliges Licht weiter und erhellt alle Dinge und alle Menschen, mit denen du verbunden warst, obwohl die Zeit diese Dinge zerstört und obwohl der Tod diese Menschen mit sich genommen hat!« Wer war jener General Alexandre Dumas, dessen Lebensgeschichte und früher Tod das Werk seines Sohnes so stark beeinflussen sollten? Seine Biografie vereinte auf faszinierende Weise die größten sozialen Gegensätze, die es in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts geben konnte: Er war Sohn eines Adligen und einer Sklavin. Sein Vater, Alexandre Antoine Davy de la Pailleterie, stammte aus der Normandie und hatte als Erstgeborener Anspruch auf den Titel des Marquis und auf das Familiengut. Aber er war auch ein skrupelloser Taugenichts, der 1738 aus finanziellen Gründen nach Saint-­Domingue (heute Haiti) ging, die ökonomisch wichtigste Kolonie Frankreichs. Dort ließ er sich zunächst von einem jüngeren Bruder aushalten, bis er nach einem heftigen Streit in Jérémie an der schwer zugänglichen Westküste untertauchte, wo er 1749 eine Kaffeeplantage gründete. 15

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

Von den gut 2600  Menschen, die dort lebten, waren 2100  afrikanische Sklaven und nur knapp 400  Europäer. Bald warf Antoine ein Auge auf eine attraktive Sklavin namens Marie-Césette Dumas, die er für einen stattlichen Preis erwarb und mit ihr vier Kinder zeugte. Sein ältester Sohn, Alexandre, der spätere General Dumas, wurde am 25. März 1762 geboren und verbrachte die ersten zehn Lebensjahre mit seinen drei Geschwistern in den tropischen Landschaften der Karibik. Antoine besaß eine Vorliebe für den Erstgeborenen und wollte über zehn Jahre später mit ihm als Stammhalter in die Heimat zurückkehren, um sein Erbe anzutreten. Allerdings fehlten ihm die Mittel, um die Reise zu finanzieren. Daher verpfändete er seinen Sohn 1775 an einen Kapitän und bezahlte davon seine Überfahrt nach Frankreich. Für den Sohn muss es ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, allein zurückgelassen zu werden und mit der Angst leben zu müssen, dass der Vater es sich in Frankreich anders überlegte oder überhaupt niemals dort ankam. Alles verlief nach Plan, Antoine trat in der Normandie sein Erbe an und stieg zum Marquis auf, was den Sohn automatisch zum Grafen machte. Alexandre ging im August 1776 im Alter von vierzehn Jahren in Le Havre an Land, wo der Vater ihn wieder freikaufte. Was aus der Mutter und den Geschwistern wurde, ist nicht bekannt. Der Sohn schien zwischen beiden Eltern hin- und hergerissen zu sein. Mal unterschrieb er mit dem Nachnamen seines Vaters, also Davy de la Pailleterie, mal verband er die Nachnamen von Mutter und Vater zu Dumas-Davy. Die Namensverwirrung verweist nicht nur auf seinen prekären offiziellen Status, sondern dürfte auch Ausdruck einer instabilen Identität gewesen sein. Angesichts der Diskriminierungen von Dunkelhäutigen im Ancien Régime wurde der junge Mann ständig mit der Frage nach seiner Identität konfrontiert und schwankte zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, was er nun eigentlich war: Sklave, Graf, Franzose, Kreole oder Amerikaner, wie man die Einwohner der karibischen Kolonien damals nannte. Im Herbst 1778 gingen Vater und Sohn nach Saint-Germain-enLaye im Westen von Paris und lebten dort offenbar auf großem Fuße. Alexandre unterzog sich zugleich einer Ausbildung im Fechten, bei 16

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Ein Bild von einem Vater

der er wie bei allen physischen Aktivitäten ein außergewöhnliches ­Talent bewies. Dazu fuhr er häufig ins nahe gelegene Paris und machte sich mit der mondänen Welt vertraut. Als der Vater 1786 mit 69 Jahren auf die Idee kam, seine dreißig Jahre jüngere Haushälterin zu heiraten, brach ein heftiger Konflikt mit seinem Sohn aus. Die Gründe dafür sind nicht genau bekannt. Hegte der Sohn Groll, dass sein Vater seine Mutter nicht geheiratet hatte? Fürchtete er, dass der Marquis weitere Kinder zeugte, die dann Anspruch auf das Erbe erheben würden? Würde der Vater ihm jetzt vielleicht den Geldhahn zudrehen? Oder verstand er sich mit dessen Frau einfach nicht? Woran es auch lag, der Konflikt war der Auslöser dafür, dass ­Alexandre nur zwei Wochen später zur Armee ging. Mehr noch: Am 2. Juni 1786 unterzeichnete er die Anwerbungsliste mit dem Namen Alexandre Dumas und setzte noch »Sohn von Antoine und Cecette Dumas« d ­ arunter. Angesichts seiner Namensvielfalt wirkt dies rückblickend wie ein Bekenntnis, denn er verzichtete auf den Adelsnamen und wurde nicht Offizier, sondern einfacher Soldat. Er distanzierte sich damit deutlich von seinem Vater, degradierte ihn sogar zu einem Dumas und erwies stattdessen der Mutter eine Hommage. Es ist merkwürdig, dass die Mutter überhaupt einen Nachnamen besaß, da Sklaven eigentlich nur Vornamen trugen. Der Name Dumas ist in Frankreich bis heute weit verbreitet. Ein »mas« (von lat. mansum) bezeichnet ein Bauernhaus bzw. Landhaus der Provence, so dass der Name Dumas als Herkunftsbezeichnung mit der Bedeutung »vom Landhaus« zu verstehen ist. Verwies er darauf, dass die Mutter in einem Landhaus gearbeitet hatte? Oder war der Name vielleicht die französisierte Version eines afrikanischen Namens? Dies ist bis heute ungeklärt. Als Soldat schien Alexandre Dumas seine Identität gefunden zu haben. Nur dreizehn Tage später verstarb der Vater, und damit brach jede Verbindung zur Aristokratie ab. Wie seine weitere Laufbahn zeigt, hatte der Sohn damit nicht nur für sich, sondern auch angesichts der politischen Entwicklungen richtig entschieden. Als kurz darauf die Revolution ausbrach und eine wahre Hexenjagd auf den 17

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

Adel ­ausbrach, war aus ihm bereits ein überzeugter Verfechter der ­Republik geworden, die seine Rechte sicherte und ihn weitgehend vor der Diskriminierung als Mulatten schützte. Seine Karriere begann Dumas als einfacher Dragoner, das heißt als Kavallerist. Die Dragoner waren ziemlich harte Burschen, die als Vorhut das Gelände aufklären mussten und dabei meist als erste Feindkontakt hatten. Die wichtigste Quelle für die Biografie General Dumas’ stammt aus der Feder seines Sohnes, der die ersten zwanzig Kapitel seiner Memoiren dem Vater widmet. Er rekonstruiert dessen Lebensgeschichte mangels eigener Erinnerungen anhand von Erzählungen seiner Mutter und Kameraden seines Vaters sowie von Briefen und Berichten. Auch wenn spätere Biografen wie Claude Ribbe und Tom Reiss gezeigt haben, dass der Sohn insgesamt ein zutreffendes Bild seines ­Vaters zeichnet, handelt es sich dabei nicht um eine objektive Biografie, sondern um einen Text, der erzähltechnisch und glorifizierend überformt wurde. Dies lässt sich gut daran erkennen, dass aus der Chronologie einige Einzelbilder intensiv hervorstechen, in denen sich eine heroische Vorstellung vom Vater herauskristallisiert. Immer wieder spricht er von dessen herkulischem Körper und seiner geradezu übermenschlichen Kraft. So soll er in der Reithalle in der Lage gewesen sein, sich mit den Armen an einem Balken festzuhalten und das Pferd dabei mit dem bloßen Druck seiner Schenkel mit in die Luft zu heben. Die körperliche Überlegenheit des Vaters verband sich mit einer Furchtlosigkeit und Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber, die ihm im Kampf wiederholt außergewöhnliche Erfolge ermöglichte. Er fühlte sich offenbar am wohlsten, wenn er an vorderster Front im Einsatz war und alles riskieren konnte. Im Februar 1797 war er in den Alpen im Einsatz und trieb mit seinem Reitertrupp die Österreicher in Tirol nach Norden zurück. Dabei machte er so viele Gefangene, dass die Gegner ihn als schwarzen Teufel bezeichneten. Im März erreichte er das Städtchen Klausen, gut vierzig Kilometer nördlich von Bozen, wo sich die österreichischen Truppen verschanzt hatten. Als Dumas am 23. März dort an der Spitze von dreißig Dragonern einritt, hielt der Gegner eine strategisch wich18

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tige Brücke über der Eisack. Dumas war seiner Einheit voraus und stürmte mit gezücktem Säbel auf die schmale Brücke. Sein Pferd wurde erschossen und brach zusammen, er verschanzte sich hinter dem Körper des Tieres, erwiderte das Feuer und hielt so einer ganzen feindlichen Schwadron stand. Sieben Löcher schossen die Österreicher angeblich in seinen Mantel, er selbst blieb auf wunderbare Weise verschont. Als der Nachschub kam, ergriffen die Österreicher die Flucht. Von nun an wurde Dumas von den Kameraden als »Horatius C ­ ocles von Tirol« bezeichnet, in Anspielung auf den römischen Volkshelden, der ganz allein die Brücke über den Tiber nach Rom vor den Etruskern verteidigt haben soll, um den Einmarsch der Feinde zu verhindern. Mit einer solchen mythischen Figur verglichen zu werden, war eine hohe Auszeichnung, denn was heute populäre Superhelden sind, waren nach der Revolution die Heroen der römischen Republik. Ein zweiter denkwürdiger Einsatz ereignete sich während der Ägypten-Expedition im Jahre 1798. Am 21. Oktober brach in Kairo ein Aufstand gegen die französischen Besatzer aus, an dessen Niederschlagung Dumas einen hohen Anteil hatte. Sein Sohn liefert eine anschauliche, weil ungewöhnlich physische Beschreibung des Vaters. Denn als dieser von dem Aufstand erfahren habe, »sprang er beinahe nackt auf ein Pferd ohne Sattel, ergriff seinen Säbel und stürzte sich in die Straßen Kairos an der Spitze einiger Offiziere, die bei ihm waren. … Man weiß, welchen Eindruck die herkulische Schönheit meines Vaters auf die Araber machte. Hoch auf einem großen Dragonerpferd, das er als perfekter Reiter im Griff hatte, erschien er den Arabern als Würgeengel mit flammendem Schwerte, indem er seinen Kopf, seine Brust und seine nackten Arme allen Schlägen auslieferte und sich in die heftigsten Kampfgetümmel mit jener Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber warf, die er immer besessen hatte …« Die Rivalität zwischen General Dumas und dem späteren Kaiser der Franzosen stellt einen weiteren zentralen Aspekt in Dumas’ Darstellung seines Vaters dar. General Dumas war gut sieben Jahre älter als Bonaparte und gehörte zu einer Gruppe eingefleischter Republikaner unter den Generalen, die mit dem 18. Brumaire untergingen. 19

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Zweifellos wusste Bonaparte die Eigenschaften Dumas’ an der Front sehr zu schätzen, und auch seine erste Frau Joséphine, selbst in der Karibik aufgewachsen, war ganz angetan von ihm. In Toulon, von wo aus die Ägypten-Expedition startete, sah es sogar einmal so aus, als würden sie sich nahestehen. Eines Morgens trat Dumas in das Zelt Bonapartes, als dieser gerade damit beschäftigt war, die weinende ­Joséphine zu trösten. Da auch Dumas seine Frau allein in Frankreich zurückließ, bezog Bonaparte ihn mit ein und versprach, dass beide Frauen nachkommen würden, wenn sie länger in Ägypten bleiben müssten. Und dann ging er noch einen Schritt weiter und sprach das leidige Thema der Nachkommenschaft an: Dumas habe eine Tochter, erklärte Bonaparte, und er selbst mache bisher überhaupt keine Kinder, aber wenn Joséphine erst einmal dort wäre, dann »werden wir alles tun, um jeder einen Jungen zu machen, und wenn wir einen Jungen machen, wird er mit seiner Frau der Pate sein, und wenn er einen Jungen macht, werde ich mit dir Pate sein.« Gewiss hat Bonaparte dies auch gesagt, um seine Frau zu beruhigen. Aber Napoleon hätte durchaus der Pate des kleinen Alexandre werden können, wenn das Verhältnis zu General Dumas bis dahin nicht zerrüttet gewesen wäre. Zum Bruch kam es während des Ägypten-Feldzugs, der anders verlief als geplant und bei Soldaten und Generalen einige Frustration auslöste. Schon nach der Eroberung Alexandrias zeigten sich die Mängel in der Planung, da es Dumas, der die gesamte Kavallerie befehligte, nicht gelang, genügend Pferde aufzutreiben, und viele seiner Leute zu Fuß in Richtung Kairo marschieren mussten. Angesichts dieser Strapazen war die Stimmung bereits in Damanhur, gerade einmal 70 Kilometer von Alexandria entfernt, völlig im Keller. Dumas beschaffte Wassermelonen und lud die Generale Lannes, Desaix und Murat in sein Zelt ein. Was als einfacher Imbiss gedacht war, wurde schon bald zu einer Debatte über Sinn und Zweck der Expedition. Weswegen waren sie eigentlich in Ägypten? Wollte sich Bonaparte etwa ein eigenes Königreich aufbauen? Dumas scheint besonders deutlich Dampf abgelassen zu haben. Es dauerte jedenfalls nicht lange, bis Bonaparte, der überall seine Informanten hatte, von dem Gespräch erfuhr und es als eine Art 20

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konspiratives Treffen einstufte. In den Denkwürdigkeiten von Sankt Helena berichtet Napoleon davon, wie er in Ägypten einen der Generale anfuhr: »Sie haben aufrührerische Reden gehalten …, passen Sie auf, dass ich nicht meine Pflicht erfülle. Ihre fünf Fuß elf Zoll werden Sie nicht davor bewahren, in zwei Stunden füsiliert zu werden.« Zwar wird hier kein Name genannt, so wie Napoleon General Dumas überhaupt in den Denkwürdigkeiten nicht namentlich erwähnt, aber für seinen Sohn besteht kein Zweifel daran, dass damit sein Vater gemeint war. Als sie endlich Kairo erobert hatten, änderte dies nur wenig an der schlechten Stimmung. Dumas verfiel bald darauf in eine Art Melan­ cholie und wollte unbedingt zurück nach Frankreich. Aber dann kam es am 1. und 2. August 1798 zu der für die Franzosen desaströsen Seeschlacht gegen die Engländer vor Abukir, bei der sie nahezu ihre gesamte Flotte verloren. Jetzt waren nicht nur die Nachschublinien nach Frankreich gekappt, auch an eine Rückkehr war vorerst nicht zu denken. Daher konnte Dumas erst am 7. März 1799 Ägypten von ­Alexandria aus auf einem zivilen Schiff verlassen. Schon bald zeigte sich, dass das Schiff nur bedingt seetauglich war. Wegen Unwetters steuerten sie den nahen Hafen von Tarent an, der zur Neapolitanischen Republik gehörte, die liberale Patrioten im Geist der Französischen Revolution ausgerufen hatten. Die Franzosen konnten also ­darauf hoffen, freundlich empfangen zu werden. Umso größer war die Enttäuschung, als sie feststellen mussten, dass Tarent wieder in die Hände der alten Krone gefallen war. Ein französischer General stellte eine wertvolle Beute für König Ferdinand IV. von Neapel dar, und so wurde Dumas dort festgehalten. Laut Bericht des Generals erhielt er am 16. Juni von einem Arzt mit Arsen vergiftete Kekse, die heftige Schmerzen und Erbrechen auslösten. Die Symptome, die sich in der Folgezeit einstellten, darunter Sehverlust, Gesichtslähmungen, Bauchschmerzen und der spätere Magenkrebs, dürften diese Vermutung bestätigen. Aber Dumas war hartgesotten und hielt bis Anfang 1801 durch, als die Franzosen Neapel zurückeroberten. Ende März wurde Dumas in Richtung des französischen Stützpunkts in Ancona verschickt, im Juni kam er nach 21

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Paris, wo er seine Frau in der Wohnung seines Freundes General Brune wiedersah. Er sollte nie wieder in den Dienst zurückkehren. Als Bonaparte erfuhr, dass Dumas körperlich schwer angeschlagen war, hatte er keine Verwendung mehr für ihn. Damit begannen Geldsorgen, die der jetzige General a. D. bis zu seinem Tod nicht lösen würde. Er forderte seinen Sold für die Zeit der Gefangenschaft sowie einen Teil der Reparationszahlungen Neapels, erhielt aber nur zwei Monate ausbezahlt und bekam von den Reparationen schlichtweg gar nichts. ­Unglücklicherweise war Alexandre Berthier, ein enger Vertrauter ­Bonapartes, mit dem sich Dumas in Italien überworfen hatte, jetzt der verantwortliche Kriegsminister und nicht gewillt, ihm entgegenzukommen. Im September 1801 war die Verzweiflung so groß, dass er einen Bittbrief an Bonaparte verfasste: »Ich hoffe doch, Herr General und Konsul, dass Sie nicht zulassen werden, dass ein Mann, der Ihre Mühen und Gefahren geteilt hat, wie ein Bettler dahinsiecht, wenn es in Ihrer Macht steht, ihm über die Not hinwegzuhelfen, indem Sie ihm einen Beweis der Großzügigkeit der Nation gewähren, deren ausführende Kraft Sie sind.« Aber es half nichts. Zur persönlichen Ungnade, in die Dumas gefallen zu sein schien, kam bald noch eine rassistische Politik hinzu, die Schwarze diskriminierte und seine Rückkehr als Offizier der Armee unmöglich machte. Für seinen Sohn steht fest, dass der Vater ein Opfer von Bonapartes Ranküne geworden ist, die sich sogar noch auf sein eigenes Leben erstreckt habe, da er niemals in eine Militäroder eine staatliche Schule aufgenommen worden sei. Für das Verständnis von Leben und Werk des Schriftstellers Dumas muss man sich bewusst machen, welch ein breites Reservoir an Erzählstoffen die faszinierende Biografie des Vaters lieferte. Dies lässt sich an dem Bericht des Generals vom 5. Mai 1801 über seine ­Gefangenschaft in Neapel veranschaulichen, den Dumas in seine ­Memoiren einfügte. Er übernahm ihn allerdings nicht wörtlich, sondern unterzog ihn einer gründlichen Überarbeitung. Ein Vergleich mit dem Original, das sich heute im Dumas-Museum in Villers-Cotterêts befindet, zeigt, wie Dumas vorgegangen ist, und gibt weitere Aufschlüsse d ­ arüber, 22

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wie sehr das Schicksal seines Vaters sein Schreiben beeinflusst haben dürfte. Dass der Sohn den Bericht mit Dialogen verlebendigt, Passagen umstellt, ausschmückt und den Vater mitunter heroischer macht, ­gehört wohl zum Beruf des Schriftstellers. Genauso interessant ist jedoch auch, was er auslässt. Am Ende des Textes spricht der Vater nämlich davon, »Rache zu nehmen« an Ferdinand IV., den er für seine Misshandlungen während der Gefangenschaft verantwortlich macht. Sein Sohn wird diese Bemerkung tilgen und stattdessen eine Passage einfügen, die eine deutlich humanere Botschaft enthält: »Obwohl mein Leben nun nicht mehr lange dauern wird, danke ich im Übrigen dem Himmel, dass er es mir bis zu dieser Stunde bewahrt hat, denn, so nahe ich dem Tod auch sein mag, habe ich noch g­ enügend Kraft, der Welt gegenüber die Reihe der Misshandlungen anzuklagen, für die weniger zivilisierte Völker sich schämen würden, sie ihren ärgsten Feinden anzutun.« Für den Sohn stand damit zwar fest, wer für den Tod seines Vaters und für das größte Unglück seines eigenen Lebens verantwortlich war. Allerdings wird aus Rache bei ihm Anklage. Mit Rache sind Taten verbunden, mit Anklage Worte. Angesichts der vielen Analogien, die das Werk Dumas’ zur Biografie seines Vaters aufweist, darf man vermuten, dass sein Schreiben im Kern immer auch der Versuch war, die Erinnerung an den Vater zu beleben und jene Rache zu vollziehen, indem er schreibend anklagte. Allein im Grafen von Monte-Christo finden sich mit Gefangenschaft oder Vergiftung zentrale Motive, die einen Bezug zum Vater haben; und mit Georges hat Dumas einen ganzen Roman dem Schicksal eines Mulatten gewidmet, der sich für all das Leid rächt, das ihm zugefügt wurde. Das Rache-Motiv lässt sich somit partiell als biografisches Substrat verstehen, über das fiktiv ­Gerechtigkeit hergestellt wird. Wie ein Motor treibt dieses Bedürfnis den Vielschreiber bis zu seinem späten umfangreichen Roman La San Felice an, der im Königreich von Neapel zwischen 1798 und 1800, also genau in den Jahren spielt, als der Vater dort gefangen gehalten wurde. Damit ist das Werk Dumas’ auch ein Denkmal für seinen Vater, dem offizielle Ehrungen verwehrt blieben und dessen Andenken 23

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offenbar der persönlichen Ungnade Napoleons und dem Rassismus seiner Zeit zum Opfer fielen. Im 19. Jahrhundert erinnerte lediglich der Triumphbogen, der 1836 fertiggestellt wurde, an General Dumas, dessen Name in der 23. Kolumne auf der Südsäule eingemeißelt ist. Der Tod des Vaters im Jahre 1806 stellte einen harten finanziellen Einschnitt dar. Bald musste die Witwe erfahren, dass sie aufgrund eines neuen Gesetzes keinen Anspruch auf seine Pension hatte, da ihr Mann weder auf dem Felde noch innerhalb von sechs Monaten an den Folgen eines Einsatzes gestorben war. Auch die Freunde des ­Generals, Brune und Murat, erreichen nichts. Napoleon soll Brune sogar angefahren haben, er dürfe ihm gegenüber »nie wieder von diesem Manne sprechen«. Dumas’ ältere Schwester Marie konnte ihre Erziehung in Paris nicht weiterführen und musste zurück nach Villers-Cotterêts. Zu dritt zogen sie in das Sterbezimmer des Vaters, wo sie ständig an den Verlust erinnert wurden. Noch vierzig Jahre später wird Dumas Napoleon für ihren sozialen Absturz verantwortlich machen und den längst verstorbenen Kaiser mit einer Apostrophe ansprechen, als sei er noch lebendig: »Majestät, Ihr möget ein Hannibal, Ihr möget ein Cäsar, Ihr möget ein Octavian sein. Das wird die Nachwelt entscheiden … Gewiss aber seid Ihr kein Augustus! Denn Augustus trat selbst für den alten Soldaten ein, der unter ihm in Actium gedient hatte, und Sie hingegen verurteilen die Witwe desjenigen zur Armut, der nicht nur unter Ihnen, sondern auch mit Ihnen gedient hatte!« Das waren alles andere als gute Voraussetzungen. Was sollte unter diesen Umständen aus der Familie und aus Alexandre werden?

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Waldkind und Jäger

Waldkind und Jäger

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ie eine Halbinsel lag das Städtchen Villers-Cotterêts zu Beginn des 19. Jahrhunderts inmitten des endlosen Waldes von Retz, der sich nur nach Westen hin öffnete. Seit Langem galt er mit seinen kräftigen Buchen und Eichen als einer der edelsten und gepflegtesten Wälder Frankreichs. Als Dumas geboren wurde, befand sich der Wald in Staatsbesitz. Während des Ancien Régime hingegen gehörte er dem Hause Orléans, das dort der Jagd auf Hirsche, Rehe, Wildschweine und Fasane frönte. Auch unter den Männern der ca. 2400 Einwohner des Städtchens war die Jagd und nicht selten die Wilddieberei weit verbreitet. Auf diesem Fleck im Grünen kannte jeder jeden, und gesellschaftlich herrschte jene für kleine Ortschaften typische Mischung aus Solidarität und Kontrolle. Hier verbrachte Dumas seine ersten zwanzig Lebensjahre, hier war es, wo die Grundlagen für jenes Selbstvertrauen und jene ungeheure Schaffenskraft gelegt wurden, die ihn auszeichnen. Seine Mutter Marie-Louise Labouret gehörte einer alteingesessenen und angesehenen Familie an. Auch ihr erfolgreicher Ehemann, der nach seinem Tod weiterhin »der General« genannt wurde, hatte die Achtung, die man der Familie zollte, noch vermehrt. Jetzt, da die staatliche Unterstützung versagte, konnte sie auf die Hilfe der Gemeinschaft zählen, und sie würde diesen Beistand benötigen, denn in den folgenden Jahren starben auch ihre Eltern. Als Vater Claude 1809 verschied, erbte sie ein Haus und ein Grundstück, das man dem Besitzer Nicolas Harlet gegen Wohnrecht und Rente zu Lebzeiten abgekauft hatte. Dieser war zwar schon achtzig Jahre alt, erfreute sich aber bester Gesundheit und sollte erst 1820 das Zeitliche segnen. Ein solches Erbe war eine finanzielle Belastung, für die Marie-Louise eine Hypothek aufnehmen musste. Trotz all der Sorgen wurde sie Alexandre eine gute Mutter, die es verstand, den Verlust auf emotionaler Ebene abzumildern, die nachsichtig war und dem Sohn ungewöhnlich viel physische Nähe 25

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schenkte. Beide schliefen bis zu Alexandres 16. Lebensjahr in einem Zimmer. Ohne Vater aufzuwachsen hieß im 19. Jahrhundert vor allem, ohne väterliche Autorität groß zu werden. Denn der Vater übernahm eine Schlüsselrolle in der Familie und verfügte im Vergleich zu heute über eine erstaunliche Machtfülle. Zwar blieb sein Vater immer präsent, schon allein deshalb, weil der tägliche Gang zum Friedhof ihn nicht in Vergessenheit geraten ließ. Aber Alexandre musste ihn nicht als Autorität erleben, sondern konnte das heroische Bild, das ihm mitgegeben wurde, nach Belieben ergänzen. Er wuchs somit ziemlich ungebunden auf. Nicht dass es an väterlichen Ersatzfiguren gefehlt hätte, die übrigens auch in seinen Werken immer wieder auftauchen. Was sind M. de Tréville und Athos für d’Artagnan, was ist Abt Faria für Edmond Dantès anderes als väterliche Mentoren? Aber diese Ersatzväter haben nicht dieselbe Verbindlichkeit wie der eigene Vater, denn sie sind umgehbar und austauschbar. Eine enge Beziehung pflegte man zur Familie Deviolaine. Der autoritäre Familienvater Jean Michel Deviolaine, der Alexandre Angst einflößte, war mit einer Cousine von Marie-Louise verheiratet, mit der er vier Kinder hatte. Als staatlicher Forstinspektor war M. Deviolaine eine wichtige Person im Städtchen. In dessen englischem Garten und in dem angrenzenden Park mit seinen imposanten Bäumen verbrachten die Kinder und Alexandre viele glückliche Stunden. Und schließlich war da noch sein Tutor Jacques Collard, der ein Schloss in Villers-Hélon besaß, wo sich an Bach und Felsen die Welt erkunden ließ. Dort bekam Alexandre eine große Bibelausgabe in die Hand, die er intensiv las. Hinzu kamen noch Robinson Crusoe, jenes einzige Buch, dessen Lektüre Rousseau jungen Lesern erlauben wollte, weil es praktisches Wissen vermittelte, und die Lettres à Emilie sur la mythologie, in denen er alles über die antiken Götter und Heroen lernte. So hatte Alexandre sich schon sehr früh autodidaktisch einen Teil der humanistischen Allgemeinbildung angeeignet, von der er als Schriftsteller zehren sollte. Alle Versuche, ihn auf eine Schule zu schicken, scheiterten zunächst. Alexandre lernte von seinem Umfeld und hatte bereits früh Interessen, in die er sich ganz vertiefen konnte. 26

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Nach eigener Aussage war er als Kind blond, hellhäutig, mit blauen Augen, dicken Lippen und schiefen Zähnen. Erst im Jugendalter habe er phänotypisch Züge seines Vaters angenommen, indem sein Haar kraus wurde und die Haut sich verdunkelte. Seine Intelligenz und auffällig gute physische und motorische Entwicklung schenkten ihm ein ungewöhnlich hohes Selbstvertrauen, was sich an einer Episode aus seiner kurzen Schulzeit gut veranschaulichen lässt. 1810 eröffnete Abt Grégoire in Villers-Cotterêts eine Privatschule für die Söhne von Bürgern und Händlern. Als Alexandre sie ab Oktober 1811 besuchte, lockte man den Neuling am ersten Schultag in eine Falle. Als er durch das große Eingangstor trat, wurde er von oben von den anderen Jungen von Kopf bis Fuß so sehr bepinkelt, dass es an ihm heruntertropfte. Abt Grégoire bestrafte die Schuldigen mit der Zuchtrute, aber Alexandre befürchtete, dass ihm dies nur noch mehr Ärger einbringen würde. Nach dem Schlussgebet wartete er ab und verließ als Letzter das Schulgebäude in der Hoffnung, das Gewitter würde sich verziehen. Doch er hatte sich getäuscht, denn er wurde im Schulhof bereits erwartet. Der 14-jährige Bligny sollte ihn stellvertretend für alle verprügeln. Alexandre war deutlich jünger und musste eine Entscheidung fällen: Sollte er es allein ausstehen oder den Abt zu Hilfe rufen, damit er ihn bis nach Hause eskortierte? Aber das würde den Kampf nur aufschieben, denn irgendwann würden sie ihn doch allein erwischen. Dann kam ihm die Erinnerung an seinen Vater zu Hilfe. Wie oft hatte man ihm erzählt, dass dieser am ersten Tag im Dragonerregiment ganze drei Duelle bestehen musste! Diesem Vater wollte er sich doch als würdig erweisen! Aber als er auf den Schulhof trat, wo die Jungen sich im Halbkreis hingesetzt hatten, um zuzuschauen, wie Bligny ihn verdrosch, da rutschte ihm für einen Moment das Herz in die Hose. Als dann j­ edoch Gebrüll und Beleidigungen auf ihn niedergingen, stieg ein trotziger Mut in ihm auf. Er riss sich zusammen, indem er sich mit Worten selbst anstachelte: »Aha!«, sagte ich an Bligny gewandt, »aha! So ist das also!« »Ja, so ist das«, antwortete er. 27

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»Du willst dich also prügeln, was?« »Ja, das will ich.« »Aha! Das willst du also?« »Ja!« »Also willst du es, oder?« »Ja!« »Na schön, dann warte nur!« Jetzt war ich so weit. Ich legte meine Bücher auf den Boden, warf meine Jacke hin und dann stürzte ich mich auf meinen Gegner und rief: »Aha! Du willst dich also prügeln?  … Prügeln willst du dich?  … Dann warte nur, na warte nur, warte nur!« Der Kampf dauerte keine Minute. Alexandre war so in Fahrt und wirkte so furchtlos, dass er Bligny mit zwei Faustschlägen, die nur leicht erwidert wurden, besiegte. Das machte Eindruck. Durch das Schultor, das am Morgen noch ein Ort der Schande gewesen war, schritt er jetzt wie durch einen Triumphbogen nach Hause. Er hatte sich Respekt verschafft und zugleich erlebt, wie er sich die Kraft der Sprache zunutze machen konnte. Wie sollte man da kein Selbstvertrauen bekommen? In der Schule lernten die Jungen Algebra, Rechnen und ­Latein. ­Alexandre tat sich nirgends hervor, schon gar nicht im R ­ echnen. Aber die Schulzeit blieb sowieso nur eine kurze Episode, denn schon 1813 musste Abt Grégoire seine Einrichtung wieder schließen. ­Marie-Louise stand erneut vor der Frage, was aus dem Sohn werden sollte. Immerhin hatte seine Schwester Marie im Juni geheiratet und war versorgt. Wie sehr sich Marie-Louise um die Ausbildung ihres Sohnes kümmerte, zeigt sich daran, dass sie ihn nun in Einzel- und Gruppenunterricht schickte. Sein bisheriger Lehrer Abt Grégoire brachte ihm weiterhin Latein bei, bei M. Mounier lernte er zu fechten, und M. Oblet lehrte neben Mathematik auch Kalligraphie, für die Alexandre ein großes Talent zeigte. Diese Fähigkeit sollte für ihn noch eine entscheidende Rolle spielen. 1814 holten die Kriege Frankreich auf eigenem Boden ein. Es stand eine Invasion der Koalitionsmächte bevor, preußische und russische 28

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Truppen näherten sich. Wie in den beiden Weltkriegen des folgenden Jahrhunderts wurde vor allem der Norden Frankreichs davon betroffen. Als Station auf dem Weg nach Paris war Villers-Cotterêts unmittelbar bedroht. Fiebrig fingen die Einwohner an, Wertgegenstände zu verstecken. Besonders gefürchtet waren die Donkosaken, über deren Grausamkeit furchtbare Geschichten erzählt wurden. Am 3. März sprengte tatsächlich ein verirrter Kosakentrupp durch die Stadt und erschoss einen neugierigen Händler. Abgesehen davon blieb man weitgehend von den Kriegshandlungen verschont. M ­ arie-Louise wollte allerdings kein Risiko eingehen und brachte sich mit Alexandre am 20. März in Paris in Sicherheit. Aber auf dem Weg dorthin wurden sie Zeuge unmittelbarer Kampfhandlungen, bei denen vor ihren Augen mehrere Soldaten ums Leben kamen. Schließlich brach das Erste Kaiserreich zusammen. Im April dankte Napoleon ab und ging nach Elba. Es begann die erste Restauration, und die Dynastie der Bourbonen, die von der Revolution vertrieben worden war, kehrte in Gestalt von Ludwig XVIII. zurück. Jacques Collard, der Tutor Alexandres, nutzte nach dem Regimewechsel seine guten Kontakte zum Hause Orléans, um für ­Marie-Louise eine Lizenz zum Führen eines Tabakladens zu erwirken. Bald darauf pachtete sie ein Lokal in der Rue de la Fontaine und zog mit ­Alexandre in die Wohnung über dem Geschäftsraum. Mitte November schien Marie-Louise auch für den Sohn eine Lösung gefunden zu haben. Als einer ihr Cousins, Abt Conseil, starb, hinterließ er als kleines Erbe ein Stipendium für ein Studium am Priesterseminar in S­ oissons. Das war die Chance, dem Jungen eine Zukunft zu sichern und zugleich für finanzielle Entlastung zu sorgen. Alexandre sollte Priester werden. Der aber war gar nicht begeistert und ließ sich erst nach zähem Insistieren überreden. Als er Geld für ein Tintenfass erhielt und im Laden von einem Mädchen verspottet wurde, überlegte er es sich spontan anders. Von dem Geld kaufte er Brot und Wurst und tauchte im Wald unter. Er versteckte sich bei M. Boudoux, der ihm den Vogelfang mit Leimruten beibrachte. Ganze drei Tage blieb Alexandre fort. Er behauptete zwar, er habe der Mutter einen Brief hinterlassen, damit sie sich nicht um ihn sorgte, aber als er heimkam, war sie so aufgelöst, 29

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dass sie ihm keine Vorwürfe zu machen wagte. Damit war das Thema Priesterseminar vom Tisch. Diese Episode wäre nicht mehr als eine Anekdote, wenn sie nicht den erstaunlich rücksichtslosen Willen und unbeugsamen Charakter des Zwölfjährigen veranschaulichte. Mal einen Tag auszubleiben ist für Kinder nichts Ungewöhnliches. Dies aber drei Tage lang durchzuhalten und sich die Zeit im Wald zu vertreiben, ist etwas anderes. Schon am Ende der Kindheit hatte Alexandre eine so starke Persönlichkeit entwickelt, dass er sich selbst von der Mutter nichts mehr vorschreiben ließ. Am 1. März  1815 wurden die individuellen Schicksale nochmals von der Geschichte durcheinander gerüttelt. Napoleon landete im Golf Juan und begann mit seinem Marsch auf Paris, von wo der Bourbonenkönig schon bald die Flucht ergriff. Das Kaiserreich wurde wiederhergestellt, die anderen Mächte Europas befanden sich auf dem Wiener Kongress und konnten schnell reagieren. Im Juni deutete alles auf eine entscheidende Schlacht in Belgien hin. Innerhalb von drei Tagen zogen 30 000 Soldaten durch Villers-Cotterêts. In der Zeitung wurde angekündigt, dass der Kaiser hinter den Truppen herziehen werde und in der Relaisstation Pferde bestellt habe. Der 13-jährige A ­ lexandre wusste zwar, dass Napoleon für die prekäre Lage verantwortlich war, in der seine Mutter und er sich befanden. Dennoch wollte er den berühmten Mann, der die europäische Geschichte so sehr verändert hatte, unbedingt sehen. Als sich am 12. Juni um sechs Uhr morgens Staubwolken über der Straße aus der Richtung von Paris erhoben, rannte Alexandre eilig los. Ich erreichte die Relaisstation. Ich wandte mich um und sah jene drei Wagen, die Funken auf dem Pflaster zu sprühen schienen, wie einen Wirbelsturm herankommen. Die Pferde trieften vor Schweiß, die Kutscher waren in Galauniform, gepudert und mit Schleifen verziert. Alle hasteten zum Wagen des Kaisers. Ich war natürlich einer der ersten unter ihnen. Er saß hinten rechts, in die grüne Uniform mit weißen Revers ­gekleidet, und trug das Abzeichen der Ehrenlegion. 30

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Sein Kopf, blass und kränklich, schien opulent aus einem Elfenbeinblock geschlagen zu sein und war leicht über die Brust gebeugt; links von ihm saß sein Bruder Jérôme … Er hob den Kopf, blickte um sich und fragte: »Wo sind wir?« »In Villers-Cotterêts, Majestät«, sagte eine Stimme. »Also sechs Meilen vor Soissons?«, fragte er. »Ja, sechs Meilen vor Soissons, Majestät.« »Dann machen Sie schnell!« Daraufhin fiel er wieder in jene Art Schläfrigkeit zurück, aus welcher der Halt der Kutsche ihn für einen Moment gerissen hatte. Währenddessen hatte man die Pferde ausgewechselt; die neuen Kutscher hatten aufgesessen, und jene, die abgespannt hatten, schwangen ihre Hüte und riefen: »Es lebe der Kaiser!« Die Peitschen knallten. Der Kaiser machte eine leichte Kopfbewegung, die einem Gruß gleichkam. Die Wagen sprengten im Galopp los und verschwanden hinter der Kurve der Straße nach Soissons. Napoleon fuhr nach Waterloo, wo sein Schicksal besiegelt werden sollte. Sechs Tage später, als der Kaiser auf dem Rückweg nach Paris erneut kurz in Villers-Cotterêts anhielt, wiederholte sich diese Szene. Auch jetzt stand der junge Alexandre wieder in der ersten Reihe. Wir begegnen hier jenem eigenartigen Faszinosum, das von Napoleon ausging und dafür sorgte, dass jede noch so unbedeutende Begegnung mit dem großen Mann zu einem einmaligen Erlebnis wurde. Ein entscheidender Grund für die anhaltende Popularität Napoleons lag in der geringen Beliebtheit der Bourbonen, die, wie Dumas es formulierte, auf der »Kruppe der Kosaken« wieder nach Frankreich eingeritten waren. Mit Hilfe einer ausländischen Koalition die Macht erlangt zu haben, war nicht gerade eine stabile Legitimation für die zweite Restauration und ihre Könige Ludwig XVIII. und Karl X., die schon mit der nächsten Revolution im Jahre 1830 wieder untergehen würde. Es sei unmöglich, erläutert Dumas, sich eine Vorstellung von dem Gefühl der Ablehnung zu machen, das in der Provinz in den 31

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f­ olgenden Jahren anwuchs: »Es kam so weit, dass meine Mutter und ich, ohne zu wissen warum und trotz aller Gründe, die wir hatten, um Napoleon zu verfluchen, die Bourbonen noch weitaus mehr hassten, die uns doch nie etwas getan, sondern eher genützt als geschadet hatten.« Offensichtlich hatten die Bourbonen nicht verstanden, dass die Mehrheit der Franzosen seit der Revolution zu einer modernen Nation zusammengewachsen war, welche die Niederlage, die nachteiligen Friedensverträge von 1815 und die dreijährige Besatzung als beschämend empfanden. Die Geschichte erschien dabei keineswegs abstrakt oder als eine Zeitungsnotiz aus Paris, sondern wurde unmittelbar miterlebt, zum Beispiel indem zwei englische Soldaten im Hause Dumas’ einquartiert wurden. Hinzu kam der »weiße Terror«, dem Dumas’ Pate Marschall Brune 1815 in Avignon zum Opfer fiel. Dass Dumas diese Themen nicht losließen, zeigt sich daran, dass er Brune noch 1840 in seinen Reisebeschreibungen Le Midi de la France (Der Süden Frankreichs) eine Hommage erwies, als er Avignon besuchte. All dies führte dazu, dass Napoleon, wie es im Grafen von Monte-Christo heißt, »in fünf Jahren Exil zum Märtyrer und in fünfzehn Jahren Restauration zu einem Gott« wurde. Auch die stark politisierte Literatur jener Zeit wie die populären Lieder Bérangers arbeitete an der stetigen Erosion der Bourbonenmonarchie mit. Hatten sich die Anfänge der französischen Romantik unter anderem in Person von Mme. de Staël am Widerstand gegen Napoleon entzündet, so richtete sich die liberale Bewegung jetzt gegen die neuen Herrscher. Nur zwölf Jahre später sollte Dumas als junger Dramatiker einer ihrer gefeierten Pioniere werden. Seine persönliche Entwicklung während der Restauration illustriert die komplexen und umfassenden kulturellen Verschiebungen jener Jahre, die wir heute unter dem Begriff der Romantik zusammenfassen. Bei Dumas zeigte sich dies vor allem am Erleben von Natur, Literatur und Liebesabenteuer, die als Trias seine Jugendjahre in Villers-Cotterêts prägten. Seine Naturverbundenheit kommt am deutlichsten in seiner Jagdleidenschaft zum Ausdruck. In heutigen Zeiten des Artenschutzes bedarf die Jagd einer Legitimierung, die im 19. Jahrhundert nicht nötig 32

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war, weil sie meistens der Selbstversorgung diente. Hatte Dumas unter der Anleitung von Boudoux mit der Vogeljagd begonnen, so faszinierten ihn bald schon Schusswaffen, mit denen er Hasen und Wildschweine erlegte. Wie wichtig die Jagd für Dumas war, veranschaulichen die vielen Bedeutungen, die sie für ihn besaß. Sie verband ihn mit der adeligen Herkunft seiner Vorfahren, mit ihr trat er in die Fußstapfen des Vaters, der selbst ein begeisterter Jäger gewesen war, sie bot ihm Naturerleben, körperliche Ertüchtigung und Abenteuer und bildete nicht zuletzt einen Teil seines Verständnisses von Männlichkeit. Zu den herausragenden Jugenderlebnissen gehörte eine größere Jagd auf Wildschweine, deren stark angestiegener Bestand dezimiert werden musste, und bei der er selbst eines erlegte. Der spätere Star-Literat Dumas, über den die Presse ständig berichtete und der mitunter in laute Skandale verwickelt war, verbrachte seine Jugend in der Stille des riesigen Waldes an der Seite von Forstwächtern, die stundenlang schweigend neben ihm hergingen und sich ganz auf die Geräusche der Natur konzentrierten. Stille und Einsamkeit waren ein zentraler Teil der Natur- und Selbsterfahrung, wie Dumas sie in den Memoiren beschreibt: »Wenn ich im Herzen ein Gefühl für Einsamkeit, Stille und Unendlichkeit habe, dann geht es auf die Nächte zurück, die ich im Wald am Fuße eines Baumes damit verbrachte, die Sterne durch die Blätterkuppel zu betrachten, die sich zwischen mir und dem Himmel ausdehnte, und jenen geheimnisvollen und unbekannten Geräuschen zu lauschen, die im Innern des Waldes erwachen, sobald die Natur sich zur Ruhe legt.« Ein solches Naturerleben war eng verbunden mit Religiosität, die Dumas nicht nur bei den Forstwächtern beobachtete, sondern die auch für ihn selbst galt. Er war zwar niemals der Kirche verbunden, bewahrte aber stets ein tiefes Gottvertrauen. Gott erschien ihm am deutlichsten in der Natur, genauer gesagt in den Bäumen, die für ihn »nicht nur ein Palast, sondern auch ein Tempel waren, ein Tempel, in dem der Herr sich mir offenbarte«. Trotz seiner frühen Lesekompetenz und seiner Fähigkeit, sich schon als Kind ganz in Texte zu vertiefen, würden nicht Bücher den entscheidenden Anstoß zur Literatur geben, sondern ihr ­unmittelbares 33

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Erleben durch andere Personen und durch das Theater. Das Jahr 1816 stellte hierfür die entscheidenden Weichen. Im Sommer lernte er den etwa gleichaltrigen Schweden Adolphe Ribbing von Leuven kennen, der mit seiner Familie im französischen Exil lebte, weil sein Vater an der Verschwörung gegen König Gustav III. beteiligt gewesen war. Die Leuvens hatten enge Kontakte zur Theater- und Literaturszene. Sie waren eng befreundet mit dem Dramatiker Antoine-Vincent Arnault, zu dessen Familie auch Dumas ein gutes Verhältnis aufbaute, nachdem er ihnen bei deren Besuch in ­Villers-Cotterêts vorgestellt wurde. Adolphe schrieb Verse, hatte ­Ambitionen, als Theaterdichter zu reüssieren, und sollte Dumas dazu anregen, mitzumachen. Wenige Jahre später verfassten sie gemeinsam ihre ersten Stücke. Im selben Jahr trat Dumas seine erste Arbeitsstelle an, deren förderlicher Einfluss auf seine literarische Tätigkeit nicht unterschätzt werden darf. Zwar war er nichts weiter als dritter Schreiber in der Notarskanzlei von Armand Mennesson, was so viel wie Laufbursche bedeutete, aber aufgrund seiner schönen Handschrift kopierte er auch regelmäßig Dokumente. Kopieren ist gewiss keine sehr kreative Arbeit, aber sie gewöhnte ihn an das tägliche lange Schreiben. Förderlich war außerdem das intellektuelle Ambiente der Kanzlei, denn Notar Mennesson war ein glühender Republikaner. Und schließlich lernte Dumas noch den 26-jährigen Amédée de la Ponce kennen, einen ehemaligen Ehrengardisten, der abgedankt hatte, um in Villers-Cotterêts zu heiraten. De la Ponce fand Gefallen an dem deutlich jüngeren Dumas und erklärte sich bereit, ihm Italienisch und Deutsch beizubringen, die er fließend beherrschte. Italienisch studierten sie anhand von Ugo Foscolos Roman Die letzten Briefe des Jacopo Ortis. Das hatte den Nebeneffekt, dass Dumas eine ihm bisher unbekannte neue Romanliteratur kennenlernte und solches Gefallen daran fand, dass er den Text später komplett übersetzte. Als Franzosen fiel ihm das Italienische leicht, das er schon nach ein paar Monaten korrekt sprach. Anders verhielt es sich mit dem Deutschen. Hier waren keine schnellen Fortschritte zu erwarten, vor allem nicht, da er es anhand von literarischen Texten erlernte. Als Dumas 34

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sich schon nach drei Monaten daran machte, einen Roman des damaligen deutschen Erfolgsautors August Lafontaine im Original zu lesen, war die Frustration so groß, dass er es vorerst aufgab. Das Italienische sollte im Leben Dumas’ eine wichtige Rolle spielen. Auch am Deutschen würde er sich weiter versuchen. Insgesamt verfügte Dumas, der dazu auch noch Englisch lernte, über ungewöhnlich breite Fremdsprachenkenntnisse, die weit über dem Durchschnitt seiner literarischen Kollegen lagen. Aus so viel Eifer spricht Bildungshunger. »Es war schwer, noch unwissender zu sein als ich«, kommentierte Dumas später. War das falsche Bescheidenheit? Angesichts des stark literarisch geprägten Bildungsbegriffes jener Zeit musste Dumas tatsächlich den Eindruck haben, nicht viel zu wissen. Er hatte sich an den Klassikern Racine und Corneille versucht, sie aber bald schon gelangweilt wieder weggelegt. Sein literarisches Schlüsselerlebnis hatte er drei Jahre später im Oktober 1819, als er in Soissons eine Aufführung von Hamlet sah. Es handelte sich allerdings nicht um Shakespeares Fassung, sondern um eine Adaption des französischen Dichters Jean-François Ducis aus dem Jahre 1760. Der Unterschied ist wichtig in diesem Zusammenhang. Denn Ducis’ Hamlet ist weitaus kürzer und konzentrierter als Shakespeares überlange Vorlage und damit einem breiteren Publikum leichter zu vermitteln. Auch wenn viele Kritiker über Ducis die Nase rümpften, erschien Dumas dessen Hamlet als »ein Meisterwerk«, das »eine ungewöhnliche Wirkung auf mich ausübte«. Dumas’ Einschätzung ist auch heute noch gut nachvollziehbar, denn Ducis’ paarreimige Alexandriner gleiten flüssig dahin und seine inhaltlichen Änderungen verdichten die Figurenkonstellation, indem er aus Ophelia die Tochter von König Claudius machte. Kulturhistorisch kommt Ducis die wichtige Leistung zu, Shakespeare im Frankreich seiner Zeit bekannt gemacht und damit der französischen Romantik einen zentralen Autor erschlossen zu haben. Dumas hatte bis dahin noch nie von Shakespeare gehört und war so angetan, dass er sich das Stück aus Paris kommen ließ und schon bald die Rolle Hamlets auswendig kannte und, wie er in den Memoiren behauptete, sein ganzes Leben lang nicht vergessen hat. 35

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Warum gerade Hamlet? Was hatte dieser Stoff an sich, dass er Dumas so unter die Haut ging? Es ist bezeichnend, dass er selbst darauf nur vage Antworten zu geben vermochte: »Hamlet war das erste dramatische Werk, das mich beeindruckte, und zwar tief beeindruckte, es steckte voller unerklärlicher Empfindungen, zielloser Begierden, geheimnisvoller Lichter, in deren Schein ich bisher nur Chaos sah.« Je weniger Faszination und Eindrücke objektiviert werden können, desto tiefer liegen sie häufig im Unbewussten begründet. Dass gerade Ducis’ Version so sehr auf Dumas wirkte, könnte damit zusammenhängen, dass der Autor einen Aspekt betont, der schon in der Vorlage eine wichtige Rolle spielt: die Vater-Sohn-Beziehung. Wenn bei Shakespeare der Geist des ermordeten Vaters auch den ­Wachen ­erscheint, kann bei Ducis nur Hamlet ihn wahrnehmen. Dies vertieft nicht nur die Verbindung zwischen beiden, es musste Dumas auch an jenen Moment gemahnen, als der Vater, wie er glaubte, im Augenblick seines Todes an die Tür geklopft hatte, um sich von ihm zu verabschieden. Aber der Stoff bot noch mehr Identifikationsangebote: Wie Hamlet trug Dumas exakt den Namen seines Vaters, wie Hamlets Vater war auch sein Vater verraten und vergiftet worden und wie der Geist von Hamlets Vater forderte sein Vater Rache. Wie ein »­unsterblicher Schatten« verfolgt der »angebetete Vater« den Sohn Hamlet, der seinen Ruhm darin sieht, »Sohn zu sein«. Und musste Ducis’ Hamlet dem 17-jährigen Dumas nicht aus der Seele sprechen, wenn er Ophelia gegenüber Folgendes erklärte? Nun ist mein Vater tot, ich muss ihn rächen. Solch heil’gen Entschluss darf man nicht brechen. Wir beide können, du wie ich, unsere Liebe ertränken. Aber wer kann meinem Vater, ach, das Leben schenken? Eine solche Wunde, die blutet immerzu; Freunde, Frau und Geliebte ersetzt man im Nu, ein edler Vater aber ist ein teures Gut auf der Welt, das man nur einmal von den Göttern gnädig erhält.

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Dumas’ Weg in die Literatur verlief damit auch über die Verarbeitung des frühen Verlusts seines Vaters und der (vielleicht nur gefühlten) Einsicht, dass die Literatur ein kreatives Feld war, in dem komplexe und zugleich sehr persönliche Fragen und Verunsicherungen geäußert und zugleich formal gebunden werden konnten. Der Hamlet-Stoff war in der Lage, eine persönlich bedeutsame Beziehung zur Literatur herzustellen, neben all den nebulösen Verlockungen von Erfolg, Status und Ruhm. Noch über 25 Jahre später hatte der Stoff Dumas nicht losgelassen, als er 1846 seinen eigenen Hamlet verfasste und mit großem Erfolg aufführte. Parallel dazu war eine weitere kreative Kraft in Dumas’ Leben getreten, die bis an sein Lebensende gleichermaßen ein Quell von Intensität und Unruhe sein sollte: die Sexualität. Wenn er als älterer Herr Mathilde Shaw gegenüber protzte, fünfhundert Kinder auf der ganzen Welt zu haben, dann braucht man das gewiss nicht wörtlich zu nehmen. Dennoch veranschaulicht die übertriebene Zahl ­metaphorisch eine ziemlich bewegte amouröse Laufbahn. Sie steht im Gegensatz zu seinem Werk, in dem Liebe und uneheliche Kinder zwar eine leitmotivische Rolle spielen, Sexuelles und Körperliches hingegen kaum jemals explizit werden, so dass laut Dumas selbst die vorsichtigsten Mütter beruhigt sein könnten, wenn seine Bücher in die Hände ihrer Töchter fielen. Dumas’ Affären hatten häufig abenteuerliche Züge, was sich ­bereits an seiner ersten Liebesbeziehung mit der 19-jährigen Aglaé Tellier veranschaulichen lässt. Alexandre war vier Jahre jünger als Aglaé und hatte mit 16 angefangen, der rosigen Blondine mit dem charmanten Lächeln, die in einem Modeladen arbeitete, den Hof zu machen. Nach einem Jahr voller Aufmerksamkeiten erhielt er schließlich Einlass in ihr Zimmer, das sich wie ein Pavillon in den Garten erstreckte und daher von den Zimmern ihrer Mutter und ihres Bruders weit genug entfernt war. Damit alles geheim blieb, machte er auf seinen dreimaligen Ausflügen pro Woche zu Aglaé lange Umwege, um zu ihrem Haus zu kommen. Der Weg zu dem Garten, wo sich ihr Pavillon befand, führte durch eine Passage, die nachts verschlossen und von einem Hund namens Muphti bewacht wurde. Als 37

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Alexandre feststellte, dass er das Schloss mit der Spitze seines Messers öffnen konnte, machte er sich daran, mit Muphti Freundschaft zu schließen, indem er ihm sieben Tage lang Brotstückchen und Knochen unter dem Tor durchschob. Bald bellte Muphti nicht mehr, sondern winselte vor Glück, wenn sein unbekannter nächtlicher Gönner erschien. Jetzt konnte Alexandre es wagen, das Tor zu öffnen und in den Garten einzudringen. Aber in einer Kleinstadt bleiben solche Ausflüge in der Dunkelheit nicht lange geheim. Auf dem umständlichen Rückweg von Aglaé lauerte ihm eines Nachts ein etwa 25-jähriger Mann auf, der sich das Gesicht geschwärzt hatte und mit einem knorrigen Stock bewaffnet war. Alexandre war zwar erst 17, aber kräftig und erprobt, ließ sich den Schneid nicht abkaufen und ging mutig auf ihn zu. Es begann ein stiller heftiger Kampf. Alexandre gelang es, den Gegner zu umfassen und auf den Boden zu reißen, wo er mit dem Kopf an einen Stein schlug. Als der andere daraufhin sein Klappmesser zückte, verdrehte er dessen Handgelenk dermaßen, dass das Messer zu Boden fiel. Mit einem Griff war es in seinem Besitz. Sollte er es aufklappen und zustechen? Das Recht dazu hätte er gehabt. Aber er beherrschte sich und nahm stattdessen den Stock. Sein Gegner erhob sich, trat einen Schritt zurück und griff nach dem Stein, an dem er sich gestoßen hatte. Aber Alexandre ließ es nicht so weit kommen und stieß ihm so heftig mit dem Stock gegen die Brust, dass er umstürzte und in Ohnmacht fiel. Völlig außer sich und zugleich erleichtert eilte Alexandre nach Hause. Aber wer sagte ihm, dass er beim nächsten Mal nicht erneut erwartet wurde und dass der Gegner ihm dann nicht eine Falle stellte, aus der er nicht mehr so leicht entkommen konnte? Am folgenden Tag ging er zu seinem Freund de la Ponce und lieh sich von ihm zwei Taschenpistolen aus. Anschließend kehrte er zum Kampfplatz zurück, wo er den Stein mit Blut und ein paar Haaren seines Gegners fand, an deren Farbe er ihn endgültig identifizierte. Als er den Arzt traf, der den Verletzten behandelte, gab er ihm das Messer des Angreifers und ließ ihm ausrichten, dass es zwar ein gutes Messer sei, aber nicht ausreiche, um einen Mann mit zwei Pistolen –  wobei er sie in die Luft hielt – zu attackieren. Danach sei nie wieder davon gesprochen 38

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worden, selbst nicht, als er dem nächtlichen Angreifer zwei Wochen später auf einem Ball beim Tanz gegenüberstand. Über die Motive für diesen brutalen nächtlichen Angriff schweigt Dumas, was merkwürdig ist und Raum für Spekulationen lässt. Den Umständen nach zu urteilen liegt nahe, dass es sich um Neid oder Eifersucht handelte. Gut drei Jahre lang hatten Aglaé und Alexandre eine Affäre, die für die junge Frau keinerlei Perspektive eröffnete. Es ist daher verdächtig, dass Alexandre 1821 für ein paar Monate zu seiner Schwester nach Dreux geschickt und Aglaé unterdessen mit einem dreizehn Jahre ­älteren Mann verlobt wurde. Ganz offenbar war das Verhältnis der beiden alles andere als ein Geheimnis und man darf vermuten, dass die Mütter sich abgesprochen hatten. Als Alexandre bei seiner Rückkehr von Aglaés anstehender Heirat erfuhr, war er niedergeschlagen und in seinem Stolz verletzt. Er spürte, dass es auch für ihn Zeit wurde, Villers-Cotterêts zu verlassen. Zusammen mit Adolphe hatte er bereits drei Theaterstücke verfasst, die Leuven in Paris auf die Bühne zu bringen versuchte. Aber dafür ­bedurfte es Geduld, denn bisher waren alle Anläufe erfolglos geblieben. 1822 nahm er eine Stelle als Schreiber bei Notar Lefèvre im fünfzehn Kilometer entfernten Crépy an. Als der Chef für mehrere Tage nach Paris fuhr und die Angestellten allein ließ, nutzte Alexandre die ­Gelegenheit, um sich mit seinem Freund und ehemaligen Schreiberkollegen Hippolyte Paillet selbst nach Paris durchzuschlagen. Da sie kein Geld hatten, wilderten sie unterwegs, tricksten die Forstwachen mehrmals aus und bezahlten im Hotel mit Naturalien. Mit Hilfe von Adolphe erhielten sie Karten für einen Auftritt des damaligen Schauspielerstars Talma in der Titelrolle des Sulla von Jouy am 4. November. Nach der Aufführung wagten sie sich in dessen Künstlerzimmer, um ihm zu gratulieren. Sie kamen ins Gespräch und Talma erfuhr von den dichterischen Ambitionen Dumas’, der es bedauerte, wieder zurück in die Provinz zu müssen. Dumas bat den Star, ihm die Hand auf die Stirn zu legen, damit es ihm Glück bringe: »Nun, so sei es!«, sagte er. »Alexandre Dumas, im Namen ­Shake­speares, Corneilles und Schillers taufe ich dich zum Dichter! … Kehre in die 39

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Provinz zurück, geh in dein Schreibzimmer, und wenn du wirklich berufen bist, so wird der Engel der Poesie dich finden, wo du gerade bist, dich an den Haaren ziehen wie den Propheten Habakuk und dich dort hinbringen, wo deine Aufgabe ist.« Kaum war er zurück in der Kanzlei, wurde er entlassen, weil er sich nicht abgemeldet hatte. Dumas zog wieder bei seiner Mutter ein. Als die finanzielle Situation sich weiter verschlechterte, suchte er Briefe von Freunden seines Vaters heraus und erklärte der Mutter, dass er nach Paris gehe, in »die Hauptstadt des Europäischen Geistes«, wo er eine Arbeit finden wollte, um dann in der Literatur zu triumphieren und in der Zukunft für sie zu sorgen.

Von der Schreibkraft zum Dichter

I

n der Hauptstadt kaufte er sich als Erstes einen Almanach der 25 000 Adressen und suchte seine eventuellen Gönner und Förderer auf. Bei Marschall Jourdan, der sich kaum an seinen Vater erinnerte, erreichte er nichts, ebenso fruchtlos endete sein kurzer Besuch bei General Sébastiani. Immerhin wurde er von General Jean-Antoine Verdier freundlicher empfangen, der mit seinem Vater in Ägypten gewesen war. Doch der General war selbst in Ungnade gefallen und konnte nichts für ihn tun. Am 1. April wurde er bei General Maximilien Foy vorstellig, der durchaus geneigt zu sein schien, ihm zu helfen. Aber was hatte der Junge schon zu bieten? Beherrschte er Mathematik? Nein. Alge­ bra? Geometrie? Physik?, fragte der General weiter. Nein. Jura? Nein. Rechnungswesen? Nein. Daraufhin bat ihn der General, seine Adresse zu hinterlassen, für den Fall, dass ihm noch etwas einfiele. Als der General dann sah, was für eine schöne Handschrift Dumas hatte, klatschte er in die Hände und schlug vor, ihn als Schreiber im Sekretariat des Herzogs von Orléans unterzubringen, mit dem er eng befreundet war. 40

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Tatsächlich bekam er eine Stelle mit einem Gehalt von 1200 Francs im Jahr, nicht gerade viel, aber für den Anfang genug. Er reiste zurück zu seiner Mutter, die ganz verblüfft war, dass er es in wenigen Tagen geschafft hatte, eine Arbeit zu finden. Am 5. April 1823 verließ er endgültig Villers-Cotterêts. Das ganze Städtchen sei erschienen, um ihn zu verabschieden, erinnerte er sich später, als sei er einer jener Seefahrer des Mittelalters, die sich auf den Weg zu unbekannten Ländern machten. Am 10. April trat Dumas eine Stelle als Schreibkraft an, eigentlich aber wollte er Dichter werden. Doch welcher Provinzler wollte im 19. Jahrhundert nicht in Paris sein literarisches Glück machen! Wenn man bedenkt, dass literarische Kreativität und Bildung neben Verbindungen zur literarischen Szene die Voraussetzungen zum Erfolg waren, dann standen Dumas’ Chancen eher schlecht. Im Vergleich zu Victor Hugo oder Alfred de Musset, die schon früh mit ihrem Werk begonnen hatten, war Dumas ein Nachzügler. Als Halbwaise aus den ärmlichen Verhältnissen der Provinz stammend, hatte er keine grundlegende Bildung erhalten und besaß nur wenige Kontakte in Paris. Seine Verbindungen waren entweder ehemalige Waffenbrüder seines Vaters oder kamen aus Villers-Cotterêts. Wenn man hingegen die Persönlichkeit des jungen Dumas in Augenschein nimmt, dann fällt schnell auf, dass er alles andere als gewöhnlich war. Einerseits war er kräftig und körperlich geschickt, konnte sich bei Handgreiflichkeiten wiederholt gegen Ältere durchsetzen, hatte als Siebzehnjähriger eine vier Jahre ältere Geliebte und besaß erwachsene Freunde wie Amédée de la Ponce. All das zeigt an, dass Dumas seinem Alter voraus war. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch der erste gedruckte Hinweis auf ihn. Er findet sich in einem Eintrag zu seinem Vater in dem Nachschlagewerk Biographie nouvelle des contemporains aus dem Jahre 1822, dessen Autor Antoine-Vincent Arnault gewesen sein dürfte. ­Arnault war mit den Leuvens bekannt und besuchte diese mehrmals in Villers-Cotterêts, wobei Dumas dessen Söhne kennenlernte, mit Vater Arnault selbst jedoch 1822 erstmals sprach. Daher dürften seine Söhne und die Leuvens ihm so viel von dem jungen Dumas erzählt haben, dass er beschloss, am Ende der Lebensgeschichte von General Dumas 41

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noch hinzuzufügen, dass dieser »einen Sohn« hinterlassen habe, der »seines Vaters würdig zu werden verspricht«. Der Text stammt aus einer Zeit, in der Dumas literarisch noch gar nicht in Erscheinung ­getreten war, so dass sich der Hinweis nur auf seine Persönlichkeit beziehen konnte. Dumas mochte im Vergleich zu anderen zwar ungebildet sein, wie er es selbst immer wieder betonte, aber dies bedeutete zugleich auch, dass er »unverbildet« in dem Sinne war, dass die Welt von Literatur und Kunst den verzaubernden Reiz des Neuen besaß. Insofern lässt sich im Rückblick trotz der Widrigkeiten auch das Potenzial erkennen, das er in die Hauptstadt mitbrachte. Die Arbeit als Schreibkraft war nicht gerade inspirierend, zumal Dumas an der untersten Stelle der Hierarchie stand. Auch war die Haltung der Literatur gegenüber am Arbeitsplatz alles andere als förderlich. Dumas’ alter Mentor, Deviolaine, der als Forstverwalter für den Herzog arbeitete, seitdem der Wald von Retz wieder dem Hause ­Orléans gehörte, warnte den jungen Mann sogar mit den verletzenden Worten, dass er seine »Lumpenverse und Schundstücke« an den Nagel hängen solle, weil aus ihm mit seiner Erziehung von drei Francs im Monat kein Corneille oder Racine werden könne. Dennoch sollte sich die Arbeit im Hause Orléans als entscheidende Weichenstellung erweisen, die der willensstarke Dumas klug zu nutzen verstand. Herzog Louis-Philippe I. von Orléans war einer der reichsten Männer Frankreichs und sollte 1830, was jetzt noch nicht absehbar war, König der Franzosen werden. Auch wenn Dumas seinen obersten Chef anfangs nur selten zu Gesicht bekam, sollte sich im Laufe der Zeit dennoch ein bekanntschaftliches Verhältnis zwischen beiden entwickeln, das nicht zum Schaden des angehenden Dichters war. Es ist ein kurioser Zufall, dass ihn der Arbeitgeber auch mit der Geschichte seines Vaters verband, denn Louis-Philippe war mit Maria Amalia, einer Tochter Ferdinands IV. von Neapel, verheiratet, eben jenes Königs, der letztlich verantwortlich dafür war, dass man General Dumas vergiftet hatte. Die monotone Büroarbeit aus Abschreiben, Versiegeln und Verschicken, die er bald mechanisch auszuführen verstand, ließ ihm die 42

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Freiheit, über seine Lektüren und Ideen nachzudenken. Ärgerlicherweise waren die Arbeitszeiten äußerst ungünstig, um ins Theater zu gehen, denn zwischen 20 und 22 Uhr musste Dumas meistens wieder ins Büro, um dem Herzog die neuesten Zeitungen nach Neuilly zu senden, wo dieser sich häufig aufhielt, und auf dessen Anweisungen zu warten. Anschließend schaffte er es höchstens noch in die Comédie-Française, die in der Nachbarschaft lag. Als er im November 1823 nach einem solchen Theaterbesuch spät in seine bescheidene Wohnung an der Place des Italiens Nr. 1 kam, hatte er kein Feuer, um eine Kerze anzuzünden, und klopfte an die Tür seiner Etagennachbarin, der mehrere Jahre älteren Näherin Laure Labay. Dabei kamen die beiden sich näher, und Laure wurde schwanger. Auch wenn Dumas die ersten Monate der Schwangerschaft mit ihr verbrachte, hatte er wohl nie die Absicht, eine ernsthafte Beziehung mit ihr einzugehen, weil die Verantwortung als Familienvater und Partner seiner literarischen Karriere im Wege gestanden hätte. Am 1. Januar 1824 erhielt er eine Gehaltserhöhung von 300 Francs und holte daraufhin seine Mutter nach Paris, die er neun Monate lang nicht gesehen hatte, und zog mit ihr im Februar 1824 in die Rue du Faubourg-Saint-Denis Nr. 53. Seine Geliebte würde er weiterhin regelmäßig besuchen. Der gemeinsame Sohn erblickte am 27. Juli 1824 das Licht der Welt. »Vater unbekannt«, heißt es in der Geburtsurkunde. Obwohl der Sohn auf denselben Namen getauft wurde, sollten sieben Jahre vergehen, bevor Dumas ihn anerkannte. Warum wartete er so lange damit? Denn er verurteilte den Sohn dazu, nicht nur ein uneheliches, sondern auch ein vaterloses Kind zu sein, was rechtlich mit vielen Nachteilen verbunden sein konnte, weil der Rechtsstatus einer Person in jener Zeit vom Vater und nicht von der Mutter abhing. Frauen und Kinder galten gesetzlich als unmündig. Alexandre jr. wuchs damit als Paria auf und war zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt, ein Thema, das er in seinen eigenen Schriften immer wieder aufnehmen würde. Ein Grund für Dumas’ Zögern lag wohl darin, dass Laure für ihn als Sohn eines Generals nicht standesgemäß war, ein anderer sicherlich in seiner prekären finanziellen Lage. Als kleiner Angestellter von 22 Jahren mit hochfliegenden Ambitionen wollte 43

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er sich keinesfalls an die Kindesmutter binden. Viel zu sehr mit sich und seiner literarischen Laufbahn beschäftigt, überließ er Laure weitgehend die Sorge um das Kind. Dementsprechend selten wird der kleine Alexandre in den Briefen erwähnt und dementsprechend wenig wissen wir über dessen Kindheit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Dumas jemals den Kontakt zu seinem Sohn abgebrochen hätte. Er sah ihn regelmäßig, auch wenn er sich meist nicht lange bei ihm aufhielt. Vorerst spielte sich das Leben Dumas’ in einem räumlichen Dreieck zwischen seinem Arbeitsplatz im Palais Royal, der gemeinsamen Wohnung mit seiner Mutter in der Rue du Faubourg Saint-Denis und der Wohnung von Laure Labay an der Place des Italiens ab, wo er jeweils eine andere Rolle spielte: Angestellter, Sohn, Geliebter und Vater. Es war ein Glücksfall für Dumas, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter Hippolyte Lassagne, mit dem er das Büro teilte, selbst großes Interesse an Literatur hatte und sein nächster Mentor werden sollte. Unter seiner Anleitung begann für Dumas eine Phase intensiver und zugleich breiter Lektüre, die von Aischylos, Shakespeare, ­Molière, Schiller, Goethe und Walter Scott bis James Fenimore Cooper reichte. Die Literatur aus dem Ausland war ab 1820 in neuen Übersetzungen bei Ladvocat zugänglich, einem der wichtigsten Verleger der französischen Romantik. Für die literarische Bildung ist es keineswegs ein Nachteil, wenn man sie sich später aneignet. Weitaus riskanter scheint es, sich zu früh mit komplexen Texten auseinanderzusetzen, weil dabei leicht das ­Interesse an Literatur dauerhaft verloren geht. Für Dumas scheint es der richtige Zeitpunkt gewesen zu sein. Vor allem Shakespeare, dessen gesamtes Theater 1821 in der Übersetzung von Amédée Pichot erschienen war, erwies sich als eine Offenbarung für ihn, und zwar so sehr, dass er ihn für den Menschen hielt, der nach Gott am meisten geschaffen habe. An Scott wiederum bewunderte er die meisterlichen Figurencharakterisierungen und an Cooper die grandiosen Landschaftsbeschreibungen. Durch Lassagne entdeckte Dumas auch die romantische Lyrik, und bald galten ihm Lamartine und Hugo als die größten französischen 44

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Dichter seiner Zeit. Als Lord Byron am 19. April 1824 in Griechenland starb, entdeckte Dumas in ihm einen weiteren zentralen Autor der Romantik, dessen Charakterschöpfungen neben Goethes Werther oder Chateaubriands René als Gründungsfiguren einer neuen Epoche angesehen werden können. Die Lektüren hielten ihn keineswegs vom eigenen Schreiben ab. Gemeinsam mit Adolphe de Leuven und James Rousseau verfasste er ein Vaudeville, das im September 1825 nicht ohne Erfolg aufgeführt wurde. Dumas firmierte jedoch nicht mit seinem Namen, den er sich wohl aus strategischen Gründen freihalten wollte für bedeutendere Werke. Wäre er erst einmal als Vaudeville-Autor bekannt, hätte er es schwer gehabt, auf renommiertere Bühnen zu kommen. Angesichts des hohen Bedarfs an Stücken in jener Hochphase des Theaters als Massenmedium war es üblich, diese gemeinsam zu verfassen. Die offizielle Geburtsstunde Dumas’ als Autor läutete 1825, als er eine Elegie auf seinen Gönner General Foy verfasste. Wenig später wendete er sich auch der Prosa zu und ließ 1826 einen Band mit drei Erzählungen zu hälftigen Selbstkosten unter dem Titel Nouvelles ­contemporaines drucken. Davon verkauften sich zwar nur ganze vier Exemplare, aber immerhin bekam er am 1. Juni 1826 eine wohlwollende Besprechung im Figaro. Auch wenn die drei Erzählungen des schmalen Bändchens vom Publikum kaum wahrgenommen und später lange vergessen wurden, stellen sie eine hoch interessante frühe Stufe in Dumas’ Entwicklung dar, weil sie auf die kommenden historischen Prosawerke vorausweisen. Die Erzählung Blanche de Beaulieu beispielsweise teilt sich viele Übereinstimmungen mit dem späteren Revolutionsroman Le Chevalier de Maison-Rouge (Der Ritter von Maison-Rouge). Faszinierend ist an diesen Texten aber vor allem der biografische Bezug zur Geschichte seiner Eltern. Nicht nur weil die Sammlung seiner Mutter gewidmet ist oder eines der vorangestellten Zitate aus den Aufzeichnungen seines Vaters stammt, es sind zweifellos auch ganze Handlungsabschnitte danach gestaltet. In Laurette, dessen Titelfigur schon im Namen an Labouret, den Familiennamen der Mutter, erinnert, geht es um die Liebe eines Soldaten zu einer jungen Frau 45

