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German Pages [224] Year 2016
Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 26 Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner
Elmar Lenhart
Albert Drach und das 20. Jahrhundert Der Diskurs um Macht, Raum und Biopolitik
2016 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Amt der Niederösterreichischen Landesregierung MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria Universität Klagenfurt
© 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung : Giovanni Battista Piranesi, Carceri d’ivenzione (1750); Quelle : Yale University Art Gallery, www.artgallery.yale.edu Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Umschlaggestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20237-0
Für Barbara, Jakob und Linnéa
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung : Das Gefängnis ist überall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Blickrichtungen. Raumwahrnehmung in der Literatur . . Sehen und urteilen. Die Neuordnung des Raumes . . . . . Morphologische Raumkonstruktionen . . . . . . . . . . . Amorphe Raumkonstruktion und das Kameraauge . . . .
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3. Albert Drachs Räume.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Garten und im Park . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Bunker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1 : Nicht-Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 2 : Nicht ganz das Ende aller Dinge. . . . . . . . . . . . Im Zug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Raum des Privaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsräume : Erinnerungsstücke und Kreisbewegungen..
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4. Biopolitik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Körper und Geist als Raum der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5. Große Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwetschkenbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Formen von Vereinzelung bei Drach . . . . Einsamkeit/Vereinzelung . . . . . . . . . . . . . Die dritte Einsamkeit : Solitude of Difference . Biomacht in Albert Drachs Texten.. . . . . . .
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Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung und Stillstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der biopolitische Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rückverwandlung des Raumes der Macht zum Punkt des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick : Macht und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Vorwort Mit dem Namen Albert Drach verbinden die meisten Literaturinteressierten den Begriff »Protokollstil« und folglich einen Autor, dessen Œuvre wesentlich geprägt ist von Fragen, die die Rechtssprache aufwirft. »Die Gesetze sind gegen diejenigen, die nicht dabei waren, als sie gemacht wurden.«1
Diese grundsätzliche Wahrnehmung eines Rechts, das sich gegen das Diktum des in dubio pro reo richtet und von der prinzipiellen Schuld des Angeklagten ausgeht, ist in seiner Literatur mit dem Begriff der Macht aufs Engste verknüpft und kann deshalb auch den Anspruch erheben, ein Beitrag zur Diskussion um Macht zu sein. Drach zerstört die Vorstellung von einer prinzipiellen metaphysischen Gerechtigkeit. Der individuelle Mensch des 20. Jahrhunderts wird weder gerecht beurteilt, noch ist er in seinen Entscheidungen frei. Gerechtigkeit und Freiheit, so lässt sich aus Drachs Texten herauslesen, können nur in einer mühsamen und detailreichen Praxis hergestellt werden, die Opfer und Täter nicht rigoros teilt und alle involviert. Diese Praxis benötigt einen physischen, einen realen Raum zu ihrer Entfaltung, jedoch sind die Räume durchzogen von sozialen und politischen Prozessen, von Machtprozessen, die es schwierig bis unmöglich machen diese Entfaltung zu realisieren. In diesem Buch möchte ich Albert Drachs Literatur als Kommentar und Bebilderung dieser Prozesse lesen, mit dem, was zuerst Foucault detailreich als Raumphilosophie beschrieben hat, heute würde man eher sagen : den SpaceStudies und den Studien zur Biopolitik. Es soll gezeigt werden, dass Albert Drachs Texte ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des 20. Jahrhunderts sein können.
1 Albert Drach : Das Satansspiel vom göttlichen Marquis. In : A. D.: Das Spiel vom Meister Siebentot und weitere Verkleidungen. München/Wien : Langen-Müller 1965 (= Gesammelte Werke 2), S. 113–184, S. 147.
Einleitung : Das Gefängnis ist überall
Umgekehrt glaube ich auch nicht, dass es etwas seinem Wesen und seiner eigentlichen Funktion nach radikal Befreiendes gibt. Freiheit ist Praxis. Es muss daher immer Projekte geben, die darauf abzielen, bestimmte Zwänge zu verändern, sie abzuschwächen oder ganz aufzuheben, doch keines dieser Projekte vermag jemals aus sich heraus zu garantieren, dass die Menschen gleichsam automatisch frei wären.2
In einem Interview mit Anna Zaschke für den Saarländischen Rundfunk präsentiert Albert Drach in pointierter Verkürzung seine Poetik. Das Interview bestätigt einmal mehr, dass er Literatur in großen Kontexten sieht. Literatur und Schreiben begreift er als einen politischen Akt, der sich von dem, was wir gemeinhin als Politik auffassen, wesentlich unterscheidet. Der Autor oder die Autorin hat nach Drach eine Aufgabe, die damit beginnt, für einen bestimmten Menschen Partei zu ergreifen, und damit endet, den Menschen an sich an die Wahrheit heranzuführen. Es ist eine vermittelnde Tätigkeit zwischen dem Recht und der Gesellschaft, die sich hinter dem Schreiben abzeichnet : Man kann nur dann zugunsten eines Menschen wirken, wenn man alles das darstellt, was gegen ihn spricht, und aus all dem, was gegen einen Menschen gesagt wird, folgert, was für ihn vorliegt. Denn in Wirklichkeit schreibt nicht nur das Amt, sondern das Leben gegen den Menschen und nur der billige Autor suggeriert den anderen, die ihm zuhören oder die ihn lesen, eine bestimmte Einstellung. Der Autor, der etwas zu sagen vermag, führt den Menschen dorthin, wo er hingebracht werden muss, dass er die Dinge so sieht, wie sie sind.3
Das klingt nach einem kühnen Unterfangen und hat weitreichende Folgen, denn die Rolle, die der Autor oder die Autorin in diesem Vorgang einnimmt, 2 Michel Foucault : Raum, Wissen und Macht. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980–1988. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff/Ulrike Bokelmann/Horst Brühmann/Hans-Dieter Gondek/Hermann Kocyba/Michael Schröder. Frankfurt : Suhrkamp 2005, S. 324–341, S. 330. 3 Auskünfte. Autoren im Dialog : Albert Drach. Radiofeature. Gestaltung : Anna Zaschke. Saarländischer Rundfunk, 5.4.1975. Dauer : 40 Minuten, 20 :20–21 :00 (ab 28 :45).
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Einleitung : Das Gefängnis ist überal
einem Vorgang, der die Literatur nicht als Spiel definiert, das keine Anordnung ist und keine Utopie und auch kein Gleichnis, diese Rolle setzt die Klarsichtigkeit des Autors oder der Autorin voraus. Und sie müssen sich den Gegenständen ihrer Beschreibung so nähern, dass nichts den Blick verstellt auf »die Dinge […], wie sie sind«. Literatur hat demnach keine tropologischen Eigenschaften, sie entfernt sich so weit wie möglich von den klassischen Lehren der Rhetorik und stellt rein dar. Sie ist kurz gesagt nicht Politik mit der Absicht, zu überzeugen, sondern Politik, die da ist, um zu zeigen. Dieses radikale Konzept drückt sich bei Drach in dem von ihm erfundenen Protokollstil aus. Wenn er jedoch auch häufig das Programm seiner Literatur bei verschiedenen Gelegenheiten leicht variiert, doch inhaltlich entsprechend wiederholt, so spricht er doch kaum vom Protokollstil selbst, der wiederum von seinen Rezipienten und Rezensenten als das Herzstück seines Schaffens bezeichnet wird.4 Drach scheint der Inhalt wichtiger zu sein als die Form und das Ganze wichtiger als das Detail. Politik, so könnte man sagen, konkretisiert sich in seinen Ergebnissen und seinen Wirkungen. Wenn er im selben Interview, aus dem das obige Zitat stammt, gefragt wird, ob eine Änderung in der österreichischen Strafprozessordnung auf die Wirkung seines Romans Untersuchung an Mädeln zurückgehe, verneint er allerdings, denn so weit reiche sein Einfluss nun nicht, aber er sagt auch : »Man muss sich ständig bemühen, auch wenn man weiß, dass man nur im Kleinen etwas ausrichten kann.«5 Was jedoch der Protokollstil unmittelbar in Anschlag bringt und den Texten Drachs ihr eigentliches Gepräge gibt, ist die Tatsache, dass Literatur mit dem Prozess beginnt und auch dauernd einen solchen darstellt. Seine Hauptfiguren sitzen in übertragener oder wörtlicher Form auf der Anklagebank, um am Ende verurteilt, aber meistens unschuldig zu sein. Es gibt also eine Schuld nach dem Gesetz und eine nach der Literatur, oder vielleicht sollte man sagen nach der Moral, obwohl Drachs Faible für den Marquis de Sade ja gerade darauf beruht, dass dieser erkannt habe, dass es in Wirklichkeit gar keine Moral geben könne.6 Literatur ist also wirklich der utopische Raum, in dem so etwas wie Moral hergestellt werden kann. Die Grundauffassung einer prozess-orientierten Literatur ist übrigens nicht die einzige Parallele, die Albert Drach mit Franz Kafka verbindet.7 4 Vgl. z.B. den Klappentext von : Matthias Settele : Der Protokollstil des Albert Drach. Recht, Gerechtigkeit, Sprache, Literatur. Frankfurt u.a.: Lang 1992 (= Europäische Hochschulschriften 1343). 5 Auskünfte. Autoren im Dialog. Albert Drach (ab 32 :44). 6 Vgl. ebda. (ab 14 :30). 7 Obwohl Drach bei einigen Gelegenheiten über Literaturgeschichte schreibt und spricht (in den
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Albert Drach ist ein politischer Autor, der sich darum bemüht, Recht und Macht miteinander in Beziehung zu setzen, und der dem Subjekt dabei immer skeptisch gegenübersteht. Zu seinen literarischen Gewährsleuten zählt er unter anderen Georg Herwegh, den Marquis de Sade, Christian Dietrich Grabbe oder Stendhal, und alle liest er als politische Autoren, die, so wie er, der Frage auf den Fersen sind, welche Verbindung das Recht mit der Macht (und womöglich auch mit der Sexualität) eingegangen sein könnte, sodass wir es nun mit einem Recht zu tun haben, das nicht gerecht zu sein scheint. Endlich ist es Nietzsche, auf den er immer wieder zurückkommt und dem er den Zynismus als (Lebens-)Haltung verdankt. Der philosophische Zynismus und die Ablehnung der Metaphysik verbinden Nietzsche mit Drach und mit Foucault. Bei Drach wird daraus allerdings auch ein praktischer Zynismus, den er in den Berichten und Protokollen von seinem Überleben in der Zeit des Nationalsozialismus literarisch ausführt.8 »Der Zynismus ist ein Anwendungsfall der Ironie, sonst gar nichts«, behauptet er, um dann fortzufahren : »Man muss die Dinge kennen und überwinden. […] Der Skeptiker bleibt in den Dingen stecken, der Zyniker versucht seinen Kopf herauszuheben.«9 Ähnliches liest man auch bei Michel Foucault : »Ironie erhebt sich und ist subversiv.«10 Der Zynismus erscheint als Praxis und Technik, als Redefigur und als Methode. Jedenfalls ist er der Politik und den Fragen nach der sozialen und politischen Organisation des Menschen nahe. Drach reflektiert von den einzelnen Fällen auf das Ganze. Figuren wie Schmul Leib Zwetschkenbaum sind paradigmatische »Fälle«, die den Zustand meisten Fällen handelt es sich um noch unveröffentlichtes Material, das in seinem Nachlass im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zu finden ist), so spielt Kafka darin nur eine sehr untergeordnete Rolle. Immerhin bezeichnet er ihn unter Erwähnung von Robert Musil und Hermann Broch als die »größte der drei Sonnen« in der österreichischen Literaturgeschichte (Literaturgeschichte ohne Namen, Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Sig.: NL Albert Drach 31/95). 8 Vgl. vor allem Albert Drach : Unsentimentale Reise. Ein Bericht. Hg. von Bernhard Fetz und Eva Schobel. Mit einem Nachwort von Eva Schobel. Wien : Zsolnay 2005 (= Werke in zehn Bänden 3) und Albert Drach : Das Beileid. Nach Teilen eines Tagebuchs. Hg. von Bernhard Fetz und Eva Schobel. Mit einem Nachwort von Bernhard Fetz. Wien : Zsolnay 2006 (= Werke in zehn Bänden 4). 9 Diese Stelle des Interviews ist abgedruckt in : Albert Drach : Der Zynismus ist ein Anwendungsfall der Ironie. In : Bogen 23. Albert Drach. München : Hanser 1988, o.S. 10 Michel Foucault : Theatrum philosophicum. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II, 1970–1975. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff/Hans-Dieter Gondek/Hermann Kocyba. Frankfurt : Suhrkamp 2002, S. 93–122, S. 97.
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eines Machtverhältnisses darstellen, ohne den Fall selbst zu verallgemeinern. Im Zynismus findet sich das Mittel, der ungerechten Welt zu begegnen und sie gewissermaßen aus der Distanz zu analysieren. Drach leistet sich zwar polemische Positionen, stützt diese aber in den einzelnen Fällen durch literarische und historische Beispiele ab. Geschichte tut er nicht grundsätzlich als Konstruktion einer Wirklichkeit ab, er verweist auf sie und benutzt sie wie ein Genealoge. Er tut das, indem er der eigenen (Lebens-)Geschichte Glauben schenkt und das historische Wissen in einen reihenden Zusammenhang bringt. Auch in Eva Schobels Biografie spricht in der Form paraphrasierend wiedergegebener Interviews vornehmlich der Autor Drach selbst, der eine Schwäche für die Gattung der Autobiografie gehabt haben dürfte. Nicht zuletzt ist das an mehreren unveröffentlichten Versuchen einer Autobiografie ersichtlich, die Eva Schobel auch ausgiebig zitiert sowie an den autobiografischen Romanen und Erzählungen, die ebenfalls ihren Teil in der Biografie einnehmen.11 Dieser Hang zur Selbstreflexion hat seine Vorteile. Aus den Äußerungen und Texten insgesamt geht eine Position hervor, die nicht von einer metaphysischen Macht spricht. Für das politische Handeln kann kein Ursprung im Sinne eines ursächlichen, außerhalb der Geschichte stehenden Zusammenhangs gesucht werden, sondern dieser schließt sich in der Verkettung der Ereignisse zu einer Wirkung zusammen, die das »Ich« dieser Texte – in welcher Form dieses auch immer zutage treten sollte – betrifft. Hier erweist er sich noch einmal als Genealoge : »Die Genealogie rekonstruiert […] die verschiedenen Unterwerfungssysteme : nicht die vorgreifende Macht eines Sinns, sondern das zufällige Spiel der Herrschaftsbeziehungen.«12 Eine politische Dimension umgibt auch die Frage nach der Existenz Gottes. Drach war, das kann man mit Gewissheit behaupten, ein Autor, der Religion bestenfalls aus wissenschaftlicher Neugierde und Interesse betrachtete.13 Die Rede vom Tod Gottes hat eine lange Tradition in der Philosophie. Bei Hegel tritt die Vernunft an seine Stelle, Feuerbach sieht die Freiheit den Platz einneh11 Eva Schobel : Albert Drach. Ein wütender Weiser. Salzburg/Wien/Frankfurt : Residenz 2002. 12 Michel Foucault : Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Band II 1970–1975. S. 166–190, S. 175 (Anm. 10). 13 Vgl. z.B. die Stelle in »Z. Z.« das ist die Zwischenzeit, die ihn mit einer orthodoxen jüdischen Figur in Kontakt bringt. Eine Begegnung, in der Drachs Alter Ego sichtlich hilflos agiert, aber sich danach aus Büchern über deren Religion informiert (Albert Drach : »Z. Z.«, das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll. Hg. und mit einem Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler unter Mitarbeit von Eva Schobel. Redaktion Bernhard Fetz. Wien : Zsolnay 2003 (= Werke in zehn Bänden 2), S. 139.).
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men, den Gott ausgefüllt hatte, und bei Nietzsche bedeutet Gott das Ende der Metaphysik.14 Nach Albert Drach schließlich tritt die Behörde an seine Stelle : Aber wo er [Gott] bestimmt nicht ist, sofern es ihn geben sollte, das ist die Unnatur, die Plattheit, die Ordnung ohne Kern, die Personifikation an Stelle der Person, das Amt an sich. Der absolute Gegensatz zu Gott ist sohin nicht der Teufel, sondern die Behörde.15
In der Werkgeschichte des Autors Drach liegt eine Eigentümlichkeit : Obwohl er nicht in allen bibliografischen Nachschlagewerken zur Exilliteratur das Prädikat »Exilautor« verliehen bekommt,16 ist doch bekannt, dass er auch auf der Flucht in Jugoslawien und Frankreich literarisch produktiv war – eine Produktion, die sich für eine lange Zeit nicht in Publikationen niedergeschlagen hat. Dass sein Werk erst in den 1960er-Jahren tatsächlich veröffentlicht wird, ist einer Vielzahl an Faktoren geschuldet und hat Drach ohne Zweifel in die Lage gebracht, die Lorbeeren für seine Arbeit erst lange nach deren Produktion zu sammeln. Unter den Texten, die schon vor 1945 geschrieben wurden, finden sich Das Goggelbuch, Vorstufen zu Unsentimentale Reise, Das Kasperlspiel vom Meister Siebentod, Das Satansspiel vom göttlichen Marquis und andere,17 jedenfalls inhaltlich sehr heterogene Texte, die ein Generalthema suchen, einen Bezugspunkt, den die Realität parat hält. Der Exilant Drach behält die Perspektive eines Zynikers, der sowohl in den französischen wie in den deutschen Behörden die gleiche Gleichgültigkeit und Bosheit am Werk sieht. Seine Lebensrealität in Zeiten des Exils ist davon geprägt, seine Dokumente zu interpretieren, ihm Erlaubnis zu geben, seine Identität zu klären, Aufenthaltspapiere und Hilfszahlungen zu bekommen. Die Auseinandersetzung mit Ämtern, von der sein Leben und danach die Rückgabe seines Eigentums abhängen, motiviert seine Literatur 14 Vgl. Michel Foucault : Was ist ein Philosoph ? In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I, 1954–1969. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff/Hans-Dieter Gondek/Hermann Kocyba. Frankfurt : Suhrkamp 2002, S. 712–714, S. 713. 15 Albert Drach : Die Abschaffung Gottes und dessen Ersatz durch die Behörde. In : A. D.: Das 17. Buch der 17 Essays. Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Sig.: NL Albert Drach 31/95, 1.1.3.1 [E/3]. 16 Erwähnungen finden sich bei : Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser : Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien/München : Deuticke 2000, S. 156 und bei Manfred Durzak (Hg.) : Die deutsche Exilliteratur, 1933–1945. Stuttgart : Reclam 1973. 17 Vgl. Schobel : Ein wütender Weiser, S. 389 ff.
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biografisch, aber ebenso stark ist der Einfluss Nietzsches zu spüren, den er hie und da zitiert 18 und der Pate steht bei der Idee, dass die grausame, ordnende Gewalt der Religion ersetzt wurde durch eine andere, bürokratische, aber nicht minder unmenschliche Gewalt. Das Seltsame an Drachs Werk ist, dass es die heute fast zur Selbstverständlichkeit genommenen historischen Brüche – z. B. 1938 oder 1945 – nie erwähnt. Das Ende des Krieges und auch sein Beginn kommen in seinen autobiografischen Romanen nicht explizit vor. Liegt das womöglich an einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Geschichtsschreibung ? Die Kräfte, die Zwetschkenbaums Schicksal 1918 bestimmen und jene der Mädel am Beginn der 1970erJahre ähneln gespenstisch denen der Verfolgung während des Krieges.19 Damit wird deutlich, dass das diabolische Amt, die Rechtsprechung, die Biopolitik der Moderne über die Krisenzeiten hinweg erhalten geblieben sind, ja sogar Zuflucht und Schutz vor der Barbarei bedeuten. Obwohl die Zeit des Nationalsozialismus geprägt ist vom blinden Glauben an ein (unmenschliches) Recht und an die Ordnung, sind sowohl vor als auch nach dem Dritten Reich Kräfte am Werk, die den Außenseitern, denen, die nicht der gewünschten Ordnung angehören, das Leben schwer machen. Dass er in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts ein Außenseiter geblieben ist, ist vermutlich auch darin begründet, dass Drach nicht den Extremen des 20. Jahrhunderts nachspürt, sondern die Kontinuitäten des Epistems der Moderne beschreibt. Vielleicht macht das seine Literatur noch ungemütlicher als die lange Zeit so populäre Anti-Heimat-Literatur mit ihrem Thema vom Vergessen der Schuld am Holocaust. Wenn es auch so scheint, dass im Zentrum dieses Auslotens der Macht des Bösen Individuen stünden, so eröffnet ein genauer Blick ein anderes Bild : Die Mächte sind nicht identifiziert, sie scheinen keine Namen zu tragen, sind keine Personen, aber sie sind lokalisierbar, manchmal in Institutionen und manchmal in den Körpern der sie bevölkernden Figuren. Es offenbart sich eine Skepsis gegenüber den Systemen der Ordnung, und die Ausführenden handeln nach einem Prinzip, das zwar hierarchisch über 18 Vgl. z.B.: Albert Drach : Protokoll zu meiner Widerlegung. Lesung. Saarländischer Rundfunk. 19 : 56 min., 14.5.1972. 19 Bezugnehmend auf : Albert Drach : Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingrid Cella. Wien : Zsolnay 2002 (= Werke in zehn Bänden 1) bzw. Albert Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. Roman. Hg. von Bernhard Fetz und Eva Schobel. Mit einem Nachwort von André Fischer. Wien : Zsolnay 2008 (= Werke in zehn Bänden 5).
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ihnen liegt, aber nicht in einem ortlosen Raum ist, sondern festgesetzt in den Räumen, in denen Machtverhältnisse eingeschrieben sind. Dieser »Ordnung ohne Kern«, dieser »Personifikation ohne Person«, kurz : diesem in allen Zeiten wirkenden Amt gilt Drachs deutlich formulierte Kritik. Drach bleibt skeptisch gegenüber der Geschichte. Sie sei unmöglich zu rekonstruieren, ohne sie dabei zu manipulieren, und im Archiv sieht er den Ort, wo dieser Vorgang passiert und die furchtbarsten Folgen zeitigte, als der Natio nalsozialismus aufstieg, der dem deutschen Volk eine aus den Archiven heraus konstruierte Geschichte gegeben habe.20 Der Aufbau aus den Archiven spricht von der Verstrickung von Raum und Macht und macht auf ein theoretisches Problem aufmerksam, das mit Foucault in die Ideengeschichte Eingang gefunden hat und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen produktiv geworden ist. Das Archiv ist Ort und Handlung, es ist nach Foucault »das allgemeine System der Formation und der Transformation von Aussagen« 21. Dass sich Raummetaphern immer schon hervorragend eigneten, um Ideen und Konzepte zur Beschreibung zu bringen, gewissermaßen plastisch zu machen, liegt auf der Hand. Aber sind es nicht die Wirkungen einer Mechanik des Raumes, die den damit beschriebenen Konzepten erst Fleisch und Blut verleihen ? Dazu ein Beispiel : Bei Drach ist das Archiv sowohl Idee als auch realer Ort der Ideenproduktion, der Raum der »Aktenbündel« 22 und »Papierschnitzel« 23. Hier wirkt der Archivar und damit – das wird in der Analyse der drachschen Literatur bestimmend sein – ein Mensch, dessen Körper in mehrerlei Hinsicht einen Schnittpunkt besetzt, den zwischen Zeit und Raum, zwischen Recht und Macht und den zwischen dem utopischen und dem heterotopischen und damit heterochronen Raum. Er stellt eine Verbindungslinie her zwischen dem Drinnen und dem Draußen. Drach kommt dem Raum hier von der Hintertür aus auf die Spur, denn sein eigentliches Ziel ist der Mensch, der darin agiert. Das ist einerseits der Archivar, der Protokollant, der Richter, der Arzt, kurzum : alle, die in einer solch privilegierten, zentralen Position sitzen, dass sie die Akten zu einer eigenen Welt auszubauen in der Lage sind. Andererseits gilt seine ganze Aufmerksamkeit den Außenstehenden, zu denen er sich 20 Vgl. Albert Drach : Essay XIII. Der Aufbau aus den Archiven. Sichtungen. Archiv. Bibliotheken. Literaturwissenschaft. 4/5 (2001/2002), S. 60–68, S. 61 f. 21 Michel Foucault : Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 5. Aufl. Frankfurt : Suhrkamp 1992 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 356), S. 188. 22 Drach : Essay XIII, S. 60. 23 Ebda., S. 61.
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ohne Zweifel selbst zählt, die Außenseiter und Sonderlinge, die, dem Don Quijote gleich, Windmühlen begegnen,24 denen sie naturgemäß unterliegen müssen. Dieser Konstellation eignet eine spezielle, räumliche Aufteilung, die bei Drach statischer ausfällt als bei den unten besprochenen Theoretikern, jedoch deshalb, weil sich seine Texte ganz auf diesen einen Zustand der Machtausübung konzentrieren : die Figuren und der Raum, der durch sie spricht. Kennzeichen des Protokolls ist seine Bemühung, diesen Raum unwägbar zu machen und die Lokalisierung des Sprechers unmöglich. So wie im Panoptikon die Wirkung der Überwachung dadurch gesteigert wird, dass der zu Überwachende nie weiß, ob er gerade beobachtet wird oder nicht,25 so operiert in ähnlicher Weise auch das Protokoll, das sich als eine Einrichtung der Disziplin wahrnimmt. Es konstruiert nachträglich eine Überwachung, befragt und registriert zu dem Zweck, eine Ordnung herzustellen und alle Akteure an einen eigenen Platz zu verweisen. Dieser Platz mag ein symbolischer sein, eine Stellung in der Gesellschaft zum Beispiel, er wird aber zum realen Ort des Gefängnisses, der Zuchtanstalt oder des Irrenhauses, wo sich diese Ordnung in Form einer Aufteilung der Überwachten in einem realen Raum konkretisiert. Drach führt das besonders in seinen beiden Romanen Untersuchung an Mädeln und Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum aus. Diese Anlage ist aber in allen Texten des Protokollstils nachzuweisen. Nicht die Frage »Wer spricht ?« verrät die wahren Machtverhältnisse, sondern die Frage : »Von wo aus spricht der, der spricht ?«, und je undeutlicher dieser Platz auszumachen ist, umso sicherer ist von einem Knotenpunkt der Macht auszugehen, von einer Auflösung der räumlichen Bezugspunkte. Es wurde schon erwähnt : Die Frage, die seit etwa dem Beginn der 1990erJahre einzelne Bereiche der Humanwissenschaften beschäftigte, aber auch die Brücke zu anderen akademischen Feldern gebaut hat, ist die nach der Materialität des sozialen Raums. Felder wie die Human Geography setzten sich mit dieser Frage auseinander. Henri Lefebvre war einer der Ersten, die hier Pionierarbeit leisteten. Es ist die Beschäftigung mit dem Begriff des »Alltäglichen« und mit dem urbanen Raum, die ihn zur Theorie von der »Produktion des Raums« 26 führten. »Human Geography« und »Social Space« bildeten die begrifflichen Ausgangspunkte. Es brauchte die Verbindung marxistischer Theorie mit Fra24 Vgl. ebda., S. 60. 25 Vgl. Michel Foucault : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt : Suhrkamp 1994 (= suhrkamp taschenbuch 2271), S. 258. 26 Vgl. Henri Lefebvre : The Production of Space. Aus dem Französischen ins Englische von Donald Nicholson-Smith. Cambridge : Blackwell 1991.
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gestellungen der Sozialwissenschaften, um von einem metaphysisch-transzendentalen zu einem konkreten und mechanischen Raumbegriff zu kommen und hier wiederum einen statischen Begriff dieser Verbindung zu überwinden. Schon 1994 behauptete etwa der Geograf Derek Gregory : »It is now something of a commonplace to say, that structuralism und structural marxism were drawn around spatial metaphors, but their spaces were almost Platonic in their stillness.« 27 Dagegen sprechen sich die darauffolgenden Konzepte dafür aus, den Raum und seine Konstruktion in ähnlicher Weise zu denken wie Foucaults Machtbegriff : als dynamische und ihre Bedeutung und ihre Form ständig ändernde Konstruktionen. Foucault, der in vielerlei Hinsicht Bezugspunkt der Space-Studies war und ist, war kein ausgesprochener Theoretiker des Raums, bei ihm wie bei Drach läuft die Frage nach dem Raum auf die Frage nach Recht und Macht und ihre Einschreibung im Raum hinaus. Henri Lefebvre wie auch David Harvey sind mit dem theoretischen Rüstzeug von Hegel und Marx an die Frage des sozialen Raums herangegangen, auch sie sehen Macht in den Raum eingeschrieben und kritisieren Foucault dafür, dass dieser nur Widerstand auf mikrophysischer Ebene für möglich hält.28 Sie konzentrieren sich dagegen auf das »Zentrum«, die alltägliche Erfahrung des Raumes, der sehr wohl eine klassendeterminierende Konstruktionsstruktur bereithält. Bei Lefebvre heißt es konkret, Gefängnisse, Psychiatrien und Krankenhäuser seien an den Peripherien des Alltagslebens angesiedelt. Diese Peripherien ins Zentrum zu rücken, indem man ihnen zugesteht, Aussagen über »das Alltägliche« machen zu können, sei unzulässig.29 Was Foucaults Theorie außerdem in Opposition zu Harvey und Lefebvre bringt, ist seine Ablehnung der Idee eines systematisch geführten Klassenkonflikts. Besonders Lefebvre entwickelte seine Theorien an der Stadt, die einen Raum produziert, der sich schrittweise vom Raum der Natur wegentwickelt und in der eine zweite Natur geschaffen wird, die in der urbanen Stadt gipfelt, dem integralen, abgegrenzten Raum.30 Zur selben Zeit, etwa Mitte der 1970er-Jahre, hatte Foucault das Werk, auf das sich Lefebvres Kritik bezog, veröffentlicht, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, das in die Reihe von Foucaults Büchern gehört, die Institutionen zum Thema haben, nachdem zuvor Kliniken und Irrenhäusern eigene Untersuchungen gewidmet waren. Bei Überwachen und Strafen handelt es sich 27 Derek Gregory : Geographical Imaginations. Cambridge/Massachusetts : Blackwell 1994, S. 355. 28 Vgl. ebda., S. 367. 29 Vgl. ebda., S. 364 f. 30 Vgl. Lefebvre : The Production of Space, S. 109.
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gewissermaßen um einen Höhepunkt in dieser Serie, eine ausgedehnte Analyse des Raums der Disziplin, der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf verschiedene Institutionen ausbreitet, namentlich die Schule, besonders aber das Strafsystem. Wie lange das Thema in Foucaults Arbeiten bereits eine Rolle spielt, ist daran zu ersehen, dass die erste Publikation mit dem Schwerpunkt auf Irrenhäuser bereits 1961 erschienen ist. Seit dieser Zeit entwickelt Foucault eine Methode, die es ihm erlaubt, den Raum nicht nur als Objekt seiner Analyse zu verwenden, sondern auch als Instrument.31 Das Irrenhaus ist die erste Institution, bei der eine soziale Gruppe mithilfe einer Institution, mithilfe von Mauern und Zäunen abgesondert wird. Die Implikationen dieser Trennung, die zuerst darauf beruht, dass es eine Normalität gibt und eine Abweichung, haben Foucault weit ausholen lassen. Seine Texte sind durchzogen von Raummetaphern, wie »Abschließung«, »Trennung«, »Gräben«, »Position«, »Knotenpunkt«. Dabei funktionieren diese Metaphern nicht nur als solche, sondern lassen es gleichzeitig zu, dass der beschriebene Vorgang im Raum nachgezeichnet werden kann. Aus der konzeptuellen und imaginierten Trennung wird eine Einsperrung,32 deren Charakter intelligibel wird durch die Beschreibung der Verbindung, die zwischen dem einen und dem anderen Raum besteht, zwischen dem Drinnen und dem Draußen. Einsperrungen sind nicht der einzige Typ räumlicher Aufteilung, die im Werk zu finden sind. Heterotopien und Utopien, Begriffe, die schon Lefebvre verwendet hatte, beschreiben »andere Räume«33, Gegenkonzeptionen, von denen die Erstere eine physische Entsprechung hat, die Zweitere hauptsächlich literarisch vermittelt wird. Der medizinische Begriff der »Heterotopie« kann auch ironisch verstanden werden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es die Medizin ist, die den Krankheiten Orte zuweist, sie im Körperraum positioniert und den Körper und sein Inneres zum lesbaren Raum macht. Der Körper hingegen ist der Schauplatz der Utopien, von denen die schillerndsten in der kanonisierten Literatur zu finden sind, in den Werken, die seit ihrer Entstehung ihr Publikum immer wieder aufs Neue fasziniert haben. Denn die Utopie kann als eine Art der temporalen Befreiung gelesen werden. Es gab allerdings 31 Vgl. Peter Johnson : Foucault’s Spatial Combat. Environment and Planning D : Society and Space 26/4 (2008), S. 611–626, S. 611. 32 Vgl. ebda., S. 613. 33 Vgl. Michel Foucault : Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt : Suhrkamp 2005.
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auch schon Versuche, Utopien oder wenigstens Teile davon in die Realität umzusetzen : Das sind die Kommunen und Siedlungen, die eine Utopie in einen heterotopen Raum bringen sollen. Utopien werden auch in diesem Fall mit dem Begriff Freiheit in Verbindung gebracht. Der Architekt Le Corbusier soll eine Vorliebe für Technik gehabt haben, schnelle, chromverzierte Autos, Sessel aus Leder und verchromtem Stahl, an denen keine Naht und kein Stich sichtbar waren, und Aufzüge, die so ruhig liefen, daß man die Bewegung nicht bemerkte. Diese Objekte transzendieren die Fehlbarkeit des menschlichen Körpers, oder sie löschen den Widerstand von Wind, Haut und Schwerkraft aus.34
Der Wunsch dieser transzendierenden Freiheit ergeht vor allem an die Architektur und es sind speziell Architekten, die sich für Foucaults Raumbegriff interessierten, vor allem dort, wo seine Schriften spezifisch politisch gedeutet werden. In einem Interview mit Paul Rabinow bezeichnet Foucault Le Corbusier als Architekten, der die Absicht hatte, die Freiheit zu fördern, wenn das Ergebnis auch mitunter die gegenteilige Wirkung erzielte.35 Freiheit, sagt er weiter, ist eine Praxis, die auf die räumlichen Bedingungen ihrer Umsetzung treffen müsse. Indirekt stellt Foucault an dieser Stelle die Möglichkeit in Abrede, Bedingungen für Freiheit zu schaffen. Die Architektur könne aus sich heraus keine Freiheit garantieren, umgekehrt jedoch kann sie Freiheit verhindern und unterbinden : Die Menschen träumen von Befreiungsmaschinen. Aber es kann per definitionem keine Freiheitsmaschinen geben. Das heißt nicht, dass die Ausübung von Freiheit unempfänglich für die Verteilung des Raumes wäre, doch das kann nur dort funktionieren, wo eine gewisse Konvergenz besteht.36
Widerstand ist möglich und muss ausgeübt werden, auch und gerade auf der Ebene des Raums. Bei Drach ist der Widerstand mitunter in einem Loch metaphorisiert, durch das der Mensch aus der dunklen Kiste des Gesetzes in die Freiheit gelangen könne. Wir beobachten Drachs Figuren immer wieder bei ih34 Richard Sennett : Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt : Fischer 1991, S. 218. 35 Vgl. Foucault : Raum, Wissen und Macht, S. 330 (Anm. 2). 36 Ebda., S. 331.
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ren Versuchen, eine Praxis der Freiheit zu gestalten. In seiner Literatur ist der Körper das Mittel dazu. Wo es gelingt, über sich selbst zu bestimmen, zynisch den Kopf herauszuheben, dort ist Widerstand möglich, allerdings nur für einen selber. Der Einzelgänger Drach offeriert keine Hoffnung auf einen flächendeckenden Widerstand, nur auf das Überleben oder das Entkommen Einzelner. Auch wenn seine Figuren regelmäßig daran scheitern, so schimmert dahinter trotzdem, nur in der Möglichkeitsform zwar, die Praxis von Freiheit durch. Aber auch bei Drach wird vollkommen klar, dass in einem Gefängnis oder in einem Lager keine Freiheit möglich ist. Freiheit muss auf räumliche Bedingungen treffen, die ihre Entfaltung möglich machen, und wird umgekehrt zuallererst dort verhindert, wo sich Macht zu diesem Zweck installiert hat. Auch hier sprechen Drach und Foucault mit derselben Stimme, wenn auch in unterschiedlichen Sprachen. Michel de Certeau hat den Unterschied zwischen den Begriffen »Ort« und »Raum« folgendermaßen definiert : »Ein Ort ist eine […] momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.«37 Der Raum dagegen ist von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.38
Die Verwandlung eines Ortes in einen Raum und wieder zurück ist eine Domäne der Literatur. Textadventurespiele, wie sie in der Computerspielwelt bis etwa Mitte der 1990er-Jahre populär waren, bauen auf die fantasienerzeugende Wirkung dieser Verwandlung. Ein damals populäres Spiel beginnt etwa so : »This is an open field west of a white house, with a boarded front door. There is a small mailbox here. A rubber mat saying ›Welcome to Zork‹ lies by the door.«39 Mit einfachen Anweisungen wie »Open mailbox !« oder »Go to front door !«, vollzieht man ein »Mapping«, der Ort wird zum Raum, indem man etwas über ihn in Erfahrung bringt, womit man wiederum mehr Handlungen in ihm ausführen kann. Dasselbe Prinzip funktioniert in der Literatur und in der 37 Michel de Certeau : Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Berlin : Merve 1988, S. 218. 38 Ebda. 39 Zork. Online : http://de.m.wikipedia.org/wiki/Zork (zuletzt eingesehen am 4.1.2016).
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Erzählung : Räume werden in Orte und Orte werden in manchmal schnellerer, manchmal langsamerer Folge in Räume verwandelt. Die Lesenden finden sich in den utopischen Welten auf diese Weise zurecht.40 Lesen ist – in Abwandlung eines populären Sinnspruchs – Raum im Kopf. Von der Literatur und ihren Räumen wird im zweiten Kapitel noch ausführlicher die Rede sein. Nun soll der Blick auf einen Aspekt gelenkt werden, der vielleicht nur zweitrangig etwas mit den hier besprochenen Räumen zu tun hat, aber immerhin so etwas wie einen Ausblick liefert, der über die Eingrenzungen in diesem Buch hinausreicht. Die certeausche Raum-Ort-Dichotomie im Zusammenspiel mit dem, was Foucault die Orte der Disziplin nennt, erscheint dort, wo Macht konkrete Orte besetzt oder Räume gestaltet. Wenn sich auch der Mensch mehr oder weniger ohne Übergang von einem dieser Räume in den anderen bewegt, so ist ein »Außen« doch zumindest theoretisch denkbar. Das ist eine Idee, auf deren Basis die drachschen Figuren Widerstand gegen eine im Raum lokalisierte Macht leisten können. Wenn also beispielsweise in Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum die Hauptfigur Subjekt der Willkür und des Antisemitismus des Richters wird, dann beweisen Nebenfiguren, wie der Mithäftling Dappel, dass es einen Weg gibt, den Apparat des Rechts zu hintergehen,41 die Institution zu betreten und sie auch nach Belieben zu verlassen. Ist nun aber auch ein sozialer Raum denkbar, der die Möglichkeit eines Außen nicht anbietet und diese Form des Widerstands, vielleicht auch der Freiheit ausschließt ? 1990 veröffentlichte Gilles Deleuze einen viel beachteten und diskutierten Text, der Foucaults Konzept der Disziplinargesellschaft aufnahm und bemüht war, dasselbe 15 Jahre nach Erscheinen von Surveiller et punir zu aktualisieren.42 Die Disziplin, heißt es da, sei eine in Auflösung begriffene Form der Macht. An ihre Stelle tritt die Kontrolle, wobei es sich nicht bloß um eine Ersetzung, sondern vielmehr um eine Erweiterung der Disziplin handelt. Die Disziplin ist in die Kontrolle integriert. Die Institutionen vergangener Jahrhunderte waren darauf angewiesen, ihre Subjekte an einen Ort zu binden, um die gewünschte Macht auf sie ausüben zu können. Der Häftling ist solange Insasse, als er sich in seiner Zelle, zumindest im Gebäudekomplex Gefängnis aufhält; mit Hausaufgaben kann man den Schüler in beschränktem Rahmen auch außerhalb der Schule kontrollieren. Jedenfalls ist aber eine regelmäßige Rückkehr in den 40 Certeau : Kunst des Handelns, S. 220. 41 Vgl. Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 159. 42 Vgl. i. d. F.: Gilles Deleuze : Postscript on the Societies of Control. October Nr. 59 (1992), S. 3–7.
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Raum Institution unumgänglich. Für die Disziplin sind die Räume essenzieller Bestandteil der Aufrechterhaltung ihrer Wirkungsweisen. Ohne beispielsweise die Entwicklung des Internets und die Funktion des Intranets in der Administration größerer sozialer und ökonomischer Einheiten wie Universitäten und Firmen gekannt zu haben, ruft Deleuze schon 1990 das Ende der Ära der Disziplinargesellschaft und den Beginn der Society of Control aus. Es ist in Wirklichkeit keine strukturelle Veränderung, sondern eine Verfeinerung, die er beschreibt, eine weitere Ausdehnung und Diversifizierung des Machtraums auf Bereiche jenseits der massiven Bauwerke. Wenn es technisch möglich ist, mithilfe von Fußfesseln ohne Schmerzen und ohne Gefängnis zu strafen, worin besteht nun der Unterschied zwischen einem Häftling und dem Benutzer eines modernen Mobiltelefons, dessen Bewegungen ebenfalls aufgezeichnet und gespeichert werden ? Die Disziplinen sind Abgüsse, schreibt Deleuze, feste Formen, die einer Anpassung bedürfen. Die neuen Kontrollen dagegen seien modular und beweglich, ihre Funktionen unsichtbarer und unwägbarer.43 Die von Deleuze beschriebene Society of Control wirft die Disziplin auf den Körper des Einzelnen zurück. Ein Hinweis und eine Besprechung derselben an dieser Stelle kann nur ein Ausblick sein, denn Drachs Literatur offeriert keine Vorstellung von einem jenseits der Räume liegenden und dennoch räumlichen Konzept von Macht. Jedoch ist dieses Konzept dem, was Foucault im Anschluss an die Untersuchung der Disziplinarinstitutionen beschreibt nicht ganz unähnlich. Foucault richtet sein Augenmerk auf die in vielfachen Formen auftretende Biopolitik oder Bio-Macht, die im Verein mit der Disziplin dafür verantwortlich ist, dass sich die westliche Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Einzelnen entwickelt, Menschen, die sich selbst beobachten und selbst regieren. Der Soziologe Richard Sennett zeichnet diesen Vorgang sehr anschaulich anhand der Geschichte der Verwendung von Uhren nach.44 Hier findet sich das Paradebeispiel einer technischen Entwicklung, die zuerst Raum schafft, in dem öffentliche Uhren einen besonderen Platz im Zentrum der Stadt einnehmen. Der Platz muss nun so umgebaut werden, dass man die Zeit von möglichst vielen Punkten aus ablesen kann. Dann verschiebt sich das ursprünglich akustische Signal, das die vollen Stunden anzeigte, auf die visuelle, minutenweise Anzeige und schließlich macht es die Taschenuhr überhaupt möglich, immer und überall über die genaue Tageszeit informiert zu werden. Der Weg führt also über die Schaffung eines auf 43 Vgl. ebda. 44 Vgl. i. d. F.: Sennett : Civitas, S. 228 ff.