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und deren Trennung, als er weiterziehen muss, eine Szene, die auch Dumas’ Mutter mehrmals durchlebt hatte. In Blanche de Beaulieu wiederum taucht mit General d’Hervilly eine Figur auf, die eindeutig nach dem Vater gestaltet ist, denn »seine herkulische Größe, seine fast übernatürliche Kraft, sein kurzes, krauses Haar, seine dunkle Hautfarbe, all das verwies an ihm darauf, dass eine heißere Sonne als die unsere über seiner Geburt geschienen hatte.« Weiterhin sammelte er erste Erfahrungen als Herausgeber. Gemeinsam mit Adolphe Ribbing von Leuven kaufte er das untergehende Journal grammatical, dessen Abonnenten für ihre nachfolgende Monatszeitschrift La Psyché gerettet werden konnten. Hier bot sich ihm die Möglichkeit, eigene Texte zu veröffentlichen und ein Netzwerk aufzubauen. Er selbst publizierte regelmäßig Gedichte, die im Rückblick als Anfängerwerke anzusehen sind und keinen bleibenden Eindruck hinterließen. An den Autoren, die Dumas herausgab, lässt sich gut erkennen, dass er mehr und mehr Teil der literarischen Szene wurde, denn sie reichen von Vater und Sohn Arnault über ­Casimir Delavigne, Charles Nodier, Chateaubriand und ­Lamartine bis hin zu Victor Hugo. Am 4. September 1827 wurde jener denkwürdige Pariser Kunstsalon eröffnet, in dem Klassizismus und Romantik am Beispiel von Ingres’ Apotheose Homers und Delacroix’ Tod des Sardanapal heftig aufeinanderprallten und das Publikum polarisierten. Als Dumas den Salon besuchte, waren es jedoch nicht jene beiden Gemälde, die ihn in ihren Bann schlugen, sondern ein auf den ersten Blick eher unscheinbares Basrelief von Félicie de Fauveau, einer Pionierin unter den Bildhauerinnen. Es stellte eine historische Episode aus dem 17. Jahrhundert dar, in der Christina, die ehemalige Königin von Schweden, ihren G ­ eliebten Monaldeschi wegen Verrat hinrichten lässt. Diese kleine Szene wurde zum Ausgangspunkt des ersten großen dramatischen Werkes von Dumas, der nun anfing, sich mit Hilfe verschiedener Nachschlagewerke über die Hintergründe zu informieren und sein Stück zu entwerfen. Ungefähr zur gleichen Zeit sah er in Paris eine britische Schauspieltruppe, die Shakespeare im Original aufführte. Dumas verstand zwar 46

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kein Englisch, aber er kannte die Werke so gut, dass dies auch nicht nötig war. War man in Frankreich daran gewöhnt, dass die Schauspieler die Klassiker eher steif deklamierten und den Text mit wenigen pathetischen Gesten begleiteten, so hinterließ die Heftigkeit, mit der die englischen Darsteller John Philip Kemble und Harriet Smithson Wahnsinn, Mord, Selbstmord oder Eifersucht darstellten, auf Dumas einen tiefen Eindruck. »Zum ersten Mal sah ich auf der Bühne wirkliche Leidenschaften, die Männer und Frauen aus Fleisch und Blut beseelten«, schrieb er später in seinen Memoiren, und »erst ab diesem Augenblick, besaß ich eine Vorstellung vom Theater.« Dumas setzte sich gleich das höchste Ziel: Er wollte sein Stück Christine in die Comédie-Française, das erste Theater Frankreichs, bringen. Die Pariser Bühnen waren seit 1806 einer starken Regulierung und Zensur unterworfen und benötigten offizielle Genehmigungen. Neben der Comédie-Française gab es drei weitere staatlich geförderte Bühnen, die Opéra, das Odéon und die Opéra-Comique. Daneben existierten sogenannte théâtres secondaires, die keine Subventionen genossen, und zwar das Ambigu-Comique, das Porte-Saint-Martin, das Funambules und das Gymnase. Um die Konkurrenz zwischen den Bühnen gering zu halten, wurden die Häuser auf bestimmte Gattungen festgelegt. Die subven­ tionierten Bühnen boten das klassische Repertoire, über das im Falle der C ­ omédie-Française ein königlicher Kommissar wachte, während etwa im Porte-Saint-Martin Melodramen gegeben wurden. Damit besaß jede Institution ein klares Profil, das zudem durch eine Art Starsystem gestützt wurde, da auf jeder Bühne nur bestimmte Schauspieler auftraten. Der bereits erwähnte berühmteste Tragödiendarsteller seiner Zeit, Talma, war neben anderen Größen wie Mademoiselle Mars in der Comédie-Française zu sehen. Im Ambigu-Comique war Frédérick Lemaître der Star, während Marie Dorval, Dumas’ spätere langjährige Freundin und zeitweilige Geliebte, zum Porte-Saint-Martin gehörte. Aufgrund des klassischen Repertoires war es besonders schwierig, in das Programm der Comédie-Française aufgenommen zu werden und brachte daher zugleich das größte Prestige mit sich. Dumas hielt sich in der ersten Version seines Stückes noch weitgehend an 47

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die k­ lassische Regelpoetik und verfasste Christine in Alexandrinern. Seine außergewöhnliche Arbeitskraft machte sich schon jetzt deutlich bemerkbar, denn er war bereits Anfang 1828 damit fertig und sicher, sein bisheriges Meisterwerk geschrieben zu haben. Jetzt hatte er nur noch die Comédie-Française zu überzeugen. Auf diesem Weg gab es zwei Hürden zu bewältigen: Das Stück musste sowohl dem königlichen Kommissar, sprich dem Intendanten, als auch den Darstellern vorgelesen werden, die einen großen Einfluss auf die Auswahl hatten. In jener Zeit gab es noch keine Regie in der Form, wie wir sie heute kennen. Vielmehr waren es die Schauspieler selbst, die in Zusammenarbeit mit dem Autor die Rollen gestalteten und dabei häufig Textänderungen verlangten. Es war ein glücklicher Umstand für Dumas, dass Baron Taylor, welcher der romantischen Ästhetik gegenüber aufgeschlossen war, 1825 die Leitung des Hauses übernommen hatte. Über die Vermittlung des Schriftstellers und Bibliothekars Charles Nodier, den Dumas bei einer Theateraufführung kennengelernt hatte und dessen Salon er besuchte, erhielt er am 17. März frühmorgens einen Termin bei Taylor, der gerade in der Badewanne saß und bereits einem anderen Autor lauschte. Dumas’ Euphorie bekam einen empfindlichen Dämpfer, musste er doch damit rechnen, dass Taylors Geduld schon aufgebraucht war, bevor er auch nur eine Zeile vorgelesen hatte. Doch es gelang. T ­ aylor war begeistert und leitete den nächsten Schritt ein. Drei Tage später trug Dumas das Stück auch den Schauspielern vor, die sich lediglich einige Veränderungen wünschten, so dass es am 30. März angenommen wurde. Dumas jubilierte. Leider zu früh, denn er hatte nicht mit den Verwicklungen gerechnet, die sich in der Theaterwelt ergeben konnten. Zunächst wurde das Stück von einem anderen Autor, Picard, einem Vertreter des Klassizismus, erneut geprüft und rundweg abgelehnt. Jetzt sprang Taylor in die Bresche und holte ein Gegengutachten von Nodier ein, der apodiktisch feststellte, Christine sei »eines der bemerkenswertesten Werke, die ich in den letzten zwanzig Jahren gelesen habe«. Ende April muss Dumas nochmals vorlesen. Jetzt intervenierte wiederum ein Zensor, der meinte, es gebe Anspielungen auf Karl X. und die königliche Familie. Dumas wandte sich eilig mit einem Brief 48

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an Minister Martignac, der schließlich seine Erlaubnis erteilte. Bei den Proben weigerte sich dann die Schauspielerin Mademoiselle Mars, einige Passagen zu sprechen, und verlangte, dass Dumas sie umschreibe. Als er ablehnte, ließ sie ihn ihre reale Macht spüren und hielt die Arbeit an den Proben auf. Unglücklicherweise erhielt das Theater dann auch noch eine weitere Christine, und zwar aus der Feder von Louis Brault, der im Sterben lag und dessen letzter Wunsch es war, dass sein Stück gespielt werde. Dumas zeigte Verständnis und zog seine Version zurück in der Hoffnung, dass sie wieder aufgenommen würde, wie man es ihm versprochen hatte. Der Traum vom Durchbruch blieb somit aus, dennoch hatte Dumas gelernt, mit welchen Kräften er im Kampf um den Ruhm rechnen musste und dass Zensur und Schauspieler eine entscheidende Rolle spielen konnten. Aber was bedeutete schon ein aufgeschobenes Stück angesichts der Schaffenskraft eines Dumas? Im Büro entdeckte er zufällig auf einem Tisch einen aufgeschlagenen Band der französischen Geschichte des Historikers Louis-Pierre Anquetil und stieß darin auf die Liebesgeschichte eines Lieblings von König Heinrich III. namens Saint-Mégrin mit der Frau des Herzogs von Guise. Dumas erkannte sofort deren dramatisches Potenzial. Wie schon bei Christine konsultierte er historische Nachschlagewerke und Memoiren und machte sich gleich an sein nächstes historisches Drama, Henri III et sa cour (Heinrich III. und sein Hof), das er diesmal in Prosa verfasste. Sobald es fertig war, trug er es einigen Schauspielern der Comédie-­ Française vor. Diesmal hatte er Mademoiselle Mars auf seiner Seite, und das Stück wurde angenommen. Dumas war nun bei fast allen weiteren Entscheidungen anwesend. Er verhandelte mit den Schauspielern über die Besetzung der Rollen, ließ keine Probe aus und feilte ständig weiter am Text. Die Premiere wurde auf den 10. Februar angesetzt. Dem historischen Stoff entsprechend stellte man prächtige Kostüme her, und die Presse heizte das Publikum bereits im Vorfeld an, als müsse es sich auf einen Skandal vorbereiten. In diesem Moment höchster Spannung erhielt Dumas am 7. Februar die bestürzende Nachricht, dass seine Mutter einen S­ chlaganfall 49

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e­ rlitten hatte. Er eilte nach Hause. Erst am folgenden Tag schien sie außer Lebensgefahr zu sein. Dumas liebte seine Mutter über alles und besaß die Kraft, unerschütterlich an beiden Fronten zu stehen: am Bett seiner Mutter, die kaum ansprechbar war, und in der Comédie-Française. Dann fasste er den Mut, beim Herzog von Orléans vorstellig zu werden und ihn zur Premiere einzuladen. Der erwiderte, dass er bereits ein Abendessen mit fünfzig Prinzen veranstaltete. Umso besser, meinte Dumas, dann sollten doch gleich alle mitkommen. Der Herzog sagte unter der Bedingung zu, dass die Aufführung um eine Stunde nach hinten verlegt und eine ganze Galerie reserviert wurde. Auch das machte Dumas möglich. Es bedarf nicht viel Fantasie, um zu verstehen, welch ein Coup ihm damit gelungen war. Die ganze Aristokratie »ballte sich in den ersten und zweiten Logen, die Frauen glitzerten vor Diamanten«, erinnerte er sich in den Memoiren. Natürlich hatte Dumas auch noch zahlreiche weitere Plätze an seine romantischen Mitstreiter vergeben, die von Hugo bis de Vigny anwesend waren. Dann war es endlich so weit. Die Premiere begann, Dumas beobachtete genau die Reaktionen des Publikums und eilte in der Pause nach dem dritten Akt kurz zu seiner Mutter. Er wusste, dass die starken dramatischen Effekte ab dem vierten Akt begannen, und täuschte sich nicht: »Vom vierten Akt an bis zum Ende war es nicht mehr nur ein Erfolg, es war ein sich immer mehr steigernder Wahnsinn: alle Hände applaudierten, selbst die der Frauen. Madame Malibran, die nur noch in der dritten Loge einen Platz gefunden hatte, beugte sich weit hinaus und hielt sich krampfhaft mit beiden Händen an einer Säule fest, um nicht hinunterzufallen.« Als Schauspieler Firmin, der den Saint-Mégrin gespielt hatte, nach dem Stück den Namen des Autors aufrief, gab es tosenden Beifall, und selbst der Herzog von O ­ rléans erhob sich für seinen kleinen Angestellten Dumas, der gerade zum Dichter geworden war. Weshalb entfachte Heinrich  III. und sein Hof eine solche Wirkung beim Publikum? Das Stück leitete nichts weniger als das historische Drama der französischen Romantik ein, denn es brach auf allen Ebenen mit den Merkmalen der Klassik. Hatten die klassischen Dramen50

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Dumas als junger Romantiker, Lithografie nach Achille Devéria

dichter Corneille und Racine fast ausschließlich antike Stoffe verwendet, so nutzte Dumas stattdessen die Nationalgeschichte. In den Memoiren formulierte er später, dass er es als Romantiker als seine Aufgabe ansah, ein »nationales, originelles französisches Theater« zu schaffen, »kein griechisches, englisches oder deutsches«. Geschichte wurde dabei nicht als exakte Aufarbeitung der historischen Ereignisse verstanden, sondern dramatisiert, indem Dumas politische ­Interessen mit den persönlichen Leidenschaften der Figuren verwob. Dadurch entstand kein »falsches« Bild der Geschichte, sondern ein ­medial angepasstes, das den Anforderungen an dramatische Spannung gerecht wurde. Besonders heftig war der Bruch mit den formalen Vorgaben der Klassik. In Heinrich  III. verzichtete Dumas auf die übliche sprachliche Gestaltung in der Versform des Alexandriners und schrieb in Prosa, was eigentlich für Komödie und Melodram üblich war und einen deutlich realistischeren Effekt mit sich brachte. Ausgehend von Aristoteles’ Poetik waren verschiedene Grundsätze entwickelt worden, nach denen eine Tragödie gestaltet sein sollte. So 51

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war die Einheit von Raum, Zeit und Handlung zu beachten, was bedeutete, dass eine Haupthandlung im Vordergrund zu stehen hatte, die sich möglichst an einem Ort innerhalb von 24 Stunden abspielen sollte. Kaum etwas davon hält Dumas mehr ein: Die Handlung entwickelte sich räumlich an vier verschiedenen Schauplätzen; die zeitliche Ausdehnung beschränkte sich zwar auf den Juli 1578, erreichte aber nicht die Konzentration klassischer Stücke; und die Handlung war alles andere als einsinnig, sondern führte drei Stränge zusammen: die heimlichen Manipulationen von Katharina von Medici, den Liebesplot zwischen Saint-Mégrin und der Herzogin sowie die usurpatorischen Pläne des Herzogs. Neben den drei Einheiten galt das Gebot der Schicklichkeit, das in erster Linie die Darstellung des menschlichen Körpers einschränkte und Gewalt, Sexualität ebenso wie Essen und Trinken von der Bühne verbannte. Zwar wirkt Dumas’ Stück nach heutigem Standard in dieser Hinsicht durchaus zurückhaltend, dem Publikum seiner Zeit jedoch musste es kalt über den Rücken laufen, wenn der Herzog von Guise seine Frau mit Gewalt nötigte, einen verräterischen Brief zu verfassen, und sie dabei mit einem Eisenhandschuh fest am Arm packte. Und wenn der Herzog seinen Rivalen schließlich zynisch mit dem Halstuch seiner Gattin erdrosseln ließ, damit »der Tod ihm süßer« werde, dann endete das Stück mit einem Schockeffekt, auch wenn die Tat selbst nicht gezeigt wurde. Dementsprechend wenig gab Dumas auf die üblichen Gattungsgrenzen und verband nach eigenem Gutdünken tragische, melodramatische und komische Elemente miteinander. Was die bloße Lektüre des Textes nur erahnen lässt, ist die Bedeutung von Dekor und Kostümen. So wie im späteren Kostümfilm stellte die prächtige Ausstattung neben dem Wechsel der Schauplätze visuell einen starken Reiz dar. Heinrich III. und sein Hof war in dieser Hinsicht so außergewöhnlich und aufwändig, dass Theaterregisseur Hyacinthe Albertin wenig später 40-seitige Hinweise zu Dekor, Kostümen und Inszenierung herausgab. Wie wichtig diese Fragen auch für Dumas waren, zeigt sich daran, dass er den Proben beiwohnte und äußerst eng mit den Schauspielern zusammenarbeitete. Im Unter52

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schied etwa zu Victor Hugo, der seinem Stück Cromwell ein theoretisches Manifest der romantischen Ästhetik voranstellte, richtete sich Dumas’ kurzes Vorwort an die Schauspieler selbst, deren Leistung er jeweils einzeln und persönlich würdigte. Nationale Geschichte in dramatischer Spannung und spektakulärer Inszenierung – auf diese Formel könnte man Dumas’ Stück bringen. Es verband Bildung mit Unterhaltung und war auf eine populäre Weise zugleich auch politisch. Denn was zeigte Heinrich III. und sein Hof ein Jahr vor der Julirevolution anderes als einen schwachen König und das Ende einer Dynastie? Ließ sich dies nicht leicht auf das Jahr 1829 und den spürbaren Druck auf die Restauration und die Bourbonen übertragen? Dumas’ Darstellung entwarf ein Bild von einer adeligen Oberschicht, die machiavellistisch ihren Machtinteressen oder ihren Leidenschaften hingegeben war, keine christlichen oder huma­ nistischen Werte respektierte und vor keinem Zynismus zurückschreckte. Tatsächlich wurde das Stück einen Tag nach der Aufführung kurzzeitig verboten, durch das Einschreiten des Herzogs von Orléans dann jedoch wieder freigegeben. Auch die Presse feierte Dumas, und Herzog Louis-Philippe beförderte seinen Angestellten zum assistierenden Bibliothekar. Bis Anfang Juni erlebte Heinrich III. und sein Hof 44 Aufführungen und wurde in den folgenden Jahren und mit Abständen auch später wieder aufgenommen. Noch 1829 verkaufte Dumas das Manuskript an den Verleger Vézard für 6000  Francs, was dem Verdienst von vier Jahren Arbeit als Schreibkraft entsprach. Er war nicht nur über Nacht berühmt und mit Hugo und de Vigny zu einem Herold der Romantik geworden, sondern hatte auch seine finanziellen Sorgen vorerst gelöst.

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Verbotene Liebschaften, vorübergehende Leidenschaften

S

o ausführlich wie Dumas in seinen Memoiren von seinem Durchbruch erzählt, so gründlich verschweigt er eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die einen wichtigen Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung jener Jahre hatte. Er tut dies aus Rücksicht, denn die Dame war verheiratet und damit eine Ehebrecherin, was Anfang der 1850er, als er an seinen Erinnerungen schrieb, immer noch zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führen konnte. Springen wir zurück zum 3. Juni 1827, als ein Freund Dumas einlud, zu einem Vortrag über französische Literaturgeschichte in das ­Athenäum mitzukommen. Der Redner des Abends hieß Mathieu ­Villenave und war als Publizist mit Herausgeberschaften, zahlreichen Artikeln und Übersetzungen hervorgetreten. Nach dem Vortrag wurde Dumas dem älteren Herrn und dessen Familie vorgestellt, die ihn stets begleitete. So lernte Dumas auch Madame Villenave sowie deren Sohn Théodore und deren Tochter Mélanie kennen. Man kam ins G ­ espräch und Dumas wurde kurzerhand in die Rue de Vaugirard Nr. 84 eingeladen, wo die Villenaves einen Salon führten. Auf dem Weg dorthin durfte der Neuling am Arm von Tochter Mélanie gehen und mit ihr konversieren. Im Hause angekommen, gingen sie in den ersten Stock, wo sich neben den Schlafräumen von Mutter und Tochter der lang gestreckte Salon befand, mit Gemälden und Büsten geschmückt, von denen eine den Hausherrn selbst darstellte. Dumas ahnte noch nicht, dass er die Familie in den nächsten Jahren fast täglich besuchen würde. Allerdings konzentrierte sich der Kontakt auf Mutter und Tochter des Hauses, denn Villenave selbst zog sich meist in die zweite Etage in seine riesige Bücher- und Manuskriptsammlung zurück. Dumas hinterließ einen tiefen Eindruck bei Villenave, der im Juli an eine Freundin schrieb, dass »sich unter unseren treuen Gästen ein wahrhaft begabter junger Mann befindet, der Sohn des Generals Alexandre Dumas. Er dichtet mühelos brillante Verse und hält sich für einen Romantiker, 54

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was er aber nicht ist … Er besitzt ein Gedächtnis, das an ein Wunder grenzt: 30 bis 40 000 Verse hat er sich gemerkt.« Salons dieser Art waren unerlässliche intellektuelle Zentren für junge Autoren wie Dumas, der 1827 nichts weiter als eine kleine Schreibkraft mit literarischen Ambitionen war. Dort konnte er nicht nur Gleichgesinnte kennenlernen, sondern auch eigene Werke vortragen und sich ein Netzwerk aufbauen. So eröffnete Villenaves Salon ihm die Türen zum Salon der Prinzessin von Salm, wo er James ­Fenimore Cooper und Alexander von Humboldt begegnete. Aber all das hätte sicherlich nicht ausgereicht, wenn nicht noch ein weiterer mächtiger Grund hinzugekommen wäre: Dumas’ Interesse an der Tochter des Hauses. Mélanie war 31, als sie sich kennenlernten, und damit über fünf Jahre älter als er. Die hochintelligente Frau teilte seine Ambitionen und war selbst eine begabte Dichterin. Aufgewachsen war sie in Nantes und in La Jarrie, einem kleinen Ort in der Vendée, wo der Vater ein Haus gekauft hatte. Mélanie war eine höchst empfindsame Frau mit einem Hang zur Melancholie und einem seltenen Talent, ihre Gefühle poetisch zu verarbeiten. Anfang der 1820er Jahre willigte sie in die Ehe mit Leutnant François-Joseph Waldor ein, der in Nantes stationiert war und dem sie in verschiedene Garnisonsstädte, darunter Montauban und Avignon, folgte. Als Waldor im Februar 1824 nach Paris versetzt wurde, zogen die Villenaves und die Waldors in die Rue Vaugirard, wo 1825 die Tochter Élisabeth geboren wurde. Anfang 1827 dann wurde Waldor an die Mosel nach Thionville versetzt, während Mélanie und Élisabeth im Hause der Eltern bzw. Großeltern blieben. Unter die Freundschaft, die sich zwischen Dumas und Mélanie entwickelte, mischte sich bald eine Leidenschaft, die zunächst von ihm ausging und sich anhand seiner Briefe rekonstruieren lässt. Es war eigentlich ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, sich im 19. Jahrhundert einer verheirateten Frau mit Kind anzunähern, die zudem bei ihren Eltern und ihrem Bruder lebte. Einen jungen und wilden Romantiker aber wie Dumas mochte dies eher noch angestachelt haben, ist doch der Reiz umso höher, je geringer die Chancen sind. Anfang September wagte er sich erstmals aus dem 55

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­ eckmantel der ­Freundschaft hervor, erhielt zunächst eine Abfuhr D und ruderte in einem Brief vom 7. des Monats zurück: »Vergessen Sie meine Torheiten von gestern, vergessen Sie vor allem meine Offenheit. Die Heftigkeit, mit der Sie den Gedanken abgelehnt haben, dass aus Ihrer Freundschaft mehr werden könnte, hat mich beinahe von diesem G ­ edanken geheilt.« Dumas ist also nur »beinahe« geheilt worden, wie er geschickt zu verstehen gibt. Nur fünf Tage später wirft er sich Mélanie unter Tränen zu Füßen und gesteht seine Liebe, was ihn aber nicht davon abhält, die Nacht mit Laure Labay, der Mutter seines kleinen Sohnes, zu verbringen. Am nächsten Tag sieht er Mélanie bei einem Ball wieder, auf dem beide Walzer tanzen und es offenbar zu einem ersten Kuss kommt. Damit begann eine ebenso gefährliche wie aufregende Affäre, von der niemand etwas wissen durfte. Denn nicht nur Mélanies Ehre stand auf dem Spiel, auch diejenige ihrer Familie und der kleinen Élisabeth, die als Tochter einer Ehebrecherin stigmatisiert werden würde. Doch die Anziehungskraft zwischen beiden überwand alle Bedenken. Das schweißte zugleich auch zusammen, denn es waren höchstes Vertrauen und absolute Geheimhaltung verlangt, sollte es nicht zu einer Katastrophe kommen. Weiterhin wurden beide in eine zwar nicht immer einfache, aber in romantisch-erotischer Hinsicht durchaus reizvolle Doppelrolle gedrängt: nämlich diejenige, in der Öffentlichkeit »nur« Freunde zu sein und sich dann in Geliebte zu verwandeln, sobald es keine Zeugen mehr gab. Am 23. September hatten sie offenbar zum ersten Mal miteinander geschlafen oder, in der Sprache des 19. Jahrhunderts: hatte Mélanie sich ihm zum ersten Mal hingegeben. Das klang zwar patriarchalisch, aber tatsächlich ging die verheiratete Mélanie ein viel größeres Risiko ein als der junge Dumas. Der Ehebruch der Frau wurde aus vermeintlichen biologischen Gründen als etwas Unnatürliches angesehen und im Code civil schwerer bestraft als derjenige des Mannes. Wenn eine Frau die Ehe brach, war dies ein unmittelbarer Scheidungsgrund, während der Mann rechtlich gesehen fremdgehen durfte, solange er es nicht innerhalb des gemeinsamen Wohnhauses tat. Eine Ehe56

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brecherin konnte außerdem zwischen drei Monaten und zwei Jahren in ein Zuchthaus gesteckt werden. Angesichts des Risikos aufzufliegen stellte sich die Frage, wie man unter diesen Umständen überhaupt ungestört sein konnte. Wo das erste Treffen genau stattgefunden hat, wissen wir zwar nicht, aber es kann nur in einem eigens angemieteten Zimmer oder in einer geschlossenen Kutsche gewesen sein, nicht nur, weil beide Treffpunkte in der Korrespondenz genannt werden, sondern auch, weil es die üblichen Orte für verbotene Liebschaften im urbanen Raum waren. Nun sind Kutschen weder sicher noch bequem, so dass Dumas schon im Oktober ein Zimmer und im November dann eine Wohnung mietete, die nicht nur näher, sondern »vor allem weitaus abgeschirmter« war, wie er Mélanie in einem Brief schrieb. Da Dumas weiterhin erwähnt, er habe neben der Schatulle, in der sie ihre geheimen Briefe aufbewahrten, auch Kartoffeln, Butter und Zucker hingebracht, musste es eine Küche gegeben haben, so dass die Liebenden dort einen Parallelhaushalt führten. Zeitlich waren diese ungestörten Augenblicke allerdings knapp bemessen. Dumas arbeitete von montags bis samstags zwischen 10 und 17 Uhr, wohnte mit seiner Mutter zusammen und kümmerte sich um sie, hatte Umgang mit Söhnchen Alexandre, schrieb Theaterstücke, war an den Proben beteiligt und ging abends noch in den Salon; ­Mélanie wiederum war stets bei den Eltern oder kümmerte sich um ihre Tochter. Da es undenkbar war, sich nachts zu treffen, trafen sie sich in der Regel gegen 9 Uhr »zum Frühstück«, was zugleich bedeutete, dass Dumas sich etwas einfallen lassen musste, um später zur Arbeit zu gehen. Während die beiden in der Öffentlichkeit neben unpersönlicher Konversation nur mit Zeichen miteinander kommunizieren konnten, führten sie parallel dazu eine geheime Korrespondenz, die sie sich ungesehen zusteckten oder per Post verschickten. In den Briefen konnten beide all das zum Ausdruck bringen, was öffentlich unterdrückt werden musste. Kommunikationspsychologisch spielte die Korrespondenz eine wichtige Rolle für die Liebenden. Nach der Trennung sollte Mélanie zwar ihre Briefe von Dumas zurückfordern und verbrennen, so dass 57

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die meisten leider verloren gingen. Aber immerhin sind 56 Briefe von Dumas aus vier Jahren erhalten, die trotz dieser lückenhaften Überlieferung tiefe Einblicke in die Beziehung ermöglichen. Gerade die frühen Briefe quillen über von Herzensergießungen an »meinen Engel«, wie er Mélanie in der Regel ansprach, wovon der folgende Ausschnitt ein beredtes Zeugnis liefert: Oh ja, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, ja, dieses Fieber ist in mein Blut gedrungen, und ich verspüre mehr Wahn und Leidenschaft in meiner Liebe, als es jemals bei mir gegeben hat, aber fürchte dich nicht, ich liebe dich, ich liebe dich, ich kann nur dich lieben, dich allein auf der Welt, und könnte ich dich entführen und mit dir fliehen, so würde ich es morgen tun und auf jedes andere Glück, auf jede andere Zukunft verzichten und nur dich als Glück und als Zukunft wollen – Ich liebe dich, oh, meine Mélanie, mein Hirn brennt und ich stehe dem Wahnsinn gerade näher als der Vernunft, ich kann es nicht lassen, dir zu schreiben, und dennoch kann ich immer nur wiederholen, was ich dir schon gesagt habe, aber ich verspüre nun einmal den Drang, die Seiten mit »Ich liebe dich« zu füllen, was ich schon tausend Mal gesagt habe. – Du warst also eifersüchtig! Wie glücklich ich darüber bin! Du hast nun endlich verstanden, was lieben heißt, wenn du weißt, was Eifersucht ist … Dass Eifersucht eine mächtige Kraft sein kann, erlebte Dumas in jener Zeit selbst intensiv genug, denn es quälte ihn, dass Mélanie verheiratet war, ein anderer Mann ein Anrecht auf sie hatte und ihre Beziehung eigentlich aussichtslos schien. Das sei die Hölle, schrieb er weiter, und Grund genug, ein Verbrechen zu begehen. Dumas merkte in seinem anfänglichen Liebeswahn gar nicht, dass Eifersucht immer auch ein egoistischer Wunsch nach Besitz ist: »Wenn wir zusammen bei deiner Mutter sind, habe ich Wahnanfälle, in denen ich dich in die Arme nehmen und sagen will … ›Sie gehörte mir, mir, und zwar schon bevor sie mich kannte. Warum habt Ihr mein Hab und Gut, mein Glück, mein Leben vernichtet  … um es einem Mann zu geben, der sie  … kühl … liebt.‹ Dieses Wort ist mir völlig unbegreiflich.« 58

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Mélanie Waldor als Piratin

Anscheinend war bei den Villenaves offen über das geringe Interesse Waldors an seiner Gattin gesprochen worden, was darauf hinweist, dass auch Mélanies Mutter ihre Zweifel an dieser Ehe hatte. Mögen Eifersucht und erotisches Abenteuer zwar ausreichen, um die Heftigkeit von Dumas’ anfänglicher Leidenschaft verständlich machen, so genügen sie nicht, um eine Beziehung zu erklären, die solche Risiken auf sich nahm und über drei Jahre andauern sollte. Alexandre und Mélanie verbanden zudem ihre literarischen Neigungen, und beide spürten, dass ihre Liebe sie auch künstlerisch ­inspirierte. Vermutlich im Oktober schenkte Dumas ihr ein Manus­ kript mit dem Titel Préludes poétiques, in dem er seine Gedichte, 1700  Verse insgesamt, säuberlich mit seiner schönen Handschrift für sie abgeschrieben hatte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Motto, das er ihnen voranstellte, um Mélanies Rolle für sein Schaffen zu beschreiben: »In der Frau, die wir lieben, steckt all unser Genie.« Das konnte Mélanie natürlich auf sich beziehen, dennoch 59

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hatte Dumas es offen formuliert, und es ließ sich auch so verstehen, dass das Genie sich zwar an der Liebe nährte, diese aber nicht an eine bestimmte Frau gebunden war. Die Préludes poétiques stellen Dumas’ gesamte lyrische Produktion bis dahin dar und zeigen einerseits, dass er sich zu dieser Zeit noch als Dichter verstand, und andererseits, dass die Lyrik zugleich das literarische Feld war, das er mit Mélanie teilte. In der bunten Mischung aus heroischen Oden, antikisierenden Elegien und Romantik finden sich mehrere direkte Bezüge auf Mélanie. Eine besondere Erwähnung verdient die Rêverie (Träumerei), weil das Gedicht eine ideale Künstlerliebe beschreibt, in der die Liebenden in der Dichtung miteinander vereint werden: Auf unstetem Pfad einander wir Hilfe bringen, zwei Schwänen gleich, die, gleitend am Himmelszelt, im Wechsel hoch über der Welt ihre herrlichen Lieder singen. In einem Brief vom Oktober stellte Dumas dieser idealen Liebe noch die physische an die Seite und schwärmte in honigsüßen Bildern von den Schäferstündchen: »Was jene andere Liebe angeht, meine liebe Mélanie, glaub mir, dass sie mir nur deshalb so viel bedeutet, weil sie uns noch mehr aneinanderzubinden scheint; die Augenblicke der Ruhe danach sind köstlich und vielleicht noch süßer als sie selbst. Wenn es Engel gibt, dann werden sie auf diese Weise ausruhen …« In späteren Briefen finden sich dann auch deutlichere erotische Anspielungen, wenn Dumas ihr tausend Küsse auf ihren Mund, auf ihr »Kätzchen« und ihre beiden »nénets« schickt, was wohl nicht übersetzt werden muss. Eine solche Innigkeit auf allen Ebenen ließ sich nicht allzu lange verbergen. Im November oder etwas später kam die Affäre ans Licht und führte zu einer Krise im Hause der Villenaves, wo man sich um die Frage stritt, was nun geschehen sollte. Während der Vater verlangte, dass Mélanie entweder Paris verließ oder das Verhältnis ­beendete und sich in einem Brief an Dumas wandte, hielt die Mut60

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ter zur Tochter und verteidigte sie angesichts eines Ehemanns, der ständig abwesend war und kein Interesse an ihr hatte. Man einigte sich schließlich offenbar auf den Kompromiss, die außereheliche Beziehung zu dulden, solange sie nicht zum Skandal wurde. All dies hatte die Liebenden vorerst noch mehr vereint und Dumas ließ sie in dem Kunstnamen »Mélalex« verschmelzen, den er für sie nun mitunter verwendete. Und so endete das Jahr 1827 in innigster Verbundenheit, die Dumas in einem Mitternachtsbrief vom 31. Dezember zum Ausdruck brachte: Es ist kurz vor zwölf, ich schreibe dir und du schreibst mir, das Jahr wird enden und beginnen, ohne unsere Seelen zu trennen, die trotz der Entfernung einander verstehen können, dieses Jahr, das angefangen hat, ohne dass wir von unserer Existenz wussten, und nun sind wir gegenseitig im Leben des anderen erschienen, und weder ein Jahr, ein Monat, ein Tag noch eine Stunde können vergehen, ohne das wir aneinander denken. Was für eine unbegreifliche Macht von Herz zu Herz ausgeht … mir scheint, ich kenne dich mein ganzes Leben schon. Anfang des Jahres 1828 scheint Mélanie sich dann eine eigene Wohnung in der Rue de l’ouest Nr. 5 genommen zu haben. Aus den folgenden zwei Jahren sind kaum Briefe überliefert, was darauf hindeutet, dass die Beziehung sich normalisierte und die geheime Korrespondenz ihre Funktion verlor, weil sich die beiden nun mehr oder weniger öffentlich zusammen zeigen konnten. Der Durchbruch Dumas’ im Februar 1829 machte aus dem jungen Niemand über Nacht einen gefeierten Dichter, der die Aufmerksamkeit stark anzog, und zwar auch diejenige der jungen Schauspielerinnen, denn das Verhältnis zwischen Autor und Schauspielern war, wie angedeutet, im Vergleich zu heute deutlich enger. Die Autoren entwickelten ihre Figuren nicht selten mit Blick auf bestimmte Darsteller, sprachen bei der Besetzung mit und konnten somit einen mächtigen Einfluss auf die Karriere haben. War Dumas bisher auf Mélanies Ehemann eifersüchtig gewesen, so wandelte sich das Verhältnis nun und gab Mélanie immer mehr 61

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­ nlass zur Eifersucht, nicht zuletzt, weil die Konkurrenz durchA weg jünger und hübscher war. Zu den vielen Schauspielerinnen, mit denen Dumas vermutlich flüchtige Affären hatte, zählte zum Beispiel die schöne Virginie Bourbier, die in dem Stück Heinrich  III. eine Nebenrolle besetzte. Wenn die Eifersucht von nun an auf Mélanie überging, so begann Dumas im April 1830 damit, seine Gefühle und Erfahrungen in einem Stück zu verarbeiten, das er als sein originellstes und persönlichstes Werk ansah und das in die Literaturgeschichte eingehen sollte: ­Antony. Die Beziehung zu Mélanie bot ihm dazu einen Rohstoff, wie er ihr in einem Brief erklärte: »Du wirst in Antony vieles aus unserem gemeinsamen Leben wiederfinden, mein Engel, aber es sind Dinge, von denen nur wir beide wissen. Was kann es uns also ausmachen? Das Publikum wird nichts davon bemerken. Für uns aber werden ewige Erinnerungen darin stecken. Was Antony selbst betrifft, glaube ich schon, dass man ihn wiedererkennen wird, denn er ist ein Narr, der mir sehr ähnelt …« Die Grundkonstellation des Stückes reproduziert das Dreiecksverhältnis: Da ist ein impulsiver Mann namens Antony, der die verheiratete Adèle liebt, die ein Kind hat und deren Mann, ein Militär, weit weg im Osten Frankreichs stationiert ist. Ebenso gehen Eifersucht, Gewaltfantasien und Aufschreie gegen die gesellschaftlichen Regeln in das Stück ein. Die Spannung zwischen individuellem Glück und den Anforderungen der Gesellschaft war für die Romantik ein zentraler Konflik, der auch in Dumas’ Briefen zum Ausdruck kommt: Als ich nun von der Welt und ihren Gesetzen sprach, von jenen elendigen Zugeständnissen an die Gesellschaft, die man stets auf Kosten des eigenen Glücks macht, sag mir, tat ich Unrecht daran, dies zu verfluchen und denjenigen als glücklich anzusehen, der sich davon befreien könnte? In einer zivilisierten Nation kann es Freiheit für ein Volk geben, aber niemals für die Individuen. Wir machen gegenüber allem, was uns umgibt, kleine Zugeständnisse, die mit Zeit und ­Gewohnheit den Namen der Pflicht erhalten, und wenn man davon abweicht, ist man schuldig. 62

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Fantasie und Fiktion haben unter anderem die Aufgabe, solchen Gefühlen Form zu geben und sie damit festzuhalten und im Falle Dumas auf Papier zu bannen. Das befreit, ja das heilt geradezu und schließt zugleich etwas ab. Aber es gibt auch Dinge, die nicht einmal der Fiktion anvertraut werden. Und da ist etwas, was Dumas weder künstlerisch verarbeitet, noch in den erhaltenen Briefen, noch 25 Jahre später in seinen Memoiren erwähnt – nämlich die Tatsache, dass Mélanie schwanger ist. War der Ehebruch an sich schon schlimm genug, so war ein Kind, das ehebrecherisch gezeugt wurde, rechtlich besonders schlecht gestellt. Die ganze Situation war eine enorme Belastung für alle und b ­ edrohte die Ehre und damit den Zusammenhalt der Familie Villenave sowie die wirtschaftliche Situation Mélanies im Falle einer Scheidung mit eventueller Strafe. Für Dumas war nicht auszuschließen, dass der Ehemann ihn zum Duell herausgefordert hätte. Was tun? Man entschloss sich dazu, alles möglichst zu vertuschen. Da es undenkbar war, das Kind in Paris zur Welt zu bringen, zog sich Mélanie zusammen mit ihrer Mutter am 3. Juni 1830 in den Ort La Jarrie in die ländliche Vendée zurück. Dumas sollte ihnen möglichst bald nachreisen. Ihm aber schien dies alles zu viel geworden zu sein. Es war sicherlich kein Zufall, dass der Abschluss von Antony und Mélanies Schwangerschaft zeitlich mit dem Ende ihrer Liebesbeziehung einhergingen. Und wie kam Dumas über diese Beziehung hinweg? Indem er nahtlos in die nächste schlitterte. Ende Mai, also noch vor Mélanies Abreise, stellte sein Freund Firmin ihm die junge Schauspielerin Belle Kreilssamner vor, die unter dem Künstlernamen Mélanie Serres auftrat und damit denselben Vornamen wie seine Geliebte hatte. Dumas war von Belles Schönheit, dem »kohlschwarzen Haar, ihren bläulichen tiefen Augen, der geraden Nase wie derjenigen der Venus von Milo«, sichtlich beeindruckt und begann offenbar sofort, mit ihr zu flirten. Die Fröhlichkeit und Sorglosigkeit, die Dumas auszeichneten, erwiesen sich nun als Egoismus und Rücksichtslosigkeit in Bezug auf Mélanie. Es ist befremdlich und faszinierend zugleich zu beobachten, wie Dumas offenbar problemlos in parallelen Welten leben konnte: 63

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Belle Kreilssamner

Am 9. Juni schließt er das Manuskript von Antony ab; am 13. Juni ermuntert er Mélanie, sie solle weiter an ihren Gedichten schreiben, damit er sie beim Aufbau ihrer Karriere unterstützen könne; am 16. vertröstet er sie, dass er noch die Aufführung des Stückes abwarten wolle. Das war zwar nicht wirklich gelogen, aber es passte doch zu gut zu seinem großen Interesse an Belle, die ihm Hoffnungen gemacht haben musste. Nach nur drei Wochen gab sie seinen Avancen nach, keine allzu lange Zeit für die eher prüde Gesellschaft der Restauration. Aber die provokative Brünette, die auf der Bühne häufig die Kokette spielte, war weder verheiratet noch so vorsichtig und sanft wie Mélanie. Gezwungen, sich durch’s Leben zu schlagen, setzte sie ganz auf ihren Durchbruch als Schauspielerin. Als sie Dumas kennenlernte, hatte sie bereits zwei uneheliche Kinder, die von Ammen aufgezogen wurden, eines davon mit Baron Taylor, dem Intendanten der Comédie-Française. In jenen Tagen schrieb Dumas noch an Mélanie, dass sein Herz viel ruhiger sei als ihres und dass »ich noch nicht einmal die Versuchung 64

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habe, Ihnen untreu zu werden, da ich niemanden kenne, den ich vor Ihnen geliebt habe. Ich wünschte, ich könnte dies auch von Ihnen sagen.« Waren das banale Lügen oder glaubte Dumas dies vielleicht sogar wirklich? Während er einerseits der schwangeren Mélanie seine Liebe schwor, traf er sich andererseits mit Belle und versuchte Anfang Juli, sie fest in der Comédie-Française unterzubringen. Die einfühlsame und sensible Mélanie wiederum hat schnell gespürt, dass etwas nicht stimmte, und reagierte darauf mit Vorwürfen, die wiederum Dumas lästig wurden, wie aus einem Brief von Anfang Juli hervorgeht: Sieh doch einmal auf meine Lage und verzeih, wenn ich wechselnde Stimmungen habe. Ich bin allein auf dieser Welt, habe keinen Verwandten, auf den ich mich stützen kann, um ihn um Hilfe zu bitten. Wenn ich ausfalle, fehlt nicht nur mir alles, sondern auch meiner Mutter und meinem Sohn. Alles, was für einen anderen das Glück ausmacht, ist mir eine Last. Ich habe eine Mutter, aber sie ­bereitet mir großen Kummer. Ich habe einen Sohn, kann von ihm j­ edoch noch überhaupt keine Hilfe bekommen. Ich habe eine Schwester, aber es ist, als hätte ich sie nicht. Und wenn nach alldem auch du mir noch mit Vorwürfen statt Zärtlichkeiten kommst, mit Ärger statt mit Trost, mein Gott, was soll ich dann machen? Schnell meine Sachen zusammen suchen, um allein zu leben, meine Mutter, mein Kind und mein Land verlassen, um woanders wie ein Bastard zu leben. Es geht schon so weit, dass ich mit zitternden Händen deine Briefe öffne … Dumas’ Verzögerungstaktik wurde Ende Juli dann von einem historischen Großereignis flankiert, das ihn noch ein paar Wochen länger an die Hauptstadt band.

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Der Revolutionär von 1830

D

ie Restauration, in der Dumas seine Jugend verlebt hatte, berief sich auf das Gottesgnadentum der Königswürde und tat so, als seien Revolution und Kaiserreich bloß vorübergehende Kapitel der Geschichte gewesen. Dennoch war es König Ludwig  XVIII. bewusst, dass eine völlige politische Rückkehr auf die Zeit vor der Revolution unmöglich war, wenn man nicht wieder neue Aufstände provozieren wollte. Die Restauration wurde daher zu einer spannungsreichen und instabilen Mischung aus den Errungenschaften von 1789 und den Versuchen, die Macht des Adels wiederherzustellen. Rechtlich basierte das System auf der Charte constitutionnelle, einer Verfassung, in der es zwar eine Gewaltenteilung gab, das Kräfteverhältnis jedoch eindeutig auf der Seite des Königs lag, in dessen Macht sich exekutive Befugnisse mit legislativen verbanden. Er ernannte die Minister und stellte damit die Regierung, die von den beiden Kammern, dem Oberhaus (Chambre des Pairs) und dem Abgeordnetenhaus (Chambre des Députés), kaum kontrolliert werden konnte. Die Wahl des Abgeordnetenhauses basierte auf einem so restriktiven Zensus, dass in Frankreich lediglich 90 000 Männer das aktive und bloß 15 000 auch das passive Wahlrecht genossen – verschwindend geringe Zahlen bei einer Gesamtbevölkerung von damals um die 30 Millionen. Volksabstimmungen wiederum, wie Napoleon sie gepflegt hatte, waren gar nicht vorgesehen. Von besonderer Bedeutung für den Ausbruch der Revolution im Juli 1830 war der Notstandsartikel § 14, der es dem König erlaubte, über Verordnungen zu regieren, »um die Einhaltung der Gesetze und die Sicherheit des Staates« zu gewähren, wie es in der Charte hieß. Da er zugleich Oberbefehlshaber der Armeen war, kam dies einer diktatorischen Machtfülle gleich. Dabei vertraten weder Ludwig XVIII. noch sein Nachfolger Karl X. nicht einmal die radikalste Position im Hinblick auf die Monarchie. Rechts von ihnen standen noch die Ultraroyalisten, welche die Charte und den Code Civil, also das Bürgerliche Gesetzbuch Napoleons, das weiterhin gültig war, am liebsten abgeschafft hätten. Einen Wende66

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punkt in der Geschichte der Restauration bildete die Ermordung des Herzogs von Berry durch den Bonapartisten Louvel im Februar 1820. Sie beendete die liberale Phase der Epoche und führte zu einer schrittweisen Aushöhlung der Grundrechte. Als Karl  X. im August 1829 ein Kabinett unter dem ultraroyalis­ tischen Prinzen Polignac bildete, erhoben sich zahlreiche Proteste. Die liberalen Kräfte waren empört. Polignac, der Sohn einer Favoritin Marie-Antoinettes, war ein ehemaliger Emigrierter und stand für das Ancien Régime, und sein Kriegsminister Bourmont war unter Napoleon aufgestiegen, hatte in der Nacht vor Waterloo jedoch die Seiten gewechselt und galt vielen als Verräter. Und solche Leute sollten nun regieren! Im März 1830 sprach das Abgeordnetenhaus der Regierung gegenüber sein Misstrauen aus, worauf Karl X. die Kammer im Mai auflöste und für Juli Neuwahlen ansetzte. Der König hoffte indes auf einen außenpolitischen Erfolg, um seine Beliebtheit wieder zu steigern. Im Mai war eine französische Flotte in Richtung Algier ausgelaufen, um die Stadt zu erobern. Dennoch gewannen die Liberalen bei den Wahlen weitere Sitze. Karl X. entschloss sich daraufhin, mit harter Hand vorzugehen, und machte am 25. Juli von dem Notstandsartikel Gebrauch, um eine Handvoll Verordnungen zu erlassen, die am 26. im Moniteur universel bekannt gegeben wurden. Sie hoben unter anderem die Pressefreiheit auf und schränkten das Wahlrecht noch weiter ein. Karl  X. war sich seiner Sache offenbar äußerst sicher, da es bisher keinen nennenswerten Aufruhr gegeben hatte und er mit seinen 12 000 Soldaten, die in Paris stationiert waren, die Sache unter Kontrolle zu haben glaubte. Dabei hat er die Macht der Publizisten sträflich unterschätzt, die in den letzten Jahren deutlich angewachsen war. Nicht nur, dass Autoren und Drucker, die eine starke Stellung in Paris besaßen, unmittelbar davon betroffen waren, auch das Publikum hatte sich sowohl an die tägliche Lektüre als auch an die enorme Auswahl von Periodika in Paris gewöhnt, die das Zeitalter der Massenmedien einleiteten. Die Bekanntmachung der Verordnungen löste eine breite Empörung in Paris aus. Dumas ließ sich von seinem Diener Joseph sein 67

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Gewehr geben, ging auf die Straße und begab sich zu den Redaktionen der Zeitungen. Die Redakteure waren bereits zusammengekommen und verfassten ein Protestschreiben, indem sie die Verordnungen als verfassungswidrig ansahen und den Gehorsam verweigerten. Die Polizei versuchte daraufhin, die Druckereien zu schließen oder funktionsunfähig zu machen. Trotz des Verbots und solcher Maßnahmen erschienen am 27. Juli einige Zeitungen, die zum Widerstand aufriefen. In einem anonymen Beitrag im National, der wahrscheinlich von Adolphe Thiers, dem späteren Präsidenten der Dritten Republik, stammte, wurden die Verordnungen mit einem Staatsstreich gleichgesetzt. Noch deutlicher wurde der Figaro, der einen Artikel mit einem bedrohlichen offenen Ende abschloss: »Die Regierung hat heute ihre Rechtmäßigkeit verloren, die einem den Gehorsam gebietet. Was uns angeht, so verweigern wir uns. Frankreich muss nun entscheiden, wie weit sein Widerstand gehen soll.« Frankreich, das hieß eigentlich Paris, denn die Revolution, die innerhalb von wenigen Tagen zum Sturz des Regimes führen sollte, spielte sich ausschließlich in der Hauptstadt ab. Noch am 27. wurden Barrikaden errichtet, und Dumas half kräftig dabei mit. Es kam zu ersten Auseinandersetzungen zwischen den königlichen Truppen und den Aufständischen. Die Ereignisse entzündeten in Dumas ein revolutionäres Fieber, das bald von dem Gefühl genährt wurde, Geschichte mitgestalten zu können. In seinen Memoiren erinnert er sich, wie er an den Pont de la Révolution kam (heute Pont de la Concorde) und in der Ferne die Trikolore über Notre-Dame im Winde flattern sah: »Ich gebe zu, dass ich beim Anblick dieser Flagge, die ich seit 1815 nicht mehr gesehen hatte und die so viele edle Erinnerungen der Revolutionszeit und so viele ruhmreiche der Kaiserzeit wachrief, von einem merkwürdigen Gefühl ergriffen wurde. / Ich lehnte mich an die Brüstung, die Arme ausgestreckt, die Augen starr und tränenfeucht.« Da er ein Gewehr bei sich trug, wurde er auserkoren, einen Trupp von einem Dutzend Mann zum Rathaus zu führen. Die Soldaten hielten die großen Zugangsstraßen besetzt, es gelang Dumas’ Truppe ­jedoch, über Nebenstraßen zum Rathaus zu gelangen, wo heftig 68

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Dumas führt in Jagduniform im Juli 1830 eine Truppe von ­Revolutionären an.

gekämpft wurde. Die Soldaten fuhren eine mit Schrot beladene ­ ­ anone auf und rissen blutige Schneisen in die Menge der AufK ständischen. Nun brach überall im Zentrum Widerstand gegen die Staatsgewalt aus. Erst wurden die Barrikaden von den königlichen Truppen geräumt, dann von den Aufständischen wieder aufgebaut. Man verschaffte sich Waffen, und wer keine hatte, nahm alles, was gerade greifbar war. Aus den Häusern wurden Möbel auf die Soldaten geworfen, Drucker sollen sogar mit Drucktypen geschossen haben – eine ebenso konkrete wie bildliche Form des Kampfes gegen die Zensur. Am 28. Juli verloren die Regierungstruppen angeblich 2500 Mann. Am 29. ging der Aufstand in die Offensive und übernahm schließlich die Kontrolle von Paris. Hatte Karl X. die Pariser Nationalgarde 1827 aufgelöst, so wurde sie jetzt wieder ins Leben gerufen und General La Fayette unterstellt, eben jenem La Fayette, der schon vor vierzig Jahren bei der großen Revolution eine ausgleichende Rolle gespielt hatte und längst zum Mythos geworden war. 69

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Du an

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Damit wurde symbolisch deutlich, was Dumas vom ersten Moment an gespürt hatte: die Verbindung zwischen 1830 und 1789, die Verbrüderung der jungen Generation mit den alten Revolutionären, das Nach- und Neuerleben einer mythischen Zeit, der auch Dumas’ Vater angehört hatte. Musste Dumas als überzeugter Republikaner nicht glauben, dass in den Julitagen die Geschichte der großen Revo­ lution einen Abschluss finden könnte? Zugleich wurden die politischen Überzeugungen im Trubel der Ereignisse nebensächlich, denn das Erleben drängte sich ganz in den Vordergrund, ein Erleben, das Dumas bewusst zu suchen schien, wie eine weitere Episode aus den folgenden Tagen andeutet. Es wurde eine provisorische Regierung unter General La Fayette gebildet, der sich fragte, was wäre, wenn Karl X. zum Gegenschlag ausholte und Truppen auf Paris marschieren ließe? Hätte die Hauptstadt dann genügend Mittel zur Verfügung, um sich zu verteidigen? Dumas kam das Pulvermagazin in Soissons in den Sinn und er fasste sogleich den Plan, das Schießpulver von dort nach Paris zu bringen. General La Fayette winkte zunächst ab, doch der hartnäckige Dumas konnte ihm und General Gérard, dem provisorischen Kriegsminister, das entsprechende Entsendungsschreiben schließlich doch entlocken. Soissons liegt über hundert Kilometer nordöstlich von Paris, eine für damals beträchtliche Strecke, zumal die Zeit drängte, wenn der König Paris tatsächlich zurückerobern wollte. Es begann eine abenteuerliche Episode, als sich Dumas am Nachmittag des 30. Juli auf den Weg nach Soissons machte. In seinem Bericht, der am 9. August im Moniteur universel publiziert wurde, erzählt er detailliert von den Gefahren und Schwierigkeiten der Mission. Denn wie Dumas festhält, sei die provisorische Regierung in Soissons noch nicht anerkannt worden. Der Kommandant vor Ort, M. de Liniers, widersetzte sich dementsprechend Dumas’ Anliegen und zwang ihn, zum Äußersten zu gehen: »Ich zog meine beiden Doppellaufpistolen, spannte den Hahn und wiederholte meine Forderung, mir das Pulver auszuhändigen. Ich war zu weit gekommen, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Ich befand mich mehr oder weniger allein in einer Stadt mit achttausend Seelen, inmitten von Behörden, 70

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die der neuen Regierung im Allgemeinen sehr ablehnend gegenüber standen. Daher war es für mich eine Frage von Leben oder Tod.« Allerdings widerstrebte es dem Kommandanten, dass er und seine Männer sich einem Einzelnen ergeben sollten. Dumas händigte ihm daher ein Schreiben aus, in dem er bestätigte, dass er sie mit Waffengewalt dazu gezwungen habe, und erhielt das Pulver. Über zwanzig Jahre später erzählte Dumas die Episode nochmals in seinen Memoiren, wo sie über vier Kapitel füllt. Er hielt sich dabei zwar durchaus an die Grundstruktur, aber er dramatisierte die Abläufe und fügte noch einige Details hinzu, von denen manche zweifellos der Fantasie entsprangen. Als es um den Widerstand des Oberkommandanten de Liniers geht, zückt Dumas auch in dieser Version seine Pistolen und will bis fünf zählen … In den Memoiren passiert dann jedoch etwas, von dem nirgendwo anders die Rede war und das stark einem Bühneneffekt ähnelt: Denn kaum hat Dumas bis drei gezählt, da stürzt Madame de Liniers aufgelöst in den Raum, ruft, es gebe einen »zweiten Negeraufstand«, und fleht ihren Mann an, doch nachzugeben, damit ihnen nicht dasselbe geschehe wie ihren Eltern auf Santo Domingo. Dumas stutzt und begreift dann, was damit gemeint war: Sein krauses Haar, seine in den drei Tagen der Julirevolution gebräunte Haut und sein leicht kreolischer Akzent haben Madame glauben machen, er sei ein »Neger«, und die Erinnerung an den grausamen Tod ihrer Eltern beim Aufstand auf Haiti (damals Santo Domingo) geweckt. Madame de Liniers umschlingt die Knie ihres Mannes und fleht ihn an, er solle nachgeben. Dumas erhält das Pulver. Nachdem diese Version im Februar 1853 in La Presse publiziert wurde, meldete sich der Sohn des Kommandanten de Liniers bei der Zeitung und beklagte sich, dass die Darstellung seines Vaters unangemessen sei. Sein Vater habe bereits vor dem Erscheinen Dumas’ mit dem Unterpräfekten ausgemacht, dass das Schießpulver der Nationalgarde übergeben werden sollte, falls diese es wünschte. Demnach wäre alles viel undramatischer abgelaufen, als Dumas es erzählt hat. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Auch wenn Dumas seine Memoiren nicht als Autobiografie konzipiert hat, dienen sie natürlich auch der Selbstdarstellung und der eigenen 71

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Legendenbildung. Es geht hier nicht darum nachzuweisen, dass Dumas gelogen hat. Wie man sieht, ist er sehr geschickt darin, die Dinge auf eine packende Weise zu dramatisieren, indem er zeitliche Fristen einfügt, Konflikte auf die Spitze treibt und für theatralische Momente wie das Einschreiten der Madame de Liniers sorgt, das sich nur in den Memoiren findet und so gut zur Szene passt, dass es wenn nicht erfunden, so doch wenigstens aus den Reaktionen der Gattin abgeleitet sein könnte. Denn gewiss war sie erschrocken und blickte ängstlich auf ihren Mann, als Dumas die Waffe zog. Daraus ließ sich diese Szene leicht entwickeln. Besonders interessant ist dabei das Selbstbild, das Dumas von sich kreiert. Wenn es einerseits auch heroisch ist, so bricht er dies doch immer wieder mit Bescheidenheitsbekundungen oder wie hier mit der humorvollen Einlage, dass Madame de Liniers ihn für einen »Neger« hielt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er mit einem kreolischen Akzent gesprochen hat, und es wird auch sonst nirgends erwähnt, denn abgesehen davon, dass er nie in der Heimat seines Vaters war, wuchs er in der Familie seiner Mutter auf, in der niemand einen kreolischen Spracheinschlag hatte. Wie man sieht, geht es Dumas also nicht darum, gegen rassistische Diskriminierung zu wettern. Er nutzt seine körperlichen Merkmale vielmehr dazu, um sich selbst zu exotisieren. In der Zwischenzeit nahmen die Dinge in Paris ihren Lauf. Die unterschiedlichen politischen Kräfte arbeiteten daran, die Situation in ihrem Sinne zu lösen. Republikaner wie Dumas hofften d ­ arauf, dass die provisorische Regierung den Weg für eine zweite Republik bahnen würde. Doch schon in jenen Tagen wurde eine ­Intrige gesponnen, die den Herzog von Orléans zum neuen König machen sollte. Am 30. Juli begab sich der einflussreiche Historiker und P ­ ublizist ­Adolphe Thiers nach Neuilly, wo der Herzog im Sommer residierte, um ihn dazu zu bewegen, König zu werden. Louis-Philippe galt als Mann der Revolution. Sein Vater war Jakobiner gewesen und hatte 1793 für die Hinrichtung von Ludwig  XVI. gestimmt. Er selbst hatte in der Revolutionsarmee gedient und an den Schlachten von Valmy und ­Jemappes teilgenommen. Am 31. Juli dann zeigte sich Louis-Philippe auf dem Balkon des Pariser Rathauses zusammen mit La Fayette, der 72

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in eine Trikolore gehüllt war, und ließ sich vom Volk bejubeln und damit legitimieren. Seinem Cousin Karl X. gegenüber spielte er ein geschicktes Manöver und behauptete, in diese Rolle gedrängt worden zu sein. Karl  X. wiederum unternahm letzte Versuche, sein Königreich zu retten. Als Erstes zog er die Verordnungen wieder zurück. Als er merkte, dass dies nicht ausreichte, dankte er am 2. August ab und gab die Krone an seinen erst zehnjährigen Enkel Henri weiter. Bis zur Regierungsfähigkeit Henris sollte Louis-Philippe als Regent die Staatsgeschäfte führen. Der aber hatte bereits andere Pläne und hoffte darauf, dass Karl möglichst bald das Land verlassen würde. Als eine Gruppe von Demonstranten nach Rambouillet zog, wo Karl sich aufhielt, ergriff dieser dann tatsächlich die Flucht nach Cherbourg und ging von dort ins Exil nach England. Jetzt war der Weg für Louis-Philippe endgültig frei, denn auch die Republikaner waren ausgespielt worden. Am 9. August wurde er vereidigt, und damit begann die Julimonarchie, die achtzehn Jahre später selbst wieder durch eine Revolution hinweggefegt werden sollte. Für Dumas waren mit dieser Entwicklung sowohl Enttäuschungen als auch neue Hoffnungen verbunden. Enttäuscht war er, weil sich die orleanistische Intrige durchgesetzt hatte. Zugleich rechnete er sich Chancen auf einen Posten in der Politik aus und schrieb dies stolz Mélanie: Mein Engel, mein Schatz, es ist vollbracht. Wie ich es dir zwanzigmal vorausgesagt hatte, hat unsere Revolution nur drei Tage gedauert. Ich hatte das Glück, dabei eine so aktive Rolle zu spielen, dass La ­Fayette und der Herzog von Orléans auf mich aufmerksam geworden sind. Weiterhin hat eine Mission in Soissons, wo ich mich ganz allein eines Pulvermagazins bemächtigte, mein militärisches Ansehen endgültig gefestigt … Der Herzog von Orléans wird wahrscheinlich König werden.  … Du wirst verstehen, wie schwer es für mich ist, in diesem Augenblick Paris zu verlassen. Aber meine Sehnsucht nach dir ist so groß, dass ich bei der ersten Gelegenheit die Eilpost nehmen werde, sei es auch nur, um dich in den Arm zu nehmen … Für mich wird 73

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sich vieles ändern. In einem Brief kann ich dir zwar nichts darüber sagen, aber ich glaube, du darfst dir große Hoffnungen machen für deinen Alex … Wegen der aufregenden Ereignisse in Paris, seiner neuen Leidenschaft für die attraktive Belle, die einherging mit dem Erkalten seines Interesses an Mélanie, hatte Dumas in Wirklichkeit wohl nur wenig Lust, sich zu ihr nach La Jarrie zu begeben. Zugleich fühlte er sich seiner schwangeren Geliebten gegenüber jedoch auch verpflichtet und suchte nach einer Möglichkeit, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. So kam er auf die Idee, sich von La Fayette auf eine Mission in die Vendée schicken zu lassen, um dort die Möglichkeiten auszuloten, eine Nationalgarde aufzubauen. Damit konnte er zugleich seinen politischen Ambitionen weitere Wege eröffnen und sich beim König als ­loyaler Vertreter liberaler Werte profilieren. Im Prinzip eignete sich die ­Vendée durchaus dafür. Denn das ländlich geprägte Gebiet im mittleren Westen Frankreichs war nach der großen Revolution zwischen 1793 und 1800 der Schauplatz von wiederholten Aufständen geworden, die einer Gewaltspirale gehorcht und bürgerkriegsähnliche Ausmaße angenommen hatten. Die Hintergründe dafür lagen darin, dass die tief katholisch geprägte bäuerliche Landbevölkerung ihre Lebensweise durch die Revolution bedroht sah. Trotz oder gerade wegen der brutalen Unterdrückung des Widerstands durch die Revolutionsregierung sollte die Vendée weiterhin eine royalistische Hochburg bleiben. Bestand nicht auch jetzt wieder die Gefahr, dass sich dort reaktionäre Kräfte sammelten, um gegen die Julirevolution vorzugehen? Tatsächlich erhielt Dumas am 6. August eine schriftliche Mission und machte sich auf die Reise. Es ging über Blois, Tours und Angers nach Nantes, von wo aus er sich in die Vendée begab. Anstatt direkt La Jarrie anzusteuern, wo Mélanie auf ihn wartete, zog er es vor, zunächst noch einige Bögen zu schlagen und kleinere Ortschaften zu besichtigen. Dabei stellte er fest, dass der monarchische Geist weiterhin in dieser Gegend tief verwurzelt war. Nirgends sah man die Trikolore im Winde flattern. Stattdessen war die Erinnerung an den Widerstand 74

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und dessen grausame Unterdrückung nach 1793 sehr lebendig. Damit schätzte Dumas die Vendée als eine gefährliche royalistische Insel inmitten Frankreichs ein, in der Adel, Klerus und Bauern das Sagen hatten und liberale Bürger nur ein Fünfzehntel der Bevölkerung ausmachten. Die Rückständigkeit, wie er später in seinem Bericht schrieb, sei ein Produkt mangelnder Bildung und Information. Deshalb seien als Erstes infrastrukturelle Maßnahmen nötig, denn mit dem Straßenbau öffne sich die Vendée dem überregionalen Handel, in dessen Gepäck auch die Zivilisation Eingang finden würde. Der Aufbau einer Nationalgarde sei derzeit noch verfrüht. Neben dieser konkreten politischen Mission konnte er zugleich auf den Spuren des geliebten Vaters wandeln, der 1793 als Befehlshaber der Westarmee in die Vendée geschickt worden war und dort ebenfalls einen Bericht verfasst hatte, auch wenn es darin vor allem um den desolaten Zustand der dortigen Truppen ging. Für den Schriftsteller und Republikaner Dumas war die Vendée somit in vielerlei Hinsicht eine faszinierende Region, mit der er sich bereits in der Erzählung Blanche de Beaulieu auseinandergesetzt hatte. Der Bericht, den er nun für den neuen König verfasste, sollte 1831 auch in der Revue des Deux mondes publiziert und in Auszügen und umgearbeitet später noch in die Memoiren einfließen. Schließlich erreichte er La Jarrie und blieb gut einen Monat bei ­Mélanie. Als er ihr von seiner Affäre mit Belle erzählte, spitzte die ­Situation sich zu. Dumas beteuerte zwar immer wieder, dass er Belle verlassen wolle, in Wirklichkeit aber schmiedete er am 4. September ein kleines Komplott, um einen Vorwand zu erhalten, möglichst schnell wieder nach Paris zurückzukehren. Er bat seinen Freund ­Eugène Jamet, dass »mir sofort von Masson, dem Sekretär der ­Comédie-Française, geschrieben werde, dass meine Anwesenheit wegen Antony unabdingbar sei. Sprechen Sie mit niemandem darüber, Sie dürften erraten, warum es so aussehen soll, dass ich zur Abreise gezwungen werde.« Da war wieder Dumas’ Egoismus in Liebesdingen, der nicht bereit war, Verantwortung zu übernehmen, sondern allein nach seinen Neigungen und Ambitionen handelte. Als Mélanie am 18. September eine 75

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Fehlgeburt hatte, dürfte er bei aller Trauer auch erleichtert gewesen sein. Wenige Tage später, am 22. September, reiste er ab. Nachdem er seinen Bericht abgeliefert hatte, erhielt er tatsächlich eine Audienz beim König. Der jedoch hielt die Vendée für komplett befriedet und sah keine Anzeichen für einen Aufstand. Dumas schätzte dies anders ein und erläuterte ihm seine Maßnahmen, um den rückständigen Landstrich zu modernisieren. Daraufhin versetzte der König Dumas’ politischem Ehrgeiz einen empfindlichen Dämpfer und kommentierte, dass er doch bei seinen Dichtungen bleiben und das traurige Geschäft der Politik Königen und Ministern überlassen sollte. Das tat weh. Dumas zog die Konsequenzen und kündigte seine Stelle als Bibliothekar im Hause Orléans. Im historischen Rückblick sollten beide Meinungen jedoch nicht ganz falsch liegen. Louis-Philippe hatte recht, dass die Vendée keine aktive Rolle mehr im Widerstand spielen würde, Dumas’ Sorgen hingegen wurden dadurch bestätigt, dass es 1832 der Herzogin von Berry gelang, Truppen in der Vendée zu mobilisieren, um die Thronansprüche ihres Sohnes Henri, des Enkels von Karl X., durchzusetzen. Immerhin erhielt Dumas als Auszeichnung das »Julikreuz«, einen Orden, der speziell für den Anlass der Revolution geschaffen wurde. Seine politischen Ambitionen waren damit zwar keinesfalls befriedigt, wie sich noch zeigen sollte, aber jetzt widmete er sich wieder der ­Literatur. Denn die Revolution hatte den Weg frei gemacht für die Aufführung von Antony, die einer seiner größten Theatererfolge werden sollte.

Der »kühnste« der romantischen Dichter

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r werde Belle verlassen, das versprach Dumas Mélanie nochmals auf dem Rückweg nach Paris in einem Brief vom 22. September. Allerdings deutete schon die Rücksicht, die er Belle dabei gegenüber walten lassen wollte, an, dass er innerliche Widerstände dagegen verspürte: »Es wird aber einige Tage brauchen, nachdem ich freund76

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schaftliche Beziehungen zu ihr aufgebaut habe, um ihr die Gründe für unsere Trennung zu erklären – aber sie wird stattfinden, mein Engel, egal wie sehr und wie lange sie weint; ihre Arbeit am Theater wird sie schon trösten.« Am Ende des Briefes versucht er, wieder mit Mélanie zu turteln, und schickt dem »Kätzchen« und den beiden »nénets« einmal mehr tausend Küsse. Aber die Intimität ist gebrochen, Mélanie streicht die Wörter wütend durch. In seinen nächsten Briefen versuchte er das Vertrauen wiederherzustellen und Mélanie über die Fehlgeburt hinwegzutrösten, indem er ihr ein weiteres Kind versprach, das Antony heißen sollte. Von Belle, die weiterhin ihrem Engagement in Rouen nachging, hatte er angeblich keine Neuigkeiten. Wenn das stimmte, dann wusste Dumas noch nichts davon, dass auch Belle schwanger geworden war. Anfang Oktober kam es zu einer weiteren Aussprache zwischen den beiden, und Dumas behauptete Mélanie gegenüber, er habe sich endgültig von Belle getrennt. Dann träumte er wieder von dem gemeinsamen Sohn Antony, der beide, seine »Mélalex« und ihn, für immer verbinden werde. Offenbar wusste Dumas nicht, was er in dieser Situation tun sollte, und lavierte zwischen den beiden selbst geschaffenen Fronten, ohne eine Entscheidung zu fällen. Für Mélanie war es zweifellos eine schreckliche Zeit, vor allem, als sie von der Schwangerschaft Belles erfuhr, so dass sie Ende November eine Art Testament aufsetzte, in dem sie alle Briefe, eine Kette, einen Ring und verschiedene Gedichte von Dumas zurückforderte und festhielt, man solle ihr dies im Falle ihres Todes mit ins Grab legen. Dumas’ Unschlüssigkeit zog sich hin. Da Mélanie merkte, dass er sich keineswegs von Belle getrennt hatte, flehte sie ihn nun an, er solle ihre Beziehung nicht wegen der erneuten Vaterschaft aufgeben, und drohte, sie würde sterben, wenn er sie verlasse. Das alles klingt furchtbar dramatisch, und der Trennungsschmerz Mélanies soll hier nicht infrage gestellt werden. Dennoch entsteht im Rückblick der Eindruck, dass die Gesten und dramatischen Briefe auch einen literarischen und romantischen Charakter hatten, denn Mélanie sollte glücklicherweise nicht daran sterben, sondern Dumas 77

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sogar noch überleben und selbst eine erfolgreiche Schriftstellerin werden. Im Februar 1831 kam es zu einer heftigen Begegnung zwischen ­Mélanie und Belle, die auch das Verhältnis zu Dumas abkühlte, der zu Mélanie auf Distanz ging. Am 2. März schrieb sie ihm, dass endgültig alles zwischen ihnen aus sei: »Sie haben alles zerbrochen. Die Untreue konnte ich verzeihen, aber Lüge und Heuchelei nicht … Adieu Alex, adieu, Sie haben mir ein Leben aus Schmerz und Reue bereitet, mir, die ich Ihnen nie ein Leid zugefügt habe, mir, deren einziger Fehler es war, Sie so zu lieben, wie niemand auf der Welt Sie lieben wird. Sie aber lieben mich nicht mehr. Warum sollte man das leugnen?« Drei Tage später gebar Belle eine Tochter, Marie-Alexandrine Dumas, die von Vater und Mutter am 7. März anerkannt wurde, ein für die kleine Marie wichtiger rechtlicher Schritt. Offenbar veranlasste dies Dumas, endlich auch seine Vaterschaft des nun siebenjährigen Alexandre anzuerkennen. Damit war er ab jetzt der Vormund des Jungen, da Mütter in diesem Fall rechtlich eine inferiore Stellung innehatten. Als Erstes nahm er den Sohn aus der Obhut der Mutter und steckte ihn in die Pension Vauthier, wo er Erziehung und Bildung erhalten sollte. Obwohl die kleine Marie von Geburt an anerkannt war, sollte sie im ersten Lebensjahr nur wenig Umgang mit den Eltern haben, die zu eingespannt waren, um sich um das Neugeborene zu kümmern. Marie wurde daher einer Amme übergeben, so dass Belle ihren ­Engagements nachkommen und Dumas die Proben zu Antony vorantreiben konnte. Eigentlich sollte Antony in der Comédie-Française gespielt werden, aber Dumas merkte schon bald, dass die Arbeit daran stockte. Die Schauspieler verlangten derartige Kürzungen, dass von den fünf Akten nur noch drei übrig geblieben wären. Auf den Rat von ­Victor Hugo hin zog er das Stück zurück und bot es dem Theater ­Porte-Saint-Martin an. Er war mit der ersten Schauspielerin des Hauses, Marie Dorval, gut befreundet und las zunächst ihr das Stück vor. Man einigte sich, dass sie und ihr Kollege Bocage die beiden Hauptrollen besetzen würden, was sich als Glücksfall herausstellen sollte. 78

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Die Proben begannen, und die Premiere wurde auf den 3. Mai 1831 festgesetzt. Antony dreht sich um den Titelhelden, der wegen seiner unehelichen Herkunft diskriminiert wird und auf seine große Liebe Adèle verzichtet. Als er nach mehreren Jahren Abwesenheit wieder auftaucht, ist Adèle mit einem Militär verheiratet und hat eine kleine Tochter. Antony aber liebt sie noch immer und bedrängt sie, die ihm ständig auszuweichen versucht, obwohl sie ihn, wie sich bald herausstellt, auch noch liebt. Antonys Leidenschaft jedoch überwindet alle Hürden, es gelingt ihm mit List und Tücke, Adèle in einem Gasthaus zu überraschen und sie ins Bett zu zerren, wobei er sie mit einem Taschentuch daran hindert, um Hilfe zu rufen. Obwohl die Affäre geheim gehalten werden soll, ist die höhere Gesellschaft bald davon im Bilde. Als plötzlich Adèles Ehemann nach Hause kommt, will Antony mit ihr und ihrer Tochter fliehen. Aber es ist zu spät. Um ihre Ehre zu retten, ersticht er sie auf ihren Wunsch in dem Moment, als ihr Mann ins Zimmer stürmt, wirft den Dolch zu Boden und sagt: »Elle me ­résistait je l’ai assassinée.« Ich zitiere auf Französisch, weil Dumas den letzten Satz seines Prosastückes als Alexandriner und damit rhythmisch besonders eindringlich gestaltet hat. Im Deutschen lassen sich daraus zwei jambische Dreiheber machen, wie etwa »Sie hat mir widerstanden, ich hab’ sie umgebracht!« Das ganze Stück scheint auf diesen Liebesmord hinauszulaufen, in dem der Liebhaber seine Geliebte erdolcht, um ihre Ehre zu retten – eine ebenso grausame Tat wie heftige Anklage der sozialen Konventionen und Ordnung. Wie würde das Publikum darauf reagieren? Dumas saß in einer Loge im Parterre und konnte die Wirkungen genau beobachten. Bei der letzten Szene »stieß man im Saal vor Schreck, vor Entsetzen und vor Schmerz solche Schreie aus«, schreibt er in den Memoiren, »dass vielleicht ein Drittel der Zuschauer die letzten Worte kaum verstehen konnte.« Den Schauspielern sei frenetisch applaudiert worden, und als man ihn als Autor auf die Bühne gerufen habe und er sich aus seiner Loge erhob, sei ein Haufen junger Leute auf ihn gestürzt, um ihn zu drücken und zu berühren, wobei sein Gehrock zerrissen wurde, weil jeder einen Fetzen als Reliquie davon mit nach Hause nehmen wollte. 79

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Klingt das nicht reichlich überzogen und nach einer verherrlichenden Selbstdarstellung in den Memoiren? Offenbar hat Dumas hier keineswegs übertrieben, denn auch der Autor und Kritiker Théophile Gautier war bei der Premiere anwesend und beschrieb die Stimmung in ähnlichen Tönen: »Es war ein Abend, dem keine Übertreibung gerecht werden könnte. Der Saal tobte, man applaudierte, man schluchzte, man weinte, man schrie. Die brennende Leidenschaft des Stückes hatte alle Herzen entflammt. Die jungen Frauen verehrten Antony, die jungen Männer hätten sich für Adèle d’Hervey eine Kugel in den Kopf gejagt. Die moderne Liebe war von den Figuren großartig eingefangen worden, denen Bocage und Madame Dorval eine außerordentlich intensive Lebendigkeit verliehen.« Antony wurde in den folgenden Tagen von allen größeren Zeitungen in Paris besprochen. Einig war man sich lediglich darin, dass die schauspielerische Leistung von Marie Dorval und Bocage herausragend gewesen sei, ansonsten gingen die Meinungen weit auseinander. Der Figaro und der Moniteur universel hielten das Stück für ein Paradebeispiel der noch jungen französischen Romantik und sahen dessen dramatische Qualität in seiner Heftigkeit und dem finalen, inno­vativen Schockeffekt. Und der Moniteur universel erkor Dumas sogar zum »ersten« und »kühnsten« Dichter der romantischen Schule. Gerade an dieser Intensität wiederum störte man sich im Le Constitutionnel und hielt Antony für »nervöse«, ja für »epileptische Literatur, die bis ins Sublime der Tollwut hineingesteigert« sei. Die Aussageabsicht des Stückes sah man in einem Aufschrei gegen die Stigmatisierung von unehelichen Kindern. Das aber, so waren sich mehrere Kritiker einig, sei eigentlich ein Anachronismus. Der Corsaire zweifelte, ob ein Bastard wirklich noch ein Paria der Gesellschaft sei, und Großkritiker Jules Janin dozierte im Le Journal des ­débats, dass heute niemand mehr ein solch spätmittelalterliches Vorurteil pflege, weil die Gleichheit längst umgesetzt sei und Tugend und Talent allein über die Ungleichheit entschieden. Man müsse geistig schon, polterte er, ziemlich naiv sein, wenn man dies erneut beweisen wolle. 80

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Die royalistische Zeitung La Quotidienne, die katholische Moralvorstellungen vertrat, hielt Antony für gefährlich, weil es in jedem seiner fünf Akte Verbrechen auf die Bühne bringe – Verführung, Vergewaltigung, Ehebruch, Entführung und Mord – und die Schuld dafür der Gesellschaft in die Schuhe schiebe und eben nicht das Individuum Antony zur Verantwortung ziehe. Antony werde als Bastard zum Opfer der Gesellschaft hochstilisiert und habe daher das Unglück, so kommentierte man ironisch, ein Verbrechen zu begehen. Man empörte sich darüber, dass obszöne Handlungen wie diejenige Szene, in der Antony in Adèles Zimmer eindringt, ihr mit einem Taschentuch den Mund zuhält und sie offenbar zum Bett zerrt, auf der Bühne gezeigt würden. Das Stück sei eine »Apotheose des Ehebruchs« und trachte danach, die »soziale Ordnung umzustürzen« und die »sozialen Prinzipien verächtlich zu machen«. Alles in allem: Das Stück polarisierte, und das war einerseits die beste Werbung, die man sich denken konnte, aber andererseits auch ein Ausdruck für die tiefe Spaltung der Gesellschaft in Liberale und Konservative, die mit der Französischen Revolution entstanden war. Vor allem der Beitrag aus La Quotidienne bringt die grundsätzlichen Unterschiede im Denken beider Gruppen auf den Punkt: Im Sinne der katholischen Moral besaß das Individuum einen freien Willen, daher war nicht die Gesellschaft, sondern Antony allein schuldig. Die Liberalen hingegen waren mit Rousseau davon überzeugt, dass das Individuum von Natur aus gut sei und durch die Zivilisation korrumpiert werde, daher war Antony für sie das Opfer einer ungerechten Gesellschaft, die auf Vorurteilen und daraus entstehenden Privilegien basierte. Allerdings wäre diese Debatte sinnlos, wenn Antonys Diskrimi­ nierung als Bastard tatsächlich ein Anachronismus gewesen wäre, wie einige Zeitungen behaupteten. Zur Zeit der Restauration war zweifellos weder das Wort bâtard (›Bastard‹) so beleidigend noch das Schicksal unehelicher Kinder so hart wie im Ancien Régime. Dennoch ist zu bedenken, dass nicht anerkannte uneheliche Kinder – wie Antony – weiterhin einen rechtlich höchst prekären Status hatten. Dumas selbst weist diese Kritik daher in seinen Memoiren zurück und nennt als 81

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prominentes Beispiel den unehelich geborenen Émile de Girardin, Gründer der Zeitung La Presse, der den Namen seines Vaters erst mit 21 Jahren tragen konnte und immer wieder wegen seiner außerehelichen Geburt angefeindet worden war. Antony stellte einen Meilenstein in der Geschichte der französischen Romantik dar, die sich auf der Bühne nun endgültig ihren Platz erobert hatte. Neben dem liberalen Gehalt des Stückes spielten zweifellos die provokative Freizügigkeit und Gewalt die zentrale Rolle für die neue Ästhetik, die das Publikum eben nicht mehr verschonte, wie es in der Klassik der Fall war. Das Stück wurde über hundert Mal am Porte-Saint-Martin aufgeführt, und sein Erfolg machte aus Dumas für lange Zeit den »Autor von Antony«. Mit seinem weiteren Erfolg war Dumas neben Victor Hugo zur Speerspitze der neuen literarischen Schule geworden und hatte zunächst seine finanziellen Engpässe überwunden. Mélanie hatte indes offenbar die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, ihren Geliebten zurückzugewinnen, und näherte sich ihm freundschaftlich. Sie erhielt Mitte Mai dann jedoch von Belle einen »unverschämten und dummen Brief«, wie sie es ausdrückte, der sie befürchten ließ, dass ihre Rivalin sich an ihren Mann wenden würde. Anfang September schickte sie Dumas einen langen, mehrmals überarbeiteten Brief, indem sie ihm in versöhnlichem Ton ein letztes Mal ihre Trauer und Gefühle schilderte. Danach brach der Kontakt ab, sollte aber im Werk beider noch Nachwirkungen haben. Mélanie Waldor begann eine beachtliche schriftstellerische Laufbahn, deren Anfänge deutlich unter dem Einfluss der gescheiterten Beziehung mit Dumas standen. 1841 schrieb sie das erfolgreiche Beziehungsdrama L’école des jeunes filles (Die Schule der jungen Frauen), das sich als Analyse von Dumas’ Künstlerseele lesen lässt. Der erste Akt beginnt im August 1830 in der Vendée, und schon damit sendet sie ihrem ehemaligen Geliebten die deutliche Botschaft, dass es um ihn geht. Die weibliche Hauptfigur heißt Adèle, wie diejenige aus Antony, und wird mit einer Rivalin konfrontiert, die ebenfalls Adèle heißt, so wie es Mélanie mit Mélanie Serres, dem Künstlernamen Belles, ergangen war. 82

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Dumas erscheint unter der Maske des Malers Georges Savigny, der zunächst über beide Ohren in Adèle verliebt ist und den Gedanken nicht ertragen kann, dass sie ihren Cousin ehelichen soll. Seine Leidenschaft, die letztlich in Eifersucht und Egoismus gründet, reißt Adèle mit und lässt sie ihre Ehre aufs Spiel setzen, um mit ihm in wilder Ehe zu leben. Schon nach einem Jahr jedoch langweilt sich Georges mit ihr und bleibt immer öfter fort, weil er sich seine Freiheit zurückwünscht und bereits mit der anderen Adèle anbandelt, die seine Fantasie in Gang setzt und ihn seine Unabhängigkeit wiederfinden lässt: »Ach! Ich war nicht dafür geschaffen, ewige Bande zu ertragen, ich, das Kind der Laune, das oft abends nicht mehr erträgt, was ich morgens noch begehrte.« Für Adèle endet die Dreiecksbeziehung tragisch, sie geht an ihrem Leid zugrunde, denn »das größte Unglück für eine Frau« sei es, jemanden zu lieben, den sie nicht lieben sollte. Mélanies zentrale These lautet, dass Dumas’ Unbeständigkeit in Liebesdingen auch mit der Form seiner Kreativität zu tun hat, weil diese ständig neue Inspiration, Aufregung, ja im Grunde neues Begehren benötigt. Dies ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen, denn die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit seiner privaten Beziehungen spiegelt sich auch in der Heterogenität seines Werkes wider, die sich in den 1830er Jahren erst richtig entfalten sollte. Damit soll Dumas’ rücksichtsloses und egoistisches Verhalten nicht gerechtfertigt werden. Aber darin lag wohl der Preis, den die Kreativität ihm abverlangte. Denn wie Mélanie in ihren Gedichten festhielt, mussten nicht nur seine Partnerinnen darunter leiden, sondern letztlich auch er selbst, der sein Leben lang keine dauerhafte Partnerschaft entwickeln konnte. Mélanie wiederum trennte sich schließlich gütlich von ihrem Ehemann, lebte eine Zeit lang als arme Dichterin und konnte sich als regimetreue Autorin im Zweiten Kaiserreich etablieren. Wenn sie ihrem ehemaligen Geliebten allenfalls noch zufällig über den Weg lief, so blieb sie seinem Sohn Alexandre bis zu ihrem Tod freundschaftlich verbunden. Wenn Mélanies Charakteranalyse stimmte, dann würde auch Dumas’ Beziehung zu Belle nicht lange anhalten. Und so sollte es 83

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kommen. Aber was kümmerte das Dumas im Sommer 1831, der über allen Wolken schwebte und mit dem Rückenwind von Erfolg, Geld und einer schönen und energischen Frau an seiner Seite erst einmal das unternahm, was ihm neben Liebesdingen die meiste Inspiration schenkte: eine längere Reise. Trotz des Erfolgs von Antony konnte Dumas es sich nicht leisten, sich ausschließlich der politischen Entwicklung in der Hauptstadt zu widmen. Er musste bald wieder ein neues Stück liefern und suchte nach einem geeigneten Ort, an den er sich zur Arbeit zurückziehen konnte. Bei aller jugendlichen Liebe zur Hauptstadt, die ihn damals noch an Paris band, fühlte er stets auch Fernweh und die Lust, einfach ins Blaue hinauszufahren. Im Mai 1829 hat er diese Sehnsucht und sein Bedürfnis nach Freiheit in dem Gedicht Auf der Loire eingefangen, das ich für eines seiner schönsten halte und das so beginnt: Leinen los… im Mastwerk spielt ein leichter Wind, Das Schiff, es brummt, es dampft, es dreht geschwind Das Doppelrad, schäumt auf die Flut, Vom Ufer reißt’s sich los, ist bald schon fern, So wie ein starkes Pferd von seinem Herrn, Das wiehernd flieht im Übermut. Und ich fahr mit, allein zwischen den andern, Fremd und unbekannt. Wer weiß, wohin es wandert, mein unbeständiges Geschick. Kein Hoffen, Wünschen, auch kein Ziel, zu dem ich schreit’, Doch sorglos und vom eigenen Gesicht befreit, Bin ich der Herr von jedem Augenblick. Diesmal allerdings fuhr er nicht allein, sondern in Begleitung von Belle. Dumas’ Sehnsucht nach dem Meer ließ sie am 6. Juli in Richtung Le Havre aufbrechen. Dort angekommen, suchte er nach einem abgelegenen und preiswerten Ort, an dem sie vier Wochen verbringen konnten. Sein Freund Paul Huet, der heute zu den bedeutendsten französischen Landschaftsmalern der Romantik gezählt wird, hatte 84

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ihm von einem fast unberührten Flecken namens Trouville an der Mündung des schmalen Flusses Touques vorgeschwärmt. Das schien ein passender Ort zu sein. In Honfleur heuerten sie ein kleines Segelboot an, das sie in dreieinhalb Stunden bei Ebbe nach Trouville brachte. Bei herrlichem Juliwetter genoss Dumas rechts von ihnen den endlosen Ozean und links den Blick auf die Steilküste, über der zahlreiche Vögel kreisten. Trouville, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum eleganten Badeort der Pariser Oberschicht entwickeln sollte, war 1830 noch ein kleines Fischerdorf mit 1400  Einwohnern. Es bestand aus Fischerhäusern am rechten Ufer der Touques, die sich zwischen zwei Hügeln ins Meer ergoss, so dass die Landschaft hier einen natürlichen Hafen bildete. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, wo sich heute Deauville erstreckt, gab es damals noch nichts anderes als Weideflächen, in denen man gut Schnepfen jagen konnte. Belle und Dumas wurden auf den Schultern der Matrosen ans Ufer getragen und fanden im Gasthaus von Mutter Oseraie eine so günstige Unterkunft mit Vollpension, dass die sparsame Belle ganz entzückt war. Es begannen nun vier Wochen Urlaub, in denen er all seine Nöte und Beschwernisse des letzten Jahres hinter sich lassen konnte: die Trennung von Mélanie, die aufregenden Ereignisse der Revolution und deren politisches Nachspiel, die zweite Vaterschaft, die Sorge um seinen Sohn und seine kranke Mutter, die notorischen Geldprobleme, die er in Paris viel deutlicher spürte, und natürlich den gehetzten Rhythmus der Hauptstadt selbst und den kreativen Druck, dem er ausgesetzt war. Am riesigen feinen Sandstrand von Trouville, auf dessen nassen Flächen sich die Sommersonne spiegelte, und auf den weiten Wiesen und Weiden, wo er täglich auf die Jagd ging, schwang er sich ein in die Abläufe des beschaulichen Dorflebens, das dem Wechsel der Gezeiten folgte. Mutter Oseraie servierte kräftige Eintöpfe, Koteletts von Salzwiesenlämmern, Seezungen, Hummer mit Mayonnaise, gebratene Schnepfen und Krabbensalat für nur 50 Sous – statt 20 Francs wie in Paris. Am frühen Morgen begann Dumas mit der Arbeit, gefrühstückt wurde um 10 Uhr, um 11 ging er auf die Jagd, zwischen 14 und 16 Uhr 85

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saß er am Schreibtisch, dann ging er schwimmen, um 17.30 Uhr gab es Abendessen, und anschließend machten Belle und er einen Spaziergang, um den Sonnenuntergang zu genießen und zu beobachten, wie die Boote heimkamen und die Frauen am Hafen mit ihren Körben die Fische in Empfang nahmen. Vor dem Schlafen dichtete er weiter und verfasste so, wenn es gut lief, an die hundert Verse am Tag. Sein neues Stück hieß Charles VII chez ses grands vassaux (Karl VII. bei seinen Großvasallen), eine Tragödie, die, wie er es Theaterdirektor Harel versprochen hatte, am Ende der Reise fertig sein sollte. Das Stück verbindet zwei Parallelhandlungen. Im Vordergrund steht die Trennung des Grafen von Savoisy von seiner unfruchtbaren Gemahlin, die sich in ihrer Liebe und Ehre so verletzt fühlt, dass sie den Grafen ermorden lässt und dann Selbstmord begeht. Daneben geht es, wie der Titel andeutet, um König Karl  VII., der angesichts der ­Bedrohung Frankreichs durch die Engländer endlich aus seiner Trägheit erwacht und in den Krieg zieht. Es überrascht, dass Dumas sich nach dem großen Erfolg seiner Prosastücke Heinrich III. und Antony ein Versdrama vornahm, umso mehr, als ihm das Dichten alles andere als leicht fiel. Offensichtlich war er weiterhin davon überzeugt, dass die hohe Theaterliteratur in Versen, konkret im klassischen Maß des Alexandriners, geschrieben zu sein hatte. Dabei schielte er sicherlich auch auf die Leichtigkeit, mit der sein Freund Victor Hugo Versdramen wie Marion de Lorme verfasste, die Dumas rückhaltlos bewunderte. Auch die Tatsache, dass Dumas, der Prosastücke im Notfall innerhalb von einer Woche schrieb, sich für die Verstragödie so viel Zeit und Ruhe nahm, deutet an, wie wichtig ihm das Stück war. Doch so fern von Paris zu sein schützte nicht davor, dass Paris zu ihm nach Trouville kommen konnte. Am 24. Juli, seinem 29. Geburtstag, wurde ein Schriftstellerkollege namens Beudin vorstellig, der mit einem Kollegen namens Goubaux unter dem Pseudonym ­Dinaux zusammenarbeitete. Beudin wollte Dumas für ein Drama namens Richard Darlington gewinnen, dessen packender Prolog auf Walter Scotts Erzählung The Surgeon’s Daughter (in: Chronicles of the ­Canongate, 1827) zurückging. Das klang verlockend. Dumas machte 86

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mit, bestand aber darauf, dass sein Name nicht genannt werden sollte, was deutlich machte, dass er Richard Darlington lediglich als Broterwerb ansah. Am 20. Oktober 1831 wurde Karl  VII. im Odéon uraufgeführt. Dumas fieberte dem Moment entgegen und sorgte sogar dafür, dass auch sein erst siebenjähriger Sohn Alexandre anwesend war. Das Stück wurde zwar kein Misserfolg, blieb aber weit hinter den Erwartungen Dumas’ zurück. Die Presse lobte vor allem den Stil des Autors, der sich im Vergleich zu seinen früheren Werken verbessert habe, man kritisierte jedoch einmütig, dass die beiden Handlungsstränge nichts miteinander zu tun hätten und sich gegenseitig störten. Auch nehme das Publikum keinen wirklichen Anteil an der tragischen Rache- und Eifersuchtsgeschichte um die Gräfin, weil man sich nicht mit den ­Figuren identifiziere. Obwohl Dumas insgesamt ein Achtungserfolg gelungen war, fühlte er sich offenbar enttäuscht, denn noch Jahre später, in einer 1838 erschienenen Buchausgabe, fügte er eine Einleitung hinzu, in der er argumentierte, dass die beiden Handlungsstränge in Wirklichkeit doch eine Handlung bilden würden. Die Kritik hat ihn offensichtlich tiefer getroffen, als man anhand der Pressereaktionen vermuten würde. Vielleicht hat dies auch damit zu tun, dass das in Kooperation verfasste und in relativ kurzer Zeit entstandene Drama Richard Darlington ein Riesenerfolg wurde. Wie Karl VII. drehte sich das Stück um eine Trennungsgeschichte, als verarbeite Dumas in beiden Fällen zugleich auch seine Schuldgefühle gegenüber Mélanie. Die biografischen Bezüge sind in Richard Darlington allerdings deutlich sichtbarer. Richard ist wie Antony ein talentierter Bastard, der unter der Diskriminierung der Gesellschaft leidet. Allerdings zehrt Richard nicht von romantischer wilder Leidenschaft, sondern ist besessen von seinem politischen Ehrgeiz und nutzt die bedingungslose Liebe der jungen Jenny eiskalt aus, um seinen sozialen Aufstieg zu machen. Kaum hat er sie jedoch geheiratet, kümmert er sich nicht mehr um sie. Als sich Richard schließlich eine bessere Partie bietet, die ihm den Eintritt in den Adel ermöglichen würde, versucht er alles, um Jenny wieder loszuwerden, und macht dabei nicht einmal vor einem Mord halt. 87

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Die Gleichgültigkeit, der Austausch der Frauen, die Gewalt und auch Richards beeindruckende rhetorische Fähigkeit, Jenny mit Worten zu manipulieren – all das deutet auf ein schlechtes Gewissen hin, dem hier in einer Art fiktionalen Selbstbezichtigung Abhilfe geschaffen wird. Selbstverständlich erschöpfen sich künstlerische Werke nicht in ihren biografischen Bezügen, aber ebenso gewiss ist, dass diese bei Dumas eine große Rolle spielen und ein wichtiger Anker sind, mit dem er sich fremde Stoffe persönlich aneignete. Das Stück, das am 10. Dezember im Porte-Saint-Martin Premiere feierte und wie vereinbart ohne die Nennung Dumas’ angekündigt worden war, begeisterte Publikum und Kritik gleichermaßen. Selbst der sonst so scharfe Kritiker Jules Janin vom Journal des débats war hingerissen: »Das Drama erstickt, es betrübt, ja zersetzt einem die Seele. Alles, was dort geschieht, ist schicksalhaft: Es ist ein trauriger, schrecklicher Albtraum. Der zersetzende und ganz moderne Ehrgeiz, dieses neue Laster, das in all seinem Verfall dargestellt wurde, hat etwas Infernalisches. … Über solche Dramen schreibt man keine Abhandlungen, man schaut, man lauscht und sitzt da mit offenem Mund, wachen Augen und Haaren, die einem zu Berge stehen.« Damit ging das Jahr 1831 für Dumas ironisch zu Ende: Sein ambitioniertes Versdrama Karl  VII. hatte enttäuscht, während die in Kooperation verfasste Auftragsarbeit ein Erfolg wurde. Er dürfte gelacht haben, falls er im Figaro vom 1. Januar 1832 gelesen hat, dass man ihm für die Zukunft das Talent der Autoren von Richard Darlington wünschte.

Die Affäre um den Turm von Nesle

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chon im Februar 1832 gelang Dumas der nächste Coup: Sein neues Ehebruchsdrama Teresa schloss an den Erfolg von Antony an. Darin debütierte eine junge und hübsche Schauspielerin namens Ida Ferrier, auf die Dumas schnell aufmerksam geworden war und mit der er noch im Laufe des Monats ein Verhältnis einging. Sie sollte in seinem Leben bald eine größere Rolle spielen.

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Die Affäre um den Turm von Nesle

Teresa machte Dumas endgültig neben Casimir Delavigne und Victor Hugo zu dem erfolgreichsten und bedeutendsten Dramenautor seiner Zeit. So unmoralisch man seine Stücke auch fand, so mussten selbst die schärfsten Kritiker eingestehen, dass er wie kein anderer ein dramatisches Talent besaß und seine Stücke das Publikum mitrissen, gerade weil sie kaum noch eine moralische Botschaft enthielten und sich ganz auf die Effekte konzentrierten wie schicksalhafte Wiederbegegnungen, radikale Handlungsumschwünge durch plötzliche Schwangerschaften, sexuelle Grenzüberschreitungen unter dem Gebot der Leidenschaft sowie grausame Tode durch blanke Waffen. Konservative Kritiker stellten resigniert fest, dass dieses Theater eben das Spiegelbild einer unmoralischen Zeit sei. Während La Quotidienne patriarchalisch beklagte, dass Väter und Ehemänner heutzutage gezwungen seien, zuerst allein ins Theater zu gehen, um zu prüfen, ob die Stücke für Töchter und Ehefrauen geeignet seien, erkannte Jules Janin im Journal des débats hingegen, dass Dumas zwei kulturhistorisch wichtige Erneuerungen gelungen waren: Er habe die Frauen als Wesen voller Leidenschaft auf die Bühne zurückgebracht und seine männlichen Helden wie Antony nach dem Vorbild der ­romantischen Jugend gestaltet. Beide Gruppen hätten ihn daher zu ihrem Autor erkoren und seinen Erfolg begründet. Damit brachte Janin deutlich zum Ausdruck, dass die Geschmacksverschiebung der Romantik im Kern ein Generationenkonflikt war: zwischen einem älteren Publikum mit traditionellen Werten und einem jüngeren und liberaleren, das sich Erregung und starke Emotionen ohne moralische Belehrung wünschte. Dabei bot Dumas zugleich auch den Frauen neue Identifikationsfiguren an, welche die weibliche Leidenschaft als irrationale und beunruhigende Kraft ernst nahmen. Diese Erneuerungen sollten wenig später ihren Höhepunkt in dem Stück La Tour de Nesle (Der Turm von Nesle) erreichen, das zusätzlich wegen eines Streites um dessen Autorschaft hohe Wellen schlug. Die Entstehung des Stücks ging zeitlich einher mit einer Choleraepidemie, die seit Langem ihre Schatten vorausgeworfen hatte. Die Infektionskrankheit, die meistens über verunreinigtes Wasser und 89

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Essen übertragen wird, war schon vor vielen Jahren in Asien ausgebrochen und immer weiter nach Westen gezogen. Nachdem sie 1823 Russland erreicht hatte, stieg in Westeuropa die Angst, die nächste Station zu werden. Doch Russland war groß und in der Vorstellung der Franzosen weit weg, auch wenn Nachrichten, dass es Cholera-Fälle in Sankt Petersburg gab, die Bedrohung immer wahrscheinlicher machten. Als dann russische Truppen im Februar 1831 als Reaktion auf den polnischen Novemberaufstand in Warschau einmarschierten, reiste die Krankheit mit und sprang schnell auf die anderen Europäischen Länder über. In Paris wurde der erste Cholera-Fall am 26. März 1832 registriert, am 7. April waren bereits über 1800 gemeldet. Die Krankheit sollte in den folgenden Monaten um die 19 000 Menschen das Leben kosten. Viel wusste man nicht über die bakteriell verursachte Cholera, und die Behandlungsmethoden waren höchst dürftig, nicht zuletzt, weil der Krankheitsverlauf ganz unterschiedlich ausfallen konnte, auch wenn er in der Regel mit starken Durchfällen begann. Dumas war von vornherein unmittelbar damit konfrontiert, weil in der Rue Chauchat, die an seinen Wohnort grenzte, ein Mann von der Cholera wie von einem Schlag getroffen worden und in wenigen Stunden verstorben war. Die Krankheit löste eine unheimliche Stimmung in der Metropole aus. Trotz herrlichen Frühlingswetters blieben die Boulevards leer, und nur die Leichenwagen zogen knarrend durch die Stille der Straßen. Was konnte Dumas Besseres tun, als sich in die Arbeit zu stürzen? Er nahm ein historisches Werk mit dem Titel Gaule et France (Gallien und Frankreich) in Angriff, in dem er die frühe französische Geschichte zusammenfasste. Abends traf er sich mit Künstlerfreunden wie dem erst 19-jährigen Klaviergenie Franz Liszt, dem Maler Louis Boulanger und mitunter auch Victor Hugo. Wenn Liszt, der sich nicht lange bitten ließ, in die Tasten griff, waren die Cholera und andere Sorgen schnell vergessen. Der Maler Josef Danhauser hat die Abende der romantischen Generation 1840 in einem Gemälde festgehalten, auf dem Liszt am Flügel sitzt und von Vertretern verschiedener Künste umgeben ist. Dumas sitzt ganz links auf einem Sessel neben George Sand. Hinter ihnen steht Victor Hugo. 90

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Dumas (ganz links) im Kreis der Romantiker (neben Victor Hugo, George Sand, Franz Liszt usw.)

Nach einem solchen Abend, und zwar konkret am 15. April, als sich Dumas auf dem Treppenabsatz von seinen Freunden verabschiedete, spürte er ein ungewöhnliches Zittern in seinen Beinen, dem er zunächst keine weitere Bedeutung schenkte. Als er sich dann im Spiegel sah, erschrak er darüber, wie blass er war. Kälteschauer durchfuhren ihn. Seine Hausangestellte Catherine rief entsetzt, dass er die ­Cholera habe. Bald fühlte er sich kraftlos, zog sich aus und legte sich hin. ­Catherine bat er um Zucker und Äther, aber in der Aufregung goss sie ein halbes Fläschchen davon in ein Glas, das Dumas in einem Zug hinunterstürzte. Er fiel sofort in Ohnmacht. Als er daraus erwachte, 91

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war er in Felle eingerollt, seine Füße lagen auf einer heißen Wärmflasche, und zwei Personen rieben mit Bettpfannen, die mit glühender Kohle gefüllt waren, seine Glieder. Die frühe Behandlung durch eine solche innere und äußere Hitzetherapie, so schlussfolgerte Dumas, habe ihn gerettet. Die Cholera sei nach wenigen Stunden überstanden gewesen, wobei er selbst jedoch stark geschwächt war und noch viele Wochen benötigte, um sich wieder ganz zu erholen. Nur wenige Tage später, wahrscheinlich am 11. April, stellte sich Theaterdirektor Harel bei ihm ein, um ihm von einem neuen Stück namens Der Turm von Nesle zu erzählen, das von dem jungen und noch unbekannten Autor Frédéric Gaillardet stammte. Die Schauspieler hatten es Ende März angenommen, sich aber Änderungen gewünscht. Mit der Überarbeitung hatte man den Kritiker Jules Janin betraut, der es zwar stilistisch verbesserte, selbst aber keine Erfahrung als Dramenautor besaß und das Projekt wieder abgegeben hatte. Harel suchte nun jemanden, der es in die richtige Form zu bringen verstand, und bat Dumas, dies zu übernehmen. Der Stoff war Dumas bereits bekannt und er hatte eigentlich wenig Interesse daran, das Stück zu überarbeiten, ließ sich schließlich jedoch unter der Bedingung überreden, dass sein Name nicht genannt werde, er aber die Option habe, das Stück in zukünftige Werkausgaben aufzunehmen. Harel, der einiges von Marketing verstand, war einverstanden mit der Anonymität und wollte lediglich auf dem Plakat hinter dem Namen von Gaillardet mit *** andeuten, dass es einen zweiten Autor gab. Dumas stimmte dem zu. Wenige Stunden später erhielt Dumas das Manuskript Janins und machte sich sofort an die Arbeit. Der ursprüngliche Autor Gaillardet erfuhr von dieser Wendung zunächst nichts, weil überraschend sein Vater verstorben war und er Paris für vier Wochen verlassen musste. Dumas erkannte sofort die Schwächen der ersten Version, die mit der Handlung begann, ohne die Figuren eingeführt zu haben. Mit seiner üblichen Schnelligkeit überarbeitete er das Manuskript in nur einer Woche, so dass das Stück bereits am 29. Mai seine Premiere feiern konnte. Der Turm von Nesle wurde ein schauriges Drama um Liebe, Sex und Verbrechen, in dem die Königin Marguerite gemeinsam mit ihren zwei Schwestern attraktive junge Männer, die neu in der Stadt 92

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sind, im Turm von Nesle erst verführen, dann umbringen und in die Seine werfen lässt, um ihren Ehebruch zu vertuschen. Die ruchlose Marguerite hat jedoch noch einiges mehr auf dem Kerbholz. Schon als junge Frau hatte sie einen geheimen Geliebten und wurde schwanger. Als ihr Vater dies bemerkte und sie ins Kloster stecken wollte, überredete sie ihren Geliebten, den Vater zu ermorden. Anschließend brachte sie Zwillinge zur Welt, die ebenfalls umgebracht werden sollten, dann aber ohne ihr Wissen ausgesetzt wurden. Diese Vergangenheit holt Marguerite nun wieder ein. Denn wie sich herausstellt, ist ihr Liebling am Hof ihr eigener Sohn, während sie den anderen in den Turm von Nesle gelockt hatte und ermorden ließ – allerdings ohne dass es zu inzestuösen Handlungen gekommen war. Auch der zweite Sohn wird noch im Turm von Nesle sterben. In ihre eigenen Intrigen verstrickt, werden die Verantwortlichen schließlich verhaftet. Wenn Antony schon als unmoralisch galt, so kann man sich leicht vorstellen, wie die konservative Presse auf ein Stück reagierte, das sich um Nymphomanie, Ehebruch, Vatermord, Kindesmord und Inzest in der königlichen Familie drehte. Dass der Inzest nicht vollzogen wird, hatte keine moralischen Gründe, sondern lag daran, dass es im Stück schlichtweg nicht dazu kam. Gaillardet und Dumas ließen dieses Tabu somit zwar äußerlich unberührt, aber der Gedanke daran und die Möglichkeit standen dem Publikum klar vor Augen. Das Besondere am Turm von Nesle lag aber nicht in der Darstellung solcher Transgressionen, die seit der Antike literarisch überliefert waren, sondern erstens darin, dass sie geballt auftraten und aus Marguerite zugleich eine Messalina, Iokaste und Medea machen, und zweitens, dass sie mit der französischen Geschichte verwoben waren. Denn die Handlung geht teilweise auf einen historischen Hintergrund zurück, und zwar auf den Ehebruch französischer Prinzessinnen im Turm von Nesle, der 1314 aufflog und zu den größten Skandalen in der Geschichte der Monarchie gehörte. Hinweise darauf fand Gaillardet in verschiedenen Quellen, eine der wichtigsten darunter war La vie des dames galantes von Brantôme. Der Turm von Nesle, der zu den Pariser Wehranlagen des späten Mittelalters gehörte, war 1665 abgerissen worden und konnte die Fantasie der Nachwelt daher umso 93

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mehr beflügeln. Er wurde bei Gaillardet und Dumas zum emblematischen und eindringlichen Motiv einer schaurigen Episode der französischen Geschichte, die Sex und Verbrechen auf spannende Weise miteinander kombinierte. Harel, der ein erstaunlich feines Gespür für den Publikumsgeschmack hatte, muss das Potenzial des Stoffes sofort erkannt haben. Die Romantik hatte sich als Ästhetik der jüngeren Generation etabliert und erreichte ein immer breiteres Publikum. Wenn man bedenkt, dass die Julimonarchie 1832 alles andere als gefestigt war und die republikanischen Kräfte noch im Juni in Paris Barrikaden errichteten, dann machte Der Turm von Nesle dem Publikum vielseitige Angebote. Man konnte es sich als Unterhaltungsstück der Schauerromantik anschauen, um die Alltagssorgen und die Choleraepidemie zu verdrängen, man konnte sich über den skandalösen Stoff empören wie Le Constitutionnel, der es für eine Ansammlung von Abscheulichkeiten hielt, man konnte es wie der Figaro mit Werken des Marquis de Sade vergleichen, aber zugleich dessen Spannung loben, man konnte wie La Quotidienne an der historischen Korrektheit der Handlung herumkritteln und es trotzdem zum »Meisterwerk des Grauens« ernennen. Und schließlich konnten Republikaner darin eine Kritik am moralisch verkommenen Adel lesen und die Aufführungen für politische Agitation nutzen, indem man im Theatersaal die Marseillaise sang. Aber all das erklärt noch nicht, dass der Turm von Nesle zu einem der größten Publikumserfolge des 19. Jahrhunderts avancieren sollte und neue Maßstäbe setzte. Selbst der Juniaufstand der Republi­kaner bremste den schier unaufhaltsamen Triumph des Stückes nicht, das schon mit den ersten zwanzig Aufführungen 60 000 Francs einspielte. Cafés und Kneipen blieben leer, und Ende Juni wurde bereits eine ­Parodie mit dem Titel Die Königin von Siam aus der Feder eines Herrn Gen-Gis-Kann aufgeführt. Mitte der 1850er kam der Turm von Nesle laut Aussage Dumas’ schon auf 800 Aufführungen und sollte ins kollektive französische Gedächtnis des 19. Jahrhunderts eingehen. An diesem bahnbrechenden Erfolg hatte auch Harel einen Anteil, der ganz bewusst einen werbeträchtigen Skandal um die Autorschaft des Stückes provozierte. 94

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Zur Überraschung von Gaillardet und Dumas waren nämlich die *** auf dem Plakat an die erste Stelle gerückt. Harel hatte sich nicht an die Abmachung gehalten und Gaillardet nach hinten verschoben – und damit zugleich die Neugier an der Frage geweckt, wer denn hinter den geheimnisvollen Sternchen stecken könnte. Als Dumas ihm gegenüber die Befürchtung äußerte, Gaillardet könne vor das Handelsgericht ziehen, rieb Harel sich bloß die Hände: »Lieber Freund, jetzt haben wir einen großen Erfolg; aber mit ein bisschen Skandal werden wir einen Riesenerfolg haben  … Wenn Herr Gaillardet Einspruch erhebt, haben wir unseren Skandal.« Und genau das tat Gaillardet. In den Tagen nach der Premiere konnte man in den Zeitungen mitverfolgen, wie der Streit sich entwickelte. Am 1. Juni brachte Le Figaro einen Brief von Gaillardet, der gegen die Sternchen protestierte und sich zum alleinigen Autor erklärte, und darunter gleich die Antwort von Harel, der behauptete, 19/20 des Stückes stammten von einem bekannten Ko-Autor, der aus besonderen Gründen anonym bleiben wollte, und dass »von der ursprünglichen Arbeit von Herrn Gaillardet nichts oder fast nichts übrig geblieben« sei. Am nächsten Tag konterte Gaillardet im Figaro mit einem Schreiben Dumas’, der namentlich nicht genannt wurde, in dem dieser höflich mitteilte, den Text nur geglättet zu haben, und Gaillardet der einzige Autor bleiben sollte. Am 3. Juni dann antwortete Dumas selbst (weiterhin anonym) im Figaro und bedauerte sehr, dass der junge Autor seine Höflichkeit missverstanden habe: »Ich habe das Werk von Herrn Gaillardet nicht einmal gelesen; das Manuskript blieb in den Händen von Herrn Harel und hat sie nicht einen Moment verlassen. Denn als ich zustimmte, das Werk anhand eines vorgegebenen Titels und Stoffs zu schreiben, befürchtete ich, unter den Einfluss der Vorversion zu geraten und dadurch den Schwung zu verlieren, den ich brauchte, um das Werk abzuschließen.« Mittlerweile war es ein offenes Geheimnis, wer hinter den Sternchen stand. Am 26. Juni tagte das Handelsgericht in dieser Angelegenheit und entschied, dass Gaillardet als Erster genannt werden sollte, und ordnete ein Bußgeld von 50 Franc pro Tag an, wenn Harel sich nicht daran halten würde. Doch damit nicht genug. Anschließend gab 95

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es eine erneute Auseinandersetzung wegen der Buchpublikation des Stückes, die Gaillardet auch für sich einforderte. Der ungeheure Erfolg, die werbeträchtige literarische Fehde, die gerichtliche Auseinandersetzung und weitere Streitereien hatten für einigen Wirbel gesorgt, den Dumas allerdings als sehr zweischneidig empfunden haben muss. Die Anonymität, auf die er solchen Wert gelegt hatte, war auf dem Marketing-Schachbrett Harels zum Bauernopfer geworden. Der Turm von Nesle war nach Antony ein weiteres Stück, das nicht nur die konservative Presse für skandalös hielt. Damit verfestigte sich das Image Dumas’ als eines »unmoralischen« Autors, der seinen Erfolg weniger aus der literarischen Qualität denn aus der Gewagtheit seiner Stoffe zog. Dumas liebäugelte aber weiterhin damit, als Dichter im klassischen Sinne anerkannt zu werden. Nun jedoch war er in eine Spannung aus kommerziell erfolgreichen Stücken einerseits und anspruchsvoller Literatur andererseits geraten. Da er finanziell auf den Erfolg angewiesen war und sich dies sein Leben lang auch nicht mehr ändern sollte, wurde diese Spannung zu einem Dauermerkmal seines Schaffens. Da die Anonymität verloren war, ärgerte es ihn, dass Gaillardet sich für den Hauptautor des Stückes ausgab. Zwar hatte er die ursprüngliche Idee dazu gehabt, es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Text und Struktur vor allem Dumas zu verdanken waren. Als er 1834 dann einen Beitrag Gaillardets im Musée des familles las, flammte seine Wut offenbar wieder auf. Gaillardet beschrieb darin auf verklärende Weise, wie ihm bei Sonnenuntergang auf dem Pont des Arts mit einem Buch in der Hand die Idee zu seinem ersten und zugleich besten Drama gekommen sei. Das konnte Dumas zwar letztlich gleichgültig sein, aber vor dem Hintergrund der Vorkommnisse reagierte er irrational und antwortete darauf mit einem längeren Beitrag, der ironisch damit begann, dass er das Stück nicht bei Sonnenuntergang, sondern unter dem Eindruck der Cholera verfasst habe. Den 25-jährigen Gaillardet umschrieb er durchgehend abwertend als den »jungen Mann« – Dumas selbst war 31 – und erläuterte schulmeisterlich, aber deswegen nicht weniger überzeugend, warum das Manuskript Janins, das er gelesen hatte, als Theaterstück nicht funktioniert hätte und grundlegend 96

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überarbeitet werden musste. Weiterhin erzählte Dumas genüsslich, wie Gaillardet bei den Proben erschienen sei und das Stück zunächst gar nicht mehr wiedererkannt habe. Dumas’ Brief wirkte auf Gaillardet wie eine Kriegserklärung, ein Duell schien angesichts dieser Spannung unvermeidbar zu sein. Im Musée des familles erschien ein Dossier, das beide Seiten mitsamt umfangreicher Dokumente zu Wort kommen ließ, während die Zeitschrift selbst sich eines Kommentars enthielt, die Streitigkeiten jedoch als abschreckendes Beispiel für junge Autoren hinstellte. In seinem Beitrag warf Gaillardet Dumas vor, die Dinge fehlerhaft und ungenau darzustellen, sich zum Komplizen von Harel gemacht zu haben, um einen Nachwuchsautor auszubeuten. Am 10. September bestellte die Kommission der Dramenautoren die beiden Kontrahenten zu sich ein, um den Streit zu schlichten. Doch Gaillardet lehnte eine solche Vermittlung ab. Die beiden beschlossen, sich am Mittag des 17. Oktober 1834 im Wald von Saint-Mandé zu duellieren. Diese dramatische Entwicklung bedarf eines Kommentars, weil hier die kulturhistorische Distanz besonders deutlich wird und das Verständnis des Falls behindert. Zivile Duelle stiegen während der Restauration stark an und sollten in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg eine hohe Konjunktur beibehalten. Die Gründe dafür lagen erstens in der breiten Militarisierung der männlichen Bevölkerung nach Revolution und Kaiserreich und dem damit verbundenen Zugang zu Waffen sowie den Kenntnissen im Umgang mit ihnen. Zweitens hatte Napoleon den adeligen Ehrbegriff, der nach der Revolution verpönt war, merito­kratisch umgedeutet. Das wichtigste Instrument dafür waren Auszeichnungen der von ihm selbst konzipierten Ehrenlegion, die neben dem sichtbaren Orden mit einem Ehrensold verbunden waren. Große Leistungen für die Nation machten von nun an die Ehre des französischen Mannes aus. Im Unterschied zum ständischen Adelsbegriff bedeutete dies nichts anderes, als dass jeder Mann grundsätzlich eine solche Ehre erringen konnte. Wenn die Ehre damit demokratisiert wurde, so hatte von nun an jeder Mann seine Ehre zu verteidigen. Zwar wurde das Duell aus Vernunftgründen von vielen kritisiert und im Grunde abgelehnt, dennoch sah man es als unvermeidlich 97

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und als notwendig an, um die Ehre eines Mannes dort wiederherzustellen, wo das Gesetz sie nicht schützte. Daher wurde das Duell von den Behörden toleriert, solange dessen Regeln eingehalten wurden. Mehr noch: Die Regeln zur ehrenhaften Durchführung von Duellen, die unter anderem der Graf von Chatauvillard 1836 in seinem Essai sur le duel festlegte, wurden von einer langen Reihe französischer Würdenträger, darunter zahlreiche Adelige, unterzeichnet und damit legitimiert. In der Affäre um den Turm von Nesle ist der Unterschied zwischen dem rechtlichen Schutz der Interessen und der privaten Verteidigung der Ehre deutlich erkennbar: Das Handelsgericht hatte nur die vertragsrechtlichen Verstöße von Harel verurteilt, der Konflikt um die Frage hingegen, wem die Ehre zukam, als Hauptautor zu gelten, war dadurch nicht befriedet worden. Der öffentliche Streit der beiden zeigt, dass die Ehre im Wechselverhältnis zum sozialen Ansehen einer Person steht und per se einen öffentlichen Charakter hat. Die Auseinandersetzung zwischen Gaillardet und Dumas im Medium der Zeitungen und Zeitschriften ist daher nicht einseitig als Werbestrategie für den Turm von Nesle misszuverstehen – obwohl das natürlich ein schöner Nebeneffekt war – sondern stellte die erste Phase der öffentlichen Verteidigung der Ehre auf beiden Seiten dar. Der Meinungsaustausch in der Öffentlichkeit barg jedoch das Risiko, dass eventuelle Anschuldigungen und Beleidigungen auch sofort ­öffentlich bekannt wurden und der Konflikt sich dadurch zuspitzte. Dies geschah durch den Schlagabtausch im Musée des familles, so dass als Lösung nur das Duell blieb. Dass Duelle zumeist an entlegenen Orten wie Wäldern stattfanden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine durch und durch öffentliche Angelegenheit waren. Dafür sorgten die Sekundanten, weitere anwesende Personen und eventuelle Protokolle, die aufgesetzt wurden, um den Verlauf des Waffengangs zu dokumentieren. Das Duell ist Ausdruck dafür, wie stark das Gefühl der Ehre wirkte, denn es war grundsätzlich für Männer jener Zeit eine untragbare Vorstellung, mit einer beleidigten Ehre weiterzuleben. Wobei hier einschränkend gesagt werden muss, dass der Tod im Duell zwar eine 98

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reale Möglichkeit war, aber keineswegs die Regel darstellte. Zwischen 1826 und 1834 sollen in Frankreich über zweihundert Männer im Duell ihr Leben verloren haben, eine statistisch gesehen geringe Anzahl. Die Satisfaktion, also die Wiederherstellung der Ehre, war im Prinzip schon dadurch erreicht, dass überhaupt ein Duell stattfand. Das Duell besaß somit zugleich eine formal-rituelle Funktion, um Konflikte möglichst zu begrenzen. Wie kann man ein aus heutiger Sicht scheinbar so irrationales ­Gefühl wie die Ehre verstehen? Der von Napoleon gefeierte Kult um die nationale Ehre hatte aus ihr einerseits ein Identitätsmerkmal der französischen Männer gemacht und sie andererseits mit ganz konkreten finanziellen Vorteilen verbunden. Der Ehrensold für Leistungsträger war nur dessen sichtbarster Ausdruck, die ökonomische Seite der bürgerlichen Ehre ging in Wirklichkeit viel weiter. Sie wirkte zuvorderst wie eine Garantie. Während heute Dokumente vorgelegt werden, die Sicherheit im rechtlichen und geschäftlichen Umgang geben sollen, schwor, versprach und bezeugte man im 19. Jahrhundert mit Verweis auf seine Ehre. Den Ruf eines Ehrenmannes zu haben bedeutete, vertrauenswürdig zu sein und in den gesellschaftlichen Verkehr aufgenommen zu werden. Der Verlust der Ehre konnte dementsprechend zu einem Ausschluss aus diesem Umgang führen und die Lebenschancen damit senken. Dieser ökonomische Kontext ist in der Affäre um den Turm von Nesle klar erkennbar, weil es letztlich um wirtschaftliche Interessen ging und die Kontrahenten ihren Namen als Schriftsteller, also ihren Handelswert, verteidigten. Das Duell fügte sich in diese Logik perfekt ein, da es große öffentliche Aufmerksamkeit genoss und somit den eigenen Namen bekannt machen konnte. Es ist daher nicht überraschend, dass sich Journalisten und Politiker besonders häufig duellierten. Dumas vereint gleich eine ganze Reihe von diesen Umständen: Das heroische Vorbild seines Vaters, eines Generals, seine Vertrautheit mit Waffen durch die Jagd, die Militarisierung der Gesellschaft während seiner Kindheit, die konkrete Erfahrung von Gewalt am Ende des Kaiserreichs und sein Name in der Öffentlichkeit als Faktor seines ökonomischen Erfolgs machen verständlich, dass er ein besonders 99

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ausgeprägtes Ehrgefühl entwickeln konnte. Die zahlreichen Duelle in seinen Texten, von denen das Mehrfachduell d’Artagnans aus den Drei Musketieren wohl das berühmteste ist, sind daher nicht einfach Fiktion, sondern eine literarische Verarbeitung eigener Erfahrungen und kulturhistorischer Bedingungen. Über sein Duell mit Gaillardet liegen zwei Hauptquellen vor, einmal dessen ausführliche Schilderung in den Memoiren und eine Gegendarstellung Gaillardets, der Dumas vorhält, viele Details romanhaft ausgeschmückt zu haben. Wiegt man beide Darstellungen gegeneinander ab, so könnte es folgendermaßen abgelaufen sein: Nachdem jeder Duellant zwei Sekundanten bestimmt hatte, nahmen diese die Verhandlungen auf. Die Sekundanten spielten beim Duell eine zentrale Doppelrolle. Sie hatten auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Fairness und Höflichkeit einerseits die Ehre ihres Duellanten zu schützen und andererseits für die beiderseitige Einhaltung der Regeln zu sorgen. Unter Berücksichtigung der Schwere der Beleidigung handelten sie die konkreten Bedingungen des Duells aus und entschieden auch darüber, wann ein Duell zu Ende war. Allerdings hatten sie nicht das Recht festzulegen, dass es mit dem Tod endete. Zunächst musste über die Wahl der Waffe entschieden werden. Üblich waren Degen oder Pistole. Dumas war mit beidem sehr geschickt, Gaillardet hingegen hatte noch nie einen Degen in der Hand gehalten und bestand auf der Pistole. Damit waren die Chancen etwas ausgewogener, denn die einschüssigen Duellpistolen waren nicht besonders präzise. Abgesehen davon wurde ein Pistolenpaar verwendet, mit dem keiner der Kontrahenten vertraut war. Mittags kamen die Duellanten mit ihren Sekundanten, dem Waffenburschen Philippe und Dumas’ Freund Bixio zusammen, der die ärztliche Versorgung übernehmen sollte. Gaillardet war ganz in Schwarz gekleidet, um Dumas möglichst wenig Anhaltspunkte beim Zielen zu bieten. Sie drangen in den Wald ein und fanden nach einigen ­Minuten eine gerade Allee ohne Sonneneinfall, die für ihr Vorhaben gut geeignet zu sein schien. Die Sekundanten legten daraufhin fest, dass ein Pistolenduell mit Vorrücken und freiem Schuss durchgeführt werden sollte. Das be100

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Dumas’ Duell mit Gaillardet

deutete, dass die Kontrahenten aufeinander zugehen und nach Belieben feuern durften. Man teilte den Raum in drei Felder von je fünfzehn Schritt Länge ein. Die Duellanten befanden sich jeweils in einem der beiden äußeren und konnten sich darin frei bewegen, während das mittlere nicht betreten werden durfte. Daher konnten sich die beiden bis auf fünfzehn Schritt einander annähern. Nachdem der Pistolenbursche die Waffen geladen hatte, zogen sich die Sekundanten und Bixio in den Wald zurück, während Dumas und Gaillardet ihre Plätze einnahmen. Das Duell wurde mit einem dreimaligen Klatschen in die Hände eröffnet. Daraufhin lief Gaillardet bis zur vorderen Grenze seines Feldes, während Dumas sich langsam auf ihn zubewegte und sich etwas schräg stellte, damit sein Gegner sich nicht an der geraden Linie des Weges orientieren konnte. Als Dumas zehn Schritte getan hatte, schoss Gaillardet, traf jedoch nicht. Nun lag es an Dumas. Anstatt noch weitere fünf Schritte an Gaillardet heranzugehen, blieb er aus Gründen der Ehre stehen, wo er war, und feuerte. Aber auch er schoss daneben. Dumas verlangte nun, dass die Waffen erneut geladen und das Duell erst mit dem Tod eines der 101

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­ eiden Duellanten endete, wobei Gaillardet offenbar zustimmte. Aber b die Sekundanten verweigerten dies und brachen das Duell ab, das für beide glimpflich ausgegangen war. Damit war die Sache erledigt. Dumas fuhr noch am selben Tag nach Rouen, wohin er als Vertreter der Dramenautoren zur feierlichen Einweihung einer Statue Corneilles eingeladen worden war. Diese sofortige Rückkehr in den Alltag deutet an, dass Dumas in kritischen Situationen ziemliche Gelassenheit und Nerven bewahrte. Es war auch nicht das einzige Duell, das Dumas in seinem Leben überstanden hat, aber es war dasjenige, das am meisten öffentliches Aufsehen erregte.

Romantische Reisebilder: Von Bärensteaks und Ex-Königinnen Reisen bedeutet Leben in der ganzen Fülle des Wortes; es bedeutet, die Vergangenheit und die Zukunft über der Gegenwart zu vergessen; mit voller Brust einzuatmen, alles zu genießen, die Schöpfung zu umfassen, als gehöre sie einem; in der Erde nach Goldminen, die noch keiner erschlossen, und in der Luft nach Wundern zu suchen, die noch keiner gesehen hat. Es bedeutet, hinter der Menge herzugehen und aus dem Gras Perlen und Diamanten aufzulesen, die jene, a­ hnungs- und sorglos wie sie ist, für Schneeflocken oder Tautropfen gehalten hat. Diesem tiefen Bedürfnis, das Dumas im zweiten Band seiner Impressions de voyage en Suisse (Reisebilder aus der Schweiz) beschreibt, gibt er im Sommer 1832 während eines dreimonatigen Aufenthalts in der Alpenrepublik nach. Mit knapp dreißig Jahren besuchte er damit zum ersten Mal das Ausland und machte sich auf eine Entdeckungsreise, die seine intellektuelle Reifung ein großes Stück weiterbringen und ungeahnte literarische Folgen haben sollte. Allerdings waren es nicht allein Reiselust, Bildungshunger und Rastlosigkeit, die ihn aus Paris hinaustrieben. Immer noch gezeichnet 102

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von seiner Choleraerkrankung, schien ein Aufenthalt in den Bergen gesundheitlich angeraten zu sein. Zugleich aber wollte er sich gewiss auch eine Zeit lang von der politischen Bühne verabschieden, auf die er während der Revolution und über sein offenes Bekenntnis zur Republik getreten war. Die brutale Unterdrückung der Unruhen und Aufstände Anfang Juni 1832 hatten gezeigt, dass sein ehemaliger Chef und jetziger König Louis-Philippe ebenso repressiv vorging wie das gerade überwundene Restaurationsregime, wenn es darum ging, seine Macht zu erhalten. Dumas war nicht nur tief enttäuscht, er war selbst in die Schusslinie geraten und wurde in einem Denunziantenbrief erwähnt, was zu seiner Verhaftung hätte führen können. In dieser heißen Phase war es ratsam, der Hauptstadt den Rücken zuzukehren und sich wieder ganz der Literatur zu widmen. Kaum ein Ort konnte all diese Bedürfnisse besser erfüllen als die romantische Schweiz, deren eidgenössischer Geist durch Schillers Wilhelm Tell populär geworden war, die Heimat Rousseaus, in die sich Voltaire, Mme. de Staël und kürzlich Chateaubriand zurückgezogen hatten. In Erwartung weiterer Einnahmen lieh Dumas sich Geld von seinem Freund Baron Taylor, verabschiedete sich von seiner Mutter, seinem Sohn Alexandre, der traurig in seiner Pension zurückblieb, der kleinen Marie, die bei ihrer Amme gerade zu laufen begann, und seiner Geliebten Ida. Am 21. Juli machte er sich in Begleitung von Belle über Montereau und Lyon auf nach Genf, wo sie am 31. ankamen. Von dort aus begann eine umfassende Rundreise durch die Alpen, die bis zum 20. Oktober andauerte. War sein Aufenthalt in Trouville im letzten Sommer von Ruhe, Zweisamkeit und Ortsgebundenheit bestimmt gewesen, so wurde die Schweizreise zum kompletten Gegenprogramm, das sich durch ständige Bewegung und zahlreiche Begegnungen auszeichnete. Denn Dumas hatte nicht vor, sich nochmals an Alexandrinern oder auch nur Prosadramen abzurackern. Er suchte nach Alternativen und wollte die Reise und alles, was er dabei lernen und erleben sollte, sogleich literarisch verarbeiten. Nun waren Reiseberichte an sich nichts Neues, die Art aber, wie Dumas seine Impressions de voyage anging, war innovativ und ­lediglich 103

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mit den ab 1831 erschienenen Reisebildern Heinrich Heines vergleichbar. Es entstanden kurzweilige Einzeltexte, die ab Februar 1833 in der Revue des Deux Mondes erschienen und ein großer Erfolg in den Salons wurden. 1834 folgte der erste Band der Buchausgabe, 1835 kam ein zweiter, und schließlich zogen sich die Reisebilder aus der Schweiz bis Sommer 1837 hin und wuchsen auf ganze fünf Bände an. Ihre anhaltende Popularität zeigt sich daran, dass sie bis Ende des Jahrhunderts wieder und zum Teil in illustrierten Ausgaben aufgelegt wurden. Sie erschlossen Dumas ein neues Publikum: die mit der steigenden Alphabetisierung ständig anwachsende Leserschaft von Prosatexten. In der Forschung standen und stehen die Reisebilder im Schatten seines späteren Romanwerks und werden häufig als eine Art Fingerübungen angesehen, in dem Dumas Stoffe und Erzähltechniken erprobte. Sie jedoch als bloße Übergangstexte zu verstehen, spricht ihnen nicht nur ihre Eigenständigkeit ab, sondern missachtet vor allem auch den großen Erfolg, den sie beim zeitgenössischen Publi­kum hatten. Die Reisebilder sind allein deshalb schon als eigenständiges Genre anzusehen, weil Dumas in den nächsten 25 Jahren noch viele weitere davon verfasste und alle unter dem Label der Impressions de voyage vereinte. Sie bilden einen stattlichen und nicht zu unterschätzenden Block im Gesamtwerk. Es ist zwar richtig, dass sie ihm zugleich auch als Steinbruch für spätere Texte dienten und sich Dumas hier seine eigenen Quellen schuf. Aber die Wieder- und Mehrfachverwertung gilt grundsätzlich für alle seine Werke und charakterisiert nicht allein die Reisebilder. Auch wenn sie auf zukünftige Texte mitverweisen, sollte man ihre lite­rarische Eigenständigkeit respektieren, zumal sie in besonders ­anschaulicher Weise Dumas’ Auffassung von Romantik verstehbar machen. Sie prägen weiterhin nachhaltig das Image Dumas’, weshalb die Reisebilder aus der Schweiz, aus denen jener Werkstrang ­gewachsen ist, im Folgenden eingehender betrachtet werden sollen. Zunächst einmal erfüllen sie ein autodidaktisches und romantisches Programm: Dumas hat einen unersättlichen Drang, sich alles, was er erfährt, sofort gestaltend anzueignen, worin zugleich ein Schlüssel zu seiner einzigartigen Produktivität liegt. Woraus schöpft 104

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er aber sein breites Wissen um die zahlreichen Daten, Hintergründe, Legenden und Anekdoten, die er in den Reisebildern zu Erzählungen formt? Laut eigener Aussage habe er alles mündlich von seinen Bergführern als lebendige Träger der Tradition erfahren: Diese zeitlosen Geschichten, die man vielleicht meiner Fantasie zuschreiben wird, weil sie in keinem Geschichtsbuch stehen und auf keinem Reiseplan verzeichnet sind, wurden mir alle, mal mehr mal weniger poetisch, von jenen Kindern der Berge erzählt, die mit ihnen in derselben Wiege lagen. Sie wiederum hörten sie von ihren Eltern, die sie von ihren Vorfahren hatten. Doch vielleicht werden sie sie nicht mehr an ihre Kinder weitergeben, denn von Tag zu Tag hält das ungläubige Lächeln des aufgeklärten Reisenden jene naiven Legenden ein wenig mehr auf ihren Lippen zurück, wo sie erblühen wie Alpenrosen am Ufer der Sturzbäche und am Fuße der Gletscher. Es ist kaum vorstellbar, dass die Führer all die Daten über die antiken Gründungen und etymologischen Bedeutungen der Eigennamen parat hatten, die Dumas in den Reisebildern ausbreitet. Dass er auch schriftliche Quellen benutzt haben muss, ist offensichtlich, aber darum geht es letztlich nicht. Das romantische Programm liegt darin, die Erzähltraditionen festzuhalten, weil sie vom rationalen Geist bedroht werden. Das bedeutet nicht, dem Rationalismus abzuschwören und selbst naiv zu werden, sondern die fantasievolle Schönheit der Legenden zu genießen, sie als lokale Tradition zu achten und zugänglich zu machen. Durch ihre Bindung an konkrete Orte wie Städte, Ruinen oder bestimmte Landschaften gehören sie zugleich zu einem historischen Erbe, das bewahrt werden soll. Dabei geht es Dumas allerdings keineswegs nur um Legenden, sondern um jeden kurzweiligen Stoff, seien es eigene Erlebnisse, zeitgenössische Anekdoten oder Verbrechensgeschichten, die von kleineren Betrügereien bis hin zu schaurigen Gewalttaten reichen. Alle zusammen machen aus der Lektüre der Reisebilder eine Abfolge von Überraschungen, da man nie weiß, was die nächsten Seiten bringen werden. 105

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

So zum Beispiel, als Dumas nach langem Fußweg ausgehungert in der Herberge von Martigny ankommt und ihm der Wirt ein Bärensteak anbietet. Da geraten Appetit und Neugier miteinander in Konflikt. Ob es genießbar sei?, will Dumas wissen. Wenn man davon probiert habe, versichert der Wirt, wolle man nie wieder etwas anderes essen. Jetzt sind die Erwartungen hoch, auch bei den Lesern. Doch bevor es zu Tisch geht, schaltet Dumas erst noch eine kleine Abhandlung über die stacheligen Schweizer Betten mit ihren viel zu kurzen Decken ein, die entweder die Füße oder den Kopf im Kalten lassen. Als es dann endlich so weit ist und ein enormes Filetstück vor ihm auf dem Teller liegt, bleibt Dumas weiterhin skeptisch, weil ihm Bilder von schmutzigen Bären mit Nasenring in den Sinn kommen, die träge zu Trommelschlägen tanzen. All das macht nicht gerade Appetit. Erst als der gespannte Wirt ihn ungeduldig anspricht, schneidet er ein olivengroßes Stück ab, das er vorsorglich tief in Buttersoße tränkt und dann in den Mund steckt … Dumas ist perplex und schneidet zur Sicherheit gleich ein zweites Stück ab. Das soll Bär sein? Das ist ja ­exquisit! Im Nu ist die Hälfte des Filets verspeist. Als der Wirt dann jedoch erwähnt, dass der Bär auf seinem Teller die Hälfte seines Jägers verschlungen habe, vergeht Dumas der Appetit schnell wieder. Aber das ist natürlich nur ein willkommener Anlass, um auch noch die Geschichte der tragischen Bärenjagd nachzuliefern. Die kleine, mit viel Humor erzählte Bärensteak-Episode gehörte bald zum festen Repertoire von Geschichten, die man mit Dumas verband. Sie zeigt exemplarisch, welch auffällige Bedeutung das Essen und das Gastronomische in den Reisebildern spielen. In der klassischen Tragödie war es untersagt, auf der Bühne Essen darzustellen, weil sich dies für ihre heroischen Hauptfiguren adeliger Abstammung nicht schickte. Lediglich die Komödie konnte mit ihrem Bauern- und Volkspersonal auch körperliche Prozesse wie Verdauung thematisieren. In der bürgerlichen Literatur der Romantik hingegen sind solche Grenzen aufgebrochen. Bei Dumas halten Essen und Körperlichkeit Einzug in die Prosa, und zwar in der für die Romantik typischen Vermischung der Ebenen. Ist das Gastronomische traditionell mit dem Komischen verbunden – was beim Bärensteak anfangs zutrifft –, so 106

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schlägt dies um, als Dumas erfährt, dass der Jäger dabei umgekommen ist. Auch noch den Tod auf das literarische Menü zu setzen, stellt aus Sicht der Klassik eine schwere Normverletzung dar. Es ist in der klassischen Ästhetik undenkbar, das Erhabene auf diese Weise mit dem Banalen zu verbinden. Für die Romantik hingegen entfaltet gerade die Mischung einen besonderen Reiz. Denn sie vermittelt nicht nur unbekannte Nuancen und Empfindungen, sondern entspreche, so lautet Victor Hugos These, auch der Wirklichkeit viel genauer, in der sich das Gute ständig mit dem Bösen verschränke. Was für die Einzelepisoden gilt, gilt genauso für die Gesamtkomposition der Reisebilder, in denen erhabene Legenden sich mit scheinbar banalen Erlebnissen abwechseln und einen aus Sicht der Klassik »brüchigen« Text hervorbringen, dessen Geschlossenheit ­infrage gestellt ist, weil sich jeder das herauspicken kann, was ihn gerade interessiert. Und wer von der antiken Gründungsgeschichte eines Ortes nichts wissen möchte, überspringt diese Passagen einfach. Die Heterogenität der Reisebilder erlaubt eine selektive Lektüre mit ganz unterschiedlichen Konzentrationsphasen. Wir ­nennen dies heute Unterhaltung. Zur Zeit Dumas’ hingegen war diese Heterogenität ein typisches Merkmal moderner Literatur. Wechselhaftigkeit, Asymmetrie und Unausgewogenheit, subjektive Passagen, das Neben­einander von Erhabenem und Nebensächlichem, all das widersprach den klassischen Prinzipien von Symmetrie, Harmonie, Ökonomie und Schicklichkeit. Uns erscheint Ästhetisches heute im Grunde als reine Geschmacksfrage und es wirkt eher befremdlich, wenn sich die alte und die neue Schule um scheinbar poetologische Fragen stritten. Nachvollziehbar wird dies nur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Ästhetik damals weitaus mehr als heute eine sittliche Dimension hatte. Inwiefern aber vermochten die Reisebilder das Moralgefühl eines Lesers zu verletzen? Ganz einfach schon dadurch, dass Dumas über sich selbst sprach und seine Alltagshandlungen thematisierte, als hätten sie irgend­eine Bedeutung. Daran stößt sich etwa der Autor und Kritiker Théodore Muret in La Quotidienne, weil dies für ihn gegen die Tugend der Bescheidenheit verstößt. In seinem Artikel vom 27. Januar 1837 reflektiert Muret kritisch über den, wie er es nennt, literarischen 107

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

»Egotismus« seiner Zeit eben am Beispiel von Dumas. Unter Egotismus versteht Muret nicht Egoismus, sondern die Tendenz der romantischen Autoren, sich selbst zu thematisieren, während die französischen Klassiker Corneille oder Racine nie über sich gesprochen hätten. Das sei zwar mittlerweile Usus und somit akzeptabel geworden, dürfe aber nicht banal werden. Auch Dumas spreche mehr über sich, als es die Bescheidenheit erlaube, allerdings muss Muret eingestehen, dass Dumas’ Offenheit dabei schon fast wieder sympathisch sei, denn es handele sich »um eine ganz frische und direkte Eitelkeit«. Damit ist nichts anderes als die Subjektivität gemeint, die mit der romantischen Ästhetik Einzug in die Kunst hält. Sie ist Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins des Individuums und entstand in Frankreich mit der Großen Revolution. Als König Ludwig  XVI. die Kommunen 1788 aufforderte, in den sogenannten Klageheften all das zu sammeln, was ihnen in Frankreich als kritikwürdig erschien, war dies der Anfang einer breiten Politisierung der Bevölkerung und des Wunsches, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken, ein Wunsch, der sich nach 1789 zu einem Rechtsgefühl und Identitätsmerkmal verfestigte. Im letzten Teil der Reisebilder aus der Schweiz erlebte auch Dumas Geschichte nach und lieferte ein politisches Bekenntnis, das zum Verständnis seiner weiteren Entwicklung und seiner Lebensleistung von entscheidender Bedeutung ist. Am 13. September 1832 erreichte er den Bodensee, an dessen Ufer sich Schloss Arenenberg (Kanton Thurgau) befindet. Dort lebte seit 1817 ein Mitglied der über ganz Europa verstreuten Familie Bonaparte im Exil, Hortense de Beauharnais, die Tochter von Napoleons erster Ehefrau Joséphine. Hortense wurde mit Louis Bonaparte, einem jüngeren Bruder Napoleons, verheiratet und war zwischen 1806 und 1810 Königin von Holland gewesen. Ihr jüngster Sohn, der 24-jährige Charles Louis Napoleon und spätere Kaiser Napoleon  III., war seit dem Tod des Herzogs von Reichstadt der Thronanwärter und hatte politische Ambitionen, die sich 1836 in einem ersten, allerdings kläglich scheiternden Putschversuch äußern sollten. Hortense erfreute sich einer außerordentlichen Beliebtheit und galt als ebenso gütig wie schön. 108

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Dumas hinterlegte seine Karte und erhielt noch am selben Tag eine Einladung zum Abendessen. Auf dem Weg zur Residenz, die eher eine Sommervilla als ein Schloss war, spürte Dumas, dass er ungewöhnlich aufgeregt war, der ehemaligen Königin zu begegnen, von der er schon so viel gehört hatte. Er erwähnt es zwar nicht, aber er folgt auch hier wieder den Spuren seines Vaters, der mit der Mutter von Hortense gut bekannt war. Den Grund für seine Aufregung sieht er in dem Risiko, seine Vorstellungen von der Ex-Königin nun mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Das könnte auch eine Enttäuschung werden und er überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte. Dann nahm ihm eine überraschende Begegnung mit Hortense im Park die Entscheidung ab. Er erkannte die Königin »instinktiv«, wie er sagt, und wäre vor Ergriffenheit fast auf die Knie gegangen. Dumas wurde sofort freundlich aufgenommen, durfte sich bei ihr einhaken und mit ihr zunächst einige Gemälde besichtigen, darunter auch das berühmte Porträt des jungen Napoleon von Antoine-Jean Gros. Die Aufregung, die Dumas in diesen Abschnitten in einem für ihn eher ungewöhnlichen Pathos ständig thematisiert, darf man für authentisch halten, denn in diesem Moment »erlebte« er Geschichte. Für einen Augenblick wurde er eingebunden in jene glorreiche Zeit und vieles, was nur vorgestellt, fantasiert oder geträumt worden war, nahm nun Gestalt an. Hortense führte ihn zu einem Reliquienschrank mit Andenken an ihre Mutter und ihren Stiefvater Napoleon: Briefe von den Schlachtfeldern von Marengo, Austerlitz und Jena, sein Gürtel von der Expedition nach Ägypten, sein Hochzeitsring, ein gesticktes Porträt seines Sohnes, dem vielleicht sein letzter Blick auf Sankt Helena galt. In Dumas’ Fantasie wurden die Objekte sofort lebendig. Sie waren nicht einfache Gegenstände, sondern verdichteten in sich Geschichte und Geschichten, die sich vor seinem geistigen Auge entrollten. Nach diesem Auftakt wurde er für den nächsten Tag noch zum Mittagessen eingeladen. Vorher gingen beide im Park spazieren, und Hortense fragte ihn nach der aktuellen Lage in Paris. Dumas blieb stehen und erläuterte, dass die Revolution von 1830 zwar gescheitert sei, die Republik dennoch die Zukunft Frankreichs darstelle: 109

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1. Teil  Speerspitze des romantischen Dramas (1802 – 1833)

Ich bin ein Jahr lang in die Tiefen der Vergangenheit abgetaucht. Ich bin mit einer instinktiven Auffassung dort hinein gegangen und mit einer durchdachten Überzeugung wieder herausgekommen. Ich habe verstanden, dass die Revolution von 1830 uns zwar einen Schritt vorangebracht hat, aber dass dieser Schritt uns bloß von der aristokratischen zur bürgerlichen Monarchie geführt hat und dass die bürgerliche Monarchie eine Ära ist, die durchlebt werden muss, bevor es zur Volksherrschaft kommt. Seitdem, Madame, habe ich aufgehört, der Feind unserer Regierung zu sein, ohne mich jedoch ihr anzunähern. Ich schaue ruhig zu, wie sie ihre Zeit durchläuft, deren Ende ich wahrscheinlich nicht erleben werde. Ich begrüße ihr Gutes, ich protestiere gegen ihr Schlechtes, aber all das ohne Eifer und ohne Hass. Weder nehme ich sie an, noch lehne ich sie ab, ich ertrage sie. Sie ist für mich kein Glücksfall, sondern eine Notwendigkeit. Dumas entwickelt hier erstaunlich weitsichtige Perspektiven. Die Reisebilder, die 1833 begannen und »als malerische und poetische Reiseführer« von den Zeitungen beschrieben wurden, enden 1837 mit einem politischen Bekenntnis zur Republik und einer fundierten Auffassung von Geschichte. Aus dem Skandalautor von 1830 ist ein hochpolitischer Mensch geworden, dessen Humanismus und Klugheit sich darin zeigen, dass er keinen Hass kennt, sondern Ex-Königinnen bewundert sowie Prinzen und Adelige seine Freunde nennt, wenn sie es verdienen. Seine Weisheit und Ruhe werden getragen von der tiefen Überzeugung, dass Freiheit und Volkssouveränität unausweichlich kommen werden. Die gescheiterte Revolution von 1830, nach der Dumas vorerst seine politischen Ambitionen zurückstellte, und seine Reise in die Alpenrepublik markieren zentrale Schritte in seiner intellektuellen Entwicklung, weil sie ihn endgültig zum Studium der Geschichte führen. Daraus sollte er in den folgenden Jahre dasjenige entwickeln, was wir heute als seine Lebensleistung ansehen: seine historischen Romane.