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bestimmte Weise strukturierten Raums, der die Bewegungen einer Masse von Individuen beeinflusst, zu einer freiwilligen, vom Raum unabhängigen Selbstkontrolle. Uhren haben das Leben der europäischen Menschen der Moderne auf eine Weise zu regeln begonnen, wie man sich das zuvor vermutlich kaum hatte vorstellen können, vielleicht so wie das die allgemeine Literarisierung getan hat und in einer ähnlichen Weise, wie Mobiltelefone das seit etwa 20 Jahren tun. Exaktheit und Präzision prägen unsere Kultur.45 Die Armbanduhr macht es möglich, sich selbst und seine Zeit mit größtmöglicher Akkuratesse zu kontrollieren. Damit kontrolliert man aber nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum und in kritischer Perspektive könnte man sagen : Die Sorge um sich ist verkümmert zu einer Sorge um Pünktlichkeit und den richtigen Zeit-Punkt. Die Frage nach der Regierung des Selbst sollte das letzte große Projekt sein, dessen sich Foucault angenommen hat. Der Plan war ein anderer. Der erste Band einer »Geschichte der Sexualität« stellt einen wichtigen Markstein dar. Hier geht es um die Herausbildung der sogenannten »Biopolitik« in der westlichen Gesellschaft oder auch »Bio-Macht«, Begriffe, die er wohl bewusst nicht allzu scharf voneinander trennt, weil sie sich durchdringen und überlappen. Am Scheitelpunkt zwischen der Disziplin und der Biopolitik steht das Problem der Souveränität. Und dieses Problem zieht weite Kreise. Zuerst einmal in der Feststellung, dass die Macht ihrem Wesen nach nicht repressiv sei : Sie produziert, regt an, veranlasst, dass Dinge geschehen. Dann kann sie nicht besessen werden, sondern nur ausgeübt, und drittens geht sie durch die Beherrschenden ebenso durch wie durch die Beherrschten.46 Nicht nur Deleuze hat Nietzsche als Wurzel dieses Denkens identifiziert. Im Raum liegt nicht nur das Potenzial, einzusperren, zu verhindern und abzuschließen, er kann auch der Freiheit dienen, das Offene repräsentieren und dem Menschen Handlungsräume gestatten, ein glatter Raum sein. Die Begriffe Freiheit, Raum und Macht stecken den Rahmen ab, den dieses Buch in Augenschein nehmen will. Die Freiheit als Praxis steht auf der rechten Seite der Gleichung. Sie kann das Resultat einer Handlung sein oder Voraussetzung, im Werk Drachs ist sie mit einem Minuszeichen ex negativo dargestellt. Auf der anderen Seite stehen der Raum und die Biopolitik und diesen Variablen ist die Aufmerksamkeit dieses Buches geschuldet. Er scheint schließlich der am einfachsten aber auch am umfangreichsten zu beschreibende Teil der Rechnung zu sein. 45 Vgl. ebda., S. 230. 46 Vgl. Gilles Deleuze : Foucault. Aus dem Französischen von Hermann Kocyba. Frankfurt : Suhrkamp 1992 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1023), S. 100.
1. Räume Der Impuls zur Umwandlung der Rolle des Raums von einem wissenschaftlichen Objekt hin zur Analysekategorie konnte nicht von den Philologien erwartet werden, die von der Dominanz des Linguistic Turn gekennzeichnet waren und teilweise noch sind. Im Forschungsfeld, das sich heute mit dem Raum auseinandersetzt, gilt die einhellige Meinung, dass die sogenannte Geopolitik des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrer Prägung, die sie vom nationalsozialistischen Regime erhalten hat, dafür verantwortlich gemacht werden muss, dass erst in den 80er-Jahren eine systematische Aufarbeitung der bereits gemachten Erfahrungen und Forschungen begann und heute die Beschäftigung mit dem Raum kaum mehr etwas mit dieser alten Form der Geopolitik zu tun hat noch mit seinen Vorformen einer Zeit und Raum als Kategorien in einem dichotomen Verhältnis wahrgenommenen Auffassung, wie sie insbesondere seit dem 18. Jahrhundert Vorrang hatte.47 Und doch wird darauf noch zurückzukommen sein, wenn später von Raumproduktion im Zusammenhang mit Literatur die Rede sein wird. Einstweilen ist festzuhalten, dass die Humangeografie als erste Disziplin Beiträge zum Feld des Spatial Turn leistete und eine enorme Strahlkraft in alle Richtungen der Humanwissenschaften entwickelt hat. Es handelt sich um das Projekt, den Raum nicht mehr nur in seinen physikalischen Grenzen noch ihn als bloßen Sozialraum wahrzunehmen, sondern die Verschränkung dieser beiden Räume in seiner Komplexität zu beschreiben. Raumfragen hatten und haben viel mit Politik zu tun und beziehen von dort her auch Impulse und Beschränkungen. Grenzen wie der durch Europa gezogene Eiserne Vorhang werden in einer Welt, in der Raum nicht mehr nur als leere, zu füllende Box betrachtet wird, zu Fremdkörpern. Gleichzeitig mit dem wissenschaftlichen Diskurs gingen also auch massive politische Verschiebungen vonstatten und es ist davon auszugehen, dass die Aufmerksamkeit für den Raum einige 47 Vgl. z. B.: Jörg Dünne : Politisch-geographische Räume. Einleitung. In : J. D./Stephan Günzel : Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt : Suhrkamp 2006 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1800), S. 371–385, S. 372 und Michael C. Frank : Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michael Bachtin. In : Wolfgang Hallet/Birgit Neumann : Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld : transcript 2009, S. 53–80, S. 59 und Doris Bachmann-Medick : Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 2. Aufl. Reinbeck : Rowohlt 2007 (rowohlts enzyklopädie), S. 286.
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ihrer Wurzeln in einer grundlegenden Transformation der (politischen) Kultur der Postmoderne findet. Mit dem Ende des europäischen Kolonialismus und der politischen Blockbildung ist auch der Beginn des Endes der territorialen Politik zumindest eingeleitet oder in Aussicht gestellt. Es gibt also Grund anzunehmen, dass es die politischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte waren, die zu einer neuen Wahrnehmung des Raums geführt haben. Das bedeutet aber nicht, dass der Raum ortlos geworden wäre, sondern dass ein Bewusstsein für die Komplexität räumlicher Relationen entstanden ist, das sich nicht zuletzt im Befremden und in der Faszination über Orte äußert, die von rigiden Grenzziehungen gekennzeichnet sind : vom Gartenzaun bis zu zeitgenössischen und historischen politischen Grenzen, Bauwerken von eher symbolischem Charakter und solchen von immensen Ausmaßen. Was ursprünglich im Großen und Ganzen das Feld der Geografie darstellte, wird nun zu dem der gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften. Der Spatial Turn ist eine transdisziplinäre Angelegenheit. »Raum meint«, in den Worten Bachmann-Medicks, »soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten.«48 Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Raumfragen sind deshalb traditionelle Kategorien wie Genre, Gattung und Epoche nur von zweitrangiger Bedeutung und mehr noch geht es darum, von der Vorstellung der Welt als Symbol und Text ein Stück weit abzurücken, nicht nur, was die Materialität des Zeichens anbelangt, sondern die Materialität des Raumes durch seine Repräsentation im Text zu lesen,49 oder mit anderen Worten den Raum als Ort sozialer und kultureller Erfahrung wahrzunehmen, die durch den Text durchscheint und die literarische Raumkonstruktion nicht bloß als eine von vielen diskursiven Strategien von Literatur zu sehen.50 Erst langsam begann sich in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum diese Tendenz durchzusetzen, die andernorts im Zuge der Postcolonial Studies große Bedeutung gewonnen hat, nicht nur in Hinsicht auf ihre Etablierung im kulturwissenschaftlichen Feld, sondern auch in Hinblick auf eine Verminderung einer anderen, viel wirkmächtigeren Grenze, die die Welt als Europa und das Andere oder das Periphere und den Spatial Turn eben nicht als Chance wahrnimmt,
48 Bachmann-Medick : Cultural turns, S. 289. 49 Vgl. ebda., S. 43. 50 Vgl. ebda., S. 284.
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dem Eurozentrismus auch auf methodischer Ebene zu begegnen.51 Dabei war es gerade die Literaturwissenschaft, die seit Edward Saids Orientalism der postkolonialen Debatte den Weg geebnet hat.52 Insofern müsste es naheliegen, wenn sich gerade in der Literaturwissenschaft eine spezifische Diskussion zum Raum entfalten würde, insbesondere, da in den Kulturwissenschaften wie erwähnt ein physisch-territorialer von einem relationalen Raumbegriff längst abgelöst wurde.53 Damit wird der Weg frei, sich jenseits traditioneller Beschreibungskategorien zu bewegen. Ein wesentlicher Bestandteil bei der Etablierung neuer Forschungsperspektiven ist die Herausbildung eines spezifischen Vokabulars, oder, wie in diesem Fall, einer terminologischen Neuorientierung bei der Beschreibung von Relationen. Michel Foucault hat hier einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Der Text Von anderen Räumen machte keineswegs den Anfang, hatte aber aufgrund seiner immensen Popularität wohl wesentlich dazu beigetragen, dass »Ausdrücke wie Diskontinuität, Bruch, Schwelle, Grenze, Differenz usw. immer mehr an die Stelle traditioneller Kohärenzbegriffe wie Autor, Werk, Einfluss, Tradition, Entwicklung, Identität, Mentalität, Geist [getreten sind] – mit erheblichen Folgen für eine ganz neue Wahrnehmung der Problemlage, und zwar noch vor jeglicher Analyse und Interpretation.«54 So ist denn auch einer der meistzitierten Sätze dieses Zusammenhangs diesem Text entnommen : Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte. […] – Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen.55
Man könnte meinen, dass jemand, der diesen Satz schreibt eine systematische Beschäftigung mit dem Thema Raum folgen lässt. Bei Foucault, das wurde und wird immer wieder konstatiert, ist das allerdings nicht der Fall.56 Trotzdem lässt sich ein roter Faden nachweisen, der sich quer durch sein Werk, von
51 Vgl. ebda., S. 285. 52 Vgl. ebda., S. 39. 53 Vgl. ebda., S. 292. 54 Ebda. S. 19. 55 Michel Foucault : Von anderen Räumen. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980–1988, S. 931–943, S. 931 (Anm. 2). 56 Vgl. z. B. Jörg Dünne : Einleitung. In : J. D./Stephan Günzel (Hg.) : Raumtheorie. S. 289–303, S. 292 oder auch Nigel Thrift : Overcome by Space. Reworking Foucault. In : Stuart Elden (Hg.) : Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography. Burlington : Ashgate 2007, S. 53–58, S. 55.
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der Beschäftigung mit Irrenhäusern bis zur Biopolitik zieht :57 Die empirischen Fundamente vieler seiner Bücher bestehen in der Beobachtung räumlicher Anordnungen von denen ausgehend eine Theoriebildung mit raummetaphorischen Begriffen entwickelt wird. Im Wesentlichen lassen sich zwei Zugangsweisen unterscheiden, die sich werkchronologisch überschneiden. Der ersten könnte man den Titel »Heterotopien« geben. Hier geht es nicht bloß um physisch getrennte Gegenräume, sondern auch um die für die westlichen Gesellschaften typischen ineinander verschachtelten Aufteilungen nach dem Schema :
Körper
befindet sich in einer
Architektur
Klinik, Gefängnisse, Schule ...
befindet sich in einer
Stadt
Abb. 1 : Anders als in den frühen Werken Foucaults ist der Ausgangspunkt der Wirkung von Macht nicht der Raum der Sprache, sondern ein strategischer, ökonomisch-politischer Raum. (Quelle : Vom Autor erstellt.)
Die Heterotopie ist das Sinnbild dieser Struktur, gleich dem fliegenden orientalischen Teppich, der den Garten darstellt : eine überzeitliche Anordnung. Hier werden Räume der Ordnung und Strukturierung beschrieben. Als die ultimative Heterotopie, den Leitgedanken dieses Konzepts, bezeichnet Foucault das Schiff, er denkt dabei wohl an ein Segelschiff des 19. Jahrhunderts, auf dem hunderte Matrosen auf engstem Raum eine von strengen Regeln der Bewegung und der Arbeit beherrschte Gemeinschaft darstellten, eine Gemeinschaft, die sich gleichzeitig bewegt und stillsteht, in der auch alle Gegenstände ihren Platz haben und nichts ohne Zweck ist. Aber Foucaults heterotopischer Raum ist um den Körper herum gelagert, der als Fokus von Machtprozeduren erscheint. Zu diesem Raumkonzept zählen Gefängnisse ebenso wie psychiatrische Anstalten und Schulen, kurzum : alle architektonischen Einrichtungen, die Macht eine äußere Struktur geben. Macht ist im Wesentlichen mit Freiheitsentzug konnotiert, und damit mit einem geschlossenen Raum, in dem der Körper nichtsdestotrotz unter Beobachtung steht. Machtwirkungen haben immer etwas mit ihrer Lokalisation zu tun. Sprechend in diesem Zusammenhang ist ein Erlebnis, das Foucault selbst bei seinem Engagement für bessere Bedingungen in französischen Gefängnissen im Jahr 1971 57 Vgl. Elmar Lenhart : Gewalt und Recht im Raum. Albert Drach und Michel Foucault. Phil. Diss. Graz 2012, S. 25 ff.
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macht. Bei einer der Kundgebungen wird er verhaftet, auf die Polizeistation gebracht und verhört und stellt danach fest : »Das Gefängnis beginnt vor unserer Haustür.«58 Die Strafjustiz, bemerkt er, findet sich nicht nur in der Gefängnisarchitektur wieder, sondern auch in den Beamten, die ihn festnehmen. Judith Butler fasst es so zusammen : »Der Körper [der Beamten] ist eines dieser materiellen Dinge, aber auch das Gefängnis ist eines. Es handelt sich jedoch nicht eigentlich um zwei Formen von Materialität.«59 Politische Demonstrationen sind durch körperliche Anwesenheit und Sichtbarkeit wirksam. Die Besetzungen von Plätzen und öffentlichem Raum als Mittel der demokratischen Mitgestaltung und zum großangelegten Protest gegen Missstände zeichneten sich in den letzten Jahren zumindest zunehmend dadurch aus, dass die Körperlichkeit der Protestierenden medial deutlicher vermittelt wird. Die Infrastruktur der Schauplätze Gezi-Park (Istanbul, 2013) und Zuccotti-Park (New York, ab 2011) (neben vielen anderen gleichartigen Protestereignissen) besteht aus Schlafplätzen, Zeltlagern, Straßenküchen, Toiletten und Bibliotheken. Am Beginn der Protestwelle jedoch entzündete sich die internationale Aufmerksamkeit an Aufnahmen von mit Tränengas attackierten Demonstrantinnen. In ähnlicher Weise funktionierte das ikonische Bild der »Frau im roten Kleid« in Istanbul oder das offizielle Plakat der Bewegung, das eine Balletttänzerin auf dem Charging Bull zeigt. Hier komme ich zurück auf die oben zitierten Befreiungsmaschinen, denn dass, was aus sozialer Sicht für den solcherart politisch gebildeten Raum zutrifft, ist, dass das handelnde Individuum die Praxis bestimmt, in welchem Maß ein Mitgestalten möglich ist. Die Demonstranten im Gezi-Park und bei ähnlichen Initiativen andernorts besetzen den Platz nicht nur, sondern gestalten ihn in Hinblick auf ihren Sozialraum und auf ihre körperlichen Bedürfnisse um. »Die physische Besetzung an sich aber – das Animieren und Organisieren der Architektur eines Raums – ist eine Frage der konkreten Anordnung von Körpern und damit auch eine der Technologien, die diese Körper schützen, nähren und versorgen.«60 Es ist eine Form des politischen, aber auch des sozialen Handelns. Bei Ereignissen wie den Platzbe58 Michel Foucault : Das Gefängnis ist überall. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II, 1970–1975. S. 236 f. 59 Judith Butler : Noch einmal : Körper und Macht. In : Axel Honeth/Martin Saar (Hg.) : Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Aus dem Englischen von Rainer Ansén. Frankfurt : Suhrkamp 2003, S. 52–67, S. 56. 60 Peter Mörtenböck/Helge Mooshammer : Occupy. Räume des Protests. Bielefeld : Transscript 2012, S. 50.
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setzungen in Nordamerika und Europa wird den dortigen Bevölkerungen der vielleicht ungewohnte Umstand ins Bewusstsein gerufen, dass Politik, Soziales und Körper in einer engen Verbindung stehen, die sich in einer räumlichen Ordnung ausdrückt : »Die räumliche Ordnung des Sozialen entsteht in der alltäglichen Praxis, in der Räume konstituiert werden, in denen bestimmte soziale und kulturelle Praktiken verstärkt stattfinden.«61 Räume sind in der Regel auf die in ihnen stattfindenden Tätigkeiten ausgerichtet. Sie scheinen sich über längere Zeiträume und unter komplexen Bedingungen historisch zu entwickeln und zu verändern. Sie sind physische Gegebenheiten wie der Körper. Die historische Vorstellung des Gesellschafts-Körpers trifft auf das rezentere Konzept der Grenze, eine Gemeinsamkeit zwischen Körper und Raum.62 Doch wiederum ist es die Aufhebung dieser Grenze, die den konkreten Bezug so schwer fassbar macht, denn »Raum agiert in diesem Prozess« der Errichtung von Protestcamps »als ein Produktionsmechanismus der symbolischen Sphäre von Politik«.63 Die Besetzung des einen konkreten Raums strahlt in seiner Wirkung auf andere Plätze, Orte und Räume aus, physische und ideologische. Foucaults Erlebnis vor dem Gefängnis von Fresnes spiegelt sich in der Ausbreitung der OccupyBewegung. Geht man zurück zu seiner in den 1960er-Jahren vertretene Auffassung vom Körper als dem »strahlenden Kreuzungspunkt«, so sind die Konstanten in Michel Foucaults Philosophie vom Körper trotz der Unterschiede der Methoden und der Perspektiven deutlich erkennbar. Da ist der Körper als Raum gedacht, sogar als Gefängnis : »Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin.«64 In der Darstellung zerfällt der Körper, will jedoch zusammengehalten werden. Im Spiegel präsentiert sich zwar eine Vorstellung von der Einheit des Körpers, die anders wohl kaum so empfunden wird, der Spiegel ist aber auch ein utopischer, endloser Raum, gleichzeitig real und fiktiv und in diesem Sinne eng mit der Literatur verwandt, die die Einheit des Körpers ja immer wiederherstellt, um sie gleich darauf wieder aufzuheben. Wie im Spiegel ist der Raum in der Literatur zwar real und heterotopisch im Sinne 61 Markus Schroer : Raum, Zeit und soziale Ordnung. In : Petra Ernst/Alexandra Strohmaier (Hg.) : Raum : Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften. Baden-Baden : Nomos 2013 (= Raum, Stadt, Architektur. Interdisziplinäre Zugänge 1), S. 11–23, S. 20. 62 Markus Schroer : Space-Studies – Spatial Turn. Interview. Braathair 12/1 (2012), S. 184–192, S. 190. 63 Mörtenböck/Mosshammer : Occupy, S. 19. 64 Foucault : Der utopische Körper, S. 26 (Anm. 33).
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seines Bezugs zu tatsächlichen Räumen und deren Besetzungen, er ist aber auch utopisch, weil er nicht materiell ist. Was können nun die Literaturwissenschaften in diesem Prozess der zunehmenden wissenschaftlichen Aufmerksamkeit für Raumfragen mit dem Thema anfangen ? Traditionell haben Raumfragen schon lange eine Rolle gespielt, vor allem aber, »ihrer fachlichen Kompetenz entsprechend, auf die deskriptive Analyse von Raumrepräsentationen«65 beschränkt, während sich andere Fächer, wie die Philosophie und die Geografie um die begrifflichen Fragen bemühten (die ja gerade in den Literaturwissenschaften immer eine immense Bedeutung bei der Erschließung neuer Methoden gehabt haben). Frank spricht hier von einer Arbeitsteilung und warnt vor dem Versuch, mit einer Abtrennung eines Topographical bzw. eines Topological Turn als literaturwissenschaftliche Sonderformen eines Spatial Turn den Fokus aus den Augen zu verlieren, nämlich die Untersuchung der kulturellen Produktion des Raumes.66 Frank argumentiert für eine methodische Gleichsetzung einer materiellen wie einer ideellen Raumproduktion, die den Literaturwissenschaften helfen könnte mit dem Problem umzugehen, dass Text keinen materiellen Raum schaffe, aber auf einen solchen verweise.67 Alle Kulturwissenschaften stehen hier vor einem ähnlichen Problem. Eine Möglichkeit diese Dichotomie aufzulösen wäre eine Konzentration auf den Leitbegriff der Macht : »Eher ist es eine Zuspitzung der Raumkonzepte hin zu ideologischen Landschaften, zu Raumrepräsentationen, die von Machtverhältnissen durchzogen sind, hin auch zur Mikroperspektive der Raumwirkung von Subjekten, Körpern, Interaktionen, sozialen Beziehungen.«68 Das bedeutet nun nicht, dass das Thema des Raums in der Literatur besonders neu wäre. Im Besonderen haben Michail Bachtin und Jurij Lotman die Frage des Raums im literaturwissenschaftlichen Diskurs geprägt.69 Bei Lotman ist es das Konzept der Grenze und des Grenzgängers der sogenannten Semiosphäre, die in den Vordergrund treten und es nach Frank erleichtern sollen, den imaginären Raum zu denken. Der Raum wird demnach von der 65 Frank : Die Literaturwissenschaften und der spatial turn, S. 53–80, S. 61 f. 66 Schroer sieht topological turn und topographical turn als »Ergänzungen, Präzisierungen und Differenzierungen« des spatial turn. Vgl. Schroer : Interview, S. 189. 67 Vgl. Frank : Die Literaturwissenschaften, S. 62. 68 Bachmann-Medick : Cultural Turns, S. 292. 69 Vgl. i. d. F. Frank : Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Der Autor bezieht sich auf die Texte Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, erstmals 1937 erschienen in Bachtins Chronotopos und Lotmans Über die Semiosphäre.
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Bewegung der Figur gebildet wie auch von den kulturellen Horizonten, die diese Figur mitbringt. Der Grenzgänger bringt die Handlung durch seine Überschreitung oder seine Be-Schreitung der Grenze erst in Gang, starre Figuren bilden dagegen die Kulisse. Die Art und Weise, wie Raum gebildet wird, verrät einiges über die soziale und historische Wirklichkeit, doch handelt es sich um keine Abbildung, sondern um die Darstellung von Raum. Diese Feststellung ist von Bedeutung, da man von einer Konstruktion oder von einer Setzung des Raums in der Literatur ausgehen muss. Mit Frank gesprochen : »Bei aller theoretischen und methodischen Heterogenität haben Lotman und Bachtin […] eines gemein : Sie lesen Erzähltexte als Schlüssel zur kulturellen Konstruktion der Wirklichkeit, wobei sie die räumliche Beschaffenheit dieser Wirklichkeitskonstruktion in den Vordergrund stellen.«70 Selbst abstrakte Vorgänge, ideelle und ideologische Konstruktionen werden in der Regel in eine räumliche Semantik eingereiht und von dort aus vorgestellt und vorstellbar. Etwas, das tief, weit, oben oder unten ist, ist in der Regel an einem Platz fixiert, der mit kultureller Bedeutung ausgestattet ist, also gut, häuslich, frei, schön etc. Räumliche Strukturen spiegeln komplexe Zuordnungen wider, sie kreieren je nach Gebrauch Modelle, die Abstrakta codieren und für den Text funktionalisieren können.71 Bachtin verleiht in seinem kulturtheoretischen Ansatz, im Gegensatz zu Lotman, dem Faktor Zeit dasselbe Gewicht wie dem Faktor Raum. Für den hier verfolgten Ansatz ist seine grundlegende Orientierung an Kant von Bedeutung, die mir im folgenden Kapitel ebenfalls als Ausgangspunkt dienen wird, als Hilfskonstruktion einer Analyse der Raumkonstruktion in der Literatur. Auch die Annahme einer »kulturellen Setzung« der Grenze beziehungsweise des Raumes wird sowohl von Bachtin als auch Lotman vertreten. Frank ist nicht der Einzige, der bei dieser Frage die Komplexität des Raumbegriffs erst einmal zugunsten der Hilfskonstruktion eines kantschen Boxmodells hintanstellt, um die grundsätzliche Möglichkeit einer Repräsentation von Raum in der Literatur auszuloten. Besser als die »Box« fasst meiner Meinung nach der »Container« diese Perspektive auf den Raum, immerhin geht es darum, dass in diesem Raum unbedingt etwas enthalten sein muss. Kant hat nichts anderes vertreten, als dass ein Raum in unserer Vorstellung immer schon da ist, schon vor dem vorgestellten Objekt, nun tritt zu dieser Tatsache hinzu, »dass die Konstruktion des Rau70 Ebda., S. 64. 71 Vgl. Jurij Lotman : Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. Aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil. München : Fink 1993, S. 311–328.
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mes einen symbolischen Aspekt und insbesondere einen virtuellen Charakter beinhaltet.«72 Der virtuelle Raum hat seine eigenen Vorgaben : Mit der Wahl des Ortes wird ebenso wie mit der Wahl der Darstellung des Ortes einer Handlung eine Grundvoraussetzung des Narrativs geschaffen. Der Autor oder die Autorin ist mehr oder weniger an diese Wahl gebunden und ihre Figuren werden sich entsprechend dieser Wahl verhalten. Es geschehen also zwei Raumkonstruktionen : Die eine ist die aus der Vorgabe entstehende, deskriptiv-statische, die andere die dynamische Konstruktion einer durch die Figur und ihre Bewegung sich verändernde Perspektive auf den Raum und dessen Transformation. Es ist bereits angeklungen, dass sich für die Literatur mindestens zwei Organisationsprinzipien betreffend den Raum ergeben, vereinfacht gesagt die der sozialen Bildung von Raum und die der Beeinflussung der Figur durch den Raum. Es geht in den Sozialwissenschaften wie auch in der Literaturwissenschaft nicht nur darum, dass der Raum sozial oder politisch hergestellt und präfiguriert wird, sondern auch darum, in welcher Weise die möglichen Verhaltensformen der Menschen wie der Figuren im Raum eingeschränkt oder vorgezeichnet werden.73 Im Mittelpunkt steht die Bewegung des sozial determinierten Körpers im Raum, die durch die und in der Figur einen kulturellen Raum entstehen lässt. Dadurch, dass es der Lesegewohnheit entspricht, sich des fremden Körpers zu bemächtigen, ihn zum eigenen Körperraum werden zu lassen, ist es auch möglich, den fremden Körper in seiner Bewegung im Raum wahrzunehmen, als wäre es die eigene Wahrnehmung.74 Sprache hat hier einen entschieden räumlichen Charakter, da sie immer aus einer Perspektive heraus spricht, aus einem Körper heraus, der wieder in seiner Perspektive einen Raum entstehen lässt, und hier ist der Ort, an dem ich bin, denn ich lese etwas, das sich in diesem oder in jenem Raum abspielt. Mit Sasse gesprochen ist nun also
72 Hermann Doetsch : Körperliche, technische und mediale Räume. Einleitung. In : Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.) : Raumtheorie, S. 195–209, S. 198 (Anm. 56). 73 Vgl. Markus Schroer : Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt : Suhrkamp 2006 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1761), S. 178. 74 Vgl. Hartmut Böhme : Einleitung : Raum – Bewegung – Topographie. In : H. B. (Hg.) : Topographien der Literatur. Deutsche Literaturen im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar : Metzler 2005 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. IX–XXIII, S. XV.
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danach zu fragen, inwiefern Sprache selbst räumlich funktioniert, welche Dimensionalität das Schreiben herzustellen vermag, wie ein Text durch Figuralität und Perspektive selbst räumlich funktioniert und die ästhetische Wahrnehmung räumlich organisiert und – schließlich – welche Räume auf welche Art und Weise in und durch Literatur her- und dargestellt werden können.75
75 Sylvia Sasse : Literaturwissenschaft. In : Stephan Günzel : Raumwissenschaften. Frankfurt : Suhrkamp 2009 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1891), S. 225–241, S. 226.
2. Blickrichtungen. Raumwahrnehmung in der Literatur Das Verhältnis der Literatur zum Raum ist dadurch geprägt, dass sich der Text nur in geringem Umfang in demselben organisiert. Die beschriebenen Seiten des Buches stellen nicht den Raum dar, den die Figuren eines fiktionalen Textes bewohnen, ebenso wenig, wie das Gemälde »Las meninas« Raum ist, sondern diesen nur darstellt.76 Raum wird in beiden Fällen produziert oder gebildet. Es handelt sich um die Umwandlung des Ortes in den Raum,77 darum, wie der Ort mit Handlung gefüllt werden kann, der stabile Raum instabil gemacht wird und wie die Literatur die Karte eines Raumes erstellen kann, die der Leser und die Leserin zu betreten in der Lage ist. In den Beispielen aus der Literaturgeschichte, die ich als ersten Schritt im Anschluss anführen möchte, ist von einer Raumkonstruktion die Rede, die sich aus den Figurenperspektiven entwickelt. Bei Figuren kann man durchaus von Raumerfahrung sprechen, eine Erfahrung, die von ihrem individuellen Erleben und Wahrnehmen gespeist ist.78 Das erreichte Ziel ist eine der Bewegung oder der Wahrnehmung der Figuren nachgeordnete Raumkonstruktion. Der kursorische Überblick wählt signifikante Beispiele aus, um deutlich zu machen, dass der Raum und seine Aufteilungen in der Literatur ebenso kritisch reflektiert werden, wie dies in der darstellenden und in der bildenden Kunst der Fall ist. Literarische Texte zeichnen ein tatsächlich gegebenes, das heißt vorgestelltes Raumkonzept in der Perspektivierung ihrer Figuren nach. Dazu gehe ich zunächst von der bereits erwähnten kantschen Überlegung aus, dass Räume ein a priori Vorgestelltes darstellen.79 Da ein Raum ohne Gegenstand denkbar ist, das Gegenteil, ein Gegenstand ohne Raum, aber nicht, leitet Kant ab, dass die Vorstellung von der Räumlichkeit der Dinge der Wahrnehmung derselben vorangehen muss. »Dieses Prädikat wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns erscheinen, d. i. Gegenstände der Sinnlichkeit sind.«80 Für meine 76 Vgl. Michel Foucault : Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp : Frankfurt 1974, S. 31 ff. 77 Vgl. Certeau : Kunst des Handelns, S. 215–238 (Anm. 37). 78 Wolfgang Hallet/Birgit Neumann : Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung. In : W. H./B. N. (Hg.) : Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11–32, S. 27. 79 Vgl. Immanuel Kant : Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hrsg. von Raymund Schmidt. Hamburg : Meiner 1976, S. 67. 80 Ebda., S. 71.
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Hilfskonstruktion betreffend die Raumkonstruktion in der Literatur bedeutet das zweierlei : erstens, dass sich die Vorstellungen, die sie geben, räumlich ausdehnen lassen müssen, und dann, dass der literarische Text dazu verwendet wird, aus der Perspektive seiner Figuren oder Erzähler Raum zu bilden. Das geschieht durch Wahrnehmung, das heißt zum Beispiel durch den Sehsinn oder durch die Bewegung, die den Körper in den Raumbildungsprozess einbindet. Voraussetzung bleibt – und deshalb weise ich vorsichtig darauf hin, dass Kants Überlegungen nur meinen Ausgangspunkt darstellen –, dass ein wahrnehmendes Subjekt Auslöser für die Raumkonstruktion ist. In Foucaults Verständnis wäre das also bereits als ein Übergang zur Moderne zu sehen oder das, was er im strengeren Sinn erst als Literatur bezeichnet und den Menschen als Subjekt erfindet. Als Grundlage einer Analyse des Raumes in der Literatur sollen hier vier Möglichkeiten vorgestellt werden, wie derselbe aufgebaut werden kann. Diese fasst Gerhard Neumann zusammen :81 Eigentlich handelt es sich dabei um zwei Zweiergruppen, die sich dadurch voneinander abgrenzen, dass sie einerseits eine von der sinnlichen Erfahrung, das ist hier vornehmlich der Sehsinn, intellektuell decodierte Raumkonstruktion darstellen, andererseits eine Bewegungserfahrung involvieren. Das Ergebnis sind zwei Raumkonzepte, wie sie ab dem späten 18. Jahrhundert nebeneinander existieren, ab dem gleichen Zeitpunkt, da Kant eine subjektbezogene Neukonzeption des Raumes vornimmt. Der Ausgangspunkt ist die Romantik als eine Zeit der langsamen kulturellen Revolution, die sich auf vielen Ebenen vollzieht und in der Literatur artikuliert. Das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert sind Foucaults meistreferierte Zeitspanne, von der aus er eine Beschreibung der europäischen Moderne in Angriff nimmt. In der deutschen Romantik lassen sich Prozesse beobachten, die die Entwicklung von einer »diskursiv repräsentationslogisch konditionierten zu einer romantisch, historisch tiefendimensionierten Literatur«82 untermauern. Der Raum nun, wie er sich bildet und ausbreitet, ist der eigentliche Hort des Subjekts, das sich nach der Auflösung der DiesseitsJenseits-Dichotomie einen neuen Ort der Entfaltung schafft. Wo sich der Mensch des 18. Jahrhunderts seiner selbst bewusst wird, ist in den Abständen 81 Vgl. Gerhard Neumann : Erotische Räume. Achim von Arnims Novelle »Die Majorats-Herren«. In : Inka Mülder-Bach/G. N. (Hg.) : Räume der Romantik. Würzburg : Königshausen und Neumann 2007, S. 117–136. 82 Rudolf Behrens : Räumliche Dimensionen imaginativer Subjektkonstitution um 1800. In : Inka Mülder-Bach/Gerhard Neumann (Hg.) : Räume der Romantik, S. 27–63, S. 27 (Anm. 83).
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zu den Orten im Raum, die utopischen, heterotopischen oder realen Charakter haben können.83 Vier Modelle der literarischen Raumkonstruktion werden unterschieden :84 Überblick, Perspektive, Drehung und Sprung. Alle vier sind zugleich Wahrnehmungstechniken, die der Raumkonstruktion vorangehen, die also das erkennende Subjekt generieren, indem ihm seine Wahrnehmung einen Raum schafft, über den es verfügen kann. Alle vier sind aber wie schon angedeutet Ergebnis einer Wahrnehmungskonvention, die sich auf den jeweiligen historischen Kontext rückführen lassen. So begegnen in der europäischen Moderne literarische Beispiele einer skeptischen Aufnahme des Themas der medial vermittelten Raumwahrnehmung ab dem Zeitpunkt, als sich Sinneswahrnehmungen mit technischen Hilfsmitteln zu transformieren beginnen. Im Wechselspiel zwischen Literatur und einer zunehmend technisierten Wahrnehmung entstehen neue Raummuster, die jeweils kritisch mitreflektiert werden, wie das insbesondere auch in der Geschichte des Films im 20. Jahrhundert passiert. Hier arbeitet das Medium mitunter selbstreferenziell an einer Geschichte des Blicks.
Sehen und urteilen. Die Neuordnung des Raumes Gerhard Neumann geht vorerst auf die Tatsache ein, auf die Foucault deutlich und wiederholt hinweist :85 Die genealogischen Untersuchungen zur Klinik und zum Gefängnis orten im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert massive Veränderungen, die nicht nur die politischen Ereignisse der Französischen Revolution und ihre unmittelbaren Nachwirkungen betreffen, sondern sich viel weiter in das Bewusstsein der europäischen Moderne verzweigen, um am Ende auch in der deutschen Literatur ihre Spuren zu hinterlassen. Foucault beginnt Die Geburt der Klinik mit den Worten : »In diesem Buch ist die Rede vom Raum, von der Sprache und vom Tod. Es ist die Rede vom Blick.«86 Der Zusammenhang zwischen den Begriffen stellt sich aus den zentralen Techniken der Wahrnehmung her, denen Foucault auf der Spur ist und die er als den entscheidenden Faktor wahrnimmt beim Umschlag der medizinisch-wissenschaftlichen 83 Vgl. ebda., S. 31. 84 Vgl. i. d. F.: Neumann : Erotische Räume, S. 117–136. 85 Vgl. ebda. 86 Michel Foucault : Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt : Fischer Taschenbuch 2002 (= Fischer Wissenschaft), S. 7.
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Wahrnehmungstechniken in die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Raums. In Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp von 163287 verabschiedet sich die Aufmerksamkeit vom Objekt und wendet sich an einen Sprecher, dessen Name im Titel des Gemäldes ist und der die Obduktion, die »Zerlegung«, vornimmt. Im symbolischen Raum einer öffentlichen Sezierung wird wissenschaftliches Denken demonstriert, das zerlegt, sieht und zeigt. Das Gemälde konzentriert sich ganz auf die Blickrichtungen der anwesenden Gelehrten, die der Demonstration des großen Mediziners folgen. Ihre Gesichter sind abgeschattet, nur Tulp und die Leiche strahlen, während über dieses Zentrum die Blickachse verläuft, die von den Gelehrten zum Buch geht, ungläubige, konzentrierte Mienen stellen den Zusammenhang zwischen dem geschriebenen Wort und der Vorführung her. Interessant ist, dass kein einziger Blick auf das Vorführobjekt gerichtet ist, nicht einmal der des Dr. Tulp, während zwei der Figuren gar den Betrachter und die Betrachterin fixieren. Die öffentlichen Vorführungen in den anatomischen Theatern brachten die Anatomie näher an die Klassifikationsmedizin der Moderne, doch erst knapp 150 Jahre später wird daraus eine allgemeine Wissensform. Die Ordnung und Anordnung dieser sich kreuzenden und sich nicht treffenden Blicke verrät mehr über die Art, wie Wissen produziert wird, als über das Untersuchungsobjekt ausgesagt würde. Die Medizin der Klassifikationen und dann die Klinik haben die pathologische Analyse von diesem Regionalismus befreit und haben ihr einen komplexeren, aber auch abstrakteren Raum zugewiesen, in dem es um Ordnung, um Sukzessionen, Koinzidenzen und Isomorphismen geht.88
Rembrandts Gemälde zeigt eine beherrschende Position des Arztes über den Körper, dessen Antrieb Neugier ist und dessen Werkzeug das Skalpell. Kurios ist die Darstellung des linken Armes der Leiche. Möglicherweise wird hier auf eine besondere symbolische Bedeutung dieses Körperteils Bezug genommen.89 Aus der Repräsentation wird Abstraktion und der Körper vom Träger von Zeichen zum realen und symbolischen Raum. Was Rembrandts Bild offenbart, das ist, wie sich die Aufmerksamkeit des Arztes, die Quelle seines Wissens, vom Buch auf den Körper verschiebt. Das große Buch ist nur noch Schatten, von hinten gesehen und am Bildrand, die Leiche dagegen stellt den hellen Fokus des Gemäldes dar, der aller87 Vgl. Francis Barker : The Tremulous Private Body. Essays on Subjection. London/New York : Methuen 1984. 88 Foucault : Die Geburt der Klinik, S. 140. 89 Vgl. Barker : The Tremulous Private Body, S. 79.
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dings von den Figuren nicht beachtet zu werden scheint. Wo bleibt die Autorität des Textes, lässt sich fragen, wenn das Skalpell die Oberfläche der Haut durchdringt und dem Betrachter und der Betrachterin das vor Augen bringt, was vordem versteckt lag ? Die Zerlegung ersetzt das Buchwissen, der Schnitt legt eine Wahrheit frei und das hat ganz wesentlich mit der Eigenschaft der Sichtbarkeit zu tun.90 Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren eröffnet einen neuen Erfahrungsraum, den sich die Anatomie im Sezieren erschließt. Das Öffnen des Körpers und die Untersuchung seines Innenraumes ist der erste Schritt zu einer Organisation der Natur, die Entwicklung von wissenproduzierenden Tableaus der zweite. Darin sind die ähnlichen Merkmale so angeordnet, dass sich zwischen ihnen räumliche Beziehungen ausmachen lassen.91 In den Worten Foucaults : Und so, in Opposition zum einfachen Blick, der beim Durchlaufen der unberührten Organismen vor sich die Vielzahl der Unterschiede sich entfalten sieht, läßt die Anatomie, indem sie die Körper tatsächlich zerschneidet, in getrennte Teilchen zerlegt, sie im Raum zerstückelt, die großen Ähnlichkeiten hervortreten, die unsichtbar geblieben wären.92
Seinen Nachfolger findet Dr. Tulp in Gunther von Hagen, der vermittels des Verfahrens der Plastination die Anatomie des menschlichen Körpers für eine breite Öffentlichkeit anschaulich macht. Schon der Titel der Ausstellungen, Körperwelten, beschwört den kollektiven Körperraum, ein »Inneres« der Besucher, auf das diese einen Blick werfen könnten, wie es im Werbetext dieser Veranstaltungen heißt. Vermutlich ohne bewusste Ironie wird hier auch behauptet, »dass der Körper ein sehr dynamisches, sich stets entwickelndes, geheimnisvolles Wunder [sei]«93. Es ist der spezifische Blick auf den individuellen, toten Körper, der im 16. Jahrhundert wie heute zu faszinieren scheint. 90 Karen Dale : Identity in a Culture of Dissection : Body, Self and Knowledge. In : Kevin Hetherington/ Rolland Munro (Hg.) : Ideas of Difference : Social Spaces and the Labour of Division. Oxford/Malden : Blackwell 1997, S. 54–113, S. 98. 91 Vgl. Foucault : Die Ordnung der Dinge, S. 204. 92 Ebda. S. 329 f. 93 http://www.nhm-wien.ac.at/ausstellung/sonderausstellungen/archiv?detail_so=yes&sfe=sonder austellungen_archiv&tid=1356314802725 (Zuletzt eingesehen am 4.1.2016). Vgl. auch : Klaus Taschwer : Mit der eigenen Vergänglichkeit auf Du und Du. Online : http://derstandard.at/ 1362108252377/Mit-der-eigenen-Vergaenglichkeit-auf-Du-und-Du (zuletzt eingesehen am 4.1.2016) : »In diesen Ausstellungsobjekten erkennen sich die Menschen selbst, wie nie zuvor, sagt Angelina Whalley, die Kuratorin.«
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Der im literarischen Protokoll Albert Drachs wahrgenommene Zynismus operiert auf ähnliche Weise, indem er aus den Menschen Körper und aus dem Körper Raum konstruiert, der dem Protokollanten zugänglich wird, durchdringbar von der Sprache der Kanzlei. Daraus lassen sich Ähnlichkeiten in den Absichten des juristischen Protokolls und des naturwissenschaftlichen Textes ausmachen, die beide darauf abzielen, die wahrgenommenen Formen in Raster unterzubringen, die sich mathematisch auswerten lassen und damit ein Wissen über den Gegenstand produzieren, das sich keiner unmittelbaren Anschauung bietet, sondern erst aus dem Tableau heraus entsteht. Am Beginn einer Analyse der Beziehungen des Körpers zum Protokoll steht die Konstruktion des Raumes in der Literatur.
Morphologische Raumkonstruktionen Die verschiedenen literarischen Raumkonstruktionen der Goethezeit, die »natürlich schon lange in der Kulturgeschichte der Wahrnehmung auftauchen und intermittierend flottieren«94, sind in morphologische und amorphe Konstruktionen einzuteilen, die wiederum jeweils zwei Typen ausprägen. Raum wird dem Ersteren zufolge nach logisch ordnenden Systemen wahrgenommen, das bedeutet hier durch den Sehsinn : Petrarcas Bericht von seiner Besteigung des Mont Ventoux im 14. Jahrhundert ist beispielgebend dafür. Sie ist so bemerkenswert, weil sie ein neues Raumgefühl einleitet, das sich offenbar leicht in die Literatur transzendieren ließ, als perspektivisches Schauen, das das Subjekt als seinen Urheber und Ausgangspunkt hervorruft und der Mühsal des Aufstiegs eine neue Bedeutung verleiht, die außerhalb der bis dahin gültigen Normen der Subjektkonstitution steht, die in der Aufklärung daraus ein Prinzip der Wahrnehmung der Welt machen wird. Petrarca richtet »den Blick des Philosophen auf die Natur« und wird sich »der Irritation dieses Blicks durch die beobachtete Natur bewußt«.95 Ritter beschreibt das als den Einbruch des Ästhetischen in die Welt Petrarcas ebenso wie die seiner Zeitgenossen.96 Der Technik 94 Neumann : Erotische Räume, S. 118. 95 Gerhard Neumann : Landschaft im Fenster. Liebeskonzept und Identität in Robert Musils Novelle »Die Vollendung der Liebe«. Neue Beiträge zur Germanistik 3/1 (2004), S. 15–31, S. 15. 96 Vgl. Joachim Ritter : Landschaft. Die Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster : Aschendorff 1963 (= Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster 54).
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des Überblicks, die den Betrachter Petrarca hinaushebt, ist dem zweiten Modell der Konstruktion einer Perspektive nicht unähnlich, das in der Literatur und der darstellenden Kunst realisiert wird als Fensterblick, eine Einrahmung oder der Blick durch ein Fernglas und dergleichen, die die nunmehr gewordenen Objekte einem durchdringenden Sehen ausliefern oder eine Ordnung beschwören, die sie aus den Zusammenhängen löst und deshalb eine Aneignung im Sinne einer Neukonstruktion durch den Sehenden erleichtert.97 Es war in Florenz im Jahr 1425, dass der Handwerker, Architekt und Bildhauer Filippo Brunelleschi die uns heute so selbstverständliche Linearperspektive, die geometrischen Gesetze der pikturalen Darstellung in einem vermutlich von Paolo Toscanelli angeleiteten Experiment wiederentdeckte, wenn nicht sogar neu erfand.98 Der Architekt Leon Battista Alberti platzierte zehn Jahre später ein Gitter über den wahrgenommenen Raum, rahmte ihn ein und zwang das Auge in den Modus eines perspektivischen, ausgewogenen, vor allem aber mathematisch-rationalen Sehens.99 Die solchermaßen disziplinierte Wahrnehmung führt unmittelbar zu wesentlichen kulturgeschichtlichen Veränderungen : Sie schließt die anderen Sinnesorgane kategorisch aus. Perspektivisches Sehen betont vor allem die Position des Sehenden, ein Selbst, einen unbeteiligten, aufmerksamen Beobachter der Welt.100 Das visuelle Feld wird zum wichtigsten Wahrnehmungsmodus. Gleichzeitig entsteht ein reziprokes Verhältnis zwischen dem »im Bild verankerten Blick und dem des Betrachters«101. Das bedeutet, dass auf der Ebene der Wahrnehmung ein Dialog entsteht. Perspektive schreibt ein Narrativ, in dem Beobachter Beobachtete sind. Zwei Beispiele, in denen sich das visuelle Feld mit der psychologischen Wahrnehmung kurzschließt und Perspektive thematisiert wird, seien hier genannt : Im Ausblick, der sich dem Inhaber der Kanzlei bietet, in der Herman Melvilles Bartleby arbeiten sollte, ist der Anspruch einer Introspektion durch das Sehen des Draußen nur insofern erfüllt, als er die Kopisten von der Welt trennt, ihnen aber keinen Anblick gewährt, der dazu geeignet scheint, in der Anschauung ein Selbst zu ergründen. Ein Fenster gibt den Blick frei auf nicht viel mehr 97 Vgl. Neumann : Erotische Räume, S. 117. 98 Vgl. Samuel Y. Edgerton : Die Entdeckung der Perspektive. Aus dem Englischen von Heinz Jatho. München : Fink 2002 (= Bild und Text), S. 9 ff. 99 Vgl. Mark M[ichael] Smith : Sensory History. Oxford/New York : Berg 2007, S. 23. 100 Vgl. ebda. 101 Susanne Knaller : Perspektivische Räume. Beobachtungen zu einem Topos der Moderne. In : Petra Ernst/Alexandra Strohmaier (Hg.) : Raum, S. 185–201, S. 188.
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als eine Mauer.102 Das andere Fenster lässt den Betrachter und die Betrachterin die Schönheit einer alten Ziegelwand studieren, welche, »for the benefit of all near-sighted spectators, was pushed up within ten feet of my window panes«103. Wie vorhin ausgeführt, geht der Fensterblick dem perspektivischen Sehen voraus, bzw. ist er die Übung des richtigen und rationalen Sehens, wie sie Alberti anempfohlen hat. Mehr noch : »Der Blick ins Unendliche […] ist der sichere, alles überblickende perspektivische Blick aus dem Fenster ebenso wie Reflexion empfindsamer Ichheit.«104 Diese räumlichen Voraussetzungen von Abgeschlossenheit und versperrter Sicht sind als Auftakt vor dem Auftreten der Hauptfigur geschildert, während der Ich-Erzähler schon zu Beginn zugibt, dass ihm nichts von diesem sonderbaren Menschen Bartleby bekannt sei als das, was er gesehen habe : »What my own astonished eyes saw of Bartleby, that is all I know of him.«105 Der verstellte Blick wird zum tragenden Motiv im Text, Raumteiler, verschlossene Türen und die Fenster ohne Aussicht ergeben den Ort, an dem sich die Hauptfigur niederlässt : »And here Bartleby makes his home; sole spectator of a solitude which he has seen all populous.«106 So wie die Aussicht dem Ich-Erzähler verwehrt ist, bleibt auch Bartleby ein Enigma, das sich nicht durchschauen lässt. Der Blick nach draußen und der nach innen durchkreuzen sich, ohne Ergebnisse zu liefern. Der Text verhandelt das Thema des freien Blicks, Perspektiven verweigern sich mit der gleichen Beharrlichkeit, wie die Hauptfigur das mit den Aufträgen ihres Arbeitgebers tut. Daneben sind die Invertierungen von Macht und Recht der Motor, der das Narrativ voran und auf die Spitze treibt. Albertis Traktat über das perspektivische Sehen war vorerst bei seinen Adressaten, Malern, am wirkmächtigsten. Fast dreihundert Jahre später leiten dieselben Prinzipien zur Gartengestaltung an, wo der Versuch unternommen wird, Kunst und Natur auf einen gestalterischen Nenner zu bringen. Der affektive Gehalt der Wahrnehmung, wie er Petrarca mit Wucht ereilte, wird für die Kunst domestiziert, wenn der geschulte Blick Teil der Kunsterfahrung wird. Das zweite Beispiel sind nun die barocken Gärten des André Le Nôtre, die zu seiner Zeit – und heute noch – ein Spektakel mit Gesamtkunstwerkcharakter 102 Vgl. Herman Melville : Bartleby the Scrivener. A Story of Wall-Street. In : H. W.: Pierre or The Ambiguities u.a. Titel. New York : The Library of America 1984, S. 635–672, S. 643. 103 Ebda. S. 636. 104 Susanne Knaller : Perspektivische Räume, S. 194 (Anm. 101). 105 Melville : Bartleby, S. 635. 106 Ebda.
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sind, das sich von den italienischen Renaissancegärten insofern unterscheidet, als sich der Besitzer des Anwesens zwar selbst in der Anlage darstellt, jedoch nicht in der Starrheit geometrischer Formen, die sich in die Landschaft einpassen, gleichzeitig weltlichen Reichtum und geistige Demut widerspiegelnd, sondern indem der Garten in besonderer Weise die Blicke und Aufmerksamkeit der Besucher lenkt und seinen Bauherrn als theatralen Verführer präsentiert. Die Perspektive auf den Renaissancegarten war eine fiktive Perspektive, die sich in Wirklichkeit nicht realisieren ließ. »Bereits diese Fiktion verwandelte [schon] den mittelalterlichen Betrachter in ein himmlisches Auge.«107 Der französische Barock, der unter anderem aus dem Wunsch entstanden ist, dem üppigen Reichtum der katholischen Kirche Denkmale zu setzen, und der die Emanzipation vom italienischen Barock zum Ausdruck bringt, zeigt in seinen weltlichen Kunstwerken einen Perspektivenwechsel an : In Le Nôtres Gärten triumphiert die Illusion, ein bewusster Bruch mit den Traditionen der divina proportione, der so viele Renaissancegärten verpflichtet waren.108 Die Vorliebe für optische Täuschungen, die das aufmerksame Betrachterauge voraussetzen, soll nicht nur die Kunstfertigkeit des Architekten unter Beweis stellen, sondern auch ein Band zwischen dem Besucher, dem Künstler und dem Besitzer knüpfen. Der Titel Gesamtkunstwerk umschließt die Bedeutung, die alle drei Personen innerhalb des Kunstwerks haben. Natur und Kunst sind in Vaux le Vicomte, dem Anwesen des später wegen seines hochfliegenden Ehrgeizes in den Kerker geworfenen Schatzmeisters Frankreichs, Nicolas Fouquet, in eine Einheit gebracht, loben Zeitgenossinnen wie Madeleine de Scudéry : He […] divided a river into a thousand fountains, he reunited the thousand fountains into torrents, and he arranged all that he did at Valterre [Vaux le Vicomte] so judiciously that one cannot adequately praise the judgement of the man who understood how to unite the beauties of Art and those of Nature.109
Freie Flächen und geöffnete Blickwinkel täuschen über das Konstruktionsprinzip von Le Nôtres Gärten hinweg, die die Regeln der Zentralperspektive für die Domestizierung des Blicks nützen. Zentralachsen und Größenverhältnisse verschieben sich mit dem Wechsel des Standpunktes und lassen vom 107 Certeau : Kunst des Handelns, S. 181. 108 Vgl. Michael Brix : The Baroque Landscape. André Le Nôtre & Vaux le Vicomte. Aus dem Deutschen ins Englische von Steven Lindberg. New York : Rizzoli 2008, S. 92. 109 Ebda., S. 60.
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Architekten gewünschte Effekte entstehen, wo sich das Publikum den Spielregeln des Künstlers anvertraut. Das wesentlichste Element seiner Gartengestaltung sind die Rezipienten, ein Publikum ist gegeben, und zu seiner Unterhaltung dient das Kunst-Natur-Spektakel, das sich vornehmlich dem Blick öffnet. Der Renaissancegarten war angelegt als Reflexion einer harmonischen göttlichen Ordnung, ausgedrückt in den Regeln der Proportionen und Achsen, die erst aus der Vogelperspektive ihre Dimensionen offenbarten. Le Nôtres Gestaltungsprinzip dagegen verstrickt den Betrachter und die Betrachterin in eine Selbstreflexion über Standpunkte und Gesichtsfelder. Die Herstellung von harmonischen Teilen passiert nicht so sehr durch Zusammenstellung von Gleichartigem, viel mehr ist vorgeführt, was barocke Kunst insgesamt auszeichnet : Die Komposition opponierender Prinzipien, die sich trotzdem nicht gegenseitig zerstören müssen.110 In Versailles und Vaux le Vicomte findet man Brüche und die spielerische Aufhebung derselben Regeln, die sich in mathematische Regeln verwandelt haben und den Raum nicht mehr nach der Geometrie einteilen, sondern die Geometrien nach Betrachterperspektiven bilden lassen. Mit der Präferenz der Zentralperspektive rückt der Gartenarchitekt in eine privilegierte Position : Nur er kann wissen, wie der Garten in seinem Innersten gestaltet ist und wie sich die Effekte ergeben, die den Betrachter und die Betrachterin beeindrucken. Der Garten wird zur Korrespondenz zwischen Künstler und Publikum, dazwischen steht das Geheimnis der scheinbaren Symmetrien, die der Künstler einsetzt, um zwischen dem, was gesehen, und dem, was mit den anderen Sinnen erfahren wird, spielerisch zu vermitteln. Le Nôtres Gärten entfalten ihren Reichtum nicht schon bei der spielerischen Täuschung durch geschickt ausgenutzte Blickwinkel, sondern in der Erfahrung des Gehens, das die räumlichen Dimensionen in ihrer tatsächlichen Ausdehnung entfaltet. Verstecken, täuschen, erkennen und erfahren werden zu einem linearen Vorgang gemacht, der Garten zum Gesamtkunstwerk. Schon mit der Verwendung der Zentralperspektive rückte das Subjekt in eine neue Position. Vier Beispiele aus der europäischen Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts mögen illustrieren, wie der Sehsinn den anderen Sinnen zunehmend untergeordnet wird als erkennender und intellektuell erfassender Sinn. Das Zusammenspiel zwischen Sehen, Bewegung und Körper steht dabei im Mittelpunkt und damit eine spezifische Raumwahrnehmung. Der »perspektivisch gerahmte Naturausschnitt [ist] der Ersatz für den Verlust der geschlossenen ptolemäischen Lebenswelt, der Totalität von Mensch und ihn 110 Ebda., S. 83.
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umgreifender Natur«.111 Barthold Hinrich Brockes selektives Betrachten sei ein Beispiel für frühaufklärerische Blicktechniken : Kirschblüte bei der Nacht 112 Ich sahe mit betrachtendem Gemüte jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte, in kühler Nacht beim Mondenschein; ich glaubt, es könne nichts von größerer Weiße sein. Es schien, als wär ein Schnee gefallen; ein jeder, auch der kleinste Ast, trug gleichsam eine rechte Last von zierlich weißen runden Ballen. Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt, – indem daselbst des Mondes sanftes Licht selbst durch die zarten Blätter bricht – sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat. Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden was Weißres aufgefunden werden. Indem ich nun bald hin, bald her im Schatten dieses Baumes gehe, sah ich von ungefähr durch alle Blumen in die Höhe und ward noch einen weißern Schein, der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar, fast halb darob erstaunt, gewahr. Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht von einem hellen Stern ein weißes Licht, das mir recht in die Seele strahlte. Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergötze, 111 Helmut J. Schneider : Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert. In : Wilhelm Voßkamp (Hg.) : Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3. Bd. Fankfurt : Suhrkamp 1985, S. 172–190, S. 175. 112 Bartold Hinrich Brockes [=Barthold Heinrich Brockes] : Kirschblüte bei der Nacht. In : Hans Joachim Hoof (Hg.) : Deutsche Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Benn. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. München : Piper 2004 (= Serie Piper 4142), S. 104.
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dacht ich, hat er dennoch weit größre Schätze. Die größte Schönheit dieser Erden kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.
Das »betrachtende Gemüt« zielt auf den nicht zufälligen Blick, das bewusste Suchen nach Seheindrücken, denen sich das lyrische Ich hingibt in der Hoffnung auf einen »seelischen Eindruck«. Es schließt sich aus dem Bild insofern aus, als es in der Position des Betrachters und der Betrachterin von den Objekten der Betrachtung physisch getrennt ist. Offenbar wandert es durch einen Garten, ein Stück Natur. Die letzte Wahrnehmung ist eine Steigerung der vorangegangenen, beginnt mit der Betrachtung einer Blüte, an die sich assoziativ der Schwan und der Mondschein anschließen, und endet mit der eines Sterns, dessen Licht »mir recht in die Seele strahlte«. Von den kleinen Dingen der Umgebung schweift der Blick »von ungefähr« hinauf, gleichsam von Gott gelenkt, in den Himmel. Das reinste Weiß findet sich im Vergleich, in der Nebeneinanderstellung der Seheindrücke und bezeichnenderweise im endlosen Raum über ihm, der hier im Gegensatz zum Barock nicht theologisch als unendlich gedeutet wird.113 Das Gedicht erscheint hier noch ganz emblematisch im Sinne seiner Verweise auf das »Unten« und das »Oben«. Der entscheidende Unterschied besteht aber in der Position des lyrischen Ich und seiner Beziehung zur beobachteten Naturerscheinung, die sich zum Zwecke seiner »Ergötzung« präsentiert und nicht etwa, wie in der barocken Dichtung, für sich als Sinnbild zur Beziehung zwischen der göttlichen Ordnung und der irdischen Welt steht.114 Brockes demonstriert hier das Programm eines »emanzipierten Blicks« auf die gezähmte Natur, in der Gott eine ästhetische Kategorie geworden ist : »an Gott im Irdischen ergötzen«. Auch hier ist die Natur nicht mehr Trägerin von Zeichen oder verweist auf einen göttlichen Plan, der zur Lebensanweisung gedeutet wird, sondern sie stellt den Bezugsraum für die menschliche Neugier dar. Aus dieser Beschreibung ist der Betrachter und die Betrachterin ausgeschlossen, die eine Aufzeichnung der Wahrnehmung wird und die am Ende in Erkenntnis mündet und nicht etwa, wie die emblematische Subscriptio, eine Lehre bereithält. Die Erkenntnis kommt einer Vermessung des Raumes gleich : Der »Himmel«, der hier etwas unentschieden den von Gott oder von den Sternen bewohnten Himmel meint, kommt gleichwertig mit der irdischen Welt ins Interessenfeld des Ich. Man könnte auch sagen, er hält keine Antworten, sondern Fragen bereit. Der Raum ist deutlich 113 Vgl. Erich Trunz : Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. München : Beck 1992, S. 174. 114 Vgl. ebda., S. 16.
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umfasst und bildet sich in der Anschauung. Für den Betrachter und die Betrachterin ist er ein Objekt, wie die Kirschblüte am Anfang des Gedichts. Insofern ist Brockes Text auch dahingehend zu interpretieren, dass sich der Gegenstandsbereich des Interesses umstandslos bis in unendliche Räume ausdehnen lässt. Schneider erkennt in der physiko-theologischen Bewegung den Versuch, die Ergebnisse der Naturwissenschaften zu popularisieren bei gleichzeitiger Anbindung an den protestantischen Glauben : »Naturerkenntnis wurde zur religiösen Pflicht.«115 Mit der Erkenntnis wird die Anschauung zur Voraussetzung. Brockes Gedicht dringt nicht etwa an das Wesen der Dinge vor oder versucht dieses zu erklären, sondern bemüht sich, den Raum zu öffnen, in Bewegung gedacht, den Kopf zu heben und die Augen auf den Himmel zu richten. Ein Beispiel für den Blick nach oben in ein endlich Vorgestelltes, aber de facto Unendliches stellt Voltaires Ironie Micromégas116 dar, in der ein Riese aus der Welt des Sirius auf seiner Reise durch das Universum auf der Erde landet. Der Held Micromégas, ein interplanetarischer Wanderer, erkennt, dass sich alles vergleichen und doch nicht erkennen lässt, und formuliert die Kritik einer im »Siècle de Voltaire« sich entfaltenden modernen Wissenschaftskonzeption. Voltaires Text bietet eine Fülle an Maßeinheiten und absurden Größenvergleichen und hält als Thema die Aussichtslosigkeit bereit, den Raum in all seinen Einzelheiten zu vermessen, weil damit die eigentlichen Ziele einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Beliebigkeit untergeordnet würden. Als der acht Meilen große Micromégas auf der Erde landet, erscheinen ihm all die Vorgänge dort interessant und überraschend, besonders aber, dass sich die winzigen Einwohner dieses winzigen Planeten mit größter Sorgfalt der Vermessung ihrer Welt widmen und es darin bis zur Meisterschaft gebracht haben, sodass es ihnen möglich ist, in wenigen Augenblicken die Größe der Besucher zu vermessen und mit ihrer eigenen in Beziehung zu setzen. Dem Riesen, dem die Menschen nicht mehr als Staubkörner sind, erscheint diese Tätigkeit absurd. Auf die Frage, was ihre Hauptbeschäftigung sei, antworten die Philosophen der Erde : »Wir sezieren Fliegen, […] wir messen Linien, wir stellen Zahlen zusammen«117, doch relativiert der Erzähler, einer der terrestrischen Wissenschaftler : »Ich will nicht etwa behaupten, Herr Derham habe schlecht gesehen – Gott bewahre. Aber 115 Schneider : Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert, S. 177. 116 Voltaire [= François Marie Arouet] : Micromegas. In : V.: Sämtliche Romane und Erzählungen. Aus dem Französischen von Ilse Lehmann. Mit einer Einleitung von Viktor Klemperer. Bremen : Scheinemann 1962, S. 353–376. 117 Ebda., S. 373.
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Micromégas war an Ort und Stelle und gilt als guter Beobachter – doch ich will niemandem widersprechen.«118 Wieder lässt sich eine gewisse Reserviertheit beobachten, was eine allzu große Abstraktion der Wissensgenerierung anbelangt, und doch bleibt der Blick die zentrale Methode der Vermessung der Wirklichkeit. Der Riese ist dargestellt als Gegenentwurf zu einer von den Objekten getrennten Wissenschaft, Erkenntnis sei im wörtlichen Sinne eine Sache des Be-Greifens. Poes Erzählung The Spectacles 119 von 1844 beschreibt den Streich, der dem jungen, passionierten, aber schlechtsichtigen Protagonisten gespielt wird, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, Sehhilfen zu verwenden. Wie bei Poe üblich, ist die Erzählung minutiös strukturiert : Operngucker, Brillen und Monokel sind kombiniert mit schlecht beherrschten Fremdsprachen, mehrdeutigen Anspielungen und akustischen Täuschungsmanövern, so arrangiert, dass die Sehschwäche als der Ausgangspunkt des ganzen Unglücks des Ich-Erzählers Simpson erscheint, dessen Verstand, einmal auf der falschen Spur, jede andere Sinneswahrnehmung falsch interpretiert, bis er sich am Schluss mit seiner einundachtzigjährigen Ururgroßmutter verheiratet wiederfindet. Die Räume sind ganz auf den Effekt zugeschnitten : nachtdunkle Gärten und Gassen, dicht gefüllte Theatersäle und weite Entfernungen können mit dem Auge nicht mehr durchdrungen werden. Die Sache entpuppt sich als ein Scherz und der erleichterte Erzähler findet zur Konklusion : »I am done forever with billet doux, and am never to be met without spectacles.«120 Implizit sind in den nun gegebenen Beispielen Raumbildungsprozesse problematisiert, die vom Sehsinn ausgehen, der sich nicht vom Körper trennen lässt, dem Sprung von der Wahrnehmung zum intellektuellen Erfassen. Micromégas ist ein Riese, der junge Simpson fehlsichtig und deshalb ungewollt verheiratet, Brockes Erzähler lustwandelt in den mondbeschienenen Gärten, die bei Le Nôtre zum Spiel der Einbeziehung des Menschen in die Raumkonstruktion werden. In E. T. A. Hoffmanns oft zitierter, weil beinahe epochenbildender Erzählung Der Sandmann121 von 1816 sind Brillen und Perspektive Auslöser der Verwirrung des Protagonisten, der den Verstand in dem Moment verliert, als er sei118 Ebda., S. 347. 119 Edgar Allan Poe : The Spectacles. In : E. A. P.: The Complete Works of Edgar Allan Poe. Vol. V. Tales, Vol. IV. New York : AMS 1965, S. 177–209. 120 Ebda., S. 209 (Hervorhebungen im Original). 121 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann : Der Sandmann. Frankfurt : Insel 1967.
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nen Augen nicht mehr trauen kann. Die Erzählung setzt schon am Beginn mit der Geschichte der Amme vom Augenraub den Fokus ganz auf den Sehsinn und die Problematik, die sich ergibt, wenn die Räume mit demselben nicht mehr erfahrbar werden. Die erste traumatische Erfahrung der Hauptfigur Nathanael ist eine undeutliche Beobachtung von alchimistischen Experimenten in einem dunklen Raum. Der abschließende Sturz vom Turm scheint dann ebenfalls der Verwirrung der räumlichen Orientierung geschuldet zu sein, die mit dem Erblicken des Coppelius zusammentrifft und von der Verwendung des Perspektivs ausgelöst wird, durch das er Clara erblickt, aber offenbar nicht sieht.122 Zu dieser Störung seiner Weltwahrnehmung tritt der Hang, sich in schneller Drehbewegung in Schwindel zu versetzen und seiner Wahrnehmung endgültig alle Ordnungsprinzipien zu nehmen : »Nun raste Nathanael herum auf der Galerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie : ›Feuerkreis, dreh dich – Feuerkreis, dreh dich.‹«123 Das Drehmotiv begegnet durchgehend als roter Faden in der Erzählung und verweist auf eine andere Art und Weise der Raumkonstruktion. Das Zentrum der Bewegung ist nämlich Nathanael. Er ist mit seinem Körper Teil der Raumerfahrung. Darin sehe ich den wesentlichsten Unterschied zur beobachtenden, morphologischen Konstruktion von Raum und dem vorhin gegebenen Beispiel von Brockes Gedicht, das eine Trennung von Sinneserfahrung und Körper unternimmt. Tausch lenkt den Blick auf ein besonderes Detail in Hoffmanns Erzählung, das im Zusammenhang mit dem hier gestellten Thema von Bedeutung ist :124 Der Wahnsinn Nathanaels entsteht aus einer Steigerung dessen, was durch das Gefühl eines ständigen Beobachtetwerdens ausgelöst wird. Eine unsichtbare Allianz von Freunden und wohlmeinenden Psychiatern nimmt sich des Falles an, der als Schocktherapie in der Katastrophe endet. Es existiert nun ein unsichtbarer Raum hinter den Wahrnehmungen des Protagonisten, von dem aus er beobachtet wird. Tausch weist die intensive Beschäftigung Hoffmanns mit psychiatrischen Lehrbüchern seiner Zeit ebenso nach wie den Zusammenhang zwischen den neuen Machtarchitekturen von Institutionen, die die alten feudalen Repräsentationsbauten durch Zweckbauten ersetzen, wie Krankenhäuser, Gefängnisse und Irrenanstalten. In der Figur Nathanael ist das Entsetzen und die Skepsis gegenüber der Stadtarchitektur lesbar und im Sturz 122 Vgl. ebda., S. 39. 123 Ebda. 124 Vgl. i. d. F.: Harald Tausch : »Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst«. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik. Würzburg : Königshausen und Neumann 2006, S. 327 ff.
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als tödlich dargestellt.125 Damit eröffnet sich neben dem nach vorn gerichteten Blick eine räumliche Sphäre des Dahinter. Die Drehbewegung erscheint in diesem Licht wie der Versuch, sich des Raumes gewiss zu werden, der offenbar etwas verbirgt. Die Verbindung zwischen dem Sehsinn und dem Verstand stellt sich über die Vermessung, die Beobachtung und Konstruktion des Raumes her. In den gegebenen Beispielen aus dem Zeitraum des 17.–19. Jahrhunderts ist das Verhältnis zwischen diesen drei Faktoren problematisiert. Jedes Mal ist dabei auch der Körper der Figuren ein wesentlicher Bestandteil der Argumentation. Bei Voltaire ist es ein Riese, dessen Verstand äquivalent zu seinem Körper gedacht wird, Nathanael und Simpson sind Opfer ihrer unzureichenden Realitätswahrnehmung, die deutlich über ihren Sehsinn gesteuert wird. In allen Beispielen sind Raum und Körper in einem Missverhältnis angeordnet, Dinge sind zu klein oder zu groß, zu weit weg oder zu nah. Nur im Beispiel von Brockes Gedicht wird so etwas wie eine Harmonie erzeugt. Entfernungen werden falsch eingeschätzt, und insgesamt wird ein Bewusstsein dafür hergestellt, dass sich eine falsche Raumwahrnehmung fatal auswirkt. Eine morphologisch gesteuerte Konstruktion des Raumes folgt der Frage nach Kontrolle, sie trennt den Körper vom Raum und beobachtet die Entstehung des Raumes an einer anderen Stelle. Die Beispiele einer Fehlleistung verdeutlichen einen Einbruch des Körperlichen in eine ansonsten von ihm getrennte Wahrnehmung. Simpsons peinlicher Fehler ist ja nicht bloß Folge eines körperlichen Gebrechens, sondern auch seiner Eitelkeit. Nathanaels Wahnsinn zeigt sich zuerst in seiner gesundheitlichen Instabilität. Was Voltaire ironisiert, ist unter anderem der Ausschluss des Körpers aus dem Prozess der Erkenntnis. Die Literatur spiegelt eine fundamentale Rolle wider, die der Raumwahrnehmung ab der Aufklärung zukommt und hier besonders dem Sehsinn, oder anders ausgedrückt wird der Sehsinn zum zentralen Organ der Raumwahrnehmung. Was es bedeutet, die Orientierung zu verlieren, weil das Vermittlungsorgan nicht die notwendige Präzision liefert, ist in den genannten Beispielen exemplifiziert. Wie sich später an der Literatur von Albert Drach zeigen wird, kann diese Desorientierung auch über den Protokollstil hergestellt werden, indem den Protagonisten eines Textes zusammen mit den Lesern und Leserinnen eine Weltwahrnehmung vorenthalten wird, was ihre Handlungsfähigkeit beschneiden muss. Hoffmanns Sandmann bildet eine Schnittmenge sowohl mit den morphologischen als auch den amorphen Raumkonstruktionsprinzipien, um die es im Folgenden gehen soll. 125 Vgl. ebda., S. 205.
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Amorphe Raumkonstruktion und das Kameraauge Den beiden morphologischen stellt Neumann zwei andere Modelle von Raumkonstruktion gegenüber, die er die amorphen nennt, weil sich der Raum hier nicht ordnet, sondern eher um die Protagonisten herum in der Bewegung anzuordnen beginnt, also keinem bewussten Akt der Herrschaft über den Raum gehorcht, – wie sie in meinen Beispielen als gestört erscheint –, sondern als passiver Input entsteht. Die »Orientierungsdynamik durch Desorientierung«126 lässt den Raum wie im Rausch während der Bewegung entstehen, vergleichbar mit der Filmtechnik der Dogme-95-Filme, die der Ordnung der Kamerafahrt die Unordnung und Konfusion einer Handkamera gegenüberstellen und den Zuschauer damit in den Prozess der Raumkonstruktion zurückholen, der hier wieder endlos wird, weil er sich im Gegensatz zum »Theaterkino« in alle Richtungen auszubreiten vermag. In den Vows of Chastity der FilmemacherInnen heißt es : »The film must not take place where the camera is standing; shooting must take place where the film takes place.«127 Raum darf nicht neu konstruiert werden, weder auf der Produktions- noch auf der Rezeptionsebene, sondern muss, nach dieser Vorstellung, bereits »da« sein, in einem ähnlichen Sinne wie Siegfried Kracauers Forderung, die Kunst, die er als Technik der Manipulation sieht, aus dem Film zu verbannen,128 eine Formulierung, die in den Vows ähnlich wiederkehrt. Man verfolgt die Abtrennung der Filmkunst vom Theater, die überall dort nicht gegeben ist, wo der Film mit seinen Mitteln und seiner Sprache Verfremdungseffekte erreicht, indem zum Beispiel eine Aufnahmetechnik gewählt wird, die Achssprünge und andere »Stilfehler« nicht erlaubt. Lars von Triers Dogville129 aus dem Jahr 2003 ist auf einer Theaterbühne inszeniert, die allerdings keinen Zuschauerraum beinhaltet und stattdessen den Bühnenraum und seine Grenzen mit Requisiten und auf den Boden gemalten 126 Neumann : Erotische Räume, S. 120. 127 Vgl. Evamaria Trischak : Dogme 95 : The Vow of Chastity (Abridged). Online : http://cinetext.philo. at/reports/dogme_ct.html (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 128 Siegfried Kracauer : Die Errettung der physischen Realität. In : Franz-Josef Albersmeier : Texte zur Theorie des Films. Stuttgart : Reclam 1998. S. 241–255, S. 243. Kracauer spricht hier nicht von der Kameratechnik, sondern meint »die Suggestivkraft des von der Kamera eingeheimsten Rohmaterials«, nicht den Raum also, sondern das, was ihn belebt. Die »theatralischen« Filme, schreibt er, würden »Ganzheit symbolisieren« und damit abstrakt. 129 Dogville. Dänemark u.a. Regie : Lars von Trier. Buch : Lars von Trier. Kamera : Anthony Dod Mantle. Darsteller : Nicole Kidman, Harriet Anderson, Lauren Bacall, Jean-Marc Barr, Paul Bettany. Produktion : Peter Albæk Jensen. Dauer : 177 Minuten.
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Linien andeutet. Sogar der Hund in der Klaustrophobie der Dorfatmosphäre ist auf den Boden gemalt. Außerdem agieren die Schauspieler und Schauspielerinnen so, als ob die Wände, die Straßen etc. tatsächlich da wären, sie also im Gegensatz zum Kameraauge nicht durch sie hindurchsähen. Die Kamera geht um die abgeschlossene Szenerie eines amerikanischen Dorfes herum. Der Raum entsteht auch hier mit der Drehbewegung um die Akteure. Da der Raum um die Bühne herum abgedunkelt ist und nichts zu sehen bietet, ist die Bühne die Welt und die Kamerabewegung das Konstruktionsprinzip derselben. Der Blick während dieser Drehbewegung ist nach innen gerichtet. Für den Zuschauer ergibt sich ein streng begrenzter Aktionsraum mit offenen Seiten, einer bloß aus den Dialogen und Gesten angedeuteten imaginierten Welt, beispielsweise einem Fensterblick der Hauptfigur : Zu sehen ist das »Alpenglühen« der Rocky Mountains nur für die Figur, die von hinten beim Blick durch das Fenster beobachtet wird.130 Ihr Ausblick wird jedoch dialogisch inszeniert. Es gibt hier also vor allem ein »Draußen«, das nicht nur repräsentiert, sondern auch getragen wird durch die Figur Grace, die als Fremde ins Dorf kommt. Ihre Fremdheit, die auch in Gesten und Verhaltensmustern sichtbar wird, ist selbst dieses »Außen«, verbindet alle Vorstellungen einer außerhalb des Dorfes liegenden Welt in einer Figur. Der Raum bildet sich in der Drehbewegung um diese zentrale Bühne herum mit einer Kamerabewegung, die nach innen auf ein virtuelles Zentrum hin orientiert ist, sodass sich der Beobachter in der Position der Kamera in einer Art Außen wähnt, in einer Freiheit nämlich, den Raum verlassen zu können, wenn es beliebt (was natürlich nicht der Fall ist). Hoffmanns Nathanael, um den Kontrast dazu zu nennen, dreht sich im Schwindel und blickt aus dem »Feuerkreis« nach außen, wo sich eine unüberschaubare und weite Welt nach allen Seiten ausdehnt. Auf der Rezeptionsseite ist eine solche Verwirrung leicht nachzuvollziehen. Der Sehsinn reicht dann für eine Selbstlokalisierung nicht mehr aus. Die Protagonistin in Dogville dagegen erlebt eine sukzessive Einengung ihres Bewegungsradius, der sich auch im Auf-den-Leib-Rücken der Kamera äußert. Wie sich später herausstellt, ist auch ihre Situation letztendlich eine freiwillige, und sie ist, im Gegensatz zu ihren Opfern, bereit, in das »Draußen« zurückzukehren, aus dem sie gekommen ist, während für die Dorf bewohner diese Option eher nicht denkbar zu sein scheint. Dogville stellt den Modellfall der Auslieferung einer Außenseiterin an ein Kollektiv dar und exerziert psy130 Vgl. dazu ausführlicher : Jörg Dünne : Filmische Unorte in Lars von Triers Dogville. In : Matthias Däumer/Annette Gerok-Reiter/Friedemann Kreuder (Hg.) : Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld : transcript 2010, S. 31–52, S. 39.
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chologisch, wie sich dieses Kollektiv zuerst für, dann gegen sie formiert. Vieles daraus wird über die Organisation des Raumes erreicht : Wohin darf oder muss sich Grace bewegen, welche räumlichen Einheiten entstehen über Wohnräume oder die Kirche etc. Eine Fülle von heterotopischen, kulturell und sozial strukturierten Räumen ergibt für Grace ein Labyrinth, durch das es ihr zunehmend unmöglich gemacht wird hindurch zu finden. Als sie aus diesem für sie enger werdenden Gefängnis fliehen will, geschieht dies ebenfalls nur, indem ein anderer begrenzter Raum, die Ladefläche eines Lkw, benutzt wird, mit ungewöhnlichen Folgen : In dieser Sequenz wird jedoch die scheinbar räumliche Fluchtbewegung Grace’ aus dem Dorf heraus bis in den Nachbarort auf der Ebene des Bildraums von Anfang an durch eine nochmals verschärfte Schließung des Raums dementiert, die eine Art mise en abîme des geschlossenen narrativen Raums des gesamten Films darstellt.131
Der Effekt, den von Trier erzielt, die Perversion des Publikums an sich selbst zu demonstrieren,132 entsteht in dieser Freiwilligkeit und der Kontrolle über den Raum. Die Kamera gewinnt noch dadurch einen Vorsprung vor der Figur Grace, da sie durch Wände und Mauern »sieht«, ihr wie auch dem Zuseher also alles transparent erscheint. Die Konstruktion des Raumes wird in diesem Beispiel sowohl von der Kamera als auch der Protagonistin vollzogen und gekennzeichnet durch seine Drehbewegung, die kontrolliert konstruiert. Diese Kontrolle ist aber eine scheinbare und bedarf der Kamera als ihrer Bezugsinstanz. Die Einengung auf den Theaterraum produziert aus den endlich zur Verfügung gestellten räumlichen Bezugspunkten eine ebenso begrenzte Menge an möglichen Parteinahmen. Blick und Sehen sind von ihren Grenzen zwar befreit, indem der Blick freigegeben wird auf Innenräume oder durch Wände, doch ist es immer noch das Kameraauge, das den Wahrnehmungsvorgang steuert. Auf der narrativen Ebene, die das Thema Macht verhandelt, ist der Film eindeutig : Wer die Entscheidungsfreiheit hat, Räume zu betreten oder zu verlassen, wird als mächtig wahrgenommen. Als man erfährt, dass Grace freiwillig in das Dorf gekommen ist und nicht etwa als Flüchtende, als man erfährt, dass es sie nur den Entschluss kostet, dieses Dorf auch wieder zu verlassen, ändert sich die Einschätzung über ihre Position radikal. 131 Ebda. S. 43. 132 Vgl. Adela Abella/Nathalie Zilkha : Dogville : A Parable on Perversion. Int. J. Psychoanal. 85 (2004), S. 1519–1526, S. 1525.
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Eine Kamerafahrt bestimmt auch den Beginn des Romans Mason und Dixon133 von Thomas Pynchon. Bewegungsmuster sind von besonderer Bedeutung für den Text, geht es doch vornehmlich um Geografie, um den Versuch, ein Land zu teilen, eine Linie zu ziehen, die sich über viele Kilometer erstreckt und Amerika in einen südlichen und einen nördlichen Teil trennen soll, es geht um astronomische Phänomene, Vermessungen, Abstände, die Wahrnehmung des Zurückweichens von Grenzen, die neue Räume erschließen. Immer weiter nach Westen bedeutet in diesem Roman auch das immer deutlichere Gefühl von der Sinnlosigkeit der Arbeit des Landvermessens. Der Auftakt suggeriert dagegen Harmonie der Bewegungen, die sich mit der Erinnerung an unbeschwerte Kindheitstage vermischt. In der deutschen Übersetzung ist es ein einziger Satz, der den Raum über die Schulter der laufenden Kinder blickend entstehen lässt, vom Toben im Schnee in die warme Stube, durch die Küche und in den geheimnisvollen dunklen Raum am anderen Ende des Hauses, in dem der alte Reverend schon mit seiner Geschichte wartet.134 Es ist eine Miniatur mit vielen kleinen und kleinsten Andeutungen, und doch gibt sie dem Raum und der Anordnung seiner bedeutungsvollen Gegenstände und Menschen den Platz einer Erzählung in sich. Es ist auf profane Weise eine Überschreitung aus dem Spiel in die Erzählung hinein, von dem weiten Feld draußen in die Enge des kaum beleuchteten und nur von schwerem altmodischen Mobiliar besetzten Hinterzimmers, wo sich in der Figur des Geschichtenerzählers der unendliche und ungeteilte Raum Amerikas vor der Mason-Dixon-Linie erstreckt, der in einer ebenso schweren wie altmodischen Sprache aufblüht.135 Als nun die Bewegung der Laufenden in diesem »behaglichen Zimmer« sein Ende gefunden hat, bewegt sich die Kamera doch noch um einen einzigen Ruck weiter zu einem »unheimlichen und wundervollen Kartentisch« mit seiner Wellenmaserung, deren Anblick »eine Illusion von Tiefe erzeugt, in die seit Jahren Kinder hineinstarren wie in die illustrierten Seiten von Büchern«136. In der hier nachgestellten kindlichen Phantasie – man 133 Thomas Pynchon : Mason und Dixon. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Reinbeck : Rowohlt 2001. 134 Vgl. ebda., S. 11. 135 Die deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl bemüht idiomatische Spielarten des 19. Jahrhunderts, um der Historisierung der Sprache im englischen Originaltext zu begegnen. Hier, so sagt Stingl im Interview, sei das 19. Jahrhundert den deutschsprachigen Leser n und Leserinnen etwa ebenso entfernt wie das Englische des 18. Jahrhunderts dem heutigen Englisch. Vgl. Claus Phillipp : Ein Interview mit Nikolaus Stingl, Übersetzer von Mason & Dixon. In : Der Standard, 18.9.1999, S. 32. 136 Pynchon : Mason und Dixon, S. 11 f.