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2. Teil Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

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ie Französische Revolution stellte einen so tiefen Einschnitt in die Geschichte dar, dass sie zugleich das historische Bewusstsein mit verändert hat. Mit der Revolution schien die Nation selbst zum Träger der Geschichte geworden zu sein, so dass Geschichte nun jeden betraf, weil jeder zur historischen Entwicklung beitragen konnte. Allerdings flossen Revolutionszeit und die Eroberung Europas durch Napoleon so sehr zusammen und führten in kurzer Zeit zu so grundsätzlichen Veränderungen, dass erst mit der Restauration der Moment gekommen zu sein schien, über die Ereignisse nachzudenken. Dementsprechend stieg das öffentliche Interesse an Geschichte vor allem in den 1820er Jahren stark an, was sich in einer Reihe bedeutender Publikationen niederschlug. So erschien Adolphe Thiers’ monumentale Geschichte der Französischen Revolution neben den ersten Werken des Historikers Augustin Thierry, dessen Geschichtstheorie großen Einfluss auf Dumas haben sollte. Geschichte und Geschichtswissenschaft wurden zum prägenden Paradigma erhoben und würden, wie Thierry meinte, dem 19. Jahrhundert so sehr ihren Stempel aufdrücken wie die Philosophie dem 18. Jahrhundert. Unterstützt wurde diese Entwicklung noch durch die Begeisterung, die Walter Scotts neuartiger historischer Roman auslöste, der mit der Restauration in Frankreich bekannt wurde. Für Scott war Geschichte nicht bloß Hintergrund für eine spannende Handlung, sondern zugleich Vorgeschichte der Gegenwart und trat damit in eine Beziehung zur Wirklichkeit der Leser. Seine Figuren verkörperten jeweils soziale Gruppen, wobei ein »mittlerer« Held im Zentrum der Handlung stand, dessen Ziele und Leidenschaften an die historischen Ereignisse 111

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

gebunden waren, während historische Persönlichkeiten Nebenfiguren blieben. Besonders geschätzt wurden Scotts präzise und kenntnisreiche Beschreibungen der Eigentümlichkeiten vergangener Epochen, die ein faszinierendes Lokalkolorit schufen. Dumas war selbst ein begeisterter Scott-Leser und erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, wie sehr ihn etwa die Beschreibung eines Speisesaals aus Ivanhoe beeindruckt hatte. Die Enttäuschung darüber, dass König Louis-Philippe an die Stelle der Monarchie der Aristokraten eine Monarchie des Geldes setzte, sich auf eine relativ kleine Elite stützte und die Nation weitgehend von der Partizipation ausschloss, war einer der Gründe dafür gewesen, dass Dumas seinen Posten in dessen Bibliothek aufgab. In seinem Kündigungsschreiben an Louis-Philippe vom Februar 1831 behauptete er, als »Literat nur die Vorstufe von sich als Politiker« ­gewesen zu sein. Das Geschichtsbild, das Dumas in den folgenden Jahren entwickeln sollte, ergab sich unmittelbar aus dieser Politisierung und nährte sich an den Theorien Thierrys. Die intellektuelle Durchdringung der Geschichte, um die er sich von nun an bemühte, sollte das gedankliche Fundament für sein kommendes Werk legen. Natürlich hatte Geschichte auch sein bisheriges Werk geprägt, galt er mit seinem Heinrich III. doch als Begründer des historischen Dramas in Frankreich. Im Auftrag von Harel hatte Dumas weiterhin ein monumentales Napoleon-Drama verfasst, das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Als die Zensur im September 1830 aufgehoben wurde, eroberte Napoleon, der in der Restauration tabuisiert worden war, die Pariser Bühnen, von denen eine jede »ihren« Napoleon bringen ­wollte. Wie viele andere Theaterdirektoren witterte Harel hier klingende Kassen. Dumas war alles andere als begeistert und schon gar nicht ­inspiriert angesichts der Tatsache, dass Napoleon seiner Familie großen Schaden zugefügt hatte. Schließlich gab er jedoch nach und verfasste zwischen Oktober und November 1830 in Rekordzeit ein Drama, das zentrale Stationen auf dem Weg Napoleons zwischen der Belagerung von Toulon 1793 und seinem Tod auf Sankt Helena aufgreift. Gleich vier Pariser Theater brachten Stücke über Kaiser und Kaiserreich, was Kritikern die Möglichkeit bot, diese miteinander zu ver112

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gleichen. Dumas’ Version zeichnete sich dadurch aus, dass er ein historisches Panorama von dreißig Jahren anbot, das, aufgefächert in ganzen 20  Tableaus, schon vom Bühnenbild her einen hohen Aufwand darstellte und mit gut sechs Stunden Dauer auch die üblichen Aufführungszeiten sprengte. Mit 68 Aufführungen wurde das Stück zwar ein Achtungserfolg, spielte aber wegen der enormen Kosten weniger ein als erhofft. Am 14. Januar 1831 erschien im Figaro eine Kritik, die prägnant und mit erstaunlich weitsichtigem Blick sowohl Dumas’ Beziehung zur Geschichte als auch den Stand seiner literarischen Entwicklung auf den Punkt brachte. Die große Schwierigkeit historischer Stoffe liege, so der Kritiker, darin, dass die Ereignisse bekannt und im Grunde literarisch uninteressant seien. Glücklicherweise habe Dumas jedoch keine Ahnung von Geschichte, denn gerade »weil er die Geschichte nicht kennt, kann unser Autor etwas Wahreres erschaffen als all jene, welche die Geschichte nur abschreiben!« Dumas habe auf unerklärliche Weise das Geheimnis um die Darstellung von Geschichte gelüftet: Er stellt eine erfundene Figur an die Seite der realen, mehr noch, diese konventionelle Figur wird durch einen Kunstgriff sogar die Hauptrolle spielen, während der große Mann nur eine Nebenrolle übernimmt. Vielleicht bewundert man diesen, aber notwendigerweise beweint man jene, notwendigerweise wird man Mitleid, Liebe und Angst um jene Figur fühlen, die man nicht kennt, wenn man in das Stück geht. Daher lautet die allgemeine Regel im historischen Drama: Die Geschichte darf nur ein Zusatz des Themas sein, es bedarf einer Handlung, um die bekannten Fakten interessant zu machen, es bedarf einer Lüge, die mir unbekannt ist, damit ich den bekannten Wahrheiten aufmerksam folge. Wenn es auf der Bühne nur Geschichte gibt, werde ich sie lieber zu Hause lesen; wenn es nur den einen Helden gibt, kaufe ich mir lieber sein Porträt. Das ist es, was allein Herr Dumas unter all den Dramenmachern verstanden hat. Daher hat er mehr Erfolg als jeder andere gehabt, daher hat er niemals gegen diese Regel des gesunden Menschenverstandes verstoßen … 113

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Eine solche »indirekte« Inszenierung von Geschichte über Nebenfiguren hatte allerdings schon Walter Scotts Romane geprägt. Sie ist daher keine Erfindung Dumas’, aber in Frankreich schien kein anderer diese Technik so gut umzusetzen wie er. Bisher hatte er historische Stoffe nur für die Bühne verarbeitet, jetzt war der Moment gekommen, sie auch erzählend zu verfassen. Allerdings fehlte es Dumas an den notwendigen historischen Kenntnissen, wie der Kritiker bereits angemahnt hatte. 1831 machte Dumas sich daher an die mühsame autodidaktische Arbeit, sich in die französische Geschichte einzuarbeiten. Unter dem ökonomischen Druck, aus jeder Arbeit zugleich verwertbare Texte zu stampfen, verliefen das Studium der Geschichte und ihre Umsetzung in Prosa parallel. Dumas las Chroniken von ­Enguerrand de Monstrelet und Jean Froissart sowie jüngere Werke wie die 1824 erschienene Histoire des ducs de Bourgogne von Prosper de Barante und gestaltete daraus zunächst seine Chroniques de France, die in der Revue des Deux Mondes als Lieferungen ab Dezember 1831 ein Jahr lang publiziert werden sollten. Diese Chroniken, die nichts anderes als Erzähltexte sind, stellen die Vorstufen zu den späteren historischen Romanen dar und wurden 1835 in der Buchpublikation zu seinem ersten historischen Roman Isabel de Bavière (Elisabeth von Bayern) zusammenfügt und erweitert. In seiner Einleitung zur ersten Lieferung stellt Dumas die These auf, dass die französische Geschichte zu Unrecht als langweilig gelte. Dies liege nur daran, dass die Historiker sie nicht interessanter darstellten. In diesem Zusammenhang entwickelte er erstmals den Gedanken an eine umfassende Inszenierung der nationalen Vergangenheit: »Es wäre jedoch ein großartiges und schönes Werk, den Geist der Geschichte zu erwecken, ihm zu folgen, ihn über vergangene Generationen und erloschene Jahrhunderte hinweg zu befragen … Gewiss würde diese Aufgabe das Leben eines Menschen ausfüllen, ihn in der Stunde seines Todes nichts mehr zu wünschen übrig lassen und dafür sorgen, dass seine Statue auf einen Sockel gestellt wird wie diejenigen Homers und Byrons.« In dem 1832 verfassten historiografischen Werk Gallien und Frankreich, das im Herbst 1833 als Buch erschien, resümierte er die Ge114

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schichte bis zum Beginn der Herrschaft der Valois und deckte damit die Vorgeschichte Frankreichs ab. Es handelte sich weitgehend um ­Zusammenfassungen anderer Quellen und Geschichtswerke, darun­ ter die Lettres sur l’histoire de France von Thierry und die ­Études historiques von Chateaubriand. Trotz seines kompilierenden Charakters ist Gallien und Frankreich dennoch ein Schlüsseltext zum Verständnis des Werkes, weil Dumas hier erstmals umfassend sein Geschichtskonzept entwickelte. Den treibenden Motor der historischen Entwicklung bildet für ihn der langsame, aber unaufhaltsame Aufstieg der Nation im Sinne einer progressiven Emanzipation des Dritten Standes, der erstmals in der Französischen Revolution die Macht übernahm. Im Falle Frankreichs entwickelte sich laut Dumas die Spannung zwischen einer kleinen herrschenden Elite und der Nation vor allem aus dem Konflikt zwischen den fränkischen Eroberern und den römisch-gallischen Einwohnern. Durch die einende Kraft des Christentums sei in jener Zeit die französische Nation entstanden, die von nun an ihren Einfluss ausweitete. Die französische Monarchie selbst beginne 987 mit ­Hugues Capet und werde 1792 von der Nation zerschlagen, als die Erblichkeit der Herrschaft abgeschafft wurde. Dumas selbst hat später zwar nicht mehr viel von seiner Schrift gehalten, war ab 1848 jedoch sehr stolz auf den Epilog, in dem er bereits Anfang der 1830er Jahre das Ende der Julimonarchie vorausgesagt hatte. Darin kommt auch sein Geschichtsbild am deutlichsten zum Ausdruck. Dumas war fest davon überzeugt, dass Louis-Philippe der letzte König sein würde, weil die historische Entwicklung noch eine letzte monarchische Stufe zu überwinden hatte, bevor die Zeit reif für die Volksherrschaft sei. Nach Hugues Capet, der sich auf wenige ­Vasallen stützte, nach Franz I. und seinen 200 Großherren und nach Ludwig XV. und seinen 50 000 Aristokraten habe Louis-Philippe den Adel entmachtet und seine Monarchie stattdessen auf 160 000 Wohlhabende und Industrielle gegründet. Wie die vier Entwicklungsstufen zeigen, sei die Macht schrittweise auf immer größere Teile der Bevölkerung ausgeweitet worden, so dass die nächste Stufe für Dumas in der Souveränität der Nation lag. Dass 115

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dies unaufhaltsam sei, will er mit einem einfachen Rechenexempel beweisen: Durch die Aufhebung der Erblichkeit von Privilegien und des Majorats würden immer mehr Menschen Eigentum erhalten und dementsprechend an der Macht teilhaben wollen. Demnach werde nicht das Proletariat die Monarchie stürzen, sondern die wachsende Anzahl der Eigentümer: Dann wird sich eine Regierung in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen, den Interessen und den Wünschen aller etablieren. Möge sie nun Monarchie, Präsidentschaft oder Republik heißen, das ist mir gleich, und es ist auch gleichgültig, weil die Regierung ein Amt sein wird, das ist alles: ein wahrscheinlich fünfjähriges Amt, denn die Fünfjährigkeit ist die Regierungsform, die der Nation die größten Chancen auf Ruhe bietet, denn wer zufrieden ist mit der Arbeit des Delegierten, hat die Hoffnung, ihn wiederzuwählen, und wer unzufrieden ist, hat das Recht, ihn abzusetzen. Dumas’ Vorstellung von Geschichte stellt einen Reifungsprozess dar, der auf ein klares Ziel hinausläuft. Die Geschichtswissenschaft spricht in einem solchen Fall von einem teleologischen Geschichtsbild. Der Endpunkt der Entwicklung liegt für Dumas in der Volksherrschaft, die nicht mit Gewalt eingeführt werden kann, sondern sich von selbst ergeben wird, wenn die Zeit so weit ist. Diese quasi organische Vorstellung von der Reifung einer Nation hat Konsequenzen für die Betrachtung der Geschichte, ohne die das Werk Dumas’ unverständlich bleibt: Wenn nämlich alles auf ein unaufhaltsames Ziel hinausläuft und einem langsamen Prozess unterliegt, dann ist die Vergangenheit eine notwendige und unerlässliche Vorstufe davon. Daher wird Dumas sich vor allem für die Übergangszeiten interessieren, in denen die bestehende Ordnung verändert oder infrage gestellt wurde. Für seine moralische Haltung bedeutet dies weiterhin, dass er keinen Grund hat, die Vergangenheit zu verurteilen oder sich über sie lustig zu machen. Er wird es sich vielmehr explizit vornehmen, die Geschichte ohne Hass und ohne Polemik zu betrachten und nur aus sich selbst heraus zu verstehen. Trotz seiner tiefen republikanischen 116

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Überzeugungen werden seine Texte keine politischen Pamphlete, sondern erscheinen vielmehr als lebendige, weil scheinbar authentische Bilder vergangener Epochen. Hierin liegt ein wichtiger Schlüssel für die zeitlose Rezeption seiner berühmtesten historischen Romane wie Die drei Musketiere oder Die Bartholomäusnacht. Es sagt zudem viel über den Menschen Dumas aus, wenn er seinen Epilog über das Ende der Julimonarchie mit einer Friedensbotschaft schließt: »In der Stunde ihres Untergangs aber wird die Erinnerung daran, dass wir Menschen sind, unseren bürgerlichen Stoizismus übermannen, und es wird eine Stimme zu hören sein, die ruft: Es sterbe das Königtum! Aber Gott rette den König! … / Diese Stimme wird die meinige sein.« Das Königtum soll verschwinden, diesmal aber nicht im Blut wie 1793, sondern ohne Gewalt. Liegen in dieser Unvoreingenommenheit und in der Ablehnung von Hass nicht auch die Gründe dafür, dass Dumas als Republikaner sein Leben lang gute und zum Teil engste freundschaftliche Verhältnisse zu Aristokraten unterhielt? Für Dumas war das kein Widerspruch, weil ihm jede Epoche als ein notwendiger Teil der Gesamtentwicklung erschien. Sein Geschichts- und Gesellschaftsbild erhielt im Zuge seines autodidaktischen Studiums intellektuell klar definierte Konturen und verband sich zugleich mit einer Menschlichkeit, die auf einem tiefen Respekt basierte, und zwar gerade auch gegenüber den politischen Gegnern. Auf dieser Grundlage übernahm die Geschichte für die Nation eine einigende Funktion, weil sie sich über die blutigen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten um Macht hinweg als ein übergreifendes Konzept anbot. Kenntnisse in Geschichte wurden eine notwendige Voraussetzung, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft gestalten zu können. Hier zeichnet sich die Bildungsaufgabe ab, die dem historischen Roman per se innewohnt und die bei Dumas bis heute unterschätzt wird. Das im Rückblick für Dumas’ Entwicklung so zentrale Werk Gallien und Frankreich wurde zu seiner Zeit zum Anlass eines öffentlichen Disputs, der von dessen Inhalt weitgehend ablenkte. Am 1. November 1833 erschien im Journal des débats ein mit der Initiale »G.« 117

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unterzeichneter Artikel, der Dumas als einen geistlosen Plagiator hinstellte. Gallien und Frankreich wurde darin zum Vorwand genommen, um das bisherige dramatische Werk Dumas’ als Flickenteppich aus Versatzstücken von Shakespeare, Schiller, Scott, Goethe und Hugo zu brandmarken. Dem Autor »G.« ging es »um nichts weniger als darum, den ganzen Herrn Dumas zu beurteilen und mit Hilfe seiner Dramen und seiner historischen Abhandlung zu beweisen, dass er weder die Abhandlung noch die Dramen je geschaffen hat.« Das überstieg Literaturkritik bei Weitem, Dumas wurde komplett verrissen, indem man ihm sogar den Status als Autor absprach. Die Auflistung von Stellen, die Dumas von anderen abgekupfert haben sollte, wurde schließlich so lang, dass es gar nicht mehr zu einer Besprechung von Gallien und Frankreich kam. Dumas war wie vom Blitz getroffen. Nicht nur wegen der schweren Vorwürfe, die ihn als Schriftsteller vernichten konnten, noch tiefer drang eine persönliche und menschliche Enttäuschung: Denn sein verehrter und enger Freund Victor Hugo war mit Herrn Bertin, dem Eigentümer des Journal des débats, bestens bekannt. Musste Victor nicht von dem Beitrag gewusst haben? Wie konnte er es zulassen, dass eine solche Schmähschrift gegen einen Freund publiziert wurde? Er wandte sich noch am selben Tag an ihn: Mein lieber Victor, ich war seit Langem gewarnt, dass im Journal des Débats ein Artikel gegen mich kommen würde, und man fügte an, dass dieser Arti­ kel, wenn nicht von Ihnen verfasst, so doch unter Ihrer Protektion ­geschrieben würde. Ich habe kein Wort davon geglaubt. Heute legt man mir den Artikel zur Lektüre vor, und ich muss zugeben, dass ich nicht begreife, wie ein Artikel, in dem es um mich geht, freigegeben wird, ohne dass er Ihnen, die Sie so eng mit Herrn Bertin verbandelt sind, vorgelegt wird. Ich bin daher der Überzeugung, dass Sie den Artikel kannten. Was soll ich Ihnen sagen, mein Freund, außer dass ich es niemals ertragen hätte, schon gar nicht am Abend vor der Aufführung eines meiner Stücke, dass ein Artikel gegen, ich sage nicht meinen Rivalen, 118

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sondern meinen Freund in einer Zeitung publiziert würde, auf die ich einen Einfluss hätte wie Sie auf das Journal des Débats. Hugo antwortete postwendend am 2. November mit einem Brief voller Leerstellen und Mehrdeutigkeiten: Es sprechen noch mehr Tatsachen gegen mich, mein lieber Dumas, als Sie erraten oder erahnen. Der Autor des Artikels ist einer meiner Freunde; ich war es, der dazu beigetragen hat, ihm einen Platz im Journal des Débats zu verschaffen. Der Artikel wurde mir von Herrn Bertin  … vor etwa sechs Wochen vorgelegt. Soweit zu den belastenden Tatsachen. Die entlastenden werde ich Ihnen nicht schreiben. Ich möchte, dass Sie für mich dasjenige tun, was ich für Sie vor nicht einmal zwei Tagen getan habe, also, dass Sie es erahnen oder dass Sie es erraten. Vergessen Sie dabei nicht, dass Sie der ungerechteste und undankbarste Mensch wären, wenn Sie nur einen Augenblick glaubten, dass ich in dieser Angelegenheit für Sie nicht ein guter und aufrichtiger Freund gewesen wäre. Ich schreibe Ihnen nicht mehr dazu, denn in diesem Fall schulde nicht ich Ihnen eine Erklärung, sondern Sie mir Dank. Aber ich werde Ihnen alles sagen, wenn Sie kommen. Zehn Minuten Gespräch werden mehr Klarheit in die Sache bringen als zehn Briefe. Glauben Sie nicht von mir, was ich nicht von Ihnen glauben würde. Hugos Antwort gibt Rätsel auf. Er stellt es geradezu so hin, als hätte er Dumas vor Schlimmerem bewahrt. Was aber könnte es Schlimmeres geben, als einem Autor seine Autorschaft abzusprechen? Und warum will Hugo die entlastenden Dinge nur mündlich vermitteln? Wir wissen nicht, ob die Aussprache zwischen den beiden stattgefunden hat. Der weitere Verlauf der Affäre legt allerdings nahe, dass es zu keiner Klärung kam. Was waren die wirklichen Hintergründe für den Streit? ­Cherchez la femme, sagen die Kriminalisten, ein Ausdruck, der übrigens auf 119

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Dumas’ Roman Die Mohikaner von Paris zurückgeht. In diesem Fall könnte die Konkurrenz zweier Schauspielerinnen der banale Ursprung des Streits gewesen sein. Bei der Premiere, die Dumas in seinem Brief erwähnte, handelte es sich um Hugos Stück Marie Tudor, das am Theater Porte-Saint-Martin aufgeführt wurde, wo zwei Damen miteinander um zweite Hauptrollen rivalisierten: Juliette Drouet, die Geliebte Hugos, die den Ruf genoss, weitaus hübscher als talentiert zu sein, und Ida Ferrier, die Geliebte Dumas’, die vielleicht weniger hübsch als Juliette war, dafür aber besser spielte. Nicht auszuschließen, dass die Spannung zwischen den beiden sich auch auf Hugo übertrug, der dafür gesorgt hatte, dass Juliette die zweite Hauptrolle in Marie Tudor bekam. Doch damit nicht genug. Theaterdirektor Harel hatte offenbar kein gutes Gefühl bei Marie Tudor und befürchtete, dass das Stück nicht zuletzt wegen Mlle. Juliette durchfallen könnte. Im Vorfeld der Premiere kam er auf die genialische Werbeidee, auf den Plakaten neben Marie Tudor gleich das nächste Stück von Dumas, Angèle, anzukündigen, was nichts anderes bedeutete, als dass er dem Stück Hugos nur eine kurze Lebensdauer prophezeite. War Hugo daraufhin so wütend geworden, dass er sein Placet gab für den Artikel gegen Dumas? Wenn dem so war, dann hat es nicht viel geholfen. Marie Tudor fiel bei der Premiere durch, und Juliette Drouet wurde so sehr ausgepfiffen, dass man sie schon in der zweiten Aufführung durch Ida Ferrier ersetzte. Besonders ärgerlich musste es für Hugo sein, dass die Kritiker aus dem Figaro und dem Le Constitutionnel die Plagiatsvorwürfe implizit umdrehten und in Marie Tudor Reminiszenzen an Dumas’ Christine erkannten. In La Quotidienne ging man sogar expli­ zit auf die Diffamierung Dumas’ ein: Wenn wir bei der Prüfung des Stückes von Herrn Hugo den Maßstab anlegen wollten, den man an die Werke von Herrn Alex. Dumas angelegt hat, könnten wir entsprechende Stellen zu allen Szenen in ­Erinnerung rufen, aus denen das Drama Marie Tudor besteht, und wir würden sie alle in mehr oder weniger bekannten Werken finden … Da wir aber davon überzeugt sind, dass diese Szenen denjenigen ge120

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hören, die sie sich anzueignen wissen, werden wir Herrn Hugo keinen Vorwurf wegen seiner zahlreichen Anleihen bei seinen Vorgängern und sogar bei seinen Zeitgenossen machen. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer, denn jetzt fühlte sich Hugo offenbar unter Druck gesetzt und bestand darauf, Dumas’ Brief und seine Antwort zu publizieren. Dumas’ Reaktion darauf lässt erkennen, dass er sich Hugo gegenüber wirklich wie ein Freund verhielt. Denn er riet ihm davon ab, weil er sich dadurch nur selbst schaden könne. Gab Hugo in dem Brief nicht offen zu, dass er von dem Artikel gewusst hatte und dass dessen Autor sein Freund war? Musste das nicht gerade den Verdacht erhärten, dass Hugo ihm hatte schaden wollen? Aber es half nichts, am 14. November publizierte L’Europe littéraire die Korrespondenz der beiden. Und am 17. erschien im Journal des débats ein Beitrag, in dem sich »G.« als Granier de Cassagnac zu erkennen gab und erklärte, es gebe keine Verschwörung gegen Dumas, weil er, Granier, von der Idee bis zur Ausführung der alleinige Urheber der Plagiatsvorwürfe gewesen sei. Dann wurde der Kritiker wieder persönlich und verletzend, indem er behauptete, dass man Hugo und Dumas gar nicht miteinander vergleichen könne. Aber damit immer noch nicht genug. Am 26. November wiederholte Granier de Cassagnac im Journal des débats seine Plagiatsvorwürfe am Beispiel von Gallien und Frankreich. Erneut listete er einen Katalog von Stellen auf, in denen Dumas sich eng an Werken von Thierry und Chateaubriand orientiert habe, um zu einem vernichtenden Urteil zu kommen: Herr Dumas weiß sehr wohl, dass er nicht aus Zufall, nicht aus der ­Erinnerung und nicht aus einem Lapsus der Feder abgeschrieben hat. Er hat aus System abgeschrieben. Das Plagiat beginnt da, wo Herr Dumas anfängt, und es hört da auf, wo er aufhört. Vor einigen Jahren hat er sich gesagt: Das Publikum will Dramen, also kopiere ich Dramen. Dieses Jahr hat er sich gesagt: Das Publikum will Geschichte, also kopiere ich Geschichte … Angeblich ist der Autor von Heinrich III. nun gewarnt und wird nicht mehr abschreiben. Also warten wir auf sein erstes Drama und auf seine erste historische Abhandlung. G. 121

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Was soll man auf einen solchen Verriss entgegnen, der nichts weniger als Dumas’ Existenz als Berufsschriftsteller bedrohte? Wie immer, wenn es ernst wurde, behielt Dumas die Nerven und reagierte erstaunlich klug und besonnen. Anstatt wütend zurückzuschießen, legte er Mitte Dezember in der Revue des Deux Mondes mit Comment je devins auteur dramatique (Wie ich Dramenautor wurde) einen ersten autobiografischen Text mit viel Humor vor, der schon im Titel signalisierte, dass er ein Autor war. Und was einen Autor ausmachte, das erläuterte er mit Hilfe einer kleinen Kreativitätstheorie: Es sind die Menschen und nicht der Mensch, die etwas erfinden. Jeder kommt zu seiner Zeit an die Reihe, übernimmt, was er von seinen Vätern kennt, setzt es in neuen Verbindungen zusammen und stirbt, nachdem er der Summe der menschlichen Kenntnisse wenige Parzellen hinzugefügt hat, die er wiederum seinen Kindern vermacht … Eine vollständige Kreation halte ich für unmöglich. Gott selbst konnte oder wagte es nicht, den Menschen zu erfinden, als er ihn schuf. Er machte ihn nach seinem Abbild. Deshalb antwortete Shakespeare, als ihm ein geistloser Kritiker vorwarf, eine ganze Szene von einem zeitgenössischen Autor übernommen zu haben: »Das war ein junges Mädchen, das ich aus schlechter Gesellschaft in eine bessere versetzt habe.« Deshalb antwortete Molière, etwas naiver, als man auch ihm dies vorwarf: »Ich nehme mir mein Gut, wo ich es finde.« Shakespeare und Molière hatten recht, denn das Genie stiehlt nicht, es erobert … Dennoch war Dumas’ Ruf über längere Zeit schwer angeschlagen. Der Streit hatte sich zwar an Gallien und Frankreich entzündet, seine Auseinandersetzung mit Geschichte war dabei jedoch ganz in den Hintergrund getreten. War sein erstes historiografisches Werk für ihn zwar ein intellektueller Durchbruch gewesen, so hätte er vielleicht auf dessen Publikation verzichten sollen. Denn während sein Anrecht 122

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auf Aneignung von Stoffen aus der Literatur im Bereich der Dramen gültig ist, liegt dies im Falle argumentativer Texte anders. Hier hatte er sich nach heutigem Verständnis tatsächlich eines Plagiats schuldig gemacht, indem er die Stellen aus Thierry und Chateaubriand nicht auswies. Mit Gallien und Frankreich hatte er ein Fundament gelegt, auf dem die folgenden historischen Erzählungen und Romane aufbauen konnten. Es kam jedoch noch eine kulturhistorische Verschiebung hinzu, welche die literarische Welt von Grund auf veränderte: die Entstehung des Feuilletonromans, die dafür sorgte, dass sich Dumas’ Weg zum historischen Roman in einem neuen medialen Umfeld entwickelte. Um diese Innovation zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die Zeitungsleser zu werfen. Das Zensuswahlrecht der Julimonarchie hatte für die Zeitungen zur Folge, dass politische Berichterstattung in erster Linie für die relativ wenigen wahlberechtigten Männer von Interesse war. Hinzu kam, dass Zeitungen über Abonnements verkauft wurden und damit jeweils eine höhere Summe auf einen Schlag zu bezahlen war, die sich viele nicht leisten konnten. Wer eine größere Leserschaft erreichen wollte, musste also nicht nur die Preise senken, sondern auch Angebote für die Masse der nicht-wahlberechtigten Bevölkerung machen. Eine Möglichkeit, den Zeitungspreis zu reduzieren, eröffnete sich in den 1830er Jahren dadurch, dass die Druckkosten durch die Verbesserung der Technik sanken. Am 1. Juli 1836 erschienen in Paris zwei miteinander konkurrierende Zeitungen, die eine neue Strategie verfolgten und damit Presseund Literaturgeschichte schrieben: La Presse von Émile de Girardin und Le Siècle von dessen ehemaligem Kompagnon Armand D ­ utacq. Sie boten Abonnements für drei, sechs und zwölf Monate für den niedrigen Preis von 12, 20 und 40  Francs an. Um die damit verbundenen Einbußen zu finanzieren, fügte man nach und nach auf der vierten und letzten Seite Werbeanzeigen ein. Wenn zunächst vor allem Angebote für ein männliches Publikum gemacht wurden, wie Immobilien, Männerkleidung usw., so zeigt die Veränderung der ­beworbenen Produkte, dass man auch von immer mehr Leserinnen ausging. 123

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Obwohl die Zeitungen aufgrund ihrer jeweiligen politischen Couleur eine Stammleserschaft hatten, war der Konkurrenzdruck angesichts der Menge des Angebots enorm. Hinzu kam, dass die Berichterstattung über Parlament und Justiz, die mitunter mehrere Spalten der damals nur vier Seiten langen Zeitungen füllten, eher Protokolle als Artikel waren und dem Blatt kaum ein eigenes Profil verleihen konnten. Das Feuilleton wurde daher dazu genutzt, ein spezifisches Angebot zu machen. Welch wichtige Rolle es spielte, zeigte sich bereits daran, dass es nicht wie heute auf den hinteren Seiten erschien, sondern in der Regel im unteren Viertel, dem sogenannten rez-de-chaussée (›Erdgeschoss‹), der ersten zwei bis drei Seiten abgedruckt wurde. Das Feuilleton war eine offene Rubrik für nicht-politische Themen und nahm unterschiedliche Gattungen wie Reise- und Akademieberichte, Literaturkritiken oder Essays auf. Herausgeber Girardin rekrutierte Autoren, die sich bereits mit Theater oder Prosa einen Namen gemacht hatten und damit zugkräftig waren, darunter Honoré de B ­ alzac, Frédéric Soulié und eben Dumas. Dumas war somit von Anfang an – konkret ab der zweiten Nummer  – als Autor in La Presse präsent, wenn auch vorerst nicht als Romancier. Denn vertraglich war ausgemacht, dass er regelmäßig Theaterkritiken beisteuerte und für die Sonntagsausgaben Szenen aus der französischen Geschichte ab Philippe von Valois lieferte. Am 15. Juli publizierte er mit seiner Einführung in unsere historischen Feuilletonbeiträge einen programmatischen Artikel, der in ungewöhnlich kompakter Weise seine Vorstellungen zum zukünftigen historischen Roman bündelte. Dumas führte die unzureichende Vermittlung von Geschichte in Frankreich auf die Schwächen der drei vorherrschenden Gattungen zurück, und zwar auf die rein aus Daten und Fakten bestehende Geschichtsschreibung jener Zeit, auf die Chroniken und auf den historischen Roman. Keine von ihnen könne dem Leser Geschichte vermitteln, so Dumas, denn die Daten seien langweilig, die Chroniken nicht nur sprachlich veraltet, sondern auch so konfus und episodisch, dass sie nur punktuelle Einblicke gewährten, und der historische Roman habe in Frankreich noch nicht das Niveau Walter Scotts erreicht. 124

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Es ging also letztlich darum, für Frankreich einen historischen Roman nach dem Vorbild Scotts zu entwickeln, der laut Dumas als Einziger die Fähigkeit besessen habe, die Leser in die Illusion der Vergangenheit zu versetzen: Walter Scott verband die instinktiven Qualitäten seiner Vorgänger mit seinen Kenntnissen; dem Studium des menschlichen Herzens fügte er das Wissen über die Geschichte der Völker hinzu. Ausgestattet mit archäologischer Neugier, einem genauen Blick und einer belebenden Kraft lässt sein heraufbeschwörendes Genie eine ganze Epoche mit seinen Sitten, Interessen und Leidenschaften wiederauferstehen  … Unter seiner Feder werden Menschen und Dinge wieder lebendig und nehmen ihren Platz zu dem Zeitpunkt ein, an dem sie existiert haben, so dass der Leser unmerklich mitten in eine vollständige Welt und das Zusammenspiel ihrer sozialen Schichten versetzt wird und sich fragt, ob er nicht über eine Art magische Treppe in eine jener unterirdischen Welten hinabgestiegen ist, wie man sie aus Tausend und einer Nacht kennt. Um dies zu erreichen, sei es nötig, die unterschiedlichen Interessen, die sich zwischen Volk, Adel und Königtum bewegen, genau zu studieren, zwischen den wichtigsten Personen dieser drei Gruppen diejenigen auszuwählen, die einen aktiven Anteil an den Ereignissen der Zeit hatten, in der das Werk spielt, und minutiös zu erforschen, welches Aussehen, welchen Charakter und welches Temperament jene Personen hatten, um sie in dieser dreifachen Einheit leben, sprechen und handeln zu lassen und bei ihnen die Leidenschaften herauszuarbeiten, die zu den Katastrophen geführt haben, die im Katalog der Jahrhunderte mit Daten und Fakten aufgeführt sind, aber erst dann interessant werden, wenn man die lebendige Art und Weise aufzeigt, mit der sie ihren Platz in der Chronologie eingenommen haben.

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Geschichte lebendig zu machen, darin lag für Dumas die große Kunst des historischen Romans. Lebendig wurde Geschichte zwar grundsätzlich durch die Dynamik, die sich aus dem Konflikt der unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppen ergab, diese Interessen ­jedoch mussten in den persönlichen Leidenschaften einzelner Akteure konzentriert und konkretisiert werden. Das Erzählen von Geschichte war damit im Kern eine Inszenierung von außergewöhnlichen Persönlichkeiten und deren Wünschen und Sehnsüchten. Sollte dies gelingen, dann würde sogar Walter Scott noch übertroffen werden, denn wie Dumas später in seinen Memoiren schrieb, sei dieser zwar »bewundernswert in der Darstellung von Sitten, Kleidern und Charakteren« gewesen, aber »ungeschickt darin, Leidenschaften zu schildern«, weshalb er auch keine dramatischen Qualitäten besessen habe. Lag nicht genau darin die große Stärke Dumas’? Was ihm hingegen fehlte, war das historische Wissen. Daher begann er nun damit, es sich anzueignen und in Form von historischen Erzählungen umzusetzen, die chronologisch dort ansetzten, wo Gallien und Frankreich geendet hatte. Nach seiner Einführung lieferte er etwa einmal pro Woche historische Episoden, die vom Beginn des Hundertjährigen Krieges erzählten, und übte sich darin, die Ereignisse mit den Leidenschaften der Figuren zu verweben, wobei unter Leidenschaft in erster Hinsicht Machtgier, Rache, Liebe und Erotik zu verstehen waren. Im Laufe der Zeit wuchs der Text immer weiter an und wurde 1839 zu dem historischen Roman La Comtesse de Salisbury zusammengefügt. Im Vorwort zu Capitaine Paul sollte Dumas später behaupten, mit seinen Lieferungen den Feuilletonroman erfunden zu haben. Das ist weder ganz richtig noch ganz falsch. Zweifellos gehört La Comtesse de Salisbury zu den allerersten Lieferungsromanen dieser Art, aber die zeitlichen Abstände zwischen den Fortsetzungen waren so groß, dass sich für den Leser noch nicht jene enge Taktung ergab, welche die großen Feuilletonerfolge der 1840er Jahre ausmachte. Hatte Dumas die 1830er Jahre als shooting star der romantischen Bühne begonnen, so baute er sich ab Mitte des Jahrzehnts ein zweites Standbein mit historischer Prosa auf, das sich in den folgenden Jahren 126

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zu seiner Hauptbeschäftigung entwickeln sollte. Vorerst aber spielte das Theater noch die erste Rolle. Seit den schweren Anfeindungen durch Granier war Dumas’ Image angeschlagen und bedrohte seine literarische Karriere, wie La Quotidienne am 31. Dezember 1833 argumentierte. Der sympathische autobiografische Rückblick Wie ich Dramenautor wurde reichte keineswegs aus, um diese Krise zu überwinden. Dumas musste sich auf dem Feld beweisen, auf dem er diffamiert worden war. Als Dichter rehabilitiert wurde er erst mit Kean, ou Désordre et génie (Kean oder Unordnung und Genie) aus dem Jahre 1836. Das Stück über den legen­ dären britischen Schauspieler Edmund Kean, den Dumas 1827 bei den Auftritten des Shakespeare-Ensembles in Paris erlebt hatte, gehört zu den wenigen, die heute noch gespielt werden. Dumas konnte sich in dem bewegten Leben des Darstellers zum Teil auch selbst porträtieren, vor allem wenn Kean Chaos und Genie miteinander in Beziehung setzte: »Ordnung im Leben haben!  … Das ist es, aber das Genie, was wird aus ihm, während ich Ordnung im Leben habe? … Wie soll ich bei einem so bewegten und vollen Leben wie dem meinen die Zeit haben, M ­ inute für Minute und Pfund für Pfund zu berechnen, was ich an Tagen verschwende und an Geld verschleudere?« Sprach er dabei nicht auch über sich selbst?

Superstar und Don Juan Herr Dumas … ist eine der interessantesten Erscheinungen unserer Gegenwart. Vom Temperament her leidenschaftlich, schlau aus Instinkt, mutig aus Eitelkeit, herzensgut, schwach an Vernunft, vom Charakter her sorglos … abergläubisch, wenn er denkt, religiös, wenn er schreibt, skeptisch, wenn er spricht; von Herkunft Schwarzer, von Geburt Franzose, bleibt er selbst in seinen heftigsten Erregungen unbeschwert; sein Blut ist wie Lava und seine Gedanken sind Funken. Er ist das unlogischste Wesen, das es gibt, und das unmusikalischste, das ich kenne. Er flunkert, weil er Dichter ist, er ist gierig, weil er Künstler 127

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ist, er ist großzügig, weil er Künstler und Dichter ist. Verschwenderisch in der Freundschaft, despotisch in der Liebe, eitel wie eine Frau, standhaft wie ein Mann, egoistisch wie Gott, aufrichtig bis zur Indiskretion, ohne Unterschied gefällig, vergesslich bis zur Sorglosigkeit, ein Streuner von Leib und Seele, kosmopolitisch aus Geschmack, patriotisch aus Überzeugung, reich an Illusionen und Launen, arm an Weisheit und Erfahrung, von aufgewecktem Geist, ein Lästermaul, geistreich zur rechten Gelegenheit; nachts ein Don Juan, tagsüber Alkibiades, ein echter Proteus, der allen und sich selbst entwischt, ebenso liebenswert durch seine Schwächen wie durch seine Stärken, verführerischer durch seine Laster als durch seine Tugenden: Das ist Herr Dumas, so wie wir ihn lieben, so ist er oder zumindest erscheint er mir gerade so, denn da ich sein Bild heraufbeschwören muss, um ihn zu beschreiben, kann ich nicht sagen, ob ich angesichts des Geistes, der sich vor mir aufbaut, nicht unter einem Zauber oder einem magnetischen Einfluss stehe. Das kleine Feuerwerk einer Charakterisierung aus der Feder von Hippo­lyte Romand, das 1834 in der Revue des Deux Mondes erschien, zeigt, dass sich das öffentliche Interesse an Dumas über sein Werk hinaus ebenso an seiner Persönlichkeit entzündete. Für Romand liegt die Faszination Dumas’ in dessen Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit, die sich letztlich jeder Festlegung entziehen und eine geradezu magische Wirkung haben. Von nun an wird kaum ein Tag vergehen, an dem nicht irgendwo über Dumas berichtet wird. Er gehört zu den ersten Superstars der modernen Mediengeschichte. Laut einer These von Hans-Otto Hügel ergibt sich ein Startum dann, wenn Werk und Image zusammenfallen. Genau dies trifft auch auf Dumas zu. Sei es in seinen Reisebildern, sei es in den kommenden Romanen, in denen er in den Rahmenhandlungen auftritt, oder in den umfangreichen Memoiren, Dumas inszeniert sich immer wieder selbst und verschränkt wie kaum ein anderer seine Person mit dem Werk. Für die 1840er Jahre konstatiert der deutsch-böhmische Schriftsteller Alfred Meißner, dass es »um diese Zeit wohl kaum einen Schriftsteller« gab, »der die Aufmerksamkeit seines Publicums so wach zu halten wußte, wie Alexander Dumas. Nicht nur, daß er mit unermüdlicher Thätigkeit 128

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einen Roman nach dem andern, ein Drama nach dem andern in die Welt hinausschickte, er verstand es auch durch das, was er sonst that und trieb, fortwährend von sich reden zu machen.« Alle kannten Dumas, aber weitaus erstaunlicher ist, dass er selbst auch mit allem bekannt gewesen zu sein schien. Jules Lecomte hielt ihn für »den Franzosen, der am meisten Leute kennt. Er hat überall Freunde.« Neben seiner Arbeit hat Dumas vor allem in den 1830er und 1840er Jahren ein intensives soziales Leben geführt, das anhand seines Kostümballs von 1833 kurz veranschaulicht werden soll. Kostüm- und Maskenbälle gehörten zu den herausragenden gesellschaftlichen Ereignissen jener Zeit. Als der königliche Hof in den Tuilerien im Februar 1833 einen großen Ball gab, aber die junge Generation der Künstler nicht einlud, lag es nahe, dies selbst in die Hand zu nehmen. Dumas muss bei dieser Idee, die von dem Schauspieler Bocage stammte, gleich Feuer und Flamme gewesen sein, gerade weil sie eigentlich eine oder zwei Nummern zu groß für ihn war. Aber sein erster Gedanke, erklärte er, sei immer das Unmögliche und das würde bei ihm so viele Energien freisetzen, dass er es möglich mache. Der Kostümball, zu dem er am 30. März 1833 ab 22 Uhr einlud, ist ein anschauliches Beispiel für die Superlative seines Denkens. Zunächst hatte er einen geeigneten Raum zu finden, denn in seiner Wohnung würden die wenigstens vierhundert Gäste keinen Platz finden. Wie gut, dass nebenan eine Wohnung mit vier geräumigen Zimmern leer stand! Und umso besser, dass dort abgesehen von den Spiegeln über den Kaminen und der graublauen Tapete nichts angebracht war, denn so konnten seine Künstlerfreunde die Wände eigens für den Ball gestalten. So kamen keine Geringeren als Eugène Delacroix, Louis und Clément Boulanger, Alfred und Tony ­Johannot, Alexandre-Gabriel Decamps, der geniale Karikaturist Granville, ­ Dumas’ enger Freund Louis-Godefroy Jadin und der Bildhauer ­Antoine-Louis Barye zusammen, um die Dekorationen zu entwerfen. Die Motive stammten aus Theaterstücken und Literatur, Barye wiederum wollte Löwen und Tiger als Fensterträger gestalten. Der Ball ­erregte schon im Vorfeld ein solches Aufsehen, dass viele, die nicht eingeladen wurden, sich einfach selbst einluden. 129

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Die Verkleidung war obligatorisch. Für Verweigerer hatte Dumas vorsorglich zwei Dutzend Domino-Kostüme in ulkigen Farben bestellt, die sie überziehen mussten, um Einlass zu erhalten. Dem Geschmack der Romantik entsprechend triumphierten historische Trachten und Motive aus der Kunst. Dumas selbst trug nach einer Gravur eines Bruders von Tizian eine Rundfrisur mit schulterlangem Haar, das von einem Goldreif zurückgehalten wurde, einen wassergrünen, golddurchwirkten Herrenrock, der vorne mit Goldschnüren verschlossen war, eine halb rote, halb weiße Seidenhose und dazu schwarze, mit Gold bestickte Samtschuhe. Belle wiederum, damals noch Dame des Hauses, wählte ein Samtkleid mit steifer Halskrause und dazu einen schwarzen Filzhut mit schwarzen Federn auf dem Kopf wie Hélène Fourment, die zweite Frau von Rubens. Delacroix war als Dante gekommen, Barye als bengalischer Tiger, andere als Tizian, neapolitanische Bauern, historische Könige, Pagen und vieles mehr. Die Stargäste des Abends waren der alte La Fayette und der Komponist Rossini. Gegen Hunger und Durst standen ein Lachs von fünfzig Pfund, ein gebratenes Reh auf einem riesigen Silbertablett, eine gigantische Pastete, sechshundert Flaschen Wein und fünfhundert Flaschen Champagner bereit. Zwei Orchester spielten auf, es wurde getanzt bis 9 Uhr morgens. Laut Aussage Dumas’ sollen in der Hochphase des Balls an die 700 Gäste dort gewesen sein. Offiziell war Dumas noch mit Belle zusammen, aber er tanzte immer wieder mit der jungen Schauspielerin Ida Ferrier, mit der er ein Jahr zuvor bereits eine kurze Affäre hatte. Superstar Dumas war nicht nur ein Liebling der Presse, auch die Frauenherzen flogen ihm reihenweise zu. Hatte man seinen rücksichtslosen Wechsel von Mélanie zu Belle noch auf das Ungestüm seiner Jugend zurückführen können, so zeigte sich bald, dass Parallelaffären und Partnerwechsel eine Konstante in seinem Leben darstellten und sein Bild in der Öffentlichkeit prägten. Angesichts der Fülle von Dumas’ Liebesaffären bedürfte es eines Lexikons, wenn man auf alle eingehen wollte. Gewonnen wäre dadurch jedoch nicht viel, denn die schiere Menge verdeckt, dass sich 130

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unter dem Beziehungschaos der Oberfläche ein Muster verbirgt. Es ist daher sinnvoller, den Versuch zu unternehmen, dieses Muster herauszuarbeiten, um so Dumas’ Persönlichkeit näher zu kommen. Beginnen wir mit den Rahmenbedingungen. Dumas ist Anfang der 1830er Jahre noch relativ jung, aber schon berühmt. Er strahlt die Aura des revolutionären romantischen Künstlers aus und genießt hohen Respekt in der Gesellschaft. Er ist vielleicht kein Beau, aber durchaus attraktiv und bestechend geistreich. Jules Lecomte beschreibt ihn im Alter von Anfang bis Mitte dreißig als hochgewachsen, mit brauner Hautfarbe, dunklem krausem Haar und sanften blauen Augen, wobei sein Gesicht insgesamt »eher sonderbar als schön« zu bezeichnen sei und »überdeutlich an den Knochenbau der Schwarzen erinnere«. Wo Dumas auftaucht, ist er der Held des Abends, ein Unterhalter und Charmeur, dessen Äußeres und dessen Konversation gleichsam in ihren Bann ziehen. Weiterhin bewegt er sich im Milieu von Schauspielerinnen und Künstlerinnen, die schon beruflich verführerisch sein müssen, vor allem in jungen Jahren wechselnde Engagements annehmen und ein Nomadenleben führen, das flüchtige Liebschaften begünstigt. Außerdem lebten Schauspieler und Autoren damals in einer gegenseitigen existenziellen Abhängigkeit voneinander und teilten sich auch den Ruhm. Als Marie Dorval 1834 in Bordeaux als Adèle aus Antony triumphierte, schrieb sie ihm begeistert, dass er glücklich »über meinen und deinen Erfolg« sein könne. Damit waren die Voraussetzungen günstig für ein unstetes Liebesleben, ohne dass diese es bereits erklären geschweige denn ein Licht auf ihre besondere Form werfen könnten. Denn bei Dumas fällt auf, dass seine Affären häufig mit Dreiecks- oder sogar Vier- und Fünfecksbeziehungen verbunden sind und den Konstellationen seiner damals erfolgreichsten Dramen Antony, Angèle oder Teresa ähneln. Es gibt deutliche Analogien zwischen der Welt seiner kreativen Fantasie und seinen gelebten Liebesbeziehungen: überbordende Leidenschaften, die sich sinnlich entladen, ohne sich an Konventionen, Ehen oder moralische Bindungen zu halten, weil sie eine subversive Kraft sind, die alles mit sich reißt. Der auffälligste Unterschied zwischen 131

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den Dramen und seinen Liebschaften liegt darin, dass die Stücke oft tragisch ausgehen, es Dumas im Leben hingegen häufig gelungen ist, seine Affären in Freundschaften zu überführen, die wie im Falle von Marie Dorval ein Leben lang anhalten konnten. Werfen wir einen exemplarischen Blick auf die in Liebesdingen bewegten Jahre 1833 bis 1836. Hatte Belle als Dame des Hauses im März noch die Ballgäste empfangen, so kam es im Sommer zur Trennung und Dumas zog in eine möblierte Unterkunft. Kurz darauf schrieb Dumas die Titelrolle des Stückes Angèle für Ida Ferrier und wechselte Anfang Dezember in die Rue Bleu Nr. 30, wohin Ida ihm 1834 folgte. Noch während er die letzten Korrekturen an Angèle durchführte, begann er ein Verhältnis mit der vier Jahre älteren Schauspielerin Marie Dorval, das ebenso aufregend wie kompliziert war: Marie war nicht nur verheiratet, sondern hatte auch noch einen anderen Geliebten, Alfred de Vigny, Dichter der romantischen Schule und enger Freund Dumas’. De Vigny war wahnsinnig verliebt in Marie und daher leicht eifersüchtig. Musste es also wirklich sein? Ja, es musste sein. Die beiden trafen sich heimlich, doch bald plagten Marie Gewissensbisse. Waren sie beisammen, dann »sind wir so gut zueinander«, schrieb sie ihm, »dass alles eine kindliche Art annimmt und wir nicht das Gefühl haben, schuldig zu sein.« Allein aber fühlte sie sich schlecht. Als Marie A ­ nfang 1834 erfuhr, dass Dumas sich weiterhin mit Ida traf und laut Gerüchten zudem eine Affäre mit der Schauspielerin ­Eugénie ­Sauvage hatte, bat sie ihn, sie nur noch wie ein Bruder zu lieben. Ebenso freundschaftlich schien auch die Trennung von Belle ­vonstattengegangen zu sein. Als diese im Januar 1834 ihr Nomadenleben wieder aufnahm und Dumas eine Art Abschiedsbrief schrieb, war darin kein Groll zu spüren. Sicherlich spielte in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, dass Dumas in Geldfragen insgesamt großzügig war, wenn er auch häufig unregelmäßig zahlte. Die kleine Marie blieb bei Dumas und seiner neuen Partnerin Ida zurück. Zu ihrer Tochter hat Belle offenbar nie ein engeres Verhältnis aufgebaut, und es ist unklar, ob die beiden je wieder Kontakt miteinander gehabt haben. 132

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Die Schauspielerin Ida Ferrier, die nun bei ihm einzog, war eine hübsche Blondine mit tausend kleinen Locken, fast schwarzen Augen und dunklen Brauen. Sie war in einer Pension in Straßburg von deutschen Stiftsfräulein erzogen worden und sprach neben Französisch auch fließend Deutsch, besaß außergewöhnlich gute Manieren und verfügte über eine erstaunliche Bildung. Als die Familie verarmte, setzte Ida alles auf ihre Schönheit und ihre Intelligenz, um in Paris als Schauspielerin ihren Weg zu machen. Seit der Begegnung mit Dumas bei den Proben zur Aufführung des Stückes Teresa im Dezember 1831, das ihr einen Anfangserfolg einbrachte, hatte es offenbar immer wieder erotische Begegnungen zwischen den beiden gegeben. Es war der ehrgeizigen Ida dabei gelungen, Belle nach und nach zu verdrängen. Aber auch wenn Ida nun bei Dumas lebte, sollte sich an seinen erotischen Eskapaden nichts ändern. Die abenteuerlichste Episode jener Jahre ereignete sich im Spätsommer 1835. Dumas hatte endlich seine Italienreise angetreten und begab sich in Begleitung seines Malerfreundes Jadin mit falschem Pass nach Neapel, weil er kein Visum erhalten hatte. Dort traf er die österreichische Opernsängerin Caroline Unger wieder, die er beim Karneval 1834 in Paris kennengelernt hatte. Schon damals hatten beide eine erotische Spannung verspürt. Caroline war Anfang dreißig und ein international gefeierter Star. Seit 1825 arbeitete sie mit großem Erfolg in Italien und galt als Lieblingssängerin von Gaetano Donizetti, der eigens für sie mehrere Hauptrollen seiner Opern schrieb. Dumas muss überrascht gewesen sein, dass Caroline sich in der Zwischenzeit mit dem kleinen und schmächtigen Henri-Catherine Camille, dem Vicomte von Ruolz-Montchal, verlobt hatte. Henri, der in Neapel als Komponist zu reüssieren versuchte, war gewiss keine schlechte Partie, aber Dumas bemerkte offenbar schnell, dass Caroline nicht wirklich von der Verbindung überzeugt war. Die Verlobten wollten gemeinsam nach Sizilien, wo Caroline ein Engagement hatte, um dort zu heiraten. Doch das Dampfschiff war beschädigt und konnte vorerst nicht auslaufen. Am Kai trafen sie auf Dumas, der soeben ein ­Speronare, ein maltesisches Handelsboot mit Rudern und Segel, gemietet hatte, um ebenfalls nach Sizilien überzusetzen. Man einigte 133

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sich, gemeinsam zu fahren, und stach noch am selben Tag in See. Auf dem Heck des Schiffes befand sich ein Zelt, das Dumas als Kabine nutzen sollte, der es jetzt aber gentlemanlike Caroline überließ, um mit Henri auf dem Deck zu schlafen. In der zweiten Nacht kam ein heftiger Sturm auf. Der Kapitän schickte alle drei Passagiere in das Zelt. Schon bald zeigte der eher fragile Henri schwere Anzeichen von Seekrankheit und ging an die frische Luft, um sich am Bug zu erleichtern. Caroline und Dumas blieben allein in dem Zelt zurück. Als eine Woge das Schiff anhob, rutschte sie in seine Arme. Während draußen der Sturm tobte, die Matrosen herumliefen, der Kapitän Befehle über das Deck schrie und Henri am anderen Ende des Schiffes mit seiner Übelkeit kämpfte, verbrachten die beiden eine unvergessliche Liebesnacht – zumindest laut den Beschreibungen aus Dumas’ autobiografischem Roman Ein Liebesabenteuer von 1860. Zwar ist die Choreografie der Details fast zu perfekt, um glaubwürdig zu sein, aber auch hier gilt, dass Dumas die Tatsachen in der Regel nur erzählerisch anpasste, aber nicht grundsätzlich veränderte. Für Caroline war es ein einschneidendes Erlebnis. In Sizilien angekommen trennte sie sich von Henri, ohne Dumas dabei zu erwähnen, und traf sich in Palermo mit ihrem neuen Geliebten. Gemeinsam verbrachten sie dort sechs Wochen, die Dumas als die sinnlichsten seines Lebens in Erinnerung behalten wird. Anschließend setzte er seine Italienreise fort. Ist die Geschichte an sich schon erstaunlich genug, so wird sie noch durch die Freundschaft überboten, die sich nun zwischen dem armen Henri und Dumas entwickeln sollte, als dieser nach Neapel zurückkehrte. Dort half er dem Verlassenen täglich bei den Proben seiner Oper Lara, die am 19. November im Theater San Carlo in Anwesenheit des Königs von Neapel einen Achtungserfolg errang. Henri hat übrigens nicht lange damit gewartet, sich in Liebesdingen neu zu orientieren, und kündigte bereits zwei Monate später seine Hochzeit mit einer Gräfin an. Dumas mochte Henri Hörner aufgesetzt und ihm die Frau ausgespannt haben, aber in seiner kindlichen Sorglosigkeit stand dies einer 134

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Freundschaft nicht im Wege. Dass er neben Anflügen von schlechtem Gewissen ein aufrichtiges Interesse an Henri hatte, ist inso­fern glaubwürdig, als Henri eine ungewöhnliche Doppelbegabung besaß, denn er war zugleich Komponist und Chemiker. Als er schließlich aus ­finanziellen Gründen die Musik aufgab, entwickelte er wegweisende Verfahren zur Legierung von Metallen, darunter die Vergoldung, die bei der Herstellung von Besteck angewendet wurden. Dumas hat dem Freund 1843 in der kurzen Schrift Ein Alchimist im 19. Jahrhundert ein kleines Denkmal gesetzt. Und was wurde aus Alexandre und Caroline? Im Eifer der Leidenschaft hatten beide weitreichende Pläne gemacht und selbst eine Ehe nicht ausgeschlossen. In der ersten Zeit nach der räumlichen Trennung schrieben sie sich glühende Liebesbriefe. Dann wurden die Antworten Dumas’ immer spärlicher. Als Caroline Anfang Dezember zu ihrem nächsten Engagement nach Venedig weiterzog, wartete sie hoffnungsvoll auf »ihren Engel« und »ihren Mann«, wie sie ihn in ihren Briefen bezeichnete. Sie las seine Bücher und plante, gemeinsam mit ihm in Florenz zu leben, wo sie ein Landhaus beziehen wollte und sich jetzt schon um die Möbel kümmerte. Caroline erwartete von Dumas, dass er sich endgültig von Ida trennte, doch er hielt sie mit Versprechungen hin, die nicht eingehalten wurden. Er kam auch nicht nach Venedig. Zu Beginn des Jahres 1836 wartete Caroline immer ungeduldiger auf N ­ achrichten von ihm und hoffte auf eine klare Entscheidung. In ­Venedig gefeiert und bewundert für ihre Leistung als Antonia in Donizettis Oper Belisario, war sie im Grunde einsam und sehnte sich nach Dumas. Nachdem sie schließlich vier Wochen lang keine Nachricht von ihm erhalten hatte, zog sie schweren Herzens die Konsequenzen und schrieb am 4. März 1836 einen Abschiedsbrief, in dem sie sich auch formal distanzierte und ihn wieder siezte: Ich habe es mir zur Regel gemacht, Sie nicht zu stören und Ihnen nur zu schreiben, wenn ich von Ihnen einen Brief erhalten habe. Heute Morgen aber ist es mir unmöglich, mein Wort zu halten, denn mein armes Herz quillt über, und außerdem möchte ich Sie wissen lassen, dass ich Sie verstehe und dass ich so weit bin, mir zu sagen: »Er liebt 135

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mich nicht mehr!« Sie werden mich nicht vom Gegenteil überzeugen können, denn kein Grund könnte diese lange Stille rechtfertigen. … Nehmen Sie also wieder Ihre Freiheit zurück, ich hingegen werde mein Armband tragen wie eine Nonne ihr Bußgewand, und ich kann Ihnen versichern, dass es wehtut! Ich werde immer Ihre beste Freundin bleiben. Ich werde niemals vergessen, dass Sie mir die Türen zum Paradies geöffnet haben. Ich habe es erblickt, aber ich kann es nicht bewohnen. Ihr Glück ist mein einziger Wunsch, Ihr Wille geschehe also! Wir werden Freunde sein, so hoffe ich, wenn ich mich an diesen Gedanken gewöhnen kann, und vielleicht werden Sie eines Tages sagen: »Ich war wie ein Gott für sie, denn ich habe sie schwer bestraft, weil sie mich sehr liebte.« Adieu, seien Sie glücklich, das ist alles, was ich auf dieser Welt wünsche. Wahrscheinlich hat Caroline auf diesen Brief nie eine Antwort erhalten. Ab 1837 ließ sie sich in Florenz nieder und heiratete 1841 den französischen Gelehrten François Sabatier. Im selben Jahr beendete sie in Dresden ihre Bühnenlaufbahn und zog sich mit dem Ehemann endgültig nach Florenz zurück. Kurioserweise lebte auch Dumas mit Ida zu jener Zeit dort, aber offenbar haben die beiden keinen weiteren Kontakt mehr miteinander gehabt. Was haben all diese Affären gemeinsam? Dumas wildert in seinem Territorium, im Feld des Theaters und der Kunst, wo er einen hohen Status hat und bewundert wird. Es gelingt ihm auf erstaunliche Weise, Leidenschaften zu erwecken, und zwar vor allem dadurch, dass er selbst in Leidenschaft entbrannt zu sein scheint. Seine Liebesbriefe, seine Versprechungen, seine Geschenke von Schmuck bis Haarsträhnen, seine körperliche Attraktivität und seine erotischen Impulse wirken wie subversive Kräfte, die alles Bestehende infrage stellen und umzustürzen vermögen. Die betroffenen Frauen sind vergeben, wenn nicht sogar verheiratet, alle aber scheinen bereit, dies für Dumas aufzugeben. Die unmöglichen Liebschaften, die dramatischen Verstrickungen in Dreieckskonstellationen, die Dumas in seinen Werken inszeniert, sie gelten ebenso in der Wirklichkeit. Vielleicht ergibt sich gerade 136

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aus dieser Überlagerung von Fantasie und Wirklichkeit die Heftigkeit, mit der diese Begegnungen gelebt werden. Als wäre dies alles noch nicht erstaunlich genug, gelingt es Dumas darüber hinaus in vielen Fällen, freundschaftliche Beziehungen zu den Verflossenen aufzubauen. Wenn starke Liebesgefühle leicht in Ablehnung oder sogar Hass umschlagen können, so zeigen hier alle Verständnis für Dumas. Die Gründe dafür dürften mannigfaltig sein: Vielleicht war der »literarische Charakter« der Leidenschaft und Briefe beiden Seiten stets bewusst; sicherlich hat die räumliche Distanz die Trennungen erleichtert; gewiss gab es mitunter auch auf weiblicher Seite ein gewisses Kalkül, den Kontakt zu Dumas für die Karriere zu nutzen; vielleicht machten Dumas’ kindliche Güte und seine verschwenderische Großzügigkeit es schwer, ihm böse zu sein – und wahrscheinlich spielte dies alles zusammen. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wieso Dumas immer wieder diesem Muster gefolgt ist. So aufregend und berauschend Verführungen und dramatische Konstellationen auch sein mögen, sie bedeuten zugleich Stress, kosten eine Menge Geld und verkomplizieren das Leben, wenn Kinder dabei in die Welt gesetzt werden. All das konnte Dumas aber offensichtlich nicht davon abhalten, sich immer wieder in Leidenschaften hineinzusteigern und sie mit enormer Energie zu verfolgen, bis sie ausgelebt waren. Rational lässt sich das nicht erklären. Verführung und Eroberung stellen offenbar einen so großen Reiz und Lustgewinn dar, dass er ihnen nicht widerstehen konnte. Die Psychologie sucht die Gründe dafür in den Kindheitserfahrungen und der Sozialisierung der Betroffenen. Diese sind im Falle Dumas’ in der Tat ungewöhnlich für ihre Zeit. Auch wenn wir keineswegs genügend Daten darüber haben, um sichere Schlüsse ziehen zu können, lassen sich einige Thesen formulieren, die etwas Licht auf diesen Komplex werfen. In psychologischer Hinsicht sind hier vor allem drei Faktoren zu bedenken: der frühe Tod des Vaters, die dadurch verstärkte Bindung an die Mutter und die physische Auffälligkeit Dumas’ als Sohn eines Mulatten. Die Rolle des Vaterbildes wurde bereits mehrfach erwähnt, daher sei sie hier nur kurz zusammengefasst: Der frühe Verlust führte dazu, 137

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dass Alexandre ohne väterliche Autorität aufwuchs und weniger als andere Jungen »normiert« wurde. Die Kreativitätsforschung sieht in der mangelnden Normierung eine Voraussetzung zur Beibehaltung kindlicher Schaffensfreude, was angesichts von Dumas’ ungeheurer Produktivität gewiss eine Rolle spielt. Stolz auf seinen Vater und gewohnt, sich Dinge selbst aneignen zu müssen, kann er trotz der Verarmung der Familie offenbar schon früh ein großes Selbstvertrauen entwickeln. Er wagt sich an vieles heran und macht sich wenige Sorgen um das Gelingen, weil er kaum durch Normen eingeschränkt oder durch Korrekturen eingeschüchtert wurde. Die Nachfolge des Vaters anzutreten bedeutet für ihn, ein Jäger und ein Eroberer zu sein, und zwar mit einer kindlichen Sorglosigkeit, die alles als ein Spiel erscheinen lässt. Eng verbunden mit dem Leitbild des Vaters ist Dumas’ soziale Stigmatisierung als »Afrikaner«. Seine physische Salienz, also Auffälligkeit, wird von den anderen mit bestimmten rassentheoretischen Zuschreibungen verbunden, zum Beispiel, dass er als Afrikaner starke sexuelle Instinkte habe. Schon Mélanie Waldor hatte ihm geschrieben, dass sein Alter und sein »afrikanisches Blut« seine sexuellen Eskapaden entschuldigten, als würde ihn die »Rasse« determinieren. Dabei ist Dumas »nur« zu einem Viertel afrikanischer Abstammung, und wenn man die Fotos betrachtet, die von ihm überliefert sind, so ist seine physische Markierung keineswegs auffällig »afrikanisch«. Stereotype bringen es mit sich, dass sie zwar von außen an die Betroffenen herangetragen werden, aber zugleich als Fremd- und als Selbstbilder wirken. Lösen Stigmata häufig Scham und Rückzug aus, so macht sich bei Dumas das Gegenteil bemerkbar. Seine afrikanische Herkunft ist an den heroischen Vater gebunden, kann ihn mit Stolz erfüllen und zu einem zentralen Teil seiner Identität werden. Jagdleidenschaft, Eroberungen und sexueller Ehrgeiz können daher im Leitbild seines imaginierten Vaters zusammenfließen und ein Selbstbild schaffen, in dem erotische Abenteuer einen wichtigen Baustein bilden. Die Beziehung zu Frauen wiederum wird stark von der Beziehung zur Mutter geprägt. Auch in dieser Hinsicht stellt Dumas keinen ge138

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wöhnlichen Fall dar. Der frühe Tod des Ehemannes und die Verarmung der Familie brachten die Mutter in eine prekäre Situation, in welcher der General wie ein Heiliger verehrt wurde, zu dessen Grab die Mutter täglich pilgerte. Als Sohn trat Alexandre die Nachfolge des Vaters an und war als Beschützer seiner Mutter und Schwester schon früh der Mann im Haus. Diese Versorgerrolle hat er endgültig übernommen, sobald es ihm finanziell möglich war. Hinzu kam noch, dass die Mutter ihre Liebe ganz auf den Sohn konzentrierte und in ihm offenbar einen emotionalen Ersatz für den verstorbenen Gatten gesucht hat. Wie Dumas in seinen Nouveaux mémoires (Neuen Memoiren) schreibt, sei »unter dem Himmel kein Mutterherz jemals so voll von seinem Kind gewesen wie dasjenige meiner Mutter von mir«. Natürlich gibt es Schlimmeres, als das Glück eines Menschen auszumachen, aber für einen Heranwachsenden ist es auch eine Belastung, weil er als guter Sohn seine liebende Mutter nicht enttäuschen will. Welche Sorgen hatte sie sich stets gemacht, wenn er auf die Jagd ging, und wie sehr hatte sie geschimpft, als er zum ersten Mal spät nachts nach Hause kam! Dumas kam es so vor, als habe sie ihr ganzes Leben stets auf ihn gewartet, »seit meiner umhervagabundierenden Kindheit bis zu der Zeit, in der ich regelmäßig vom Büro zurückkam und sie um zwanzig nach fünf den Schlüssel im Türschloss hörte.« Wenn es stimmt, dass sie zunächst nichts von ihrem Enkel Alexandre erfuhr, deutet dies darauf hin, dass Dumas eine innere Zensur hatte und lieber ein Doppelleben führte, als seine Mutter mit etwas zu konfrontieren, das sie eventuell nicht billigte. Eine solch intensive Mutterliebe wirkt sich auf die späteren Beziehungen zu Frauen aus. Dumas merkt wie selbstverständlich an, dass man »eine Frau, die man liebt, ersetzen kann; eine Mutter aber, die einen liebt, kann man nicht ersetzen«, und stellt damit die Mutter wie ein natürliches Gesetz über alle möglichen Partnerinnen. Die Einzigartigkeit der Mutterliebe bedeutet nichts anderes, als dass keine Frau jemals an ihre Stelle treten und keine Liebe einer Frau jemals mit ihr konkurrieren kann. Damit wird außerdem verhindert, dass der Sohn sich über eine andere Frau von der Mutter emotional ablöst. Zugleich haben Frauen aber etwas zu bieten, was er bei der Mutter nicht 139

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findet: Sexualität. Erotische Erfüllung sucht der Sohn demnach nur bei anderen Frauen, an die er sich aber nicht gefühlsmäßig binden kann und die deshalb austauschbar bleiben. Wie das Zusammenspiel von früher Verantwortung und übertriebener Mutterliebe emotional auf Dumas gewirkt hat, davon gibt die Beschreibung ihres Todes einen Eindruck, in dessen Zusammenhang Dumas erstmals ausführlicher auf seine Beziehung zu ihr eingeht. Als sich Dumas am 31. Juli 1838 beim Mittagessen bei seinem Freund Ferdinand von Orléans befand, erhielt er die Nachricht, dass die Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte. In der Überzeugung, dass sie nur dann friedlich sterben könne, wenn er bei ihr wäre und sie ihn sehen könnte, eilte er zu ihr und kniete vor ihrem Bett. Als der Priester ihr die letzte Ölung erteilte, stellte Dumas sich immer so hin, dass er in ihrem Blickfeld war. Obwohl der Geistliche meinte, dass sie ihn gar nicht mehr wahrnehme, blieb Dumas fest davon überzeugt und erinnerte sich daran, wie oft er nachts an ihrem Bett gearbeitet hatte, damit sie seine Nähe spüren konnte. In diesem Sinne glaubte Dumas, ihren letzten Wunsch von ihrem Zustand ablesen zu können: »Der Tod kam näher  …, und dennoch war es nicht der körperliche Verfall, der sich bei meiner Mutter bemerkbar machte, sondern eine seelische Unruhe, eine fixe und stete Idee, die sich klar vor meinem geistigen Auge zu erkennen gab: mich bis zum letzten Moment zu sehen.« Als es dunkel wurde, zündete er Kerzen an, und als ihr die Augen zufielen, schob er die Lider für einen Moment hoch, erschrak dann aber über den Ausdruck in ihren Augen und schloss sie wieder. Daraufhin nahm er ihre Hände, um sie spüren zu lassen, dass er bei ihr war, und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin da, Mutter, ich bin da.« Er meinte zu sehen, dass ihre Lider dabei erzitterten, als wollte sie sie wieder öffnen, und wiederholte: »Ich bin da, ich bin da.« Wenig später trat die Sterbende in die finale Phase ein. Als der röchelnde Atem plötzlich aussetzte, rief Dumas drei Mal »Mutter! Mutter! Mutter!«, worauf sie beim letzten Rufen die Augen wieder geöffnet haben soll. Daraufhin fielen sie langsam zu, ein Schauer durchlief ihren Körper, ihre Lippen bebten, und sie atmete noch einmal so stark aus, dass Dumas den Atem in seinem Gesicht spürte. Dann war sie tot. 140

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Die Schilderung macht deutlich, wie sehr Dumas davon überzeugt war, über die Liebe der Mutter eine privilegierte Verbindung mit ihr zu haben, und glaubte, selbst in ihrer Agonie weiterhin mit ihr zu kommunizieren. Mehr noch: Er erinnerte sich wieder an die Nacht, in der sein Vater starb und sich angeblich durch ein Klopfen an der Tür von ihm verabschiedet hatte. Wenn schon der Vater, mit dem er kaum Zeit verbracht hatte, ihm aus dem Jenseits ein Zeichen sandte, was müsste dann erst die liebende Mutter nach 36 Jahren gemeinsamen Lebens tun? Also wartete Dumas. Aber es geschah nichts. Das ersehnte Zeichen der Mutter blieb aus. Und wie interpretierte Dumas dieses Schweigen? Er verlor nicht den Glauben an die Mutter, sondern denjenigen an das Leben nach dem Tod. Es lag für ihn also näher, eine religiöse Grundüberzeugung aufzugeben, als an seiner Mutter zu zweifeln. Marie-Louise Labouret fand in Villers-Cotterêts an der Seite ihres Mannes ihre letzte Ruhe. Der Totengräber erwähnte Dumas gegenüber, dass dort auch für ihn noch Platz sein werde. Für Dumas stand fest, dort begraben zu werden, um symbolisch im Tod mit Vater und Mutter wieder vereint zu sein. Der Tod der Eltern war eine schmerzhafte Trennung, aber eine emotionale Ablösung wurde er offenbar nicht. Wenn Liebesbeziehungen in der normalen psychischen Entwicklung eines Menschen an die Stelle der Elternliebe treten und die Person von den familiären Bindungen emanzipieren, um eine eigene Familie gründen und lieben zu können, dann scheint dies im Falle Dumas’ nicht wirklich vollzogen worden zu sein. Der unersetzliche Verlust der Mutter wurde lange nicht verarbeitet, Dumas hatte regelmäßig schwere Traueranfälle: Zurück in Paris verspürte ich selbst in meinen eifrigsten Stunden eine seltsame Leere in meinem Leben. Es hatte sich so etwas wie ein Loch in mein Herz gegraben. Ich überlegte einen Moment, woher dieser schmerzliche Druck kam, rief Meine Mutter! Meine Mutter! und brach in Tränen aus. Diese Art Krisen befielen mich überall: allein, in Gesellschaft, bei Tisch. War ich allein, gab ich mich diesen Anfällen hin; war ich in Gesellschaft, erhob ich mich, ging hinaus und weinte in meinem Zimmer. 141

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Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann wurde Dumas’ Beziehung zu den Frauen von drei Kräften bestimmt, die sich gegenseitig ergänzten: ein heroisches Vaterbild, in dem Jagd und Eroberung zen­ trale Aspekte sind und dem er nacheifert, ein erotomanisches Selbstbild, das von seiner rassistischen Stereotypisierung als »Afrikaner« geprägt ist, und eine emotionale Bindung an die Mutter, mit der Frauen nur sexuell konkurrieren, aber darüber hinaus keine dauerhaften Liebesgefühle bei ihm auslösen können. Der frühe Tod des Vaters und der damit verbundene Mangel an autoritärer Lenkung und Zwang sowie die bedingungslose Liebe der Mutter könnten zugleich zu einer kindlichen Sorglosigkeit geführt haben, die Verführung und Eroberung als eine Art Spiel erscheinen lassen, bei dem die möglichen Konsequenzen ausgeblendet bleiben. Sein Don Juanismus prägte auch Dumas’ öffentliches Image. Man war daher in Paris nicht wenig überrascht, als 1840 angekündigt wurde, dass Dumas und Ida Ferrier heiraten wollten.