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ist bereit, den phantastischen Erzählungen des alten Mannes zu folgen – ist eine hierarchische Ordnung zu finden, die neben dem bekannten, familiären Raum das Unbekannte, die Maserung des Tisches zulässt, den Raum des Fiktionalen, des Spiegels, der Literatur. Hier inszeniert der Autor die etwas unentschlossene Grenze zwischen dem Fiktionalen und der physischen Erzählgegenwart. Das Spiel von Fiktion und historischer Wahrheit ist in die Eröffnung eingeschrieben auch das Spiel mit utopischen und heterotopischen Räumen. Pynchon lässt den alten Reverend die Geschichte erzählen, zwar Augenzeuge der Ereignisse, doch auch mit einem unzuverlässigen Gedächtnis geschlagen, wie er selbst zugeben muss. Er weiß, dass das Ziehen einer acht Ellen breiten Linie nach Westen eine Wissenschaft ist, die über seine Begriffe geht, und letztendlich sinnlos, weil kurz darauf der Unabhängigkeitskrieg alle Mühe zerstörte.137 Der Roman beginnt also mit dem Rückblick auf eine große Expedition, die mitten durch die Wildnis führt, der Geschichte einer gewaltsamen Teilungsbewegung, die das Land mit einer gedachten, aber in der Geografie nicht repräsentierten Linie zerschneidet. Auch der Sprung, das »Durchstoßen einer Wand oder Überwinden einer Grenze«138 stellt sich in dem hier präsentierten Schema als eine Technik der Konstruktion von Raum dar. Der Verstand sei, nach Francis Bacon und der Auffassung der Auf klärung, in höchster Gefahr, seien die Sinne plötzlichen Sprüngen ausgesetzt, anstatt einen Schritt vor den anderen zu setzen.139 Im Sandmann ist der abschließende Sprung vom Turm zugleich das Ende der Hauptfigur. Die Bewegung vollzieht sich rauschhaft und setzt einen Schlusspunkt unter die Leidensgeschichte des Nathanael, während der Sprung des oben erwähnten Micromégas ihn auf einen Nachbarstern führt, ihm also im Gegensatz zu Nathanael eine neue Erfahrung eröffnet. In jedem Fall deutet sich im Sprung wie in der Drehbewegung eine andere Qualität an : Der Körper des Wahrnehmenden ist Teil seiner Wahrnehmung, da sich der Raum in Bezug auf jenen ausbreitet. Zur gleichen Zeit wird der Körper ebenfalls zum Raum der Erfahrung, sodass sich ein Subjekt bildet, das sich sowohl selbst beobachtet wie im Bewusstsein steht, dass diese Beobachtung auf es selbst angewendet wird. In diesem Kontext kann man vom »gestimmten Raum«, vom »Aktionsraum« und vom »Anschauungsraum« sprechen, von Raumqualität folglich, die im In-der-Welt137 Vgl. ebda., S. 12. 138 Neumann : Erotische Räume, S. 121. 139 Vgl. ebda.
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Sein des Subjekts gleichsam ineinandergeschachtelt sind [!] und jeweils das Erleben eines spezifischen Raumes aus der Positionalität eines leiblich im Raum situierten Menschen bedingen.140
Einige von Peter Handkes Texten führen das Innewerden des Subjekts als Ergebnis und Form einer kontinuierlichen Bewegung vor, eines Gehens ohne konkretes Ziel, das kein Spazieren ist, also nicht dem Sinn des Müßig-Gehens gehorcht. Das Motiv der Reise, wie es in Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die Lehre der Saint-Victoire (1980), Die Wiederholung (1986) oder in Die morawische Nacht (2008) konsequent durchgeführt wird, ist als beschreibender Wahrnehmungsvorgang gestaltet. Betrachtung entsteht durch die Bewegung des Körpers im Raum und nicht durch ein Vor-die-Augen-Rücken von Bildern. In Die Stunde der wahren Empfindung 141 ist die klassische literarische Romanstruktur von Auf bruch, Abenteuer und Läuterung in eine einzige scheinbar ziellose, gehende Bewegung der Hauptfigur, Gregor Keuschnig, zersetzt. Keuschnig sucht einen Ausweg, seine Bewegung ist zielstrebig insofern, als die Bewegung selbst das Ziel darstellt, sie ist einem Lesen gleich. Er liest jedoch (Orts-)Zeichen wie Namen : »Eine Zeitlang folgte er durch Seitenstraßen einem Mädchen, auf dessen Hosen hinten CHIC AG O CIT Y stand. Er wollte ihr Gesicht sehen. Dann merkte er, daß er das Mädchen vergessen hatte.«142 Keuschnigs Suche, so legt der Text nahe, vollzieht sich im Spaziergang. Das Gehen bleibt bis zu den Schlusssätzen handlungsbestimmend und sinnstiftend. Die Topografie von Paris, die hier ziemlich detailgenau geschildert ist, spielt in den Transformationsprozess der Figur hinein, indem die Architektur dem Protagonisten einen feststehenden Bewegungs- und Sehraum mit sich veränderndem Zeicheninventar und damit verändernden Lesarten des Raumes zur Verfügung stellt. Er geht die gleichen Wege immer wieder, kehrt zu Orten zurück und kann in seiner Beobachtung Veränderungen wahrnehmen, die er als Fortschritt auslegt, so zum Beispiel an der Inschrift auf einem Haus, die einem Widerstandskämpfer gewidmet ist und die in ihm beim ersten Mal Aggression auslöst, beim zweiten Mal zeigt er Einsicht und versöhnt sich mit dem Wahrgenommenen.143 »Damit die Anschauung die Idee in sich aufnehmen kann, ist eine
140 Behrens : Räumliche Dimensionen imaginativer Subjektkonstitution um 1800, S. 38. 141 Peter Handke : Die Stunde der wahren Empfindung. Frankfurt : Suhrkamp 1982. 142 Ebda., S. 24. 143 Vgl. ebda., S. 140 und S. 16.
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schöpferische Bildfindung vonnöten.«144 In der Wiederholung der Bewegung liegt ein Effekt verborgen, der mit der Erinnerung von Keuschnig zu tun hat. Nicht umsonst wird diese thematisiert, zeigt sie doch in den wahrgenommenen Veränderungen an, dass die Beobachtungen keiner passiven Aufnahme gleichen, sondern gespeichert wurden, ein Erinnerungsraum, der immer weitere Kreise zieht. Der Raum wird von der Figur angeeignet, weil er Teil ihrer Bewegung wie ihrer Erinnerung ist, die sich als Heimkehr konkretisiert : »Doppel- und Wiedergänger bevölkern das handkesche Gesamtwerk, besonders ›Die Wiederholung‹ und die ›Niemandsbucht‹, und sämtlich sind sie ›Männer wie Gregor‹145, stehen für die verlorene Herkunft, die Sehnsucht und Suche nach ihr«146, mithin nach einem topografischen Ort der Zugehörigkeit. In einer anderen Metropole des Westens, nämlich New York, steht Michel de Certeau in der 110. und obersten Etage eines Gebäudes des World Trade Centers, schildert eine Perspektive, die nach den Terroranschlägen 2001 nicht mehr existiert, und beginnt in einer Handke diametral entgegengesetzten Bewegung der lustvollen Entfremdung über das »Gehen in der Stadt« zu reflektieren.147 »Da ich ein gewaltiges Lustempfinden verspüre, frage ich mich, woher diese Lust kommt, diesen maßlosesten aller menschlichen Texte zu ›überschauen‹.« Diese Reflexion bedient sich des Überblicks und sieht die Stadt vorerst in ihren groben Umrissen, der Skyline und ihrer Sprache. Certeau nimmt das Natürliche im Künstlichen wahr, wenn er schreibt : Auf dieser Bühne aus Beton, Stahl und Glas, die von einem eisigen Gewässer zwischen zwei Ozeanen (dem atlantischen und dem amerikanischen) herausgeschnitten wird, bilden die größten Schriftzeichen der Welt eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion.148
Vorerst ist er ein außenstehender Beobachter, doch bald setzt er seinen Körper mit dem Gesehenen in Verbindung. Die Frage, die er sich nun stellt, ist, wie sich die Passanten in den Straßen im städtischen Raum zurechtfinden können, ohne denselben Überblick zu haben, wie er ihn genießt, er versetzt sich in ihre Position. Die Fußgänger dort unten (und wohl auch alle anderen Verkehrsteilneh144 Fabjan Hafner : Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien : Zsolnay 2008, S. 124. 145 Handke : Die Stunde der wahren Empfindung, S. 106 (Anm. 141). 146 Hafner : Unterwegs ins Neunte Land, S. 122. 147 Vgl. i. d. F.: Certeau : Kunst des Handelns, S. 179 ff. 148 Ebda.
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merInnen) bilden eine Schrift, sie zeichnen dem Raum etwas ein, was ihn »Tätigkeit« und »Räumlichkeit« gleichsetzen lässt, indem er erkennt, dass die Stadt aus zwei Texten besteht : »Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt ein.«149 Die Blicke gehen nach oben zum Mond, zu den Sternen und von oben nach unten, in einen geometrischen Garten, hinein in einen hermetisch abgeschlossenen Raum und hinaus in eine Landschaft, die mehr darstellt als sie zeigt. Michel Foucault hat seine Augen als Fenster beschrieben, die, eingelassen in den Käfig seines Körpers, ihn wie durch Gitterstäbe sehnsuchtsvoll hinausblicken lassen.150 Im utopischen Raum der Literatur gelingt der Sprung hinaus aus diesem Gefängnis, vorerst in eine Leere, die sich nach und nach, Zeile um Zeile füllt mit wirklichem Raum. Literarische Raumkonstruktionen zeigen die Anwesenheit einer Figur oder eines Erzählers, indem Raum in Bezug zu diesen aufgebaut wird. In der Unterscheidung zwischen dem gesehenen und dem in der Bewegung erfahrenen Raum deutet sich eine unterschiedliche Qualität von Raumerfahrung an, die dennoch immer einen a priori vorgestellten Raum erfordert. Diese kantsche Maxime als Basis für eine literarische Raumkonstruktion genommen, ergeben sich mehrere Möglichkeiten, wie sich aus dem Medium Literatur Raum generieren lässt. Die literarischen Beispiele schreiben eine Geschichte des Blicks, die hier mit dem Barock beginnt. Eine zunehmende Fokussierung auf den Körper, vor allem auf den eigenen Körper und seine Wahrnehmung, die insbesondere in der deutschen Romantik problematisiert wird. Zeigen barocke Dichtungen und die Gartenarchitektur eine Trennung von Seheindruck und körperlicher Erfahrung, involvieren die Aufklärung und die nachfolgenden Epochen, mit Foucault gesprochen : die Moderne, den Körper in die Raumwahrnehmung. Ein Vergleich zwischen E. T. A. Hoffmanns Sandmann und Handkes Stunde der wahren Empfindung mag weit hergeholt erscheinen, doch unter der Perspektive der Raumwahrnehmung präsentiert sich hier einerseits eine aus den Fugen geratene panikartige Bewegung im einen Fall und ein zielloses, aber umso produktiveres, weil absichtsvolleres Gehen, das die Außenwelt wie die Innenwelt ausschreitend durchmisst, im anderen Fall. Ein Gehen, das ebenso willkürlich und amorph erscheint, aber gerade daraus seinen Wert als Aneignung der Welt gewinnt. Dem steht die Verwundbarkeit des Körpers im Prozess der Raumge149 Ebda., S. 182. 150 Vgl. Foucault : Der utopische Körper, S. 23 (Anm. 33).
Amorphe Raumkonstruktion
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nerierung gegenüber, wenn zunächst der Körper selbst zum Fokus der Raumproduktion wird. Van Triers Experiment der Darstellung unsichtbarer Barrieren ebenso wie E. T. A. Hoffmann beschreiben eine Raumkonstruktion, die Opfer fordert, die literarische Gestaltung des Raumes ist nicht nur potenzielle Befreiung, nicht nur offener Blick und raumgreifende Geste, sondern produziert auch Gefängnisse, Mauern, Barrieren und einen kalten, zerstörenden Blick. Davon erzählt Albert Drachs Prosa, dessen Protokollstil eine Sonderform des Raumbildungsprozesses präsentiert, einen, der auf die gleichzeitige Produktion von Opfern spezialisiert ist und auf den Raum im Wesentlichen als ein von Macht produziertes Gebilde der Unterdrückung zurückgreift.
3. Albert Drachs Räume Ein Manuskript einer früheren Fassung des Romans Untersuchung an Mädeln, zu diesem Zeitpunkt noch Protokoll gegen Mädel betitelt und auf Juli 1964 datiert, beginnt mit einer Darstellung der Topografie des Ortes des späteren Verbrechens, der räumlichen Makrostruktur, die in einer Kamerabewegung das Bild von der Weite einzoomt auf einen Mittelpunkt : Als die Westautobahn bereits soweit ausgebaut war, daß man sie von Preßbaum bis nahe in die Gegend von Amstetten fortlaufend mit einigen Einschränkungen durch Planken sowie durch nachgebendes Erdreich und sonstige Fehler bei der Planung beziehungsweise Ausführung benützen konnte, d. i. im fünfundzwanzigsten Jahre seit ihrer Projektierung (Wort für Strichlierung und Verbauung im Ganzen) befanden sich an einem sichtschlechten, weil eingenebelten Septembertag im grellen Scheinwerferlicht der Personenkraftwagen in der Gegend zwischen der Einmündung der Ausfahrt, bezw. Einfahrt nach und von Melk und der nach bezw. von Ybbs-Persenbeug, zwei in Dunkelheit stehende Gestalten, unter deren Kleidern und Wäschestücken zu vermuten war, daß es sich um weibliche Geschöpfe handeln könnte, […].151
Man mag in Struktur und Aufbau dieses Ausschnittes an die im vorigen Kapitel zitierte Eröffnungspassage von Mason und Dixon erinnert sein oder auch an andere gleichartige erste Sätze epischer Romane, die im Auftakt das Terrain für präzise Markierungen schaffen. Es zeigen sich aber an dieser Frühfassung Risse an der konventionellen Raumkonstruktion einer den Hauptfiguren neutral gegenüberstehenden Erzählinstanz. Das Kameraauge ist getrübt. Einzelne Elemente der drachschen Protokollsprache finden sich wieder in der Verwendung eines überlangen Satzes zum Auftakt mit umständlich eingeschobenen Erklärungen und Erläuterungen (»Wort für Strichlierung«), die zum Teil keine sind (»d.i. im fünfundzwanzigsten Jahre«) und die den Versuch einer möglichst genauen Schilderung der Vorbedingungen einer Szene darstellen, die erst im letzten Nebensatz mit der Einführung der zwei Protagonistinnen angedeutet 151 Zitiert nach einem Faksimile aus : Bernhard Fetz/Klaus Kastberger (Hg.) : Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten. Wien : Zsolnay 1998 (= Profile. Magazin des österreichischen Literaturarchivs 1), S. 8.
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wird. Auf den ersten Blick wird eine ironische Distanz zu dem offensichtlich, was Kritiker Erzählökonomie nennen. Der Text setzt seinen scheinbaren Schwerpunkt, ähnlich der Übersichtsperspektive im Film in der Eröffnungseinstellung einer Szene oder Sequenz, auf einen Überblick, der in einer weit ausholenden Bewegung den Ort erfasst, ohne freilich ihn selbst näher zu bezeichnen, als eine von mehreren möglichen Autobahnauffahrten auf die Westautobahn. Was man sicher weiß, ist, dass sich diese Auf- bzw. Abfahrt zwischen Ypps und Melk befinden muss, und zwar auf einer Autobahn, die mit leichten Einschränkungen von Pressbaum nach Amstetten führt. Vier Ortsnamen österreichischer Provinzstädte reichen jedoch nicht aus, um die Lokalisation des Schauplatzes zu gewährleisten. Die Beobachterposition ist mit der Bewegung ihrer Perspektive deutlich akzentuiert, sie schwebt sozusagen über diesem Abschnitt der Straße, reflektiert ihre Geschichte mit ironischen Seitenhieben auf ihre Nicht-Fertigstellung, eine aus der Zeit des Anschlusses an Nazideutschland in die erzählte Jetztzeit ragende und nicht fertiggestellte Unternehmung, und erreicht endlich die zwei Gestalten, die dort warten und vorerst nur unbestimmt und schemenhaft erkennbar sind. Schuld sind nämlich sichteinschränkende Bedingungen : Nebel, Dunkelheit, grelles Licht. Hier sind schon bestimmte Absichten verraten und der Erzähler bekommt einen Körper, wahrnehmende Sinne. Die Darstellung eines konventionellen Erzählers verwirft Drach zugunsten eines Polizeiprotokolls, wie es die endgültige, publizierte Fassung des Romans darstellt. Die Topografie steht in Verbindung mit jenem nunmehr eliminierten Erzähler, der als auktorialer Erzähler aufgrund seiner Perspektive Anwesenheit vortäuscht. Die Druckfassung setzt einen gänzlich anderen Schwerpunkt. Hier lauten die ersten Sätze : Es soll Wind gegeben haben, und diese Versicherung erscheint glaubhaft, wenn festgehalten wird, daß die Röcke, nämlich die unteren äußeren Kleidungsstücke der Weibspersonen, in Bewegung gerieten […].152
Der Erzähler hat sich aufgelöst in der Perspektive des Protokolls, das sich nicht mehr mit der Topografie auseinandersetzt. Aus einem In-etwa-Ort wird ein Nicht-Ort. Die Ortsnamen fielen als redundante Angabe ebenso weg wie das ob der schlechten Sicht als unsicher dargestellte Ergebnis eines genauen Blicks. 152 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 7.
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Stattdessen konzentriert sich das Protokoll ganz auf die beiden Hauptfiguren und beschreibt deren Körper in einem Akt der subtilen Entkleidung, die vordergründig der Regen besorgt, in Wirklichkeit aber der Text suggeriert, wie das in der älteren Fassung nur angedeutet wird. Von de Sades Literatur wird behauptet, es handle sich deshalb nicht um Pornografie, weil ihn der Entkleidungsvorgang nicht interessiere : »Diese Meinung geht vielleicht von der allgemeinen Annahme aus, daß die völlige Nacktheit nicht mehr erotisch wirke oder für den Akt der Wollust der Entkleidungsvorgang anregend sei. Aus solchem Anlaß […] stürzen sich berufsmäßige Vergewaltiger häufig auf noch bekleidete Opfer, um das schonungslose Herabreißen der Hüllen eigenem Antrieb vorzubehalten.«153 Die weitere Darstellung parallelisiert das, was das Protokoll als Machtinstrument leistet, durchaus mit dem Vorgang einer Vergewaltigung. Die Tatsache der unvollendeten Autobahn wird zur beiläufig erwähnten Marginalie, die im Prozessverlauf – denn einen Prozess gibt das Protokoll wieder – keine Rolle spielt. Was den Auftakt in diesem Beispiel so bedeutend macht, drückt Fetz mit den Worten aus, bei Drach hinge die ganze Konstruktion des Romans am ersten Satz.154 Aus der Perspektive einer Semantik des Raumes lässt sich feststellen, dass die ursprüngliche Fassung eine räumliche Einordnung noch eher favorisierte, aber nicht ganz durchführte. Mit dem Protokollstil ist aber eine eindeutige Position gewährleistet. Wenn Drach frühere Fassungen überarbeitete, dann hatte dies meist zweierlei zur Folge : eine Konjunktivierung der Erzählung und damit einhergehend eine Pseudoobjektivierung. Die Erzählung verstrickt sich in den Fängen des Protokolls, Ort und Zeit werden unbestimmbar.155
Die Frage ist nun, welche Veränderungen sich durch diese grundsätzliche Entscheidung für den Roman ergeben haben. Vielleicht muss man den Blick nochmals auf diesen Detailausschnitt richten und sich die Veränderungen der Raumkonstruktionsprozesse ansehen, die sich durch die Überarbeitung ergeben haben. Die wenigen topografischen Einordnungen, die die Beschreibung des Schauplatzes zur Verfügung stellt, das wären die Existenz einer Autobahn und die räumliche Einordnung der beteiligten Personen, muss den für den ganzen 153 Vgl. Albert Drach : In Sachen de Sade. Nach dessen urschriftlichen Texten und denen seiner Kontaktpersonen. Düsseldorf : Claassen 1974, S. 14. 154 Vgl. Fetz : Albert Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 9. 155 Ebda., S. 13.
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Roman konstitutiven Vermutungsreihen weichen : »Es soll, […] es muss, […] dürfte.«156 Gerade wegen der Konjunktivsetzung des ganzen Textes entsteht eine subjektive Erzählhaltung, die dennoch nichts von ihrer Perspektive preisgibt. Tatsache ist jedenfalls, dass die Körper der jungen Frauen sehr unmittelbar in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geraten, und zwar so, dass sie aus ihrer Umgebung herausgelöst werden. Man bemerkt die Irrelevanz der zeitlichen Verzögerungen beim Autobahnbau, die historische wie topografische Kontextualisierung, die – ich habe es oben angedeutet – Interpretationsspielräume eröffnen würde wie beispielsweise die einer Verbindung mit dem Erbe nationalsozialistischen Gedankenguts. Worauf ist der Blick und damit eine der möglichen Raumkonstruktionen gerichtet ? Er gewinnt keinen Überblick, er ist nicht ein Kamerablick, seine Perspektive gehorcht nur bedingt den Regeln einer literarischen Raumkonstruktion, wie sie bisher beschrieben wurde, und konstatiert nur Details, die sich aus der Umgebung herauslösen. Es ist keine Verortung des Erzählers innerhalb des physischen Raums möglich. Das würde auch nicht dem wissenschaftlichen Blick entsprechen, der vom Allgemeinen zum Besonderen wandert und erst in der Zerlegungsbewegung seine Übersicht verliert und damit auch die emotionale Befangenheit mit dem Ganzen/Vollständigen. Der Protokollstil von Drach befasst sich keinen Augenblick mit der Übersicht, sondern macht jede Bewegung des Körpers mit, folgt ihm auf Schritt und Tritt und löst ihn aus allen Relationen, die mit dem Fall vorerst nichts zu tun haben. Die Bewegungen im Raum sind ungenau und lassen keine Ordnung durch den Blick zu. Die Raumkonstruktion folgt ebenso wenig einer amorphen Drehbewegung, keiner bewussten Destabilisierung der Erzählinstanz. Die Bewegung des beobachtenden Erzählers ist vielmehr nicht vorhanden, ebenso der Ort der Erzählung. Diese Auflösung der Erzählerfigur in eine vom Protokoll strukturierte Perspektive hat weitreichende Folgen. Was sich mit dem Beginn von Untersuchung an Mädeln andeutet, ist das Bauprinzip des protokollarischen Romans und reflektiert das poetologische Prinzip Drachs, das sich durch sein Werk wie ein roter Faden zieht. Dazu ist es zweckmäßig, die eröffnenden Sätze weiterzulesen : Es soll Wind gegeben haben, und diese Versicherung erscheint glaubhaft, wenn festgehalten wird, daß die Röcke, nämlich die unteren äußeren Kleidungsstücke der Weibspersonen, in Bewegung gerieten und die Anschauung der dann noch dürftiger bedeckten Oberschenkel zuließen, so daß sich Männer veranlaßt fühlten, ihre 156 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 7.
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Kraftwagen anzuhalten und auf das Angebot der beiden, an der noch unvollendeten Autobahn wartenden sogenannten Mädel einzugehen, indem diesen zur Mitfahrt die Wagentüren geöffnet wurden.157
Zuerst verschwindet das erzählende Subjekt hinter dem Protokoll. Es macht sich und seine Perspektive unsichtbar. Dann »klebt« die Darstellung geradezu an den Körpern der beiden Protagonistinnen und schließt diese ein. Das Protokoll beobachtet ihre Beschaffenheit, ihre Eigenschaften und Merkmale, das, was sie voneinander unterscheidet, und das, was sie gleichmacht. Der geschlossene Raum, das ist hier der undurchdringliche Regen, in dem die zwei »Mädel« stehen und aus dem der einzige Ausweg eine sich öffnende Wagentüre ist, die wiederum in einen neuen, in diesem Fall sexualisierten Raum, das Innere eines Wagens, führt. Der Auftakt zu der Untersuchung macht deutlich, dass sich die Bedeutung der Räume, in denen sich die Mädel befinden, in der wechselseitigen Beziehung zwischen Raum und Akteur verändert. Es findet also eine Raumkonstruktion statt, die allerdings weitgehend auf die topografischen Details verzichtet und stattdessen auf der Ebene des sozio-politischen Raums weit vordringt. Die wirkliche Bedeutung liegt in der Interpretation der Tatsachen, dass nämlich junge Frauen sich an jenem Ort aufhalten, der nicht ruchlos ist, sondern unbequem, jedoch dass er das ist, macht ihn wiederum ruchlos, gefährlich, denn hier passieren die Dinge, von denen noch die Rede sein wird : Vergewaltigung, Mord und Raub. Ihr Aufenthalt an einer Autobahnauffahrt gilt hier als »Angebot«, das Mitnehmen der Autostopperinnen als Verfügungsrecht. Es herrscht in der Drach-Rezeption Einigkeit darüber, dass die kritische Darstellung von Macht und Machtformen ein wesentlicher Bestandteil seiner Literatur ist, doch wurden selten Versuche gemacht, die Ursprünge dieser Macht dort zu lokalisieren, von wo sie ihre Effekte erzielt. Es scheint einfach zu sein, das Protokoll und die dahinter stehenden Institutionen dafür verantwortlich zu machen. Damit bleibt aber die Frage weiter bestehen, ob sich die Prozesse der Macht tatsächlich auf die Justiz, eine korrupte Exekutive oder allgemeiner auf eine lüsterne Männergesellschaft einschränken lassen. Vieles spricht dagegen, anzunehmen, dass es sich um eine einfache Aufteilung von Opfern und Tätern handelt, und vieles dafür, dass Drach ein sensibler Kenner von Machtprozessen ist und eine ausgesprochene Sensibilität für die Räume hat, wo sich diese nicht einfach lokalisieren lassen, um dort Machtverhältnisse grell zu beleuchten. Er zeigt, dass die Orte der Handlung im Zusammenspiel mit 157 Ebda.
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den Akteuren diese Machtprozesse hervorbringen, wie das obige Beispiel deutlich illustriert. Die Figuren der drachschen Literatur – die Rede ist vornehmlich von den Opfern, die immer die Protagonisten sind – sind Eingeschlossene. Sie sind zum größten Teil in erstarrten Räumen gefangen, wo sich ein Spiel der Macht bereits festgesetzt hat und im Lauf des Narrativs schmerzlich erfahrbar wird. Für sie gibt es keine Alternative als die, sich den Spielregeln zu fügen. Sei es die menschenleere Landschaft im Regen, die aus den Mädeln Freiwild für vorbeikommende Stechviehhändler macht, oder eine vom Kaiser auf eine Parkbank abbeorderte junge Frau, die eingeschlossenen Überlebenden in einem Atombunker oder die jungen Leute auf ihrer Erlustigungsfahrt auf der Donau. Immer setzt der Autor die Räume als lenkenden Bestandteil der Handlung ein, den weiteren Verlauf aufgrund ihrer Beschaffenheit vorwegnehmend. Diese Technik ruht auf Vorannahmen, die zu den entsprechenden Räumen bereits existieren und vom Autor nur aktiviert werden müssen, um auf ein auf den ersten Blick logisch strukturiertes Machtverhältnis hinzuführen. Raumkonstruktion funktioniert nicht nach geografischen oder topografischen Bedingungen, sondern nach anderen Gesichtspunkten und sie kommt ohne diese Figur aus, deren Perspektive die Gestalt der Literatur bestimmt. Die Erzählerfigur, der Protokollant, gibt die Verantwortung hierüber ab und bestätigt damit, dass er kein Augenzeuge des Geschehens ist. Der Raum, in dem die Handlung stattfindet, ist nicht durch die vermittelnde Figur strukturiert, sondern durch die Akteure in ihm, er steht für eine semantische Einheit, die mit den darin handelnden Figuren korrespondiert. An die Stelle der Bewegung und Immobilität der Vermittlungsfigur tritt nun die des Raumes, der bei Drach generell die Metapher des Gefängnisses darstellt. Das gilt für die starren Räume wie auch für die der Bewegung. Der Tanz des Pierre Coucou, der letzte Ausdruck seiner Kultur und seines Menschseins, die Tour des Zwetschkenbaum durch Gefängnisse und Irrenhäuser, die polizeiliche Abführung des Arthur Rimbaud oder die Bewegung der Mädel durch Erziehungsheime, Nachtclubs und Gefängnisse, immer wieder kehren die Figuren an ihren Ausgangspunkt zurück. Es scheint kein Entrinnen zu geben, vielleicht gibt es aber auch nur kein »Außen«. Vielleicht sind die drachschen Texte Abbilder oder Pendants der »Kontrollgesellschaft«, von der Deleuze spricht,158 der an Foucault anschließend meint, dass das »Außen« aufgehört hätte zu existieren. Wir sind immer »drinnen«, irgendwo und selten unbeobachtet. Die Institutionen der Überwachung haben an Schrecken verloren, seit klar geworden ist, dass 158 Vgl. Deleuze : Postscript on the Societies of Control.
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sie nur der sichtbare Bestandteil dessen sind, was sich in globalerer Form über das Recht und die Macht sagen lässt. Drach hat Heterotopien in den Blick genommen, dann die Institutionen der Überwachung und schließlich die Machtbeziehungen an den Orten der Biopolitik. Die Räume Drachs, um die es im Folgenden gehen soll, lassen ihren Figuren keinen Bewegungsspielraum. Die Situationen sind bekannt, manchmal alltägliche und meistens grauenerregende, die immer wieder nahelegen, dass sich das freie Subjekt aufgelöst hat und sich in klaustrophobischer Enge wiederfindet, in Zwängen, die nicht nur das Verhalten steuern, sondern den Körper einsperren. Vielleicht ist hier Drachs Vorliebe und Vorbild, der französische Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, sichtbar, und die Transformation in der deutschsprachigen Prosa, die insbesondere Kafka zu einem der meistrezipierten Autoren der modernen Literaturgeschichte gemacht hat, nämlich die Verwandlung des psychischen Gefängnisses gesellschaftlicher Konvention in das physische, räumlich strukturierte. »Das Gefängnis ist überall !«159, Drachs Räume vermitteln diesen Eindruck, oder vielleicht müsste man formulieren : Der Raum nimmt öfter als vermutet die Gestalt des Gefängnisses an. Die Räume setzen die Figuren fest und beobachten sie, lassen sie keine Sekunde aus dem Blick und operieren wie das berühmte Panopticon. Daneben sind sie aber auch noch eine rechtliche Instanz, sie verurteilen und beurteilen, sie kümmern sich um den biologischen Gehalt innerhalb ihrer Grenzen, vermitteln Regeln und die Bestrafung bei Zuwiderhandeln, sie nehmen die Täter aus der Pflicht und lassen die Opfer wie Täter erscheinen. Die Räume bei Drach haben vielfältigste Aufgaben und in ihnen schwingt immer eine Geschichte mit, aus der heraus sie argumentiert werden. Sie scheinen einen Generalzweck zu haben : Sie strukturieren Machtbeziehungen selbst dort, wo einst ein machtfreier Raum angestrebt wurde. Die folgenden Beispiele haben die Aufgabe, diese These zu illustrieren und die Literatur aus der Perspektive desjenigen zu lesen, der sich weniger um die Figuren als um die Räume kümmert, in denen diese agieren. Die Räume existieren nicht nur im Text, sondern schicken diesem ihren Prätext voraus. Drach stellt die Erwartungen, die an bestimmte Orte geknüpft sind, das, was sich dort zuzutragen hat, und das, was sich der Leser und die Leserin dort erwarten kann, als Tatsachen dar, als unausweichliche Konsequenz, wenn er beispielsweise die Vergewaltigung der Mädel im Auto als »Gemeingebrauch gegenüber jüngeren Autostopperinnen«160 beschreibt. Davon wird die Rede sein, auch davon, dass es 159 Foucault : Das Gefängnis ist überall, S. 236 f. (Anm. 58). 160 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 6.
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sich meistenteils um Räume der Gewalt handelt. Selbst wenn es vordergründig um so etwas Einfaches und Öffentliches wie eine Parkbank geht oder ein Donaudampfschiff, bleibt die Vorstellung vom Glück und vom gewalt- und machtfreien Raum Ironie oder eine Utopie, die hinter den Texten zu finden ist.
Im Garten und im Park Der Garten ist ein Raum des Friedens, der Produktivität und Entspannung gleichzeitig. Er ist das, was man als einen der ursprünglichsten kulturellen Stützpfeiler des Menschen ansehen könnte. Nicht zu Unrecht hat Robert Harrison seinem Essay über die Geschichte und Funktion des Gartens den Untertitel Ein Versuch über das Wesen des Menschen gegeben.161 Die Vorstellung des Paradieses ist in vielen Kulturen, den christlichen und islamischen besonders, mit dem Garten verknüpft. Die meisten sozialen Utopien beginnen mit der Anlage eines Gartens. Wie das Kapitel vorhin beschrieben hat, kann sich selbst anmaßende Herrschaft durch den Garten einen positiven, bewunderten Ausdruck verschaffen. Und natürlich ist der Garten, wie Foucault schreibt, »das älteste Beispiel einer Heterotopie, […] eine jahrtausendealte Schöpfung«162, sei er nun aus Pflanzen, aus Stein oder aus Wolle gemacht, wie der persische Teppich. Der Garten spiegelt immer Vollkommenheit, Schönheit und Fruchtbarkeit wider. Wesensverwandt und mit einer teilweise gemeinsamen Geschichte versehen ist der Garten mit der viel jüngeren Erfindung des Parks. Als Drach Das Skurrilspiel Sowas schrieb, das in einer Parkanlage spielt, genauer : auf einer und um eine Parkbank herum, hatten der Park und die Idee von Grünanlagen in der Stadt eine Geschichte von gut 200 Jahren hinter sich. Die Gründe und die Funktion, die Parks in den heutigen europäischen Städten haben, haben sich nicht wesentlich verändert seit dem Beginn ihrer Anlage im 18. Jahrhundert. Man musste auf den explosionsartigen Zuwachs der Stadtbevölkerung reagieren, der nach neuen städtebaulichen Konzepten verlangte. So entwickelte sich zunächst der Landschaftsgarten, dann der Park, Ausdruck einer um die Gesundheit der Bevölkerung besorgten Regierung, die den vom Stein dominierten Stadtraum einen Garten geben will. 161 Robert Harrison : Gärten. Ein Versuch über das Wesen des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. München : Hanser 2010. 162 Foucault : Heterotopien, S. 14 f. (Anm. 33).
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Dabei ging es vor allem um pädagogische, sanitäre und sozialhygienische Ideen. Der Anblick der Natur sollte den Stadtbewohner zivilisieren, »ihn unmerklich von den unedlen und kostbaren Arten der städtischen Zeitverkürzungen abziehen« (C. C. L. Hirschfeld, 1779) und ihm zur Sparsamkeit verhelfen.163 Als die zunehmende Industrialisierung intensivere Formen von Urbanität produzierte, traten andere Aufgaben hinzu. Der Park wird als ein Stück Natur wahrgenommen, das zwischen Häuserschluchten und Fabrikshallen idyllische Oasen ausbreitet, eine Gegenwelt zur grauen und der Gesundheit abträglichen Wirklichkeit des Stadtlebens. Eine Demokratisierung der Bedürfnisse der Bevölkerung stellt die Öffnung der vordem nur einer bestimmten Schicht zugänglichen kaiserlichen Privatgärten unter Joseph II. dar, die Eröffnung des Praters 1866 und am 1. Mai 1775 die Eröffnung des vergrößerten Augartens als eines »allen Menschen gewidmete[n] Erlustigungs-Ort[es]«164. Ebenezer Howards Konzept einer Gartenstadt vervollständigt die Idee, die hinter dem Park steht, zu einem einheitlichen Lebenskonzept. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, konfrontiert mit dem Phänomen der Landflucht, sieht er in der Dichotomie Stadt – Land die Ursache für verminderte Lebensqualität und beschreibt als Alternative eine hybride Form, die allen Bedürfnissen gerecht werden soll : There are in reality not only, as is so constantly assumed, two alternatives – town life and country life – but a third alternative, in which all the advantages of the most energetic and active town life, with all the beauty and delight of the country, may be secured in perfect combination.165
Howard sieht die Vorteile, die das Stadtleben bietet – soziale Interaktion, Arbeitsplätze, Unterhaltungsmöglichkeiten – ebenso wie die des Landlebens – die Schönheit der Natur, frische Luft, die Langsamkeit des Lebensrhythmus – und sucht die jeweiligen Nachteile zu eliminieren. Bemerkenswert an seiner Utopie, die tatsächliche Realisationen erfahren hat,166 ist der Versuch, alle 163 Vgl. und zitiert nach : Rupert Doblhammer : Die Idee des sozialen Grüns im 20. Jahrhundert. Gartenkunst. Bilder und Texte von Gärten und Parks. 284. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien : Eigenverlag 2002, S. 174 f., S. 174. 164 Hubert Kaut : Wiener Gärten. Vier Jahrhunderte Gartenkunst. Mit 58 Abbildungen, 19 Textillustrationen und einem gefalteten Plan von Wien von 1547. Wien : Bergland 1964, S. 45. 165 Ebenezer Howard : Garden Cities of To-Morrow. London : Swan Sonnenschein 1902, S. 15. 166 Vgl. Internetauftritte von Gartenstädten z.B. in England, gegründet von Ebenezer Howard : Rosamond Allwood/Margaret Pierce : www.letchworthgardencity.net (zuletzt eingesehen am
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Lebensbereiche in die Konzeption eines Lebensraumes einzubeziehen. Arbeit, Freizeit und Unterhaltung existieren wie Fabriken, Bauernhöfe und Freizeitanlagen in Nachbarschaft, der Raum ist um ein Zentrum herum konstruiert, seine Teile durch die Entfernung von diesem Zentrum gekennzeichnet. Das Schema bevorzugt eine symmetrische Aufteilung. Über das Konzept des Parks als Natur in der Stadt geht Howards Konzept der Gartenstadt (»GardenCity«) weit hinaus. Sie ist in reinem Sinne das, was Foucault als Heterotopie bezeichnen würde. Ein künstlich angelegter Raum, der in seiner Architektur gleichzeitig Sozialform ist. Hier sollen hohe Löhne und billige Mieten Wohlstand sichern, gepaart mit den Annehmlichkeiten kleinstädtischer und ländlicher Abwechslung und Naturerfahrung. Warum allumfassende Stadtplanung heute kaum eine Rolle spielt, mag damit zusammenhängen, dass sich die Planbarkeit von sozialen Gemeinschaften als Utopie herausgestellt hat, zu deren Umsetzung es vor allem an Wissen über soziale Prozesse fehlt. Stattdessen konzentrieren sich Städteplaner heute eher auf kleinere Einheiten innerhalb des Raumes Stadt.167 Während die Gartenstadt als Ganzes künstlich angelegt ist, präsentiert sich im Garten Künstlichkeit als Spiel mit dem Natürlichen : Der Garten als Ort der Kunst und der Künstlichkeit – und er ist dies umso mehr, je mehr er reine Natur zu sein vorgibt – bringt die Zeichen der Natur in eine bestimmte Ordnung, er macht die Natur gerade durch die Anordnung lesbar, er ist, könnte man etwas plakativ behaupten, ein Buch der Natur […].168
Schmidt-Dengler streicht die unzähligen Momente der Entscheidung in der Literaturgeschichte heraus, die im Garten stattfinden. Da der Garten Arrangement ist, hat jedes Teil von ihm seine Entsprechung, er kann Spiegel des Inneren der Figuren sein oder ihr Gegner, ihre Entscheidung oder ihre Schwäche symbolisieren. Er ist Rückzugsgebiet für Denker und Ort der Begegnung, insbesondere der romantischen, lustvollen Natur. »Er verspricht Geborgenheit, 4.1.2016) oder in Deutschland : Clemens Galonska : http://www.dresden-hellerau.de/src/heller au.html (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 167 Vgl. Richard Sennett : The Fall of Public Man. Cambridge/London/New York : Cambridge University Press 1977, S. 294. 168 Wendelin Schmidt-Dengler : Eine kleine Literaturgeschichte des Gartens. Gartenkunst. Bilder und Texte von Gärten und Parks. 284. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien : Eigenverlag 2002, S. 12–33, S. 13.
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Abb. 2 : Im Zentrum liegt ein ausgedehnter Garten. Die Anlage regelt durch ihre Gestalt die Arbeit und Freizeit der 32.000 Bewohner. Symmetrie und in Architektur übersetzte Sozialformen bestimmen den Grundriss der Gartenstadt. (Quelle : Ebenezer Howard : Garden Cities of To-Morrow, 1902, S. 22. Zitiert im Literaturverzeichnis.)
kann aber auch – und das bezeugen die Gärten der Romantik – bedrohlich und unheimlich werden.«169 Ein stoffgeschichtlicher Paradigmenwechsel bringt den Garten im 20. Jahrhundert näher an das Individuum. Als Ort sozialer Interaktion korrespondiert der literarische Garten mit der städtischen Parkanlage. Tschechows Der Kirschgarten ist der Angelpunkt der Familie und geht – gleichsam mit der Zerstreuung der Familie – unter, als Rest des herrschaftlichen Anwesens, welches als ästhetisches Prinzip des Gartens galt, während Hofmannsthal zur etwa selben Zeit, 1906, den bürgerlichen Park als die Essenz urbanen Lebens preist.170 Hofmannsthal nimmt insbesondere Bezug auf seinen ästhetischen Wert, die Wichtigkeit seiner Details und den der Natur inhärenten Gestaltungswillen, der mit dem menschlichen an diesem Ort zusammenarbeitet. Sein Text führt zurück zur jahrhundertealten Funktion des Gartens, die Landschaft zurück in die Stadt zu holen. Diese ist gekennzeichnet durch Harmonie, wie sich schon in ihrer 169 Ebda. S. 14. 170 Vgl. Hugo von Hofmannsthal : Gärten (1906). In : H. v. H.: Reden und Aufsätze 1. 1891–1913. Frankfurt : Fischer 1979 (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 577–584.
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Etymologie andeutet : Das Wort »Landschaft« leitet sich von einem holländischen Fachbegriff der Malerei, »landscap«, her, meint also eigentlich den Anblick, der dem eines Gemäldes gleicht.171 Die Anthropologie gesteht der Landschaft die Fähigkeit zu, soziales Leben abbilden zu können, indem Vorder- und Hintergrund im bildlichen Arrangement strukturiert werden. Hirsch definiert im Vordergrund das aktuelle Leben, den Platz und das Bild. Der Hintergrund verweist aber auf alle Möglichkeitsformen, die sich aus dem Vordergrund ergeben, die Utopie.172 Auch bei Hofmannsthal gewinnt die Utopie im Garten definierende Bedeutung, seine Gestaltung sei – wie bei Foucault – mit der schriftstellerischen Tätigkeit zu vergleichen : Der Gärtner tut mit seinen Sträuchern und Stauden, was der Dichter mit den Worten tut : er stellt sie so zusammen, daß sie zugleich neu und seltsam scheinen und zugleich auch wie zum erstenmal ganz sich selbst bedeuten, sich auf sich selbst besinnen.173
Der Garten gewinnt damit mehr als den vordergründig metaphorischen Charakter. Seine künstliche Landschaft umschließt einen Ort, der in sich strukturiert ist und strukturierend wirkt. Schon der Barockgarten hatte das Verhältnis Mensch – Natur auf ein komplexes Niveau gehoben, allerdings nie, ohne die Künstlichkeit, mit der er angelegt ist, zu verleugnen. Die Bewegungsperspektive setzt immer ein Individuum voraus, das sich im Garten befindet, und der Anblick selbst strukturiert die Formen erst zu dem, was sie sind, der moderne Park dagegen ist die Verschriftlichung eines sozialen Orts, der Projektionen der sich in ihm befindlichen Menschen produziert. Seit der Renaissance verändern sich der Gebrauch und das Aussehen des Gartens fundamental und beziehen den Menschen nicht nur als Betrachter und Betrachterin in seine Konstruktion mit ein.174 Künstlichkeit wird hergestellt auf der Ebene Mensch – Natur im Sinne einer verspielten Nachahmung derselben und auch auf der Ebene Mensch – Sozietät. Der Garten ist gewissermaßen die Folie, vor der sich das Geschehen abspielt, die aber mehr als den Rahmen abgibt, im Sinne des Heterotopiekonzepts, welches davon spricht, dass der Ort die Handlungsweisen mitbestimmt. War 171 Vgl. Eric Hirsch : Introduction. In : E. H./Michael O’Hanlon (Hg.) : The Anthropology of Landscape. Perspectives on Place and Space. Oxford : Oxford University Press 1995, S. 1–30, S. 2. 172 Ebda., S. 4. 173 Hofmannsthal : Gärten (1906), S. 579–580. 174 Vgl. Kaut : Wiener Gärten, S. 11.
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der Garten früher Ausdruck herrschaftlichen Willens, der den Raum großzügig an das Bürgertum weitergab, so ist er nun ganz von diesem eingenommen und gestaltet. Das Bürgertum schafft sich hier Abbilder, die nur noch ganz entfernt an die Gartenarchitektur adeliger Häuser erinnern (aus der Herkulesstatue wird der Gartenzwerg), aus denen die Parks hervorgegangen sind. Insofern ist Kaut hier nur bedingt zuzustimmen, wenn er schreibt : Wenn wir unsere historische Untersuchung über Werden und Wesen der Wiener Gartenkunst zusammenfassen, kommen wir zu folgenden Schlussfolgerungen : Funktion und Bedeutung sowie die Ursachen ihrer Entstehung waren immer die gleichen : als Erholungs- und Erbauungsort gedacht, entsprangen sie dem Bedürfnis des Menschen nach Schönheit, um in der zur Kunst gewordenen Natur über den Umweg der Kultur zu ihr zurückzufinden.175
Der Park wird den Menschen, die ihn benützen, ähnlicher. Er legt im Verlauf der letzten Jahrhunderte seine Repräsentationsmerkmale ab und wird zur Architektur, die der sozialen Verfasstheit seines bürgerlichen Publikums ähnelt und hier besonders die Bereiche widerspiegelt, die das Dunkle und Abgeschlossene symbolisieren. Der Park der literarischen Romantik hatte im besonderen Maße dazu gedient, eine psychische Disposition zum Ausdruck zu bringen. Vor allem in der Nacht, Eichendorffs Das Marmorbild sei hier erwähnt, werden die toten Sehnsüchte und Wünsche des Tages in Garten und Park lebendig. Ab dem 19. Jahrhundert sind öffentliche Parks zudem zu Tages- und Nachtzeiten zugänglich und damit Ort sehr verschiedener Betätigungen, die über die bloße geistige Erbauung durchaus hinausgehen : Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der städtische Park zunehmend zur öffentlichen Nische für verschiedenste Formen illegitimer, »unordentlicher« und heimlicher Sexualität. Homosexuelle, Prostituierte und Kokette treffen sich mit ihren Freiern in den Grünzonen der Städte, oft sind es Plätze an den Peripherien oder entlang von Verkehrsadern, aber auch der bürgerliche Stadtpark wird Paradierplatz erotischer Muskelspiele.176
175 Ebda., S. 59. 176 Gisela Steinlechner : Der Garten als Schauplatz des Begehrens. Gartenkunst. Bilder und Texte von Gärten und Parks 284. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien : Eigenverlag 2002, S. 204–209, S. 204.
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Die Bank im Park ist noch einmal eine Verdichtung der dargestellten Eigenschaften des Parks. Sie schützt eine Intimität vor – oft flankiert von Büschen, aber meistens auf den Weg ausgerichtet –, die sie eigentlich nicht besitzt, achten doch ihre Erbauer darauf, dass sie zwar nicht unmittelbar einsichtig bleibt, aber doch auch nicht allzu einladend für ungebührliches Verhalten wird. Jemand, der in seinem Garten eine Sitzgelegenheit installiert, verfolgt einen anderen Zweck, sucht vielleicht eine abgeschlossene Nische, einen auf den Beobachtungspunkt ausgerichteten, geschützten Platz. Moderne Stadtparks hingegen demonstrieren in der Strategie der Aufstellung von Bänken die Absicht, den Besucher für nicht länger am Ort zu halten, als eine Verschnaufpause ausmacht. Der moderne Park ist ein Bewegungsraum. Die Parkbank ist ein offener und geschlossener Raum gleichzeitig. Ihr Vorhandensein deutet darauf hin, dass der Park nicht nur zum Flanieren da ist, sondern Treffpunkt für Menschen, die aus verschiedenen Gründen verweilen. Und noch etwas kennzeichnet die Parkbank : Sie ist ein transitorischer Raum zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Ein eigener kleiner Platz des privaten Zusammenseins inmitten einer Öffentlichkeit, der sich nur in der Umgebung der Großstadt so entwickeln konnte. Später wird davon noch ausführlicher die Rede sein, wenn es darum gehen wird, wie sich der öffentliche Raum in den privaten Raum hineinschiebt und wie dadurch zwei distinkte Räume auf demselben Platz entstehen können, wofür auch Das Skurrilspiel Sowas ein glänzendes Beispiel abgibt und die Bedeutung unterstreicht, die die Konstruktion des Raumes bei Drach abgibt. Das Stück Das Skurrilspiel Sowas, 1965 erstmals erschienen und im selben Jahr in Augsburg uraufgeführt, geht auf einen in den österreichischen Medien breit rezipierten Mordfall zurück. Im Zentrum des Interesses stand der Fakt, dass die Leiche des Opfers hinter dem russischen Denkmal am Schwarzenbergplatz in Wien gefunden wurde, das zu diesem Zeitpunkt unter ständiger Polizeibewachung stand. Diese unmittelbare Nähe der Polizei bei der Tat, dass dreimal ein Lokalaugenschein veranstaltet wurde und der Täter nicht gefunden werden konnte, inspirierten Drach, den Stoff für ein Theaterstück zu verwenden,177 das sich »nicht auf die Auf klärung des Falls oder den Prozeß [konzentriert], sondern, in skurril skelettierter Form, auf die Inszenierung des
177 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler : Wider die verzuckerten Helden. Ein Gespräch mit Albert Drach. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach. Graz : Droschl 1995 (= Dossier 8), S. 9–27, S. 15.
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Mordes«178. Ein anderer Einfluss auf den Text ist zweifellos Karl Kraus’ Sittlichkeit und Kriminalität.179 Beim Text handelt es sich um eine Parabel in drei Akten, die jeweils nur Variationen eines einzigen Aktes darstellen. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis zwischen Exekutive, Jurisdiktion und den Medien. Die Hauptfiguren sind zwei Polizisten, als X und Y bezeichnet, deren Aufgabe es ist, eine Parkbank zu bewachen und später die Morde aufzuklären, die ebendort während ihrer Anwesenheit passieren. Die Akte eins und zwei verlaufen spiegelbildlich und enden jeweils mit dem Mord an einem Mädchen, der Akt drei hingegen mit dem Tod der Polizisten. Jeder Akt beginnt mit dem Dialog der zwei Polizisten, dem sich die anderen Figuren hinzugesellen. Die Leiche verschwindet bei der ersten Tat, der Täter entkommt beide Male ungesehen, im dritten Akt erschießen die Polizisten einander im Versuch, die ersten beiden Taten nachzustellen. Den König von Puppantal, so stellt sich bald heraus, gibt es nicht, das Warten auf ihn ist also sinnlos. Ein Auto fährt mehrmals vorbei, aus dem vermutlich geschossen wird. Im dritten Akt tauchen Kameraleute auf, die in das »Reenactment« der Tat eingreifen. Jedes Mal werden Recht und Gerechtigkeit reflektiert, die Figuren sprechen als Stellvertreter ihrer Rollen, dementsprechend ist von einer Handlung in diesem Sinne schwer zu sprechen. Eher handelt es sich um drei Nachstellungen derselben Tat aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Figuren tragen keine Namen, sondern treten als Beteiligte an dem Verbrechen auf : die Polizisten, das Mädchen, der Autofahrer, der Vormund, der Onkel usw. Wie an dem Versuch, einen Plot zu fassen, deutlich wird, ist die Konstruiertheit der Szene ein entscheidendes Moment des Skurrilspiels. Obwohl im juristischen Prozess Plausibilität eine verstärkte Rolle zugesprochen wird, ist diese im vorliegenden Fall unterlaufen. Sich dem Stück auf der Ebene der Narration zu nähern, macht deshalb wenig Sinn. Vielmehr ist danach zu fragen, welchen Zweck die Anordnungen haben, die Drach hier vornimmt, denn mit der Raumaufteilung korreliert eine schicksalhafte Figurenkonzeption, das heißt, die Aufteilung in die Gruppen Opfer und Täter ist in die Raumkonstruktion eingeschrieben. Die Regieanweisungen legen nahe, dass die starre Positionierung für sich eine Semantisierung des Raumes darstellt, unabhängig von der ohnehin gegebenen Semantisierung, die das Theater als Raum ergibt. Man wird am 178 Schobel : Ein wütender Weiser, S. 446 f. 179 Vgl. Reinhard Schulte : Albert Drachs Stücke. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach, S. 123–163, S. 141.
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Beispiel des Stücks Gottes Tod ein Unfall später noch einmal sehen, dass Ironie in Drachs Theater durch die Konstruktion eines Raums im Raum realisiert ist. In beiden Texten geht es darum, dem Theaterraum einen weiteren semantisch codierten Raum einzuschreiben, in dem auf etwas außerhalb der Inszenierung verwiesen wird. Im Fall Sowas ist es der polizeiliche Lokalaugenschein, beziehungsweise die mediale Nachstellung, die als Inszenierung in die Inszenierung eingeht. Schulte weist in diesem Sinne auch darauf hin, dass sich sowohl die Figuren auf der Bühne als auch das Publikum in der Zuschauerrolle finden.180 Der eigentliche Akt des Mordes ist damit ein Spiel, dessen Spielcharakter aufgelöst wird. Von zentraler Bedeutung ist die Dimension der Erotik, die, häufig bei Drach, ein Leitthema abgibt, und zwar, indem sie eine Form in der Nähe der Perversion annimmt. Wie im historischen Fall von 1958 ist die Haltung des Publikums geprägt von der Vorstellung des Lustmordes. In Drachs Stück wird zum Zwecke der Erzeugung voyeuristischer Erwartungshaltungen dieser wiederholt angekündigt, das Publikum des Stückes wie der medialen Berichterstattung im Jahr 1958 antizipieren gemeinsam mit dem Opfer : Er [der König] liebt unser Land so sehr und ist von seinen Sitten so entzückt. Da ist es möglich, daß er auch den Mord eines von ihm ohne behördliche Behinderung mißbrauchten Mädchens schließlich für erlaubt hält.181
Dies also kurz vor Tod der Figur des Mädchens durch einen aus einem vorbeifahrenden Auto abgegeben Schuss, der damit mehrere Erwartungshaltungen der Zuschauenden (Polizisten, Publikum, Vormund) enttäuscht. Die Motivik erinnert an Kraus’ Darstellung von Prozessen, in denen »Sittlichkeit« als Indiz in Gerichtsprozessen verwendet wird.182 Kraus geht in seinen Aufsätzen insbesondere auf das ein, was Drach in Untersuchung an Mädeln nachzeichnet, aber auch im Skurrilspiel Sowas ins Zentrum rückt : die Lust an der öffentlichen Verhandlung der Sittlichkeit der Opfer von Verbrechen, die im misogynen Umkehrschluss das Verbrechen erklären soll. Auch das Mädchen in Sowas ist 180 Vgl. ebda. 181 Albert Drach : Das Skurrilspiel Sowas. Eine Verkleidung in drei Begebenheiten an gleichem Schauplatz zu verschiedenen Zeiten. In : A. D.: Das Spiel vom Meister Siebentod und weitere Verkleidungen, S. 71–112, S. 81. 182 Vgl. Karl Kraus : Sittlichkeit und Kriminalität. 2. Aufl. Wien/Leipzig : Die Fackel 1908 (= Ausgewählte Schriften 1).
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»bereit, auf alles einzugehen, was etwa der Täter beabsichtige«183, der Blick des Publikums ist abgelenkt vom Mord und auf die »Moral« gerichtet. Ihre Sexualität ist eine entscheidende Kraft im Spiel, die am Ende durch den Mord ersetzt wird. Kraus schreibt : Wozu Polizeikommissäre auf der Welt sind, erkennt man also nicht nur, wenn Raubmörder und Taschendiebe entwischen. Aber daß sie auf der Welt sind, kann man sich nur daraus erklären, daß doch hin und wieder noch etwas geschieht, was »das Schamgefühl gröblich zu verletzen geeignet« ist.184
Die Landschaft, die sich vor dem Auge des Publikums und dem der Polizisten aufspannt, ist eine andere, obwohl beide zusehen bei dem Spiel. Vordergrund und Hintergrund sind schattierte Flächen, die zwischen Möglichem und Wirklichem changieren. Die Konstruktion der Landschaft in Sowas erscheint im ersten Anblick flach, einfach und birgt doch schon die Beziehungskonstituenten, unter denen die auftretenden Figuren stehen. Was wir vom Ort der Handlung wissen, ist in der Regieanweisung am Beginn geschildert : Der Schauplatz ist eine Parkanlage mit Gesträuchern und Bäumen am Rande einer Verkehrsstraße, links im Zentrum eine Bank, im Bild eins und zwei mit, im dritten Bild ohne Lehne, im Hintergrund Gebüsch, rechts in der Mitte sind Gehsteig und Fahrbahn sichtbar.185
Die Aufteilung auf der Bühne entspricht dem Schema von Wirklichkeit und Möglichkeit, wie es sich im Verlauf des Stücks entwickelt. Die Polizisten stehen bei der Bank, um sie zu bewachen. Aus ihrem Gespräch ist zu entnehmen, dass ein »Exterritorialer«, ein König von Puppantal sich hier dem Vergnügen ergeben soll, ein minderjähriges Mädchen zu missbrauchen, das zur angegebenen Zeit eintrifft, um auf diesen zu warten. Der Tathergang dieses Missbrauchs wird im Dialog der Figuren durchgespielt, ehe sich ein Wagen nähert und mit dem Schuss aus demselben die entworfene Handlung verunmöglicht, indem das Mädchen dabei erschossen wird, bevor es zu dem zuvor skizzierten Missbrauch kommt. Das Stück beginnt aber damit, dass die Polizisten über die Fertigstel183 Drach : Das Skurrilspiel Sowas, S. 89 (Anm. 181). 184 Karl Kraus : Die Briefe der Prinzessin von Coburg. Die Fackel 5/153 (1927), S. 18. 185 Drach : Das Skurrilspiel Sowas, S. 71 (Anm. 181).
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lung eines gelben Strichs sinnieren, der offenbar die Region der Parkbank von der Fahrbahn abtrennen soll und noch nicht fertiggestellt wurde. Im zweiten Akt ist diese für die Polizisten so wichtige Grenze gezogen : Polizist Y : Ich habe meinen Befehl, daß dieser gelbe Strich nicht überfahren werden darf. Und wer ihn überfährt, muß entweder zahlen oder er wird angezeigt. Dann zahlt er doppelt. Polizist X : Das ist in der Ordnung. Wenn aber so ein Fremder kommt, der nicht weiß, was so ein gelber Strich für uns bedeutet.186
Auch die Einheimischen kennen die Bedeutung des Strichs nicht. Ein solcher ist auch gleich bei der Gesetzesübertretung stellig gemacht und wird bestraft. Es stellt sich später heraus, dass über die Verhandlung seines Vergehens darauf vergessen wurde, dass es sich um einen des Mordes verdächtigen Fahrer gehandelt hat. Der gleiche Wagen taucht kurz darauf wieder auf, aus ihm wird auf das zweite Mädchen geschossen, wieder entgeht er den Polizisten ebenso wie der »Onkel«, der zweite Schütze und Begleiter des Mädchens. Aus der Sphäre des Wirklichen, der Straße, könnte man sagen, wird in die Sphäre des Möglichen geschossen. Ebenso von dort aus dem Gebüsch. Der Mord passiert, weil die Täter exterritorial sind, weniger aus Gründen der Diplomatie als deshalb, weil sie sich in voneinander abgegrenzten Gebieten befinden, außerhalb der Sphäre der Bank. Das »Außen« gibt es doch, aber nur für eine privilegierte Gruppe. Wer die Mitglieder dieser Gruppe sind, lässt Drach freilich offen. Stattdessen wird aus der Parkbank ein »anderer Raum«. Der Dichte der Charaktere steht die Enge des Raumes gegenüber, der auf die unmittelbare Umgebung der Parkbank beschränkt bleibt. Von dort bezieht der Text auch wesentliche Bedeutungselemente. Mädchen : Seine Majestät ist über unsere Gemütlichkeit begeistert. Sie hat das Leben und Treiben in den Stripteaseclubs, in den Bars und bei den Heurigen studiert. Sie möchte nun auch, wie es Brauch und Sitte ist, noch ein Rendezvous auf einer Bank auskosten. Und darum hat es uns dazu ausersehen, damit sie dieses gute und billige Vergnügen ungestört genießen kann.187
186 Ebda., S. 83. 187 Ebda., S. 78.
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Der Park ist halböffentlicher Raum, der der illegitimen Sexualität eines bürgerlichen Publikums zur Verfügung steht. Das Recht erstreckt sich auf diesen Raum, die Minderjährigkeit des späteren Opfers ist Thema des Dialogs. Die Exekutive ist dazu da, eine rechtswidrige Handlung zu ermöglichen, denn der König sei »exterritorial«, wie es heißt, das Gesetz hat für ihn keine Gültigkeit. Für die öffentliche Moral stellvertretend ist der Vormund des Mädchens anwesend, der allerdings stumm bleibt und die Abläufe und Dialoge nur kommentiert, als »quasiöffentliche Meinung«, die sich entrüstet und kurz vor der Tat verschämt ins Gebüsch flüchtet : Mädchen : Der König hat nicht nur von unbestraft gebliebenen Kinderschändungen, sondern auch von einschlägigen Morden gelesen. Und ich möchte noch nicht sterben. Ich bin so jung. Vormund unterstreicht die Forderung durch lebhafte Gesten.188
Von dort feuert er einen der tödlichen Schüsse ab, so wie der Onkel im zweiten Akt. Die Bank spielt hier eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Rolle. Einmal ist sie als Ort »erlaubter« Misshandlungen vorgestellt, dann wirkt in ihr etwas, das die Handlung ins Unwirkliche übersetzt. Der Text ist um sie herum angeordnet, wenn sie auch per se keinen Einfluss auf die Handlung ausübt, ist sie Teil davon, die Ausgangssituation und der Punkt, an den sie zurückkehrt : Polizist X : Heute haben wir die Bank. Polizist Y : Ja, diese Bank. Polizist X : Es ist keine gewöhnliche Bank. Polizist Y : Nein, sie ist außergewöhnlich. Polizist X : Heute ist sie es.189
Zuerst ist die Parkbank hier utopischer Ort männlicher Sexualfantasien mächtiger Potentaten, die minderjährige Mädchen zum Stelldichein bestellen, oder Ort des Treffens von Prostituierten mit ihren Freiern. Die Geschichte des ersten Aktes ist nur Vorwand. Da die Perspektive die der Polizisten ist, erscheint sie als das, was als Befehl an die pflichtbewussten Wachorgane weitergegeben wird. Man hat sie konstruiert, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, ein Trick, um einen Mordfall zu bekommen, der beachtet wird. Im dritten Akt entschlüs188 Ebda., S. 76. 189 Ebda., S. 74.
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selt sich das Vorhaben, als sich die beiden Kameraleute, identisch mit den Mördern aus Akt 1 und 2, als Drahtzieher entpuppen, die sich nicht durch Zufall an alles erinnern können, wie es geschah, und die am Schluss auch die Waffen der Polizisten manipulieren, sodass sich diese, im Versuch, einen Verbrecher zu finden, gegenseitig erschießen und dabei auch noch makabre Tourismuswerbung machen : Zwei tote, an Bäume gelehnte Polizisten halten ein Spruchband mit der Aufforderung, zu morden. Drachs Stück ist unheimlich, weil es die Exekutive als Hampelmänner der Medien und der öffentlichen Meinung darstellt und den Ort des Parks und die Zeit des Zwielichts wählt, um eine Zwischenwelt herzustellen, in die die Wirklichkeit als »Spiel« eindringt. Der Spielcharakter der meisten Stücke Drachs ist eine Abwendung vom bürgerlichen, auf das Individuum gerichteten Drama hin zum antiillusionistischen Stück.190 Der Untertitel, »Skurrilspiel«, weist schon darauf hin, dass die Handlung »verbildlicht, verzogen und verzerrt«191 sein würde, und so ergeht es den Figuren, dass sie entindividualisiert als »Mädchen«, »Kameramann 1« etc. benannt sind. Dem Raum bleiben die Identifikationsmerkmale erhalten, seine Funktion aber ändert sich während des Stücks, verbunden mit den Erwartungshaltungen, die er beim Publikum evoziert. Wendelin Schmidt-Dengler hat den Garten der Literatur einen »heiligen Raum« genannt, vor dem »das Profane haltmacht«.192 Foucault bezeichnet ihn als Utopie, in der alle Schönheit der Welt versammelt ist.193 Drach dagegen deutet den heiligen Raum vollständig um als den Raum, in dem ein Ausnahmerecht gilt. Er nützt die Ambiguität des Parks aus, um eine radikal eindeutige Situation zu schaffen. Er zerstört die heterotopen Qualitäten, die der Park haben könnte, und ersetzt den Raum um die Bank herum durch die erschreckende Utopie, die auch dann noch erhalten bleibt, als sich längst die Wirklichkeitsmacht einer auf Blitzlichteffekt zielenden Medienmaschinerie dort durchgesetzt hat. Eine Heterotopie ist sie am Anfang deshalb, weil sie als solche gekennzeichnet wird. Das Mädchen spricht die auf eine scheinbare Selbstverständlichkeit gegründete Erwartung aus, auf der Bank wenn nicht einen Freier, so einen, der nur aus Standesgründen nicht so genannt werden darf, zu erwarten. Im 190 Vgl. Volker Klotz : Etwas über Bühnenstücke von Albert Drach. Namentlich über Das I und Meister Siebentot. Prozesse. Mitteilungsblatt der Internationalen Albert Drach-Gesellschaft 1 (1998), S. 4–13, S. 5. 191 Ebda. 192 Schmidt-Dengler : Literaturgeschichte des Gartens, S. 27 (Anm. 168). 193 Foucault : Heterotopien, S. 15 (Anm. 33).
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zweiten Akt ist sie eine zukünftige Mitarbeiterin der Sittenpolizei, deren erster Dienst der ist, als »Lockvogel« auf derselben Bank Platz zu nehmen wie das Mädchen vom Vortag. In beiden Fällen ist die Nähe zur Prostitution im Dialog dargestellt, im zweiten Akt heißt es : Polizist X : Was haben Sie da bei angehender Nacht auf dieser Bank ein Luftbad zu nehmen ? Zeigen Sie Ihre Karte ! Mädchen : Was für eine Karte ? Polizist X : Ihre Karte, die Sie berechtigt, dieser Beschäftigung nachzugehen. […] Polizist X : Und Sie können mit achtzehn Jahren nicht so naiv sein, daß Sie uns glauben machen wollen, Sie möchten hier ein Luftbad nehmen.194
Im dritten Akt schließlich ist das Mädchen vom Land. Das, was hinter der oberflächlichen Diskussion um Sicherheit und Sittlichkeit leuchtet, drückt sich in der selbstbewussten Haltung der Mädchen aus, die den Ort Parkbank für sich reklamieren. Von den zwei wesentlichen Perspektiven, die sich auf den Ort ergeben, wird die der Polizisten schwerer gewichtet. Der Ansicht, der Park sei Ort für Mord und Vergewaltigung, steht das Auftreten der Mädchen gegenüber. Wie in anderen Stücken Drachs ist das Skurrilspiel auch ein Spiel im Spiel, dem absurden Theater zwar nahe, aber um eine moralische Komponente angereichert.195 Die Frage, die zur Verhandlung steht, ist, wie in »Untersuchung an Mädeln«, das in schwesterlicher Beziehung zum Thema des Skurrilspiels steht, ob die Protagonistinnen über ihre eigene Sexualität frei verfügen können. Es wird deutlich, dass der Raum, in den sie gewaltsam gezwungen werden, bereits besetzt ist von der Fantasie der männlichen Figuren. Den Polizisten, die der Parkbank unmissverständlich den Anstrich des Unerlaubten geben, entgeht all das, während sie sich um die Sittlichkeit der Mädchen Sorgen machen. Diese ist in ihrer Bedeutung für die Polizisten über den Mord zu stellen. Das alles passiert im Skurrilspiel in dreifacher Ausführung und bleibt um die Parkbank als Ort des Schicksal- und Parabelhaften angeordnet. Der Park ist zum erstarrten Raum geworden, ein gelber Strich schreibt ihm seine Grenzen ein und die positive Kraft der Sexualität, die die Mädchen ausstrahlen, kann nur in ihrem Mord zum Schweigen gebracht werden. Schulte schreibt zu diesem Text : »Das Skurrilspiel ist nach dem Satansspiel die genialste Darstellung der in der Erotik
194 Drach : Das Skurrilspiel Sowas, S. 88 (Anm. 181). 195 Vgl. Schobel : Ein wütender Weiser, S. 448 (Anm. 11).
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der Frau beschlossenen Veränderungs- und Überlebensstrategien.«196 Die Parkbank wiederum hätte das Potenzial, eine Heterotopie zu sein, in deren Schutz sich eine machtfreie Sexualität entfalten kann. Foucault findet ein sehr ähnliches Beispiel für die von ihm genannten Abweichungsheterotopien, nämlich das amerikanische Motel, das vielleicht eine ähnliche Rolle spielt wie die unbeleuchtete Parkbank zur Nacht. Diese Möglichkeit wird nur sichtbar, wenn man Drachs Text gegen den Strich liest. Dann wird auch klar, dass es Drach nicht nur darum geht, die »absolut Bösen«197 und deren Spiel darzustellen, sondern in der Möglichkeitsform eine Utopie heraufzubeschwören, wie sie nur in der Literatur möglich ist. »Die Wiederkehr des immer Gleichen, das sich in seinem Wiederkehren stetig wider den Protagonisten kehrt – im Fall der Mädel [und Mädchen] gegen die Protagonistinnen –, korrespondiert mit Drachs poetischem Credo.«198 In seiner Prosa und seinen Theaterstücken sind die Orte oftmals erstarrte Fallen, der Raum ist aufgeteilt und vergeben. Im Folgenden sollen Beispiele anderer »starrer« Räume die Vorstellung vom politischen Raum konkretisieren und zeigen, welche Potenziale die literarische Konstruktion des Raumes bestimmen.
Im Bunker Bunker haben in Europa heute keine Bedeutung in der ihnen zugedachten Funktion und finden eher aufgrund ihrer dicken Mauern als Proberäume für lärmintensive Musik oder als Lagerhallen Verwendung. Der Schrecken ist einer praktischen Nutzung von für die Ewigkeit errichteten Bauwerken gewichen. Dass einige ehemalige Luftschutz- oder Atombunker Ort künstlerischer Aufarbeitung des Krieges sind,199 beweist allerdings, dass von ihnen Wirkung ausgeht. Wirkung, die wie ein entfernter Schrecken aussieht, anachronistische Kriegsarchitektur, die nie von glorreichen Zeiten erzählt, egal, ob sich der Bau in England, Frankreich, Deutschland oder Österreich befindet. 196 Schulte : Albert Drachs Stücke, S. 142 (Anm. 178). 197 Drach : Das Skurrilspiel Sowas, S. 112 (Anm. 181). 198 Paul Roessler : Das Protokollspiel und weitere Verkleidungen. Anmerkungen zu Albert Drachs Epik und Drama am Beispiel des »Großen Protokolls gegen Zwetschkenbaum« und des »Kasperlspiels vom Meister Siebentot«. Prozesse 1 (1998), S. 26–42, S. 36. 199 Vgl. Jan Henrik Friedrichs : Massenunterkunft, Atombunker, Kunstobjekt. Bunkernutzung im Nachkriegsdeutschland. In : Inge Marszolek/Marc Buggeln (Hg.) : Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum. Frankfurt/New York : Campus 2008, S. 245–260.
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»Zerstörungssicher gebaut, verkörpert der Bunker [in Deutschland und Österreich] einen Anspruch des NS-Regimes auf Ewigkeit.« 200 Heute haben Bunker zuerst historische Signifikanz in ihrem Erinnerungswert, sie sind Mahnmal und abschreckend hässlich, wo es geht, werden sie deshalb versteckt, begrünt oder als Museumsstücke ausgestellt. Nackte Sichtbarkeit ohne den Schutz einer »Auseinandersetzung« mit ihnen ist kaum zu beobachten : Einiges hingegen sucht sich der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entziehen. Einen Architekturtypus gibt es, der lieber ungesehen bleiben will. Im Schutz von Reklametafeln versuchen klobige Bauten klein zu machen, versteckt im städtischen Grün sollen ihre Betonmassen nicht weiter ins Gewicht fallen – Restposten einer unbewältigten Vergangenheit, die verstörend in die Gegenwart ragen.201
Neben der Erinnerung lassen sich anhand von Bunkern als Räumen auch andere Überlegungen anstellen. Sie sind dauerhafte Darstellung von rücksichtslosem Gewaltstreben, in ihnen manifestiert sich nicht nur Schutz, sondern es wird auch sichtbar, wovor geschützt werden soll. Ihre Entstehung und ihren Zweck verdanken Bunker Gewaltregimen, meistens Herrschaftssystemen. Über die deutschen Bunker des Zweiten Weltkriegs lässt sich heute sagen : Es sind Fremdkörper ohne Fenster, Fassaden und Türen. […] Sie haben ohne Pathos und Erhabenheit als Denkmale für eine Weltanschauung überlebt, die für einen »totalen Krieg« bereitwillig das Überleben der eigenen Bevölkerung aufs Spiel setzte und den Tod der Zivilisten als »Opfer« für die »Volksgemeinschaft« idealisierte.202
Der Bunker oder Schutzraum ist ein Ort, der auf Gewalt verweist, und wurde vornehmlich unter Regimen gebaut, die selbst mit äußerster Gewalt gegen andere vorgingen. Als man in Japan während des Zweiten Weltkriegs mit Bombardierungen rechnen musste, verzichtete man jedoch auf die Errichtung von entsprechenden Schutzräumen für die Bevölkerung, um eine Panik zu vermeiden. Der Anblick eines Bunkers hätte das Kommende allzu deutlich werden lassen. In einem furchtbaren Umkehrschluss war man bestrebt, die entfesselte 200 Habbo Knoch : Transitstationen der Gewalt. Bunker und Baracken als Räume absoluter Verfügbarkeit. In : Marszolek/Buggeln (Hg.) : Bunker, S. 309–324, S. 312. 201 Harald Kimpel : Übersehenswürdigkeiten : Bunker – Ästhetik zwischen Tarnung und Warnung. In : Marszolek/Buggeln (Hg.) : Bunker, S. 291–307, S. 291 (Anm. 199). 202 Knoch : Transitstationen der Gewalt, S. 309.
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Aggression als etwas erscheinen zu lassen, das nur andere etwas angeht. Als Resultat starben während einer einzigen Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 100.000 Menschen, die keinen sicheren Raum hatten.203 Der Bunker erreicht seinen Zweck erst durch tatsächlich verübte Gewalt, und das auf mehreren Ebenen. Zuerst natürlich dadurch, dass er die, die sich in ihm aufhalten, schützt. In der Regel sind aber die, welche ein solches Gebäude bauen, und die, welche es dann benutzen, nicht dieselben. Der Raum funktioniert nach einem Ein- und Ausschlussmechanismus,204 ein Fakt, auf den Drachs Erzählung IA besonderes Schwergewicht legt, wie ich unten noch zu zeigen versuche. Knoch bezeichnet Bunker auch deshalb als »Transitstationen der Gewalt« und macht den Versuch, Bunker und Baracken, das eine dauerhafte, das andere eine temporäre Architektur, zu vergleichen. Es handle sich, so Knoch, dabei sowohl um Nicht-Orte im Sinne Marc Augés als auch um neutrale Räume, wie sie Richard Sennett beschreibt.205 Mit einem Sammelbegriff könnte man sie auch als moderne Heterotopien bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist eine entpersönlichte und auf den Zweck gerichtete Konzeption : Sie sind »wiederum nicht darauf angelegt, die Identität oder Person des Anwesenden zu prägen. Sie regen nicht zu Kommunikation, sondern zu Isolierung an.« 206 Wenn es nun darum geht, aus dieser Perspektive einen Unterschied zwischen einem Bunker und einem Flugzeugsitz auszumachen, dann ist die unterschiedliche Anwendung von Macht von zentraler Bedeutung. In beiden Fällen jedoch wird die Nutzung des »neutralen« Raums von außen geregelt und gewährt.
Exkurs 1 : Nicht-Orte Der Ethnologe Marc Augé sieht speziell die Moderne produktiv bei der Schaffung dieser »Nicht-Orte« (Non-lieux) und kommt mit seiner Definition nahe an Foucaults Heterotopiebegriff heran,207 gleichsam als eine besondere Gruppe unter diesen : »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekenn203 Vgl. Inge Marszolek/Marc Buggeln : Bunker – Orte, Erinnerungen und Fantasmen. In : Marszolek/ Buggeln (Hg.) : Bunker, S. 9–25, S. 18. 204 Vgl. ebda., S. 17. 205 Vgl. Sennett : Civitas, S. 63 ff. 206 Knoch : Transitstationen, S. 310. 207 Vgl. Marc Augé : Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt : Fischer 1994, S. 131.
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zeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.« 208 Unter diesen Räumen finden sich auch das Krankenhaus, die Baracke, das Feriendorf oder das Flüchtlingslager : Eine Welt, die Geburt und Tod ins Krankenhaus verbannt, eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch und zum Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet dem Anthropologen ein neues Objekt, dessen bislang unbekannte Dimensionen zu ermessen wären, bevor man sich fragt, mit welchem Blick er sich erfassen und beurteilen lässt.209
Grundlage für Augés Definition der Nicht-Orte ist das, was er und Jean Starobinski »Übermoderne« (Surmodernité) nennen.210 Den Nicht-Orten ist eigen, dass sie entsozialisieren, dass sie den Ort, an dem Menschen zusammenkommen, nicht durch diese selbst definieren lassen. Ein Paradox ist das keineswegs, wenn man die Konstruktionsbedingungen dieser Orte in Betracht zieht. Augés Beispiele sind die modernen Formen der ökonomisch geprägten Orte, die Supermärkte, die Einkaufshallen, auch die Orte des Transits, der beschleunigten Bewegung und vor allem auch der Reise, die sich in einen Nicht-Ort verwandelt, weil sie einen Umweg macht über die Bilder, die nur das reisende Individuum zeigen, vor dieser und vor jener Sehenswürdigkeit. »Der Raum des Reisenden wäre also der Archetypus des Nicht-Ortes.« 211 Dem französischen »lieu« entspricht hier der »Ort«, dem »espace« der »Raum«, vielleicht auch der »Platz«. Seine Unterscheidung fußt auf dieser Entscheidung, zwischen den nichtbesetzten, nichtbearbeiteten Räumen eine Grenzlinie zu ziehen, die in der Konstruktion der Nicht-Orte hintergangen wird. 208 Ebda., S. 92. 209 Ebda., S. 93. 210 Vgl. ebda., S. 129. 211 Ebda., S. 103.
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Ich versuche, hier auch Bunker als Beispiele hinzuzufügen, welche Transitpunkte und im Ausnahmezustand bewohnte Orte gleichzeitig sind. Es kostet einige Mühe, diese Räume, die so außerhalb der Kategorien tatsächlich bewohnter oder bewirtschafteter Räume stehen, einzuordnen. Sind sie nun eine extreme Form von Raumkonstruktion, die eine Gewalt sichtbar macht, die anderswo versteckt agiert ? Als Nicht-Orte möchte ich sie bezeichnen, weil sie überindividuell gestaltet sind, weil sie keine Geschichte haben212 und keine Beziehung zur Gesellschaft, die sie umgibt, und vor allem, weil sie keine – symbolische – Realität besitzen außer der, in einem weiteren Sinn auf den Krieg zu verweisen. Bunker bleiben Zweckarchitektur, deren Zweck sich nach dem Krieg aufgelöst hat, deren Bauweise aber beinahe allen äußeren Einflüssen widersteht. Die oben beschriebenen Merkmale teilen Bunker mit Lagern, die als Konzentrationslager oder Auffanglager tiefe Spuren in der Geschichte des letzten Jahrhunderts hinterlassen haben und heute in den Flüchtlingslagern Afrikas, Europas oder Asiens täglich in den Nachrichten wiederkehren. Von Lagern wird noch die Rede sein, an dieser Stelle seien die systematischen Parallelen zu Bunkern aufgezeigt. Auch für das Lager gilt, ein Ort zu sein, der sich nur in der Abgrenzung von den anderen Orten begreifen lässt, der in keiner Weise andere Räume zu durchdringen vermag und die ihn bewohnenden Individuen deshalb von der Umgebung abtrennt. Die nachhaltigsten Analysen dazu stammen von Hannah Arendt und Giorgio Agamben. »Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.« 213 Agamben fokussiert auf die Rechtssituation in Lagern, die sich dadurch auszeichnet, dass es eben kein Recht mehr gibt, auf das sich die Insassen berufen könnten. Der Raum, der hier konstruiert wird, hat vornehmlich zum Zweck, zu entrechten und die Individuen verfüg- und kontrollierbar zu machen. Man muß den paradoxen Status des Lagers von seiner Eigenschaft als Ausnahmeraum her denken : Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach ein Außenraum ist.214
212 In dem Sinne, dass sich keine historische Handlung jenseits des Krieges in oder an ihnen abspielt. Sie sind erstarrt in dem Augenblick, in dem sie gebaut wurden, nur für diesen Augenblick, ohne eine Bedeutung, die vorher oder nachher zu finden ist. Das trifft vielleicht insbesondere auf die Bunker des Zweiten Weltkriegs in Europa zu. 213 Giorgio Agamben : Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt : Suhrkamp 2002 (= edition suhrkamp 2068), S. 177. 214 Ebda., S. 179.
Exkurs 1 : Nicht-Orte
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Agamben nimmt Bezug auf Arendts umfangreiche Untersuchungen zum Konzentrationslager. Arendt bezeichnet Vernichtungslager als »Laboratorien des totalen Herrschaftsapparats« 215. Das Prinzip der Totalität sei das »Alles-istmöglich«. Leben und Tod werden in seinem universalen System ihrer Grenzen enthoben, wie sie nachzeichnet : Die Insassen der Konzentrationslager verlieren sukzessive alle ihre Identität mitbestimmenden Merkmale. Sie haben weder Heimat noch Staat noch befinden sie sich in der Sphäre des Rechts. Die Opfer des Holocausts sind anonym, ihre Auslöschung erfolgt so gründlich, schreibt Arendt, dass ihr Tod nicht einmal als Mord zu bezeichnen wäre. Alles, was im Konzentrationslager passiert, ist vom menschlichen Verstand nicht mehr begreif- und verstehbar, weil es total ist und keine Denkkategorien mehr gelten, wie zum Beispiel das Recht, das die Identität der Personen gelten lässt. Die Folge dieser Entkleidung der Identität seiner Opfer ist ein Dasein als »lebender Leichnam« 216, dem nur entgehen kann, wer sein Ich in der »Haltung des konsequenten Stoizismus steril konserviert«217. Oksala fasst Arendts Auffassung vom Recht zusammen mit der Feststellung, Arendt sehe eine in der Moderne auftretende Schmälerung des politischen Raums – zu dem das Lager nicht gehört – zugunsten des »sozialen« Raums, in dem das biologische Leben verwaltet werde.218 Die Grausamkeiten im Lager seien nur möglich, da es sich hier um einen nicht vom Recht geregelten Raum handle, wohingegen die Verwaltung dort selbst Technologie und Ökonomie verpflichtet sei.219 Die Bandbreite an Räumen, die auf den letzten Seiten in ihren Merkmalen beschrieben wurden, könnte größer nicht sein : Von den Nicht-Orten der Supermärkte über Schutzräume und Konzentrationslager sind nur unter bestimmten Umständen und in der hier präsentierten Perspektive Vergleiche möglich. Überschneidungen ergeben sich etwa aus chronologischer Perspektive. Alle diese Räume entstehen in den gleichen Zeiträumen, sie sind Erfindungen der Moderne, des 20. Jahrhunderts, und sie nehmen denen, die sie – freiwillig oder erzwungen – betreten, ihre identifizierenden Merkmale. Die Sprache, die sie benutzen, ist kodifiziert und sie verweisen auf keine Geschichte. Im Fall des 215 Vgl. i. d. F.: Hannah Arendt : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. 8. Aufl. München : Piper 2001, S. 907 ff. 216 Ebda., S. 932. 217 Ebda. 218 Vgl. Johanna Oksala : Violence and the Biopolitics of Modernity. Foucault Studies 10 (2010), S. 23– 43, S. 28. 219 Vgl. ebda.
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Bunkers ist der wesentlichste Verweis, der auf ein »Außen« dieses Raumes gerichtet ist, einer auf die Zukunft. Der Schutzraum des Zweiten Weltkriegs hatte eine temporäre Funktion, die sich auf die Dauer einer Bedrohung ausdehnte. Im Kalten Krieg entspann sich das Phantasma eines neuen Lebensraums im Bunker, das sich bald auflöste mit der Erkenntnis, dass eine tatsächliche Katastrophe dieses Ausmaßes in seiner Wirkung auch keine zeitliche Grenzen mehr kennt. Trotzdem oder gerade deshalb hatte die Idee eines apokalyptischen Szenarios, wie es in vielerlei Erscheinungen bereits existiert hatte, nach dem Krieg und mit dem Beginn des Kalten Krieges eine neue Facette gewonnen. Von der Heterotopie geht der Weg nun weiter zur Heterochronie. Was bedeutet es, nach einer nuklearen Katastrophe nicht nur den ursprünglichen Raum zu verlieren und gegen einen lagerartigen Raum einzutauschen, sondern diesen Tausch der Ausnahmesituation in Permanenz zu vollziehen und damit aus der Zeit zu fallen ?
Exkurs 2 : Nicht ganz das Ende aller Dinge Der Raum der Ausnahme, wie er im Bunker oder im Lager begegnet, korrespondiert mit der Situation der Ausnahme. Bevor ich mich Drachs apokalyptischer Erzählung IA zuwende und der Rolle, die der Bunker als Raum der Ausnahme darin einnimmt, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf den Zeitfaktor zu werfen, der sich in der Apokalypse zu einer gedachten Unendlichkeit ausdehnt. Sie ist als eine Ausnahmesituation immer schon gleichermaßen gefürchtet wie herbeigesehnt worden. Kants Schrift Das Ende aller Dinge 220 macht den Blick des Philosophen der sich entfaltenden Aufklärung auf einen der ältesten Motivkomplexe der religiösen wie der profanen Literatur sichtbar. Welchen Zweck, fragt er sich, hat es, die Apokalypse zu denken : »Dieser Gedanke hat etwas Grauendes in sich, weil er gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, aus welchem dem, der darin versinkt, keine Wiederkehr möglich ist […], und doch auch etwas Anziehendes.« 221 Die Logik der Auf klärung verbietet einige der als selbstverständlich hingenommenen Widersprüche in den Quellentexten. Wie sei es möglich, fragt Kant, von der Zeit in die Zeitlosigkeit überzugehen ? Müsse nicht das Jüngste Gericht mit all seinen Teilen länger dauern als ein ein220 Vgl. i. d. F.: Immanuel Kant : Das Ende aller Dinge. In : I. K.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt : Suhrkamp 1977 (= Werkausgabe 9), S. 175– 194. 221 Vgl. i. d. F.: ebda. S. 175.