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war lebte Dumas bereits seit einigen Jahren in wilder Ehe mit Ida, hatte anderen Versuchungen aber nie widerstanden. Wie sollte man sich seinen Sprung in die Ordnung des bürgerlichen Lebens erklären? Hatte sich Ida im Laufe der Jahre vielleicht doch als die geeignete Partnerin für ihn herausgestellt? Wenn man den Aussagen der Comtesse Dash, einer engen Freundin Dumas’, glauben darf, kann dies nicht der Grund dafür gewesen sein. Denn sie lässt in ihren Mémoires des autres (Memoiren der anderen) kein gutes Haar an Ida: Als Schauspielerin habe sie die Fähigkeit besessen, sich genau auf die Erwartungen anderer einzustellen und in Gesellschaften einen brillanten Eindruck zu hinterlassen. In Wirklichkeit aber sei es ihr vor allem um sich selbst und ihre Karriere gegangen und sie habe die Personen stets danach ausgewählt, welchen Vorteil sie aus ihnen ziehen konnte. In dieser Hinsicht war 142

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Dumas eine hervorragende Partie. Erstens schrieb er für sie eine Rolle nach der anderen und verzichtete sogar teilweise darauf zu signieren, wie im Falle des Stückes Bathilde, das er Ende 1838 nach einer Vorlage des jungen Auguste Maquet komplett umschrieb und dem Nachwuchsdichter die Ehre überließ, als Alleinautor dazustehen. Zweitens besorgte er ihr Engagements und hatte sie 1837 sogar an die Comédie-Française gebracht, wo sie sich allerdings nicht etablieren konnte. Mit einem der erfolgreichsten und berühmtesten Dramendichter der Zeit an ihrer Seite war Idas berufliche Zukunft gesichert. Wenn da nur nicht die vielen anderen Frauen gewesen wären! Schon Jahre vor ihrer Ehe nannte sie Dumas »ihren Mann«, um ihr Revier zu markieren, ließ ihn ausspionieren und machte auch vor hinterhältigen Methoden nicht halt, wenn es darum ging, eine Konkurrentin auszustechen. Als die Schauspielerin Virginie Bourbier, mit der Dumas 1829 ein Verhältnis gehabt hatte, im August 1836 nach sechs Jahren Engagement in Sankt Petersburg wieder nach Paris kam, brachte sie Dumas einen Hausrock und hochwertigen türkischen Tabak mit. Ida habe diese Geschenke sofort abgefangen, erzählt die Comtesse Dash, aus dem Hausrock eine Jacke nähen lassen und den erlesenen Tabak gegen ungenießbaren ausgetauscht. Wenn Dumas diesen nichtsahnend seinen Freunden anbot, hätten sie gehustet und gespuckt und gefragt, woher der Knaster stamme. Das warf natürlich ein schlechtes Licht auf Virginie. Neben ihrer extremen Eifersucht sei Ida launisch und so jähzornig gewesen, dass sie auch vor den vulgärsten Beleidigungen nicht zurückgeschreckt habe. Ganz sich selbst hingegeben, habe sie ständig heftige Erregungen benötigt, um sich lebendig zu fühlen. Mal wollte sie sich aus dem Fenster stürzen, so dass Dumas sie zurückhalten musste, mal verschwand sie. Einmal soll sie sogar beim Erzbischof von Paris vorgesprochen haben, um Nonne zu werden, wenn die Kirche sich im Gegenzug um ihre Mutter kümmere. Dumas hingegen habe sich bloß nach Ruhe gesehnt, um in Frieden arbeiten zu können, was Ida ihm aber nicht gewähren wollte oder konnte. Jeden Tag habe es Streit gegeben, der immer wieder von Freundinnen wie Mlle. Mars geschlichtet werden musste. So sei das 143

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Zusammenleben im Laufe der Jahre immer unerträglicher geworden, und Dumas habe mehrfach versucht auszubrechen, was ihm aber nie gelungen sei. Ida habe zwar ein hübsches Gesicht gehabt, aber sie sei immer ­dicker und schließlich so fett wie ein Nilpferd geworden. Dies wurde auch von der Kritik angemahnt. Le Siècle verriss Ende 1837 ihr Debüt an der Comédie-Française als christliche Märtyrerin Stella in Dumas’ Caligula mit dem vernichtenden Urteil, dass sie sich wegen ihres Körpers grundsätzlich nicht für eine ernste Rolle eigne. Vor diesem Hintergrund scheint Dumas’ Entschluss, Ida zu heiraten, noch viel weniger verständlich. Aber sicherlich lieferte die Comtesse Dash nur ein unvollständiges Bild der Sachlage. Dass jemand an der Seite von Dumas eifersüchtig werden konnte, ist wirklich nicht verwunderlich. Außerdem besaß Ida durchaus Vorzüge: Bei gesellschaftlichen Anlässen glänzte sie mit besten Manieren und sprach fließend Deutsch, was Dumas auf seiner Deutschlandreise von 1838 zugutekam, bei der sie übersetzte. Nach der Trennung von Belle blieb die kleine Marie beim Vater, der allerdings kaum Zeit für sie hatte und sich darüber freute, dass Ida sich liebevoll um seine Tochter kümmerte. Und mochte die eifersüchtige und herrische Ida nicht auch seinem Mutterkomplex entsprechen? Denn hier war eine Frau, die ihn unbedingt haben wollte und keine andere neben sich duldete. Aber vielleicht haben auch ganz nüchterne Gründe den Ausschlag gegeben: Ida leitete den Haushalt und bemühte sich, Ordnung in das chaotische Wirtschaften Dumas’ zu bringen. Seine notorischen Geldprobleme hatte sie genau im Blick, wie aus einem Brief an Jacques ­Domange, dem Verwalter Dumas’, hervorgeht. Einerseits hatte er hohe Belastungen, von denen einige unnötig waren, andererseits kümmerte er sich nicht um die Finanzen, sondern stopfte die Löcher, je nachdem, wie das Geld gerade kam. Er zahlte Unterhalt für seine kranke Mutter, für Sohn Alexandre und unterstützte dessen Mutter Laure; weiterhin hielt er eine Reihe von Schmarotzern aus, denen er oft über mehrere Jahre unter die Arme griff, hinzu kamen Aufwendungen für seine Schwester, weitere Verwandte und seine zahlreichen Geliebten. 144

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1838 waren sie außerdem in eine kostspielige Wohnung in der Rue de Rivoli Nr. 22 gezogen, schräg gegenüber vom Tuilerienpalast, wo Dumas’ enger Freund Kronprinz Ferdinand von Orléans residierte. »Wenn ich traurig war, ging ich zu ihm, wenn ich fröhlich war, ging ich zu ihm, und Freude und Trauer teilte er dann zur Hälfte mit mir«, schrieb Dumas später in Die Villa Palmieri über ihre Freundschaft. Doch diese räumliche Nähe zum Königshaus war teuer. In der Julimonarchie waren die Mietpreise stark angestiegen und machten den Wohnungsmarkt zu einem lukrativen Geschäft. Als Künstler war Dumas vom Erfolg abhängig und hatte naturgemäß schwankende Einnahmen, so dass er sich diesen Luxus eigentlich nicht leisten konnte. Seinen Lebensstil hätte er kaum aufrechterhalten können ohne die Hilfe des besagten Jacques Domange, eines ehemaligen Notars, der ihm ständig Geld lieh und seine Angelegenheiten vertrat, wenn er unterwegs war. Doch das tat Domange nicht umsonst. Als Gegenleistung kassierte er Prämien und holte sich seine Darlehen von den Einnahmen aus den literarischen Werken zurück, deren Eigentümer er war, bis Dumas die Schulden beglichen hatte. Zwar deckte er Dumas auch immer wieder bei seinen amourösen Eskapaden, er hatte zugleich aber auch ein enges Verhältnis zu Ida. Am Tag der kirchlichen Trauung, dem 5. Februar 1840, regelten Dumas und D ­ omange auch ihre Geschäftsbeziehungen durch einen Vertrag – eine kuriose Koinzidenz, die andeutet, dass das Finanzielle nicht der letzte Grund für die Verbindung gewesen sein dürfte. Mehrere Seiten hatten daran ein Interesse: Domange fand in Ida eine Unterstützung bei der Ordnung der Finanzen und damit der Sicherung seiner Kredite, und Ida wiederum sicherte sich durch die Verwaltung von D ­ omange ab und genoss den Luxus, der damit verbunden war. Denn dank Domange war Dumas stets liquide genug, um ihr teure Geschenke zu machen. Weiterhin dürften gesellschaftliche Gründe Dumas’ Entscheidung beeinflusst haben. Der Legende nach soll er Ida geheiratet haben, weil Ferdinand von Orléans die Bemerkung fallen gelassen habe, dass man ihm nur eine Ehefrau, nicht aber eine Geliebte vorstellen dürfe. Selbst wenn dies nur ein Gerücht sein sollte, ist jedoch richtig daran, dass eine wilde Ehe in den 1830er Jahren auch in Paris noch etwas 145

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­ ngewöhnliches und sogar Anrüchiges war und ins Bild passte, das U die bürgerliche Gesellschaft von der unsteten und unmoralischen Theaterwelt hatte. Dumas mochte ein Star sein und zu den Vorkämpfern der Romantik gehören, der konservativen Gesellschaftsschicht jedoch musste er als Skandalautor mit schillernder Persönlichkeit erscheinen, was seinen institutionellen und politischen Ambitionen im Wege stand. Zeitgenossen kommentierten dementsprechend, dass sich Dumas mit der Wahl seiner Trauzeugen, Charles Nodier, Chateaubriand und dem Minister Abel-François Villemain, drei Mitglieder der Académie française ausgesucht und damit drei Stimmen bei einer möglichen Wahl gesichert hatte. Vielleicht war das heilige Sakrament der Ehe auch ein strategischer Schritt Dumas’, um selbst irgendwann einmal Politiker oder einer der vierzig immortels der Académie française werden zu können. Leider verschärfte die Hochzeit einen Konflikt, unter dem Dumas schon seit einiger Zeit litt: Sein Sohn Alexandre und Ida konnten sich nicht ausstehen, vielleicht weil sie aufeinander eifersüchtig waren. Ida musste wohl spüren, dass Dumas im Herzen seinen Sohn über alles liebte, auch wenn er sich im Alltag bisher nur wenig um ihn gekümmert hatte. Die Kindheit galt in jener Zeit keineswegs als eigene Phase, die zu respektieren war, sondern als ein Übergang ins Erwachsensein. In dem Sohn sah der Vater den Mann der Zukunft, seinen Nachfolger, der seinen Namen trug. Aber dazu mussten erst einmal die Jahre vergehen. Schon Dumas’ vorherige Partnerinnen Mélanie und Belle hatten davon geträumt, mit ihm eine Patchworkfamilie zu gründen, waren aber stets am Widerstand des Jungen gescheitert. Nur Mélanie gelang es, ein Vertrauensverhältnis zu Alexandre jr. aufzubauen. Einfühlsam hat sie Dumas die Konflikte in einem Brief beschrieben, als dieser 1829 erstmals versuchte, den Sohn zu sich zu holen: Mein Freund, du weißt, wie lieb ich deinen Sohn habe, daher beurteile ich ihn mit Nachsicht, nicht mit Strenge. Nun, mein Lieber, ich glaube nicht, dass du ihn bei dir aufziehen kannst. Er hat schlechte Erziehungsgrundlagen, die neu gelegt werden müssen, und zwar so 146

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schnell wie möglich. Er wäre sicher gut bei dir aufgehoben, wenn du dich um ihn kümmern könntest, aber was könntest du ihm geben? Höchstens zwei Stunden am Tag, und die auch nicht in Folge. Außer dir nimmt er niemanden ernst, und keiner wird mit ihm fertig. Ich schaffe es noch nicht einmal mit Flehen oder Drohungen ihn zu kämmen! Er will weder lesen noch schreiben und setzt seinen Willen so heftig durch, dass ich oft mit ihm schimpfen muss. Das Schlimmste von allem und die Ursachen allen Übels aber ist, dass ihm gesagt wurde, er würde sonntags und donnerstags seine Mutter sehen. Je öfter er sie sieht, desto aufmüpfiger, zänkischer und missmutiger wird er uns gegenüber. Ich bin fest davon überzeugt, dass seine Mutter ihn uns und sogar dir abspenstig macht. Er fragt nicht mehr nach dir wie in den ersten Tagen. Er hat nur noch einen Gedanken: seine Mutter! Alles andere bedeutet ihm nichts. Offenbar bildeten Loyalitätskonflikte den Hintergrund dieser Spannungen, bei denen Alexandre jr. zwischen Vater und Mutter hin- und hergerissen wurde. Streitigkeiten der Eltern um das Sorgerecht verschlimmerten die Situation. Denn als Dumas seinen Sohn 1831 offiziell anerkannt hatte, war dies hinter dem Rücken der Mutter geschehen. Seitdem übte er nach der damaligen Gesetzgebung das Sorgerecht aus und konnte das Kind bei sich erziehen. Laure strengte zwar einen Prozess dagegen an, verlor diesen aber, weil sie zu spät gekommen war. Im Anschluss daran hatte es mehrere dramatische Momente gegeben, in denen Mutter und Sohn in Absprache miteinander einfach verschwanden und Alexandre von der Polizei abgeholt werden musste. Schließlich wurde er auf Gerichtsbeschluss in eine Pension gesteckt. Außerdem musste der Sohn erleben, dass sein Vater ständig neue Frauen bei sich hatte und dass seine Halbschwester bei ihm im Wohlstand lebte, während er, von beiden Eltern getrennt, einsam in einer Pension wohnte. Vor allem ab Oktober 1833, als er in die gehobenere Pension Saint-Victor wechselte, hatte Alexandre als unehelicher Sohn der Wäscherin – seine Mutter hatte sich mit Hilfe Dumas’ dort einstellen lassen, um bei ihm zu sein – unter den ­Hänseleien und Diskriminierungen der anderen Jungen zu leiden. Noch Jahrzehnte 147

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später sollte er dies in seinen eigenen literarischen Werken, vor allem in dem Roman L’Affaire Clémenceau, verarbeiten. Besonders gegenüber Ida fühlte er offenbar von Anfang an Hass und Ablehnung, was bald darauf gegenseitig wurde. Es ging so weit, dass Vater und Sohn geheim miteinander korrespondieren mussten, damit Ida davon nichts mitbekam. Als der Sechzehnjährige 1840 erfuhr, dass sein Vater Ida heiraten wollte, widersetzte er sich in Absprache mit Mélanie, indem er den Vater schriftlich vor die Wahl stellte, sich zwischen Ida und ihm zu entscheiden. Dumas reagierte darauf mit einem Brief, in dem sich Maßregelung, Angebot und Werbung miteinander verbanden: Es ist nicht mein, sondern dein Fehler, wenn die Vater-Sohn-Beziehung zwischen uns plötzlich erloschen ist: Du kamst zu uns und wurdest von allen gut empfangen, bis du auf einmal Gefallen daran fandst – ich weiß nicht, wer dir dazu geraten hat – jene Person nicht mehr zu grüßen, die ich als meine Frau betrachtete, weil ich mit ihr zusammen wohnte. Von jenem Tag an … hat der Zustand, über den du dich beklagst, begonnen und zu meinem Bedauern sechs Jahre lang angehalten. Nun wird sich dieser Zustand an dem Tag ändern, an dem du es willst. Schreib Madame Ida einen Brief, bitte sie darum, für dich das zu sein, was sie für deine Schwester ist, und du wirst immer und ewig willkommen geheißen. Für dich ist es ein Segen, wenn meine Beziehung anhält, denn da ich seit sechs Jahren kein Kind mit Ida bekommen habe, kann ich gewiss sein, auch weiterhin keines zu bekommen, so dass du mein einziger Sohn bleibst. … Denk doch nur daran, was wäre, wenn ich eine andere Frau heiratete, dann könnte ich mit ihr noch drei oder vier Kinder bekommen, während ich mit Ida niemals welche haben werde. Ich glaube im Übrigen, dass du in dieser Hinsicht eher dein Herz als deine Interessen zu Rate ziehst, aber in diesem Fall sind sich beide unüblicherweise einig.

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Doch auch Dumas’ plumper Verführungsversuch, an die finanziellen Vorteile des Sohnes zu appellieren, fruchtete nicht. Der Graben wurde stattdessen ständig tiefer, und es kam immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. Unter dem Druck Idas gab Dumas schließlich nach und verbot dem Sohn das Haus. Louis Hénon, der Leiter der Pension, in der sich der Sohn seit Oktober 1838 befand, teilte dem Vater dessen Reaktion darauf mit: »Er hat zwar viel geweint, mir aber Folgendes geantwortet:›Ich werde dem Willen meines Vater stets mit Respekt folgen. Möge er glücklich werden und mögen seine Gefühle für mich sich niemals ändern. Darum bitte ich jeden Tag inständig den Himmel.‹« Damit signalisierte der Sohn, wie viel ihm der Vater letztlich bedeutete. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis ihre Beziehung endlich die Form annahm, die sich beide offenbar sehnlich wünschten. In werkhistorischer Hinsicht kündigte sich in den Jahren zwischen 1836 und 1840 ein langsamer Wechsel hin zur Prosa an. Ein Grund dafür lag, wie gesehen, in der Möglichkeit, das Feuilleton der neuen Zeitung La Presse zu bedienen. Ein weiterer lag in dem Scheitern seines Versuchs, die Tragödie wiederzubeleben. Seit der Kampagne Graniers war Dumas’ schriftstellerisches Renommee angeschlagen, und schon Ende 1833 hatte die konservative Zeitung La Quotidienne angemerkt, dass er sich letztlich nur mit einem Erfolg an der C ­ omédie-Française rehabilitieren könnte. Nach seinem Erfolg mit Kean im Variétés-Theater nahm Dumas sich jetzt vor, auf die erste Bühne des Landes zurückzukehren. Er wagte dabei nicht weniger als die Wiederbelebung der Verstragödie nach antikem Stoff, den ihm der römischen Tyrann Caligula liefern sollte. Am Beispiel der christlichen Märtyrerin Stella, die Opfer der sinnlichen Gelüste des römischen Kaisers wird, wollte Dumas den Übergang von der dekadenten Antike zum Christentum inszenieren. Dabei knüpfte er mit dem Alexandriner und dem weitgehenden Res­ pekt vor der zeitlichen Einheit formal an die französische Klassik an, ohne die Romantik angesichts der schaurigen und lasziven Elemente und des christlich Erbaulichen des Stoffes zu verleugnen. Als Dumas dem Kronprinzen Ferdinand von seinem Vorhaben ­erzählte, war dieser höchst interessiert und lud ihn ein, das Stück an 149

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

Dumas’ enger Freund ­Kronprinz Ferdinand, Herzog von Orléans (Ingres, 1842)

seiner Seite im Schloss von Compiègne zu schreiben. Dumas zog es vor, in eine Art Klause im Wald wenige Kilometer vom Schloss zu ziehen, um völlige Ruhe zu haben, traf sich aber mehrmals pro Woche mit Ferdinand zu Gesprächen. Der Kronprinz besaß eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Konversation, so wie Dumas überhaupt von ihm angetan war, wie er in Die Villa Palmieri schreibt: »Von der Stimme des Herzogs von Orléans, von seinem Lächeln und seinem Blick ging ein magnetischer Charme aus, der einen faszinierte. Bei niemandem, nicht einmal bei der verführerischsten Frau, habe ich jemals etwas gefunden, das diesem Blick, diesem Lächeln und dieser Stimme nahekam.« Es gelang Dumas, die Leitung der Comédie-Française so sehr von dem Stück zu überzeugen, dass ein beispielloser Aufwand betrieben wurde. Caligula entwickelte sich zur bis dahin teuersten Inszenierung des Hauses, und Dumas wollte sogar vier Schimmel auf die Bühne bringen, um den Wagen des Kaisers zu ziehen, was Direktor Vedel allerdings kopfschüttelnd ablehnte. Die Erstellung der Bühnenbilder und Kostüme dehnte die Vorbereitungen der Premiere auf ungewöhnliche drei Monate aus und führte zu finanziellen Verlusten, da an150

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dere Stücke zurückgestellt werden mussten. Weiterhin hatte Dumas sich eine Prämie ausgehandelt und ein Sonderengagement für Ida vereinbart, die als Stella in der Comédie-Française debütieren sollte. Am Premierentag wurde im Theater auch noch eine Münze mit dem Profil des römischen Kaisers zum Gedenken an die »Uraufführung ­Caligulas von Alexandre Dumas am 26. Dezember 1837« feilgeboten. So etwas hatte es schon lange nicht mehr gegeben und zeigte, welche hochgesteckten Erwartungen man hatte. Aber das Stück fiel beim Publikum durch. Schon am Ende der ersten Aufführung hatte es Pfiffe gegeben, die sich bei den weiteren nach jedem Akt wiederholten. Dumas’ Freund und Kritiker Alphonse Karr wusste sich im Figaro nicht anders zu helfen, als die Schauspieler anzugreifen und zu kritisieren, dass die Comédie-Française statt echten Tieren Menschen in lächerlichen Pferdekostümen auf die Bühne gebracht hatte. Abschließend bedauerte er den Autor, der gewissenhaft »ein literarisches Werk« für ein Publikum geschaffen habe, das Kunst nicht mehr zu schätzen wisse. Auch Ida konnte in ihrem Debüt nicht wirklich überzeugen. Ihre von Natur aus etwas belegte Stimme, ihre mangelnde Erfahrung mit dem Sprechen von Versen und das »eigentümliche Ausmaß der Formen«, was heißen solle, dass sie zu dick sei, warfen in der Gazette de France die Frage auf, warum sie überhaupt die Rolle bekommen hatte. Bald schon machte die Comédie-Française 700 Francs pro Tag Verlust und musste Caligula nach zwanzig Spieltagen absetzen. Das passte Dumas natürlich nicht, und es entbrannte ein Streit zwischen ihm und Vedel, dem Direktor des Theaters, der öffentlich in den Zeitungen ausgetragen wurde, wo sich die beiden brieflich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf warfen. Immerhin war die konservative Presse diesmal voll zufrieden und hielt das Stück für »wahre Kunst«, wie die La Gazette de France vom 5. Januar 1838 schrieb. Die positive Resonanz einiger Kritiker sorgte dafür, dass das Stück für Dumas kein gänzlicher Misserfolg wurde, weil man ihn als unverstandenen Künstler hinstellte. Zugleich versuchte er, mit Caligula auch seine Beziehungen zum Hause Orléans zu vertiefen. Die Königin erhielt als Geschenk ein Manuskript aus 151

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

eigener Hand, das mit Illustrationen der Künstler Dauzats und Barye verziert war. In Form einer Anspielung widmete er das Stück Ferdinand von Orléans, der bei der Premiere anwesend war und Dumas zum Dank eine Tierskulpturengruppe Baryes aus seiner Sammlung schenkte, die Dumas sein Leben lang in Ehren hielt. Das Stück hatte zwar für Aufsehen gesorgt, der finanzielle Erfolg jedoch, den Dumas benötigte, blieb aus. Die Schlappe von Caligula war ein Grund mehr, sich intensiver der Prosa zu widmen. Schon im Mai 1838 erschien La Salle d’armes, ein Band mit drei Erzähltexten, aus denen der Kurzroman Pauline deutlich hervorstach und einiges Aufsehen erregte. Pauline ist ein romantischer Schauerroman ohne übernatürliche Elemente und erzählt von dem Schicksal der Titelheldin, die in die Fänge eines charismatischen, aber psychopathischen Raubmörders gerät. Strukturell zeichnet den Text aus, dass er mehrere narrative Ebenen hintereinander staffelt. In der Rahmenhandlung taucht Dumas zunächst selbst als Erzähler auf, der seine Rolle schließlich an die Figur Alfred abgibt. Alfred berichtet, wie er in der Gegend von Trouville die junge Pauline aus einem Verlies befreite. Dann wird der Stab an Pauline weitergegeben, die wiederum erzählt, wie sie in den Bann des hochintelligenten und begabten Adligen Horace de Beuzeville geriet, der ihr wie ein »être supérieur« (»überlegenes Wesen«) vorkam. Kurz darauf sind sie verheiratet. Pauline entdeckt dann aber die wahre Natur ihres Mannes und wird selbst von ihm gefangen genommen und vergiftet, bis Alfred ihr das Leben rettet und beide fliehen können. Auf den dramatischen Höhepunkt steuert die Handlung schließlich zu, als Alfred erfährt, dass Horace um die Hand seiner Schwester Gabrielle anhält. Um die Ehe zu verhindern, provoziert Alfred seinen Widersacher zum Duell und tötet ihn dabei. Doch Pauline kann nach diesen Erlebnissen kein neues Leben beginnen und stirbt nach einer Nervenkrise. Die Kritiker waren durchgehend beeindruckt davon, wie Dumas Drama und Roman in Pauline vereinte, indem er »die ganze szenische Spannung mit psychologischen Details des Romans« verband. Niemals sei der Autor von Antony dramatischer gewesen als in diesem 152

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Buch (Le Siècle). Die Gazette de France fragte sich, warum Dumas den »einfachen und natürlichen, aber dennoch höchst farbenfrohen Stil« aus Pauline nicht auch in seinem Theater entwickele. Und Le Constitutionnel lobte, dass er eine bewegende Geschichte mit einer Traurigkeit und einem Reiz an Fantasie erzähle, die er bisher noch nicht an den Tag gelegt habe: »Pauline ist ein Drama in Form einer Erzählung, ein Werk, in dem die Empfindung alles vorschreibt und eine Seite mit der nächsten Seite verbindet, eine feine und durchdachte Schöpfung, in der sich starke Effekte auf einen wortgewandten Ausdruck stützen.« Im Rückblick fällt auf, dass sich in Pauline bereits zentrale Motive des Romanciers Dumas finden lassen: beeindruckende Naturschilderungen, romantische Motive wie Ruinen und Gräber, dramatische Duelle, die Präsenz der Kunst in Form von Musik und Malerei (Alfred ist Maler) sowie ein »homme supérieur« (wie der Graf von Monte-Christo), der ebenso faszinierend wie unheimlich sein kann. Pauline dürfte eine Richtung bestätigt haben, in die Dumas nun mehr und mehr einschwenkte. Wenn der Erfolg des Romans unter anderem darauf zurückging, dass die dramatischen Motive in einer visuellen und szenischen Darstellungsweise mit feinsinnigen psychologischen Einblicken in die Figuren verbunden worden waren, musste er sich fragen, ob darin nicht eine Formel für die Zukunft lag, zumal schon bald eine zweite Auflage erschien. Das Publikum hatte Pauline noch nicht ausgelesen, da legte Dumas noch im selben Monat mit Le Capitaine Paul (Kapitän Paul) den nächsten Roman vor, der, wie Le Constitutionnel verwundert feststellte, nicht weniger »packend als der Vorgänger und nicht weniger reich an lebendigen und neuartigen Situationen« sei. Kapitän Paul ging auf ein Theaterstück zurück, das Dumas nach Coopers Roman The Pilote entworfen hatte. Harel, der Direktor des Porte-Saint-­Martin, hatte es j­edoch abgelehnt, so dass Dumas es im Frühling 1838 zu einem Roman umarbeitete. Dies ist insofern bedeutsam, als sich das Verhältnis von Theater und Roman für Dumas hier erstmals umkehrte. Zwar sollte er das Theater nie aufgeben, aber von nun an würde es nach und nach hinter den Roman zurücktreten. 153

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Romane hatten den Vorteil, dass Dumas sich der ebenso mühsamen wie unberechenbaren und komplexen Zusammenarbeit mit den Theatern und Schauspielern entledigte und sie noch einfacher mehrfach verwerten konnte. Andererseits dauerte es deutlich länger, einen Roman zu schreiben, und dafür benötigte man zudem Ruhe. Genau das hatte Dumas in Paris jedoch nicht, wo er durch seine Heirat in eine unerträgliche Position zwischen Ehefrau und Sohn geraten war, während ihn zugleich die hohen Kosten drückten. Er musste sein Heil in der Flucht suchen. Aber wohin? Warum nicht nach Italien? Dort war das Leben günstiger und außerdem beherrschte Dumas die Landessprache. Unter den italienischen Städten bot ihm Florenz gute Bedingungen. Von dort benötigte die Post eine Woche bis nach Paris, so dass er seine Geschäfte problemlos fortsetzen konnte. Am 28. Mai 1840 verließ das frisch gebackene Ehepaar mit der kleinen Marie Paris und machte sich auf den Weg in die Toskana. Gab Dumas zwar allgemein vor, er suche dort Ruhe und wolle seine Kosten senken, so gestand er seinem Freund Paul Collin, dass die Starrköpfigkeit seines unglücklichen Sohnes sein einziger Kummer sei, und »er allein ihn quasi dazu gezwungen habe, Paris zu verlassen.«

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ie Hauptstadt des Großherzogtums Toskana zählte Mitte des 19. Jahrhunderts um die 150 000 Einwohner. Als Lehen des römisch-deutschen Kaisers wurde die Toskana zwischen 1824 und 1859 von Leopold  II. aus dem Hause Habsburg-Lothringen regiert, der als einer der tolerantesten Herrscher in Italien galt. Die Zensur griff kaum in das publizistische Leben ein, was Intellektuelle und Künstler anlockte und die Stadt zu einem geistigen Zentrum machte. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte die Industrialisierung dort noch nicht wirklich eingesetzt, so dass es nur bedingt eine bürgerliche Mittelschicht gab. Die Gesellschaft teilte sich in eine dünne aristokratische Spitze und eine breite Volksbasis. Statusunter154

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schiede waren tief verankert und wurden kaum infrage gestellt. Die Starre der Gesellschaft und das Fehlen der industriellen Taktung der Tagesabläufe machten aus Florenz, wo es laut Dumas noch nicht einmal möglich war, die genaue Uhrzeit zu erfahren, ein »Eldorado indi­ vidueller Freiheit«. Erschien das Leben einerseits zwar als rückständig und apathisch, so war es andererseits auch unglaublich leicht. Wovon aber lebten die Florentiner eigentlich? Unter anderem von dem Geld, das die vielen Ausländer in der Stadt ausgaben, die dort längere Bildungsaufenthalte verbrachten. Vor allem im Winter kamen Tausende von wohlhabenden Russen, Engländern und Franzosen nach Florenz, wo es nie wirklich kalt wurde und der Himmel nur so lange bedeckt war, wie es regnete. Abendlicher Treffpunkt war das Opernhaus La Pergola, wo alles, was Rang und Namen hatte, zwischen Oktober und März eine Loge mietete. Die Opernaufführungen waren ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem es weniger um Musik und Gesang als darum ging, sich angeregt zu unterhalten sowie zu sehen und gesehen zu werden. Denn in Florenz versammelten sich auch ehemalige Regenten aus ganz Europa, die ihre Reiche verloren hatten, wovon es im 19. Jahrhundert nicht wenige gab. Nur bei den Ballettaufführungen zwischen den Opernakten schaute man andächtig zur Bühne, um die eher zweitklassigen, aber zum Ausgleich nur leicht bekleideten Tänzerinnen aus Paris zu betrachten. In Florenz konnte Dumas somit sein soziales Leben fortführen. Er hielt anfänglich an seinem luxuriösen Lebensstil fest, indem er mit Ida und Marie in den Palazzo Langestverde zog, wo sie ein Koch und Hausangestellte bedienten und man sich im Garten an Wasserspielen und einem Belvedere erfreuen konnte. Bald aber wurde dies zu teuer und sie zogen in eine bescheidenere Wohnung in der Via Rondinelli, gelegen in der Altstadt ganz in der Nähe der Piazza di Santa Maria Novella. In seinem kleinen Arbeitszimmer sollte Dumas eine enorme Produktivität entwickeln, angetrieben von der Notwendigkeit, möglichst viel Geld zu verdienen, um seine Schulden zu tilgen und seinen finanziellen Belastungen nachzukommen. Als Erstes beutete er die Goldader seiner Reisebilder nach dem Vorbild der Bände über die Schweiz weiter aus. Schon in der zweiten 155

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Hälfte des Jahres 1840 erschienen die Excursions sur les bords du Rhin (Ausflüge an die Ufer des Rheins) sowie Der Süden Frankreichs und Une année à Florence (Ein Jahr in Florenz), die 1841 mit Le Speronare und 1842 mit Le Capitaine Aréna, Le Corricolo und La Villa Palmieri fortgesetzt wurden. Richtungsweisender für die Zukunft aber wurde der historische Roman Le Chevalier d’Harmental (Der Ritter von Harmental). Dumas setzte hier die Zusammenarbeit mit dem elf Jahre jüngeren Auguste Maquet fort, der in den nächsten Jahren zu seinem engsten Mitarbeiter werden sollte. Maquet, der seit der Schulzeit mit Nerval und Gautier befreundet war, gehörte den jüngeren Zirkeln der Romantik an. Seit 1831 hatte er unter dem spielerisch-romantisierenden Pseudonym Augustus Mac-Keat erste Gedichte publiziert, unter denen vor allem die Ballade Alejo Perez um Leidenschaft, Eifersucht und Rache Aufsehen erregte. Parallel dazu promovierte er mit einer vergleichenden Studie zu den Fabeln von La Fontaine, Äsop und Phädrus, brach seine Universitätslaufbahn dann jedoch ab, um sich ganz der Literatur zu widmen. Im Unterschied zu Dumas hatte Maquet somit eine gründliche schulische und universitäre Bildung erhalten, besaß profunde Kenntnisse in Latein und Griechisch und war vertraut im Umgang mit historischen Quellen. Wie erwähnt hatte Dumas 1838 eine Vorlage Maquets zu dem Stück Bathilde umgearbeitet. Die Handlung basierte auf einer amourösen Dreieckskonstellation, die punktuelle Ähnlichkeiten zu Antony aufwies. Anfang Dezember 1838 waren beide schließlich durch Nerval ­einander vorgestellt worden. Für den damals 25-jährigen Maquet muss es ein großer Moment gewesen sein, den berühmten Dumas kennenzulernen, für Dumas hingegen war es zunächst nur eine Bekanntschaft mehr. Obwohl Maquet fleißig an seiner Solokarriere als Schriftsteller arbeitete, stieß er schnell an seine Grenzen, wenn es darum ging, sich auf dem literarischen Markt zu platzieren, wo Bekanntheit als Eintrittskarte zählte. Gerade erst hatte La Presse seine Novelle Le bonhomme Buvat mit ebenso ermutigenden wie entmutigenden Worten abgelehnt: »Sie haben ein Meisterwerk erschaffen, es ist eine Novelle voller Stil und genauer Beobachtungen, die jedoch nicht zum 156

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Typ des Feuilletons von La Presse passt. Abgesehen davon haben Sie keinen Namen, und wir wollen in unserer Zeitung nur Namen, sehr ­bekannte und sehr populäre Namen.« Was lag somit näher, als die ­Novelle Dumas vorzulegen? Bei der Lektüre des gut 60-seitigen Manuskripts über die ­Cellamare-Verschwörung aus dem Jahr 1718, die zum Ziel hatte, den Regenten Philipp von Orléans abzusetzen, muss Dumas erkannt haben, wie gut sie zu seinem Verständnis vom historischen Roman passte: Die historische Episode war eher weniger bekannt, bot jedoch reichlich Dramatik und interessante Figuren und ließ sich mühelos mit einem erfundenen Liebesplot um die fiktiven Hauptfiguren Raoul d’Harmental und Bathilde verbinden. Maquet verlangte 200 Francs Beteiligung im Falle einer Publikation, Dumas bot ihm 2000 und kündigte an, ganze vier Bände aus der Novelle zu machen. Ab Juni 1841 erschien Der Ritter von Harmental als Feuilleton in Le Siècle und ab Dezember in vier Bänden bei Verleger Dumont. Diesmal firmierte Dumas allein, Maquet hatte eben noch keinen Namen, oder wie Verleger Girardin es später ausdrückte: »Ein Roman von Dumas ist 3 Francs die Zeile wert. Einer von Dumas und Maquet 30 Sous.« Der tatsächliche Erfolg des Romans lässt sich schwer beurteilen. Die Zeitungen besprachen Romane in der Regel nicht, und die ein­ zige Kritik in Le Globe vom 27. Januar 1842 ließ sich weit mehr über die erstaunliche Produktivität Dumas’ als über den Roman aus, den der Kritiker langweilig fand. Nun sagt dies wenig über den Erfolg beim Publikum aus, mit dem die Zeitung Le Siècle offenbar zufrieden gewesen zu sein scheint, denn sie nahm Dumas noch Ende des Jahres 1841 unter einen neuen Exklusivvertrag für die kommenden Romane und Novellen. Auch die Neuauflagen über das ganze 19. Jahrhundert hinweg zeigen, dass der Roman bei den Lesern beliebt gewesen ist. Im Rückblick bildete Der Ritter von Harmental den ersten historischen Roman Dumas’ im engeren Sinne und eröffnete das gigantische geschichtliche Fresko, das er bis an sein Lebensende entwerfen sollte. Aus seiner damaligen Perspektive jedoch bedeutete der Roman noch nicht den endgültigen Durchbruch zum historischen Genre, und so fuhr er als Autor weiterhin mehrgleisig. 157

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Zu den zahlreichen Bekanntschaften, die Dumas in Florenz machte, gehörte auch Jérôme Bonaparte, der Bruder Napoleons und ehemalige König von Westfalen, zu dessen Familie er ein freundschaftliches Verhältnis aufbaute, vor allem zu dessen 20 Jahre altem Sohn, Prinz N ­ apoléon-Jérôme Bonaparte. Am 27. Juni 1842 unternahmen beide von Livorno aus einen Ausflug nach Elba, wo man Napoleon weiterhin sehr verehrte und Napoléon-Jérôme, der seinem Onkel recht ähnlich sah, gebührend empfing. Von dort aus besuchten sie die Insel Pianosa und näherten sich dem unbewohnten Eiland Montecristo, das mit seinen schroffen Felsen imposant aus dem Meer aufragte. Die wilden Ziegen, die dort lebten, lockten die Ausflügler zur Jagd. Als einer der Matrosen ihnen jedoch mitteilte, dass man nach Betreten der Insel eine sechstägige Quarantäne einhalten musste, gingen sie nicht an Land, sondern umfuhren Montecristo lediglich. Der Blick auf die Insel, die man nicht betreten konnte, beflügelte Dumas’ Fantasie. Er versprach Napoléon-Jérôme, in Erinnerung an die gemeinsame Reise, »einem Roman, den ich später schreiben werde, den Titel Die Insel von Monte-Christo zu geben.« Als Dumas gut gelaunt wie immer seinen Freund am 18. Juli erneut besuchte, wurde er mit ernster Miene empfangen. Er habe eine traurige Nachricht für ihn, kündigte der Prinz an. Sein enger Freund Kronprinz Ferdinand sei gestorben. Am 13. Juli war es auf der Route de la Révolte in Paris zu einem tragischen Unfall gekommen. Die Pferde waren durchgegangen, wodurch Ferdinand vermutlich aus der Kutsche hinausgeschleudert wurde und mit dem Kopf auf das Pflaster geprallt war. Dumas verlor den Boden unter den Füßen, sein liebster Freund war im Alter von nur 31 Jahren von ihm gegangen, ohne dass er sich von ihm hätte verabschieden können. Auch Sohn Alexandre meldete sich kurz darauf, weil er ahnte, was dieser Verlust für den Vater bedeutete. Dumas antwortete ihm am 22. Juli: »Du hast recht, ich habe sehr gelitten. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich keinen solchen Schmerz empfunden. Gotte schütze dich vor jedem Unfall, denn ansonsten, glaube ich, würde ich mir eine Kugel in den Kopf jagen.« Dann eilte Dumas nach Paris, um am 3. August an der Trauermesse 158

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teilzunehmen. Der Tod Ferdinands hatte ganz Frankreich tief betroffen gemacht. Seit einer Woche war die Fassade von Notre-Dame mit riesigen schwarzen Trauerbehängen verdeckt, und im Innenraum brannten 30 000 Kerzen. Zur Messe erschienen 40 000 Personen, die in absoluter Stille dem Ritual beiwohnten. Ferdinand hatte zwar noch drei jüngere Brüder, so dass die Nachfolge grundsätzlich gesichert war, niemand aber war so populär gewesen wie er. Seine liberale Einstellung und seine breite Begabung, die früh aufgefallen war und sich in seinen intellektuellen und künstlerischen Interessen ebenso widerspiegelte wie in seinem militärischen Mut bei seinen Einsätzen in Belgien und Algerien, hatten Ferdinand, so Dumas, zur »Hoffnung Frankreichs« gemacht. Ihm allein sei »das Wunder« gelungen, »uns mit dem Königtum wieder zu versöhnen« (Die Villa Palmieri). Denn ihm traute man zu, die widerstrebenden politischen Kräfte Frankreichs zu harmonisieren. Als Hoffnungsträger war er eine wichtige Säule der Julimonarchie gewesen, weshalb sein Tod auch die Zukunft des Regimes infrage stellte. Seine Freundschaft zu Ferdinand, der Trauerfall und dessen Umstände werfen ein Licht auf ein zentrales Merkmal von Dumas’ Persönlichkeit, die sich auch auf seine künstlerische Arbeit auswirkte: seine Unfähigkeit zu hassen. Man mache sich die Konstellation einmal klar: Dumas ist einerseits mit dem Neffen Napoleons befreundet, des Mannes, der seinen Vater hatte fallen lassen und verantwortlich ist für die Verarmung der Familie nach dessen Tod. Zugleich zählt er sich zu den engsten Freunden von Prinz Ferdinand von Orléans, der seinen Vornamen als Hommage an seinen Großvater mütterlicherseits, König Ferdinand  IV. von Neapel, trägt. Dieser König wiederum war dafür verantwortlich, dass Dumas’ Vater in Tarent mehrfach mit Arsen vergiftet wurde. Hätte Dumas nicht genügend Grund gehabt, beiden Prinzen aus dem Weg zu gehen, weil sie ihn ständig an das Schicksal seines Vaters und seiner Familie erinnern mussten? Aber so dachte und fühlte Dumas eben nicht. Er sah den Menschen als solchen und er war bereit, sich von dessen Eigenschaften hinreißen zu lassen. Als er in seinem späten Roman La San Felice ­Admiral ­Nelson, »jenen furchtbaren Feind Frankreichs«, bewundert, 159

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erklärt er, dass außergewöhnliche Menschen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft als Ausdruck »der Größe des Menschengeschlechts selbst« betrachtet und von der Menschheit großzügig mit Liebe und Stolz bedacht würden. Ganz ähnlich könnte es sich auch hier verhalten. Er sieht in ­Napoléon-Jérôme und Ferdinand nicht Abkömmlinge von Übeltätern, die seiner Familie geschadet haben, sondern faszinierende Menschen, deren Freundschaft sein Leben bereichert. Aber das ist noch nicht alles. Beide Prinzen gehören zudem rivalisierenden Dynastien an, die eine lebt im Exil, die andere ist an der Macht, und es ist ausgerechnet ein Bonaparte, der ihm den Tod eines Bourbonen mitteilt. Lief Dumas da nicht Gefahr, zwischen zwei Feuer zu geraten und sich für eine Seite entscheiden zu müssen? Aber auch diese Frage verkennt die Vorstellung, die Dumas von Freundschaft hatte. Für ihn steht sie fern von politischen oder anderen Interessen. Zwar trat er wiederholt mit Bittschriften an die Königsfamilie heran, es ging dabei aber nie um ihn selbst, sondern stets um andere, die in eine Notlage geraten waren. Daher ist es für Dumas unproblematisch, gleichzeitig mit einem Bonaparte und einem Orléans befreundet zu sein. Aber auch das ist immer noch nicht alles. Denn wir haben Dumas als politisch engagierten Republikaner auf den Barrikaden der Julirevolution mit dem Gewehr in der Hand gesehen. Wieso freundet er sich überhaupt mit Prinzen an, deren Familien Frankreich allein regieren wollen? Vielleicht kommen wir bei dieser Frage dem Außergewöhnlichen an Dumas’ Persönlichkeit sogar am nächsten. Wie er selbst in den Memoiren schreibt, zeichnet er sich durch eine ­hybride Identität aus: »Doppelt zusammengesetzt aus einem Element der Aristokratie und einem des Volkes – aristokratisch durch meinen Vater, volksverbunden durch meine Mutter – vereint niemand mehr als ich in einem Herzen sowohl die respektvolle Bewunderung vor dem, was groß ist, und das zärtliche und tiefe Mitgefühl für das, was unglücklich ist.« Dumas konnte beide Seiten sehen, und war damit zugleich ein Mensch des 18. und des 19. Jahrhunderts. Als glühender Anhänger der Volkssouveränität war er ein bekennender Republikaner, zugleich aber hatte er einen aristokratischen Sinn für das Große, das Außergewöhn160

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liche und ein Gefühl von Ehre, dem Rachsucht, Hass und Grausamkeit als seiner unwürdig erschienen. So finden sich in seinen Werken zwar klare Bekenntnisse zur Republik, niemals aber despektierliche Äußerungen über ihre Gegner, solange diese sich ehrenhaft verhalten. Dem Schriftsteller Dumas ermöglicht diese Doppelidentität, den Konflikt zwischen den zwei rivalisierenden Prinzipien, der Republik und der Monarchie, mit Leben zu erfüllen und sich in alle seine Figuren genau einzufühlen. Die zwischen 1843 und 1844 erschienenen Romane zeigen, dass Dumas sich bisher weder für die Gattung des historischen Romans noch für eine exklusive Zusammenarbeit mit Maquet entschieden hatte. Drei weitere Romane schrieb er in Zusammenarbeit mit Paul Meurice, und zwar den Schauerroman Le Château d’Eppstein, den Künstlerroman Ascanio und den sentimentalen Roman Amaury, während er als Allein-Autor mit Gabriel Lambert einen realistischen Roman über einen Hochstapler und Geldfälscher verfasste, dessen Laufbahn im Selbstmord endete. Obwohl Dumas weiterhin Theaterstücke schrieb, hatte die Romanprosa in jenen Jahren deutlich die Oberhand gewonnen, wobei er noch mit den Gattungen zu experimentieren schien. Dumas war nun Ende Dreißig, gehörte zur Avantgarde des romantischen Theaters, hatte Riesenerfolge auf der Bühne gefeiert, mit seinen Reisebildern und seinen ersten Romanen das Publikum begeistert, war mit fast allen bekannten Persönlichkeiten seiner Zeit verbandelt und wegen seines Talents und seiner auffallenden Erscheinung zu einer der ersten Superstars in der bürgerlichen Öffentlichkeit g­ eworden. Aber er hatte noch keine einzige Zeile jener Romane geschrieben, die seinen Weltruhm ausmachen sollten. Dies würde sich jetzt ändern. Im Sommer 1843 kehrte er aus Florenz zurück und nahm sich mit Maquet einen weiteren historischen Roman vor, der von der Lebensgeschichte des Charles de Batz de Castelmore, auch d’Artagnan genannt, inspiriert wurde. Dumas änderte allerdings wegen des ungeheuren Rechercheaufwands die Arbeitsmethode, wie er sich später erinnerte: »Die Fantasie für die Grundstruktur, die mein besonderes Talent ausmacht, geht [Maquet] völlig 161

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ab. Deshalb ist er stark als Kletterpflanze, aber schwach als Baum. / Also kamen wir überein, dass ich von jetzt an die Themen auswählen und die Grundstruktur vorgeben würde.« Es begannen zehn glorreiche Jahre, in denen Biografie und Werk noch mehr als bisher zusammenflossen, weil die Produktivität des Teams Dumas-Maquet alle Rekorde brach und einen in der Literaturgeschichte einzigartigen Höhepunkt erreichte.

Die Musketiere erobern Frankreich

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m 14. März 1844 erschien in der Tageszeitung Le Siècle die erste Lieferung der Drei Musketiere, die zu einem solch anhaltenden Erfolg wurden, dass man Dumas bis heute mit ihnen identifiziert. Noch bevor der erste Teil auslief, kündigte die Zeitung den zweiten an, Zwanzig Jahre später, und kaum war dieser 1845 beendet, liefen bereits Planungen für den dritten, Der Vicomte von Bragelonne, der dann allerdings erst ab 1848 geliefert wurde. Die Teile werden nicht nur von den vier Hauptfiguren zusammengehalten, sondern sind auch über ihre Handlung untrennbar miteinander verwoben. War im ersten Teil Milady de Winter die eigentliche Widersacherin der Musketiere gewesen, so wird dieser Kampf im zweiten Teil von ihrem Sohn Mordaunt fortgeführt. Hatten sie im zweiten Teil vergeblich versucht, die Hinrichtung von Englands König Karl I. zu verhindern, so unterstützt d’Artagnan im dritten die Restauration der Monarchie unter dessen Sohn Karl II. Was die Länge der Einzelteile angeht, so ist die Trilogie nicht ganz ausgewogen, da mehr als die Hälfte der über 4000 Seiten (im Taschenbuchformat) auf den Vicomte von Bragelonne fällt. Was hingegen den Bekanntheitsgrad angeht, so dominiert deutlich der erste Teil, der nicht zuletzt durch seine bis heute anhaltenden Verfilmungen populär geblieben ist, während ansonsten nur die Episode über den Mann mit der eisernen Maske aus dem dritten Teil zum kollektiven Gedächtnis gehört. Mag die schiere Menge auch quer zu heutigen Lesegewohn162

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heiten liegen, so stellt der Musketier-Zyklus immer noch ein außergewöhnliches Leseerlebnis dar, wenn man sich darauf einlässt. Robert Louis Stevenson etwa zählte den Vicomte von Bragelonne zu den Klassikern der Weltliteratur und will die über zweitausend Seiten ganze sechs Mal gelesen haben, wie in er Memories and Portraits behauptet. Die drei Musketiere war der dritte Roman, den Dumas unter Mitarbeit von Maquet verfasste. Parallel dazu arbeitete er im Auftrag der Verleger J.-B. Fellens und L.-P. Dufour an dem Geschichtsbuch Ludwig XIV. und sein Jahrhundert und war somit ungewöhnlich gut mit dem 17. Jahrhundert vertraut. Die breiten Kenntnisse, die Dumas sich dabei aneignete, waren sicherlich eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass er die historischen Ereignisse so souverän wie selten mit den fiktiven Anteilen kombinieren und zu einem faszinierend schlüssigen Gesamtzusammenhang bündeln konnte. Ob Ludwig XIII., Königin Anna von Österreich, Richelieu, Ludwig  XIV. oder Mazarin, alle zentralen historischen Figuren aus den Musketieren wurden in Ludwig  XIV. und sein Jahrhundert umfassend zugleich als Würdenträger und Privatmenschen porträtiert. Selbst d’Artagnan wurde wiederholt erwähnt und an einer Stelle als »Mann der Vollstreckung, jenseits aller Machenschaften, der seit 33  Jahren bei den Musketieren war und nichts außer seinen Anweisungen kannte« beschrieben – eine Charakterisierung, die vor allem in den zweiten und dritten Teil des Zyklus eingeflossen ist. Für die romanhafte Gestaltung der Geschichte nutzten Dumas und Maquet in erster Linie die Memoirenliteratur, in der nicht nur wenig bekannte Ereignisse erzählt wurden, sondern auch Charakter und Persönlichkeit der historischen Figuren oft plastischer hervortraten als in Geschichtsbüchern. Die Haupthandlung des ersten Teils fand Dumas in den von François Barrière 1828 herausgegebenen ­Mémoires inédits de Louis-Henri de Loménie. Sie berichten von einer Agentin ­Richelieus namens Gräfin von Clarick, die zwei Diamanten der Königin Anna entwendet, woraufhin der Herzog von Buckingham diese eilig von einem Juwelier nachmachen und nach Frankreich bringen lässt. Darin muss Dumas eine Möglichkeit gesehen haben, einen Liebesplot zu entwickeln, den er zum Spannungsaufbau benötigte. 163

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Im Zuge dieser Recherchen dürfte Dumas auf seine wichtigste Quelle gestoßen sein. Als er von Genua kommend vom 21. bis 24. Juni 1843 in Marseille Station machte, traf er seinen alten Pariser Freund Joseph Méry, dessen Bruder Louis Bibliothekar von Marseille war. Dort lieh Dumas die vier Bände der Mémoires de d’Artagnan aus und hat sie glücklicherweise nie zurückgegeben, denn sonst wären die Mahnbriefe nicht erhalten geblieben und wir wüssten nichts Genaueres darüber. 25 Jahre später erinnerte sich Dumas in einem Artikel vom 29. Februar 1868 in seiner Zeitung Le Dartagnan daran, dass die Namen Athos, Porthos und Aramis, die zu Anfang der Memoiren erwähnt werden, seine Fantasie in besonderer Weise anregten. Anschließend dürfte er die Bände Maquet zur weiteren Vorbereitung ­gegeben haben. Die Memoires de d’Artagnan sind jedoch alles andere als ein historisches Dokument, sondern ein in der Ich-Form geschriebener Memoirenroman von Gatien de Courtilz de Sandras aus dem Jahre 1700. Courtilz, der selbst viele Jahre Musketier gewesen war, stützte sich dabei auf einzelne Notizen des Grafen d’Artagnan, über den wir insgesamt nur wenig wissen. Er hieß Charles de Batz de Castelmore, wurde um 1612 in Lupiac geboren, diente unter Kardinal Mazarin und Ludwig  XIV. als Hauptmann der Musketiere und fiel 1673 bei der Belagerung von Maastricht. Als Vertrauensperson des Kardinals und des Königs wurde er mit verschiedenen Missionen beauftragt, zu deren wichtigsten die Festnahme Fouquets gehörte, der Dumas im Vicomte von Bragelonne einen großen Raum schenkt. Auch wenn bereits in Courtilz’ Memoiren Realität und Fiktion miteinander vermischt werden, so stehen sie formal in scharfem Gegensatz zur Geschlossenheit der Drei Musketiere, denn Courtilz reiht eher Einzelepisoden aneinander und stellt Dialoge in indirekter Rede dar, was die Lektüre äußerst mühsam macht. Dumas fand hier jedoch den Stoff, der die gesamte Exposition des Romans ausmacht: die Reise des jungen d’Artagnan nach Paris, sein Vorsprechen bei M.  de T ­ réville, dem Hauptmann der Musketiere, seine Begegnung mit Athos, Aramis und Porthos, die bei Courtilz drei Brüder aus der Gascogne sind, sowie die Rivalität zwischen den Musketieren und den Garden 164

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von Kardinal Richelieu. Für spätere Kapitel sollte er noch die amouröse Episode d’Artagnans mit Milady und ihrer Dienerin Ketty übernehmen. Was in der Memoirenliteratur losgelöst und additiv dasteht oder zum Teil nur in einem Satz erwähnt wird, gestaltet Dumas romanhaft aus und verschmilzt es harmonisch mit den historischen Zusammenhängen. Mit den Musketieren stellte er vier Nebenfiguren der Geschichte in den Vordergrund der Handlung, aus Richelieus Agentin Lady Clarick und der Milady von Courtilz machte er eine einzige Figur und verwob die historischen Ereignisse mit dem Konflikt zwischen Milady und den Musketieren. Die historischen Nebenfiguren, über die nur wenig bekannt ist, schenkten Dumas den nötigen kreativen Freiraum für seine Fantasie, ohne dabei jedoch die Geschichte zu entstellen. Denn es sind zwei Ebenen zu unterscheiden: diejenige der historischen Hauptereignisse, an denen Dumas nicht rüttelt, und die darunter liegende Schicht der möglichen konkreten Zusammenhänge und Hintergründe, über die man kaum etwas weiß. Dumas erzählt die Geschichte daher nicht falsch, er hält sich an die bekannten Fakten, aber er erklärt sie vielfach aus Zusammenhängen, die zwar unwahrscheinlich, aber möglich sind. War der (historisch belegte) Mann mit der eisernen Maske wirklich ein Zwillingsbruder von Ludwig XIV., der aus Gründen der Staatsräson weggesperrt wurde? Das ist ziemlich unwahrscheinlich, aber es ist möglich, und vor allem war es zu Dumas’ Zeiten eine von vielen Hypothesen, die sich um den geheimnisvollen Gefangenen rankten. Auch hier streute Dumas erneut biografische Referenzen ein, nicht nur, weil seine Vorstellungskraft sie ihm zur Verfügung stellte, sondern auch, weil er sie offenbar benötigte, um sich den Stoff persönlich anzueignen. So inszeniert er d’Artagnans Auftritt bei den Musketieren über ein Dreifachduell gegen Athos, Aramis und Porthos in offensichtlicher Hommage an seinen Vater, der bei den Dragonern einmal drei Duelle an einem Tag gehabt haben soll und dessen herkulische Kraft und Gestalt in die Darstellung des Porthos eingeflossen sein dürften. Und spiegelt d’Artagnans wachsende Frustration darüber, dass seine Höchstleistungen von den Regierenden einfach ­wieder 165

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v­ ergessen werden und er auf die ersehnten Beförderungen viel zu lange warten muss, nicht auch die Situation seines Vaters wider, nachdem dieser bei in Napoleon in Ungnade gefallen war? Die Arbeit an dem Manuskript dürfte im Dezember 1843 begonnen haben. Welch starke Rolle die Figurennamen weiterhin für Dumas gespielt haben, zeigt sich daran, dass der Roman in Le Siècle unter dem Titel Athos, Porthos und Aramis angekündigt wurde. Darauf kam es zu ersten Leserreaktionen, woraufhin sich der Herausgeber brieflich an Dumas wandte, wie dieser sich in dem bereits genannten Artikel von 1868 erinnert: Mein lieber Dumas, viele unserer Abonnenten haben bei dem Titel Athos, Porthos und Aramis einen Schrecken bekommen. Einige glauben sogar, dass Sie sich vorgenommen haben, über die drei Parzen zu schreiben, und da die Geschichte der drei Göttinnen nicht gerade lustig zu werden verspricht, – es sei denn, es gibt Neuigkeiten über sie –, schlage ich Ihnen den weitaus weniger ehrgeizigen, aber dafür umso volkstümlicheren Titel Die drei Musketiere vor … In der Tat klingen die Namen ein bisschen wie diejenigen der antiken Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos, die vielen Lesern angesichts der breiten mythologischen Bildung im 19. Jahrhundert spontan ein Begriff waren. Dumas will darauf mit seinem üblichen Humor Folgendes geantwortet haben: »Mein lieber Freund, ich bin umso mehr Ihrer Auffassung, den Roman Die drei Musketiere zu nennen, als dass es vier sind und der Titel damit absurd ist, was dem Roman den größten Erfolg verspricht.« Humor und Witz gehen bei Dumas vor Genauigkeit, denn es gibt zwar vier Hauptfiguren, d’Artagnan aber ist zunächst kein Musketier, daher ist weniger die Zahl drei das Verstörende an dem Titel als die Tatsache, dass Athos, Aramis und Porthos damit bezeichnet werden, nicht aber die eigentliche Hauptfigur d’Artagnan. Dumas hat dennoch recht, da solche Ungereimtheiten nicht zum Nachteil des Erfolgs sein müssen, sondern die Leser zum Nachdenken anregen können. 166

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Zwischen dem 14. März und dem 14. Juli 1844 erschienen Die drei Musketiere täglich mit Ausnahme von Montag und Donnerstag. Die Zeit von Mai 1844 bis Frühling 1845 verbrachte Dumas im Hotel-Restaurant Pavillon Henri  IV in Saint-Germain-en-Laye, zwanzig Kilometer westlich von Paris. Unter der Führung des Kochs Collinet hatte sich das Restaurant schnell einen Namen gemacht, nicht zuletzt wegen eigener Erfindungen wie den Pommes soufflées oder der Sauce béarnaise. In dieser anregend-appetitlichen Atmosphäre entstanden große Teile der Musketier-Bände und des Grafen von Monte-Christo. Wie lässt sich der bahnbrechende Erfolg des Musketier-Zyklus erklären? Den Franzosen bot er ein faszinierendes und bewegtes Bild von drei zentralen Momenten der Nationalgeschichte: Im ersten Teil wird Frankreich unter der Führung von Kardinal Richelieu zur Nation vereinheitlicht, weil man mit der Schlacht von La Rochelle den Einfluss der Hugenotten und der Engländer zurückdrängt, Zwanzig Jahre später dreht sich vor allem um die Fronde, das heißt, um den Machtkampf zwischen Königtum und Adel, während Der Vicomte von Bragelonne erzählt, wie Ludwig  XIV. seine absolute Herrschaft durchsetzt. Damit stehen drei kritische Phasen des Übergangs im Vordergrund, ohne dass Dumas wirklich Partei ergreifen würde. Als Athos’ Sohn Raoul erleben muss, wie ihm Ludwig  XIV. seine Geliebte Louise abtrünnig macht, sagt er das Ende des Königtums voraus, woraufhin sein Vater einschränkt, dass es wohl so ­kommen werde, dass man aber in der Gegenwart leben müsse. In diesem scheinbar beiläufigen Kommentar kommt ein wichtiger Zug von Dumas’ historischen Romanen zum Ausdruck: Bei ihm stehen die vergangenen Epochen »unmittelbar zu Gott«, wie Ranke es formuliert hat, und werden nicht aus der überlegenen Perspektive des Nachgeborenen heraus beurteilt. Dumas geht es darum, die Vergangenheit ohne Wertung möglichst aus sich selbst sprechen zu lassen. Damit erreicht er das ganze französische Publikum, ohne es durch einseitige Parteinahmen zu spalten. Was aber haben die Musketiere jenen Millionen Lesern der Welt zu bieten, denen die französische Geschichte mehr oder weniger gleichgültig ist? Es muss sich in dem Roman also über die konkrete 167

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Die vier Unzertrennlichen zu Beginn ihrer ­Freundschaft (Illustration von Maurice Leloir, 1894)

­ ermittlung historischen Wissens hinaus noch eine andere Ebene finV den, die alle anzusprechen vermag. »Einer für alle, alle für einen«, diese eidgenössische Devise hatte Dumas von seiner Schweizreise mitgebracht und zum Motto seiner vier Hauptfiguren erkoren. Das klingt so, als sei die Geschichte um die erste Boygroup der Weltliteratur ein romantisches Epos von Männerfreundschaft und Kameradschaft. In der Tat zeichnen die meisten Verfilmungen von den Musketieren ein solches Bild, im Roman sind die Beziehungen untereinander jedoch weitaus komplizierter. Während sie im Honigmond der Freundschaft unzertrennlich sind, »eingehakt die ganze Breite der Straße einnehmen« und das Bedürfnis 168

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haben, »sich drei oder viermal am Tag, sei es wegen eines Duells, wegen Geschäften oder aus Vergnügen zu sehen«, so lassen Interessen und Pragmatismus dieses harmonische Bild schon bald rissig werden, auch wenn die Freundschaftsbande letztlich nicht davon gesprengt werden. Es sind vor allem die Vier selbst, die eine idealisierte Sehnsucht nach Freundschaft haben und diese im Laufe des Zyklus immer wieder thematisieren. Zwei Gründe sind dafür verantwortlich. Da ist zunächst die geringe Bedeutung der Herkunftsfamilie, lediglich ­d’Artagnans Eltern tauchen zu Beginn des Romans kurz auf, um danach nie wieder erwähnt zu werden. In Paris steht er so verwaist da wie die anderen drei, die in den Memoires de d’Artagnan noch Brüder waren, bei Dumas jedoch ihre familiären Bande komplett verloren haben. Zweitens scheitern sämtliche Frauenbeziehungen, obwohl es ihnen an Gelegenheit nicht mangelt. So stehen sie da als vier Einzelkämpfer, denen als soziales Band einzig und allein die Freundschaft bleibt. Wirft man einen genaueren Blick auf die Rolle der Frauen und der zwischengeschlechtlichen Beziehungen, so erweisen sie sich als auffällig problematisch: Athos hat seine Ehefrau, die ihn angelogen hat, nichts weniger als erhängt (auch wenn sie dabei nicht gestorben ist), d’Artagnan rennt im ganzen ersten Teil der verheirateten Constance Bonacieux hinterher, kommt aber zu spät, um sie vor dem Tod zu retten, hinter Aramis’ Wunsch, Geistlicher zu werden, stecken Frustrationen in Liebesdingen, und der stattliche Porthos lässt sich von einer verheirateten Frau aushalten, deren wohlhabender Ehemann ausgetrickst werden muss. Zugleich wird d’Artagnans Liebe zur engelsgleichen Constance durch das heftige sinnliche Begehren infrage gestellt, das Milady in ihm erweckt und das er mit Hilfe einer List befriedigen kann, nicht zuletzt dadurch, dass er recht skrupellos mit ihrer Dienerin Ketty angebandelt hatte. Der Widerspruch zwischen marienhafter Reinheit und evenhafter Verführung ist zwar eine kulturhistorische Konstante in der christlichen Welt, aber die böse Milady ist nicht nur die interessanteste Frauenfigur, sie wird die Handlung auch entscheidend prägen, da sie sich als die eigentliche Widersacherin der Vier erweist. Sie 169

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charakterisiert einerseits Kalkül und eisige Gefühlskälte, die in ihrem angenommenen Namen de Winter und Metaphern von Raubkatzen zum Ausdruck kommen, die sie entmenschlichen. Sie hat Felton verführt und ist für den Tod Buckinghams verantwortlich, sie hat mehrfach versucht, d’Artagnan umzubringen, und sie ist niemand anderes als Athos tot geglaubte Ehefrau, »ein Dämon, der der Hölle entflohen ist« und wieder dorthin zurückgeschickt werden muss. Dafür aber bedarf es nicht nur des Zusammenhalts der vier Freunde, sondern auch noch der Unterstützung ihres Schwagers de Winter, dessen Bruder sie auf dem Gewissen hat. Milady ist das störende, gefährliche Element, das mit gemeinsamer männlicher Kraft aus der Welt geschafft wird. Dazu machen sich die Vier zu Richtern und beschließen ihren Tod, als sie bei Armentières endlich ihrer habhaft werden. Dem Fährmann der Unterwelt Charon gleich bringt der Henker sie über die Leie, köpft sie am anderen Ufer und versenkt ihre Leiche mitten im Fluss. Wer mit psychoanalytischer Symbolsprache vertraut ist, weiß nicht nur, dass die Enthauptung als Bild der Kastration fungiert, denn Milady ist die phallische Frau, welche die männliche Ordnung bedroht, sondern auch, dass das Wasser das Unbewusste repräsentiert. Dorthin kann man die Dinge zwar verdrängen, aber nicht gänzlich verschwinden lassen, und so ist es nur konsequent, wenn Milady als ihr Sohn, also als Mann, im zweiten Teil wieder auftaucht, um sich an den Verantwortlichen zu rächen. Milady schreibt sich ein in die Kulturgeschichte der femme fatale seit Eva, Delilah, Judith und Salome, die mit Romantik und Symbolismus im 19. Jahrhundert eine neue Konjunktur erleben sollte. Dies färbt sich auch auf die französische Königin Anna von Österreich ab, die ebenfalls im Zentrum des männlichen Begehrens steht: zwischen Kardinal Richelieu, ihrem Mann Ludwig XIII., der sie eifersüchtig bewachen will, und dem Herzog von Buckingham, dessen Liebe zu ihr sein Verhängnis wird. Und für Anna sind selbst die Musketiere bereit, ihren König zu hintergehen, als es darum geht, die Juwelen vom Herzog von Buckingham zurückzuholen. Nach homerischem Vorbild sind Frauen auch im Musketier-Zyklus der Grund dafür, warum Männer ihr Leben aufs Spiel setzen und in den Krieg ziehen. 170

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Das Verhältnis der Männer untereinander hingegen erscheint deutlich sorgloser und unproblematischer, denn es wird von spielerischen und rituellen Elementen geprägt. Die sonst so ernste Ehre der Männer ist hier kaum mehr als ein Anlass, um sich zu duellieren. Das klingt zwar immer noch dramatisch genug, aber tatsächlich können die idealisiert dargestellten Degenkämpfe ihren sportlich-kompetitiven Charakter nicht leugnen. Der Tod der Duellanten tritt nur selten ein, meistens sind es Verletzungen, von denen sie sich wieder erholen, wirklich ernst und dramatisch wird es nie. Der Zusammenhalt der Freunde gründet somit auch im kollektiven Scheitern der zwischengeschlechtlichen Liebesbeziehungen und in der gemeinsamen Schuld, sich das Richteramt über Leben und Tod angemaßt zu haben. Dumas’ phallische Welt der Musketiere mit ihren Hieb- und Schusswaffen wird daher nicht zu einer männlichen Regressionsfantasie wie Sergio Leones Italo-Western, aus der Frauen von vornherein ausgeschlossen sind. Das Tor zur Rückkehr in eine vorsexuelle Welt der Männerfreundschaft mit ihren rituellen Kampfspielen bleibt verschlossen, weil das bedrohliche Begehren nach der Frau bereits aufgekommen ist und in Milady nur symbolisch besiegt werden kann. In Wirklichkeit sind fast alle vier sexuell miteinander verbunden: Milady hat mit Athos und d’Artagnan geschlafen, Athos und Aramis hatten beide eine Affäre mit der Chevreuse, aus der im Falle von Athos dessen Sohn Raoul hervorgegangen ist. So wie die ­sexuellen Beziehungen der Freunde sich überkreuzen, so wenig können sie in die Geborgenheit der Männerfreundschaft zurückkehren, weil diese das Begehren nicht rückgängig machen kann und im ersten Teil letztlich der Liebe ständig untergeordnet wird. Als d’Artagnan aus England wiederkommt, um der Königin die Diamanten zu bringen, denkt er nur an Constance, nicht aber an seine drei Freunde, die auf dem Weg zurückgeblieben sind und vielleicht dringend Hilfe benötigen. Letztendlich muss M. de Tréville ihn auffordern, nach Athos, Aramis und Porthos zu schauen, weil er von selbst nicht darauf kommt. Daher ist es konsequent, wenn der Leser zu Beginn des zweiten Teils erfährt, dass die einst Unzertrennlichen seit Jahren k­ einen ­Kontakt mehr haben und d’Artagnan überhaupt nicht weiß, wo er 171

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seine Freunde suchen soll. Schließlich finden sie sich dann sogar in unterschiedlichen Bündnissen als Gegner wieder. In Zwanzig Jahre später unterstützen Athos und Aramis König Karl I., während d’Artagnan und Porthos für Mazarin im Einsatz sind und ihre beiden Freunde zwischenzeitlich sogar gefangen nehmen, wenn auch nur, um ihr Leben zu retten. Im Vicomte von Bragelonne verbinden sich Aramis und Porthos auf der einen und Athos und d’Artagnan auf der anderen Seite, wobei Athos sich weitgehend auf sein Gut zurückzieht und nur noch wenig in Erscheinung tritt. Allerdings gelingt das Bündnis zwischen Aramis und Porthos nur, weil Aramis ihn über seine Ambitionen im Unklaren gelassen hat, als graue Eminenz Frankreich zu lenken und mit Hilfe des von ihm eingesetzten Königs Papst zu werden – was der arme Porthos schließlich mit dem Leben bezahlt. Nach den Frauen macht sich nun ein zweiter Faktor bemerkbar, der die freundschaftlichen Bande ständig auf die Probe stellt: das Alter und der damit verbundene Illusionsverlust. »Ach, mein Lieber«, hält d’Artagnan Porthos gegenüber fest, »es sind nicht die Bürgerkriege, die uns auseinanderbringen. Es liegt daran, dass keiner von uns mehr zwanzig ist und die treuen Regungen der Jugend dem Säuseln des Interesses, dem Hauch des Ehrgeizes und den Ratschlägen des Egoismus Platz gemacht haben.« Noch enttäuschter klingt es im Vicomte von Bragelonne, als d’Artagnan generell an der Freundschaft zweifelt, die ihm nur noch als »ein Schatten und ein Köder wie alles, was glänzt auf dieser Welt«, erscheint. Altern und Desillusionierung sind ein ebenso erstaunlicher wie zentraler Aspekt des Musketier-Zyklus, erstaunlich, weil die Jugend der Helden für serielles Erzählen eine kommerzielle Goldgrube wäre und erfolgreiche Figuren wie die Armee der klassischen Comic-Helden niemals in die Jahre kommen. Auch Dumas hätte seine Vier in immer neue Abenteuer schicken können. Stattdessen hat er von vornherein das Vergehen der Zeit eingeplant und für so wichtig gehalten, dass er es schon im Titel angekündigt hat: Zwanzig Jahre später zeigt uns 40-jährige Helden, und in Zehn Jahre später – so der Untertitel von Vicomte von Bragelonne – sind sie dann über fünfzig. Es ging also 172

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nie darum, die Jugend seiner Musketiere auszubeuten, sondern von vornherein um die Darstellung einer zeitlichen Entwicklung. Erstaunlicherweise bleiben die Körper vom Zahn der Zeit weitgehend verschont. Als d’Artagnan im zweiten Teil Athos aufsucht, ­befürchtet er, einen von Alkohol und Trübsinn gekrümmten und ­gebrochenen Mann anzutreffen, und ist überrascht, wie wenig er sich verändert hat. D’Artagnan selbst liefert sich mit Fouquet im dritten Teil eine halsbrecherische Verfolgungsjagd, die er sogar noch zu Fuß fortsetzt, um Fouquet von seinem Pferd zu reißen. Aramis leidet als Fünfzigjähriger im letzten Teil zwar an Gicht, was ihn jedoch physisch gar nicht einschränkt, wenn er gefordert wird. Von dem herkulischen Porthos ganz zu schweigen, dessen märchenhafte Körperkraft in seinem Tod eine letzte grandiose Hommage erfährt, als er sich wie ein Atlas gegen die erdrückenden Felsmassen der Grotte von Loc­maria noch einmal aufbäumt. Anders verhält es sich mit der psychischen Entwicklung, die sich vor allem bei d’Artagnan beobachten lässt, während die übrigen drei sich weitgehend treu bleiben: Bei Athos dominieren Strenge und Tugend als Ausdruck seines Adels, bei Aramis der Ehrgeiz und der Hang zu Verfeinerung und bei Porthos Gutherzigkeit und Eitelkeit. Nur d’Artagnan gehen jugendliche Leichtigkeit, Frohsinn und Übermut weitgehend verloren und machen jenem »passiven Gehorsam« Platz, »der den Charakter eines alten Soldaten« ausmacht. Zwar ist auch er ehrgeizig, aber sein ermüdendes Warten auf Beförderung bestimmt sein langes Soldatenleben und kulminiert ironisch in seinem Tod, unmittelbar nachdem er endlich zum Marschall von Frankreich ernannt wurde. Die damit verbundene Frustration geht so weit, dass er zwischenzeitlich den Dienst quittiert und als Unternehmer eigene Missionen ausheckt, um an Geld zu kommen. Ganz in bürgerlicher Manier kauft er sich schließlich als Geldanlage eine Immobilie in Paris in bester Lage, die an einen Wirt verpachtet ist und ihm 10 Prozent einbringt. »Einer für alle, alle für einen!«, der emblematische Bündnisspruch erklingt nur im ersten Band und wird später nicht mehr in den Mund genommen. Der Tod reißt die Freunde endgültig auseinander. Als 173

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Porthos und Athos sterben, führt dies nicht dazu, dass d’Artagnan und Aramis sich wieder näher kommen. Im Gegenteil, Aramis hat sich ganz seinen Ambitionen hingegeben und kann nicht mehr der Freund sein, der er einmal war. Die letzten Worte d’Artagnans besiegeln den Bruch: »Athos und Porthos, auf Wiedersehen! – Aramis, auf immer Adieu!« Drei von ihnen werden im Tod wieder vereint, Aramis aber, der seinen Ehrgeiz über alles andere gestellt hatte, fällt für immer aus dem Freundeskreis heraus. Im Unterschied zu den zahlreichen Verfilmungen des 20. und 21. Jahrhunderts entwirft Dumas im Musketier-Zyklus somit alles andere als ein idealisiertes Bild der Freundschaft, in das sich der Leser hineinflüchten kann. Er unterzieht die Freundschaft vielmehr einer realistischen Prüfung im Lichte des zwischengeschlechtlichen Begehrens und der steigenden Desillusionierung im Alter. Es ist gerade die unauflösbare Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Freundschaft und den zentrifugalen Kräften des Freundeskreises, die Dumas’ Darstellung so faszinierend vielschichtig macht. Das Gegeneinander dieser Kräfte wird als Verlust erfahren, da die jugendliche Leichtigkeit der Freundschaft für immer dahin ist. Regt Dumas’ skeptischer Blick auf die Freundschaft zum Nachdenken an, so löst er zugleich auch Wehmut aus und bietet damit intellektuell und emotional eine breite Berührungsfläche für all jene Leser, denen die historischen Ereignisse gleichgültig sind. In der konkreten Darstellung der Staatslenker zeichnet Dumas zudem ein modernes Bild der Politik, das über Frankreich hinaus übertragbar ist. Hatte man Dumas’ Theater bereits als »materialistisch« kritisiert, so zeigt sich dies im Falle des Musketier-Zyklus an dem realistischen Bild der Mächtigen, denen es einzig und allein um den Erhalt der Herrschaft geht. Worauf die Herrschaft sich letztlich stützt, macht Königinmutter Anna ihrem Sohn Ludwig  XIV. unmissverständlich klar: »Gold bedeutet allmächtig zu sein, und nur diejenigen sind wirklich König, die allmächtig sind.« Was die Musketiere beim Älterwerden schmerzhaft erfahren müssen, ist in der Politik längst gang und gäbe: Interessen gehen immer vor. Hatte d’Artagnan sich König und Königin stets persönlich ver174

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pflichtet gefühlt, wurde er doch immer wieder fallen gelassen, wenn er nicht mehr gebraucht wurde. Stand er zunächst auf Richelieus roter Liste, so »kauft« der Kardinal ihn schließlich mit einem Offizierspatent einfach ein, als er erkennt, dass er ihm nützlich sein könnte. Besonders zynisch wird dieser Pragmatismus im Umgang der Mächtigen mit dem Glauben. Hatte bereits Milady die manipulative Kraft der Religion aufgedeckt, indem sie Felton verführte und zum Mord an Buckingham anstachelte, so ist Kardinal und Premierminister ­Mazarin von vornherein »mehr oder weniger ein Atheist und durch und durch Materialist«. Wenn es nur darum geht, die eigene Macht zu sichern und zu erweitern, dann bilden sich bestimmte Verhaltensweisen heraus, die diesen Zielen nützlich sind. Die erste Grundregel dabei lautet, niemals seine wahren Gedanken, Ziele oder Gefühle durchblicken zu lassen. Sagen und Meinen fallen dabei auseinander, und Worte werden dazu verwendet, um Absichten zu verschleiern. Daher konzentrieren sich die Figuren ganz auf die unwillkürlichen Gemütsäußerungen in Mimik und Gestik der anderen, sie halten »Rat der Gesichter«, der mit der Kunst der Astronomie verglichen wird. Spiegel der Seele ist hierbei besonders das Auge. Wenn Fouquet trotz aller Höflichkeit und Galanterie bemerkt, dass »das kleine Auge Colberts vom Neid erweitert ist und das klare Auge Ludwigs  XIV. vor Wut aufleuchtet«, dann weiß er, dass große Gefahr droht, so höflich sie auch sein mögen. Die eigentliche Kommunikation der Figuren verläuft daher meistens nicht über das Gespräch, sondern über ein scharfes gegenseitiges Beobachten. Im Umkehrschluss kann derjenige am besten regieren, der am besten seine Gedanken verschleiern kann, wie Ludwig  XIV. sehr schnell begreift. Das sagt einiges über die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Als die Herzogin Chevreuse Colbert direkt fragt, wem er vertraue, »fing der ernste Finanzrat leise an zu lachen, so dass seine dicken schwarzen Augenbrauen wie die Flügel einer Fledermaus über die tiefe Furche in seiner gelblichen Stirn auf- und abgingen. »›Niemandem‹, sagte er.« Dumas zeichnet ein abgeklärtes und realistisches Bild der Herr175

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schenden, was nicht heißt, dass er dies gut hieße. Die Ernüchterung darüber kommt deutlich in dem nostalgischen Ton zum Ausdruck, der mit dem Übergang von einem Regime zum anderen verbunden ist. Die Musketiere, Raoul von Bragelonne und Fouquet stehen nämlich für eine Kultur der Werte und der Ehre ein, die jedoch keine ­Zukunft haben wird. Athos’ Sohn Raoul wird zu einer Gegenfigur Ludwigs  XIV. aufgebaut, weil er die Wahrheit des Wortes verteidigt: »Was ich denke, sage ich zwar nicht immer, aber dann sage ich gar nichts. Wenn ich aber etwas sage, dann kann ich weder vortäuschen noch betrügen, und wer mir zuhört, kann mir glauben.« Mit dem letzten Teil des Zyklus geht diese Kultur unter. Fouquet wird von Colbert und Ludwig zuerst ruiniert und dann verhaftet, Raoul fährt auf eine militärische Selbstmordmission nach Nordafrika, weil er nicht über seine enttäuschte Liebe zu Louise hinweggekommt, Athos stirbt an der Trauer über den Tod seines Sohnes, Porthos verliert sein Leben im Intrigenspiel von Aramis, und d’Artagnan wird ausgerechnet dann erschossen, als er sein Karriereziel endlich erreicht hat. Nur Aramis hat sich den Machiavellismus der Fürsten angeeignet und überlebt die anderen. Der Übergang zum Absolutismus ist für Dumas somit nicht einfach ein Regimewechsel, sondern wird als tief greifender Wertewandel verstanden.