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ziger Jüngster Tag, und wie sei es möglich, die Rechtschaffenheit des Einzelnen in irgendeiner Weise abzuwägen ? Die eigentliche Bedeutung, so Kant, müsse in der Praxis des apokalyptischen Denkens zu finden sein, im Bemühen des Menschen, sein Tun an einen Maßstab anzulegen. In der, wie er es nennt, »dualistischen Auffassung«, wonach einigen der Eintritt in das Himmelreich gestattet sei, anderen nicht, sieht er die Möglichkeit, einen Wertemaßstab in die Praxis umzusetzen. Zugleich fesselt das schiere Ausmaß einer Endzeit das Denken des Menschen. »Kant steht hier vor einem Phänomen des Erhabenen, eines überwältigenden mysterium tremendum et fascinosum, mit dem die Vernunft, ohne es bewältigen zu können, dennoch zu tun hat.« 222 Er bezieht das auf den Zweck der Religion, Menschen zu Handlungen anzustiften und ihnen andere zu untersagen. Das Christentum sei »liebenswürdig« sagt er, es würde ohne Zwang und Befehl auskommen und allein aus der Liebe, die ja durchaus nichts anderes sei als die Vernunft, argumentieren.223 Wie kann sich nun eine Vernunft, die schon in der christlichen Lehre fundiert worden ist, ein solches Ende vorstellen, das ihr selbst in seiner ganzen Ausprägung entgegensteht ? Die Lösung, die Kant findet, liegt im Bestreben des Menschen, einer an sich endlosen Anstrengung ein Ende zu geben. Die Apokalypse hat also praktisch-ethischen Nutzen in der Verwirklichung des Endzwecks, des Guten an sich, das nur im Endlosen vorstellbar sein kann. Der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Apokalypse ist also schon zu Beginn ersterer gegeben. Die Auseinandersetzung dauert an, und weitere Ergänzungen erhärten die These vom praktischen Nutzen des religiösen Glaubens an die Apokalypse. Johannes Fried gibt unzählige Beispiele dafür an, wie im Hoch- und im ausgehenden Mittelalter die Erwartung eines Endes der Zeit dafür sorgte, dass technische und naturwissenschaftliche Untersuchungen vorangetrieben wurden.224 Endzeitliches Denken bedeutet nicht nur, eine Erwartung zu haben und ihr zu entsprechen, es bedeutet auch, mit einer Vielzahl an Fragen konfrontiert zu sein, die sich an diese Erwartung anschließen und es nötig machen, die Sterne, die Plagen, kurz : all die Zeichen, die unser Ende 222 Josef Wohlmuth : Immanuel Kants »Das Ende aller Dinge« und die Eschatologiekritik bei Emmanuel Levinas als Herausforderung für die christliche Eschatologie. In : Jürgen Brokoff/Bernd U. Schipper (Hg.) : Apokalyptik in Antike und Aufklärung. Schöningh : Paderborn [u.a.] : 2004 (= Studien zu Judentum und Christentum), S. 197–218, S. 198. 223 Vgl. i. d. F.: Kant : Das Ende aller Dinge, S. 187 ff. 224 Vgl. Johannes Fried : Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München : Beck 2001.
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ankündigen könnten, lesbar zu machen, sie in einen naturwissenschaftlichen Diskurs überzuführen, der seit langem nichts anderes gemacht hat, als die göttlichen Zeichen für natürliche zu nehmen und damit die zu beruhigen, die sich vorschnell auf ein jähes und schreckliches Ende einstellen. In seinem Essay Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton 225 misst Derrida die Bedeutungsebenen aus, die das Wort »Apokalypse« besetzt.226 Da heißt es zunächst – und das wird die vorherrschende Bedeutung, über die er schreibt, sein –, aus der Herleitung über das hebräische »Gala« bewege man sich im Wortfeld von »Entblößung, Aufdecken«. Die Beziehung ist sprachlicher Natur, die Entblößung ist ein sprachlicher Akt, in dem etwas, das verborgen bleiben sollte, freigelegt werde. Von da bezieht das griechische »Apokalypto« seinen wesentlichen Inhalt und wird erst später zum modernen katastrophisch orientierten dystopisch-dysfunktionalen Ort, wie man ihn aus zahlreichen populären Bearbeitungen des Films und der Literatur kennt. Es handelt sich um eine Entgrenzung der Rede, keineswegs um eine Bedeutungsverschiebung. Als Entblößung bezeichnet die Apokalypse auch die unflätige Rede, die über bedeckt zu haltende Dinge spricht. »Nirgends aber«, schließt der Übersetzer, sich ebenso aufs Griechische wie aufs Hebräische beziehend, »hat das Wort Apokalypse folglich den Sinn, den es schließlich im Französischen und in anderen Sprachen angenommen hat : fürchterliche Katastrophe. So ist die Apokalypse im Wesentlichen eine Kontemplation (hazon) […] oder eine Inspiration (neboua) der Schau, der Entdeckung von Y HW H und, in diesem Kontext, von Yeshoua, dem Messias.«227
Die drei Texte in dem Band IA UND NEIN erschienen getrennt voneinander im Zeitraum zwischen 1983 und 1988. In der Zusammenstellung, in der sie schließlich im Hanser-Verlag 1992 veröffentlicht wurden, präsentieren die Geschichten eine Einheit, die nicht auf der narrativen Ebene zu suchen ist, sondern in der Konzeption der Themen, die in eine gemeinsame Richtung weisen. Drach benutzt drei Begriffe, die zuerst eindeutig und einfach erscheinen, und baut um sie herum Kontexte auf, die diesen Eindruck zerstören und die (juris225 Jacques Derrida : Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. In : J. D. (Hg.) : Apokalypse. 3., überarb. Aufl. Aus dem Französischen von Michael Wetzel. Wien : Passagen 2009. 226 Vgl. i. d. F.: ebda., S. 11 ff. 227 Ebda., S. 14 f.
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tischen) Tragweiten der einfachen Aussagen hervorbringen. Das zustimmende »Ja«, das reihende »und« und das ablehnende »Nein« haben in ihren spezifischen Verwendungen die Aufgabe, weit über ihre direkten Aussagen hinaus die Protagonisten und ihre Handlungen zu charakterisieren. Die Kritik Drachs an der Gerichtssprache arbeitet wie oft mit den Mitteln der Satire. Groteske Gerichtsfälle, sprechende Namen und Verballhornungen derselben sind kombiniert mit raffenden und verkürzenden Darstellungen von Biografien, sodass der manipulative Aspekt der Sprache in den Vordergrund gerückt wird. Das Recht zwingt die Figuren der Erzählungen vermittels der Sprache in eine Logik, die sich als Un-Logik erweist. Schon im Titel drückt sich diese Sprachkritik aus, die in den Geschichten erzählerisch ausgeführt ist : Die Sprache des Rechts behauptet nur, ihre Aussagen sind nicht wahr. Das »Und«, das eigentlich die Aufgabe hat, einen Zusammenhang zwischen zwei gleichartigen Aussagen herzustellen, verbindet zwei einander widersprechende Aussagen, nämlich das »Ja« und das »Nein«. Das Protokoll gibt das Ergebnis als Tatsache wieder. Demzufolge steht der Text UND im Zentrum des Buches. Das Verschwinden des Richters Alois Balduin Huntzinger wird zum Anlass, seinen Spuren nachzugehen und seine Biografie nachzuzeichnen. Seine Ablehnung des Bindeworts »und« begründet er auf einer Notiz damit, daß das verbindende »und« Nennungen, Behauptungen, Bezeichnungen in einen Zusammenhang brächte, der in Wahrheit gar nicht bestünde, ja oft dazu diente, die Unterschiede zwischen einander Entgegengesetztem im Vortäuschungswege aufzuweichen oder geradezu auszugleichen.228
Nicht zum ersten Mal inszeniert Drach eine Lebensrückschau, diesmal vom Detektiv durchgeführt, der auf den Fall angesetzt wird, als Urteil. Das Leben Huntzingers stellt sich als eine Aneinanderreihung von Trennungsprozessen dar. Die Eltern sterben früh, die darauf folgenden Erziehungsberechtigten und Partnerinnen des wenig Gesprächigen und Geselligen ereilt das gleiche Schicksal. Ein kausaler Zusammenhang mit der Person Huntzingers wird nahegelegt, aber nicht ausgesprochen. Im Beruf als Referent äußert sich das so : »Es war, als ob der Haß oder Gegensatz, der zwischen ihnen [den Parteien] von Anfang an bestand, sich in seinem Beisein nur steigerte.« 229 228 Drach : UND. Protokoll einen Richter betreffend. In : A. D.: IA UND NEIN. Drei Fälle. München/ Wien : Hanser 1992, S. 37–62, S. 39. 229 Ebda., S. 43.
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Eine dunkle Ausstrahlung geht auch vom Protagonisten des Textes NEIN aus. Der anfänglich nur »M. M.« genannte wächst ebenfalls als Waise auf, ein Findelkind »zu einer Zeit, da jedes seinen Stammbaum haben mußte, um sein Recht auf Leben auszuweisen« 230. Wieder ist die erzählte Zeit die während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. M. M.s Identität ist ihm selbst unbekannt und wechselt im Lauf der Erzählung. Weil er naiv ist und sich nicht anders zur Wehr setzen kann, bleibt ihm nur ein ablehnendes »Nein«. Seine Angewohnheit, Menschen, die ihm nahestehen, zu beißen, ist in einer Episode aus seiner Kindheit erklärt, als ihm von seiner Ziehmutter eine lieb gewonnene Ente zum Verzehr gereicht wird. Das Opfer des Zynismus wird zum Täter, als er später seine mutmaßliche Mutter durch einen Biss in den Hals tötet. Die Rätsel um seine Herkunft lösen sich nach und nach auf, obwohl die Frage, ob er jüdische Vorfahren habe oder nicht, bis zum Schluss nicht geklärt wird. Wie an Huntzinger fällt auch an M. M. eine leidenschaftslose und stumme Lebenshaltung auf. Es heißt, er versuche alles so mechanisch wie möglich zu machen, »mangels Neugier« sieht er sich selten »zu Fragen veranlasst« 231. Drach reduziert die Figuren zu starren und unbeweglichen Marionetten. Die Sprache des Protokolls lässt auch keine Äußerungen zu, ohne dieselben gegen ihre Sprecher zu wenden. Der Richter Huntzinger wird nur zweimal bei einer persönlichen Meinungsäußerung ertappt, deren Erste einen Schlüssel zur protokollarischen Beweisführung darstellt : Das Wichtigste im Prozeß sei das Protokoll, dadurch wären sowohl die Rechtsuchenden als auch die Zeugen und was sonst noch vor Gericht erscheine, gebunden, auch wenn sie nicht das gemeint, was sie zum Ausdruck gebracht hätten. Mitunter könne der Richter auch helfen, wenn das, was aus ihnen hervorsprudele, für seine Entscheidung nicht reiche. Und schließlich schlinge sich ihr eigenes Wort und was da sonst noch geschwätzt werde, wie ein Strick um ihren Hals, aus dem sie nicht mehr herauskönnten.232
Der Zustand der Rechtssprache ist auch der politische Zustand von Österreich unmittelbar nach dem Weltkrieg. Die Geschichten spielen im Übergang zwischen der Kriegs- und der Besatzungszeit, die politischen Anspielungen sind nicht zu übersehen, wo es sich um die jüdische Abstammung des M. M. handelt, 230 Drach : NEIN. Eine Geschichte. In : A. D.: IA UND NEIN, S. 63–99, S. 65. 231 Ebda., S. 74. 232 Drach : UND, S. 53 (Anm. 228).
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aber auch dort manifest, wo der Zusammenhang zwischen Sprache und Recht als einer der Gewalt beschrieben wird. Das Protokoll ist der einzige Raum, in dem sich Sprache nicht per se verdächtig macht, sondern nur Verdächtigungen ausspricht. Drach benutzt das Potenzial der protokollarischen Rede, um die Täter-Opfer-Dichotomie aufzulösen; denn einerseits gibt es Tatbestände gegen die Figuren, andererseits sind diese in einen Kontext eingebaut, der eine feindselige Welt als die Ursache darstellt. Mit der dritten einsilbigen Figur in IA verhält es sich anders, doch handelt es sich wiederum um ein Findelkind »in dem freiesten und neutralsten Land der Erde«233. Dieser in dem besprochenen Band erstgereihte der drei Texte stellt ein »Ja« in den Mittelpunkt, eigentlich die Interpretation des Schreis eines Neugeborenen. Die Erzählung soll nun deshalb im Detail besprochen werden, weil sich im Raum eines Bunkers, umgeben von einer verseuchten Welt, diejenigen Prinzipien realisieren, die für Drachs Literatur oft entscheidende Bedeutung haben. Von den drei Texten ist er der unmittelbar politischste, da er die österreichische Nachkriegsgeneration in einem Ausnahmeraum darstellt, einem Ausnahmeraum, wie ihn Drach nach seiner Rückkehr aus dem Exil wahrgenommen haben mag. IA spricht an der Oberfläche von grotesken Diskussionen, die Reden der Herren in diesem Plenum sind weitgehend assoziative Gedankenketten ohne erkennbares Ziel. Dahinter sitzt aber Sinn in der räumlichen Situation, die sich dem Leser und der Leserin präsentiert, der Anordnung der Protagonisten in einem symbolischen und realen Raum, einem Bunker oder Schutzraum, der nur nach außen Schutz bietet und gleichzeitig früher einmal die Funktion eines Kreißsaales gehabt hatte. Der ins Unendliche gedehnten Zeit einer nach dem apokalyptischen Atomkrieg zurückgebliebenen Welt ist ein eng begrenzter Raum gegenübergestellt. Der »Fall« beginnt mit der Stunde null des Jahres null – man hat eine neue Zeitrechnung eingeführt. Ein neugeborenes Kind wird von der Mutter, die in die verseuchte Außenwelt flieht, der Verantwortung des Hilfsportiers des Gebäudes überlassen. Warum die Frau flieht und wovor, ist nicht Gegenstand der Debatte, die hierauf losbricht und in einer Art Ratssitzung jedem Insassen der Reihe nach das Wort überlässt. Vorgestellt werden die Personen, wie es sich für das Protokoll gehört, mit Namen, Beruf und Alter, wobei sich erstere und zweitere Angaben an grotesken Wortverstümmelungen und -verdrehungen übertreffen. Ein »kraft eigener Entschließung zum Chef aufgerückter bisher rangjüngster Sekundararzt« 234 leitet die Sitzung allerdings nur so lange, bis ihn 233 Drach : IA. In : A. D.: IA UND NEIN, S. 5–36, S. 9. 234 Ebda., S. 8.
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Alkohol außer Gefecht setzt. Es setzen Grünschützer, Psychophysiotherapeuten, Plebokraten, Sizilianer, Pornologen fort. Unter den Sprechern befinden sich aber auch ein Weihbischof, ein Staatsrechtler und ein Kanzler. Die Reihenfolge ist bestimmt durch Alter und Rang, den akademisch Gebildeten ist der Vorrang gegeben, wenn sich auch niemand in dem Bunker befindet, der es zu Weisheit gebracht hat. Die innere hierarchische Struktur folgt einer Gesellschaftsstruktur, die in der Situation obsolet geworden ist und vielleicht dadurch umso genauer genommen wird. Drach charakterisiert die Anwesenden als ein alle Stände und Schichten einer fiktiven, organisierten Gesellschaft repräsentierendes Figureninventar. Geblieben sind der Standesdünkel und die Gier, sich möglichst viel von dem zur Verfügung Stehenden anzueignen. In dieser dissenten Kommunikationssituation kann es keine Lösungen geben, es sei denn, einer befiehlt sie, oder, wie hier, einer stellt im Alkoholrausch unbeabsichtigt die Sauerstoffzufuhr ab und alle ersticken, bis auf den schlummernden, von allen Geistern verlassenen Kanzler, der mit dem Neugeborenen allein übrig bleibt und als einziger dessen Schreien als Laut der Zustimmung deutet. Die Gattung des Protokolls legt die Anwesenheit eines Rechts nahe. In IA ist der Schreiber – im Gegensatz beispielsweise zu Zwetschkenbaum – nicht identifiziert, steht also außerhalb der Gruppe der letzten Menschen der Erde. Der Bunker als Raum bietet, wie bereits angemerkt wurde, Sicherheit, diese aber nur gegenüber einer nicht weiter charakterisierten Außenwelt, die dadurch Präsenz erhält, dass sich die Mutter des Kindes dort einer ungewissen Zukunft entgegenbewegt. Die Diskussion im Bunker legt nahe, dass die Welt dermaßen verseucht ist, dass ein Überleben der Mutter dort ausgeschlossen werden kann. Nach innen entfaltet sich ein seltsamer Rechtsraum, eine Karikatur des realen staatlichen Rechtsraums. Eine Gruppe älterer Männer, offenbar ausgewählt, zu überleben,235 berät in einer Sitzung mit halboffiziellem Protokoll über eine Zukunft und das Leben des Säuglings und es stellt sich die Frage, ob das Kind außerhalb oder innerhalb der Sphäre des Rechts verortbar ist, da weder sein Leben noch seine Gesundheit geschützt sind. Es werden Experimente vorgeschlagen, die den Körper »auf mechanischem Wege aufschlüsseln« 236 sollen, 235 Der Text legt das zumindest nahe. In einem Interview meint Drach aber : »Und was dann überlebt von der Menschheit, ist rein zufällig. Man kann sich nicht die besten aussuchen und sie in Sicherheit irgendwo bringen, sondern es werden sich mit Sicherheit solche Leute zusammenfinden, die vielleicht nicht die besten sind« (Schmidt-Dengler : Wider die verzuckerten Helden, S. 26.). 236 Drach : IA, S. 19 (Anm. 233).
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oder eine »übernatürliche Computeranfüllung« 237 des Kindes, um sein Wachstum zu beschleunigen, sein IA wird zunächst gedeutet als Sprachlosigkeit wie als missglückter Selbstdarstellungsversuch, jedenfalls hat es weder Stimme noch ist es Subjekt des Rechts in der Versammlung, sondern trägt nur Objektstatus. Diese Kennzeichen des Ausnahmeraums sind auch an den anderen Figuren ablesbar. Der Text bemüht sich, die Überlebenden als Betrüger darzustellen. Sie sind unrechtmäßig und nur durch die Besonderheit der Situation in ihre Position gekommen, wie der nunmehrige Oberarzt, Magister Muckenhuber, der »Doctor nullae causae«, oder ein zum Kreißsaalwart aufgestiegener Hilfsportier. Nach der Katastrophe sind die Falschen übrig geblieben, unredliche Akademiker, die nunmehr Spitzenpositionen besetzen, die sie nicht rechtfertigen können. Abschwächend heißt es : »Was aber besagten Titel, Rang oder sonstige Würde ? Doch nur, daß der Betreffende in Schulen gewesen sei, sich streberhaft verhalten habe und mit anderen in derselben Art zusammengewesen sei.« 238 Die Welt ist aus den Fugen, wenn die Sicherheit nicht gegeben ist, dass gerechte Auswahlverfahren die Elite in die richtigen Positionen setzt. Über das Auswahlverfahren, das über das Überleben bestimmt, ist im Text nichts gesagt, außer dass es einen Plan gegeben habe, von dem nur bei einzelnen Figuren abgesehen werden musste. Das Recht des Ausnahmeraums besetzt in der gesellschaftlichen Hierarchie einen Platz im Dazwischen. Es schützt weder die Eliten noch die Neugeborenen, sondern die, für die es geschrieben wurde. Als das Wort an den bisherigen Justizminister kommt, reflektiert der dazu : »Er bekannte sich zum Rechtsstaat, der allerdings seine Grenzen habe. […] Freilich dürften in Zeiten wie diesen, also mit völligem Ausnahmecharakter, psychophysische und chemisch-technische Mechanismen zur Anwendung kommen.« 239 Man sei hier eingesperrt wie in einem Gefängnis, wenn auch freiwillig, und ein wirksamer Strafvollzug sei in dieser Situation nicht denkbar. Die Einschätzung des Rechtsexperten lässt alle in Diskussion stehenden, für das Neugeborene lebensbedrohlichen Maßnahmen unter diesen Umständen zu. Die »Perspektive einer endlos verlängerten Endzeit, die über die Protagonisten verhängt scheint wie ein Fluch«,240 ändert sich schlagartig mit dem 237 Ebda., S. 23. 238 Ebda., S. 21. 239 Ebda., S. 28. 240 Gerhard Melzer : Endzeit ohne Ende. Albert Drachs jüngstes Buch, IA UND NEIN. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach, S. 314 (Anm. 177).
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Schluss, dem Erstickungstod aller bisherigen Redner, der vom unbeabsichtigten Abdrehen der Luftzufuhr ausgelöst wird. Das Baby, das den Hebel wieder umlegt, wächst dennoch zum Riesen, mit ihm der »immerwährende Kanzler«, der »einer nicht mehr vorhandenen Öffentlichkeit [verkündet] : ›Das Kind hat ja gesagt.‹« 241 Die Täter-Opfer-Wahrnehmung ist mit dem Ende endgültig aus dem Gleichgewicht geworfen. Die Konstruktion des Textes lässt es zu, die Insassen als Opfer eines apokalyptischen Krieges zu sehen, dann als Nutznießer eines korrumpierten Rechts, das ihnen als Einzigen das Überleben sichert, schließlich wieder als Opfer eines Unfalls. Inwieweit Drach hierbei auf die Zeit nach dem Holocaust anspielt, die einzelnen Figuren also eher Figurationen des Umgangs mit der Vergangenheit darstellen, geht aus IA nicht eindeutig hervor. Interviews und autobiografische Schriften zu seiner Remigration nach dem Krieg legen nahe, dass sich ihm ein ähnliches Bild von Österreich präsentiert haben mag. In seinem autobiografischen Bericht Das Beileid nimmt er sich als zurückkehrendes Gespenst in einer ihm fremd gewordenen Welt wahr, in der dennoch die alten Gesellschaftsmuster Gültigkeit haben.242 Der Bunker in IA wäre demnach als eine verkleinerte Darstellung der österreichischen Staatsbildung zu lesen, die mit dem erlösenden Bekenntnis zu derselben endet, als die Täter-Opfer-Distinktion ausgeschaltet ist und alle einmütig zu Opfern erklärt werden. Der Bunker ist der Raum, der auf Gewalt verweist. Er ist für die Ewigkeit gebaut und repräsentiert ein Gewaltregime, das neben der Vernichtung eines Teils seiner Bevölkerung das Überleben eines anderen geplant hat. In vielen Texten Drachs ist Gewalt und seine Beziehung zum Recht Thema, in IA ist es zusammengedrängt auf den kleinsten und hermetischsten Raum. Die Apokalypse ist eine parodistische Gestaltung der biblischen Sintflut, sechzehn »Nichtmehr-Männer« und ein »Fast-noch-Embryo« sind eine schlechte Grundlage für ein neues Menschengeschlecht, und es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Diskussionen im Bunker um technisch-demografische Probleme drehen. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen. Drach entwirft einen rechtlosen Raum, der sich wie eine Parodie ausnimmt auf das von Benjamin beschworene »transzendente« Recht, das die Normen eines von Gewalt konstruierten Rechts vernichtet
241 Drach : IA, S. 36 (Anm. 233). 242 Vgl. Schobel : Ein wütender Weiser, S. 406 ff. und Albert Drach : Das Beileid. Nach Teilen eines Tagebuchs. Hg. von Bernhard Fetz und Eva Schobel. Mit einem Nachwort von Bernhard Fetz. Wien : Zsolnay 2006 (= Werke in zehn Bänden 4).
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und an seine Stelle ein besseres Recht setzt.243 Stattdessen überlebt mit den Trägern der Gewalt auch deren Recht, das sich am Ende selbst zerstört.
Im Zug Lager, so wurde bereits vorher angemerkt, sind Orte, an denen das Recht suspendiert wird zugunsten einer Ordnung oder besser einer Anordnung seiner Insassen. Der Schrecken, der in Drachs Emigrationsbericht Unsentimentale Reise von den Lagern Les Milles und Rivesaltes ausgeht, ist weniger den schlechten Lebensbedingungen geschuldet als der Angst davor, von dort deportiert zu werden in Vernichtungslager wie Auschwitz. Insofern ist Drachs Emigrationsbericht nicht vergleichbar mit autobiografischen Berichten von KZ-Überlebenden des Holocaust. Die besondere Situation des Internierungslagers, das eine Zwischenstation entweder für den Weg in eine einstweilige Freiheit oder den Deportationszug in den sicheren Tod darstellt,244 ist als zynische Bürokratie einer französischen Polizei beschrieben, die den Willen der deutschen Besatzer Frankreichs »im vorauseilenden Gehorsam« selbst dort erfüllt, wo die Besatzungszone bereits geendet hat.245 Daneben spielt aber ein anderer Raum in Drachs Emigrationsbericht, insbesondere im ersten Teil, eine eminent wichtige Rolle. Der Zug ist seit Jahrzehnten das sicherste, komfortabelste und effizienteste Verkehrsmittel, das wir kennen. Die reichsten Länder wie Japan, Deutschland und Frankreich investieren nicht nur in den Ausbau der Bahnstrecken jedes Jahr ungeheure Summen, sondern entwickeln immer schnellere Züge, die wegen der Abhängigkeit von Flugzeugen von fossilen Brennstoffen auch im Fernreiseverkehr zunehmend als die Alternative der Zukunft gesehen werden. Züge symbolisieren nicht nur Fortschritt, sondern werden, wie die jüngsten Eröffnungen von Strecken und Geräten in den genannten Ländern zeigen, nach wie vor als Gradmesser für technische Innovationsfähigkeit präsentiert. Für diesen Blick von Außen interessiert sich Drach nur bedingt. Neben der Eröffnungsszene von Unsentimentale Reise spielen Szenen von Untersuchung an Mädeln in einem Zug. Die 243 Vgl. Walter Benjamin : Zur Kritik der Gewalt. In : W. B.: Gesammelte Werke 1. Frankfurt : Zweitausendeins 2011, S. 342–361. 244 Vgl. Jacques Delarue : Preface. In : Georges Weller : Un Juif sous Vichy. Paris : Éditions Tirésias Michel Reynaud 1991, S. III. 245 Vgl. ebda.
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jugendliche Stella ist hier mit ihrem ersten Geliebten unterwegs nach Italien. Die Beengtheit des Raumes ist ein Verstärker für kleine und große Gesten, Blicke und Bemerkungen. Figuren treten auf, kommentieren und treten wieder ab, während die Protagonisten, das junge Paar Dinge tut, die »in Eisenbahnabteilen unvermeidlich« seien, weil diese »derlei Betätigung entgegenkämen«.246 Nicht unproblematisch ist auch Zwetschkenbaums Fahrt in einem überfüllten Eisenbahnabteil in die Bundeshauptstadt. Ungewollte Berührungen, herabstürzende Koffer, das Gedränge, verlorene Fahrkarten und dergleichen mehr sind die unangenehmen Begleiterscheinungen des Massentransportmittels.247 Für den Sohn in »Z. Z« beginnt die Emigration ebenfalls mit einer Zugreise und unter Bedingungen, unter denen der Zug nicht mehr als Vehikel einer Reise zu sehen ist.248 Der Zug ist wie andere Einrichtungen der Kategorie Kommunikation und Mobilität eingebunden in die Maschinerie von Vernichtung und Aggression der faschistischen Ideologie und als Deportationszug zum fahrenden Gefängnis umfunktioniert. Er dient dem Transport großer Menschenmengen und speziell Drach betont das ironische Moment der Verschiebung von friedlicher Nutzung einer Technologie zum Instrument der Vernichtung und der Unterdrückung, wenn er diesem Teil seiner autobiografischen Romane den Titel Unsentimentale Reise verpasst. So wechselt der erste Teil der Erinnerung die beiden Orte Zug und Lager als Handlungsräume beinahe unterschiedslos ab. »Hitler hat 20.000 Juden ›geliefert‹ verlangt.« 249 Die Verwaltung der Auslieferung müssen französische Behörden unter der Ägide des deutschen Judenreferats der Gestapo in Paris übernehmen. Über die Errichtung von Konzentrationslagern wird nachgedacht,250 aber es bleibt bei insgesamt 300 Internierungslagern, von denen aus in den Jahren 1942 bis 1944 zirka 75.000 Menschen deportiert werden.251 Zu Beginn des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich sorgten nicht existente Asylbestimmungen dafür, dass viele, die vor dem NS-Regime flüchteten, in Frankreich Schutz suchten, darunter viele Juden. Mit der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 und der darauf folgenden 246 247 248 249 250
Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 58. Vgl. Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 246. Vgl. Drach : »Z. Z.« das ist die Zwischenzeit, S. 255. Drach : Unsentimentale Reise, S. 9. Vgl. Ahlrich Meyer : Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 20. 251 Vgl. Serge Klarsfeld : Vichy–Auschwitz. Le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France. 1943–1944. Paris : Fayard 1985, S. 395 ff.
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Abb. 3 : Zugwaggons erwiesen sich im Ersten Weltkrieg zur schnellen Truppenbewegung als geeignet. Auf diese unkomfortablen Beförderungsmittel griff man auch während des Zweiten Weltkriegs zurück, diesmal aber, um Flüchtende zu transportieren. (Foto : Eva Schobel)
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Regierung unter Marschall Pétain, die wegen ihres Regierungssitzes im Kurort Vichy auch als Vichy-Regierung bezeichnet wird oder offiziell État français (im Unterschied zur république), änderte sich die Situation nicht nur für die geflüchteten deutschen und österreichischen Juden, sondern auch für die französischen Juden dramatisch. Erstere waren von der französischen Regierung schon vor 1940 zusammen mit allen anderen Deutschen interniert worden. Für sie bestand aufgrund der Abmachungen der beiden Regierungen weder im besetzten noch im sogenannten freien Teil Frankreichs Sicherheit. Die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Besatzern und der französischen Polizei beschreibt Ahlrich Meyer,252 auf bauend auf den Publikationen von Serge Klarsfeld, als Paarlauf mit unterschiedlichen Motivationen, aber einem ähnlichen Ergebnis. Das NS-Regime hatte Mühe, die großen, durch das Waffenstillstandsabkommen gewonnenen Gebiete zu verwalten, und war auf die personelle Hilfe Frankreichs angewiesen. Die »Aufsichtsverwaltung« hatte zum Ziel, Ressourcen für den andauernden Krieg zu gewinnen bei gleichzeitiger Duldung durch die französische Bevölkerung, die Arbeitskräfte und Rohstoffe zur Verfügung zu stellen hatte. Der 19. Artikel des Waffenstillstandsvertrags legte fest, dass »alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen, Kolonien, Protektoratsgebieten und Mandaten befindlichen Deutschen, die von der Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern« 253 seien. Die historischen Ereignisse legen eine pragmatische Vorgehensweise nahe, die eine enge Zusammenarbeit zwischen der Aufsichtsverwaltung und dem französischen »Generalkommissar für Judenfragen« forderte. Die Taktik Werner Bests bestand einerseits darin, eine »gewisse Anzahl« an Juden in Internierungslagern festzuhalten, um in sogenannten »Sühnemaßnahmen« gegen die Résistance vorgehen zu können. Dabei wollte man genug Geiseln zur Verfügung haben, deren Erschießung dann dem französischen Widerstand angelastet werden sollte. Andererseits wurde bereits ein Jahr vor der Wannsee-Konferenz offen von der »Entjudung Europas« gesprochen. »Am 27. März 1942 verließ der erste Transport mit 1112 Juden französischer und ausländischer, meist polnischer Staatsangehörigkeit den Bahnhof Compiègne in Richtung Auschwitz.«254 Noch 1942 erhöhte sich die Anzahl der 252 Vgl. i. d. F.: Meyer : Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944, besonders S. 13–33. 253 Hermann Böhme : Der deutsch-französische Waffenstillstand im Zweiten Weltkrieg. 1. Teil : Entstehung und Grundlagen des Waffenstillstandes von 1940. Stuttgart : Deutsche Verlagsanstalt 1966 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. 12.), S. 367. 254 Ebda., S. 25.
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deportierten Juden auf über 40.000.255 Man plante in Etappen, die die Opfer einteilten. Zuerst kamen die ausländischen Juden an die Reihe, dann die französischen Juden, die nach dem Ersten Weltkrieg eingebürgert worden waren, zum Schluss wollte man alle jüdischen Franzosen erfassen. Es bedurfte der Arbeit »kämpferischer Antisemiten wie [Theodor] Dannecker«, um den Verwaltungsund Organisationsapparat in Gang zu halten, vor allem, weil sich die Razzien auch auf die »Zone libre« ausdehnten. Im August 1942 organisierte das VichyRegime dann Razzien im unbesetzten Teil Frankreichs und lieferte fast 10.000 Juden, darunter wiederum auf Initiative [René] Bousquets und [Pierre] Lavals auch viele Kinder, über die Demarkationslinie an die Deutschen aus.256 Die Aufgabe der Regierung war dort scheinbar einfacher, weil viele der ausländischen Juden, darunter auch die Schriftsteller Albert Drach, Anna Seghers, Walter Hasenclever und Lion Feuchtwanger in Lagern wie Les Milles, Rivesaltes und Gurs seit 1940 festgehalten und wieder frei gelassen, jedenfalls aber dauernd kontrolliert wurden. Neben Flüchtlingen befanden sich darunter auch Juden, die von Hitlerdeutschland abgeschoben worden waren und nun in polnische Konzentrationslager gebracht wurden. Von deutscher Seite wurde außerdem Druck auf Außenminister Laval gemacht, nach 1933 eingebürgerten Juden die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und damit ihre sogenannte »Naturalisierung« rückgängig zu machen. Man brauchte, wie es in der NS-Diktion hieß, ein gewisses Kontingent und war bestrebt, alle Mittel anzuwenden, die zu einer Erhöhung der Zahl an Deportierten führen konnten. So war man von deutscher Seite auch bald unzufrieden mit den Ergebnissen, die Vichy brachte, und der inzwischen als der Hauptverantwortliche amtierende Heinz Röthke bemühte sich auf eigene Faust darum, die restlichen noch nicht erfassten ausländischen Juden aufzuspüren. Auch davon schreibt Drach in seinem Emigrationsbericht. Lion Feuchtwanger musste 1940 zum zweiten Mal in das Lager Les Milles, nachdem er schon bei Kriegsbeginn einmal dort interniert worden war. Man wusste, dass die Lage ernst war und die deutschen Truppen in Frankreich vorrückten. Die französischen Aufseher des Lagers waren Bauern und Handwerker, nur wenige Soldaten befanden sich unter ihnen. Die »Boches« und deren Schicksal interessierten sie nur begrenzt. Feuchtwanger beklagt denn auch, dass die Aufsicht des Lagers zwar kaum auf gewaltsam repressive Mittel setzte, aber eine gewisse Lässigkeit an den Tag legte, die den um ihr Leben Bangenden 255 Vgl. ebda., S. 32. 256 Vgl. ebda., S. 41.
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als Provokation erscheinen musste. »Vielleicht hatten die Franzosen den guten Willen uns zu retten«, schreibt er in seinem Bericht, »aber wir fürchteten die Leichtfertigkeit der Behörden, jene teuflische Schlamperei, jene Neigung zum laisser-aller.« 257 Der »Teufel in Frankreich«, das ist die Gedankenlosigkeit den in Lebensgefahr befindlichen Juden gegenüber. Das Lager Les Milles drohte zur Falle zu werden, die Franzosen hielten dort vor allem die gefangen, die vor dem NS-Regime geflüchtet waren. Kurz vor der Kapitulation Frankreichs richtete sich die ganze Hoffnung der Insassen auf einen Zug, der sie in ein sichereres Gebiet bringen könnte. Die ehemalige Ziegelei verfügte über eine Gleisanbindung, und so erschien der Transport, so unbequem er auch sein mochte, in einem positiven Licht. Die darauf folgenden Ereignisse sind im Bericht detailliert geschildert.258 Die Insassen waren derart in den Viehwaggons zusammengepfercht, dass sie die meiste Zeit während der Fahrt stehen mussten. Man organisierte nur für die Kranken so viel Platz, dass diese sitzen konnten. Wo es hinging, wusste man nicht und auch nicht, ob man den deutschen Truppen nicht geradezu entgegenfuhr. Auch Albert Drach fuhr in demselben Zug mit, allerdings saß er in einem der wenigen Personenwaggons. Der Waffenstillstand war noch nicht geschlossen, und Feuchtwanger beschreibt die Massen an Flüchtenden, die Richtung Süden unterwegs waren. Man erreichte Bayonne an der Atlantikküste, als sich ein folgenschwerer Irrtum ereignete und der Zug wieder umkehrte, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, die Deutschen kämen, die »Boches«. Die vermuteten »Boches« waren die Flüchtenden selbst, eine telefonische Meldung wurde an die Meldenden zurückgeschickt, und man glaubte, wiederum fliehen zu müssen. Wir bewohnten die Viehwagen drei Tage und drei Nächte. Aus einem Grund, den man begreift, gebrauche ich nicht den harten Ausdruck : wir fuhren drei Tage und drei Nächte. Gelegentlich fuhr der Zug, gelegentlich nicht; niemand kam hinter sein Geheimnis.259
In Feuchtwangers Autobiografie bleibt der Zug, was er für viele Emigranten vor 1940 war : das Verkehrsmittel, das zu friedlichen Zwecken genutzt wird : 257 Lion Feuchtwanger : Der Teufel in Frankreich. Tagebuch 1940. Briefe. 2., erw. Aufl. Berlin/Weimar : Aufbau 1992, S. 106. 258 Vgl. ebda. 259 Alfred Döblin : Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Flucht und Exil 1940–1948. München/Zürich : Piper 1986 (= Reihe Piper. 549.), S. 34.
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»Aber trotzdem war es ein Zug, er stand auf Schienen, die Schienen führten weiter, führten aus dem Bereich der Nazitruppen, führten in die Sicherheit.« 260 Hinter der Darstellung schimmert die Erfahrung einer gewöhnlichen Zugreise als Kontrast zu dieser Ausnahmesituation. Der Text, im amerikanischen Exil zuerst unter dem Titel Unholdes Frankreich geschrieben, betont eine emotionale Bindung an die Bewegungen oder Nicht-Bewegungen des Zuges : Es wäre Wahnsinn gewesen, auf die neblige Hoffnung hin, ein englisches Schiff werde uns aufnehmen, das Transportmittel aufzugeben, das man hatte, unseren Zug. In diesem Zug, so elend er war, waren wir vorläufig wenigstens in Sicherheit.261
Die Fahrt endete in Nîmes, nur wenige Kilometer von Les Milles, von wo man gestartet war, und der Erzähler kann nicht umhin, den positiven Aspekt der Situation zu betonen. Diese Fahrt, später wird das in Albert Drachs Unsentimentale Reise deutlicher werden, war eine für die Flüchtenden eher günstige. Zwar handelte es sich im weitesten Sinn um ein fahrendes Gefängnis, doch konnten und wollten die französischen Offiziere Flüchtende nicht aufhalten. Der Griff um die große Gruppe an Internierten wurde jedoch während der ersten Monate des Waffenstillstands immer fester und ein Entkommen auch immer unmöglicher. Selbst da war die Frage nach dem »Wohin« eine großteils nicht zu beantwortende. So erschien der Zug als ein Ankerpunkt, der sowohl Internierung als auch Rettung darstellt und eine ambivalente Stellung einnimmt in den Bewegungen der Flüchtenden. Es ging nicht mit, aber auch nicht ohne ihn. Der Zug freilich, jener gespenstische Zug, der uns diese schlimme Ewigkeit hindurch beherbergt hatte, stand noch immer da. Aber siehe, jetzt ratterte er fort. Mit einem tiefen Aufatmen sahen wir, wie er um die Kurve bog, entschwand. Mit ihm glitt von uns fort die Bitterkeit der schmerzlichsten Fahrt unseres Lebens.262
Alfred Döblins Bericht von der Flucht von Paris in den Süden beschreibt eine ähnliche Situation. Nervosität und Spannung, ob sich der Zug nun endlich in Bewegung setzte oder nicht, überdecken die üblen Bedingungen, die auf der Flucht herrschten. Dem Chaos im französischen Organisationsapparat gab auch Döblin die Hauptschuld an der prekären Lage. Er hielt sich schon ab 1933 in 260 Feuchtwanger : Der Teufel in Frankreich, S. 145. 261 Ebda., S. 151. 262 Ebda., S. 175.
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Paris auf. Als sich nun die deutschen Truppen auf Paris zubewegten, floh er gemeinsam mit der Pariser Stadtverwaltung nach Süden in einer, wie er es beschreibt, wenig durchdachten und geplanten, eher panikartigen Bewegung : Im Laufe der Fahrt konnte sich ein anderes Ziel ergeben. Das hing von irgendwelchen Meldungen ab, die uns bei der Fahrt erreichten – uns, das heißt den Kapitän und den Zugführer. Wir anderen saßen im Zug, passiv. Etwas Entferntes hatte die Hand auf uns gelegt. Wir entfernten uns von Paris und wußten nur, wir würden »irgendwo« ankommen.263
Döblins Darstellung der Ereignisse ist detailliert und zielt wie Feuchtwangers Text auf ein Nacherleben der Flucht, deren Hauptbestandteil die Verkehrsmittel sind, über die diese erreicht werden kann. Zum Transport von Menschen standen, von Lastkraftwagen abgesehen, ausschließlich Züge zur Verfügung, und hier vornehmlich Güterzüge. Von einer Reise unter gewöhnlichen Bedingungen konnte keine Rede sein. Wie das Zitat oben nahelegt, waren Züge, so fest gebaut und sicher sie scheinen mochten, ebenso wie die französischen Auffanglager anfällig für wechselndes Glück und Pech. Von einem schnellen und sicheren Transport in ein unbesetztes Gebiet oder am besten an die Küste, von wo ein Schiff nach Amerika oder Afrika abgehen konnte, konnte nicht die Rede sein, und so erscheint das Transportmittel Zug, das in Friedenszeiten den schnellsten und sichersten Weg an ein anvisiertes Ziel darstellt, in den besprochenen Emigrationsberichten als sein Gegenteil, eine heikle Reisesituation, die den Insassen weder über das Ziel noch über die Ankunftszeit ausreichend Aufschluss gibt. Es gab keine Ankunftspläne und keine fixen Abfahrtszeiten, es ist geradezu verwunderlich, dass von keinen Zusammenstößen berichtet wird. Der Zug wurde in den Fluchtberichten zu einem Raum, der sich mit Gerüchten, Hoffnungen und Ängsten füllt, zu der Metapher für die nach Frankreich emigrierten Juden, die sich in der Gewalt eines Regimes befanden, das es darauf angelegt hatte, mit ihren Feinden gemeinsame Sache zu machen. Bei allen Texten fällt auf, dass sich die Kontrolle über den Zug und seine Bewegung in einer unerreichbaren Entfernung befindet, weder Döblin noch Feuchtwanger schaffen es, denen nahezukommen, die die Entscheidungen über ihr Fortbewegungsmittel treffen. Eine klare Unterscheidung der französischen Beamten in wohlwollende und gefährliche entfällt ebenso. Zwar sehen einige Figuren die Situation der jüdischen Flüchtlinge klar 263 Döblin : Schicksalsreise, S. 16 f.