Schlag auf Schlag: Der Graf von Monte-Christo

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as Jahr 1844 war eine Sternstunde in der Literaturgeschichte. Denn kaum waren Die drei Musketiere im Juli abgeschlossen, begann im August Der Graf von Monte-Christo. Doch damit nicht genug: Ende Dezember setzten auch noch die Lieferungen von La Reine Margot (Die Bartholomäusnacht) ein, von den weniger umfangreichen Romanen wie Gabriel Lambert und Les Frères corses (Die korsischen Brüder), die Mitte des Jahres erschienen, ganz zu schweigen. Und 1845 ging es mit demselben unfassbaren Tempo weiter: Ab Januar erschienen der Roman La guerre des femmes (Der Krieg der 176

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Schlag auf Schlag: Der Graf von Monte-Christo

Frauen) und Zwanzig Jahre später, ab Mai der Revolutionsroman Der Ritter von Maison-Rouge und ab Herbst Die Dame von Monsoreau, die Fortsetzung der Bartholomäusnacht. Was Dumas und Maquet in diesen beiden Jahren vorlegten, ist bei anderen Autoren ein Lebenswerk. Von all diesen auch heute noch spannenden und lesenswerten Romanen kann in Sachen Popularität nur Der Graf von Monte-Christo mit den Musketieren verglichen werden. Schon Dumas selbst identifizierte sich als Autor des Grafen, indem er seine spätere Wochenzeitschrift auf den Namen Monte-Cristo taufte. In eben dieser Zeitschrift druckte er ab 17. September 1857 den Roman nochmals in Lieferungen ab und setzte ihm ein Vorwort hinzu, in dem er von dessen Entstehung erzählt. Von der Idee, einen Roman über die Insel zu schreiben, die Dumas im Juni 1842 bei einem Ausflug ins Mittelmeer mit Prinz Napoléon-Jérôme hatte, wurde bereits berichtet. Ein Jahr später sollte es dazu einen konkreten Anstoß geben. Die Tageszeitung La Presse hatte bei Dumas acht Bände Reisebeschreibungen von Paris in Auftrag gegeben. Angesichts des umwerfenden Erfolgs der Geheimnisse von Paris von Eugène Sue wünschte man sich dann jedoch keine Reisebeschreibungen, sondern einen Roman, dessen Handlung dem Autor völlig freistand, solange er in Paris spielte. Dumas erinnerte sich an einen kuriosen Stoff, auf den er in einer populären Sammlung von Kriminalfällen gestoßen war, den M ­ émoires tirés des archives de la police de Paris des Archivars Jacques P ­ euchet aus dem Jahre 1838. In deren fünftem Band befindet sich unter dem Titel Der Diamant und die Rache eine ungewöhnliche Rachegeschichte um einen Flickschuster namens Picaud. Sie erzählt davon, wie der gutaussehende, aber mittellose Mann, der im Jahre 1807 eine wohlhabende, schöne junge Frau heiraten will, die Missgunst von drei Bekannten weckt, die sich einen Spaß daraus machen, ihn als politischen Agenten Englands zu denunzieren, um die Hochzeit hinauszuschieben. Unglücklicherweise passt die Verleumdung zu Widerstandsbewegungen in der Vendée und lässt Picaud fälschlicherweise als einen wichtigen Verbindungsmann erscheinen. Kurz darauf wird er nachts verhaftet und verschwindet spurlos. 177

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

Sieben Jahre vergehen, bis das Kaiserreich 1814 zusammenbricht. Aus der Festung Fenestrelle in Italien wird ein Mann namens Joseph Lucher entlassen, der so gealtert zu sein scheint, dass er sich selbst kaum wiedererkennt, als er in den Spiegel blickt. Im Gefängnis hatte er einem italienischen Geistlichen gedient, der ihm ein märchenhaftes Erbe hinterließ. Neben einem hohen Kapital, das in verschiedenen Europäischen Banken lagerte, gehörte dazu auch ein Schatz mit wertvollen Diamanten. Reich wie ein König begibt sich Lucher, der natürlich niemand anderes ist als Picaud, 1815 nach Paris. Seine Verlobte hatte dort zwei Jahre lang um ihn getrauert und dann ausgerechnet denjenigen geheiratet, von dem die Verleumdung ausging. Als Picaud von den Hintergründen erfährt, führt er einen ausgeklügelten Racheplan aus, in dem er mehrfach die Identität wechselt und die drei Schuldigen einen nach dem anderen ermordet, bis er selbst von einem anderen zur Strecke gebracht wird, der das Geld aus ihm herauspressen will. Nicht nur der grobe Handlungsrahmen, sondern auch zahlreiche Details des novellenhaften Falls sind in den Roman eingegangen, so zum Beispiel, dass Picaud nach dem Racheakt Zettel auf den Leichen hinterlässt, auf denen er sie abzählt. Zwar fand Dumas den Text »idiotisch«, wie er schreibt, in dem Stoff sah er jedoch viel Potenzial und verfasste 1844 erste Skizzen, in denen er selbst zunächst als Ich-­Erzähler auftrat und die Insel Montecristo besuchte, wo er einem mysteriösen Grafen begegnete. In der nächsten Version tilgte Dumas den Ich-Erzähler und setzte die Figur Franz d’Épinay an seine Stelle. Im Anschluss an die Episode auf der Insel traf Franz den Grafen in Rom wieder. Dumas schaltete hier die Räubergeschichte um Luigi Vampa ein, die wahrscheinlich älter war. Diese Teile sollten später im Roman die Kapitel 31 bis 38 bilden. Als Dumas das Projekt im August 1844 mit Maquet besprach, wendete dieser ein, dass der Graf von Monte-Christo bisher bloß eine geheimnisvolle Figur ohne Vorgeschichte darstelle und dass Dumas »über die interessanteste Lebensphase« einfach hinweggegangen sei, nämlich über die Liebesgeschichte, den Verrat, die Zeit im Gefängnis und die Begegnung mit dem reichen Italiener. Dumas nahm sich dies 178

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zu Herzen, versetzte seine Figur nach Marseille und entwarf den ersten Teil des Romans, während die Episoden auf der Insel und in Rom nach hinten rückten. Noch am selben Tag schufen Dumas und ­Maquet den Plan für die ersten 600 Seiten und skizzierten grob den Rest. Der Anteil Maquets an der Planung war dabei so groß, dass Dumas ihn später als Mitarbeiter bezeichnet hat. Der dritte und längste Teil wiederum würde ganz im Sinne der Auftraggeber in Paris spielen, wo der Graf seine Rache ausführte. Am Mittwoch, den 28. August 1844, erschienen die ersten beiden Kapitel im Journal des débats, die nächsten folgten am Donnerstag, Samstag und Sonntag, danach ging es wieder am Mittwoch weiter. Die Lieferungen waren somit nicht täglich und für die Leser nicht exakt vorhersehbar. Nach dem 38. Kapitel, das am 26. November erschien, machte Dumas sogar eine sechsmonatige Pause bis zum 20. Juni 1845. Der Grund für diese lange Unterbrechung lag darin, dass er weitere lukrative Verpflichtungen eingegangen war. Als die Tageszeitung La Presse mit Balzacs Roman Les Paysans unzufrieden war, engagierten sie kurzerhand Dumas, der dort ab dem 25. Dezember 1844 Die Bartholomäusnacht publizierte. Der Graf von Monte-Christo wurde nach dem 110. Kapitel, also kurz vor der Auflösung, am 29. November 1845 nochmals um einen Monat unterbrochen, diesmal wohl auch aus Vermarktungsgründen. Denn als der Roman am ersten Weihnachtstag fortgeführt wurde, konnten die Leser zwar den Erzählfaden wieder aufnehmen, waren aber zugleich gezwungen, das Abonnement für das nächste Jahr zu verlängern, wenn sie den Schluss lesen wollten, der am 15. Januar 1846 erschien. Die Entstehungsgeschichte des Stoffes ist in vieler Hinsicht aufschlussreich. Zunächst einmal sagt sie etwas über die Gattung des Romans aus. Nicht selten wird Der Graf von Monte-Christo in der Forschung als Abenteuerroman verbucht, obwohl seine Wurzeln in einer Kriminalgeschichte liegen. So wie die gesamte Kriminalliteratur aus den damals beliebten Sammlungen von Justizfällen entstanden sein dürfte, so ist auch Der Graf von Monte-Christo eigentlich ein Kriminalroman, weil es um Verbrechen geht, die sich ­hauptsächlich 179

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im urbanen Paris abspielen, wenn man von den pittoresken italienischen Episoden einmal absieht. Letztlich dreht sich die gesamte Handlung um die Aufklärung von Verbrechen und endet erst, als alle Schuldigen bestraft sind. Schon ein grober Vergleich mit dem Kriminalfall bei Peuchet lässt erkennen, welche Richtung Dumas und Maquet dem Stoff gegeben haben. Ereignete sich die Verleumdung Picauds mitten im Ersten Kaiserreich, so verlegen die beiden die Romanhandlung in die Zeit von Restauration und Julimonarchie, deren Ende 1844 noch nicht abzusehen war. Damit reicht die Handlung bis in die Gegenwart der Leser hinein. Aus den Hauptschuldigen, die bei Peuchet kaum mehr als Namen waren, werden Vertreter der führenden Gesellschaftsschichten: Danglars wird als Bankier reich werden, Fernand macht Karriere beim Militär und der Royalist Villefort ist Staatsanwalt. Indem sie aus Schuldigen wichtige Funktionsträger der Gesellschaft machen, klagen Dumas und Maquet indirekt auch die Monarchie an. Zwar taucht der Bürgerkönig Louis-Philippe nicht auf, dafür aber einer seiner Vorgänger, Ludwig XVIII., der im 10. Kapitel als pedantisch-dekadenter Lateinliebhaber porträtiert wird und weitgehend unfähig erscheint, ein Land zu regieren. Der Erzähler hält auch nicht damit hinter dem Berg, wer denn das Gegenbild zu Restauration und Julimonarchie bildet, nämlich Napoleon. Die Verortung der Handlung in den politischen Konflikten der Gegenwart und die Abbildung von Teilen der Gesellschaft verleihen dem Roman bei allen märchenhaften und exotischen Elementen wie Diamantenschatz und italienischen Briganten eine deutlich realistische Grundierung, wie wir sie bei Dumas nur in wenigen anderen Werken kennen, darunter Gabriel Lambert oder später Die Mohikaner von Paris. Mit diesem Realitätsbezug kokettierte Dumas auch selbst. Als die Romanlieferungen Ende November 1844 unterbrochen wurden, wollte er wohl nicht zugeben, dass er sich mit Arbeit überladen hatte, und flunkerte den Lesern des Journal des débats in einer Notiz vom 20. Dezember vor, Der Graf von Monte-Christo sei gar kein Roman, 180

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sondern eine Geschichte, deren Quelle ich in den Polizeiarchiven gefunden habe. Nun sind zahlreiche Recherchen notwendig geworden, um unserem Helden bei seinem Aufenthalt in Paris zu folgen. Zudem leben viele der Personen noch und diese wären kompromittiert worden, wenn die Auflösung dieses schrecklichen Dramas, anstatt so dunkel und geheimnisvoll zu bleiben, wie es war, der Justiz in aller Klarheit aufgedeckt worden wäre. Ich muss daher entweder von diesen Personen die Erlaubnis erhalten, sie in Szene zu setzen, oder mir die Mühe machen, sie so zu verschleiern, dass die öffentliche Neugier kein Auge auf sie richtet. So viel Marketing in dieser Münchhausiade auch stecken mag, so konnte Der Graf von Monte-Christo dem damaligen Leser dennoch als realistischer Gegenwartsroman erscheinen, vor allem im Vergleich zu den historischen Stoffen Dumas’. Aus dem armen Flickschuster Picaud machten Dumas und M ­ aquet den talentierten Matrosen Edmond Dantès, der gleich im ersten Kapitel zum Kapitän befördert werden soll. Die Ähnlichkeit des Nachnamens zu dem italienischen Dichterfürsten Dante ist kein Zufall, nicht nur, weil beide Namen an einer Stelle in Kapitel 15 einmal in unmittelbarer Nähe beisammen stehen, sondern auch, weil man Dantès’ Entwicklung metaphorisch mit dem Ablauf der Divina ­Commedia als Reise durch Hölle und Limbus bis ins Paradies vergleichen kann. Der erste Teil bis zur Flucht aus dem Château d’If trägt dabei deutliche Züge einer ­Initiation, bei welcher der junge Edmond einen Leidensweg durchläuft und auf dessen Tiefpunkt er Selbstmord durch Verhungern begehen will, als plötzlich Abt Faria in sein Leben tritt, der die Rolle des Mentors bzw. des symbolischen Vaters übernimmt. Durch Faria erlangt Dantès einen neuen Status in seiner Kenntnis von Welt: Der Mentor deckt das Komplott gegen ihn auf, bringt ihm Fremdsprachen bei und lehrt ihn alles nützliche Wissen, das er sich selbst aus 150 Büchern angeeignet haben will. Diese Phase wird mit der symbolischen Wiedergeburt aus dem Leichensack im Meer abgeschlossen. Faria ist jedoch nicht nur der geistige Vater von Dantès, er versorgt ihn auch mit dem mächtigsten Werkzeug, das die Gesellschaft 181

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zu ­bieten hat: Reichtum. Als neuer Mensch – die Namenswechsel von Dantès sind auch symbolisch schlüssig – kehrt er zurück, um Rache zu üben. Aus allen Identitäten, die Dantès annimmt, Sindbad der Seefahrer, Lord Wilmore, Abt Busoni oder Zaccone, sticht sein Titel als Graf von Monte-Christo hervor, der an Jesus Christus gemahnt und einerseits ähnlich wie bei Dantès-Dante mit Leidensweg und Wiederauferstehung assoziiert ist, aber andererseits auch eine Art göttliche Mission nahelegt und sein Handeln so gesehen rechtfertigt. In den symbolisch aufgeladenen Namen deutet sich eine Stellungnahme der Autoren zu dem zentralen moralischen Problem des Romans an: der Rache. Rache ist sowohl nach christlicher Ethik des Vergebens als auch nach dem Gesetz verboten. Die Thematik der Rache wirft daher grundlegende rechtliche und moralische Fragen im sozialen Zusammenleben der Menschen auf und ist dementsprechend schon seit vorchristlicher Zeit in der Literatur präsent, sei es in Tragödien wie Antigone oder später in Shakespeares Hamlet. Dumas selbst hatte dem Thema im Jahr 1844 noch einen anderen Roman mit dem Titel Die korsischen Brüder gewidmet. Hier war die Rache aller­ dings in Gestalt der Vendetta als typisch korsische Tradition exotisiert und damit für die französischen Leser als vorzivilisatorische Form des Rechts in eine andere Kultur verlagert worden. Im Grafen von ­Monte-Christo hingegen trifft die Rache an den schuldigen ­Honoratioren von Restauration und Monarchie genau ins Zentrum der ­Nation und kann damit nicht als exotisches Schauspiel abgetan werden. Von daher ist es faszinierend zu beobachten, wie Dumas und Maquet mit diesem heiklen Aspekt verfahren. Rache und Recht sind im Deutschen nicht nur etymologisch verwandt, sie wurzeln beide auch im selben Prinzip, nämlich darin, dass eine Tat mit einer Strafe vergolten wird. Sie unterscheiden sich allerdings strukturell: Die Rache ist eine zweiseitige Angelegenheit, bei der jemand sich an einem anderen rächt, während das Recht dreiseitig funktioniert, indem eine dritte Instanz zwischen zwei Parteien vermittelt und über die Strafe entscheidet. Während der Rächer weitgehend nach eigenem Gutdünken handelt, basiert das Recht auf Gesetzen und ist damit theoretisch unabhängig von Einzelpersonen. Im 182

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Unterschied zur Rache, die immer wieder Gegenrache hervorbringen kann, will das Recht gerade eine solche Gewaltspirale verhindern und stellt somit eine ausgleichende Instanz dar. Durch seine maßlose Rache, die unschuldige Familienmitglieder der Täter trifft, macht auch Dantès sich schuldig. Seine Schuld wird in der fiktionalen Welt jedoch über mehrere Faktoren abgemildert. Erstens deutet Dantès seine Rache als eine dreiseitige Beziehung und gibt ihr damit den Anschein von Recht. Die dritte Instanz, auf die er sich beruft, ist Gott. Vor diesem Hintergrund entfalten die christlichen Analogien des Namens erst ihren eigentlichen Sinn: Durch die an ein Wunder grenzende Wiedergeburt und die Allmacht, die der Reichtum Dantès verleiht, fühlt er sich von Gott gerettet und von ihm dazu berufen, die Verbrecher zu bestrafen. Als Dantès nach dem Tod von Mme. Villefort und ihres jungen Sohnes einen Moment lang in Zweifel gerät, ob er richtig gehandelt hat, führt ihn ein Besuch im Gefängnis If wieder zu seiner alten Überzeugung zurück. Denn beim Einblick in ein Manuskript Farias stößt er auf den Satz: »Du sollst dem Drachen die Zähne ausreißen und die Löwen im Staub zertreten, sprach der Herr.« Dantès deutet dies als göttlichen Hinweis und fühlt sich in seinen Taten bestärkt. Zweitens beruft sich Dantès mitunter auf ein anderes Rechtssystem, nämlich auf das orientalische Talionsgesetz, das er für sich in Anspruch nimmt, um sein Handeln zu legitimieren. Drittens werden nicht nur die Taten vergolten, welche die Schuldigen an ihm begangen haben. Sie alle tragen weitere Schuld mit sich, für die sie nie bestraft wurden. Dantès erscheint daher weniger als egoistischer Racheengel denn als staatsunabhängiger göttlicher Richter, der die Schurken zur Rechenschaft zieht. Viertens kann Dantès nicht Hilfe beim Recht suchen, weil der Vertreter des Rechts, Villefort, selbst in das Verbrechen verstrickt ist und die Justiz diskreditiert, indem er sie zu politischen Zwecken missbraucht. Und fünftens führt Dantès den Racheakt nicht unmittelbar und brutal aus wie der Flickschuster Picaud. Vielmehr bringt er mit ungeheurer Intelligenz die Steine ins Rollen, welche die anderen 183

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z­ ermalmen werden, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen: Caderousse wird von Cavalcanti ermordet; als Fernand entlarvt wird, erschießt er sich; Villefort endet im Wahnsinn; lediglich Danglars kommt glimpflich davon, indem er nur seinen Reichtum verliert. Dumas und Maquet haben damit eine ganze Reihe von mildernden Umständen aufgefahren, um die unmoralische Rachegeschichte ­akzeptabel zu machen. Dass Monte-Christo als Erlöserfigur konzipiert wurde, suggeriert nicht nur sein Name. Auch die Tatsache, dass er bei seiner Flucht bzw. seiner symbolischen Wiedergeburt 33  Jahre alt ist, nähert ihn an Jesus Christus an. Vierzehn Jahre Festungshaft haben den unbeschwerten und hoffnungsvollen jungen Edmond Dantès in den fest entschlossenen, im Herzen tieftraurigen Menschenhasser Monte-Christo verwandelt, der sich in keine Gemeinschaft mehr einzufügen vermag. Seine Körperkraft, seine Energie, seine unbeugsame Geduld, sein enormes Gedächtnis und sein universales Wissen haben aus ihm einen »homme supéri­eur« gemacht, wie es immer wieder heißt, einen überlegenen Menschen. Monte-Christo brilliert in allen Bereichen, und Mme. de Villefort sieht in ihm »die Endsumme aller menschlichen Kenntnisse«. Ob Kunst, fremde Länder und Sitten oder Medizin, Monte-Christo weiß Bescheid. Vor allem die Medizin durchzieht leitmotivisch den Roman und reicht vom Hirnschlag des Kapitäns der Pharaon über die Anfälle Farias, die Substanzen, die der Graf zu mischen weiß, bis hin zur genauen Beschreibung der Apoplexie Noirtiers. Dumas hatte sich seit jeher für Medizin interessiert und in den 1820er Jahren mitunter einen befreundeten Arzt namens Thibaut in die Charité begleitet, um Physiologie und Anatomie zu betreiben. Doch damit nicht genug, denn Monte-Christo ist auch ployglott: »Ich nehme alle Gewohnheiten an, ich spreche alle Sprachen. Sie halten mich für einen Franzosen, nicht wahr, weil ich des Französischen mit der gleichen Leichtigkeit und sogar Reinheit mächtig bin wie Sie? Nun ja, Ali, mein nubischer Diener, hält mich für einen Araber, mein Verwalter Bertuccio meint, ich stamme aus Rom, meine Sklavin H ­ aydée hält mich für einen Griechen.« Seine genialen Fähigkeiten 184

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ermöglichen es ihm, in die verschiedens­ten Rollen zu schlüpfen, er kann den Engländer Lord Wilmore ebenso akzentfrei geben wie den italienischen Abt Busoni. Dantès potenziert seine Identitäten, um sich umso besser rächen zu können. Seine Maskerade dient aber nicht nur der Täuschung, sie ist auch Ausdruck seiner Macht, denn die Vervielfachung der Persönlichkeit lässt ihn scheinbar ubiquitär werden. Diese Freiheit erklärt Monte-Christo in dem Schlüsselkapitel Ideologie zum Zentralbegriff seiner kosmopolitischen Lebensweise: Ich bin eine Ausnahmeerscheinung, oh ja, Monsieur, und ich glaube, dass sich bis heute niemand in einer vergleichbaren Position wie ich befunden hat. Die Königreiche sind begrenzt, sei es durch Berge, sei es durch Flüsse … Mein Königreich hingegen ist so groß wie die Welt, denn ich bin weder Italiener, noch Franzose, noch Hindu, noch Amerikaner, noch Spanier. Kein Land kann sagen, dass ich in ihm geboren wurde. … Sie verstehen also, dass mich, da ich keinem Land angehöre, keine Regierung um Schutz bitte, keinen Menschen als meinen Bruder anerkenne, weder Skrupel, der die Mächtigen hemmt, noch ein Hindernis, das die Schwachen bremst, lähmt oder aufhält. Ich habe nur zwei Gegner, ich sage nicht, dass sie mir überlegen sind, denn mit Standhaftigkeit unterwerfe ich sie: die Entfernungen und die Zeit. Der dritte Gegner ist der schrecklichste von ihnen, es ist die menschliche Bedingung der Sterblichkeit. Sie allein kann mich auf meinem Weg aufhalten, bevor ich das Ziel, nach dem ich strebe, erreiche. Alles andere habe ich berechnet. Ein solcher »homme supérieur« findet, wohin er auch geht, überall seine Bewunderer, und der junge Morrel wird vor der »beinahen Göttlichkeit dieses Mannes« sogar in die Knie gehen. Monte-Christo gehört zu den ersten Superhelden der populären Literatur des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu Karl Mays Alter Ego Old Shatterhand beispielsweise erscheint das Bild von Edmond Dantès allerdings gebrochen. Denn er kann auch kaltblütig und egoistisch sein. Überhaupt ist der Egoismus die menschliche Schwäche, die der Roman am schärfsten kritisiert, ohne vor der eigenen Hauptfigur Halt zu machen, 185

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ja Monte-Christo vertritt sogar ganz offen eine Philosophie des Egoismus, die ihn in einem zweifelhaften Licht erscheinen lässt: Was ich Ihnen jetzt sagen werde, mag Ihnen, meine Herren Sozialisten, Progressiven und Menschenfreunde, merkwürdig vorkommen, aber weder beschäftige ich mich jemals mit meinen Mitmenschen, noch trachte ich danach, eine Gesellschaft zu schützen, die mich nicht schützt, ja, ich würde sogar sagen, die sich im Allgemeinen nur um mich kümmert, um mir zu schaden. Indem ich ihnen meine Wertschätzung versage und ihnen gegenüber neutral bleibe, sind mir vielmehr Gesellschaft und meine Mitmenschen zu Dank verpflichtet. Eine auf diese Weise a-soziale Erlöserfigur ist alles andere als ein leuchtender Superheld, und der Erzähler stellt an einer Stelle richtig, dass die Welt auch gar nicht so schlecht sei, wie Dantès sie sehe. Diese Brechung muss man berücksichtigen, um eine der wirkmächtigsten Deutungen der Romanfigur Monte-Christo einschätzen zu können. Sie stammt von dem marxistischen italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci, der aus politischen Gründen von den Faschisten zwischen 1929 und 1935 inhaftiert wurde und in dieser Zeit seine Gefängnishefte schrieb. Darin widmete er sich neben vielen weiteren Themen in essayistischer Form auch dem Populärroman Dumas’. In Heft 16 sieht Gramsci den Ursprung von Nietzsches Übermenschen im Grafen von Monte-Christo. Angesichts der hohen Belastung des Begriffs Übermensch seit 1945 bedarf dies einer kurzen Erläuterung, um Missverständnisse zu vermeiden. Monte-Christos Überlegenheit gründet hauptsächlich in seiner Unterweisung durch Abt Faria und der Stärkung seines Durchhaltevermögens während der langen Leidensphase der Kerkerhaft. Sein berühmter Leitspruch, der die letzten Worte des Romans bildet, lautet dementsprechend: »Attendre et espérer«, Warten und Hoffen. Seine Überlegenheit ist also nicht angeboren, sondern Ergebnis einer Entwicklung, während der rassistisch geprägte Über- oder von den Nationalsozialisten sogenannte Herrenmensch als biologisch überlegen angesehen wird. 186

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Bei Dumas hingegen dürfte die Vorstellung vom »homme supé­ ri­eur« unmittelbar von der Napoleon-Begeisterung beeinflusst sein, wobei Napoleon für einen kometenhaften Aufstieg vom Schüler der Militärschule zum Kaiser Frankreichs aufgrund von Leistung und strategischer Intelligenz steht. Auch Gramsci vermutet, dass der Graf von Monte-Christo wohl als »demokratische Reaktion« auf den feudalen Ursprung des Rassismus zu verstehen sei. Anders gesagt: Während der Adel in der Feudalzeit seine Überlegenheit aus dem Stammbaum, also biologisch rechtfertigte, verstehen Republik und Kaiserreich ihre Elite als Leistungsadel, den man sich über Talent und Fleiß zu erkämpfen hat. Dennoch wird Monte-Christo bei Dumas nicht einfach als Erlöserfigur idealisiert, sondern bleibt in seiner Ambivalenz bestehen. Dantès ist eben deshalb eine faszinierende Erscheinung, weil er nicht in ein Gut-und-Böse-Schema passt und weil sich Dumas und Maquet einer allgemeinen Bewertung ihrer Figur enthalten, deren bedrohliche Züge niemals ganz verschwinden. Dies zeigt sich auch in Bezug auf diejenige Kraft, welche die Gesellschaft bestimmt und die unmittelbar mit Monte-Christo verbunden ist: das Geld. Erscheint Der Graf von Monte-Christo vordergründig als Racheroman, so ist er im Kern ein Geldroman. Denn auch die Rache bleibt der finanziellen Potenz untergeordnet, weil nur die schöpferische Kraft des Geldes sie überhaupt ermöglicht, wie Dantès selbst während seiner Unterweisung durch Abt Faria erkennt, als der Mentor ihm erklärt, »wie viel Gutes in unseren modernen Zeiten ein Mann mit dreizehn oder vierzehn Millionen Vermögen seinen Freunden tun konnte. Daraufhin verfinsterte sich Dantès’ Gesicht, denn das Rachegelübde, das er abgelegt hatte, kam ihm in den Sinn, und er dachte darüber nach, wieviel Schlechtes umgekehrt in unseren modernen Zeiten ein Mann mit dreizehn oder vierzehn Millionen Vermögen seinen Feinden antun konnte.« Was das Geld angeht, so ist der Roman illusionslos. Als oberstes Gut steht es über allen Werten und Überzeugungen, denn es sei »die erste und größte Kraft, über die ein Mensch verfügen kann«, erklärt niemand anderer als der Erzähler selbst. Alle menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten erweisen sich letztlich als Geschäft. Wenn von Interessen 187

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die Rede ist, welche die Figuren lenken, so sind stets Geldinteressen damit gemeint. Dass es bei Geschäften, wie Morrel erklärt, keine Freunde, sondern nur Geschäftspartner gebe, mag wenig überraschen. Dass in nachrevolutionärer Zeit aber auch Justiz, Politik, Ehe und Liebesaffären von Geldinteressen bestimmt werden, ist dann schon deutlich ernüchternder. Vom kleinen Gefängniswärter bis zum millionenschweren Bankier, für alle sind Nutzen und Nachteile nichts weiter als Rechenexempel. Und wenn das Geld als Machtmittel anfänglich zu scheitern droht, wie bei dem Telegrafenangestellten aus Kapitel 61, dann reicht es aus, ihm die Geldscheine vor die Nase zu halten: −− −− −− −− −− −− −−

Was ist das? Wie bitte! Kennen Sie etwa diese Zettelchen aus Papier nicht? Es sind Banknoten! Genau, und zwar fünfzehn Stück. Und wem gehören sie? Ihnen, wenn Sie wollen. Mir!, rief der Angestellte mit erstickender Stimme.

Was die Fantasie nicht schafft, gelingt dem Papier, eine Szene, die zeigt, dass das Geld längst zum Fetisch geworden ist, auch wenn es im Roman noch mit Diamanten konkurriert, als es darum geht, Caderousse dazu zu bringen, die Namen der Verantwortlichen auszuplaudern. Zwar ist die Linie zwischen Gut und Böse klar erkennbar, von der Macht des Geldes aber sind alle betroffen. Überschritten wird die moralische Grenze immer dann, wenn die menschliche Schwäche par excellence, der Egoismus, stärker wird als andere Rücksichten. Auch der Verrat an Dantès, mit dem alles begann, war nur im Falle von Fernand ein Verbrechen aus Leidenschaft (für die schöne Mercédès), der eigentliche Ansporn dazu kam von Dantès Kollegen Danglars, der neidisch auf dessen Erfolg und den in Aussicht gestellten Kapitänsposten war. Eine derart illusionslose Aufdeckung der Mechanismen der Geldgesellschaft ist ungewöhnlich für einen Populärroman und hat das Interesse der marxistischen Literaturwissenschaft geweckt. In der wenig bekannten Leipziger Dissertation von Jutta Emcke aus dem Jahre 1964 188

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wird dies ausführlich nachgewiesen und mit Respekt gewürdigt, auch wenn die Illusionslosigkeit nichts am abschließenden vernichtenden Urteil über den Roman ändert. Denn Dumas stelle, so Emcke, das System nicht infrage, im Gegenteil, indem gezeigt werde, dass der Titelheld sich mit Geld durchsetzt und seine Rache vollzieht, werde es bestätigt. So logisch wie diese Argumentation auch klingen mag, ist sie doch das Ergebnis einer vorangestellten Entscheidungsfrage: Liegt es am Menschen oder am System? Für Dumas liegt es an der Natur des Menschen, das heißt in seiner Neigung zum Egoismus, für den Marxismus hingegen am System. Dabei wird Der Graf von Monte-Christo vom Ende her beurteilt, und was nicht nur die marxistische Literaturkritik an dem Roman gestört hat, ist das Happy End, bei dem Monte-Christo am Horizont mit einer Segeljacht auf dem Mittelmeer in Begleitung der schönen ­Haydée verschwindet und nun endlich das Liebesglück nachholen kann, das der Verrat ihm vor über zwanzig Jahren genommen hatte. Wirft man einen Blick auf einen anderen Schlüsselroman der Geldgesellschaft, Balzacs zehn Jahre älteren Vater Goriot, so ist dieser zwar nicht weniger illusionslos, endet jedoch tragisch, denn hier wird der Titelheld aus finanziellen Gründen von seinen Töchtern fallen gelassen und muss einsam sterben. Tragische und offene Enden wurden, egal ob von linken oder rechten Kritikern, Intellektuellen und Literaturwissenschaftlern, immer weitaus höher eingeschätzt als die glücklichen. Die Gründe lagen in einer allgemeinen Ablehnung populärer Literatur als Evasionsliteratur. Hatte Karl Marx die Religion als Opium fürs Volk gebrandmarkt, so übertrugen Intellektuelle dies bald auf jede Form des Populären. Stand im 19. Jahrhundert zunächst der Roman unter Verdacht, das Volk vom Wesentlichen abzulenken, so waren es im 20. Jahrhundert Film und Fernsehen. Gramsci hielt den Grafen von M ­ onte-Christo sogar für den »opiumhaltigsten« der populären Romane und fragte, »welcher Mann aus dem Volke glaubt nicht, ein Unrecht von Seiten der Mächtigen erlebt zu haben, und malt sich nicht die Bestrafungen aus, die er ihm antun will? Edmond Dantès bietet ihm das Vorbild,›berauscht‹ ihn vor 189

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Begeisterung, vertritt den Glauben an eine transzendente Gerechtigkeit, an die er›systematisch‹ nicht mehr glaubt.« Heute sieht man solche Diskussionen aus größerer Distanz, nicht zuletzt, weil der Volksbegriff, mit dem hier argumentiert wurde, ziemlich unscharf bleibt. Denn die populäre Kultur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass jeder sie rezipiert, vom Auszubildenden bis zum Millionär. Wer im 19. Jahrhundert Dumas’ Feuilletonromane lesen wollte, musste nicht nur lesen können, sondern auch das Geld für ein Zeitungsabonnement haben. Selbst die späteren Buchausgaben richteten sich keineswegs nur an ein finanziell schwaches Publikum, sondern streuten sich je nach Ausstattung über eine breite Leserschaft. Eine Unterteilung in »ungebildete« Leser einerseits und intellektuelle Leser andererseits entspricht auch im 19. Jahrhundert kaum der Realität. Selbst wenn das Streben nach Gerechtigkeit und die Probleme der Geldgesellschaft die zentralen narrativen Motoren des Grafen von Monte-Christo sind, erschöpft sich der umfangreiche Roman nicht darin. Zwei weitere besonders kuriose Aspekte sollen abschließend noch erwähnt werden. Da ist zunächst der alte Noirtier, der nach einem Hirnschlag im Rollstuhl sitzt und nur noch mit den Augenlidern zwinkern kann. Geistig zwar völlig wach, ist er doch nicht in der Lage, mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Nur er weiß aber um einige Geheimnisse der Familie, von denen das Glück seiner geliebten Enkelin Valentine abhängt. Sie ist auch die Einzige, die eine enge Beziehung zu ihm hat und versteht, seine Blicke zu lesen. Dafür hat sie ein faszinierendes Übersetzungsverfahren entwickelt: Sie sagt das Alphabet auf und wartet auf einen Lidschlag von ihm, der ihr den Buchstaben zu erkennen gibt, mit dem das Wort anfängt, das er sagen will (Kap. 58). Dumas und Maquet nutzen die Unfähigkeit Noirtiers zu kommunizieren nicht nur geschickt zur Spannungserzeugung, sie liefern damit auch eine genaue Darstellung des Locked-in-Syndroms, das übrigens erstmals 1966 medizinisch beschrieben wurde. Ungewöhnlich am Grafen von Monte-Christo ist weiterhin, dass Dumas und Maquet in Eugénie Danglars und ihrer Lehrerin Louise d’Armilly eine lesbische Liebesbeziehung porträtieren. Die selbstbewusste Eugénie gehört zu den wenigen Figuren, die sich nicht ­allein 190

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Ein Pamphlet und seine Folgen

dem Geld verschreiben und die ihre Freiheit, sich selbst zu verwirklichen, über die lukrative Verheiratung stellen, weil sie meint, aus eigener Kraft als Künstlerin Geld verdienen zu können. Männer verabscheut sie und flüchtet mit Louise nach Belgien. Um nicht aufzufallen, schlüpft sie in Männerkleidung und schneidet sich die Haare ab, was ihrer Schönheit und Attraktivität keinen Abbruch tut. Auf ihrer verkappten Hochzeitsreise landen beide Frauen schließlich im Bett, »eng umschlungen und in die Decken eingehüllt«, eine für die heteronormative bürgerliche Gesellschaft der Zeit gewagte Darstellung homoerotischer Anziehung. Sie ist kein Einzelfall in Dumas’ Werk. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist er auch der Autor des höchst freizügigen Roman de Violette, einem 1870 anonym erschienenen kleinen Meisterwerk der erotischen Literatur, in dem die sapphische Liebe eine zentrale Rolle spielt.

Ein Pamphlet und seine Folgen

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achdem es bereits in den 1830er Jahren Diskussionen um die Autorschaft von Dumas gegeben hatte, rief sein enormer Erfolg in den 1840er Jahren erneut Neider und Widersacher auf den Plan. 1845 erschien eine wütende Schmähschrift mit dem Titel Die Romanfabrik. Firma Alexandre Dumas und Co., die eine solche Dauerwirkung entfalten sollte, dass wir etwas genauer darauf eingehen müssen. Sie stammte aus der Feder eines streitsüchtigen jungen Publizisten namens Charles Jacquot, der sich nach seinem vierten Vornamen und seiner Heimatstadt in den Vogesen das Pseudonym Eugène de Mirecourt gegeben hatte. Jacquot bezeichnet im Französischen einen Papagei, was nicht gerade verheißungsvoll klingt für einen angehenden Schriftsteller mit hohen Ambitionen. Dass die Präposition »de« dabei zugleich wie ein Adelspartikel aussieht, war laut Mirecourt zwar ungewollt, es dürfte seinem Image aber auch nicht geschadet haben. Nachdem Mirecourt Dumas bereits im Dezember 1844 in der S­ ociété des gens de lettres direkt angegriffen hatte, folgte im Februar 1845 sein 191

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60-seitiges giftiges Pamphlet, in dem er seine Vorwürfe mit rassistischen Diffamierungen begründete und Dumas’ Charakter auf seine »Doppel«-Abstammung von einem französischen Adeligen und einer afrikanischen Sklavin zurückführte: »Das Äußere von Herrn Dumas ist allgemein bekannt: Er hat die Statur eines Tambourmajors, die Glieder des Herkules in ihrer vollsten Ausdehnung, hervorspringende Lippen, eine afrikanische Nase, einen Krauskopf, ein gebräuntes Gesicht. Seine Herkunft steckt von oben bis unten in seiner Person, aber sie zeigt sich noch mehr in seinem Charakter.« Und dieser Charakter musste Mirecourts Logik entsprechend ein »Doppel«-Charakter sein, der Dumas zugleich als »Neger« und »Marquis« ausweise: »Allerdings geht der Marquis kaum tiefer als in die Haut. Wischen Sie die Schminke ein wenig ab, zerreißen Sie das schludrige Kleid, schenken Sie gewissen Régence-Manieren keine Beachtung, tun Sie so, als seien Sie taub für die Sprache höfischer Salons, reizen Sie irgendeine Stelle der zivilisierten Oberfläche, und der Neger wird Ihnen seine Zähne zeigen.« Vom »Neger« habe Dumas den schlechten Geruch, die Lust, zu Hause nackt herumzulaufen, seine groben Essenssitten und seine Vorliebe für Nippes und glänzenden Tand. Vom Marquis wiederum stammten seine Ruhm- und Verschwendungssucht, sein Schürzenjägertum und seine Arroganz gegenüber dem Personal. Im Ganzen ergebe dies eine »bizarre Mischung höherer Eigenschaften und absurder Schwächen.« Bloß der Zufall habe Dumas als Kind vereinsamter Landstriche in die Wiege der Zivilisation gelegt: »Unsere Sitten aber konnten ihn nicht zähmen.« Vor dem Hintergrund solcher Pseudotheorien und haltlosen Behauptungen, die nichts als infame Beleidigungen waren, entwickelte Mirecourt eine Generalverurteilung von Mensch und Werk. Es ging eben nicht darum, das Werk Dumas’ zu kritisieren, sondern ihn als Person zu verunglimpfen. Als Erstes stellte er ihn als Plagiator hin, der sich seit jeher bei den großen Autoren wie Goethe, Schiller, Calderón, Shakespeare oder Scott nach Lust und Laune wie ein Lumpenflicker bedient habe. Dann wollte er Dumas politisch unglaubwürdig machen und warf ihm Opportunismus vor, da er je nach Situation mal Royalist, Bonapartist oder Republikaner gewesen sei. 192

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Das Schlimmste war für Mirecourt jedoch, dass Dumas Ghostwriter anstelle, welche die Texte für ihn verfassten, die er, der an regelmäßige Arbeit nicht gewöhnt sei, bloß unterzeichne. Aber »der Name dieses Mannes ist eine Lüge! Er zwingt ihn einem frech auf. Es sind nicht seine Bücher, und die Kolumnen wurden von anderen geschrieben. … Was er als seine Nachkommenschaft ausgibt, sind Findlinge, deren Vater er niemals gewesen ist.« Während die Ghostwriter für ihn schufteten, genieße Dumas den Erfolg, denn »Zusammenarbeit« bedeute für ihn »Erholung und far niente, süßer Zeitvertreib, der Diwan einer Geliebten, knallende Sektkorken, Maskenbälle, Kutschreisen, die Freuden von Florenz, Spaziergänge in der Schweiz, Bärensteaks und eine Menge anderer schöner Dinge, derer er sich nicht erfreuen könnte, wenn er nicht hie und da es anderen anvertraut, Meisterwerke zu verfassen.« Dumas’ Mitarbeiter  –  er nennt Mallefile, Paul Meurice, Hippolyte Augier, Auguste Maquet, Fiorentino und Couailhac – sollten sich endlich wehren gegen diesen Vampir, der jungen Talenten das Blut aussauge. Eugène Sue und Dumas hätten die französische Literatur monopolisiert und damit dem Untergang geweiht, so das Fazit Mirecourts, in dem seine Anklage gipfelt: Ja, Herr Dumas, ja, Sie großer Mann, Sie töten die Literatur. Erst besetzen Sie alle Tribünen, die für andere Talente als dem Ihrigen offen stehen müssten. Sie scharen gewissenlose Schreiberlinge um sich, die der Feder die Würde nehmen, die sich verschämt hinter dem Schleier der Anonymität verbergen und denen es von da an gleich ist, die Hefe des schlechten Geschmacks und verderbliche Grundsätze mitten in die Massen zu schleudern. Mit Hilfe dieser Schattenarbeiter mischen Sie ein langsames Gift, das in die Adern des Gemeinschaftskörpers eindringt. In Ihrem Backtrog verkneten Sie Geschichte und Lüge miteinander zu einem unverdaulichen Teig, den Sie dem Volk als intellektuelle Nahrung hinwerfen. … Heute gehen gute Bücher unter wie ein Stein, der schöne Stil wurde seines Reizes beraubt, das Wahre erscheint fade, das Natürliche langweilt. Man möge ein Meisterwerk ausarbeiten und kann sicher sein, 193

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dass Ihren grotesken und verlogenen Feuilletonbeiträgen ohne Weiteres der Vorzug gegeben wird. Das, Herr Dumas, ist aus der Literatur geworden, seit sie in Ihren Händen liegt. Dumas reagierte darauf am 17. Februar mit einem Brief an das C ­ omité de la Société des gens de lettres und entwickelte darin eine ebenso simple wie entwaffnende Argumentation: Worin liegt der Missbrauch, wenn zwei Personen sich zur Arbeit zusammenschließen und eine Einheit unter besonderen Bedingungen bilden, mit denen beide Partner stets einverstanden waren und weiterhin einverstanden sind? Und daran schließt sich die Frage an, ob dieser Zusammenschluss irgendjemandem oder irgendetwas geschadet hat. … Haben Die Musketiere der Zeitung Le Siècle, die sie publiziert hat, oder Herrn Baudry, der sie herausgegeben hat, geschadet? … Nein, denn das Publikum hat sich für sie entschieden in jenem merkwürdigen Prozess, in dem es ein Urteil, aber keine Klage gibt. Hat unsere Vereinigung meinen Berufskollegen etwa geschadet? Nein, denn sie befanden sich in derselben Lage und konnten, sei es allein, sei es gemeinsam, ihr Werk meinem gegenüberstellen, was ja auch jeder von ihnen getan hat. Zugleich erstattete er Anzeige gegen Mirecourt wegen Beleidigung. Nachdem Dumas Maquets Anteil an den Romanen anerkannt hatte, kaufte er ihm seine Rechte für 200  Francs pro Band bei jeder Ausgabe wieder ab. Nicht zuletzt, um sich gegen mögliche Ansprüche von Maquets Erben zu schützen. Daher bat er ihn um eine schriftliche Erklärung, der Maquet in einem Brief vom 4. März nachkam und in der er auf alle Ansprüche auf die Romane verzichtete. Am Prozesstag drängelten sich Schaulustige und Journalisten vor dem Gerichtssaal, um den Schriftstellerstar zu sehen, der persönlich erschien. Jacquot alias Mirecourt wurde zu zwei Wochen Haft verurteilt wegen »übelwollenden Behauptungen gegen den Kläger in 194

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seinem Stande als Schriftsteller, aber auch wegen Anschuldigungen und schwersten Beleidigungen gegen ihn als Person und gegen das Privatleben Herrn Dumas’, Beleidigungen, die gegen seine Ehre und sein Ansehen gehen«. Außerdem sollte das Urteil in zehn Zeitungen der Wahl Dumas’ bekannt gegeben werden. Historisch kann der Fall Mirecourt als ein frühes Beispiel dafür angesehen werden, wie in der aufkommenden Star- und Celebrity-Kultur der neuen Massenöffentlichkeit zugleich ein parasitärer Raum für das Geschäft mit Diffamierungen entstand. Mit dem Urteil wurden zwar die Beleidigungen geahndet, der Richter äußerte sich aber nicht zur Stichhaltigkeit der Plagiatsvorwürfe. Auch wenn Mirecourt verurteilt wurde, waren seine Behauptungen keineswegs geklärt oder gar ausgeräumt. Mirecourt selbst hielt sein Pamphlet gegen Dumas sogar für »unsterblich«, und dies stimmt inso­ fern, als einmal verbreitete Rufschädigungen nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen sind. Ein Blick in die Rezeptionsgeschichte legt nahe, dass seine Schmähschrift einen nachhaltigen Einfluss gehabt hat, und zwar vor allem seine rassistische Herabwürdigung Dumas’ und dessen angebliche Ausbeutung junger Autoren. Zunächst nahm die Bühne das Thema auf. Am 2. März 1847 wurde der Einakter Les Collaborateurs (Die Mitarbeiter) von Louis Jousserandot im Vaudeville-Theater uraufgeführt, in dem es um den Vielschreiber Florensac geht, der im großen Stil Romane, Theaterstücke und Feuilletonartikel liefert, sie in Wirklichkeit jedoch von einem Mitarbeiter verfassen lässt und sie unterzeichnet, ohne sie überhaupt gelesen zu haben. Als die Plagiate aufgedeckt werden, beugt sich ­Florensac der abschließenden Moral des Stückes, die wie ein Echo Mire­courts klingt: Macht das Feld also frei für die jungen Autoren, gebt endlich auf das traurige Monopol, damit auch sie erklimmen das Kapitol! Und Ihr: Arbeitet allein, dann bleiben Ruhm und Gold Euch auf dem Wege des Triumphes hold. 195

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Rückenwind erhielt Mirecourt weiterhin durch den Bibliografen ­Joseph-Marie Quérard und sein ebenso umfangreiches wie kurioses Nachschlagewerk Les Supercheries littéraires dévoilées (Handbuch der literarischen Betrügereien, 1845 – 1853) über Pseudonyme, Plagiate und weitere Formen der Täuschungen des Publikums durch Literaten. Kaum ein Autor wird dabei so ausführlich behandelt wie Dumas, dem über 150 Spalten gewidmet sind. Zwar lieferte Quérard dabei erstmals eine kommentierte Bibliografie der Dumas’schen Werke bis 1846, seine Stoßrichtung aber ging dahin, ihn als Plagiator zu enttarnen. Quérard berief sich dabei nicht nur maßgeblich auf Mirecourt, von dem er vieles übernahm, sondern übertraf ihn sogar noch in seinem investigativen Impetus und zählte ganze 74 Mitarbeiter auf, die Dumas zur Hand gegangen seien. Hatte Mirecourt Dumas noch neun eigene Theaterstücke belassen, so bleiben ihm bei Quérard nur vier. Sogar in der literaturwissenschaftlichen Forschung lassen sich zahlreiche Spuren von Mirecourts Diffamierungen finden. Während Dumas’ Rolle in Frankreich, wo man Mirecourt nuancierter einschätzen konnte, kontrovers blieb, liegt der Fall im deutschsprachigen Raum ganz anders, wo sich bis heute weder eine originelle noch eine kontinuierliche Dumas-Forschung entwickelt hat. Bei den sporadischen Annäherungen an Dumas hat man lange Zeit einfach nur dasjenige wiedergekäut, was sich bei den französischen Vorläufern finden ließ. So hieß es 1871 frei nach Mirecourt in einem Nachruf von H. Bartling in Unsere Zeit, dass Dumas »ein feines Specimen des Negerbluts, der gemischten Rasse« gewesen sei, »in fast gleichem Maße die Eigenschaften eines unermüdlichen Skaven und eines schillernden Franzosen an sich« gehabt und ohne »Unterlaß, mit aller Kraftanstrengung« danach gestrebt habe, »daß sein Thun und Treiben das Tagesgespräch in Frankreich bilden sollte.« Und Wolfgang von Wurzbach schätzte den Autor dreißig Jahre später am 24. Juli 1903 in der Allgemeinen Zeitung zwar als einen »der genialsten Schriftsteller der französischen Romantik« ein, stellte aber zugleich fest, dass er ein Literaturfabrikant mit »Negerblut« gewesen sei. Was war vor diesem Hintergrund erst in den folgenden Jahrzehnten im deutschen Sprachraum zu erwarten, als rassistische Theorien brei196

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ten Anklang fanden? Günter Berger hat sogar auf einen Romanisten aufmerksam gemacht, den man wohl als Letzten in diesem Zusammenhang vermutet hätte: Victor Klemperer, der so sehr unter dem Nationalsozialismus gelitten hat und dem wir scharfsinnige Analysen der Hitlerdiktatur verdanken, schrieb noch 1956 in seiner Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, dass Dumas »von den Großeltern her Kreolen und reines Negerblut in den Adern« hatte, »das seine riesige Erscheinung deutlich formte.« Es sei auch etwas von dem »Typus des Athleten« überall »in seiner gewaltigen und brutalen Fantasie zu spüren. Immer geht es grellbunt und heftig zu, äußerlich kompliziert, innerlich kindlich und auch wohl kindisch einfach.« Auch wenn die rassistische Diskriminierung Dumas’ ab Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Literaturwissenschaft verschwindet, so hat sich der Vorwurf kapitalistischer Ausbeutung im offiziellen Diskurs bis heute gehalten, und das meistens bei gründlicher Unkenntnis seines Werkes: Der in seinem Fach so angesehene Erich Köhler lehrte in seinen Vorlesungen, die 1987 als mehrbändige Literaturgeschichte herausgegeben wurden, dass Dumas der »Inhaber der größten Romanfabrik aller Zeiten« gewesen sei, nur die Handlung angegeben habe und den Text von Angestellten ausführen ließ, und schließlich verurteilte Karlheinz Biermann in Jürgen Grimms Französischer Literaturgeschichte, die zwischen 1994 und 2014 von allen Französischlehrerinnen und -lehrern genutzt wurde, Dumas als »das eklatanteste Beispiel jener›Industrialisierung‹ der Literatur in den 30er und 40er Jahren«, wobei im Unterschied zu Eugène Sue bei ihm »die eindeutig auf Massenkonsum spekulierende Intention nicht mehr durch sozialreformerisches Engagement aufgewogen« werde. Dumas sei ein Literaturunternehmer, der »einen ganzen Stab von Mitarbeitern« angestellt habe, »die seinen Anweisungen entsprechend die Details der Romane ausgestalteten«. Solche Aussagen erstaunen durch ihre Leichtfertigkeit und die Herablassung, die sich in ihnen ausdrückt. Wenn man zudem bedenkt, dass sie maßgeblich auf Mirecourt zurückgehen, der als selbst ernannter Moralapostel aus der Berühmtheit anderer seinen 197

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­ arasitären Nutzen zog und mehrfach dafür ins Gefängnis musste, p ist das Gesamtbild, das die deutschsprachige romanische Literaturwissenschaft von Dumas abgibt, beschämend. Im Prozess vom April 1845 konnte sich Dumas zwar juristisch erfolgreich gegen die Beleidigungen wehren, aber damit waren die Vorwürfe letztlich nicht aus der Welt geschafft. Daher soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie es wirklich um die Zusammenarbeit Dumas’ mit anderen Autoren stand. Vorweg ist zu sagen, dass künstlerische Mitarbeiter in Bereichen wie Theater, Oper oder bildende Kunst üblich waren und sind und niemand auf die Idee käme, diese zu beanstanden. In der Literatur hingegen hat sich eine (Wunsch-)Vorstellung von Genie und Autorschaft herausgebildet, die beide als solitär versteht und annimmt, eine Einzelperson schaffe alles aus sich selbst heraus. Dass dies eher nicht der kreativen Wirklichkeit entspricht, liegt auf der Hand. Weiterhin gilt für Kooperationen, dass sich kaum genaue Regeln festlegen lassen, weil jede Zusammenarbeit sowie jedes kreative Projekt letztlich individuelle Züge trägt. Wenn es stimmt, dass Dumas’ Fantasie, wie er behauptete, sich am besten dialogisch entfaltete, dann konnte seine Arbeit besonders von Kooperationen profitieren. Worüber haben Dumas und die fast unüberschaubare Menge seiner Künstlerfreunde, die von Delacroix über Gérard de Nerval bis Victor Hugo reichte, wohl gesprochen? Und über was wurde in den Salons diskutiert, in denen Dumas brillierte? Natürlich über Kunst, Geschichte und Gesellschaft. Der Dialog mit anderen war dabei immer ein wichtiger Impuls für seine Kreativität, wie er in den Memoiren festhielt: »Wenn ich an einem Werk arbeite, das mich beschäftigt, habe ich ein Bedürfnis, davon zu erzählen: Indem ich erzähle, erfinde ich; und am Ende einer solchen Erzählung ist das Stück eines Morgens plötzlich fertig.« Nun bestand Dumas’ herausragendes Talent offenbar darin, Plots zu entwickeln und Dialoge zu verfassen. Stoffe fand er in der Geschichts- und Memoirenliteratur, aus der er wie kaum ein anderer dramatische Spannungsgefüge zu kombinieren verstand. Fiel es ihm einerseits enorm leicht, Grundstrukturen zu entwerfen, so wusste er, 198

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dass deren Ausarbeitung eine ziemlich mühsame Angelegenheit darstellte, wobei sein Talent für Dialoge es ihm wiederum erleichterte, solche Passagen zügig zu verfassen oder zu überarbeiten. Unter all seinen Mitarbeitern nimmt Maquet eine herausragende Stellung ein, weil er mit ihm nicht nur sehr viele, sondern auch seine bedeutendsten Romane verfasst hat. Seitdem sie mit der Arbeit an den Drei Musketieren ihre Rollen im kreativen Prozess festgelegt hatten, fand Dumas in Maquet einen Gesprächspartner, mit dem er nach seiner Rückkehr nach Paris in einen regelmäßigen Dialog trat. Der hochgebildete Maquet konnte ihm gerade bei der Ausarbeitung der Grundstruktur eine große Hilfe sein. Auch charakterlich scheinen die beiden sich gut ergänzt zu haben. Dumas hat ihn in Von Paris nach Cádiz folgendermaßen porträtiert: Was meinen Freund und Mitarbeiter Maquet angeht …, so geht er wenig aus, zeigt sich wenig, redet wenig, denn Maquet ist nach mir der Mensch auf Erden, der vielleicht am meisten arbeitet: Er ist zugleich ein strenger und origineller Geist, dem das Studium der Altsprachen das Wissen geschenkt hat, ohne seiner Originalität zu schaden. Bei ihm beherrscht der Wille alles, und jede seiner instinktiven Reaktionen kehrt, nachdem sie aufgeblitzt ist, fast beschämt über das, was er für eine menschenunwürdige Schwäche hält, in den Käfig seines Herzens zurück. … Sein Stoizismus verleiht ihm eine Art moralische und physische Steifheit, die neben seinen übertriebenen Vorstellungen von Loyalität die beiden einzigen Schwächen sind, die ich an ihm kenne. Still und zurückhaltend, selbstbeherrscht und etwas steif, aber treu – das klingt wie das genaue Gegenteil von Dumas. Da die Manuskripte Maquets weitgehend verloren sind, lässt sich der Arbeitsprozess nicht mehr im Detail nachvollziehen. Insgesamt dürfte die Zusammenarbeit konkret so ausgesehen haben, dass Dumas und Maquet sich auf einen Stoff einigten und Dumas dann im Gespräch mit Maquet die Grundstruktur festlegte. Wenn es an die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel ging, so einigte man sich auch 199

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Auguste Maquet, »zugleich ein strenger und origineller Geist«

hier zunächst auf deren jeweilige Grundstruktur. Daraufhin entwarf Maquet eine Rohversion, die Dumas anschließend aus- oder überarbeitete. Die letzte Entscheidung und damit die definitive Version lagen bei Dumas. Ein konkretes Beispiel aus den Drei Musketieren, von denen einige Teile aus Maquets Vorstufe erhalten sind, möge dies kurz veranschaulichen. Folgender Ausschnitt handelt davon, wie Milady zu ihrer Hinrichtung geführt wird. Lesen wir zunächst Maquets Rohversion: Milady wurde von zwei Dienern an das Ufer des Flusses geschleppt. Ihr Mund blieb stumm, aber ihre Augen sprachen mit unsagbarer Deutlichkeit. Sie flehte jeden nacheinander mit ihren Blicken an. Auf dem Weg sagte sie zu den Dienern: »Ich gebe euch fünfhundert Pistolen, wenn ihr mir zur Flucht verhelft. Wenn ihr mich aber euren Herren ausliefert, so habe ich auch hier meine Rächer, die euch alle umbringen werden.« 200

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Grimaud zögerte, Mousqueton zitterte an allen Gliedern. Athos, der sie sprechen gehört hatte, kam heran, ebenso Lord ­Winter. »Schickt die Diener weg«, sagte er, »sie hat mit ihnen gesprochen, wir können uns nicht mehr auf sie verlassen.« Am Boot angekommen, das am Ufer lag, gaben die vier Richter dem Henker ein Zeichen, der Milady daraufhin Hände und Füße fesselte. Daraufhin rief sie aus: »Ihr seid Feiglinge, ihr seid niederträchtige Mörder, ich bin eine Frau und Opfer eurer Ängste und Verleumdungen. Seht euch vor! Man wird mir helfen und mich rächen!« Dumas’ Überarbeitung klingt folgendermaßen: Zwei Diener schleppten Milady voran, die sie jeweils unter ihren Armen festhielten; der Henker ging hinter ihnen her, und Lord de Winter, d’Artagnan, Athos, Porthos und Aramis gingen hinter dem Henker her. Planchet und Bazin gingen als letzte. Die beiden Diener führten Milady ans Ufer des Flusses. Ihr Mund blieb stumm, aber ihre Augen sprachen mit unaussprechlicher Deutlichkeit und flehten jeden nacheinander mit ihren Blicken an. Weil sie einige Schritt voraus war, sagte sie zu den Dienern: »Tausend Pistolen für jeden, wenn ihr mir zur Flucht verhelft. Wenn ihr mich aber euren Herren ausliefert, so habe ich meine Rächer hier ganz in meiner Nähe, die euch meinen Tod teuer bezahlen lassen werden.« Grimaud zögerte. Mousqueton zitterte an allen Gliedern. Athos, der die Stimme Miladys gehört hatte, kam eilig heran, ebenso Lord Winter. »Schickt die Diener weg«, sagte er, »sie hat mit ihnen gesprochen, wir können uns nicht mehr auf sie verlassen.« Man rief Planchet und Bazin herbei, die den Platz von Grimaud und Mousqueton einnahmen. 201

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Am Ufer angekommen, trat der Henker an Milady heran und fesselte sie an Füßen und Händen. Dann brach sie die Stille und rief aus: »Ihr seid Feiglinge, ihr seid niederträchtige Mörder, ihr tut euch zu zehnt zusammen, um eine Frau abzuschlachten. Seht euch vor, wenn man mir auch nicht hilft, so wird man mich rächen.« Ein solch punktueller Vergleich darf natürlich nicht überbewertet werden, weil er nicht repräsentativ für den Gesamttext ist. Zumindest für diese Stelle aber lässt sich festhalten, dass Dumas die Abläufe plastischer, vollständiger und logischer macht. Im ersten Abschnitt wechselt er vom Passiv ins Aktiv und gestaltet die Handlung dadurch lebendiger; er listet die Figuren auf und bietet dem Leser eine genauere räumliche Vorstellung. Weiterhin präzisiert er die Situationen und füllt Leerstellen, indem bei ihm die Diener ausgetauscht und nicht einfach weggeschickt werden. Unklar bleibt bei Maquet am Ende auch, wie man Milady noch helfen will, während sie bei Dumas nur noch mit Rache droht. Das alles sind nicht bloß Details, sondern für den Erzählfluss ganz entscheidende Elemente. Dumas hat sein Verhältnis zu Maquet als dasjenige vom Meister zum Schüler beschrieben, und die kurze Analyse scheint dies zu bestätigen. Damit soll Maquets Leistung nicht geschmälert werden, denn er lieferte auf der Basis der Absprachen den rohen Block, den Dumas dann wie ein Bildhauer bearbeitete. Maquet war auch nicht irgendeine Schreibkraft, sondern selbst ein Schriftsteller mit großem Wissen und Gespür für literarische Potenziale, selbst wenn es ihm nie gelungen ist, aus dem langen Schatten Dumas’ herauszutreten. Von Maquets eigenem Werk, das zu Lebzeiten durchaus erfolgreich war und ihm nach der Beendigung der Zusammenarbeit mit Dumas seinen Wohlstand sicherte, hat quasi nichts überlebt. Dumas hingegen hat sowohl vor der Zusammenarbeit mit Maquet als auch hinterher wieder originelle Werke verfasst. Andererseits kann es kein Zufall sein, dass Dumas’ Hauptwerke in seiner Zeit mit Maquet entstanden sind. Beide lassen sich somit als kreatives Team verstehen, in dem Dumas den Ton angab. 202

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Gegen Ende seines Lebens hat Maquet sich vorgenommen, seine Zusammenarbeit mit Dumas genauer zu schildern. Er hat dies zwar nie umgesetzt, aber es ist eine Art Konzeptpapier erhalten, in dem er sich folgendermaßen über Dumas äußert: »Niemals werde ich diesen großen Schriftsteller herabsetzen, der mein Meister und lange Zeit mein Freund gewesen ist. Ich erkläre ihn zu einem der brillantesten Köpfe unter unseren Berühmtheiten und vielleicht zu dem besten unter den Männern des guten Willens …«

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ie wiederholte Abwesenheit Dumas’ aus Florenz und seine ständigen Seitensprünge hatten sicherlich dazu beigetragen, dass auch Ida sich anderweitig umsah und offenbar ein Verhältnis mit dem Grafen Pouchin einging. Die Rückkehr nach Paris, wo beide in die Rue du Mont-Blanc 45 (heute Chaussée-d’Antin) zogen, brachte für ihre Ehe die Chance eines Neuanfangs mit sich. Sie nahmen das gesellschaftliche Leben wieder auf, und Ida deckte ab Januar 1844 jeden Mittwoch um 23 Uhr für fünfzehn Personen den Tisch. Doch schon in der Auswahl der Gäste kam die Uneinigkeit der beiden wieder zum Vorschein, denn während Ida die feine Gesellschaft zu sich rief, wollte Dumas lieber seine Künstlerfreunde treffen. Vor allem aber schloss Ida denjenigen aus, der ihm am wichtigsten war: seinen Sohn Alexandre. Als Dumas im Frühling 1844 dann noch ein Verhältnis mit der 20-jährigen Eugénie Scriwaneck begann, war die Trennung von Ida nur noch eine Frage der Zeit. Da eine Scheidung rechtlich nicht möglich war, einigte man sich am 15. Oktober gütlich darauf, dass Ida mit Marie nach Florenz zurückginge, sich dort um deren Erziehung kümmerte und 1000 Francs Unterhalt, die monatlichen Kosten für einen Wagen sowie eine Reihe von Auszahlungen von Dumas erhielt. Sohn Alexandre jubilierte und schrieb drei Tage später in einem Brief an einen Freund: »Große Neuigkeiten, mein Lieber! Debakel 203

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im Hause Dumas. Gatte und Gattin sind so weit, sich wie Abraham und Hagar zu trennen … – und bald wird eine dicke Frau über Marseille nach Italien reisen, um dort für immer zu leben! Es läuft einfach gut.« Die Trennung von Ida machte endlich den Weg für Vater und Sohn frei, die 1845 gemeinsam nach Saint-Germain-en-Laye zogen wie einst Großvater Davy de la Pailleterie mit seinem Sohn Alexandre. 1837 war zwischen Paris und Saint-Germain-en-Laye die erste Zugstrecke Frankreichs für Personenverkehr eingeweiht worden und ermöglichte es den beiden, in nur 25 Minuten in die Hauptstadt zu fahren. Dort hielten sie sich eine Zweitwohnung in der Rue Joubert Nr. 10, wo sie bei Bedarf übernachten konnten. Der jetzt 20 Jahre alte Alexandre trat in jeder Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters. Er stürzte sich in das mondäne Leben und lernte die bekannte Kurtisane Marie Duplessis kennen, die mit ihren luxuriösen Ansprüchen ihre Liebhaber ruinierte. Auch Alexandre sollte ihr Geliebter werden und bald schon die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten erreichen. Im Gegenzug lieferte sie ihm den Stoff für seinen späteren Roman Die Kameliendame, dessen Theaterversion sein literarischer Durchbruch werden sollte. Der Titel geht angeblich darauf zurück, dass Marie Duplessis 25 Tage im Monat eine weiße und fünf Tage eine rote Kamelie getragen haben soll, eine Farbund Blumenmetaphorik, in der sowohl ihre Schönheit als auch die Öffentlichkeit ihrer Sexualität zum Ausdruck kamen. Vater, Freund, Mentor und Kollege, all diese Rollen vermischten sich für Dumas in jener intensiven Zeit, die er mit seinem Sohn verbrachte. Er unterstützte ihn tatkräftig bei seinen literarischen Gehversuchen und sorgte dafür, dass er bei Verleger Pierre-Jules Hetzel 1845 seine erste Erzählung publizieren konnte. Als 1846 die Feuilleton-Publikation des ersten Romans von Dumas jr., Le Roman d’une femme, zurückgestellt wurde, weil in La Presse der Roman Joseph Balsamo seines Vaters Vorrang hatte, deutete sich bereits an, dass beide miteinander in schriftstellerische Konkurrenz treten würden. Auf dem Rückweg von Versailles nach Saint-Germain-en-Laye überquerte Dumas im Juni 1844 in dem Ort Le Port-Marly ein hüge­ liges Stück Land über der Seine, das seine Aufmerksamkeit erregte. 204

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Vom Erfolg beflügelt träumte er von einer eigenen Residenz und machte sich im Juli daran, das Grundstück zu erwerben. Hier sollte ein Anwesen entstehen, das eines erfolgreichen Schriftstellers würdig war, am besten ein Schloss. Als Architekten gewann er Hippolyte Durand, einen Spezialisten für mittelalterliche Bauten, der später auch die neogotische Mariä-Empfängnis-Basilika von Lourdes entwarf. Doch der Boden sei lehmig, wendete Durand ein, wie solle ein Schloss darauf stabil stehen können? Es müsste ein besonders tiefes Fundament gelegt werden, und das sei teuer. Das hoffe er doch, erwiderte Dumas scherzend. Geld spielte gerade keine Rolle, denn die Musketiere und der Graf von Monte-Christo sorgten für volle Kassen. Am Ende würde der Bau 200 000 Francs kosten, eine damals enorme Summe. Auch andere wollten an Dumas’ Riesenerfolg teilhaben. So kam die Leitung des Ambigu-Comique-Theaters auf die Idee, bei ihm eine Bühnenfassung von Zwanzig Jahre später in Auftrag zu geben, die unter dem Titel Die Musketiere uraufgeführt wurde. Der etwas verwirrende Titel, der nicht erkennen lässt, um welchen Romanteil es sich handelt, deutet an, dass Dumas offenbar noch nicht daran dachte, seine erfolgreichen Romane systematisch als Bühnenfassungen weiterzuverwerten. Der Premierenabend am 27.  Oktober 1845 sollte unerwartete Folgen haben. Denn auch der Herzog von Montpensier, Antoine von Orléans, der jüngere Bruder von Dumas’ tragisch verstorbenem Freund Ferdinand, war gekommen. Eine Woche später durfte Dumas den Herzog in Vincennes besuchen, der ihn fragte, warum das Stück auf einer der zweitklassigen Bühnen von Paris aufgeführt worden sei. »Ich habe nun einmal kein eigenes Theater«, antwortete Dumas darauf, »und bin gezwungen, [die Stücke] dort zu bringen, wo ich kann.« Warum er denn nicht eine Genehmigung für eine eigene Bühne beantrage, wollte der Herzog wissen. Dumas’ Herz machte einen Sprung. Sofort war der Traum vom eigenen Theater wieder da: keine Unsicherheit mehr, wo man ein Stück unterbringen könnte, und Schluss mit den mühsamen Auseinandersetzungen mit den Direktoren und den Intri­ gen der Bühnenwelt! Aber seit der Regulierung des Theaterwesens 205

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durch Napoleon war es fast unmöglich, eine neue Bühne in Paris zu eröffnen, wenn man nicht von höchster Stelle protegiert wurde. Ja, wenn der Herzog ihn dabei unterstützen würde …, fügte Dumas fragend an. Tatsächlich unternahm der Herzog nun die notwendigen inoffiziellen Schritte, damit Dumas am 18. Februar 1846 beim Innenminister Graf Duchâtel einen Antrag auf Genehmigung zur Eröffnung eines neuen Theaters stellen konnte. Wie feierlich der Moment für ihn war, zeigt sich daran, dass er als Alexandre Dumas, Marquis de la Paille­terie, unterzeichnete. Es dauerte keinen Monat, bis die Genehmigung auf dem Tisch lag, unter der Bedingung, dass das Programm nicht in Konkurrenz mit den staatlich subventionierten Bühnen geriet, was konkret bedeutete, dass keine französischen Klassiker gespielt werden durften. Dumas hatte den bisherigen Direktor des Ambigu-Comique-Theaters, Hippolyte Hostein, dafür gewonnen, die Geschäftsführung der neuen Bühne zu übernehmen, er selbst wollte künstlerischer Leiter werden. Beide taten sich daraufhin mit Vedel, dem ehemaligen Leiter der Comédie-Francaise, zusammen und gründeten eine Gesellschaft zur Durchführung des Projekts mit 1,5 Millionen Francs Kapital. Im April erwarben sie für 600 000 Francs das Hôtel Foulon am Boulevard du Temple, der großen Vergnügungs- und Flanierstraße von Paris, voller Cafés und Theater. Für den Bau plante man ca. 800 000  Francs ein und gewann als Architekten Pierre-Anne de Dreux und Charles ­Séchan, letzterer war zwar kein Architekt, sondern Dekorateur, verstand aber enorm viel von Bühnentechnik. Der Neubau war eine echte Herausforderung, denn der Zugang des Grundstücks zum Boulevard war gerade einmal acht Meter breit und verlief zwischen den anliegenden Gebäuden, während das eigentliche Grundstück dahinter lag und an den Fossé-du-Temple grenzte. Die Architekten lösten dieses Problem, indem sie eine lang gezogene Eingangshalle planten und den Saal um 90 % drehten, damit die Fläche optimal genutzt werden konnte. In nur sieben Monaten sollte das Montpensier-Theater errichtet werden, wie es zum Dank an seinen Förderer genannt wurde. 206