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und unternehmen Versuche, den Flüchtenden Wege offenzuhalten, doch bleiben diese Versuche von einem bürokratischen Apparat abhängig, der mit den deutschen Absichten nach und nach kompatibel gemacht wird. Drachs Alter Ego Peter Kucku spricht hier vielleicht die deutlichsten Worte, als er einem antisemitischen französischen Zivilisten von einem Zug zum anderen, von einem Gefängnis zu einem Transportmittel die Lage seiner Landsleute in wenigen treffenden Worten entgegenbrüllt : »Wohin führt man diese koscheren Juden spazieren ?« – »Dorthin, wohin ihr feigen Schweine uns verschachert habt !« 264 Als der Zug mit Peter Kucku an Bord in Richtung Rives Altes durch ein mit den Deutschen bereits kollaborierendes Vichy-Frankreich unterwegs ist, ist dies »ein ernster Fall« 265. In Les Milles und danach waren die französischen Wachmannschaften noch nachlässig und eine Flucht möglich. Der Zug, der den Protagonisten in die dritte Internierung führt, ist allerdings hermetisch abgeschlossen, und die Insassen sind sich ihrer Lage bewusst. Kuckus Wahrnehmung ist zunächst die eines Detektivs, der es mit einem Fall zu tun hat. Die anderen Reisenden im Abteil werden kalt abgeschätzt. Damit klingt ein Leitmotiv des ersten Teils des Berichts an : Wer hat welche »Atouts«, wie groß sind die Chancen, von den Behörden nach der sorgfältigen Prüfung, ob man Jude ist oder nicht, freigelassen zu werden. Es folgt aber auch eine Abschätzung des Selbst. Die Hauptfigur hat keine Erinnerung. Eine auf einen Zug geleerte Weinflasche sollte ihn transportunfähig machen, wurde allerdings zu spät getrunken und hat nun das Gedächtnis kurzzeitig gestört, manches ist auf immer verloren. Zum Beispiel die Information, woher er den Dr. Honigmann kennt, der ihm gegenüber sitzt und als chancenlos eingeschätzt wird, weil er hundertprozentiger Jude ist, jedoch : »[K]einer kennt ihn, jeder glaubt, ihn kennen zu sollen.« 266 Die Eröffnungsszene wird zu Recht als »die bislang stärkste Metapher für die Bewegungsgesetze, die im drachschen Literaturkosmos walten« 267, bezeichnet. Da heißt es : Die Vorhänge sind dicht zugezogen. Nach einem Ruck bin ich in Bewegung, ohne mich zu rühren. Sie tragen mich maschinell. Ich bin in voller Fahrt. Wohin es geht, 264 Drach : Unsentimentale Reise, S. 18. 265 Ebda., S. 9. 266 Ebda., S. 8. 267 Bernhard Fetz : Erste Sätze. Zur Poetik Albert Drachs. In : B. F. (Hg.) : In Sachen Albert Drach. Sieben Beiträge zum Werk. Mit einem unveröffentlichten Text Albert Drachs. Wien : WUV 1995, S. 118–138, S. 133.
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weiß ich nicht. Ich strebe nirgends hin, liege auch. Niemand hat mich um das Fahrziel befragt. Ich erinnere mich nicht eine Fahrkarte gelöst zu haben.268
Im Kontrast zu den zuvor besprochenen Beispielen ist die Flucht hier bereits zu Ende und es handelt sich um eine Deportation in ein sogenanntes Auffanglager, Rives Altes. Die Insassen des Zuges werden von den französischen Behörden mit größter Strenge für den Transport nach Drancy oder gleich nach Auschwitz vorsortiert. Die Kollaborationspolitik der Vichy-Regierung zeigt hier seine deutlichste und unmenschlichste Wirkung. Die Eröffnungsszene ist als ein Erwachen mit bösen Ahnungen konstruiert, ein langsames Eintauchen des Lesenden in den Horror einer Zugfahrt, deren gespielte Harmlosigkeit erst nach und nach ihre furchtbare Bestimmung preisgibt. Der Protagonist liegt und beobachtet stumm die Mitreisenden, er versucht aus deren Reden und Gesichtern sein eigenes Schicksal zu lesen. Doch davon wendet er sich bald ab. Es sind »Krematoriumsanwärter« und »Todgeweihte«, mit denen er es hier zu tun hat, und zu denen beschließt er nicht zu gehören. »Ich weiß auch den Grund der Reise und somit auch das Ziel. […] Ich selbst […] habe nicht die Absicht, das Ziel zu erreichen.« 269 Wie in Untersuchung an Mädeln verdichtet sich in den Eröffnungssätzen das räumliche Konzept, das dem gesamten Roman unterlegt ist. Die Hauptfigur ist festgesetzt und gleichzeitig in Bewegung, der Innenraum des Zuges ist nach außen abgeschlossen, die Vorhänge sind zugezogen und das Abteil zu verlassen verboten. Bewegung und der gleichzeitige Stillstand sind ungewollt von den Figuren, von außen, gleichsam »maschinell«, aufgezwungen. Der protokollarische Erlebnisbericht fokussiert nicht auf die sensuellen Eindrücke, sondern zählt die Fakten auf. Kucku taxiert die anderen und sich selbst, indem er zusammenzählt, was er weiß, und das Erfahrene in einen logischen Zusammenhang bringt, um daraus seine Schlüsse abzuleiten. Dies sind jedoch sprachliche Ablenkungsmanöver, der Mut, mit dem er die Öffnung des geschlossenen Raums erstreitet, und das Paroli, das er dem frechen Franzosen im anderen Zug bietet, sprechen eine andere Sprache. Diese Affinität zum Ungehorsam spricht das erzählende Ich mehrmals an und begründet dies und vieles mehr damit, auf einer unsentimentalen Reise zu sein. Kucku begehrt auf, um sich zu retten, wie er sagt. Er riskiert viel und bekommt das gewünschte Ergebnis. Die Reisenden bleiben im Zug gefangen, selbst wenn ihnen dank Kucku Aussichten geboten werden. Fluchtversuchen begegnet man mit drastischen Maßnah268 Drach : Unsentimentale Reise, S. 7. 269 Ebda., S. 9.
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men : »In meine einschlägigen Erinnerungen […] zischt bereits der Schlag des Brigadiers. Der Kopf des verhinderten Flüchtlings schlägt springend wie ein Ball an die Wagenwand und macht dort Lärm. Das Ergebnis wird zugedeckt weggetragen.«270 Zynisch beschreibt der Ich-Erzähler sowohl die bewegungslosen Mitreisenden als auch die missglückten Fluchtversuche und wählt für sich einen anderen Weg. In seinem autobiografischen Text Protokoll zu meiner Widerlegung macht er seine frühe Erfahrung mit Setzkastenspielen zur Grundlage für seine Handlungen, die in der Folge den Bewegungsrahmen im Zug ausdehnen. Er steht auf, geht aus dem Abteil, öffnet die Fenster und wechselt die Plätze. Bewegung und Handlung unterstreichen wie die zynische Beschreibungstechnik auch die Unabhängigkeit der Figur. »Dr. Honigmann vertritt zum andern Mal den Standpunkt : ›Jetzt werden sie ihn erschlagen.‹ Man erschlägt mich aber nicht.« 271 In der Drach-Rezeption wird hin und wieder behauptet, dass Drach mit sich, also seiner Hauptfigur, keine Nachsicht hätte.272 Dieses Urteil kann man im ersten Kapitel von Unsentimentale Reise nicht nachlesen. Die Inbesitznahme des Raums gelingt dem Streitbaren naturgemäß nicht, aber er stellt sich über die, die ihm die Freiheit verwehren. Dazu beruft er sich auf eine Moral, die er in der Beschimpfung des Antisemiten beredt zum Ausdruck bringt. Indem Kucku den Raum ausmisst, schafft er sich Platz, und zwar mit Erfolg : »Die Stimmung im Coupé hat ein wenig zu meinen Gunsten umgeschlagen. Ich bin zwar ein Simulant, aber die anderen profitieren von meiner Impertinenz.« 273 Drachs Bericht unterscheidet sich von den zuvor besprochenen Autobiografien von Feuchtwanger und Döblin wesentlich im Spiel mit der Distanz, die zwischen dem erzählenden Ich und dem Autor hergestellt wird. Die »autobiografischen Masken«274 sind geschickte Inszenierung dieser Pseudodistanzierung, die deshalb funktioniert, da man sich den Autor als den Ich-Erzähler denkt, aber die beiden nicht miteinander identifiziert. Drachs Raum im ersten Kapitel von Unsentimentale Reise bleibt in seinen Dimensionen und seinen Qualitäten weitgehend unbestimmt. Wo man bei Feuchtwanger noch nachlesen konnte, 270 Ebda., S. 20. 271 Ebda. 272 Vgl. z. B.: Rainer Fabian : Protokoll gegen sich selbst. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler : Albert Drach, S. 291 ff. und Bernhard Fetz : Nachwort. In : Albert Drach : Das Beileid, S. 219–232, S. 225 und 230. 273 Drach : Unsentimentale Reise, S. 9. 274 Bernhard Fetz : Das Opfer im Zerrspiegel. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach, S. 51 (Anm. 177).
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wie viele Baracken das Lager in Les Milles umfasste und in welche Einteilung es gebracht wurde, auch die Zustände der Unterkünfte und Waschanlagen oder der Toiletten, verschwinden diese Details bei Drach, um dafür um die Hauptfigur zu kreisen. Der Blick ist nicht auf ein Außen gerichtet, sondern nach innen gekehrt, ein journal intime, das ganz der Position der Figur in diesem Setzkastenspiel gewidmet ist und statt nach äußeren Begrenzungen nach den Beziehungen und den Entfernungen derselben forscht.275 Auch in dieser Beziehung lässt sich wieder eine Nähe zu Michel Foucault ausmachen, der die Metapher der Zwischenräume häufig benutzt. Bei beiden Autoren geht es eher um die Verhältnisse zwischen den Dingen als um die Dinge selbst. Die Zwischenräume sind auszumessen. Bei Drach wie bei Foucault gilt, dass die Machtverhältnisse, die zwischen den Figuren herrschen, entscheidend sind; die Räume, die sich zwischen ihnen öffnen und schließen. Die Räume sind nicht fest oder statisch, sondern bleiben beweglich. Sie haben ein inhärentes Potenzial, die Figuren mit ihren Schicksalen zu verknüpfen. Das lässt sich beispielsweise an der Tatsache ablesen, dass Kucku nicht in Beziehung mit den anderen »Krematoriumsanwärtern« gebracht werden will, indem er sich als einziger von ihnen fortwährend bewegt, aus dem Abteil geht, aus dem Fenster schreit etc., während Honigmann im Gegenteil auch noch mehr Platz im Abteil okkupiert, als ihm zusteht. Es schrillt der Anfangssatz : »Mit einem Ruck setze ich mich auf.« 276 Der Erzähler setzt sich aber auch von den Franzosen ab, die ihn bewachen. In diesem Spiel der Räume geht es dem Ich-Erzähler viel eher um die Kräfteverhältnisse und Räume, die sich zwischen den Figuren auftun. Das geht so weit, dass sogar die Namen der Figuren, anstatt arbiträre Zeichen zu sein, über die Verhältnisse zu den Behörden sprechen. Beispiele dafür sind die Namen »SS-Kohn« (der vielleicht identisch ist mit Feuchtwangers Gustav Kohn277), »der Familienvater« (wird zum »verhinderten Familienvater«, wird zum »postumen Familienvater«), »der junge Soldat« und »der Schuster«. Im relativen Raum, der dadurch entsteht, wird Kucku auch als Eingesperrter handlungsfähig, er bewegt sich entgegen der Vorschrift, die anderen bleiben auf ihren Plätzen. Drach verbindet dieses inhaltliche Element des Kucku als Aufbe275 Setzkastenspiele dienen Drach immer wieder zur Metapher für Normierung. So vergleicht er den Körper einer Frau in »Z. Z.« mit einem »falsch gelösten Setzkastenspiel«, wogegen das kindliche Spiel mit dem Setzkasten ihn nach der Darstellung in Protokoll zu meiner Widerlegung zum Schreiben seiner ersten Verse brachte. Vgl. Albert Drach : Protokoll zu meiner Widerlegung (ab 7 :20). 276 Drach : Unsentimentale Reise, S. 10. 277 Vgl. Feuchtwanger : Der Teufel in Frankreich, S. 140.
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gehrenden mit dem Raumbildungsprozess. Das Bewusstsein der Hauptfigur und das Raumbewusstsein fallen in eins. Mit dem Protokollstil, der hier zum Bericht abgeschwächt ist, aber immer noch die Kennzeichen eines juristischen Textes trägt, hat Drach einen Weg gefunden, dem Raum eine Sprache zu geben und den Schwerpunkt auf Machtverhältnisse zu legen. Der Held in Unsentimentale Reise bewegt sich durch die prädefinierten Räume wie ein Schlafwandler, immer im Bewusstsein eines Selbst und mit dem Wissen von der Bedrohung, die von diesen Räumen ausgeht, aber ohne auf die feststehend scheinenden Strukturen achtzugeben. Es scheint mir nicht so sehr das Element der Lebensbedrohung zu sein, das das Zentrum der Handlungsmotivationen des Protagonisten ausmacht, als der Versuch, die Regeln der Räume für sich umzudeuten und, wo sie nicht flexibel sind, zu brechen. Die Eröffnungsszene im Zug liefert hierzu das deutlichste Argument, aber auch im Lager erklärt Kucku den Raum als von ihm selbst besetzt und bringt sich somit aus der Opferrolle. Er steht gewissermaßen über den Schranken, die den Personen in der Gefangenschaft zugewiesen werden, nirgendwo deutlicher nachlesbar als in den Seitenhieben auf Lion Feuchtwanger, der seiner Meinung nach einen Einfluss zur Schau stellt, den er gar nicht hat, um am Ende nur sich selbst zu retten, indem er das Allgemeinwohl als Motivation vorschützt : »Dann kam der Zug, doch fuhr er ohne ihn [Walter Hasenclever]. Ein winziges kugelrundes Männchen, nämlich Lion Feuchtwanger, gestikulierte lebhaft, als müßte er der Maschine befehlen.« 278 Im Gegensatz zu Feuchtwangers sind Drachs Darstellungen von Behörden auf ihre Funktionsweisen selbst gerichtet, unabhängig davon, um welche Behörde es sich handelt. Nachdem die bisherigen Beispiele eine so konsequente Verweigerung vorführen, Räume zu konstruieren oder die Perspektive zu definieren, von der aus sie erschlossen werden könnten, soll ein weiteres Beispiel aus Drachs dramatischem Schaffen zeigen, wie der Theaterraum, in dem von vornherein ein Raum, wenn nicht ein Ort, der offen vor dem Auge des Betrachters und der Betrachterin liegt, semantisiert wird.
Im Raum des Privaten Die Regieanweisungen und sogar der Titel des »Kernsprengungsspiels« Gottes Tod ein Unfall 279 von 1972 schreiben einen hermetisch geschlossenen Raum vor, 278 Drach : Unsentimentale Reise, S. 36. 279 Albert Drach : Gottes Tod ein Unfall. Ein Kernsprengungsspiel in vier Einstellungen zu je vier Bege-
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dessen Grenzen jedoch strategisch überschritten werden. Die Kernsprengung ist hier keine Explosion, sondern leise Überschreitung und in seiner Bewegungsrichtung eher ein Eindringen denn ein Nach-außen-Gehen, für Schulte das »furchtbarste dieser Stücke« 280 Drachs, die sich dem Thema des Messias annähern, der ebenso aus dem Weg geräumt wird wie die Teufel, um etwas noch Schlimmerem den Weg zu bereiten : dem Gesetz, das sich tief im privaten Raum eingenistet hat. Da heißt es zu Beginn : »Bühne waagrecht und senkrecht in vier Räume unterteilt, die wechselnd beleuchtet sind und dann den Vorgang vermitteln.« 281 Der Bühnenraum bleibt während des gesamten Stücks in dieser starren Untergliederung, die vier Privaträume darstellt, in denen vier Familien verweilen. Der Blick des Publikums bleibt auf diesen Räumen, während das nicht sichtbare »Draußen«, eine Mauerschau, die eigentliche Handlung liefert. Bis zum dritten Akt sind die Bewegungen der Figuren streng parallel. Die (Ehe-)Paare in jedem Zimmer des Hauses bleiben in demselben, während ihre Kinder bzw. die Schwester nach draußen gehen und dort einen Unfall erleiden, der jeweils von einer mephistophelischen Figur ausgelöst wird. Diese Figuren mit Namen Morderl, Mordall, Mordsgerl und Murks sind Grenzgänger, die sich von einem Raum in den anderen und von draußen nach drinnen bewegen. In der Regieanweisung werden sie als »Spezialisten für technische Lösungen«282 bezeichnet. Die Entwicklungen innerhalb der Zimmer weisen in zwei Richtungen : in zunehmenden Wohlstand der Familien durch den sozialen und beruflichen Aufstieg einzelner Figuren bei gleichzeitiger Abnahme des Figureninventars durch Unfälle und Mord und deren Ersetzung durch Presse und Behörde, also ausgesprochen nichtprivate Figuren. Jede dieser fatalen Begebenheiten führt zu einer hinsichtlich sozialer Stellung und finanzieller Entwicklung positiven Wirkung auf die Hinterbliebenen, jeder Tod löst ein Dilemma, das dem Aufstieg entgegensteht, wogegen der Geschmack der Inneneinrichtung mit steigendem Wohlstand dramatisch abnimmt : von »sauber ausdruckslos« oder »edelproletarisch« führt der Weg zu »undefinierbar« und »zusammengewürfelt aus allen Stilen«283. Drach lässt das Publikum den Weg des Archäologen gehen, benheiten auf je vier Plattformen. In : A. D.: Gottes Tod ein Unfall. Dramen und Gedichte. Hamburg/ Düsseldorf : Claassen 1972 (= Gesammelte Werke. 7.), S. 7–106. 280 Reinhard Schulte : Vom Gott bis zum Wurstel oder Warum ist Drach so schwer zu spielen ? In : Prozesse 1 (1998), S. 43–55, S. 45. 281 Albert Drach : Gottes Tod ein Unfall, S. 9 (Anm. 276). 282 Ebda., S. 8. 283 Ebda., S. 9, 37, 81.
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der aus den Fundstücken eines Privatraums die Lebensumstände der Bewohner herausliest. Er führt aber in der Regieanweisung nicht aus, um welche Gegenstände es sich handeln soll, damit überlässt er der Realisierung des Stücks die Entscheidung, welche Inneneinrichtung eine Wohnung auf die beschriebene Weise erscheinen lässt. Der Verfall passiert auch mit der Sprache, die schon innerhalb der Akte von »nach der Schrift« in Umgangssprache verfällt, so will es die Regieanweisung.284 Dass der Theatertext weiterhin ein geschriebener bleibt und Drach keinen Versuch macht, die Realisierung der Verfallserscheinungen im Text außer als Anspruch kenntlich zu machen, mag wiederum mit dem Spielcharakter seiner Stücke zu tun haben.285 Gott, der zur Erlösung im dritten Akt vierfach, und zwar in Gestalt eines Anwalts, eines Arbeiters, eines Sekretärs und eines Fremden gekommen ist, wird ermordet, um nicht im Weg zu sein. Wurden die Unfälle bis dahin von Teufelsemanationen ausgelöst, übernehmen nun die Menschen diese Funktion. Mord existiert nicht mehr, da er legalisiert und bürokratisch organisiert wird. So dürfen beispielsweise nach dem neuen Gesetz an jedem Donnerstag dickleibige höhere Würdenträger mit Pfeil und Bogen erschossen werden. Die Familien ziehen daraus unterschiedlich großen Nutzen, es kommt zu größeren Ungleichheiten unter den Parteien. Die behördliche Genehmigung des Mordens zieht eine weitere Anzahl an beteiligten Institutionen nach sich, die hauptsächlich dokumentierenden Charakter haben : Fotografen, Umfrageleiter und mit Nachforschungen Beauftragte protokollieren das Geschehen. Gott wird durch diesen Behördenapparat ersetzt, die Moral durch Geld. Die Handlung ist durch einfache Motivationen, von Interessen und Machtbeziehungen geleitet. Die sprechenden Namen der Figuren lassen freie Assoziationen in verschiedene Richtungen zu. Am stärksten wirkt zu Beginn der Name des ersten Opfers, Justine. Sie trägt den Namen von de Sades tugendhafter Heldin. Hatte sie da noch eine schier nicht enden wollende Qual an Erniedrigungen und Verletzungen zu erleiden, macht der drachsche Text mit ihr kurzen Prozess. An de Sade gemahnt auch die Umsetzung eines Gesetzes gegen die Abwesenden : »Die Gesetze sind immer gegen die, zu deren Nachteil sie gemacht wurden.« 286 In Drachs politischer Parabel wird die zunehmende Durchdringung des Privatraums durch eine vorerst außenstehende Bürokratie ins Zentrum gerückt. Das Verhalten der Bewohner der Wohnungen ist gekennzeichnet durch ihre 284 Vgl. ebda. 285 Vgl. Klotz : Etwas über Bühnenstücke von Albert Drach, S. 5 f. (Anm. 190). 286 Drach : In Sachen de Sade, S. 20.
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Gleichgültigkeit gegenüber diesem Vorgang, gleichgültig scheint ihnen auch das Schicksal ihrer Kinder zu sein, die daran zugrunde gehen. Wie in anderen Texten geißelt Drach den Verkauf der Integrität bürgerlicher Figuren und deren Mangel an sozialem Engagement. Eine ähnliche Behandlung des Themas wird wie erwähnt auch im Skurrilspiel Sowas vorgeführt. Mit der Ermordung Gottes ist ein Bann gebrochen und man beginnt am eigenen Glück zu basteln, die Opfer werden zahlreicher. Alles passiert vom privaten Raum aus, der sorgsam gewaltfrei bleibt, auch wenn sich die Täter in ihm aufhalten. Zunehmender Kitsch und Geschmacklosigkeit der Einrichtung verweisen auf den Bruch, der zwischen dem Innen und dem Außen entstanden ist, verzerren aber auch die für den bürgerlichen Innenraum typische Inszenierung des eigenen Reichtums. Vom barocken Gleichmaß der Einzelteile der Inneneinrichtung geht der Trend zu den akkumulierten Details des Ausdrucks von Reichtum und Kunstgeschmack. Gottes Tod ein Unfall ist ein Stück, das den privaten Raum ins Zentrum der Beobachtung rückt. Es ist ausgerechnet die Theaterbühne, das Paradigma des öffentlichen Raums für das Bürgertum ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert, dort, wo sich das Selbstverständnis einer privaten Gesellschaft in der Öffentlichkeit herausbildet, die sich per Regieanweisung Drachs in die Zurschaustellung des Intimen verwandelt. Das Theater des 19. und 20. Jahrhunderts, in welchem der junge Drach in der literarischen Öffentlichkeit sozialisiert wurde,287 ist in seiner ganzen Anlage dem bürgerlichen Publikum und seinen Bedürfnissen angepasst. Auf der Bühne werden die vordringlichen Fragen verhandelt und in den Logen und auf dem Parkett entspinnt sich ein reger gesellschaftlicher Austausch, sodass man sagen kann, im Theater bildet sich eine Öffentlichkeit, die ihr Privates behutsam zur Schau stellt. »An der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gelegen, war die [Theater-]Loge ein Salon, dessen Intrigenspiele manchmal mit der Bühnenhandlung konkurrierten.« 288 An diese Stelle passt ein Gedicht aus Drachs Zyklus Hunde bellen den Mond an, in dem er auf den hermetischen Raum der Theaterloge hinweist.
287 Vgl. Schobel : Ein wütender Weiser, S. 80. 288 Vgl. Anne Martin-Fugier : Riten der Bürgerlichkeit. In : Michelle Perrot (Hg.) : Von der Revolution zum Großen Krieg. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach/Gabriele Krüger-Wirrer. Frankfurt : Fischer 1992 (= Geschichte des privaten Lebens 4), S. 201–266, S. 217.
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Der Gatte und der Mond 289 Madame sitzt in der Loge Und blickt um sich herum Gelangweilt auf die Bühne, beseelt ins Publikum. Madame sitzt in der Loge. Man blickt ihr ins Gesicht. Die Herren sind bezaubert, Die Damen sind es nicht. In vorgerückter Stunde Tritt der Gemahl zu ihr. Er führt sie aus der Loge Bis an die Wagentür. Der blasse Mond am Himmel Wagt einen Abschiedsblick. Jedoch das Haupt des Gatten Weist diesen Blick zurück.
Unschwer ist in der »Madame« die Schwester des Dichters zu erkennen, deren unglückliche Ehe mit dem unintellektuellen Alexander Gartenberg er schon in Apotheose der Langeweile gegeißelt hatte.290 Sie sitzt im separaten Raum der Loge, wogegen ihr Blick in das Außen eines Theatersaals geht. In der ersten Strophe blickt sie hinaus, in der zweiten wird sie von anderen erblickt, in der dritten kommt ihr Mann ins Spiel und in der vierten schließlich ist es der Mond, von dessen erhöhter Warte aus die Abfahrt des Paares beobachtet wird. Ins Auge fallend ist die Passivität der Hauptfigur, die von einem geschlossenen Raum in den anderen geführt wird. Offenbar geht es Drach um die metaphorische Darstellung der Situation der Ehe der Schwester, die nur durch den sehnsuchtsvollen Blick in eine andere Gesellschaft unterbrochen wird, ansonsten aber in Isolation verläuft, was Drach im zitierten Prosastück in weit größerer Deutlichkeit formuliert. Im Gedicht wird die Darstellung eindringlich, weil Einsamkeit in einer Öffentlich289 Albert Drach : Gedichte. Hg. von Reinhard Schulte. (= Werke in zehn Bänden 10), S. 47. 290 Vgl. Schobel : Ein wütender Weiser, S. 61 ff.
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keit gezeigt wird, einer Öffentlichkeit, die sich durch ein enges Regelkorsett für alle Beteiligten präsentiert, wie es das abendländische Theater auszeichnet. Auf der Bühne des Stücks Gottes Tod ein Unfall nun entsteht ein typisches modernes Mehrparteienhaus, wie es sich in den europäischen Metropolen des 20. Jahrhunderts und in der Folge auch in den spärlicher besiedelten Gebieten entwickelt hat und wo die Grenzen des Privatraums zur Öffentlichkeit stärker gezogen sind denn je.291 Die Konflikte betreffen die Grenzsetzungen, es handelt sich um einen lebendigen starren Raum, wo es deutlich um die Begriffe des Innen und Außen geht und die Bewegung der Figuren außerdem eine Regelhaftigkeit hinter der Konstruktion des Raumes vermuten lassen. Zum Beispiel stellt das Stück systematisch die Frage nach dem Privatraum, die in allegorischen Figuren verhandelt wird, dem »Umfrager«, der »Nachforscherin«, dem »Stimmungsknipser«. Dass das Private als solches wahrgenommen wird, liegt an seiner Genealogie, die ihm einen festen Platz zuweist, der – bei weitem nicht so vielfältig und bunt wie der Platz der Öffentlichkeit – dennoch ebenso zu schillern vermag, bei Drach wiederum nur im Bösen und gegen das Leben gerichtet. Das Private ist eine vergleichsweise junge Erscheinung, doch schon wird der Verlust desselben im Zeitalter digitaler Überwachungsmedien beklagt, wenn beispielsweise den ahnungslosen Konsumenten berichtet wird, dass Mobiltelefone die Bewegungen ihrer BesitzerInnen kontinuierlich aufzeichnen.292 Damit wird eine private Angelegenheit im öffentlichen Raum zu einer öffentlichen gemacht. Die Bewegung der Benutzer in der Öffentlichkeit hat eine Aussagekraft über das Private, die nicht immer erwünscht ist, eine Situation, die historisch freilich keine unbekannte ist. Der Raum des Stadtviertels oder des Dorfes war ein jedermann zugänglicher Raum, in dem zwar kollektive Regeln galten, dessen »Fokus« im optischen Sinne aber ein Gehege, ein Zuhause war : ein Draußen, das von einem Drinnen definiert wurde, ein Öffentliches, dessen Mittelpunkt ein Privates war.293 291 Vgl. Antoine Prost : Grenzen und Zonen des Privaten. In : A. P./Gérard Vincent (Hg.) : Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach. Frankfurt : Suhrkamp 1993 (= Geschichte des privaten Lebens 5), S. 15–152, S. 113 ff. 292 Vgl. Charles Arthur : iPhone Keeps Record of Everywhere You Go. In : guardian.co.uk, 4.1.2016. Web : www.guardian.co.uk/technology/2011/apr/20/iphone-tracking-prompts-privacy-fears, (zuletzt eingesehen am 30.4.2015) und vgl. Charles Arthur : Android Phones Record User’s Location According to Research. In : guardian.co.uk, 30.4.2015. Web : http://www.guardian.co.uk/techno logy/2011/apr/21/android-phones-record-user-locations (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 293 Prost : Grenzen und Zonen des Privaten, S. 113 f.
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Wer sich im kleinen sozialen Raum bewegt, wird erkannt und erkennt auch alle anderen, das markiert den Unterschied zur elektronischen Bewegungsaufzeichnung des Mobiltelefons. Ein Unbeobachtet-Sein ist deshalb von vornherein ausgeschlossen. Die Entwicklung der Abgeschlossenheit der Kleinfamilie als Paradigma für die Struktur des privaten Raums und damit die äußere und innere enge Eingrenzung desselben wird in manchen Teilen Europas und in bestimmten sozialen Schichten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. »In der Sphäre der kleinfamilialen Intimität verstehen die Privatleute sich als unabhängig auch noch von der privaten Sphäre ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit – eben als Menschen, die zueinander in ›rein menschliche‹ Beziehung treten können.« 294 Die Anzahl der Zimmer pro Bewohner steigt, die Wohnungen werden insgesamt größer und die Menschen gewöhnen sich daran, dass es diesen Raum gibt, in dem sie unbeobachtet sein können, getrennt von der Umgebung und den Menschen, selbst jenen, die ihnen unmittelbar nahestehen. Im Gegensatz zum obigen Beispiel der Dorfgemeinschaft oder zu den durchschnittlichen Wohnverhältnissen unter den weniger Begüterten bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts bedeutet der Schritt aus der Haustür heute eine Entscheidung, sich »in die Öffentlichkeit« zu begeben, während diese früher ständig da war. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wechsel in der Wertigkeit, der diesen Prozess begleitet. Das Glück liegt in der Familie und im privaten Beisammensein, das Öffentliche und die Öffentlichkeit sind mit zunehmender Urbanisierung ab dem 19. Jahrhundert negativ konnotiert.295 Dieser Raum lässt dem Individuum zu viele Fragen offen und konfrontiert die Menschen mit der Figur des »Fremden«. Und noch etwas verändert die Beziehung zur Öffentlichkeit : Das Säkulare beginnt ab dem 18. Jahrhundert anders gedacht zu werden und diese Veränderung trägt wesentlich dazu bei, dass der Auftritt in der Öffentlichkeit einen neuen und immens wichtigen Stellenwert erhält. Das »Hinaus-Gehen« wird zunehmend zu einem Akt der Inszenierung und setzt eine weitere Grenze zum Privaten. »Draußen« und »Drinnen« sein, in der Öffentlichkeit oder im Privatraum, hatte freilich für Männer und Frauen höchst unterschiedliche Bedeutung. Die Öffentlichkeit wird zum Raum, in dem Paradoxa aufeinandertreffen, in dem man ein Bewusstsein von Sichtbarkeit hat und gleichzeitig das Recht auf Isolation, in dem Teilnahme nur passiv erfolgt 294 Jürgen Habermas : Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Hg. von Wilhelm Hennis/Roman Schnur. Neuwied am Rhein : Luchterhand 1962, S. 63. 295 Vgl. i. d. F.: Sennett : The Fall of Public Man, S. 20 ff.
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und sich ein generelles Gefühl ausbreiten konnte, dass man bei falschem Verhalten mit Konsequenzen rechnen musste, also all das, was vordem Privatheit ausgezeichnet hatte.296 Dem unmoralischen Raum der Öffentlichkeit steht die heile Welt des Privaten gegenüber. In Drachs Text bewegen sich die Täterfiguren nicht aus ihrem Privatraum, und das aus gutem Grund, denn draußen wartet der Tod. Eine unmittelbarere und stärkere Grenze ist nicht möglich. Wer in dieses Draußen geht, wird zum Opfer einer Öffentlichkeit, die von Verbrechen und Rücksichtslosigkeit regiert wird. Auch diese Sicht der Öffentlichkeit ist eine, die am Beginn des 20. Jahrhunderts neu gewesen sein dürfte und jedenfalls von der Stadt spricht. Da heißt es am Beginn des Stücks, als Justine ihre Bedenken wegen eines »schwarzen Mannes« äußert : »Bis ins Haus hinein kommt kein schwarzer Mann.«297 Justine geht trotzdem hinaus und, so als ob es in der Natur der Stadt läge, wird sie Opfer eines Sexualverbrechens.298 Das Kind Konradi aus der zweiten Familie wird von einem Auto überfahren, Brigitte, die Schwester von Plumpse, gerät in die Schienen einer Straßenbahn. In allen drei Begebenheiten sind die Verbrechen als Unfälle dargestellt, der Raum der Stadt leistet dazu seinen Beitrag, indem typische Ängste der Großstadt dargestellt werden. Die Opfer werden ersetzt durch die Figuren Morderl, Mordsgerl und Mordall. Die Stadt tötet also, der Unfall ist Mord. Die thematische Verschränkung von Raum, Raumkonzeption, Raumbildung mit dem Tod des metaphysischen Gottes ist in dem Drama höchst komplex angelegt, ist die messianische Figur doch eine, die nach ihrem Tod nicht aufersteht, weil die Menschen beschlossen haben, sie durch ihre Behörde zu ersetzen. Die Stadt, Sinnbild für den geregelten Apparat, ist lebensgefährlich durch die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, die Allgegenwärtigkeit von gefährlichen Maschinen und eine statistische Wahrscheinlichkeit von Verbrechen. Hier ist die Trennlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit angelegt in eine der Sicherheit für Gesundheit und Leben, eine Trennlinie, die Drach auflöst, indem schon in den privaten Räumen Vorarbeiten für das Unglück draußen geleistet werden. Was nun die Perspektiven auf den Themenkomplex Privatheit – Öffentlich angeht, so lassen sich zumindest zwei davon unterscheiden, welche gleichzeitig 296 Vgl. ebda., S. 27. 297 Drach : Gottes Tod ein Unfall, S. 12 (Anm. 276). 298 Es ist nicht anzunehmen, dass Drach auf die Hautfarbe anspielt, im Kontext ist das klar. An anderer Stelle, in Unsentimentale Reise, spricht er allerdings von einem »Schwarzen« oder einem »schwarzen Schatten«, wenn er Afroamerikaner meint. Vgl. Drach : Unsentimentale Reise, S. 390 f.
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zwei Fragen aufwerfen, nämlich eine soziale oder sozialgeschichtliche Perspektive und eine politische. Nicht erst seit der Frage der Vorratsdatenspeicherung unserer Tage vermischen sich politische und soziale Fragestellungen im Öffentlichen wie im Privaten. Habermas sieht diesen Konflikt als der Trennung selbst inhärent, wenn er schreibt : Die bürgerliche Öffentlichkeit entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft, aber so, daß sie selbst Teil des privaten Bereichs bleibt. Die grundsätzliche Trennung jener beiden Sphären, auf der sie beruht, meint zunächst nur die Entflechtung der im Typus hochmittelalterlicher Herrschaftsformen zusammengehaltenen Momente gesellschaftlicher Reproduktion und politischer Gewalt. Mit der Ausbreitung marktwirtschaftlicher Beziehungen entsteht die Sphäre des »Sozialen«, die die Schranken grundständischer Herrschaft durchbricht und zu Formen obrigkeitlicher Verwaltung nötigt.299
Staatliche Gewalt und Verwaltung müssen, wollen sie auf den Bereich des Öffentlichen einwirken, eine Legitimation vorweisen, denn hier liegt der Ort der bürgerlichen Selbstentfaltung.300 Der Raum des Öffentlichen wurde von einer bürgerlichen Öffentlichkeit geschaffen, die darum bemüht war, Autonomie und Freiheit zu erlangen,301 deren Beschneidung empfindlich wahrgenommen wird. Die Maßnahmen gegen terroristische Anschläge, wie sie vor allem in den USA nach dem Anschlag auf die Twin Towers getroffen werden und die zur permanenten Ausnahmesituation geführt haben, sind also nicht der einzige Grund, weswegen Politik sowohl in den Privatraum wie in den öffentlichen Raum vordringt. Bei Drach entsteht der Eindruck, dass es dieses Spannungsfeld und seine Durchdringungen sind, die zum Konflikt führen, der sich in den Wohlgefallen derjenigen auflöst, die davon profitieren, dass sich eine feindliche Außenwelt nicht in den privaten Raum vorwagt und stattdessen nur die Agenten derselben einlässt. Was die Perspektiven auf das Private betrifft, unterscheidet Geuss in Bezug auf das römische Recht sogar zwischen dreien, nämlich der »res publica«, der 299 Habermas : Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 158. 300 Vgl. Karin Jurcyk/Mechthild Oechsle (Hg.) : Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen. Münster : Westphälisches Dampfboot 2008 (= Forum Frauen- und Geschlechterforschung. Schriftenreihe der Sektion Frauen und Geschlechterforschung in der deutschen Gesellschaft für Soziologie. 21.), S. 13. 301 Vgl. ebda., S. 10.
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»res privata« und der »res sacer«. Während sich die Dritte dieser Perspektiven aufgelöst hat – Giorgio Agamben sieht den Begriff des »sacer« in anderer Form wiedergekehrt –, fällt in die zweite Kategorie vor allem die Regelung der Besitzverhältnisse der Individuen,302 womit sich eine historische Verbindung zwischen Drachs Kritik am Besitzbürgertum und dem Verständnis von Privatheit im römischen Recht offenbart. Geuss geht aber auch noch auf ein anderes Beispiel ein, das im Kontext mit Drach Bedeutung hat, wenn er Diogenes von Sinope als Beispiel für einen Grenzgänger zwischen den beiden Sphären heranzieht.303 Ein Beispiel, das auch für die heutige Auffassung von Privatheit/Öffentlichkeit Gültigkeit hat. Wenn vorhin die Rede war von der Datenspeicherung auf modernen Mobiltelefonen, so lassen sich hier Indizien dafür finden, warum diese auf den Widerstand ihrer Benutzer trifft : Das Prinzip der »Nichtbeachtbarkeit«, das in vielen Kulturen für den öffentlichen Raum gilt und den Menschen garantieren soll, dass sie sich ohne behelligt zu werden in der Öffentlichkeit bewegen können, ist mit der »Vorratsdatenspeicherung«, wie sie von der Europäischen Union zur Terrorbekämpfung eingesetzt wird, in Gefahr, unterlaufen zu werden. Im Gegensatz zur Dorföffentlichkeit, wo die Kenntnisnahme einer Person mit einem freundschaftlichen oder zumindest mit einem Gefühl der Bekanntschaft verknüpft ist, ist es im anderen Fall eine fremde Wahrnehmung der Person in der Öffentlichkeit, die hier stattfindet. Diogenes’ Praxis, die Öffentlichkeit durch Verletzung der Schamregeln, durch Verletzung der Nichtbeachtbarkeit zu schockieren, hatte natürlich ein wichtigeres Ziel als die bloße Provokation der Passanten. Sein Versuch, sich von der Geißel der Scham und des Schamgefühls zu befreien, musste ihn zwangsläufig dazu führen, sich aus allen Bindungen herauszulösen, die dieses Schamgefühl produzieren könnten. Es ging ihm also um eine Art von Befreiung in seinem Lebensprojekt, das unter dem Namen Kynismus berühmt geworden ist und von dem sich der moderne »Zynismus« ableitet, den Nietzsche noch in ganz ähnlicher Bedeutung als Befreiung des Denkens vom Politischen oder vom politischen Kalkül gebraucht.304 Inwieweit die Herausbildung der getrennten Räume des Öffentlichen und Privaten auf Abgrenzungsschwierigkeiten trifft, ist gerade in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts offenbar geworden. Drach hat mit Gottes Tod ein Unfall for302 Vgl. Raymond Geuss : Privatheit. Eine Genealogie. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Frankfurt : Suhrkamp 2002, S. 57 ff. 303 Vgl. i. d. F.: ebda., S. 33 ff. 304 Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting : Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Kynismus. Frankfurt : Suhrkamp 1988 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 713), S. 306–339.
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muliert, dass das Eindringen des Öffentlichen in den Privatraum Opfer und Täter produziert. Mit ihr muss auch eine Unterscheidung fallen zwischen Mord und Unfall, wobei sich diese von politischen Interessen herleitet. Dem Zyniker Drach fällt es nicht schwer, in diesem Fall Position zu beziehen. Politik und Öffentlichkeit tendieren dazu, miteinander identifiziert zu werden. Wieder ist der Impuls bei Drach, der das Recht als ungerecht darstellt, als das Werkzeug derer, die es dazu nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Sein Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen gründet sich schon auf diese Perspektive. Wieder ein Paradox der Moderne, das er bestrebt ist aufzulösen, denn »die politische Philosophie [und nicht nur diese] hat die Herausbildung dieser beiden Sphären und ihre Abgrenzung voneinander als Zugewinn an Freiheit und Autonomie interpretiert und legitimiert«305. Wird die eine Perspektive vor allem durch die Art und Weise der Einmischung der Politik in die getrennten Bereiche und die Möglichkeit eines Schutzes des Privatraums gegen die Politik gekennzeichnet – in Drachs Stück ist es geradezu eine Einladung an die Politik, im Privaten tätig zu werden und die Kräfteverhältnisse zu verändern –, so erscheint der soziale Blickwinkel auf der anderen Seite Teil dieser Trennlinie zu sein. Privatheit im Sozialen ist gekennzeichnet durch Regeln der Schamhaftigkeit, hat mit der Institution der Familie einen festen Platz dort und erscheint als abgeschlossenes System, dem das Verhalten in der Öffentlichkeit diametral gegenübersteht. Da ist das Spiel von »Sein und Schein«, die Verschiebungen und Festlegungen von Hierarchien fester Bestandteil eines öffentlichen Lebens, das vor allem als regelhaft und geregelt wahrgenommen wird. Die Öffentlichkeit, das sind bei Drach die Büros und die Straßenbahnen, die dunklen Parks und Straßen. Er beschreibt diese Orte beinahe ausschließlich als gefährlich und deviant, jedenfalls als negative Heterotopien, wo sich nicht die Kultur einer Sozietät ausdrückt, sondern wo sich im Gegenteil der finstere Teil des sozialen Bewusstseins – Rücksichtslosigkeit, Berechnung und Strategie – durchsetzt. Mit Gottes Tod ein Unfall bringt er aber auch den Privatraum ins Spiel, wo die Verhältnisse geregelt sein mögen, die Allianzen und Kräfteverhältnisse sind es aber nicht. Der Ort der Privatheit bleibt unversehrt, ist aber ebenso Raum des (moralischen) Verfalls, und die Heilsgeschichte ist nicht mehr das Spektakel der öffentlich inszenierten Hinrichtung, des sichtbaren Todes Gottes, einer Ermordung, sondern spielt sich in der dunklen Zwischenwelt des Lifts ab, wo die Unterscheidung zwischen Unfall und Mord schwerfällt : »Der Aufzug, sie wissens 305 Jurcyk/Oechsle (Hg.) : Das Private neu denken, S. 9.