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Auch an Dumas’ zweiter Baustelle ging es voran. Obwohl er genug um die Ohren hatte, kam es jetzt zu einem jener Zwischenspiele, die seine Biografie so erstaunlich dicht und reich machen. Dumas wurde Instrument der französischen Kolonialpolitik. Gegen Ende der Restauration hatte König Karl X. seine Truppen in Algerien einfallen lassen, um die innenpolitischen Spannungen durch außenpolitische Erfolge zu lösen. 1830 war Algier erobert worden. Seitdem tat sich Frankreich schwer damit, das Land zu kolonisieren. Um es attraktiver zu machen, schlug man dem Bildungsminister Graf von Salvandy vor, den erfolgreichen Dumas auf eine literarische Reise nach Nordafrika zu schicken, um dort Stoff für neue Reisebilder zu sammeln, die Interesse an der Kolonie wecken sollten. Eine Reise nach Nordafrika, vom Staat subventioniert, die außerdem über Madrid führte, wo er an den Hochzeitsfeiern des Herzogs von Montpensier mit der Infantin Luisa-Fernanda teilnehmen konnte, da sagte Dumas nicht nein. Er nahm auch seinen Sohn, Auguste ­Maquet sowie den Maler Eugène Giraud und weitere mit, so dass eine Truppe entstand, die eine perfekte Mischung aus Familie, Freunden und Kollegen bildete und eine optimale Vermarktung des Unternehmens versprach: Dumas schrieb an seinen Reisebildern, verbrachte Zeit mit seinem Sohn und konnte mit Maquet an laufenden und zukünftigen Projekten arbeiten, während Giraud alles mit Zeichnungen und Bildern dokumentierte. Die Reise begann am 3. Oktober 1846, führte über Spanien, wo sie ausgiebig Stierkämpfe besuchten, andalusische Tanzveranstaltungen bewunderten, gut essen gingen und das eine oder andere Abenteuer erlebten, bis nach Cádiz, von wo aus sie mit der Korvette Le Véloce nach Nordafrika übersetzten. Dort zogen sie von Tanger nach Algier und Tunis, um schließlich genau drei Monate später wieder in Frankreich zu landen. Neben den zahlreichen Notizen hatte Dumas auch den arabischen Architekten ­Younis mitgebracht, der ihm in seinem Schloss ein maurisches Zimmer gestalten sollte. Im Nachgang entstanden die Reisebilder Von Paris nach Cádiz und Le Véloce. Dumas’ spontanes Fernweh ist zweifellos auch ein Ausdruck dafür, dass ihm das Leben in Paris immer lästiger wurde, weil dort, 207

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Dum reise

2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

Dumas neben Maquet und Alexandre jr. auf Spanienreise (Gemälde von Eugène Giraud)

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a­ ngetrieben von Neid, bloß »kleine Feinde und langjähriger Hass« auf ihn warteten, wie er am Ende von Le Véloce schreibt. Im Ausland hingegen, wo sein Ruhm längst angekommen und er als internationaler Schriftstellerstar gefeiert wurde, empfing man ihn mit offenen Armen. Das hatte er bereits im Oktober beim Grenzübertritt nach Spanien gemerkt, als ihn die spanischen Beamten erkannten und sofort alles einführen ließen, was er im Koffer hatte. Umso entzückter war er Anfang Januar 1847 in Paris darüber, wie prächtig sich der Bau seines Theaters entwickelt hatte. Zwar war die Fassade wegen der Form des Grundstücks eigentlich zu schmal für die Höhe des Gebäudes, aber sie war deshalb nicht weniger eindrucksvoll: Jeweils zwei ionische Säulen und eine Karyatide im Profil säumten den Eingang, wobei eine von ihnen die antike Komödie und die andere die antike Tragödie symbolisierte, über denen sich die christliche Tradition erhob. Auch der Name Montpensier-Theater war bereits in die Fassade eingemeißelt, dann aber legte Louis-Philippe sein Veto ein, weil er nicht wünschte, dass es nach einem Mitglied der königlichen Familie benannt wurde. Vedel hatte daraufhin den Namen Théâtre-Historique vorgeschlagen, womit auch Dumas einverstanden war und der nun die offizielle Bezeichnung wurde. Genauso hätte man es Théâtre-Dumas nennen können, was übrigens viele auch taten, denn letztlich dominierte sein Werk das Programm mit Adaptionen seiner erfolgreichen Romane, mit neuen Stücken und Reprisen seiner größten Erfolge. Am Samstag, den 20. Februar 1847, sollte das Haus mit einer Bühnenfassung von Die Bartholomäusnacht feierlich eröffnet werden, die er zusammen mit Maquet während seiner Reise geschrieben hatte. Es wurde eine mächtige Werbemaschinerie in Gang gesetzt. Die beliebte Zeitschrift ­L’Illustration hatte die Erwartung des Publikums bereits mit mehreren Artikeln und ganzen dreißig Abbildungen gespannt. Fast schon verdächtig passend kam es ab dem 11. Februar noch zu einem kleinen Skandal, als einige Abgeordnete des Parlaments darüber klagten, dass die Regierung einem »Literaturunternehmer«, der nicht namentlich genannt wurde, eine Reise über Spanien nach Algerien kofinanziert 209

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

habe. Dumas reagierte sofort verärgert mit einem scharfen Brief und forderte einen der Abgeordneten sogar zum Duell heraus, bei dem Victor Hugo sekundieren sollte. Eine bessere Gratiswerbung für die Theatereröffnung konnte man sich kaum vorstellen. Bereits am 19. Februar bildete sich eine Schlange vor dem Eingang, die ganze 24 Stunden ausharrte, um Einlass zu erhalten. Man verbrachte die Nacht bei Laternenlicht, anliegende Bäcker verkauften Brot, eine Frau ging mit Suppe herum und ein findiger Boulevardkomponist dichtete schnell einen Liedtext auf das Theater, ließ ihn sofort drucken und an die Wartenden verkaufen. Am späten Nachmittag des 20. dann drängten sich weitere gut 10 000  Personen vor dem Eingang, um die prominenten Gäste zu sehen, die zur Premiere eingeladen waren. Um 18  Uhr wurde geöffnet. Die Besucher staunten nicht schlecht über das neue Theater, das zweifellos zu den schönsten von Paris gehörte, so reich, wie es verziert, und so klug, wie es gestaltet war. Zahlreiche, mit Gaslicht beleuchtete Treppen führten zu den Logen, so dass es keine Drängeleien gab. Die 1708 Sitzplätze waren in einem muschelförmigen, prächtigen Zuschauerraum so angeordnet, dass man überall eine gute Sicht hatte, wenngleich die vielen Ornamente an den Wänden den Schall brachen und man die Dialoge in den obersten Rängen nicht immer gut verstehen konnte. Eine Besonderheit lag darin, dass die Bühne die Hälfte des gesamten Raumes einnahm und damit ungewöhnlich groß war. Das waren beste Voraussetzungen, um überwältigende Kulissen aufzubauen und, wenn nötig, Massenszenen darzustellen. Genau das sollte schon das Eröffnungsstück Die Bartholomäusnacht, das bereits um 18  Uhr  30 begann, exemplarisch unter Beweis stellen. Ganze 13 Bühnenbilder waren erstellt worden, und die Kostüme waren ungewöhnlich getreu nach den Vorgaben der Epochen gestaltet. So etwas hatte man in dieser Form selten gesehen. Über acht Stunden dauerte die Veranstaltung, was dazu führte, dass viele Zuschauer in den Pausen in die umgebenden Cafés und Restaurants eilten, um sich einen Imbiss zu gönnen. Dennoch geschah ein Wunder: Auch um 2 Uhr 30 war der Saal noch voll, so sehr zog die realistische Inszenierung der spannen210

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den Handlung die Zuschauer in ihren Bann. Dumas und Maquet hatten sich ziemlich genau an die Romanvorlage gehalten und nur dann etwas geändert, wenn es aus Gründen der Darstellbarkeit geraten war. Die Bartholomäusnacht wurde ein großer Erfolg und blieb bis Ende Mai auf dem Spielplan. Überhaupt schien dem Théâtre-Historique im ersten Jahr einfach alles zu gelingen. Die Strategie, historische Stoffe in spektakulären ­Inszenierungen zu zeigen, ging voll auf. Dumas kassierte Ende des Jahres 150 000 Francs von den Gewinnen und schien seine finanziellen Probleme vorerst gelöst zu haben. Neben den vielen Stücken von Dumas wurden ausländische Klassiker wie Shakespeare oder Schiller, die Romantiker wie Hugo, de Vigny oder de Musset sowie Adaptionen erfolgreicher Romane anderer ­Autoren gebracht, zum Beispiel Paul Févals Mystères de L ­ ondres. In Zukunft sollte es auch Raum für Nachwuchstalente geben. So führte unter anderem der noch unbekannte Jules Verne 1850 im ­Théâtre-Historique eine Komödie namens Les Pailles rompues auf, die in Zusammenarbeit mit Dumas’ Sohn entstanden war. Das Ensemble brachte auch eigene Stars hervor, unter den männlichen Darstellern Étienne Mélingue, der in der Bartholomäusnacht Heinrich  IV. spielte und später Paraderollen wie Edmond Dantès oder d’Artagnan übernahm, unter den Damen Béatrix Person, die neue Geliebte Dumas’, die Katharina von Medici verkörperte und später als Adèle aus Antony auftrat und in den Musketieren eine schaurige Milady gab. Währenddessen gingen auf dem eigenen Anwesen Möbel- und Teppichhändler ein und aus, und der algerische Künstler Y ­ ounis brachte, unterstützt von seinem Sohn Mohammed, im ersten Stock Arabesken an. Seitdem die Hauptarbeiten im Dezember 1846 abgeschlossen waren, konnte man erkennen, dass es ein wahres Märchenschloss werden würde. Das Hauptgebäude bildete ein dreigeschossiges Renaissance-Schlösschen mit rechteckigem Grundriss, unweit entfernt davon und erhöht in den Hügel gebaut stand ein kleines neogotisches Häuschen mit Treppentürmchen, das von Wasser umgeben war und nur über eine Zugbrücke betreten werden konnte. 211

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2. Teil  Im Zeichen der Geschichte (1834 – 1848)

Schloss Monte-­ Cristo in Le PortMarly)

Die natürlichen Quellen des Geländes wurden für den englischen Garten genutzt, den man mit künstlichen Grotten verzierte. Schloss Monte-Christo, wie man das Anwesen bald nannte, war eine Hommage an die Romantik und an das eigene Werk. Über den Fenstern am Hauptgebäude wurden Porträtmedaillons angebracht, die von Homer, der über dem Haupteingang wachte, über Sophokles, Euripides, Shakespeare, Corneille, Byron, Goethe, Hugo, Delavigne, Lamartine usw. die europäische Literaturgeschichte Revue passieren lassen. Hoch über dem Eingang prangte das Familienwappen der Davy de la Pailleterie und darunter der Schriftzug J’aime qui m’aime (›Ich liebe den, der mich liebt‹), die persönliche Devise Dumas’ und ein Zitat von Königin Marguerite aus der Bartholomäusnacht. Das Nebengebäude wiederum, Château d’If genannt, das Dumas als Arbeitsplatz nutzte, wurde ganz dem eigenen Werk gewidmet. Über die Außenwände wurden Steine 212

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verteilt, in denen die Titel seiner Werke eingemeißelt waren. Hauptund Nebengebäude stehen somit in der Spannung zwischen adeliger Abstammung und Repräsentation einerseits und bürgerlichem Leistungsprinzip und Arbeit andererseits zueinander und geben Dumas’ Doppelidentität architektonisch Ausdruck. Ende Juni 1847 zog er ein, und mit ihm seine damals 16-jährige Tochter Marie, die im Sommer aus Florenz zu ihm gekommen war. Am 25. Juli, einem Tag nach Dumas’ 46. Geburtstag, wurde das Schloss eingeweiht. 600  Gäste waren erschienen, der frisch gebackene Schlossherr ging umher, schüttelte Hände, scherzte, bedankte sich für das Kommen und nahm Komplimente entgegen. Die Hauptattraktion war der maurische Salon im ersten Stock, bis unter die Decke verziert mit Arabesken, aber auch der Kaschmirsaal im Erdgeschoss, der über und über mit zum Teil exotischen Waffen behangen war, erregte Aufmerksamkeit. In der Voliere im Garten gab es Papageien und einen Geier zu bestaunen, während Pfaue, Hühner und die vielen Hunde frei umherliefen. Am unterhaltsamsten aber waren die drei Äffchen, die Dumas sich gegönnt hatte. Wann hatte man so etwas schon einmal gesehen? Auch Journalist Léon Gozlan lobte das Anwesen begeistert im ­Almanach comique 1848 und urteilte, Dumas habe bewiesen, dass sein Geschmack als Architekt ebenso exquisit ist wie sein Talent als Schriftsteller. Ich kenne nichts Vergleichbares zu diesem Schmuckstück … es ist der Ausdruck eines großen Geistes, eines überlegenen künstlerischen Geschmacks, es ist die wunderbare Schale einer träumerischen und leidenschaftlichen Seele. Welcher Architekt auf der Welt hat schon einmal solch ein Monument gesehen? Der Gedanke des Dichters ist im Flug zu Stein geworden, und es ward ­Monte-Christo. Es ist ein Monument aus Zehnsilblern im Kreuzreim. Ja, es ist noch besser als das: Man könnte vor Liebe zu diesem Monument verrückt werden, so wie man als junger Mensch den Mond liebt. Dumas schwebte auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen und gesellschaftlichen Erfolgs. Was sollte jetzt noch kommen? 213

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3. Teil  Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870)

3. Teil Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870)

Der Zusammenbruch Der Siegeszug des Théâtre-Historique wurde zunächst fortgesetzt mit der Adaption des Ritters von Maison-Rouge, der am 3. August 1847 Premiere feierte und weit über hundert Aufführungen erlebte. Das bedeutendste Ereignis jedoch sollte die Bühnenfassung des Grafen von Monte-Christo werden, deren historische Bedeutung meines Erachtens noch nicht deutlich genug erkannt wurde. Hatte schon die Bartholomäusnacht mit ihrer Überlänge die Aufführungskonventionen gesprengt, so gingen Dumas und Maquet jetzt einen Schritt weiter und machten aus dem Roman eine Tetralogie, deren erste beide Teile für den 2. und 3. Februar 1848 angekündigt wurden. Zweimal sechs Stunden Theater an zwei aufeinanderfolgenden Abenden hatte es noch nie gegeben. Wirtschaftlich war dies ein hohes Risiko, das sicherlich niemand bei einem unbekannten Stoff eingegangen wäre. Bei einem erfolgreichen Roman hingegen taten sich auf der technisch hervorragend ausgestatteten Bühne neue Dimensionen auf. Würden die Zuschauer dies aber annehmen? Zumindest im Vorfeld deutete alles darauf hin, denn angeblich waren sämtliche Hotels in der Umgebung ausgebucht, und Theaterdirektor Hostein gab bekannt, säckeweise Briefe zu erhalten, in denen man ihm horrende Summen für Logenplätze anbot. Was dann jedoch geschah, ging weit über eine außergewöhnliche Aufführung hinaus und markierte einen Meilenstein in der Geschichte moderner Unterhaltung. Zwei der bedeutendsten französischen Kritiker des 19. Jahrhunderts, Jules Janin und Théophile Gautier, haben in ihren langen Besprechungen vom 7. Februar im Journal des débats und in La Presse genau gespürt, dass mit der Doppelpremiere ein neues Kapitel in 214

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S­ achen populärer Kultur aufgeschlagen wurde. Janin ging sogar so weit und erklärte zweitausend Jahre Theatergeschichte für abgeschlossen, weil Dumas erfolgreich eine innovative Form durchgesetzt habe. Und Gautier führte aus, dass Serialität und Überlänge eine neue Struktur mit sich brächten, die das aristotelische Fünfakt-Schema, oder wie er kulinarisch sagte, »das klassische Waffeleisen mit seinen fünf Feldern, in denen der Dramenteig seit Urzeiten verlief«, endgültig zerbrochen habe. Mehrteiler und Serien, die sich im 20. Jahrhundert zu einem gängigen Fernsehformat entwickelten, wurden auf der Bühne erstmals von Dumas erfolgreich getestet. Die Preispolitik des Théâtre-Historique ermöglichte es den unterschiedlichen sozialen Klassen, ins Theater zu gehen. Es war stets ein kulturpolitisches Anliegen Dumas’ gewesen, die französische Geschichte und Literatur allen zugänglich zu machen. Janin stellte fest, dass sowohl die feine Gesellschaft als auch das einfache Publikum in dem neuen Theater zusammenkamen. Damit hatte er eine perfekte Beschreibung dessen geliefert, was man später unter populärer Kultur verstehen sollte. Häufig wird in der Forschung das Jahr 1836, in dem die erschwinglichen Blätter La Presse und Le Siècle lanciert wurden, als Geburtsstunde der populären Kultur genannt. Das Théâtre-Historique aber machte diesen Zeitenwandel mit dem Grafen von ­Monte-Christo noch viel anschaulicher. Gautier verstand Dumas’ erfolgreiche Feuilletonromane als nichts weniger als die Erschaffung einer neuen Mythologie, die alle so gut kannten wie die Bibel. Solche kulturellen Veränderungen sind meistens mit technischen Verbesserungen verbunden, die auch in diesem Fall nicht unterschätzt werden dürfen. Die realistischen Kulissen des Stückes, etwa bei der Einfahrt der Pharaon in den Hafen von Marseille, bei der nächtlichen Szenerie des Château d’If, der Insel Montecristo im gleißenden Sonnenschein und bei einem wütenden Sturm, erhielten durch ihre effektvolle Licht- und Tongestaltung eine bis dahin unbekannte Illusionswirkung. Gautier war ganz begeistert vom Klang der Windböen, der hergestellt wurde, indem man mit gezähnten Holzschabern über Seidentaftbänder zog. Hier sei kein Drama gegeben worden, meinte Janin, sondern ein Roman in Bild und Ton. Das war eine neue 215

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3. Teil  Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870)

Die Erschaffung einer neuen Mythologie. Die Danaiden füllen dem ­unermüdlichen Dumas pausenlos Tinte nach.

Qualität, die in technischer Hinsicht den Weg zur Filmindustrie des 20. Jahrhunderts ebnete. Gautier prophezeite dem überwältigenden Bühnenspektakel ganze 200 Aufführungen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass noch im selben Monat die Februarrevolution das kulturelle Leben von Paris innehalten lassen würde. Der einst liberale König Louis-Philippe war im Laufe der Jahre immer konservativer geworden und hatte die Reform des Zensuswahlrechts vor sich hergeschoben, auf die Teile des Bürgertums pochten. Bereits Anfang Januar 1848 hatte es Studentenproteste gegeben, als die Kurse des kirchenkritischen Historikers Jules Michelet am Collège de France verboten worden waren. Als im Februar dann auch noch politische Versammlungen untersagt wurden, kam es zu Demonstrationen, in denen sich Studenten mit Arbeitern verbanden. Louis-Philippe gab den Forderungen des Volkes zwar teilweise nach, 216

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dennoch eskalierten die Konflikte zwischen seinen Truppen und den Aufständischen, die den Druck so erhöhten, dass der König zurücktrat und nach England floh. In nur wenigen Tagen war die Julimonarchie hinweggefegt worden, wie Dumas es fünfzehn Jahre zuvor in Gallien und Frankreich vorausgesagt hatte. Sein sehnlichster politischer Wunsch ging endlich in Erfüllung, die Zweite Republik wurde ausgerufen. Mehr noch: Ein Dichter der Romantik, sein verehrter Freund Alphonse de ­Lamartine, wurde Mitglied der provisorischen Regierung. War der Moment g­ ekommen, in dem Schriftsteller und Intellektuelle die Nation auch politisch anführen würden? 1830 waren Dumas’ politische A ­ mbitionen an Louis-Philippe gescheitert, jetzt aber mochte es gelingen. Er musste nur am 23. April in die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt werden, und dafür standen die Chancen gar nicht schlecht. War er nicht eine Berühmtheit? Hatte er ­jemals einen Hehl aus seinen ­republikanischen Überzeugungen ­gemacht? Und war sein Chant des Girondins (Gesang der Girondisten) aus dem Ritter von ­Maison-Rouge nicht zur Hymne der Revolution auserkoren worden? 1830 hatte er sich über kleine Heldentaten den politischen Anführern empfehlen wollen, diesmal aber ging es darum, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Pressekontakte besaß er zur Genüge, er musste nur noch das Wort ergreifen. Schon am 1. März kündigte er in einem offenen Brief in der Presse an, dass der »Publizist nun den Dichter vervollständigen« werde. Überall schossen Zeitungen aus dem Boden, und Dumas schloss sich der Redaktion der neu gegründeten La ­Liberté an, die er nutzte, um seine politischen Standpunkte bekannt zu machen. Parallel dazu gründete er die Monatszeitschrift Le Mois, die er ganz allein mit Resümees der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bestücken wollte. Problematisch werden konnte allerdings, dass seine Nähe zum Hause Orléans allgemein bekannt war. Auch jetzt noch stand er in der Öffentlichkeit dazu. Als er im Louvre bemerkte, dass eine Bronzestatue seines verstorbenen Freundes Ferdinand abmontiert worden war, protestierte er gleich dagegen in einem Brief in La Presse. 217

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Er e­ rinnerte daran, dass Ferdinand die Hoffnung der Republikaner ­gewesen sei, und hielt die Republik bereits für stark genug, einer solchen »sublimen Anomalie« standzuhalten und einen Prinzen verehren zu können. Einen Tag später wandte er sich im Le Constitu­tionnel an den untergetauchten Herzog von Montpensier und bekräftigte seine Freundschaft und Dankbarkeit. Später kritisierte er noch das Exilgesetz, das die Familie Orléans aus Frankreich verbannte. Natürlich tat Dumas dies nicht, weil er sich die Monarchie zurückwünschte, er war vielmehr davon überzeugt, dass die Republik sich als menschlich erweisen musste, um die ganze Nation friedlich vereinen zu können. Das war gewiss glaubwürdig, aber war es auch politisch klug? Mitte März spottete bereits die Satirezeitschrift Le Tintamarre, dass Dumas der Spaßmacher am Hof der Julimonarchie gewesen sei und jetzt einfach opportunistisch umschalte, um dem neuen Souverän Volk zu dienen. Im April legte Le Charivari nach und amüsierte sich über Dumas’ Monatsblatt Le Mois (›der Monat‹), das eigentlich Le Moi (›das Ich‹) heißen müsste, weil Dumas sie allein verfasse und entsprechend nur seine persönlichen Ansichten verbreite. Dumas reagierte sofort mit einem politischen Glaubensbekenntnis, das in La Liberté erschien und anhand von Zitaten aus Briefen, Gallien und Frankreich und den Reisebildern aus der Schweiz beweisen sollte, dass er seine republikanische Überzeugung trotz seiner Nähe zur königlichen Familie immer schon öffentlich vertreten hatte und er somit vom alten Regime unabhängig gewesen war. Einmal mehr erläuterte er sein teleologisches Geschichtsbild und hielt den Moment der Republik endlich für gekommen. Wie er es in Gallien und Frankreich angekündigt hatte, wollte er nun die Stimme der Menschlichkeit sein und die Gesellschaft ohne Hass auf König und Religion zusammenführen. Er stellte sich im ländlich geprägten Departement Seine-et-Oise zur Wahl, wo er wohnhaft war, und besuchte fleißig die politischen Clubs, um dort Rede und Antwort zu stehen. Doch die Fragen, die ihm gestellt wurden, waren bezeichnend: Ob er auf den Barrikaden gekämpft habe? Wie denn sein Titel Marquis Davy de la Pailleterie mit der Volkssouveränität vereinbar sei? 218

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Auch wenn Dumas stets geschickt zu antworten wusste, hatte er offensichtlich ein Problem mit seiner Glaubwürdigkeit. Seine Nähe zu den Orléans war eine Sache, die andere war sicherlich, dass er bei aller intellektuellen Brillanz und Beliebtheit seiner Stücke und R ­ omane den Ruf eines Künstlers mit lockerem Lebenswandel hatte, der zur Verschwendung neigte und dessen zahlreiche Affären sich in seinen Ehebruchsdramen widerspiegelten. Warum sollten die Wähler seines ländlich geprägten Departements, die an Familie und Religion hingen, gerade ihm seine Stimme geben? Tatsächlich wurde die Wahl am 23. April für Dumas zu einem Desaster. Er erhielt gerade einmal 226  Stimmen und erreichte damit schlappe 7 Prozent. Aber solche Rückschläge steckte er wie immer einfach weg. Als nachgewählt werden musste, ließ er sich erneut aufstellen, diesmal allerdings im Departement Yonne, südöstlich von Paris, wo angeblich die Chancen gut für ihn standen. Sofort gab er sich konservativer und kritisierte die Sozialisten als Feinde der Familie und die Kommunisten als Feinde des Besitzes. In einem Brief an die Priester von Paris beteuerte er, die Religion stets zu unterstützen, die bei ihm »immer schon an erster Stelle stand«. Wer seine Texte kannte, dürfte sich über eine solche Aussage gewundert haben. Dumas war gewiss kein Atheist, aber dass Religion in seinem Werk eine besondere Rolle spielte, konnte man wirklich nicht behaupten. Der zweite Wahlgang fiel mit über 3400 Stimmen zwar deutlich besser aus, reichte aber nur für Platz fünf. Auf Platz zwei landete Louis-Napoléon, der spätere Präsident und Kaiser, der nun zurücktrat, so dass sich für Dumas noch im selben Jahr eine dritte Kandidatur ergab. Diesmal näherte er sich Louis-Napoléon an und vertrat deutlicher bonapartistische Positionen. Seit April hatte er die Akzente stets neu gesetzt und es verpasst, ein erkennbares politisches Profil zu entwickeln. Charles Hugo, der Sohn des Dichters, urteilte später, dass Dumas eigentlich keine politische Position vertreten, sondern eher eine Haltung eingenommen habe, und zwar »den Prinzen gegenüber Republikaner und den Republikanern gegenüber ­Royalist« zu sein. Kein Wunder, dass die Wahl am 26. November 1848 ebenso ernüchternd ausfiel wie diejenige vom April. Dumas kam nur auf 219

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383 Stimmen. Damit waren seine politischen Träume endgültig zerplatzt. Aber nicht nur das. Politik kostet Zeit und Geld, und beides stand Dumas angesichts seiner breiten Verpflichtungen eigentlich nicht zur Verfügung. Die Revolution riss empfindliche Lücken in die Theaterkassen, so dass die Schauspieler ständig auf ihren Lohn warten mussten. Im Juni war das Ensemble sogar nach London gefahren, um dort die erfolgreichen Stücke Dumas’ aufzuführen, die jedoch allesamt aus verschiedenen Gründen untersagt wurden. Aber nicht nur das Theater war gefährdet. Noch wackeliger stand es um sein gerade erst bezogenes Schloss. Da Dumas seinen Verpflichtungen Ida gegenüber nicht nachkam, stellte sie hohe Geldforderungen. Um seine Residenz zu bewahren, verkaufte er zunächst sein Mobiliar im Januar 1848 an einen Strohmann. Als im Zuge der Revolution die Theater- und Feuilletoneinnahmen ausblieben, musste er sich von seinen Tieren trennen. Der Zahlungsverzug führte dann dazu, dass das Märchenschloss im März 1849 verkauft wurde, allerdings offenbar erneut an einen Strohmann, so dass Dumas wahrscheinlich noch bis Dezember 1851 dort gewohnt hat. Die Situation spitzte sich weiter zu, als im Juli 1850 eine Sondersteuer auf Zeitungen erhoben wurde und dadurch die Nachfrage nach Feuilletonromanen zurückging. Das wiederum belastete auch Dumas’ Verhältnis zu Maquet, dem er viel Geld schuldete, das aus zukünftigen gemeinsamen Projekten beglichen werden sollte. Hinzu kamen Todesfälle, die Dumas schwer trafen. Am 20.  Mai 1849 wurde er aus den Theaterproben herausgerissen, weil seine alte Freundin und ehemalige Geliebte Marie Dorval im Sterben lag. Dumas eilte zu ihr und versprach dem völlig verarmten einstigen Theaterstar, den letzten Willen zu erfüllen und Marie ein eigenes Grab zu finanzieren. 1850 starb Louis-Philippe im englischen Exil in Surrey, wo Königin Victoria ihm das Anwesen Claremont House zur Verfügung gestellt hatte. Wie beim Tode Ferdinands machte sich Dumas sofort auf den Weg, um den Trauerfeiern beizuwohnen. Aber nichts war mehr so wie früher. Hatte er geglaubt, dass es über die politischen Differenzen hinweg eine menschliche Verbindung zu den Orléans gab, so sah er sich 220

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nun getäuscht. Er war dort nicht mehr erwünscht und verwandelte sich vom Trauergast in einen Touristen, der zum Grab ­Byrons nach Hucknall pilgerte. Währenddessen steuerte das Théâtre-Historique unaufhaltsam seinem Ende entgegen. Zwar hatte es 1849 mit den Adaptionen der ­Romane Der Ritter von Harmental und Der Krieg der Frauen noch ­respektable ökonomische Erfolge gefeiert, und Dumas’ anspruchsvolles Drama Graf Herrmann hatte selbst Louis-Napoléon Bonaparte angelockt, aber all das reichte nicht aus, um es zu retten. Als ­Hostein das sinkende Schiff verließ, folgten in schnellem Wechsel eine Reihe von Geschäftsführern, die mehr und mehr zu Marionetten des künstlerischen Leiters Dumas wurden. Bald streikten die Schauspieler, und im November 1849 zogen einige von ihnen vor Gericht, zunächst gegen die Geschäftsführer, dann aber auch gegen Dumas selbst. Am 6. Dezember 1850 entschied der Richter, dass Dumas de facto die »vollständige Verantwortung der Theaterverwaltung« innehatte und haften musste. Dumas ging in Berufung und verschaffte sich dadurch etwas Zeit. Tode, Verluste und Niederlagen hatten sich in den letzten Jahren angehäuft. Das stimmte nachdenklich, auch wenn Dumas gewiss kein Kind von Traurigkeit und Melancholie war. Aber all dies stieß ihn an, seine Memoiren zu beginnen, über die er schon länger nachdachte und die wohl seine bedeutendste schriftstellerische Leistung jener Zeit darstellen. Rund fünf Jahre sollte er an den über 2200 Seiten arbeiten, um doch nur bis zum Jahr 1833, also gerade einmal bis zu seinem 31. Lebensjahr zu kommen. Die Memoiren sind allerdings weder eine Autobiografie noch Bekenntnisliteratur. Zwar erzählt Dumas viel von sich, aber es geht ihm nicht darum, sein Leben systematisch darzustellen. Vielmehr hatte er sich vorgenommen, anhand seiner Erfahrungen »die Entwicklung der Kunst in Frankreich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« zu beschreiben und seine zahllosen Begegnungen mit interessanten Persönlichkeiten festzuhalten, um aus dem Text eine »riesige Galerie« zu machen, »in der jeder berühmte Name zu einer lebendigen Statue« werde: »Nein, ich schreibe nicht meine Memoiren, ich schreibe die Memoiren aller, die ich kennengelernt habe, und da 221

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ich alle kennengelernt habe, die in Frankreich groß und bekannt waren, schreibe ich die Memoiren Frankreichs.« Begegnungen, Anekdoten, biografische Abrisse von Hugo, ­Walter Scott, Lord Byron, Eugène Sue, um nur einige zu nennen, eine Geschichte der Revolution von 1830 und natürlich viele Details über die Entstehung und Aufführung der eigenen Werke, all das vereinen die kurzweiligen Erinnerungen. Damit sind sie weit über Dumas’ Bedeu­ tung hinaus in manchen Fällen sogar die einzige Quelle für eine Reihe von Informationen über Persönlichkeiten seiner Zeit. Und wenn man bedenkt, dass Paris schon damals als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts galt, so sind Dumas’ Memoiren ebenso ein Teil der Europäischen ­Geschichte geworden. Am 19. November 1851 trat das Gericht im Berufungsverfahren zusammen. Dumas’ Anwalt hielt ein ausführliches Plädoyer, das Dumas als Förderer des Théâtre-Historique und nicht als seinen Direktor hinstellte. Hoffnung keimte auf, dass er nicht zur Verantwortung gezogen werden würde. Mit dem Urteil war Anfang Dezember zu rechnen. Erneut wurden die persönlichen Angelegenheiten von den politischen Entwicklungen überlagert. In der Nacht vom 1. zum 2. Dezember rief Präsident Louis-Napoléon Bonaparte den Notstand aus, ließ Paris besetzen, die Druckereien beschlagnahmen und die Nationalversammlung auflösen. In wenigen Tagen wurde der insgesamt überschaubare Widerstand gebrochen und die Gegner verhaftet. Zu den wenigen Abgeordneten, die Barrikaden errichtet hatten, gehörte auch Dumas’ enger Freund Victor Hugo, auf den nun ein Kopfgeld ausgesetzt wurde. Dumas selbst war nicht unmittelbar politisch betroffen. Als er jedoch am 10. Dezember erfuhr, dass die zweite Kammer das Urteil im Insolvenzprozess gegen ihn bestätigen würde, setzte er sich nach Brüssel ab, um sich einer möglichen Beugehaft zu entziehen. Dort traf er mit Hunderten von politischen Flüchtlingen zusammen, darunter sein Freund Hugo und der Verleger Hetzel. Es muss für Dumas eine merkwürdige Situation gewesen sein. Zwar befand er sich unter seinen alten Freunden und Bekannten, im Unterschied zu ihnen war er jedoch aus wirtschaftlichen Gründen nach Belgien geflohen. Zum ersten Mal schien er aus der Zeit gefallen zu sein. 222

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Der Zusammenbruch

Alexandre Dumas junior setzt den Erfolg des Vaters fort.

Als Louis-Napoléons Vorgehen durch eine Volksabstimmung vom 20. und 21. Dezember mit großer Mehrheit bestätigt wurde, existierte die Republik nur noch dem Namen nach. Der Präsident begann schnell damit, die Verfassung umzubauen und ein System nach dem Vorbild seines Onkels zu errichten, in dem er als Staatsoberhaupt unmittelbar vom Volk legitimiert war und durch Referenda den Anschein einer Demokratie bewahrte. Dumas’ Theater, sein Schloss, die Republik, sein Netzwerk in Paris, alles war dahin. Geld hatte er nicht und musste daher dringend seine Arbeit wieder aufnehmen. Unter die Arme griff ihm eine wohlhabende Geliebte, Marguerite Guidi, die noch im Dezember vorübergehend nach Brüssel kam. Sie half ihm nicht nur finanziell aus, sondern vertrat in Paris auch seine Interessen bei den Verlegern und Theatern. Das war etwas Neues, denn bisher war es in der Regel Dumas gewesen, der seine Geliebten ausgehalten hatte. Doch damit nicht genug. Im Hause Dumas kündigte sich ein Generationenwechsel an. Am 2.  Februar 1852 erlangte Sohn A ­ lexandre 223

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mit der Bühnenfassung seiner Kameliendame im Vaudeville-Theater einen umwerfenden Erfolg. Weltweit bekannt wurde der Stoff, als sich Giuseppe Verdi seiner annahm und 1853 daraus seine Oper La Traviata machte. Während der Vater an seinen Memoiren schrieb und den Blick rückwärts wandte, betrat Alexandre jr. die Bühne und eröffnete mit seinem Erfolgsstück ein Theater der sozialen Verantwortung und moralischen Reflexionen. War der Vater einer der Exponenten der Romantik gewesen, so sollte der Sohn das Theater des Zweiten Kaiserreichs prägen. So sehr sich Dumas auch über den Erfolg seines Sohnes gefreut haben mag, dürfte er doch gespürt haben, dass seine große Zeit vorerst vorüber war. In nur drei Jahren war er vom Höhepunkt seiner Karriere auf einen bisher unbekannten Tiefpunkt gefallen.

Schattenjahre

I

n den folgenden Jahren unternahm Dumas verschiedene, mitunter episodische Versuche, kreativ und wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen. Im April 1852 mietete er in Brüssel ein Haus am Boulevard Waterloo Nr. 73 und nahm dort auch seinen alten Freund Noël Parfait mitsamt Frau und Tochter auf. Parfait hatte als Journalist und Lektor für La Presse gearbeitet und gehörte der republikanischen Opposition der Julimonarchie an. Während der kurzen Zweiten Republik war er in die Nationalversammlung gewählt worden, hatte dort das linke Spektrum der Republikaner vertreten und floh nach dem Staatsstreich nach Brüssel. Parfait erwies sich als echter Glücksfall für Dumas. Auch wenn sein kritischer Geist und seine direkte Art, die Dinge anzusprechen, ihm den Spitznamen »Jamais-Content« (»Nie-Zufrieden«) eingetragen hatten, war er nicht nur ein wahrer Freund, dem Dumas voll vertrauen konnte, sondern aufgrund seiner Intelligenz und seiner Fähigkeiten auch eine unschätzbare Hilfe. Parfait gehörte zu jenen Personen im Leben Dumas’, die ihm jene Freiheit ermöglichten, die er 224

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für seine Arbeit und seinen Lebensstil benötigte. Daher war Parfait keineswegs nur eine Schreibkraft, sondern zugleich auch sein Berater, Lektor, Schatzmeister und Verwalter. Abgesehen davon kümmerte sich Parfait auch um die nun 21-jährige Marie, die am 1. Mai zu ihrem Vater nach Brüssel in ein anliegendes Haus zog. 1845 war Marie, wie erwähnt, mit ihrer Stiefmutter Ida nach Florenz gegangen, aber dort schien Ida sie mehr und mehr vernachlässigt zu haben. Das künstlerisch begabte Mädchen verbrachte daher viel Zeit im Atelier von Félicie de Fauveau, eben jene Bildhauerin, die Dumas zu seinem Stück Christine inspiriert hatte, und begann, in den florentinischen Kirchen religiöse Bilder abzumalen. In jener Zeit entwickelte Marie offenbar eine tiefe Religio­ sität, die bis zu mystischen Erlebnissen reichte, in denen sie eine Begegnung mit Maria Magdalena gehabt haben will. Als Dumas den Unterhaltszahlungen an Ida nicht nachkam, kehrte Marie im Sommer 1847 zu ihm zurück und lebte dort mit ihm für kurze Zeit auf Schloss Monte-Christo, in dessen mondäner Atmosphäre sie sich sehr unwohl fühlte. Mit Schulbeginn im Oktober ging sie in eine Pension. In Brüssel führte Marie ihre künstlerische Ausbildung fort und ­kopierte in Antwerpen offenbar Rubens’ Bild Die Erziehung der Jungfrau. Einerseits stellte die Religion für Marie, die in einem familiär sehr instabilen Umfeld groß geworden war, einen wichtigen Halt dar, andererseits vertieften ihre katholischen Moralvorstellungen die Ablehnung des für sie unsittlichen Lebenswandels ihres Vaters. Da waren dessen Freunde, die zu Besuch kamen und ihr Avancen machten, denen sie sich standhaft widersetzte, und natürlich seine Geliebten, von denen eine, die Nachwuchsschauspielerin Isabelle Constant, sogar noch drei Jahre jünger war als sie. Hatte Marie da nicht allen Grund, eifersüchtig zu sein, zumal der Vater zwar liebevoll mit ihr umging, aber letztlich nur wenig Interesse an ihr zeigte? Währenddessen versuchte Dumas, an seine großen Erfolge anzuknüpfen. Der erstaunliche Variantenreichtum seines Werkes hängt unter anderem damit zusammen, dass er sich immer wieder neu erfinden und dabei selbst überbieten konnte. Das nahm er sich auch jetzt vor. Er plante einen gigantischen Roman namens Isaac ­Laquedem, der 225

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alles Bisherige sprengen und nichts weniger als sein Hauptwerk werden sollte, über das er angeblich schon seit zwanzig Jahren nachdachte: eine philosophische Aufarbeitung der Menschheitsgeschichte bis zur Neuzeit mit keinen geringeren Hauptfiguren als Jesus Christus, Prometheus, Nero und Karl dem Großen. Beginnen sollte das Werk mit einem Spaziergang auf der Via Appia in Rom, was Dumas gleich zum Vorwand nahm, nach Italien zu reisen. Tochter Marie, die viele Jahre in Italien verbracht hatte, wünschte sich sehnlichst, mitkommen zu dürfen, und war tief enttäuscht, als der Vater allein losfuhr – angeblich allein, denn tatsächlich begab er sich zunächst in Begleitung von Mme. Guidi nach Baden-Baden, um dann mit Isabelle Constant Rom zu besuchen, während Marie einmal mehr zurückgelassen wurde. In ihrer Einsamkeit sehnte sich Marie ebenso nach ihrem Halbbruder Alexandre, aber Dumas hatte mit Bedauern schnell erkennen müssen, dass der Sohn seine Schwester nicht mochte. Die Ursprünge dieser Ablehnung dürften in der Kindheit liegen, als der Sohn verständlicherweise auf Marie eifersüchtig war. Während er damals einsam in einer Pension sein Dasein fristete, lebte Marie beim Vater, erst in der Rue Bleu und dann in der repräsentativen Wohnung in der Rue Rivoli, wo er Hausverbot bekam. Ida wollte ihn dort nicht sehen, kümmerte sich hingegen liebevoll um Marie. In späteren Jahren mochten die mystischen Neigungen Maries diese Distanz noch vergrößert haben. Dumas’ neues Großprojekt erschien ab Dezember 1852 als Lie­ ferungs­roman in Le Constitutionnel, wurde aber schon im J­ anuar 1853 unterbrochen. Die katholische Presse hatte heftig dagegen protestiert, dass Jesus Christus, die Wahrheit selbst, wie man meinte, zur Hauptfigur eines fiktionalen Romans gemacht wurde. Das Heilige und Profane dürfe nicht auf diese Weise miteinander vermischt werden. Zwar wurde die Publikation nach einer Pause wieder aufgenommen, im März 1853 jedoch endgültig abgesetzt. Bei allen theologischen Bedenken, die man gegen den Roman haben mochte, war der eigentliche Grund ganz kommerziell: Die Leser hatten kein Interesse daran. Dumas’, der seit über zehn Jahren die ganze Nation mit seinen historischen Romanen in Atem gehalten hatte, war mit seinem ehrgeizigsten Projekt gescheitert. 226

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Immerhin kam es im April 1853 zu einer für ihn günstigen Einigung in seinem Insolvenzverfahren. Das Handelsgericht billigte einen Schuldenvergleich, in dem die Gläubiger auf 75 Prozent ihrer Forderungen verzichteten. Um die restlichen 25 Prozent zu tilgen, hatte Dumas die Hälfte seiner kommenden Einnahmen abzutreten. Damit war er offiziell wieder geschäftsfähig und konnte endlich unbesorgt nach Paris zurückkehren. Der Schuldenvergleich war ein entscheidender Schritt zur Normalisierung der Situation und ebnete den Weg zur wirtschaftlichen Erholung. Was er jetzt noch nicht ahnen konnte, war, dass der Vergleich auch bei seinem späteren Rechtsstreit mit Maquet im Jahre 1858 eine wichtige Rolle spielen würde. Aber wie sollte es weitergehen? Isaac Laquedem war gescheitert, verschiedene Theaterprojekte stagnierten, und als dann auch noch seine Memoiren in La Presse eingestellt wurden, begriff Dumas, dass er seine eigene literarische Tageszeitung gründen musste, um unabhängig zu werden und nicht unter die Kontrolle der Zensur zu fallen. Gedacht, getan. In der Rue Laffitte Nr. 1 wurden Büros eingerichtet, Dumas rief alte Freunde wie Gérard de Nerval oder J­ oseph Méry zu sich und stellte junge Talente ein. Schon am 12. November 1853 erschien die Probenummer von Le Mousquetaire, journal de M. Alexandre Dumas. Freund Parfait standen die Haare zu Berge: Dumas leitete seine Zeitung in Paris, wo er im Hotel wohnte, während er zugleich das teure Haus in Brüssel hielt. »Jamais-Content« unkte, dass diese neue Eskapade scheitern und die Schulden nur noch vergrößern werde. Damit sollte er zwar insgesamt recht behalten, aber trotz der etwas chaotischen Führung erreichte Le Mousquetaire eine Auflage von ca. 10 000 Exemplaren und überlebte fast drei Jahre. Hier konnte Dumas nicht nur seine Memoiren fortsetzen, sondern im Mai 1854 auch sein nächstes Feuilletonprojekt starten, Die Mohikaner von Paris, ein gewaltiger Roman, der sich in Zusammenarbeit mit Paul Bocage über fünf Jahre entwickelte und sein längster Einzeltext wurde – und das soll bei Dumas schon etwas heißen! Die Mohikaner von Paris verarbeitet Erinnerungen aus der Restaurationszeit und gestaltet sich als ein komplexes Geflecht aus sieben Erzählfäden, 227

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in denen Kriminal-, Liebes-, Sozial- und historischer Roman mit­ einander verknüpft werden. Doch bot Le Mousquetaire nicht allein Texte von Dumas, sondern auch Theater- und Literaturkritiken, Übersetzungen und Poesie. Als ein literarhistorischer Höhepunkt kann die Erstveröffentlichung von Nervals berühmtem Sonett El desdichado angesehen werden. Kein Wunder, dass die Zeitung auch Nachwuchsdichter anzog, darunter einen 18-jährigen jungen Mann aus Châteauroux namens Olinde Petel, der Gedichte einsandte und sich im Januar 1855 Dumas und dessen Tochter Marie persönlich vorstellte. Bald erhielt auch Marie Gedichte von ihm, und es begann eine längere Werbungsphase, die 1856 in der Heirat der beiden endete. Die Tatsache, dass Dumas und die verwitwete Mutter des zukünftigen Schwiegersohns sich schnell einig wurden, deutet darauf hin, dass Dumas seine Tochter unter die Haube bringen wollte, mit der es in den letzten Jahren immer wieder heftige Konflikte gegeben hatte. Die kirchliche Trauung war am 6. Mai 1856, anschließend ging das Ehepaar in die Heimatstadt Petels nach Châteauroux. Dass Petel hochbegabt war, merkte man schnell, weniger offensichtlich war hingegen, dass er immer wieder unter depressiven Phasen litt und im alltäglichen Umgang sehr schwierig sein konnte. Maries Leidensweg fand in der Ehe kein Ende, im Gegenteil, es sollte alles noch viel schlimmer für sie werden. Als Dumas aus Geldnot im Laufe der Zeit die Mitgift, die monatlich zu bezahlen war, nicht mehr regelmäßig entrichtete, kam es zu Spannungen mit dem Schwiegersohn, der seiner Frau schließlich verbot, Kontakt zu dem Vater zu haben. Eine Zeit lang wusste Dumas gar nicht, wie es um seine Tochter stand. Ende 1856 geriet seine Tageszeitung Le Mousquetaire in die Krise, als die Mitarbeiter wegen unregelmäßiger Entlohnung kollektiv kündigten. Eine Katastrophe? Nicht für Dumas: Kaum war im Februar 1857 die letzte Nummer erschienen, gründete er flugs die Wochenzeitung Le Monte-Cristo, die am 23. April 1857 startete und fast komplett von ihm allein verfasst wurde. Darin führte er die Mohikaner von Paris fort, schrieb seine unterhaltsamen Causeries (Plaudereien), machte Buchbesprechungen und lancierte Romanübersetzungen. 228

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Zur gleichen Zeit lief ein Prozess, der Dumas’ Geldsorgen mit einem Schlag lösen konnte. Er hatte die Zeitung Le Siècle und den Verlag ­Michel Lévy verklagt, die seine großen Erfolge herausgegeben hatten, ohne die vertraglich zugesagten Tantiemen an den Neuauflagen gezahlt zu haben. Es ging um hohe Summen, die es Dumas erlaubt hätten, seine Schulden zu tilgen. Die erste Kammer gab ihm recht. Aber Appellationen, Gutachten und Gegengutachten zogen das Verfahren in die Länge, so dass hier vorerst noch kein Ende in Sicht war. Dann zog Auguste Maquet gegen ihn vor Gericht und forderte, in achtzehn Fällen, darunter sämtliche Bestseller, als Ko-Autor anerkannt zu werden und weiterhin 50 Prozent der Autorenrechte und eine Provision von 50 000 Francs zu erhalten. Die Gerichtsverhandlungen, die am 20. Januar 1858 begannen, stießen auf ein breites mediales Interesse. Die langen Plädoyers wurden an mehreren Tagen und in mehreren Zeitungen abgedruckt, wo sie mitunter ein Viertel der Nummer füllten. Die Darlegungen der Juristen sind auch heute noch von Interesse, weil sie nichts weniger versuchen, als Autorschaft als rechtliche Kategorie zu definieren. Maquets Vertreter, Rechtsanwalt Marie, sah Autorenrechte dann gegeben, wenn jemand auf konzeptueller Ebene an einem Werk mitarbeitete. An zahlreichen Auszügen aus der Korrespondenz versuchte er darzulegen, wie stark Maquet selbstständig an der Entwicklung beteiligt gewesen war. Außerdem verwies er auf den oben erwähnten Vertrag von 1848, in dem Maquet seine Autorenrechte an Dumas für 145 000 Francs abgetreten habe. Damit wäre die Angelegenheit eigentlich geklärt gewesen, aber Dumas habe davon nur 20 000 Francs bezahlt. Der Vertrag sei somit hinfällig, und ­Maquet stünden die Autorenrechte wieder zu. Rechtsanwalt Duverdy hingegen, der Dumas vertrat, unterschied drei Ebenen bei einer Romanentstehung, die Themenfindung, die Gliederung und die Ausführung, und argumentierte, dass Dumas in allen die maßgebliche Rolle gespielt habe. Mit wenigen Ausnahmen habe er die Romanthemen gesetzt, über die Gliederung entschieden und schließlich Maquets Rohfassung den entscheidenden Schliff gegeben, der den eigentlichen literarischen Reiz ausmache. Und was den 229

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Vertrag von 1848 angehe, so sei er in Sachen Autorenrechte ein juristisches Nullum gewesen, da Maquet diese niemals besessen habe und er diese daher auch nicht übertragen konnte. Vielmehr sei M ­ aquet seit Beginn der Zusammenarbeit, also gut 16  Jahre lang, mit der Situa­ ion zufrieden gewesen. Dass er jetzt versuche, sich als Ko-Autor anerkennen zu lassen, diene nur dazu, seinen Status in der literarischen Welt zu verbessern. Abschließend wurde auch noch Dumas’ Insolvenzverwalter angehört. Er sah durch Maquets Antrag die Interessen der Gläubiger bedroht. Das Handelsgericht habe durch die Billigung des Schuldenvergleichs Dumas’ Geschäftsfähigkeit wiederhergestellt und der Tilgung seiner Restschuld einen rechtlichen Rahmen gegeben, der im Falle einer Autorenrechteübertragung auf Maquet gesprengt würde. Das Urteil wurde am 3. Februar verkündet. Der Richter ging interessanterweise überhaupt nicht auf die Fragen der Autorschaft ein, sondern argumentierte rein juristisch: Er erkannte den Schuldenvergleich als aktuelle Rechtsgrundlage an und stufte Maquet lediglich als einen normalen Gläubiger ein, dem laut Vergleich 25 Prozent der Schuldensumme zustanden. Entscheidend war weiterhin, dass ­Maquet 16  Jahre lang mit den Absprachen einverstanden gewesen war. Der Antrag auf Übertragung der Autorenrechte von 50 Prozent sei daher abzulehnen. Im Frühling 1858 bot sich Dumas überraschend die Möglichkeit, all die Sorgen, die er in Frankreich und Paris hatte, hinter sich zu lassen. Die wohlhabenden russischen Grafen Kuscheleff-Besborodko, ein bezaubernd schönes junges Ehepaar, das Zar Alexander  II. nahestand, lud ihn ins Hotel am Palais-Royal ein. Man war sich auf Anhieb so sympathisch, dass die Grafen ihn kurzerhand einluden, in fünf Tagen mit nach Sankt Petersburg zu kommen und von dort aus ihre Güter zu bereisen, die über ganz Russland verstreut waren. Konnte man ein solches Angebot ablehnen? Die französische Kultur stand in Russland hoch im Kurs, die gesamte Oberschicht sprach Französisch, so dass Dumas mühelos kommunizieren konnte, seine Stücke und Romane waren dort äußerst populär, und überhaupt übte das Zarenreich eine exotische Faszination auf ihn aus. Abgesehen 230

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davon war der Zeitpunkt günstig für Europäische Reisende, denn seitdem Zar Alexander II. 1855 die Herrschaft übernommen hatte, waren die Grenzen wieder offener geworden. In wenigen Tagen organisierte er alles und überzeugte seinen Freund, den Maler Jean-Pierre Moynet, mitzukommen, um am 15. Juni an der Gare du Nord im Gefolge der Grafen über Köln und Berlin nach Sankt Petersburg zu fahren. Ganze zehn Monate sollte er unterwegs sein und dabei bis in Gebiete am Kaspischen Meer vordringen, die in jenen Jahren kaum ein Westeuropäer bereist hatte. Die spontane Reiselust war sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Dumas’ Popularität in Frankreich ihren Zenit überschritten hatte, während er im Ausland hoch angesehen wurde. Die Reise versprach zudem alle Annehmlichkeiten, die er sich nur wünschen konnte: eingeladen und doch weitgehend sein eigener Herr zu sein, Zeit zum Schreiben zu haben, und wahrscheinlich überall, wo man ihn kannte, triumphal empfangen zu werden. Die Mohikaner von Paris mussten vorübergehend pausieren, aber dafür wurden die Leser des Monte-Cristo mit regelmäßigen Briefen aus Russland getröstet. So entstanden zwei umfangreiche Reisebeschreibungen, Von Paris nach Astrachan und Der Kaukasus. Was Dumas offenbar nicht wusste, war, dass er von Agenten des Zaren beobachtet wurde, die regelmäßig Berichte über ihn ablieferten. Dementsprechend wurden seine mitunter kritischen Briefe in Russland selbst verboten. Obwohl der Kaukasus den Abschluss des Reisewegs bildete, ist der zweite Band zum Großteil vor dem ersten und vor allem während der Reise entstanden, was erklären mag, warum er weitaus lebendiger und spannender geworden ist. Während Von Paris nach Astrachan vor allem Daten und Fakten liefert, die Dumas aus anderen Werken über Russland kompiliert, erzählt Der Kaukasus von den Gefahren und Widrigkeiten einer wilden Region am Rande des Kaspischen Meeres. Ab Kisljar, wo sie sich im November 1858 in Richtung Derbent auf den Weg machten, mussten sie zur Abschreckung sichtbar ihre Waffen tragen. Zusätzlich wurden sie von Kosaken eskortiert, um den überall lauernden Gefahren durch Banditen zu trotzen. Dumas wurde außer231

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Dumas in kaukasischer Tracht

dem aufgefordert, seine Auszeichnungen zu tragen, um Respekt einzuflößen. Ab jetzt nannten ihn alle den »General« und er schlüpfte somit symbolisch in die Rolle seines Vaters. Wenn er im Text zum Beispiel über den Zusammenhang von Gefahren und Mut reflektiert, entsteht der Eindruck, dass er sich auch in das Lebensgefühl seines Vaters hineingedacht hat: »Die Gefahr ist etwas Merkwürdiges: Zunächst fürchtet man sie, dann trotzt man ihr und dann begehrt man sie; und wenn man ihr lange genug ausgesetzt war, vermisst man sie, sobald sie nachlässt, so wie man einen strengen Freund vermisst, der einen ermahnt, wachsam zu bleiben. Ich befürchte, dass Mut eine Frage der Gewohnheit ist.« Tatsächlich brach die Gewalt bald auf ebenso absurde wie grauenhafte Weise aus. Auf dem Weg wurde plötzlich das Feuer auf sie eröffnet und es stellte sich ihnen ein tschetschenischer Abrek in den Weg, den Dumas als eine Art lebensmüden Gefahrensucher definiert. Der Abrek forderte die Kosaken einzeln zum Duell heraus, besiegte 232

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den ersten, indem er ihm den Kopf abschnitt, den er sich als Trophäe an den Sattel hängte, und wurde dann wiederum Opfer des zweiten, der ihn überlistete und kurzerhand erschoss. Was für ein Kontrast zum bürgerlichen Paris, wo Dumas sich mit Rechtsstreitigkeiten und dem Neid der Kollegen herumzuschlagen hatte! Als er Anfang März 1859 wieder französischen Boden betrat, brachte er jedoch noch mehr aus Russland mit als die Reiseberichte. Ganze sechs Romane mit russischer Thematik sollten in der Folgezeit erscheinen, darunter Jacquot sans Oreille (Jacquot Ohnohr) über die empörenden Untaten des russischen Prinzen Alexis, der auf seinen Ländereien in sadistischer Weise seine Neigungen befriedigt. Zentrale Figur ist dessen Diener Jacquot, der wegen einer Laune seines Herren beide Ohren verloren hat. Noch grausamer aber ist ein barbarisches Spielchen, bei dem der Prinz seine Leute zwingt, von einem Felsvorsprung in die vereiste Wolga zu springen, das Eis zu durchbrechen, unter dem Eis so weit wie möglich zu tauchen und an anderer Stelle wieder emporzukommen. Manch einer verliert dabei sein Leben, nur Jacquot gelingt es zur Zufriedenheit des Herrn. Das Besondere an der Analyse der sadistischen Perversionen des lokalen Alleinherrschers aber ist, dass Jacquot ihn gar nicht dafür hasst und dessen Willkür sogar noch als einen Ausdruck adliger Größe ansieht. Die Sympathie der Opfer für ihre Peiniger gibt dem Roman eine psychologische Tiefe, die erklärt, warum Regime der Ungleichheit sich häufig lange halten können. Diese Perspektive entspricht natürlich auch Dumas’ republikanischen Überzeugungen und stellt implizit eine scharfe Kritik am Ancien Régime dar, so dass sich der Text ideologisch gut in sein Gesamtwerk eingliedert. Allerdings stammt der Roman gar nicht von Dumas, sondern von dem russischen Autor Pawel Melnikov, der ihn 1857 unter dem Titel Die alten Zeiten publiziert hatte. Zwar schreibt Dumas im Prolog, dass er ein Manuskript von einem Nachfahren von Prinz Alexis erhalten habe, nirgends aber fällt der Name Melnikovs. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass der Russe ein Zeitgenosse Dumas’ war und seine Autorenrechte hätte geltend machen können. Von Dumas stammen lediglich der Prolog und einige geringfügige Änderungen, wäh233

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rend der Großteil quasi eine vollständige Übersetzung des russischen Originals darstellt, wie Neboit-Mombet nachgewiesen hat. Und dies ist kein Einzelfall. Keiner der fünf weiteren Titel – Jane, La Maison de glace, La Boule de neige, Sultanetta und La princesse Flora – stammte von Dumas, vier davon waren von Alexander Bestuschew. Auch wenn Dumas mitunter in den Texten einräumte, dass die Vorlagen nicht von ihm stammten, publizierte er sie dennoch unter seinem Namen, obwohl es sich um nichts weiter als leicht veränderte Übersetzungen handelte. Hatte er sich in der Affäre Mirecourt erfolgreich gegen Plagiatsvorwürfe gewehrt, so plagiierte Dumas in diesem Fall hemmungslos. Abgesehen davon begann er damit, seinen Namen mehr und mehr zu verramschen. 1856 hatte er unter der Ägide des Verlegers Hetzel eine Kooperation mit Gaspard de Cherville aufgenommen, der Textvorlagen lieferte, die er überarbeitete und erweiterte, wie anfangs mit Maquet, nur dass Cherville nicht dessen intellektuelles Format besaß, sondern auf beschaulichere ländliche Themen spezialisiert war. Unter Dumas’ Namen erschienen fantastische Erzählungen oder Jagdromane, die für ihn lediglich eine Frage des Geldes waren, um seine Schulden zu tilgen. Die Literatur spielte in seinem Leben nur noch eine Nebenrolle, und der einstige Superstar machte nun tatsächlich, was man ihm Mitte der 1840er Jahre vorgeworfen hatte. Dumas war nicht nur finanziell, sondern auch in Sachen Kreativität am Tiefpunkt seiner Laufbahn angelangt.

Sternstunden in Neapel

D

er Aufenthalt in Russland war noch nicht beendet, da dachte Dumas gleich an eine nächste große Reise. Sein ganzes Leben lang träumte er schon davon, das Mittelmeer zu erkunden und dabei bis zum Orient vorzudringen, und zwar mit einem eigenen Schiff, dem Symbol völliger Freiheit. Auf dem Rückweg nach Frankreich gab er auf der griechischen Insel Syros eine Segeljacht in A ­ uftrag,

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die am 4. Juli 1859 auf den Namen Monte-Cristo getauft wurde. Das Schiff wurde nach Marseille gebracht, wo Dumas es in Besitz nehmen sollte. Ende Dezember machte er sich auf den Weg, um die große Reise zu beginnen, wie immer in Begleitung einer Geliebten, in diesem Fall der Schauspielerin Emilie Cordier, die mit ihren 19 Jahren ganze 38 Jahre jünger war als er. Da es Schwierigkeiten mit der ­Zulassung des Schiffes gab, fuhren die beiden zunächst weiter nach Italien, um dort umherzureisen. Als Dumas erfuhr, dass sich der italienische Freiheitskämpfer ­Giuseppe Garibaldi in Turin aufhielt, wollte er sich ihm sofort vorstellen. Garibaldi war ihm schon lange ein Begriff und er bewunderte ihn als militärischen Vorkämpfer der Demokratie. Italien war damals noch kein Einheitsstaat, aber es gab das Bestreben, aus der rein geografischen Bezeichnung Italien einen unabhängigen Nationalstaat zu machen. Diese Bewegung nannte sich Risorgimento und wurde politisch von Viktor Emanuel II., dem König von Sardinien-Piemont, ­angeführt, während Garibaldi deren militärische Schlüsselfigur war. Dumas’ Initiative sollte ungeahnte Folgen haben. Am 4. Januar 1860 kam er mitten in eine Besprechung Garibaldis, der gerade mit anderen Militärführern damit beschäftigt war, eine Gesellschaft für die Organisation nationaler Truppen zu bilden, die dem Zweck dienen sollte, sich die übrigen italienischen Einzelstaaten einzuverleiben und einen Staat unter der Führung Viktor Emanuels zu gründen. Während Dumas und Garibaldi sich kennenlernten, wurde Garibaldi zum König gerufen. Bald kam er mit der frustrierenden Nachricht zurück, dass der König wegen des internationalen Drucks die Bildung der Gesellschaft untersagte. Wenn Viktor Emanuel einen Annexionskrieg gegen das Königreich von Sizilien und Neapel offiziell nicht unterstützen konnte, so stand es dem Abenteurer Garibaldi jedoch frei, auf eigene Faust eine Armee aufzustellen. Dumas war dies sogleich bewusst. Hier bot sich ihm die Chance, an der Durchsetzung der italienischen Einheit tatkräftig mitzuwirken und zugleich ein historisch einzigartiges Abenteuer zu erleben. Sofort wollte er Garibaldi unterstützen und sich in Italien ein Bild von der Lage machen. Außerdem beschlossen sie, sich bald wiederzusehen, damit Dumas die Memoi235

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ren Garibaldis verfassen konnte. Wenig später saßen sie in einer Villa am Comer See zusammen, wo Dumas den Ausführungen Garibaldis lauschte und Notizen machte. Hier bahnte sich eine Männerfreundschaft an, die Dumas genau entsprach: Über seine persönliche Nähe zu Garibaldi konnte er an den historischen Ereignissen teilhaben und sie gleichzeitig schriftstellerisch begleiten. Nur wurde dem Tatmenschen Garibaldi die Arbeit an den Memoiren bald zu lang und er übergab Dumas einfach ein Konvolut an Aufzeichnungen und zog weiter. Indessen verkomplizierten sich die administrativen Probleme bei der Zulassung der Segeljacht, so dass Dumas ganz pragmatisch ein anderes Schiff kaufte, und zwar den etwas leichteren Schoner Emma, den er aufgrund günstiger Umstände für nur 13 000 Francs erwerben konnte, was einem Zehntel seines ursprünglichen Preises entsprach. Am 9. Mai 1860 war es endlich so weit, dass die Reise in Richtung Genua beginnen konnte. Neben seiner Geliebten Emilie Cordier waren auch Paul Parfait, der Sohn seines Freundes Noël, und weitere mit von der Partie. Jetzt genoss er völlige Freiheit, die er zunächst dazu nutzte, an den Memoiren Garibaldis zu arbeiten. Dann erfuhr Dumas, dass Garibaldi am 5. Mai 1860 mit knapp über 1000 Mann von Genua aus in See gestochen war, um zuerst Sizilien und dann Neapel zu erobern. Die Kampagne sollte als der »Zug der Tausend« in die Geschichte eingehen. Dumas hielt sie für historisch so einzigartig wie die Rückkehr Napoleons von der Insel Elba. Der große Moment hatte begonnen. Garibaldi war am 11. Mai bei Marsala, am Westzipfel Siziliens, gelandet und hatte mit seinen in rote Hemden gekleideten Soldaten bei Calatafimi die dreifach überlegenen königlichen Truppen geschlagen, wobei ihm zu Hilfe kam, dass ein Großteil der Bevölkerung ihn unterstützte. Dumas musste nicht lange überlegen. Sofort fuhren sie nach Sizilien, um an der Geburt der italienischen Nation mitzuwirken. Aber Dumas verfolgte auch ein ganz persönliches Ziel, war er doch »im Krieg mit dem König von Neapel«, weil es Ferdinand IV. von Neapel gewesen war, der Großvater des jetzigen Königs, der 1799 seinen Vater hatte vergiften lassen. Bald war Palermo erobert, und Dumas 236

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hatte die Genugtuung, im königlichen Palast untergebracht zu werden. Mehr noch: Er wurde Zeuge, wie die Palermitaner den Kopf einer Statue von Ferdinand IV. auf dem Boden verächtlich vor sich her rollten. Das Schicksal seines Vaters, das Dumas’ gesamtes Leben überschattet und mitbestimmt hatte, sollte nun endlich symbolisch vergolten werden. Also reiste er den Kampfereignissen hinterher und zeichnete seine Beobachtungen auf, die er 1861 unter dem Titel Les Garibaldiens veröffentlichte. In Milazzo, im Nordosten der Insel, traf er Garibaldi wieder. Der Feldherr lag unter einem Kirchenportalvorbau auf den Steinen, hatte den Kopf auf seinen Sattel gebettet und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Neben ihm befanden sich ein Stück Brot und ein Krug Wasser. Es sind diese kleinen authentischen Eindrücke, die Les Garibaldiens auch heute noch lesenswert machen und die wie Fotografien im Gedächtnis bleiben. Dumas wollte jedoch mehr tun, als nur die Ereignisse zu beschreiben. Er schlug Garibaldi vor, aus Marseille Gewehre zu besorgen. Dieser nahm dankend an, hatte aber gleich noch eine weitere Aufgabe für ihn: Dumas sollte eine politische Zeitung in italienischer Sprache für die gemeinsame Sache mit dem Titel L’Independente (›Der Unabhängige‹) gründen. Am 29. Juli nahmen Dumas und Emilie ein Dampfschiff nach Marseille, wo die junge Frau sich verabschieden und nach Paris zurückkehren musste, denn die Strapazen der Reise und die Gefahren des Krieges waren nicht mehr zumutbar für sie: Emilie war schwanger. In Marseille kaufte Dumas 1000 Gewehre und 500 Karabiner, die er nach Sizilien verschiffen ließ. Dort ging unterdessen der Vormarsch der Rothemden weiter, so dass Garibaldi bald auf das Festland übersetzen konnte. Eine dort gegründete Nationalgarde schloss sich schnell seinen Truppen an. Die alten Eliten verließen fluchtartig das Königreich. Dumas stieg wieder auf seinen Schoner und ließ die Segel in Richtung Bucht von Neapel setzen. Der jetzige König Franz II. merkte, dass er jeglichen Rückhalt verloren hatte und sein Königreich sich einfach auflöste. Und Dumas sah dabei zu, denn er konnte von seinem Schiff aus, das vor Neapel auf Reede lag, den Königspalast 237

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und sogar das Zimmer des Königs erkennen. Am 6. September 1860 verließ Franz II. das Land; das Königreich von Sizilien und Neapel ­gehörte der Geschichte an. Als Dumas Garibaldi wiedersah, duzte dieser ihn nicht nur zum ersten Mal, sondern machte ihn sogar zum Direktor der Ausgrabungen und Museen und gab ihm als Residenz den kleinen Palast Chiatamone. Was in Frankreich zweimal gescheitert war, schien in Italien wahr zu werden: eine Revolution mit Staatsgründung nach demokratischen Prinzipien. Mit dem Exil des Königs von Neapel schloss sich außerdem ein zentrales Kapitel der Familiengeschichte, während noch im selben Jahr neue Abschnitte begannen. Am 20. November wurde Dumas Großvater, und am 24. Dezember wurde er zum letzten Mal Vater. Emilie gebar eine Tochter, die auf den Namen ­Micaëlla getauft wurde. Sein italienisches Abenteuer hatte Dumas wieder ins Zentrum der Ereignisse versetzt. In Neapel hatte er ein weiteres Mal die Chance, sich neu zu erfinden. Bereits im Oktober 1860 erschien die erste Nummer des Independente, der, wenn man von der Lebenszeit ausgeht, Dumas’ erfolgreichste Zeitung wurde. Er hat auch insofern Spuren hinterlassen, als sein wichtigster Mitarbeiter, Eugenio Torelli Viollier, später den Corriere della Sera gründen sollte. Hatte Dumas als Herausgeber einer Tageszeitung genug zu tun, so war sein Posten als Direktor der Museen eher eine Sinekure. Als er die grandiosen Antikensammlungen des Bourbonischen Museums besichtigte, hielt er bereits auf der Treppe der Eingangshalle inne, über der eine kolossale Statue von König Ferdinand IV. wachte. Schon bei seinem ersten Besuch in Neapel war ihm dieses groteske Meisterwerk aufgefallen. Ausgeführt von dem klassizistischen Bildhauer Antonio Canova, war es künstlerisch und technisch brillant, ohne Zweifel. Aber wie war Ferdinand IV. bloß auf die Idee gekommen, sich mit den Zeichen der Göttin Minerva darstellen zu lassen und aus sich einen merkwürdigen Transvestiten zu machen? Einerseits stand er da mit ausgestrecktem rechten Arm und blickte streng wie ein römischer Kaiser auf den Betrachter herab, andererseits saß der Helm Minervas locker auf seiner Stirn, war die Toga über die linke Schulter gelegt 238

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und keck um die Hüfte gebunden, so dass der Brustpanzer frei blieb und das Medusenhaupt gut zu erkennen war. Wie konnte man sich nur dazu versteigen, jenen König, der völlig ungebildet war, der sein Volk unterdrückt und den Fortschritt verhindert hatte und dem Jagd und Fischfang stets wichtiger gewesen waren als die Staatsgeschäfte, mit den Attributen der Göttin der Weisheit und des gerechten Krieges in Verbindung zu bringen? War es nicht eigentlich seine Frau, Maria Karolina von Österreich, gewesen, die im Hintergrund die Politik bestimmte? Vielleicht war das ja der Grund für diesen Mann-Frau-Karneval. Dumas ordnete an, die Statue von ihrem herausgehobenen Posten wegzuschaffen. Ferdinand IV., der wegen seiner großen Nase spöttisch als ›König Nasone‹ bezeichnet wurde, war für Dumas der Inbegriff der bourbonischen Unterdrückung in Europa. Seine ganze publizistische Energie steckte er nun in die Aufarbeitung der neapolitanischen Vergangenheit. Ab Ende 1861 schrieb er an einer Geschichte der Bourbonen von Neapel, deren Bände an die Leser des Independente verschenkt wurden. 1862 kam er auf die Idee, einen Roman im Stile der beliebten Pseudo-Memoiren über Emma Hamilton, jene schillernde femme ­fatale des 19. Jahrhunderts, zu verfassen, die eine enge Vertraute von Königin Maria Karolina und die Geliebte von Admiral Nelson gewesen war. Aber damit blieb er letztlich auf ausgetretenen Pfaden. Es waren nicht die ersten Pseudo-Memoiren auf seiner Literaturliste, allerdings hatte seine Freundin, die Comtesse Dash, sie verfasst und unter seinem Namen publiziert. Was war aus dem Schriftsteller Dumas geworden, der stets das Unmögliche gewollt hatte und es mit seiner unbändigen Energie und Leidenschaft verfolgte? Jetzt hatte er Zugang zu bisher verschlossenen Archiven der Bourbonen, wo sich historisch einzigartige Dokumente befanden, die ganz neue Perspektiven auf die Geschichte eröffneten. Warum schloss er nicht an jene glorreichen Jahre des Feuilletonromans wieder an und wandelte all das Wissen, das er hier ansammeln konnte, in einen großen historischen Roman um? In einen Roman, in den die historischen Dokumente nahtlos eingefügt werden könnten? 239

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Als Dumas die Tragweite eines solchen Projekts klar wurde, muss er wie elektrisiert gewesen sein. Historische Romane hatte er gewiss schon viele geschrieben, aber bisher hatte der Romancier den Historiker dominiert. Der Gedanke aber, beide so sehr zu einer Einheit verschmelzen zu lassen, dass der Roman zugleich ein substanzieller Beitrag zur Geschichtsschreibung war, brachte der Gattung eine Wendung, die es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Aber vor allem konnte es der Roman seines Lebens werden: Flossen in Neapel nicht alle Stränge zusammen? Hier war es gewesen, wo das Schicksal seines Vaters besiegelt und damit sein eigenes mitbestimmt worden war. Hier hatte sich der Kampf zwischen Monarchie und Demokratie, der sein politisches Denken bestimmte, eine der gnadenlosesten Schlachten geliefert. Die kurze Neapolitanische Republik von 1799 war mehr als eine lokale Episode der Geschichte Süditaliens, man konnte aus ihr ein Beispiel für das Ringen um die Volkssouveränität in ganz Europa machen. Hatte Dumas bei seinen Versuchen, in die Politik einzusteigen, schon 1830 angekündigt, der Dichter Dumas sei nur die Vorstufe des Politikers gewesen, so schien er nun zu begreifen, dass sein literarisches Genie und seine besondere Situation in Neapel die einzigartige Chance bargen, beide wie nie zuvor miteinander zu verbinden. Wenn Ferdinand  IV. sich selbstherrlich eine Statue als römischer Kaiser und römische Göttin machen ließ, dann wollte Dumas den Republikanern Neapels ein Denkmal setzen, wie es keines bisher gegeben hatte. All sein historisches Wissen, sein Erleben von zwei gescheiterten Revolutionen in Paris, sein dramatisches Handwerk und sein geniales Vermögen, historische Einzelheiten und Tatsachen zu einem narrativen Zusammenhang zu verweben, konnten nun zusammenwirken. Die Familiengeschichte, die politischen Überzeugungen und die Chance, mit einer neuen Romanform wieder auf die literarische Bühne von Paris zurückzukehren – all das waren mächtige Triebfedern, ihn zu einem vielleicht letzten großen Wurf ausholen zu lassen. Seine Begeisterung war ansteckend. Im Juli gelang es ihm, die Zeitung La Presse von dem Projekt zu überzeugen. Hier hatte er einst 240

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Die Bartholomäusnacht publiziert, die längst als Klassiker galt. Es war lange her, dass er ein so ambitioniertes Projekt in einer Tageszeitung unterbringen konnte. Am 24. Juli 1863, seinem 61. Geburtstag, begann er im Palast Chiatamone mit dem großen Roman, der als sein Meisterwerk gelten darf: La San Felice. In sechs Bänden nahm er sich vor, den Triumph und den Untergang der Neapolitanischen Republik aufzuarbeiten. Den Rahmen bildeten die Eroberung Neapels durch die Franzosen, die Flucht Ferdinands IV. mitsamt Familie nach Sizilien, die Ausrufung der Republik, die Rückeroberung des Territoriums durch die katholische Armee des Kardinals Fabrizio Ruffo und die gnadenlose Ausmerzung der Republikaner nach der Rückkehr des Königs. Dumas war davon überzeugt, dass die Geschichte selten so viel Romanstoff vorgegeben hatte wie bei diesen Ereignissen. Sie boten ihm eine Fülle faszinierender Figuren: den lächerlichen, aber umso grausameren König; die intrigante Königin, die seit der Hinrichtung ihrer Schwester Marie-Antoinette alles Republikanische abgrundtief hasste; das einseitig militärische Genie Admiral Nelsons, der zum Spielball erotischer Verführung durch die Schönheitsikone Emma Hamilton wurde; den ehrenhaften französischen General Championnet; einen Kardinal, der sich in einen Feldherrn verwandelte; den skrupellosen Bandenchef Fra Diavolo; eine Fülle von Lokalpatrioten; das wilde Heer der Lazzaroni – die neapolitanische Unterschicht – mit seinen barbarischen Scheusalen; und eine strahlende weibliche Hauptfigur, Luisa San Felice, die aus Liebe, nicht aus politischen Gründen, in den tödlichen Strudel der Ereignisse hinabgerissen wird. Auf der historischen Bühne war Luisa San Felice bloß eine Nebenfigur, aber gerade deshalb konnte sie, die 1800 hingerichtet wurde, den gnadenlosen Rachedurst des Bourbonenkönigs eindrucksvoll veranschaulichen. Ihre Liebe zu dem von Dumas erfundenen neapolitanischen Republikaner Salvato Palmieri bildete die eigentliche Romanhandlung, die aber so eng mit den historischen Ereignissen verwoben wurde, dass sich beide nicht voneinander trennen lassen. Aus Dumas’ Perspektive des Jahres 1863 bildete die Neapolitanische Republik ein Beispiel für die langsame Entwicklung der Nationen hin 241

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zur Volkssouveränität. Zugleich entwarf er ein idealisiertes Bild der letzten Jahre der ersten französischen Republik, die im Krieg gegen die Monarchien den Nationen Europas die Freiheit bringen wollte und wo immer es ging Schwesterrepubliken gründete. Sie wird vertreten von General Championnet, der von den Werten der Gleichheit und Brüderlichkeit erfüllt ist und selbst in Kampfsituationen seine Menschlichkeit und seine Ehre zu wahren weiß. Auf der anderen Seite steht der Hof von Ferdinand IV., unmoralisch, korrupt, skrupellos, egoistisch, machtversessen, reaktionär, rachsüchtig und eng verbandelt mit einer katholischen Kirche, welche die Religion schamlos dazu benutzt, um das ungebildete Volk gegen die Republikaner aufzuhetzen. So steht eine kleine intellektuelle Schicht von Republikanern einer großen ungebildeten Masse gegenüber, die weder an Freiheit noch an Gleichheit gewöhnt ist und beide nicht zu schätzen weiß. Demokratie braucht Zeit, und vor allem braucht sie Bildung, denn als eine komplexe Staatsform will sie erlernt sein. Aber für Dumas stand fest, dass diese Entwicklung unaufhaltsam sei, denn »Gott hat den Menschen, indem er ihn mit Intelligenz ausstattete und ihm den freien Willen ließ, unbestreitbar mit jener großen und heiligen Mission beauftragt, sich ständig zu verbessern und Licht in die Dunkelheit zu bringen, damit dieser zu dem einzigen Punkt gelangt, an dem die Nationen ein Bewusstsein von ihrer Größe bekommen: zu Freiheit und Aufklärung.« Diese Überzeugungen lenkten Dumas zwar seit den 1830er Jahren, aber in keinem Roman verbinden sich seine politischen Standpunkte, sein Geschichtsbild und sein Menschenbild so eng miteinander. Was den Roman als Roman allerdings so außergewöhnlich und großartig macht, ist, dass nichts davon auf Kosten der dramatischen Handlung geht. Geschichte erweist sich bei Dumas als multifaktorielle Dynamik, die von vielen Beteiligten abhängt. Daher steht auch nicht die Handlung im Vordergrund, die bloß auf eine Auflösung hin zusteuert, sondern die Figuren. Für Dumas hängt jede Spannung und jede Dramatik allein an den Figuren, denn, so schreibt er, »je besser man die Figuren kennt, die man handeln sieht, umso größer ist die Anteilnahme an den guten oder schlechten Taten, die sie vollbringen.« So entstand nach und nach 242

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ein ebenso grandioses wie umfangreiches Fresko von Figuren, und der Roman wuchs auf über 1600 Buchseiten an. Könnte das die Leser nicht überfordern? Nein, erwiderte Dumas, denn seiner Meinung nach hing die Länge oder die Kürze eines Themas nicht von einem materiellen Maß ab: Entweder ist ein Werk interessant, dann wird es dem Publikum kurz vorkommen, selbst wenn es aus zwanzig Bänden bestünde, oder es ist langweilig und der Leser … wird es weit von sich werfen, bevor er die Lektüre beendet hat, selbst wenn es nur zehn Seiten lang wäre. Und was mich betrifft, so waren es im Allgemeinen meine längsten Bücher, also diejenigen, in denen es mir möglich war, die ­Figuren ausführlich zu entwickeln und eine lange Handlungskette aufzuspannen, die am erfolgreichsten waren und am gierigsten gelesen wurden. Dumas spürte, dass er mit La San Felice Neuland betrat, und das verunsicherte ihn. Sobald er die ersten Bände fertig hatte, schickte er sie seinem Sohn mit der Bitte um eine Einschätzung und wurde ganz nervös, als diese auf sich warten ließ. Anfang Dezember begann die Publikation im Feuilleton von La Presse. Im Januar schrieb er seinem Sohn nochmals Hilfe suchend aus Neapel: »Unterstütze mich, indem du mir etwas über La San Felice sagst. Ich habe es einfach wie Atlas auf mich genommen, eine ganze Welt zu tragen – nur, dass Atlas eine Entschuldigung dafür hatte – denn man hatte ihm die Welt auf den Rücken gelegt, während ich sie mir selbst auferlegt habe.« Die komplexe Verflechtung von Geschichte und Roman erwies sich als Knochenarbeit. Mitunter fühlte Dumas sich so erschöpft, dass er sich einen ganzen Monat Pause wünschte. Aber die Resonanz war mehr als ermutigend. Die ersten Bände erschienen bereits in zweiter Auflage, noch bevor der Roman abgeschlossen war. Anfang 1865 formulierte Dumas dann endlich die zwei letzten Sätze: »Achtzehn Monate lang habe ich fleißig und gewissenhaft dem Ruhm des neapolitanischen Patriotismus und der Schande der bourbonischen Tyrannei dieses Denkmal errichtet. / Es ist unparteiisch wie die Justiz, möge es auch so dauerhaft wie das Erz sein!« 243

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Das war ungewöhnlich selbstbewusst und stolz für Dumas, der sich in seinen Texten stets genau an die Bescheidenheitsfloskeln hielt. Aber als er diese Zeilen schrieb, wusste er bereits, dass ihm etwas Außergewöhnliches gelungen war. Denn am 1. September 1864, also gut ein halbes Jahr vor Abschluss des Romans, war in La Presse ein langer Beitrag erschienen, der die Neuartigkeit von La San Felice sofort erkannt hatte. Nach Abschluss des Romans folgte im April 1865 ein weiterer umfangreicher Artikel zu Dumas’ Meisterwerk. Dort hieß es, dass La San Felice die »Verbindung zwischen Roman und Geschichte, die so viele Kritiker für fast unmöglich gehalten haben, von nun an mit einem unbestreitbaren Erfolg hergestellt [hat] und die Lösung eines literarischen Rätsels gefunden wurde.« Habe Dumas in seinen früheren großen Erfolgen die Geschichte der Romanhandlung stets untergeordnet, so sei dieses Verhältnis hier umgekehrt worden und die ­Geschichte bestimme den Roman: Man ist sogleich überrascht über diesen tiefen Respekt vor der Wahrheit. Der Autor gibt sich nicht mehr wie früher seiner unerschöpflichen Fantasie hin. Er beschreibt die Figuren mit großer Sorge um Genauigkeit. Er folgt den Ereignissen Schritt für Schritt, forscht nach den Ursachen, mehr noch, er zieht die logischen Schlüsse daraus. Er führt in sein Werk jenes große Element der Geschichte ein: die doppelte Analyse von denkender Initiative und zufälligen Umständen, jene zwei Kräfte, die sich abwechselnd bekämpfen und vereinen, und er studiert deren Wirkung auf die menschlichen Angelegenheiten. Wahrheit, Genauigkeit, Ursachen, logische Schlüsse – all das sind wissenschaftliche Begriffe, die hier literarisch wirksam wurden. Es ist kein Zufall, dass 1863 mit Jules Vernes Fünf Wochen im Ballon der erste wissenschaftliche Reiseroman erschienen war und 1867 ­Thérèse Raquin von Émile Zola den Naturalismus einleiten sollte. Wenn Dumas’ Werke der 1830er und 1840er Jahre Schlüsseltexte der Romantik waren, so hatte er den historischen Roman mit La San Felice um das Element der Wissenschaftlichkeit erweitert und die Gattung damit einer neuen Epoche angepasst. 244

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Trotz der scharfsichtigen und klugen Beschreibung der Neuartigkeit von La San Felice ist vielleicht eine ganz einfache Aussage des Kritikers am anschaulichsten, weil sie eigentlich das Schönste ist, was man über einen (historischen) Roman sagen kann: »Was mich angeht, so habe ich bei dieser Lektüre viel gelernt, und ich schulde dem Autor Dank, sowohl für das Vergnügen, das ich darin gefunden habe, als auch für die Einsichten, die er in meinem Denken hinterlassen hat, in die Verwicklungen und die Kräfte der Geschichte, die durch den Roman mit Leben erfüllt, erhellt und ergänzt wurden.« Der Kritiker, der Dumas in diesen höchsten Tönen lobte, hieß Charles de Moüy und sollte einmal französischer Botschafter in Athen und Rom werden. Mit La San Felice war Dumas ein grandioses Comeback beim Publikum und bei der Kritik gelungen. De Moüy prophezeite, dass es »ein Werk ersten Ranges in den Annalen des Romans bleiben« werde. In Frankreich ist er in der Tat weiterhin in einer sorgfältig edierten Ausgabe erhältlich, im deutschsprachigen Raum hingegen sieht es weniger gut aus. Zwar ist die Übersetzung von August Kretzschmar aus den Jahren 1864/65 online einsehbar, aber sie kann wegen der veralteten Sprache kaum mehr zur Lektüre eines so umfangreichen Textes herangezogen werden. Eine deutschsprachige Neuausgabe wäre jedenfalls ein literarisches Ereignis.

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ereits im März 1864 war Dumas endgültig nach Paris zurückgekehrt. Der Erfolg seines neuen Romans hatte ihn beflügelt, sich wieder in die literarische Szene Frankreichs zu stürzen. Anlässlich einer großen Ausstellung von 300 Werken des Malers Eugène Delacroix wurde er eingeladen, am 10. Dezember 1864 über seinen vor einem Jahr verstorbenen Freund einen Vortrag im Saal der Société Nationale des Beaux-Arts zu halten. Seit Anfang der 1860er Jahre waren Vorträge mit Prominenten immer beliebter geworden. Sie boten dem Publikum die Möglichkeit, Persönlichkeiten des öffentli245

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chen Lebens unmittelbar zu erleben, und traten kulturhistorisch in Konkurrenz zu den eher exklusiven Salons. Dumas’ Auftritt wurde ein voller Erfolg, so sehr, dass er die Gelegenheit nutzte, um zwischen März 1865 und April 1866 auf eine Art Tournee zu gehen und insgesamt knapp fünfzig Vorträge in Paris, in der Provinz und im Ausland zu halten. In diesem neuen Format blühte Dumas geradezu auf, und die Journalisten wunderten sich über die Vitalität des 62-Jährigen, der manchmal bis zu drei Stunden zu seinem Publikum sprach. Dumas war besonders dann in seinem Element, wenn er zu erzählen anfing und seine unterhaltsamen literarischen Plaudereien aus seinen Zeitungen und Sammelbänden mündlich, frei und improvisiert zum Besten gab. Und wovon erzählte er? Natürlich von sich selbst und den vielen Berühmtheiten, mit denen er bekannt und befreundet gewesen war. Er trug seine Erinnerungen aus der Kindheit, Jugend und den 1830er Jahren vor, erzählte vom Schicksal seines Vaters und hielt Kurioses und Anekdotisches von seinen Reisen nach Russland und seiner Teilnahme an der Eroberung Siziliens bereit. Es waren nostalgische Blicke, die er auf die Geschichte und sein Leben warf. Wenn er von seiner kurzen Begegnung mit Napoleon vor und nach Waterloo und von dem Schicksal der Soldaten erzählte, kamen dem Publikum mitunter die Tränen, und auch Dumas selbst wurden die Augen feucht. Dann gab es frenetischen Applaus. Dabei konnte es durchaus passieren, dass er spontan politische Kommentare abgab, etwa über das Exil seines Freundes Victor Hugo, und einmal rutschte ihm ein spöttisches Wort über den jüngst verstorbenen Marschall Magnan, einen engen Vertrauten von Napoleon  III., heraus. Das ließ die kaiserlichen Agenten aufhorchen, die im Saal saßen und über solche Veranstaltungen zu berichten hatten. Daher fanden die Vorträge ab Juli 1865 nur noch in der Provinz statt. Also tingelte Dumas per Eisenbahn über Le Havre, Lyon, La ­Rochelle, Cherbourg, Bordeaux, Angoulême, Saint-Étienne, Limoges, Soissons, Reims und Rouen durch das Land, wo seine Auftritte wahre ­gesellschaftliche Ereignisse darstellten, die häufig als Benefizveranstal­ tungen genutzt wurden, um Schulen und Bedürftige zu unterstützen. 246

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Der alternde Alexandre Dumas mit Tochter Marie um 1860 (Foto: Nadar)

Jenseits von Paris war Dumas immer noch eine Legende. In Limoges waren alle Karten im Nu ausverkauft. Man wollte den berühmten Mann nicht nur hören, man wollte ihn vor allem auch einmal gesehen haben. Was machte es schon, wenn er Anekdoten aus seinen Memoiren wiederholte, »im Vergleich zu der Neugier, die wir empfanden, jenen Schriftsteller zu sehen, der vierzig Jahre lang Europa mit seinen Werken, seinen Fantasien, seinen Reisen und seiner Ausnahmepersönlichkeit beschäftigt hat«?, kommentierte der Courrier du Centre aus Limoges am 22. August 1865. Und in Saintes wunderte man sich, dass er gar nicht so dunkelhäutig war, wie man ihn von Bildern und Karikaturen her kannte, und »nichts mit dem afrikanischen Typus gemein« habe. Auch in Pest, das er im Dezember 1866 in Begleitung seiner Tochter Marie besuchte, war man froh, den berühmten Dumas zu Gast zu haben, und bereit, wie ein Journalist es formulierte, »seine Eitelkeit und seinen Egozentrismus demjenigen zu verzeihen, der der Welt so viele schöne Dinge geschenkt hat«. An Selbstbewusstsein hatte es Dumas nie gefehlt, und manch einer stieß sich daran. Wie Dumas auf andere wirkte, haben die Brüder Goncourt am 14. Februar 1866 247

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in ihrem Tagebuch nach einem Abendessen bei Verleger Émile de ­Girardin anschaulich beschrieben: Mitten in unsere Unterhaltung platzt Dumas der Ältere herein, mit weißer Krawatte, weißer Weste, massig, schwitzend, außer Atem und ziemlich heiter. Er kommt aus Österreich, aus Ungarn, aus Böhmen … er erzählt von Pest, wo man ihn auf Ungarisch gespielt hat, von Wien, wo der Kaiser ihm einen Saal aus seinem Palast für einen Vortrag zur Verfügung gestellt hat. Er erzählt von seinen Romanen, von seinem Theater …, von einem Restaurant, das er zur Weltausstellung auf den Champs-Elysées eröffnen will, und davon, dass er vergeblich versucht, die Genehmigung für ein neues Theater zu bekommen. Ein riesiges Ego nach Maß des Mannes, aber es quillt über vor kindlicher Güte, aber es versprüht Witz … Zwar strahlte Dumas weiterhin ungebremste Vitalität aus, dennoch war er für die Verhältnisse seiner Zeit schon ein älterer Herr, was man ihm mittlerweile auch physisch an seinem grauen Haar und seinem beeindruckenden Bauchumfang deutlich ansah. Ein betagter Herr, der ewig jung sein wollte, lief Gefahr, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, wie sich 1867 an einem Streit um Fotografien zeigen sollte, auf denen Dumas mit der über dreißig Jahre jüngeren Schauspielerin Adah Isaacs Menken posierte. Die US-Amerikanerin war nach großen Erfolgen in ihrer Heimat und in London nach Paris gekommen, wo sie ab Ende 1866 am ­Gaîté-Theater in Die Piraten der Savanne von Bourgeois und Dugué Aufsehen erregte. Da sie kaum Französisch sprach, hatte man eigens für sie eine kleine Rolle ohne Dialoge geschaffen. Ihr Auftritt bestand daraus, dass sie leicht bekleidet in liegender Position auf den Rücken eines Pferdes gebunden wurde, das anschließend über ein dreistufiges Bühnenbild mit Felsen davongaloppierte. Obwohl diese Einlage nur eine Minute dauerte, stellte sie den spektakulären Höhe­punkt des Stückes dar, dem auch Kaiserin und Kaiser heftigen ­Beifall klatschten. Die nackten Beine der Menken und das akrobatische Bravourstück bescherten den ­Piraten der Savanne einen großen 248

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kommerziellen E ­ rfolg, egal wie bissig die Satirezeitungen solch ein US-amerikanisches Showbusiness verspotteten. Als das Pferd im Januar dann zweimal stürzte und Menken dabei einmal leicht verletzt wurde, avancierte sie endgültig zum Tagesgespräch in Paris, wobei noch das Gerücht hinzukam, dass sie bereits dreimal verheiratet gewesen sein sollte. Das war ein grandioser Start für sie gewesen, jetzt aber benötigte sie eine anspruchsvollere Rolle für den Moment, ab dem sie ausreichend Französisch sprach. Dabei wandte sie sich an den berühmten Dumas und schlug ihm vor, aus Walter Scotts Roman The Monastery ein Stück mit einer Doppelrolle für sie – einmal als Frau, einmal als Mann – zu machen. Dumas fand Gefallen an der aufreizenden jungen Darstellerin, und es entwickelte sich schnell ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden. Daher sagte er zu, als er von dem Fotografen Alphonse Liébert eine Einladung erhielt, gemeinsam mit Menken Modell zu stehen. Fotokarten von Prominenten erfreuten sich in jenen Jahren einer ungeheuren Beliebtheit und hatten kulturhistorisch einen wichtigen Anteil an der Ikonisierung von Stars. Das Geschäftliche verlief in der Regel dabei so, dass die Künstler gratis für einen Fotografen posierten und im Gegenzug dafür eine gewisse Anzahl der Karten erhielten. Der Fotograf wiederum verkaufte seine Bilder anschließend an Schreibwarenläden, die sie in ihren Schaukästen anboten, so dass sie sich schnell über ganz Paris verbreiteten. Davon hatten beide Seiten etwas: der Fotograf den Umsatz, die Prominenten die Werbung. Am 28. März 1867 machte Liébert von Dumas und Menken eine Reihe von Fotos, auf der beide in einer doppeldeutigen Nähe zwischen väterlicher und erotischer Zuneigung zueinander zu sehen waren. Zweimal ist die Schauspielerin nur mit einer Decke umhüllt, auf einem anderen Bild ist Dumas (übrigens erstmals) in Hemdsärmeln abgelichtet, während sie sich an ihn schmiegt. Hemdsärmel waren im damaligen Moralkodex ein Zeichen von Intimität, da die Männer das Jackett nur im privaten Umfeld auszogen und sich ohne Jackett daher in der Regel nicht fotografieren ließen. Dumas fuhr kurz darauf nach Frankfurt, um für einen Roman über den Krieg zwischen Preußen und Österreich zu recherchieren, wäh249

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Dumas in Hemdsärmeln und mehrdeutiger Pose an der Seite von Adah Menken

rend Liébert nach behördlicher Genehmigung die Fotos in Umlauf brachte, die Anfang April in fünfzig Läden ausgestellt waren und einen kleinen Skandal auslösten. Le Figaro kommentierte den Fall, und in der Satirezeitschrift Le Tintamarre erschienen Spottverse. Sohn Alexandre schüttelte den Kopf, Tochter Marie, die sich von ihrem Mann getrennt hatte und wieder in Paris lebte, war entsetzt und forderte von dem Fotografen einen Verkaufsstopp. Als dieser sich widersetzte, reichte Dumas einen Antrag beim Gericht ein, den Verkauf sofort zu unterlassen und die in Umlauf gebrachten Karten zurückzunehmen. Dumas gab vor, dass die Bilder niemals für die Öffentlichkeit gedacht gewesen waren, und fühlte sich in seiner Würde verletzt. Es kam zu einem Prozess, der über die rein rechtlichen Fragen ­hinaus aus heutiger Sicht stark moralische Züge annahm und sich zum Teil auf die Persönlichkeit Dumas’ konzentrierte. Der Gerichts­saal war wie immer brechend voll, wenn Dumas’ Anwesen­heit e­ rwartet wurde. 250

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Rechtsanwalt Peronne, der den Fotografen Liébert vertrat, versuchte gezielt, Dumas als jemanden hinzustellen, der wie niemand anderer in Frankreich eine öffentliche Person sei und alles dafür getan habe, »sich selbst und alles, was ihn betraf, andauernd zu inszenieren« und sich dem Publikum anzuvertrauen. Der ganze Fall sei nichts anderes als die Konsequenz seines »unstillbaren Bedürfnisses nach übertriebener Werbung«, nur, dass sich das Publikum diesmal gegen ihn gewandt habe. Es war zwar nicht das erste Mal, dass Dumas als eitel oder egozen­ trisch dargestellt wurde, aber das lange Spottgedicht, das am 21. April in Le Tintamarre erschienen war, ging tiefer. Es machte sich lustig über den alten Gigolo mit dem dicken Bauch, der sich von einer jungen Frau zu Werbezwecken hatte ausnutzen lassen. Mit anderen Worten: Dumas hatte sich lächerlich gemacht, was in Frankreich bis heute als ein besonders schwerwiegender Fehltritt gilt. Am 3. Mai wies das Gericht Dumas’ Antrag ab. Er legte sofort ­Berufung ein, und es ging in die nächste Runde. Sie endete damit, dass der Verkauf untersagt wurde und Dumas die Negative für 100 Francs kaufen konnte. Das war ein Kompromiss für beide Seiten. Dumas’ angeblichen Geltungsdrang hatte das Gericht zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter bewertet, sondern entschieden, dass die skandalösen Fotos seine Würde als Vater einer Tochter und als alternder Mann verletzten. Ändern tat dies nur wenig. Auch wenn der Verkauf der Fotos ab jetzt untersagt wurde, waren sie lange genug im Umlauf gewesen. Zudem hatte der Familienfrieden gelitten, Sohn Alexandre war tief verstimmt, von der Empörung Maries ganz zu schweigen. Auch Dumas dürfte der Fall zu denken gegeben haben. Seine ewige Jugend schien zu Ende zu gehen. Der freundschaftliche Kontakt zu Adah Menken brach aber deshalb nicht ab, und offenbar dachte er ernsthaft darüber nach, für sie ein Stück nach Walter Scott zu schreiben. Aber es kam nicht mehr dazu, Adah wurde Mitte 1868 schwer krank und verstarb kurz darauf an einer Bauchfellentzündung im Alter von 33 Jahren. Wie Dumas sich selbst in jener Zeit sah, davon zeugt ein privates »Steckbriefalbum« aus dem Jahre 1868, in dem Prominente über eine Reihe von Fragen über ihre Werte und ihre Vorlieben Auskunft 251

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geben sollten. Dumas’ Steckbrief wurde am 3. November 1883 in der Literaturbeilage des Figaro abgedruckt und ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben. »Steckbriefe« werden meistens spontan verfasst und richten sich nicht an die Öffentlichkeit, so dass sie trotz ihrer telegrammartigen Kürze häufig ein authentisches Profil skizzieren: Ihre Lieblingstugend: Die Nächstenliebe Ihre Lieblingseigenschaft beim Mann: Die Nachgiebigkeit Ihre Lieblingseigenschaft bei der Frau: Die Liebe Ihre Lieblingsbeschäftigung: Arbeiten Ihre wichtigste Charaktereigenschaft: Die Sorglosigkeit Ihre Vorstellung vom Glück: Gegenseitige Liebe Ihre Vorstellung vom Unglück: Der Verlust einer ­geliebten Person Ihre Lieblingsfarbe und -blume: Granatrot, die Stockrose Wenn Sie nicht Sie wären, wer würden Sie gerne sein? Hugo Wo würden Sie gerne leben? Überall, solange ich meine Frau, Papier, Feder und Tinte bei mir habe Ihre Lieblingserzähler: Walter Scott, Cooper, ­Mérimée Ihre Lieblingsdichter: Hugo, Lamartine, de Musset Ihre Lieblingsmaler und -komponisten: Rembrandt, Rubens, Weber, Bellini Ihre historischen Lieblingshelden: Jesus Christus, Julius Cäsar Ihre historischen Lieblingsheldinnen: Maria Magdalena, Jeanne d’Arc, Charlotte Corday Ihre literarischen Lieblingshelden: Childe Harold, Monte-­ Christo, D’Artagnan, Don Juan, Hamlet Ihre literarischen Lieblingsheldinnen: Diana Vernon, Mercédès, Niobe 252

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Lieblingsessen und -getränk: Brot und Wasser Ihre Lieblingsnamen: Emma, Maria, Petrus Was Sie am meisten verabscheuen: Ich hasse nichts und ­niemanden Wen lehnen Sie historisch Cato, Philipp II., am schärfsten ab? Ludwig XIV. Ihre derzeitige Geisteshaltung: Warten auf den Tod Wofür haben Sie am meisten Nachsicht? Ich verzeihe alles außer Verleumdung, Diebstahl und Falschheit Wie lautet Ihre Lieblingsdevise? Die Freiheit; Gott hat ­gegeben, Gott wird geben Alex. Dumas In künstlerischen Geschmacksfragen war Dumas ganz Romantiker geblieben. Die hohe Bedeutung, welche die Liebe für ihn spielte, deutet weiterhin an, dass er trotz Kritik an Kirche und trotz seiner gar nicht katholischen Sexualmoral dem ersten aller christlichen Grundwerte tief verbunden war. Was seine Selbsteinschätzung angeht, so scheint die Sorglosigkeit in der Tat ein Schlüssel zu seiner Persönlichkeit und seiner Biografie zu sein. Einerseits erlaubte sie es ihm, sich immer wieder an neue Herausforderungen heranzuwagen, sich niemals von Umständen einschüchtern zu lassen, allem und allen gegenüber offen zu sein und dabei stets heiter zu bleiben. Andererseits geriet er durch sie immer wieder in prekäre Situationen: Er lieh sich Geld, wo er konnte, wagte riskante geschäftliche Unternehmungen, führte Parallelbeziehungen mit manchmal mehr als zwei Frauen und setzte Kinder in die Welt, ohne sich viel um sie zu kümmern. Dumas’ Sorglosigkeit war wie Engel und Teufel seines Lebens zugleich. Dass der so vitale Dumas 1868 auf den Tod wartete, mag überraschen. Aber nach und nach starben viele seiner Weggefährten und riefen ihm die eigene Endlichkeit immer wieder in Erinnerung. Darüber hinaus gab es genügend Gründe, melancholisch zu werden. Victor Hugo, nach dessen Freundschaft Dumas sich ein Leben lang sehnte, hatte er seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Er vermisste seine 253

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kleine Tochter Micaëlla, die bei ihrer Mutter in Le Havre wohnte, wo er sie im Juli 1868 noch einmal besuchte. Sein Sohn kam fast nie zu ihm in seine Wohnung am Boulevard des Malesherbes, wo er seit März 1866 mit Tochter Marie lebte. Alexandre jr. hatte ihn als Autor in der Öffentlichkeit abgelöst, hatte mit seiner Frau im Mai 1867 eine zweite Tochter bekommen und war gewiss sehr beschäftigt. Aber vielleicht kam er auch deshalb nie, weil er seine Schwester nicht mochte. Marie wiederum setzte ihre künstlerische Arbeit fort und konnte ihr religiöses Bild Salvator Mundi im Salon von 1867 unterbringen. Unter Dumas’ Führung hatte sie zudem angefangen, literarisch zu schreiben. Ein erster Roman war bereits erschienen, der zweite, ­Madame ­Benoît, in dem sie ihre gescheiterte Ehe verarbeitete, wurde während der ersten Hälfte des Jahres 1868 im Dartagnan, Dumas’ neuer Zeitung, ­publiziert, die allerdings nach vier Monaten eingestellt werden musste. Obwohl die Kräfte mitunter nachließen, gönnte sich Dumas keine Zeit, um Trübsal zu blasen. Denn er hatte ja immer noch seine Lieblingsbeschäftigung, wie er sie im Steckbrief nannte: die Arbeit. 1857 hatte er in Les compagnons de Jéhu (Die Verschwörergruppe Jehu) sein Gesamtwerk als Versuch beschrieben, die französische Geschichte in Romanform zu verfassen. Und wenn man sich das ­Ergebnis ansah, so klaffte noch eine Lücke zwischen den Jahren 1799 und 1815, also vom Ende der Ersten Republik bis zum Ende des Ersten Kaiserreichs und damit entscheidende Jahre des Übergangs in die moderne Gesellschaft, die an die Person Napoleon Bonapartes gebunden waren. Zwar hatte er in seinem Napoleon-Drama bereits einen Überblick über dessen Laufbahn gegeben, in seinen Romanen war er jedoch bisher nur selten thematisiert worden. Das sollte nun behoben werden. Er konzipierte eine Trilogie, in der Die Verschwörergruppe Jehu das Mittelstück bildete, und schrieb 1866 mit Les Blancs et les Bleus (Die Weißen und die Blauen) die Vorgeschichte aus den Jahren 1793 bis 1799, die ab Januar 1867 erschien. Erzählt wird vom Aufstieg Bonapartes zum General und vom Ägyptenfeldzug, wobei die Geschichte ganz in den Vordergrund gerät und romaneske A ­ nteile ­nebensächlich werden. Im Anschluss daran entwarf er gleich den dritten Teil, Le chevalier 254

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de Sainte-Hermine, der dem Kaiserreich gewidmet war. Geplant war ein sechsbändiger Roman, den er im renommierten Moniteur universel unterbringen konnte. Mehr und mehr zitterte seine Hand und erschwerte ihm das Schreiben, so dass er mitunter diktieren musste. Dennoch lieferte er bis Ende 1868 den ersten Band an die Zeitschrift, wo der Roman ab 1. Januar 1869 erschien. Bis Oktober beendete er den dritten Band, dann brach der Roman ab und wurde auch nicht mehr fertiggestellt. Le chevalier de Sainte-Hermine war sein letzter Roman, und auch wenn das Fragment auf stattliche 1000 Seiten kommt, konnte Dumas das letzte Stückchen in das riesige historische Mosaik nicht mehr einsetzen. Dass wir von diesem Roman heute wissen, ist der Umtriebigkeit des großen Dumas-Forschers Claude Schopp zu verdanken, der seit fünfzig Jahren unermüdlich das gigantische Werk Dumas’ erforscht und den Roman Ende der 1980er Jahre wiederentdeckt hat. Dumas’ gesundheitliche Verfassung verschlechterte sich rapide. Woran er litt, ist nicht genau bekannt, vermutlich handelte es sich um die Folgen einer nicht entdeckten Altersdiabetes oder einer Schilddrüsenunterfunktion. Den Sommer 1869 verbrachte er in Roscoff, im äußersten Zipfel der Bretagne, um sich in Abgeschiedenheit und Einsamkeit zu erholen. Auch im Frühling 1870 begab er sich wieder an den Atlantik, diesmal aber an der südlichen Küste. In seinem letzten Lebensjahr sollte noch einer seiner tiefsten Wünsche in Erfüllung gehen, auch wenn der Preis dafür sehr hoch war. Nachdem Frankreich Preußen am 19. Juli 1870 den Krieg erklärt hatte, drangen die feindlichen Truppen relativ zügig auf das französische Gebiet vor. Die Schlacht von Sedan am 1. und 2. September und die Gefangennahme des Kaisers waren ein Schock für die Franzosen, zugleich aber formierten sich nun die republikanischen Kräfte und riefen am 4. September die Republik aus. Endlich war es so weit! Was Dumas seit den 1830er Jahren vorausgesagt hatte, wurde nun Wirklichkeit. Er, der Republikaner, der sich sein Leben lang aktiv für die Demokratie eingesetzt hatte, durfte kurz vor seinem Tod noch erleben, dass sie kam, auch wenn die Nation mitten im Krieg steckte und aus Dumas’ Sicht letztlich alles unsicher erscheinen mochte. Den 255

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3. Teil  Wie Phönix aus der Asche (1848 – 1870)

Zeugnissen nach soll Dumas, der in jenem Moment weder sprechen noch sich bewegen konnte, Tränen über die Wangen gelaufen sein. Waren es nur Freudentränen? Vielleicht nicht. Denn die Preußen bestätigten durch den Einmarsch in Frankreich ihr Expansionsstreben, vor dem Dumas 1867 hellsichtig in einem seiner letzten Romane, La Terreur prussienne, gewarnt hatte. Am Beispiel der Annektion der Freien Stadt Frankfurt wird erzählt, wie der preußische Militarismus sich das romantische Deutschland einverleibte. Und jetzt standen sie auf französischem Boden! Seitdem Dumas im August wieder nach Paris gekommen war, kümmerte sich Marie um ihn. Als die preußischen Truppen weiter vorrückten und eine Belagerung der Hauptstadt nur noch eine Frage der Zeit war, erkannte Marie, dass Dumas in seinem Zustand unmöglich dort bleiben konnte. Mit Hilfe der Hausangestellten brachte sie ihren geschwächten Vater zum Bahnhof Saint-Lazare und stieg mit ihm in einen Zug in Richtung Normandie, wo ihr Bruder bei Dieppe eine Villa besaß. Als sie dort eintraten, kündigte der Vater seinem Sohn an: »Ich komme, um bei dir zu sterben.« Der sterbende Dumas, der sein Leben lang im Rampenlicht gestanden hatte, war nun im überschaubaren Kreis seiner Familie angekommen. Bis auf die kleine Micaëlla hatte er seine Kinder und zudem noch seine Enkeltöchter Colette und Jeannine um sich. Zwar nickte er immer öfter ein, war immer seltener ansprechbar und verbrachte den ganzen Tag im Sessel mit Blick auf das Meer, aber wenn er wach war, lächelte er und hatte in hellen Momenten auch seinen Witz noch nicht verloren. Als er einmal zwei Louisdor in seinen Händen wog, äußerte er seinem Sohn gegenüber selbstironisch: »Alex, alle Welt meint, dass ich ein Verschwender gewesen sei … Nun denn, siehst du, wie man sich täuschen kann? Als ich nach Paris ging, hatte ich zwei Louis in meiner Tasche. Schau her  … Ich habe sie immer noch.« Am 3. Dezember 1870 begann seine Agonie, am 4. erlitt er einen Schlaganfall und verschied schließlich am 5. kurz vor 22 Uhr. Alexan­ dre Dumas, der ganz Frankreich Jahrzehnte lang mit seinen Werken, seinen Reisen, seinen Affären und seinen Prozessen in S­ pannung 256

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v­ ersetzt hatte, der das Lieblingskind der Presse gewesen war, war in aller Stille fernab von der Hauptstadt gestorben. Wenige Tage später marschierten die Preußen unter Marschmusik in Dieppe ein. Dumas’ Tod ging mit einem epochalen Einschnitt in der Geschichte Frankreichs einher. Der preußisch-französische Krieg, der als Deutsch-Französischer Krieg in die Geschichtsbücher einging, warf die Schatten des 20. Jahrhunderts voraus. Am 8. Dezember wurde Dumas provisorisch auf dem nahe gelegenen Friedhof von Neuville begraben. Die Kriegswirren und der politische Umbau Frankreichs führten dazu, dass sein Tod in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Tief getroffen war Mélanie Waldor, die sich in einem Kondolenzbrief an Alexandre jr. wandte, mit dem sie seit der Trennung vor nun fast vierzig Jahren noch Kontakt hatte: »Ich denke an dich, mein lieber Alexandre, und ich denke an deinen Vater, den ich nie vergessen werde … und den ich nie aufgehört habe zu lieben … Wenn es einen Menschen gab, der stets gut und mildtätig war, dann war es gewiss dein Vater. « Nach dem Krieg, am 16. April 1872, wurde Dumas, so wie er es sich gewünscht hatte, ins Grab seiner Eltern nach Villers-Cotterêts umgebettet. Erst jetzt fand die eigentliche Beerdigung statt. Mittlerweile war auch Victor Hugo wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Er konnte zwar nicht zur Beerdigung erscheinen, schrieb Alexandre jr. jedoch einen Brief, der die Lebensleistung von Dumas so verdichtet zusammenfasst, dass ihm das letzte Wort gebühren soll: Lieber Kollege, ich erfahre aus den Zeitungen, dass morgen, den 16. April, in Villers-­ Cotterêts die Begräbnisfeier von Alexandre Dumas stattfinden wird. Wegen eines kranken Kindes bin ich verhindert und werde nicht nach Villers-Cotterêts kommen können. Das bedauere ich sehr. Aber ich möchte wenigstens im Herzen bei Ihnen sein. Ich weiß nicht, ob ich bei dieser traurigen Zeremonie im Stande gewesen wäre, das Wort zu ergreifen, denn der Schmerz ballt sich gerade in meinem Leben zusammen, und Schlag auf Schlag tun sich viele Gräber vor mir 257

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auf. Dennoch hätte ich versucht, etwas zu sagen. Was ich hätte sagen wollen, möchte ich Ihnen jetzt schreiben. Es gab niemanden in diesem Jahrhundert, der populärer war als Alexandre Dumas, seine Erfolge waren mehr als Erfolge, es waren Triumphe, sie haben den Klang von Fanfaren. Der Name Alexandre Dumas ist mehr als französisch, er ist europäisch; er ist mehr als ­europäisch, er ist universell. Sein Theater ist auf der ganzen Welt gespielt worden, seine Romane wurden in alle Sprachen übersetzt. Alexandre Dumas gehört zu jenen Menschen, welche die Zivilisation gesät haben. Er reinigt und erhebt den Geist durch eine lachende und helle Klarheit. Er befruchtet die Seele, das Hirn, die Intelligenz, er macht Lust auf Lesen. Er legt das menschliche Herz frei und wirft ein Samenkorn hinein. Und was er sät, ist die französische Idee. Die französische Idee trägt so viel Menschlichkeit in sich, dass sie, wo auch immer sie eindringt, den Fortschritt auslöst. Daher kommt die enorme Popularität von Menschen wie Alexandre Dumas. … Das ganze Pathos des Dramas, die ganze Ironie und Tiefe der Komödie, die ganze analytische Kraft des Romans und das ganze Gefühl der Geschichte sind in dem erstaunlichen Bauwerk eingeschlossen, das dieser vielseitige und geschickte Architekt errichtet hat. Es gibt keine Finsternis in diesem Werk, kein Geheimnis, kein Souterrain, kein Rätsel, keine Schwindelgefühle, nichts von Dante, sondern alles von Voltaire und Molière, überall ist Leuchten, überall ist heller Tag, überall hin dringt das Licht. Er verfügt über alle möglichen Qualitäten, und sie sind unzählbar. Vierzig Jahre lang sprudelte dieser Geist wie ein magischer Quell. … Dieser Geist war zu allen Wundern imstande, sogar sich selbst zu vererben, sogar sich selbst zu überleben. Beim Abschied hat er einen Weg gefunden zu bleiben, wir haben ihn nicht verloren. Er ist jetzt bei Ihnen. Ihr Vater steckt in Ihnen, Ihr Renommee führt seinen Ruhm fort. Alexandre Dumas und ich waren zusammen jung. Ich habe ihn geliebt und er hat mich geliebt. Vom Herzen her war Alexandre Dumas genauso groß wie von Geist, er war eine große gute Seele. … Victor Hugo 258

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Epilog: Schlemmen mit Dumas

Epilog: Schlemmen mit Dumas

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ei der Betrachtung von Dumas’ Biografie fragt man sich immer wieder, wie so viele Ereignisse, Begegnungen, Reisen und Werke in ein Leben passen konnten. Welchen Zeitpunkt, welches Ereignis, welchen Aspekt man auch herausnimmt, seien es seine Beziehungen zu Dichtern, zu Malern, zur politischen Elite, zu den Bona­ partes, zu den Orléans, seine Kooperationen mit anderen Autoren, seine unzähligen Liebesgeschichten, seine Theatergründung, der Bau seines Schlosses, seine Tiere, seine Reisen, seine politischen Ambitionen, seine publizistischen Unternehmen, jedes dieser Themen liefert genügend Stoff für ein eigenes Buch. Aber das Erstaunlichste an ihm ist, dass dieses zum Bersten gefüllte Leben noch die Zeit und die Kraft gelassen hat, eines der umfangreichsten literarischen Werke der G ­ eschichte zu hinterlassen, das sich darüber hinaus nicht durch die Variation des Gleichen auszeichnet, sondern von einer ständigen Suche nach neuen Formaten und Gattungen zeugt. Mal romantisches Prosadrama, mal Verstragödien, mal umfangreiche Reiseberichte, mal historische Romane und Abhandlungen. Auch wenn wir Dumas heute hauptsächlich mit dem historischen Roman verbinden, der zweifellos seine größte Leistung darstellt, so verdeckt dies nur, wie breit und abwechslungsreich sein Werk eigentlich ist. Von daher passt es ins Bild, dass Dumas das Publikum 1872 mit einem posthumen Werk überraschte, das in seinem Schaffen als einzigartig dasteht: dem umfangreichen Kochbuch Le Grand Dictionnaire de la Cuisine. Wer seine Zeitungsartikel in den 1860er Jahren verfolgt hatte, mochte sich erinnern, dass er bereits in seinen Briefen über die Küche, die im Dezember 1863 in Le Petit Journal erschienen waren, ein solches Projekt erwähnt hatte. Dass Dumas gern aß, sah man ihm schon lange an, und dass er als Jäger seine Beute selbst gerne zubereitete, war auch bekannt. Wirklich gearbeitet an dem Kochbuch hat er jedoch erst während seines Erholungsaufenthalts in Roscoff im Jahre 1869, 259

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unterstützt von dem Koch Denis-Joseph Vuillemot, einem Schüler des berühmten Marie-Antoine Carême. Im März 1870 übergab er das Konvolut dem Verleger Alphonse Lemerre, der sofort mit der Druckvorbereitung begann, die dann jedoch vom Deutsch-Französischen Krieg unterbrochen wurde. Das unterhaltsame Wörterbuch ist kein Kochbuch im herkömmlichen Sinne, sondern eine Schnittmenge aus Theorie und Praxis. Alphabetisch geordnet findet man dort von Affenbrot über Büffel bis zu einer Abhandlung über Senf ganz unterschiedliche Informationen über Fische, Wild, Früchte und Gemüse, die nicht nur mit kulturgeschichtlichen Abrissen, Wortgeschichten und Anekdoten, sondern auch mit Rezepten versehen werden. Hier stehen exotische Spezialitäten wie Delfinleber oder Elefantenrüssel, von denen Dumas auf seinen Reisen erfahren hatte, neben ganz bodenständigen Zutaten und Gerichten. Gerahmt wird die heterogene Sammlung von der Überzeugung, dass die Küche genauso wie Liebe und Sinnlichkeit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Intelligenz und Kultur steht, weil das Geistige aus ihnen seine eigentliche Inspiration erhält. Daher dürfte es ganz in Dumas’ Sinne sein, wenn das vorliegende Buch mit einem Rezept aus seinem letzten Werk endet. Unter den zahlreichen Gerichten eines auszuwählen hat etwas Willkürliches. Wenn man aber bedenkt, wie hoch Dumas den Fisch als Nahrungsmittel einschätzte, und weiterhin berücksichtigt, was auch heute noch ohne großen Aufwand zubereitet werden kann, dann fällt meine Wahl auf die Forelle. Dumas hält sie für »unendlich zart« und führte ihren »vollkommenen Geschmack« darauf zurück, dass sie physisch agil und charakterlich entschlossen genug sei, gegen die stärksten ­Gebirgsbäche anzuschwimmen und Wasserfälle hinaufzuspringen. Er empfiehlt Forelle unter anderem nach Bergbäuerinnen-Art: Eine Stunde in gesalzenem Wasser ziehen lassen, dann in einer Flasche Weißwein zusammen mit drei Zwiebeln, einem Bund Petersilie, Gewürznelken, zwei Knoblauchzehen, Gewürzlorbeer, Thymian, Basilikum und Mehlbutter bei hoher Flamme kochen; Zwiebeln und Petersilie abnehmen, die Forelle in ihrer Sauce servieren und darüber etwas blanchierte Petersilie geben. 260

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Und wer ein solches Diner à la Dumas zubereiten möchte, kann sich dazu noch einen passenden Weißwein aus seiner langen Liste am Ende des Buches auswählen. Körper und Geist, ein bewegtes Leben und große Literatur, beides ist selten so eng miteinander verschränkt wie im Falle von Dumas und war schon für seine Zeitgenossen eine Herausforderung. »Ich, das Leben, ich, die Bewegung«, so beschreibt sich Dumas in den Memoiren einmal. Wenn man Leben als ständige Veränderung, Entwicklung und Entdeckung versteht, dann war Dumas in der Tat »das Genie des Lebens«, wie George Sand es formulierte. Vielleicht liegt gerade darin der Grund dafür, dass sein Werk lange unterschätzt und verdrängt wurde. Dumas’ überschäumende Produktivität und unzähmbare Energie fordern heraus, und die Fachdisziplin hat er wohl überfordert, schon von der Menge her. Selbst in Frankreich hat es lange gedauert, bis sein besonderes Genie anerkannt wurde und er den Platz einnehmen durfte, der ihm zusteht, ihm, der mehr Lesern die Geschichte nähergebracht hat als jedes Geschichtsbuch und in dessen Herkunft sich neben der Revolutionszeit auch noch die französische Kolonialgeschichte widerspiegelte. Erst 2002, zu seinem zweihundertsten Geburtstag, wurde er von dem kleinen Friedhof in Villers-Cotterêts in das Panthéon nach Paris überführt, wo er nun an der Seite seines geliebten Freundes Victor Hugo ruht. Seitdem hat in seiner Heimat eine breite Aufarbeitung und Wiederentdeckung seines Werkes begonnen, von dem mittlerweile wieder zahlreiche Titel neu kommentiert herausgegeben wurden. Im deutschsprachigen Raum hingegen sind kaum mehr als die drei bekanntesten Romane und diese in manchen Ausgaben nur in veralteten Übersetzungen oder gekürzten Versionen erhältlich. Wer Dumas nicht auf Französisch lesen kann, kommt über wenige Titel nicht hinaus. Es ist ein ebenso unbegreiflicher wie schmerzhafter Mangel, und es wäre an der Zeit, dieses bedeutende Werk wieder zugänglich zu machen.

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Zeittafel 1798 General Dumas, Vater von Alexandre Dumas, begleitet Napoleon auf die Expedition nach Ägypten. 1799 General Dumas gerät auf dem Rückweg von Ägypten im Königreich Neapel in Gefangenschaft. 1801 General Dumas kehrt aus der Gefan­ genschaft in Neapel zurück, wo er mehrfach vergiftet wurde. 1802 24. Juli: Geburt von Alexandre Dumas in Villers-Cotterêts. 1806 Tod des Generals Dumas. 1815 Alexandre Dumas begegnet ­Napoleon auf dessen Weg zur Schlacht von ­Waterloo; Restauration der Bour­ bonendynastie. 1823 Dumas geht nach Paris und arbeitet in den Büros des Herzogs von Orléans. 1824 27. Juli: Geburt des Sohnes Alexandre.

1827 Beginn des Verhältnisses mit Mélanie Waldor. 1829 10. Februar: Durchbruch als Dramenautor mit Henri III et sa cour. 1830 27. Juli – 29. Juli: Juli-Revolution; der Herzog von Orléans wird König der Franzosen; Beginn des Verhältnisses mit Belle Kreilssamner. 1831 10. Januar: Premiere von Napoléon ­Bonaparte; 5. März: Geburt der Tochter Marie-Alexandrine 3. Mai: Premiere von Antony; Sommeraufenthalt in Trouville 20. Oktober: Premiere von Charles VII chez ses grands vassaux 10. Dezember: Premiere von Richard Darlington. 1832 Dumas erkrankt offenbar an der Cholera 29. Mai: Premiere von La Tour de Nesle; dreimonatige Reise in die Schweiz. 1833 30. März: Großer Kostümball Dumas’; erste Lieferungen der Impressions de voyage (Schweiz); das historiografische Werk Gallien und Frankreich erscheint.

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1834 17. Oktober: Dumas duelliert sich mit Gaillardet. 1835 Sommer: erste Reise nach Italien; Verhältnis mit Caroline Unger. 1836 Juli: Die neuen Zeitungen La Presse und Le Siècle ebnen den Weg zum modernen Feuilletonroman; Dumas publiziert in La Presse narrative Beiträge zur französischen Geschichte; Premiere von Kean. 1837 Dezember: Premiere von Caligula. 1838 Tod der Mutter; Bekanntschaft mit Auguste Maquet; die Romane Pauline und Le Capitaine Paul erscheinen. 1840 Dumas heiratet Ida Ferrier; Umzug nach Florenz. 1841 Juni: In Le Siècle erscheinen Lieferungen des Ritters von Harmental, des ersten historischen Romans, den Dumas in Zusammenarbeit mit ­Maquet schrieb. 1842 Exkursion in Begleitung von Prinz Napoléon-Jérôme zu den Inseln Elba, Pianosa und Montecristo.

1843 Rückkehr aus Florenz; Beginn der Arbeit an den Drei Musketieren mit Maquet. 1844 Trennung von Ida; Dumas kauft ein Grundstück für sein Schloss in Le Port-Marly; im Feuilleton erscheinen Die drei Musketiere; Der Graf von Monte-Christo usw. 1845 Im Feuilleton erscheinen Die Bartholomäusnacht; Zwanzig Jahre später usw.; Mirecourt publiziert ein diffamierendes Pamphlet gegen Dumas, das seinem Ruf auf lange Zeit schadet. 1847 20. Februar: Eröffnung des Théâtre-­ Historique 25. Juli: Einweihungsfeier von Schloss Monte-Christo. 1848 Februar: Premiere der ersten beiden Teile der Bühnenversion des Grafen von Monte-Christo 24. Februar: Februarrevolution; Dumas stellt sich wiederholt zur Parlamentswahl, scheitert jedoch; Oktober: Beginn der Publikation des Vicomte von Bragelonne.

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1851 1./2. Dezember: Staatsstreich von Louis-Napoléon 10. Dezember: Dumas flieht nach Brüssel, um sich einer Beugehaft wegen der Insolvenz des Théâtre-­ Historique zu entziehen. 1852 2. Februar: Sohn Alexandre triumphiert mit der Bühnenfassung der Kameliendame. 1853 ­April: Einigung mit den Gläubigern auf einen Schuldenvergleich; Dumas kann offiziell nach Paris zurückkehren November: 1. Nummer seiner Zeitung Le Mousquetaire erscheint. 1857 Le Mousquetaire wird eingestellt; Dumas gründet daraufhin die Wochenzeitung Le Monte-Cristo. 1858 ab Januar: Gerichtliche Auseinandersetzungen mit Maquet wegen des ­Urheberrechts an den Romanen; Reise nach Russland. 1860 Dumas lernt Garibaldi kennen und schreibt dessen Biografie Mai: Dumas folgt Garibaldi bei seiner Eroberung des Königreichs von Neapel September: Dumas lässt sich in Neapel nieder und gründet die Zeitung L’Independente

24. Dezember: Geburt der Tochter Micaëlla. 1863 Beginn der Publikation von La San Felice. 1864/65 Dumas hält in Paris und Provinz zahlreiche Vorträge. 1867 Fotos von Dumas und der jungen Adah Isaacs Menken lösen einen Skandal aus. 1869 Dumas’ letzter (unvollendeter) Roman Le chevalier de Sainte-­ Hermine erscheint. 1870 Juli: Beginn des Deutsch-Französischen Krieges ­4.  September: Ausrufung der Dritten Republik 5. Dezember: Tod Dumas’ im Hause seines Sohnes bei Dieppe. 1872 Das posthume Kochbuch Le Grand Dictionnaire de la Cuisine erscheint. 2002 Überführung Dumas’ in das ­Panthéon.

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Werkverzeichnis Ein Verzeichnis der Werke Dumas’ würde den Rahmen der vorliegenden Biografie verlassen. Es sei daher verwiesen auf die zwar schon ältere, aber bisher einzige umfassende Werkbibliografie von Douglas Munro: Dumas. A bibliography of works published in French, 1825 – 1900, New York: Garland, 1981. Der Großteil der hier genannten Werke Dumas’ und der Quellen des 19. Jahrhunderts sind frei einsehbar unter https://gallica.bnf.fr. Die Zeitschriften Dumas’ finden sich unter http://alexandredumas.org.

Korrespondenz

Dumas, Alexandre: Correspondance générale, hrsg. von Claude Schopp, 3 Bde., Paris: Classique Garnier, 2019. Lettres à mon fils, hrsg. v. Claude Schopp, s. l.: Le Mercure de France, 2008. Lettres d’Alexandre Dumas à Mélanie Waldor, hrsg. v. Claude Schopp, Paris: PUF, 1982. Lettres de Caroline Unger, hrsg. v. Claude Schopp, in: Dumas, Alexandre: Une aventure d’amour, Paris: Plon, 1985, S. 149 – 208. Schopp, Claude: Les Amours de Marie. Dix lettres inédites de Marie Dorval à Alexandre Dumas, in: Revue d’histoire littéraire de la France, 1984, 6, S.  918 – 934.

Literaturverzeichnis Alméras, Henri d’: Alexandre Dumas et les trois mousquetaires, Paris: Malfère, 1929. Berger, Günter: Alexandre Dumas, München: DTV, 2002. Comtesse Dash: Mémoires des autres, Bd. 6, Paris: Librairie Illustrée, 1896. Emcke, Jutta: Das historisch-ideologische Weltbild im Comte de Monte Cristo von Alexandre Dumas, Diss. masch., Universität Leipzig, 1967. Fernandez, Dominique: Die zwölf Musen des Alexandre Dumas. Ein Essay, Berlin: Aufbau, 2002. Frémy, Dominique; Schopp, Claude: Quid d’Alexandre Dumas, Paris: Robert Laffont, 2002. Geifes, Stephan: Das Duell in Frankreich 1789 – 1830: Zum Wandel von Diskurs und Praxis in Revolution, Kaiserreich und Restauration, München: Oldenbourg, 2013.

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 Literaturverzeichnis

Hügel, Hans-Otto: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur, Köln: Herbert von Halem, 2007. Lecomte, Jules [Van Engelgom]: Lettres sur les écrivains français, Brüssel: o. V., 1837. Ledda, Sylvain: Alexandre Dumas, Paris: Gallimard, 2014. Ledda, Sylvain: Le théâtre d’Alexandre Dumas, Lausanne: Ides et Calendes, 2019. Natta, Marie-Christine: La vieillesse des mousquetaires, in: Écrire le vieillir, hrsg. v. Alain Montandon, Clermont-Ferrand: PU Blaise-­Pascal, 2005, S.  71 – 90. Neboit-Mombet, Janine: L’image de la Russie dans le roman francais, 1859 – 1900, Clermont-Ferrand: PU Blaise Pascal, 2005. Meißner, Alfred: Geschichte meines Lebens, Bd. 1, Wien, Teschen: Prochaska, 1884. Reiss, Tom: Der schwarze General. Das Leben des wahren Grafen von Monte Christo, München: DTV, 2013. Ribbe, Claude: Le diable noir, Paris: Alphée, 2008. Robin, Charles: Auguste Maquet, in: Galerie des Gens de Lettres au XIXe siècle, Paris: Lecou, 1848, S. 233 – 261. Schopp, Claude: Alexandre Dumas, Paris: Fayard, 2002. Schopp, Claude: Dictionnaire Dumas, Paris: CNRS Editions, 2010. Schopp, Claude (Hrsg.): Dumas en bras de chemise, Paris: Maison­neuve et Larose, 2002. Schopp, Claude; Ledda, Sylvain: Les Dumas. Bâtards magnifiques, Paris: ­Vuibert, 2018. Schopp, Marianne; Schopp, Claude: Dumas fils ou l’anti-oedipe. ­Biographie, Paris: Phébus, 2017. Shaw, Mathilde: Illustres et inconnus. Souvenirs de ma vie, Paris: Charpentier, 1906. Simon, Gustave: Histoire d’une collaboration: Alexandre Dumas et Auguste Maquet, o. O.: G. Crès, 1919. Zimmermann, Daniel: Alexandre Dumas le Grand, Paris: Phébus, 2002.

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Personenregister Alexander II. (Zar)  230 f. Alighieri, Dante  130, 181 f., 258 Arnault, Antoine-Vincent  34, 41, 46 Balzac, Honoré de  124, 179, 189 Barante, Prosper de  114 Bartling, H.  196 Barye, Antoine-Louis  129 f., 152 Batz de Castelmore, Charles de (d’Artagnan)  161, 164 Bellini, Vincenzo  252 Berger, Günter  197 Berry, Herzog von (Karl Ferdinand von Artois)  67 Berry, Herzogin von (Maria Karolina von Neapel-Sizilien)  76 Bestuschew, Alexander  234 Bocage, Pierre (Schauspieler)  78, 80, 129 Bocage, Paul (Neffe v. Pierre)  227 Bonaparte, Charles Louis Napoléon (Napoleon III.)  108, 219, 221 ff., 245 Bonaparte, Hortense  108 f. Bonaparte, Jérôme  31, 158 Bonaparte, Joséphine  20, 108 Bonaparte, Napoleon  20 f., 24, 29–32, 66 f., 97, 99, 108 f., 111 f., 158 f., 166, 180, 187, 206, 236, 246, 254 Bonaparte, Napoléon-Jérôme  158, 160, 177 Boulanger, Clément  129 Boulanger, Louis  90 Bourbier, Virginie  62, 143 Bourbon, Henri de  76 Brune, Guillaume (Maréchal d’Empire)  22, 24, 32 Brunetière, Ferdinand  7

Byron, George (Lord Byron)  45, 114, 212, 221 f. Camille, Henri-Catherine, Vicomte von Ruolz-Montchal  133 Canova, Antonio  238 Carême, Marie-Antoine  260 Cato 253 Cervantes, Miguel de  7 Championnet, Jean-Étienne  241 f. Chatauvillard, Louis Alfred Le Blanc de 98 Chateaubriand, François de  45 f., 103, 115, 121, 123, 146 Cherville, Gaspard de  234 Collard, Jacques  26, 29 Collin, Paul  154 Collinet, Jean  167 Comtesse Dash (Gabrielle de ­Coutiras)  142  ff., 239 Constant, Isabelle  225 f. Cooper, James Fenimore  44, 55, 153, 252 Cordier, Emilie  235 ff., 238 Cordier, Micaëlla (Tochter v. Dumas)  238, 254, 256 Corneille, Pierre  35, 39, 42, 51, 102, 108, 212 Courtilz, Gatien de  164 f. Davy de la Pailleterie, Alexandre Antoine (Großvater v. Dumas)  15 f., 204 Decamps, Alexandre-Gabriel  129 Delacroix, Eugène  46, 129 f., 198, 245 Delavigne, Casimir  46, 89, 212 Desaix, Louis Charles (General)  20 Deviolaine, Michel  26, 42

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Personenregister

Dinaux (Pseudonym v. Félix Beudin und Prosper Goubaux)  86 Donizett, Gaetano  133, 135 Dorval, Marie  47, 78, 80, 131 f., 220 Dreux, Pierre-Anne de  206 Drouet, Juliette  120 Ducis, Jean-François  35 f. Dumas, Alexandre jr. (Sohn v. Dumas)  9, 43 f., 57, 78, 83, 87, 103, 139, 144, 146 f., 158, 203 f., 208, 223 f., 226, 250 f., 254, 257 Dumas, Alexandrine Aimée (­Schwester v. Dumas)  13 Dumas, Colette (Enkelin v. Dumas) 256 Dumas, Jeannine (Enkelin v. Dumas) 256 Dumas, Marie-Alexandrine (Tochter v. Dumas)  78, 103, 144, 154 f., 203, 213, 225 f., 228, 247, 250 f., 254, 256 Dumas, Marie-Césette (Großmutter v. Dumas)   16 f. Dumas, Thomas-Alexandre, General (Vater v. Dumas)  9, 11–24, 41 f. Dutacq, Armand  123 Euripides 212 Fauveau, Félicie de  46, 225 Ferdinand IV., König von Neapel  21, 23, 159, 236–240, 242 Ferrier, Ida  88, 103, 120, 130, 132 f., 135 f., 142–146, 148, 151, 155, 203 f., 220, 225 f. Féval, Paul  211 Foscolo, Ugo  34 Foy, Maximilien  40, 45 Franz II., König von Neapel  237 f. Froissart, Jean de  114 Gaillardet, Frédéric  92–98, 100 ff. Garibaldi, Giuseppe  235–238

Gautier, Théophile  7, 80, 156, 214 ff. Girardin, Émile de  82, 123 f., 157, 248 Goethe, Johann Wolfgang  44 f., 118, 192, 212 Goncourt, Brüder (Edmond u. Jules) 247 Gramsci, Antonio  186 f., 189 Granier de Cassagnac, Bernard-­ Adolphe 121 Granville, Jean-Jacques  129 Guidi, Marguerite  223, 226 Hamilton, Emma  239, 242 Harel, Jean Charles  86, 92, 94–98, 112, 120, 153 Heine, Heinrich  7 Hetzel, Pierre-Jules  204, 222, 234 Homer   46, 114, 170, 212 Hostein, Hippolyte  206, 214, 221 Hugo, Charles  219 Hugo, Victor  9, 41, 44, 46, 50, 53, 78, 82, 86, 89 ff., 107, 118–121, 198, 210 ff., 222, 246, 252 f., 257 f., 261 Humboldt, Alexander von  55 Ingres, Jean-Auguste-­Dominique  46 Isaacs Menken, Adah  248–251 Jadin, Louis-Godefroy  129, 133 Jamet, Eugène  75 Janin, Jules  80, 88 f., 92, 96, 214 f. Johannot, Alfred  129 Johannot, Tony  129 Karl X.  31, 48, 66 f., 69 f., 73, 76, 207 Karr, Alphonse  151 Kean, Edmund  127 Kemble, John Philip  47 Klemperer, Victor  197 Köhler, Erich  197 Kreilssamner, Belle  63 ff., 74–78, 82–86, 103, 130, 132 f., 144, 146

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Personenregister

Kuscheleff-Besborodko, Grafen von 230 Labay, Laure  43 f., 56, 144, 147 Labouret, Claude (Großvater v. Dumas)  11 f., 25 Labouret, Marie-Louise (Mutter v. Dumas)  11 f., 25 f., 28 f., 103, 137, 139 ff. La Fayette (Marie-Joseph ­Motier)  69 f., 72 ff., 130 Lamartine, Alphonse de   44, 46, 212, 217, 252 Lannes, Jean (General)  20 Lecomte, Jules  129, 131 Lemaître, Frédérick  47 Lemerre, Alphonse  260 Leopold II. (Großherzog der ­Toskana)  154 Liébert, Alphonse  249 ff. Liniers, Antoine  70 ff. Liszt, Franz  90 f. Louis-Philippe, Herzog von ­Orléans, König Louis-Philippe I.  42, 53, 72 f., 76, 103, 112, 115, 180, 209, 216 f., 220 Louvel, Louis Pierre  67 Ludwig XIV.  163 ff., 167, 174 f., 253 Ludwig XVI.  72, 108 Ludwig XVIII.  29, 31, 66, 180 Magnan, Bernard Pierre  246 Maquet, Auguste  143, 156 f., 161–164, 177–182, 184, 187, 190, 193 f., 199 f., 202 f., 207 ff., 211, 214, 220, 227, 229 f., 234 Maria Karolina, Königin von ­Neapel  239 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich  67, 251 Mars, Mademoiselle (Hippolyte ­Boutet)  47, 48, 143

Marx, Karl  189 May, Karl  185 Meißner, Alfred  128 Mélingue, Étienne  211 Melnikov, Pawel  233 Méry, Joseph  164, 227 Meurice, Paul  161, 193 Michelet, Jules  8, 216 Mirecourt, Eugène de (­Charles ­Jacquot)  191–197, 234 Molière  44, 122, 258 Moüy, Charles de  245 Moynet, Jean-Pierre  231 Murat, Joachim  20, 24 Musset, Alfred de  41, 211, 252 Nelson, Horatio  159, 239, 241 Nerval, Gérard de  156, 198, 227 f. Nietzsche, Friedrich  186 Nodier, Charles   46, 48, 146 Orléans, Ferdinand von, Herzog von Orléans  140, 145, 149 f., 159 Orléans, Antoine von, Herzog von Montpensier  205, 218 Parfait, Noël  224 f., 227 Parfait, Paul (Sohn v. Noël)  236 Person, Béatrix  211 Petel, Olinde  228 Peuchet, Jacques  177, 180 Philipp II. 253 Polignac, Jules de  67 Ponce, Amédée de la   34, 38, 41 Quérard, Joseph-Marie  196 Racine, Jean  35, 42, 51, 108 Reichstadt, Herzog von (­Napoleon Franz Bonaparte)  108 Rembrandt 252

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Werkregister

Ribbing von Leuven, Adolphe  34, 46 Romand, Hippolyte  128 Rossini, Gioachino  130 Rubens, Peter Paul  130, 225, 252 Ruffo, Fabrizio  241 Salvandy, Narcisse-Achille de  207 Schiller, Friedrich  39, 44, 103, 118, 192, 211 Schopp, Claude  255 Scott, Walter  44, 86, 111 f., 114, 118, 124 ff., 192, 222, 249, 251 f. Séchan, Charles  206 Serres, Mélanie (Künstlername v. Kreilssamner, Belle)  63, 82 Shakespeare  35 f., 39, 44, 46, 118, 122, 127, 182, 192, 211 f. Shaw, Mathilde  37 Smithson, Harriet  47 Sophokles 212 Soulié, Frédéric  124 Staël, Germaine de  32, 103 Stevenson, Robert Louis  163 Sue, Eugène  177, 193, 197, 222

Talma, François  39, 47 Taylor, Isidore Justin Séverin  48, 64, 103 Tellier, Aglaé  37 ff. Thierry, Augustin  111 f., 115, 121, 123 Thiers, Adolphe  68, 72, 111 Torelli Viollier, Eugenio  238 Unger, Caroline  133–136 Vedel, Alexandre  150 f., 206, 209 Verdi, Giuseppe  224 Verne, Jules  211, 244 Vigny, Alfred de  50, 53, 132, 211 Viktor Emanuel II., König von ­Sardinien-Piemont  235 Villemain, Abel-François  146 Villenave, Mathieu  54 f., 59 f., 63 Voltaire  103, 258 Vuillemot, Denis-Joseph  260 Waldor, François-Joseph  55, 59 Waldor, Mélanie Jean-François  55–65, 73–78, 82 f., 85, 87, 130, 138, 146, 148, 257 Weber, Carl Maria von  252 Zola, Émile  244

Werkregister Verzeichnet werden, falls vorhanden und abweichend, die üblichen deutschen Titel und dahinter in Klammern die Originaltitel. Amaury 161 Angèle  120, 131 f. Antony  62 ff., 75 f., 78–82, 84, 86, 88, 93, 96, 131, 152, 156, 211 Ascanio 161 Blanche de Beaulieu  45 f., 75 Caligula  144, 150 ff.

Christine  47 ff., 120, 225 Das große Wörterbuch der Kochkunst (Le Grand dictionnaire de la cuisine) 260 Der Graf von Monte-Christo (Le Comte de Monte Cristo)  176–190, 205

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Abbildungsnachweis

Der Graf von Sainte-Hermine (Le Chevalier de Sainte-Hermine)  255 Der Kaukasus (Le Caucase)  231 Der Krieg der Frauen (La Guerre des femmes)  177, 221 Der Roman der kleinen Violette (Roman de Violette)  191 Der Ritter von Maison-Rouge (Le Chevalier de Maison-Rouge)  45, 177 Der Ritter von Harmental (Le Che­ valier d’Harmental)  156 f., 221 Der Süden Frankreichs (Le Midi de la France)  32, 156 Der Turm von Nesle (La Tour de Nesle)  89, 92 ff., 96 Der Vicomte von Bragelonne (Le ­Vicomte de Bragelonne)  162, 167 Die Bartholomäusnacht (La Reine Margot)  117, 176, 179, 209, 210 f., 214, 241 Die Bourbonen von Neapel (I Borboni di Napoli)  239 Die drei Musketiere (Les Trois mousquetaires)  10, 100, 117, 162 ff., 166 f., 176, 199 f. Die Gräfin von Salisbury (La Comtesse de Salisbury)  126 Die korsischen Brüder (Les frères corses)  176, 182 Die Mohikaner von Paris (Les Mohicans de Paris)  120, 180, 227 f., 231 Die San Felice (La San Felice)  23, 159, 241, 243 ff., Die Véloce (Le Véloce)  207, 209 Die Verschwörergruppe Jehu (Les compagnons de Jéhu)  254 Die Villa Palmieri (La Villa Palmieri)  145, 150, 156, 159 Ein Liebesabenteuer (Une aventure d’amour) 134

Elisabeth von Bayern (Isabel de ­Bavière)  114 Gabriel Lambert  161, 176, 180 Gallien und Frankreich (Gaule et France)  90, 114 f., 117 f., 121 ff., 126, 217 f. Georges 23 Graf Herrmann (Le Comte Herrmann) 221 Heinrich III. und sein Hof (Henri III et sa cour)  49 f., 52 f. Isaac Laquedem  225, 227 Jacquot Ohnohr (Jacquot sans Oreille) 233 Kapitän Paul (Le Capitaine Paul)  126, 153 Karl VII. bei seinen Großvasallen (Charles VII chez ses grands ­vassaux)  86 Kean oder Unordnung und Genie (Kean, ou désordre et génie)  127 Les Blancs et les Bleus  254 Les Garibaldiens  237 Ludwig XIV. und sein Jahrhundert (Louis XIV et son siècle)  163 Nouveaux mémoires  139 Nouvelles contemporaines  45 Pauline  152 f. Plaudereien (Causeries)  228, 246 Préludes poétiques  59 f. Richard Darlington  86 ff. Burg Eppstein (Le Château ­d’Eppstein)  161 Teresa  88 f., 131, 133 Von Paris nach Astrachan (De Paris à Astrakhan) 231 Von Paris nach Cádiz (De Paris à Cadix)  199, 207 Zwanzig Jahre später (Vingt ans après)  162, 167, 172, 177, 205

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Danksagung Herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Sylvain Ledda, der mir vier intensive Wochen Recherche in Paris ermöglicht hat, Dr. Annette Scholz für ihr einfühlsames und genaues Lektorat, Volker Dehs für einige der Illustrationen, Dr. Nerina Santorius für ergänzende Hinweise sowie Cristina für ihre lange Geduld.

Abbildungsnachweis S. 51: akg-images S. 59: akg-images / Gilles Mermet S. 64: akg-images / Gilles Mermet S. 69: akg-images S. 91: akg-images S. 101: akg-images S. 150: The National Gallery, London / akg S. 168: akg-images / De Agostini Picture ­Library S. 200: akg-images S. 208: akg-images / Erich Lessing S. 212: akg-images / Gilles Mermet S. 216: akg-images / Gilles Mermet S. 223: Sammlung ­Volker Dehs S. 232: akg-images S. 247: Nadar. Photographies, hrsg. von Philippe Néagu und Jean-Jacques Poulet-Allamagny, Paris: Booking International, 1994. S. 250: akg-images

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Alexandre Dumas (1802–1870) hat sein großes literarisches Werk mit ungeheurem Fleiß und beeindruckender Kreativität vorangetrieben, bis es am Ende mehrere Hundert Bände füllte. Schon zu Lebzeiten sehr erfolgreich sind seine Romane heute unbestrittene und mehrfach verfilmte Klassiker. Zum 150. Todestag hat Ralf Junkerjürgen dem vielseitigen Franzosen erstmals eine umfassende Biografie in deutscher Sprache gewidmet.

Ralf Junkerjürgen ist seit 2007 Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die französische Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts. 2018 hat er bei wbg THEISS eine erfolgreiche Biografie zu Jules Verne veröffentlicht.

Umschlagabbildungen: Porträtaufnahme von Alexandre Dumas aus dem November 1855 von Nadar (1820–1910). © akg-images/ Science Source. Illustration der Hauptfiguren aus »Die drei Musketiere« von Maurice Leloir, 1894 (Ausschnitt). © akg-images/De Agostini Picture Library.

Mit »Die drei Musketiere« und »Der Graf von Monte-Christo« eroberte Alexandre Dumas einen festen Platz in der Weltliteratur. Politisch und unternehmerisch höchst engagiert, blieb der umtriebige Franzose den sinnlichen Freuden des Lebens stets zugewandt. Zugleich Schriftsteller, Freiheitskämpfer, Gourmet und Erotomane galt er Zeitgenossen als Naturgewalt. Deutsche Leser können mit dieser einzigartigen Biografie nun die enge Verzahnung von Literatur, Gesellschaft und Geschichte des 19. Jahrhunderts in ihrer ganzen Fülle erleben.

»Was für ein einfallsreicher Dichter dieser große Junge Alexandre Dumas doch ist!« Heinrich Heine

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4127-3

Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Ralf Junkerjürgen

ALEXANDRE DUMAS Der vierte Musketier

Biografie

© privat

Ein Leben wie ein Abenteuerroman

9 783806 241273

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