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eh, hat einen Defekt, und da gibts auch noch einen Hebel. Schauns wie ich des mach (geht zur Tür hinaus, drückt). Nicht einmal geschrien hat er.«306 Der Tod Gottes ist kein ideologisches Werk, sondern eine pragmatische Entscheidung gegen einen, der sich einmischt.
Bewegungsräume : Erinnerungsstücke und Kreisbewegungen Seit Peter Kucku den Zaun von Rives Altes passiert hat, wähnt er sich unter den Toten, und der nachfolgende Roman Das Beileid thematisiert die Rückkehr zum Reich der Lebenden, allerdings mit Rückblenden, denn ohne die Erinnerung geht es nicht. Drachs Technik der anekdotischen Montage, die sich im Kreis zu drehen scheint, Auf bruch und Rückkehr als Motiv gehören zu den auffallendsten Merkmalen seines gesamten Werks. Die Anekdoten, die seine autobiografischen Romane bilden, kehren in Interviews, Essays und Erzählungen wieder, selten befasst sich ein Prosatext, zumal ein autobiografischer wie Vom Stift zum Gimpel, aber nicht wieder zurück 307, mit einer Episode, die nicht von Erinnerungsbildern aus weit verstreuten Zeiten kombiniert, sondern ganz und gar in einer chronologischen Weise erzählt wird. Der Ich-Erzähler erinnert sich und montiert in diese Erzählung weitere Erinnerungsstränge ein, sodass er zu der erlebten Gegenwart immer wieder zurückkehrt. Das Sich-inneWerden findet sich nur im ersten der beiden Teile des Romans und ist mitunter ein ruckartiger Prozess, der wie ein Aufwachen aus einem Traum geschildert wird.308 Kreis- und Tanzbewegungen des Protagonisten sind nach Schlant eines der wesentlichsten Strukturmerkmale von Unsentimentale Reise. Man hat es hier mit einem geschlossenen Raum zu tun, denn alle Bewegungen des Protagonisten sind als Kreise und Ringe beschreibbar, sowohl auf der Ebene der Zeit als auch der des Raums vollführt Peter Kucku eine Art erzwungenen Tanz auf einer begrenzten Fläche. In Schlants Analyse ist das Motiv des Tanzes bzw. des Totentanzes strukturbildend für alle Raumbildungsprozesse.309 306 Drach : Gottes Tod ein Unfall, S. 79 (Anm. 276). 307 Albert Drach : Vom Stift zum Gimpel, aber nicht wieder zurück. In : A. D.: Ironie vom Glück. Kleine Protokolle und Erzählungen, S. 155–181. 308 Vgl. Drach : Unsentimentale Reise, S. 25, 30, 35, 44, 87. 309 Vgl. Ernestine Schlant : Albert Drach’s »Unsentimentale Reise« : Literature of the Holocaust and the Dance of Death. In : Modern Austrian Literature 26/2 (1993), S. 35–62.
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Im Mittelpunkt der Bewegungen steht die Stadt Nizza, in die es Kucku immer wieder zurückzieht, obwohl die Umstände andere Aufenthaltsorte als geeigneter scheinen lassen. Um sie herum sind andere Bewegungsradien angeordnet, beispielsweise die verschiedenen Internierungslager, dann der Aufenthalt in dem Bergdorf Caminflour. Wann immer es ihm möglich ist, scheint Kucku die Rückkehr nach Nizza anzustreben. Schlant folgert daraus : »Kucku cannot leave the magnetic field of the universe concentrationnaire.«310 Der bürokratische Apparat organisiert seine Bewegungen mit, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen müssen erneuert werden, oft geht es darum, Geld in einem Land zu beschaffen, in dem Kucku nicht arbeiten kann. Es bleibt ihm also nichts übrig, als in dem Kreis zu bleiben, in dem er eingeschlossen ist. Der Strukturierung des Raumes entspricht die der Erinnerung. Der Text lässt zwar eine Chronologie erkennen, diese ist allerdings kontinuierlich unterbrochen durch Anekdoten und Episoden, die vor oder nach der erzählten Zeit stattgefunden haben oder stattfinden werden. Wenn es allerdings um Schlüsselmomente geht und der Erzähler und die Figur Kucku dieselbe Perspektive annehmen, dann ist die Reise zu einem einzigen Moment verkürzt : »An die Vergangenheit will ich nicht denken, sie setzt sich nicht mehr fort. Aber ich finde auch keine Zukunft. Dort, wo ich suche, ertaste ich ein Loch.«311 Gedächtnis und Erinnerung werden vom Erzähler zum Teil thematisiert, besonders in der ersten Hälfte des Romans : »Ich erinnere mich jetzt einiger Einzelheiten.«312 Oder : »Das alles fällt mir ein, wie ich von meinen Gängen für SS-Kohn, Dr. Honigmann und den Schuster Pollatschek zurückkehre.«313 Nicht untypisch für autobiografische Texte organisiert Unsentimentale Reise die Rückschau einerseits in einem kontinuierlichen Duktus, ordnet aber die Episoden ebenso thematisch und assoziativ. Es ist auffallend, dass Drach in seinem autobiografischen Roman beinahe ausschließlich ein episodisches Gedächtnis bemüht und sich Einschübe eines generischen Gedächtnisses oft nur dort ergeben, wo es um solche mit dezidiert zynischer Absicht geht :314 »Es ist 310 Ebda. S. 45. Der Begriff ist von David Roussets gleichnamiger Publikation von 1946 geprägt worden. Auch dies ist ein Beispiel für den metaphorischen Umgang mit dem Raum »Lager« und dessen Erweiterung in eine Art ideengeprägten Gebrauch eines räumlichen Begriffs. 311 Drach : Unsentimentale Reise, S. 50. 312 Ebda., S. 10. 313 Ebda., S. 116. 314 Zu den beiden Begriffen »generisches« bzw. »episodisches Gedächtnis« im Zusammenhang mit autobiografischen literarischen Texten vgl. Martina Wagner-Egelhaaf : Autobiographie. Stuttgart : Metzler 2000, S. 84 f.
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glücklicherweise immer wer da, der wen angibt.«315 Oder : »Keine Gelegenheit, die versäumt wird, kehrt je wieder. Es kommt höchstens eine andere.«316 In der Regel sind Erinnerungsstrukturen ebenso wie die Bewegungsstrukturen in Kreisen angelegt, sie haben mit Rückkehr, Wiederkehr und Reflexion zu tun und beeinflussen in einer metaphysischen Volte nicht selten die Erzählergegenwart, wenn etwa der Tod der Mutter in Z. Z. im Nachhinein in Verbindung gebracht wird mit der Ehebruchshandlung des Sohnes. Eine Fülle von Beispielen belegt die dominante Rolle des Tanzmotivs innerhalb des Narrativs.317 Unter diesen ist der raumgreifende Kreistanz der Horah im Lager Rives Altes das Eindrucksvollste, welches Ernestine Schlants These stützt, dass der Tanz sich hier als Totentanz durch den Text zieht, der Erotik und Tod miteinander verbindet und die Frage nach dem Zentrum dieser Bewegung aufwirft. Weder stirbt der Protagonist noch ist er in der Lage, eines der sich anbietenden Abenteuer erotischer Natur auszunützen. In der beschriebenen Szene sind es die bereits zum Transport in die Konzentrationslager ausersehenen Lagerinsassinnen und -insassen, die um ein Feuer tanzen. Kucku bleibt bewusst im äußeren Kreis der Zuschauer, um die Bewegungen der Tanzenden zu beobachten und sich von ihnen gleichzeitig zu distanzieren,318 nicht ohne dabei den Schauder desjenigen zu spüren, der, selbst knapp dem Tod entronnen, den Todgeweihten bei einer Demonstration ihrer ungebrochenen Lebenskraft zusieht.319 Kurz darauf versucht er eine der Lagerinsassinnen zu vergewaltigen. Ein Kreis ist es auch, der sich in der Dunkelheit der Nacht um den Baum im Auffanglager bildet, auf dem die entscheidenden Informationen angeschlagen stehen, die die Entlassung Kuckus verkünden.320 Tanz und Kreisbewegungen tauchen in kurzen Abständen sowohl im ersten wie im zweiten Teil des Romans auf, deutlicher dort, wo es um die Bewegungsrichtungen des Protagonisten geht. Georges Poulet muss nicht einmal auf Rilkes vielleicht berühmtestes Gedicht verweisen, wenn er die Mitte von Kreisbewegungen in dessen Gedichten als einen Punkt der Erinnerungslosigkeit, der Schwäche ausmacht : »Durch die Weite des Kreises wird der Mittelpunkt verwischt«321, während sich die Peripherie, 315 Drach : Unsentimentale Reise, S. 20 (Anm. 8). 316 Ebda., S. 123. 317 Vgl. Schlant : Albert Drach’s »Unsentimentale Reise«, S. 47 ff. 318 »Ich betrachte den Tanz, der nicht mehr zu mir gehört« (Drach : Unsentimentale Reise, S. 90). 319 Vgl. Drach : Unsentimentale Reise, S. 89. 320 Vgl. ebda., S. 88. 321 Georges Poulet : Metamorphosen des Kreises in der Dichtung. Aus dem Französischen von Peter und Béatrice Grotzer. Frankfurt : Fischer 1966, S. 385.
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das heißt hier das Denken an den Rändern, ausweitet. Das Prinzip ist auch in Drachs Emigrationserinnerung nachzulesen, und zwar sowohl in seiner Makrostruktur, der Anordnung der einzelnen Erzählteile, einer durchbrochenen Chronologie der Ereignisse, die sich immer öfter von der Mitte, einer Erzählergegenwart verabschieden und an den Rändern nach Erklärungen und nach Raum suchen, als auch in der Raumkonstruktion einer ein Zentrum vernachlässigenden Bewegung. Zentripedale und zentrifugale Kräfte wechseln einander ab. Deshalb bekommt Kucku immer, wenn er sich dem heimlichen Zentrum Nizza nähert, tendenziell Schwierigkeiten und rettet sich, wenn sich sein Bewegungsradius vergrößert. Unsentimentale Reise ist nicht der einzige Text, in dem Rückkehr, Wiederkehr und Kreisbewegungen einen wichtigen Aspekt der Erzählstruktur ausmachen. Dem Leser und der Leserin der Amtshandlung gegen einen Unsterblichen schwirrt schon nach wenigen Seiten der Kopf ob der sich im Kreise drehenden bürokratischen Schikanen in einer Wiener Polizeistube, in die es den unsterblichen Dichter Arthur Rimbaud bei seinem einzigen Besuch der Stadt verschlägt. Der 23-Jährige ist auf der Durchreise und muss bald feststellen, dass in Wien nichts zueinander passt, die Dinge und Menschen weisen falsche Proportionen auf. Unten und oben, rechts und links sind ihrer Symmetrie seltsam enthoben und präsentieren ein unharmonisches Bild. Während er diese Beobachtungen vom Kutschbock eines Fiakers aus macht, wird sein im Wagen verstautes Gepäck samt und sonders gestohlen, oder besser gesagt : es kommt abhanden. Der Versuch, Gerechtigkeit zu erwirken, führt ihn zur Polizeistation, wo er auf einen typischen Vertreter behördlicher Gewalt in Österreich trifft. Die satirische Darstellung der Wiener Polizei gereicht Drach zum Vehikel, um das goldene Wiener Herz zu karikieren, das sich im Wesentlichen in Form einer korrupten Behörde äußert. Rimbaud merkt bald, dass er als Ausländer in Wien schnell vom Opfer zum Täter gemacht werden kann, und versucht, die Sache zum Abschluss zu bringen. Das wiederum ist nicht im Sinne der österreichischen Gesetzgebung, die es vor allem mit verdächtigen Ausländern genau nimmt, wenn sie behaupten, ihnen seien Koffer gestohlen worden. Rimbaud muss sich hierauf als festgehalten ansehen und wird von einem Beamten begleitet, um zur Mittagszeit ein Gasthaus aufzusuchen. Man dreht sich im Kreis, kommt auf die Ringstraße, aber nirgends an. Später kehrt man unverrichteter Dinge zurück. Der Polizeidiener auf dem Rundgang durch Wien, hier nach dem italienischen Amtskollegen »Sbirre« genannt, bestiehlt den Dichter ein weiteres Mal, böse Vermutungen über den Fremden werden aufgestellt und wieder fallen gelassen, und die Affäre endet damit, dass Arthur Rimbaud ohne sein Gepäck und Geld
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weiterzureisen genötigt ist, nicht ohne vorher von der Kanzleigehilfin noch gebeten worden zu sein : »Denken Sie nicht schlecht von uns !«322 Die Begebenheit ist in der Rimbaud-Biografie von Starkie ähnlich dargestellt wie bei Drach.323 Er hätte im Frühjahr 1875 nach Russland reisen wollen, heißt es da, sei aber durch das Missgeschick in Wien dortselbst nicht nur dazu gezwungen gewesen, auf der Straße zu betteln, sondern musste sich dann auch noch von der österreichischen und später der deutschen Polizei als unerwünschter Ausländer bis nach Frankreich abführen lassen. Ironisch wie die Amtshandlung formuliert Drach die Begegnung eines anderen Unsterblichen mit dem Apparat, der sich aus Polizei, Ärzten und Richtern zusammensetzt. Im Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum arbeiten die Institutionen nahtlos und mit großer Effizienz zusammen, sodass einer ahasverischen Gestalt, dem Talmudschüler Schmul Leib Zwetschkenbaum, kein anderes Los bleibt, als immer wieder zu einem Punkt seiner Schuld oder Unschuld zurückzukehren, der mit der gleichnamigen »Pflanze mit verholztem Stengel oder Stamm«324 topografisch bezeichnet ist, ansonsten aber noch Stationen wie das Spital, die Irrenanstalt und das Gefängnis kennt. In keinem Buch, mit Ausnahme von Untersuchung an Mädeln vielleicht, hat sich Drach so sehr auf die Disziplinarinstitutionen konzentriert wie hier. Dabei legt der Verlauf der Handlung nicht einmal nahe, ob Zwetschkenbaum die Früchte gestohlen hat, wie ihm anfänglich zur Last gelegt wird, oder nicht. Vielmehr ist das bloß der Stein des Anstoßes, der ihn von einer Einrichtung zur anderen treibt, zuerst zu einem Gerichtsarzt, der ihn zum Idioten erklärt und ins Gerichtskrankenhaus bringt, wo er von mehreren anderen Ärzten unterschiedlich beurteilt wird, jedenfalls aber bald als körperlich verletzt gilt, nachdem ihm in einer Rauferei ein Messerstich beigebracht wird.325 Der solcherart Beeinträchtigte findet sich in Gesellschaft derer wieder, denen diese Institutionen Heimat sind und die diese auch dazu nutzen, um sich durchs Leben zu schlagen, um damit die produktive Dimension der Anstalten zu demonstrieren. Bald wird jenen offenbar, dass bei Zwetschkenbaum – was er selbst noch nicht weiß – Geld zu holen ist. Die Farce 322 Albert Drach : Amtshandlung gegen einen Unsterblichen. In : A. D.: Amtshandlung gegen einen Unsterblichen. Die kleinen Protokolle. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingrid Cella, Gerhard Hubman, Alexandra Millner und Eva Schobel. Wien : Zsolnay 2013 (= Werke in zehn Bänden 7/II), S. 7–52, S. 52. 323 Vgl. i. d. F.: Enid Starkie : Das trunkene Schiff. Das Leben des Jean Arthur Rimbaud. Hamburg : Leibniz 1963. S. 437. 324 Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 7. 325 Vgl. ebda., S. 44.
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spinnt sich weiter, und die Bewegung der unbedarften Hauptfigur dreht sich um einen Baum, der längst nicht mehr Mittelpunkt seines Geschickes ist, das ihn dennoch immer wieder dahin zurückführt. »Er sei gefahren, gefahren und unterwegs an dem Baum vorbei, da habe er geflucht. […] Aber der Baum sei eben nur ein Baum und könne nichts dafür.«326 Der Protokollant vermerkt zur Flucht Zwetschkenbaums aus der Heilanstalt : »Wahrscheinlich trieb er sich in einem Kreise herum.«327 Das bestätigt sich, als Zwetschkenbaum wiederum von demselben Polizisten unter demselben Baum vorgefunden wird wie beim ersten Mal. »Der Gerichtsvollzieher […] zeigte sich über die neuerliche Einlieferung des in der Anzeige Genannten wenig erstaunt […], weil Personen, die einmal in den Gefängnissen des Staates Platz gefunden haben, im allgemeinen in dieselben zurückzukehren pflegen.«328 Das Motiv des Wiederkehrens ist schon in der Figur Zwetschkenbaum selbst angelegt in seiner Ähnlichkeit mit dem ahasverischen Trödler in »Z. Z.« das ist die Zwischenzeit 329. »Gekommen, um da zu sein«330, so erscheint auch die Bewegung Zwetschkenbaums. Da fährt er auf der Fahrt nach Wien wieder an einem Baum vorbei : »Er wusste nicht gleich, ob er diesen Gegenstand anstarren oder sich vor ihm verbergen sollte.«331 Der Mittelpunkt der Kreisbewegung ist überall errichtet, es ist also eine Bewegung, der ein symbolischer Charakter eignet, in einem Kreis mit großem Radius : Gebückter als sonst stellte er die paar tausend Jahre ägyptischer Knechtschaft, Vertreibungen, Ghettoverschließungen, Verbrennungen, Metzeleien seines Stammes, zuzüglich alldem, was noch im Laufe kommender Zeiten an Überbelastung hinzukommen konnte, sowie auch nebst seinem höchstpersönlichen bescheideneren Lose zur Schau.332
Einen anderen Akzent bei ähnlicher Bewegungsführung seiner Hauptfigur setzt der Prosatext Das Goggelbuch, den Drach 1942 im französischen Exil verfasst haben soll. Da liest ein später Nachfahre des Johann Gottgetreu Goggel, 326 Ebda S. 90. 327 Ebda., S. 72. 328 Ebda., S. 76. 329 Drach : »Z . Z .« das ist die Zwischenzeit. 330 Ebda., S. 139. 331 Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 246. 332 Ebda., S. 247.
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seines Zeichens Notar und Ahnenforscher, dessen Bericht, eine Art Traumerzählung einer Reise, die vor einem zerschmetterten Spiegel in seinem Zimmer beginnt und vor dem intakten Spiegel ebenda endet, dazwischen immer dem Teufel hinterher. Der Text ist Allegorie und Satire, in Kontrast gesetzt zum französischen und dem spanischen Don Juan. Hier ist die Hauptfigur der Binnenerzählung der Täter und das Opfer zugleich und zieht im 16. Jahrhundert notzüchtend, stehlend, mordend von Norddeutschland bis Südspanien, wird geschlagen und beraubt, geht und fährt, ohne jemals an ein Ziel zu gelangen, und am Ende, als er den Weg längst verloren hat, erwacht die Figur des Rahmens, zurückgeworfen auf den Anblick im Spiegel, eine Selbstreflexion über das Thema des Menschen ohne Moral. Eine Allegorie über die Deutschen, die dem Teufel folgen, um am Ende von ihm verraten zu werden. Wiederum ist der Leser und die Leserin im Dunkeln gelassen über die Topografie und Geografie des Handlungsschauplatzes : »In einer kleinen Stadt mit engen Gassen«333, heißt es da, oder es ist die Rede von der »einschlägigen Heide, der angeblich weitesten im deutschen Raum«334. Die ornamentalen Funktionen der Raumkonstruktion sind wiederum vollständig weggelassen. Viel bedeutsamer werden dadurch die festen Verbindungen zwischen der assoziativen Ebene der Machträume und der Handlungsebene. Auf der weiten Landstraße wird Goggel beraubt, in der kleinen Stadt verursacht er eine »Judenhatz«. Den Orten eignet eine Kraft, die die Potenziale des skrupellosen Goggel wie seiner Gegner zum Blühen bringt. »Sowie er aber [nunmehr seines Pferdes beraubt] geht, wird die Heide immer breiter und weiter mit jedem Schritt, und er weiß bereits, daß er nicht ankommt.«335 Es gibt für Drach keine neutralen, wertfreien Räume, die sich in der bloßen Anschauung bilden könnten. Er nimmt dagegen eine sehr enge Verschränkung von Raum und Figur an, wodurch oft der Eindruck entsteht, diese Figuren hätten keinen Bewegungsspielraum, das ist allerdings eine Bewegungsunfähigkeit, die die Alltagserfahrung bestätigt, indem der Raum nicht bloß als physischer verstanden wird, sondern jedweder Handlung, ja sogar dem Denken sein Gepräge gibt. Handlung kann sich in der Literatur nur in den dargestellten Räumen entfalten, und meistens stellen diese Räume eine unabhängig von den Figuren entworfene Größe dar, das heißt, dass, was immer auf Handlungsebene passiert, der Raum in derselben Gestalt wiedergibt und von außerhalb 333 Albert Drach : Das Goggelbuch. Hg. von Gerhard Hubmann und Eva Schobel. Mit einem Nachwort von Eva Schobel. Wien : Zsolnay 2011 (Werke in zehn Bänden 7/I), S. 24. 334 Ebda., S. 11. 335 Ebda., S. 19.
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des Textes als Bedeutung importiert. Räume gestalten die Handlung mit, weil sie vorgeben, was in ihnen möglich ist; sie sind entweder morphologisch gebildet, das heißt, über eine vorstrukturierende Wahrnehmung regelmäßig gebaut, oder amorph, in verwirrenden Drehbewegungen, und demzufolge weitgehend gestaltlos, obwohl mit einer festen Ausdehnung versehen. Das war die Ausgangslage aus dem zweiten Kapitel, um eingehend darstellen zu können, welche Bedeutung der Raum in der Literatur Drachs hat. Jedoch, die Räume, die Albert Drach entwirft – das hat sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit seiner Literatur zunehmend herauskristallisiert –, sind von mehreren Dimensionen umlagert, die es schwierig machen, ihre Gestalt mit Bestimmtheit festzumachen oder darin allein Semantisierungen herauszulesen. Räume bilden sich in den drachschen Texten nämlich vor allem über Verhältnisse und Abhängigkeiten. Nur wenigen Figuren sind die Bewegungsräume zugestanden, die sie benötigen würden, um sich von den Zuständen zu befreien, die sie einschließen. Sie bleiben flexible Bestandteile des Textes, die sich an die Protagonisten anlegen und deren Bewegungen mitmachen oder verhindern. Die Räume bei Drach funktionieren im Zusammenhang mit Gewalt und Recht, die sich oftmals sogar miteinander identifizieren wie in den gewählten Beispielen, die deutlich machen sollten, wie die Transformationen der Außenräume in der Literatur Drachs vonstattengehen und welche Veränderungen sie dabei zu durchlaufen haben. Nicht zuletzt ist der Protokollstil für den Raumbildungsprozess bestimmend. Es handelt sich um auf verschiedentliche Weise geschlossene Räume, in denen Gewalt Teil des Rechts geworden ist. Das Innere eines Wagens ist für Anhalterinnen ein solch geschlossener Raum, der sie nicht etwa aus der Not befreit, im Regen stehen zu müssen, sondern in einen Raum aufnimmt, in dem Vergewaltigung Usus ist und daher vom Gesetz wo nicht gebilligt, so doch geduldet wird. Drachs Logik kippt hier in ein Extrem, das nicht etwa auf utopische Weise in den Raum, den er den Figuren gibt, hineingeschrieben wird, sondern in seiner Anlage schon längst vorhanden ist. Besonders tückisch ist der Raum des Privaten, der sich keine Blöße gibt, sondern seine Opfer einer Öffentlichkeit aussetzt. Gott, der zur Hilfe eilt, stirbt im Zwischenbereich zweier getrennter Sphären, die nie wirklich zu trennen sind. Gerade das macht die moderne Aufteilung zwischen den Räumen der Öffentlichkeit und des Privaten suspekt. Die Räume Drachs sind keine Erfindungen, die sich die Literatur gibt, sondern erfahren ihre reale Entsprechung in der Wirklichkeit. Der Park mit seinen strategisch platzierten ruhigen Nischen dient der Bildung und Erziehung des Bürgertums, welches nichts weniger will und vielleicht darum umso mehr wünscht, als dass sich ebendort ein Raum öffne, der einer geheimen und zu-
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gleich öffentlichen Sexualität einen Platz gebe. Wiederum erkennt Drach, dass sich dort ein Platz für illegales Legales ergibt. Dass es in Sowas ausgerechnet die Polizei ist, die dem Gesetzesbruch zur Realisierung verhilft, unterstreicht die These von einem Recht, das den Raummustern subkutan gegeben ist, der zweiten Ebene des Rechts. Der Bunker ist wie der städtische Park Paradefall für einen künstlichen Raum, der in eine fremde Umgebung eingepasst wird, schon dies eine Form gewaltsamer Aneignung von Raum. Das Dasein des Bunkers verweist aber auch auf Gewalt, er steht mit dieser in geradezu intimer Verbindung, allerdings einer äußeren Gewalt, gegen die er einen Schutzschild darstellt. Was ist aber, fragt Drach, wenn sich eine andere Form von Gewalt innerhalb des Bunkers entwickelt, weil sie mit den Menschen dort hingekommen ist ? Es bedarf nicht immer einer Exekutive, um für die Einhaltung des Rechts, welches als Moral auftritt, zu sorgen. Diese Moral ist in der Ironie angelegt, sie entfaltet sich außerhalb des Textes, in der Erzählhaltung und im rezipierenden Lesepublikum, das auf diese Weise in den Prozess eingeschlossen wird. Auf der Ebene des Narrativs geht es dagegen darum, etwas, das nicht rechtens ist, Legitimität zu verleihen und so aus dem gewohnheitsmäßigen Handeln etwas zu machen, das von der Autorität im Text, sei dies ein Polizist oder die Gleichgültigkeit der Passanten oder allgemein die Beteiligten, gedeckt wird. Schließlich gehören zu den Beispielen einer Analyse der Räume in Drachs Literatur auch die verschiedenen Formen des Lagers und der Zug, im speziellen Fall der Deportationszug. Letzterer wurde und wird nach wie vor als Periphrase für den Holocaust verwendet. Ein Beispiel stellt die Wanderausstellung mit dem Titel Zug der Erinnerung dar, die in Deutschland seit 2007 durchgeführt wird und gleich mehrere Aspekte der Vergangenheitsbewältigung vereint, indem die Ausstellung im Innenraum eines Zuges präsentiert wird, der an die Orte der Deportationen fährt.336 Mit dem Deportationszug bietet sich dem Schriftsteller Drach ein Raum, dessen Zynismus nicht mehr zu einer Übertreibung geführt werden kann. Im Gegensatz zu den Schilderungen anderer Überlebender der Verfolgungen im Naziregime sind es bei Drach nicht die realen Bedingungen, auf die sich sein Blick richtet, die Enge, der schlechte Geruch, die Finsternis, sondern die Idee, ein sicheres und bequemes Transportmittel in ein fahrendes Gefängnis umzufunktionieren (so wie der Bunker vom Schutzraum zum Mordraum wird). Darin nicht unähnlich lassen Janet Cardiff und Georges Bures Miller in ihrem Beitrag zur Kunstausstellungsreiche documenta 336 Vgl. Hans-Rüdiger Minow : www.zug-der-erinnerung.eu/zug.html (zuletzt eingesehen am 4.1.2016).
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(13) in ihrem Werk Alter Bahnhof Video Walk die Besucher der Ausstellung zwei Welten gleichzeitig erleben, indem ihnen ein iPod eine zweite Perspektive auf den Bahnhof Kassel bietet, eine künstlerisch hergestellte Heterochronie, die ebenfalls das Thema der Deportationen in Konzentrationslager aufnimmt.337 Während Döblin oder Feuchtwanger in ihren Berichten von ihren »Reisen« in Südfrankreich den Kontrast zwischen den Reisezügen friedlicher Zeiten und den Transportzügen des Vichy-Regimes beschreiben, der für sie hauptsächlich im Wegfall von Bequemlichkeit und Sicherheit über das Fahrtziel besteht, liegt der Schwerpunkt der drachschen Darstellung darin, dem Raum keinen neuen Sinn zuzuschreiben. All den drachschen Räumen eignet eine heterotopische Qualität, die als ihr wesentlichstes Merkmal nicht nur der bloßen Illustration dienen, sondern etwas ersetzen, was in der Literatur als Raumkonstruktion beschrieben wurde. In diesem Zusammenhang sind die Raumbildungsprozesse von entscheidender Bedeutung. Wie bildet sich ein Raum in der Erzählung, wenn nicht mehr ein Protagonist oder ein auktorialer Erzähler, deren Bewegung und Anschauung Ausgangspunkt der Raumkonstruktion sind, sondern ein beteiligter Protokollant ? Verhältnisse und Beziehungen sind nicht mehr in Relation zum Körper der Figur gebildet, sondern als Funktion ohne spezifische räumliche Ausdehnung. Es sind dies die Amtsstube, das Wirtshaus, das Zugabteil, das private Zimmer. Die Idee, die Drach mit seinem Verfahren vermittelt, ist vergleichbar mit Foucaults Erfahrung vom omnipräsenten Gefängnis, dessen Wirkung eben nicht mit der Bewegung aufhört. Die Räume sind geschlossen, weil sie einen Charakter aufweisen, der als Zwang beschrieben werden kann. Wie Foucault sucht Drach in der Beschreibung räumlicher Qualitäten einen Weg, der aus diesem Zwang führt. Die Figuren stolpern von einem dieser Räume in den nächsten, bis deutlich wird, dass es dieses »Außen« nicht mehr gibt. Im »Außen« scheinen nur die Steuerungsmechanismen zu liegen, deren Existenz man zwangsläufig annehmen muss, wenn von Zwang die Rede ist, die aber bei Drach unsichtbar bleiben. In dieser Hinsicht »fühlen« sich viele der drachschen Texte kafkaesk an, auch wenn sie es nicht sind. Wie in den Texten des Prager Schriftstellers gibt es aber auch bei Drach keine Aussicht auf Rettung. Der geschlossene Raum könnte auch eine Schutzfunktion haben, wenn es dieses »Außen« gäbe, stattdessen aber funktioniert er vielmehr auf eine Art und Weise, die auf die Körper der Protagonisten zugreift. Statt zu schützen, öffnet sich ein neuer Raum, unsichtbar und 337 Janet Cardiff/John Bures Miller : Alter Bahnhof Video Walk. http://www.cardiffmiller.com/art works/walks/bahnhof.html (zuletzt eingesehen am 4.1.2016).
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unsicher, aber offenbar mit einer Macht ausgestattet, die es ihm erlaubt, sich der Körper der Figuren anzunehmen. Ein wie auch immer geartetes Recht in diesen Räumen ist häufig suspendiert. Das Verbot, Minderjährige auf Parkbänken zu missbrauchen, ebenso Autostopperinnen oder Neugeborene, hat keine Kraft, die Mauern, die sie umgeben, hindern höchstens deren Flucht, die Opfer bleiben aber schutzlos. Flucht wäre in diesem Sinne Befreiung. Dass eine solche immer außerhalb des Vorstellbaren bleibt, erhärtet den Verdacht, dass ein Ausweg auch auf theoretischer Ebene gar nicht existiert. Eine Lösung ist von Drach nicht intendiert, und insofern gestaltet er seine Literatur nicht als Kritik der Vereinnahmung des Raumes, sondern der Pervertierung seiner kulturellen Implikationen. Parkbänke zum Beispiel werden zu Orten der Vergewaltigung, Autos ebenso, Züge sind Vehikel für Deportationen, der öffentliche städtische Raum verschlingt seine Opfer. In Drachs Texten öffnet sich ein neuer Raum der Suspendierung der Rechte der Menschen. Dieser Raum ist in ihnen selbst angelegt und korrespondiert mit dem Außenraum. Nach Thibaut schleppt der Erzähler in Unsentimentale Reise einen Sarg mit sich herum. »Denn so weit diese Reise auch führt, dieser Pierre Coucou trägt die Enge wie einen Sarg mit sich, er hat ja kaum noch das Leben selbst.«338 Sein finales »Hinaus !« auf die Frage des Gespenstes des toten Dr. Honigmann, wohin er denn gewollt habe, ist ein verzweifeltes, denn das »Außen« gibt es für Kucku nicht. Deutlicher als mit diesem Wort an dieser Stelle kann man den Moment der Befreiung, die sich über die Räume erstreckt und nicht über die Zeiten, nicht mehr formulieren.
338 Matthias Thibaut : Albert Drachs Unsentimentale Reise. Zynismus und Empfindsamkeit. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach, S. 294–297, S. 295.
4. Biopolitik Nun konnte beobachtet werden, wie sich Drachs Literatur auf den Körper als Raum der Machtausübung konzentriert, immer vorausgesetzt, dass sich die Rahmenbedingungen in einem gegebenen Außenraum richtig anordneten. Das Protokoll ist formaler Ausdruck dieser Machtausübung, der Protokollant, ein räumlich und körperlich Abwesender, wird erst sichtbar, wenn er es wünscht, unabhängig vom Rechtsspruch. So enden Das große Protokoll gegen Zwetschken baum, Vermerk einer Hurenwerdung und Das Goggelbuch explizit. Der Protokollant verkörpert das Recht, das sich zunehmend in der historischen Entwicklung der Körper der Delinquenten annimmt, und zwar auf höchst subtile Art und Weise, wie das bei Foucault nachzulesen ist. Der Körper ist schon in Drachs frühen Texten nicht bloße Projektionsfläche, sondern an und um ihn herum werden regelrechte Kämpfe ausgetragen, die erahnen lassen, wie wichtig einer modernen Machttechnik der physische Mensch sein muss. Der Raum der Machtausübung, der Repräsentationsraum, der reine Macht ist, verschwindet, denn wo sind nun die Quellen dieser Wirkungen ? Sie sind unsichtbar wie der drachsche Protokollant. Schon deshalb ist er ein Vertreter der Moderne und der Nachmoderne (Surmodernité), weil viele seiner Texte das vorführen, was man heute nach Michel Foucault unter Biomacht versteht. Die Entwicklung von Michel Foucaults Arbeit erlebte mit Der Wille zum Wissen eine Wende. Nichtsdestoweniger baute er auf vorangegangenen Untersuchungen auf und wandte sich einem Thema zu, das nach der Disziplinarmacht eine andere Machttechnik in den Blick nahm und auch hier wieder historische Paradigmenwechsel erkannte, die die politische Praxis in Europa seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend mit geformt haben. War sein Blick bis in die Mitte der 70er-Jahre auf eine Reihe von Institutionen gerichtet, namentlich das Irrenhaus, die Klinik, das Gefängnis oder das Internat, weitete er seine Analyse nun auf Gebiete aus, die der Macht keine konkreten Orte geben. Es ist noch immer die politische Geschichte Westeuropas, die Foucault hier schrieb, aber sie verabschiedete sich vom Individuum, dem einzelnen Menschen in seiner Umgebung, und erweiterte seine Theorie von den Techniken der Macht um entscheidende Beobachtungen zum Zusammenspiel zwischen Disziplin und Regulierung, einer weiteren normierenden Maßnahme zur Führung des Menschen in der Moderne. Einen prominenten Platz in der Erarbeitung
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dieser Theorie nimmt Der Wille zum Wissen339 ein, erstmals 1976 veröffentlicht und ergänzt durch die Vorlesungen am College de France (ab 1975), die eine gerade Linie beschreiben von den Techniken der Disziplin bis zur Gouvernementalität. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des ersten Bandes, Die Geschichte der Sexualität, drückte Foucault seinen Wunsch aus, dieser für seine Verhältnisse schmale Band möge als »Probebohrung« verstanden werden, eine »Leuchtbombe«, die er der auf weitere fünf Bände angelegten Untersuchung vorausschickte, einem »Arbeiten mit langem Atem, das sich im Laufe seines Fortgangs korrigierte«340. Tatsächlich hat die Untersuchung, die vorerst noch wenig Material präsentiert, sondern vielmehr einem größeren Korpus eine Hypothese voranstellt, das Thema vorangegangener Publikationen aufgenommen und um einige entscheidende Begriffe und Konzepte erweitert, die sich nicht nur in Foucaults weiteren Arbeiten als fruchtbar erwiesen, sondern auch eine Unzahl anderer Arbeiten angeregt und Begriffe wie »Diskurs«, »Dispositiv«, »Bio-Macht« und das Vokabular einer raummetaphorischen Beschreibung historischer Untersuchungsfelder neu oder mit neuer Aktualität in die Humanwissenschaften eingeführt haben. Das Buch stellte in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung und Kritik traditioneller Denkschemata dar. Die Provokationen der Psychoanalyse und der politischen Ideologien, die eine Befreiung der Sexualität forderten, sind in unterschiedlicher Intensität zum Teil des Diskurses zum Körper und zur Sexualität geworden.341 Neben der hohen Aufmerksamkeit in der philosophischen Diskussion, die Der Wille zum Wissen genießt, hat sich Foucaults Wunsch nach einer sich weiterentwickelnden Arbeit dahingehend erfüllt, als die politischen Theorien, die er hier entwirft, von einer Reihe von Theoretikern aufgenommen und zu neuen Konzepten weiterentwickelt wurden. Besonders bei Giorgio Agamben entsteht der Eindruck, Foucault habe entscheidende Konzepte aufgrund seines frühen Todes nicht fertigstellen können.342 Tatsächlich ist Agambens Homo-sacer-Projekt ein Schritt zurück in der Argumentationskette Foucaults und sucht eine Lücke zu schließen, die sehr wohl von diesem wahr339 Michel Foucault : Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seittere. 14., durchges. und korr. Aufl. Frankfurt : Suhrkamp 1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 716). 340 Ebda. S. 7. 341 Vgl. Petra Gehring : Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. In : Clemens Kammler/ Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.) : Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Elke Reinhardt-Becker. Stuttgart : Metzler 2008, S. 85–92, S. 85 und 91 f. 342 Vgl. Agamben : Homo sacer, S. 14.
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genommen wurde, und zwar im »verborgenen Kreuzungspunkt zwischen dem juridisch-institutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht«343. Agambens Fragestellungen in Homo sacer und Was von Auschwitz bleibt 344 zielen auf die Entstehungsbedingungen des Holocaust. Den Begriff Bio-Macht (oder Biopolitik) hat auch Foucault schon mit dem Rassismus des 19. Jahrhunderts verbunden und dann auch andeutungsweise mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts.345 Auch bei Antonio Negri und Michael Hardt rückte die politische Dimension der »Bio-Macht« in den Vordergrund und wurde für eine den Marxismus weiterdenkende Theorie instrumentalisiert. Negri und Hardt betonten die Kritik und die Formen des Widerstandes, die Der Wille zum Wissen nahelegt, und den Begriff der Revolution, der im Licht einer Analytik der Macht neue Gestalt annimmt.346 Negri schrieb die Analyse der Biopolitik weiter als eine »dialektische Gegenkraft« zur Bio-Macht und führte die zentralen Begriffe Foucaults damit in neue Kontexte, wo sich ihre Funktionen radikal veränderten. Bei Foucault handelt es sich um eine scientia sexualis, deren Werkzeug das Bekenntnis im Protokoll ist : Die Diskursivierung des Sexes, […] und die Ausstreuung und Verstärkung sexueller Disparität sind möglicherweise Teile ein und desselben Dispositivs und verbinden sich im zentralen Element eines Geständnisses, das eine wahrhafte Äußerung der sexuellen Besonderheit erzwingt – wie extrem sie auch sein mag.347
Den Begriff der »Bio-Macht« benutzte Foucault zum ersten Mal im Rahmen einer Vorlesung am College de France,348 hier heißt es : »Die Disziplinen des Körpers und die Regulierung der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat.«349 343 Ebda., S. 16. 344 Giorgio Agamben : Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt. Frankfurt : Suhrkamp 2003 (= edition suhrkamp. 2300). 345 Vgl. Michel Foucault : In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt : Suhrkamp 1999 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1585.), S. 294 f. 346 Vgl. Antonio Negri : Une contribution sur Foucault. 9.10.2004. Web : http://seminaire.samizdat. net/article.php3?id_article=15 (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 347 Foucault : Wille zum Wissen, S. 65. 348 Vgl. Foucault : In Verteidigung der Gesellschaft, S. 280. 349 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 135.
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Mit dem Begriff »Biopolitik«, der sein Werk Der Wille zum Wissen wenn nicht als Begriff, so doch als grundlegendes Konzept beherrscht, hat Foucault wiederum keinen ganz neuen Terminus geprägt, jedoch so radikale und weitreichende Neuinterpretationen geschaffen, dass die ursprünglichen Verwendungen in den Hintergrund gedrängt wurden bzw. heute nicht mehr als zeitgemäß erscheinen. Bis in die 1970er-Jahre wurde »Biopolitik« von zwei Positionen bestimmt, die zwar einander nicht entgegenstehen, aber immerhin eine Bandbreite an Unterschieden aufweisen. Die sogenannte politizistische wie die naturalistische Position sehen als Gemeinsamkeit die beiden Größen »Leben« und »Politik« in einem starren hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. So seien diese voneinander getrennt, stünden aber in Korrelation zueinander, und zwar so, dass entweder die Politik eine Position über dem Leben einnehme oder umgekehrt, sodass das Leben entweder Grundlage oder Gegenstand der Politik wird.350 Ausgangspunkt und zugleich oft problematisches Scharnier in der Argumentation ist, das Leben als Kategorie oder als fixe Größe darzustellen. Zu den Stärken des foucaultschen Konzepts gehört, dass es beim Begriff des Lebens ohne ideologisch gefärbte Vorinterpretationen operiert. Gewissermaßen haben beide der Foucault vorgängigen Theorieansätze mit den technischen, medizinischen und ökonomischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu tun, weshalb es nicht überraschen mag, dass der Begriff der Biopolitik am Beginn desselben zum ersten Mal auftaucht.351 »Leben« ist hier auch als eine Entität einer politischen Einheit gemeint, die eine Menge an Subjekten zu einem Staat zusammenfasst, also den einzelnen Individuen vorausgeht. Die extremste und bekannteste Ausformung dieser Idee ist die nationalsozialistisch-rassistische Biopolitik und ihr Konzept von einem »Volkskörper«. Dass man aus derselben Perspektive, der grundsätzlichen Annahme, dass die Biologie des Menschen sein Verhalten als politisches Wesen mitbestimmt, auch anders argumentieren kann, zeigen die zahlreichen Ansätze dazu seit den 1960er-Jahren, die es dennoch nicht zu einer konsistenten Theoriebildung geschafft haben.352 Die zweite wichtige Position, die mit dem Begriff der Biopolitik verknüpft ist, die naturalistische Position, hat ursächlich mit aktuellen Problemen wie der Ökologie und medizinischen und technischen Entwicklungen im Zusammenhang mit Lebensprozessen zu tun. Sie betont die Notwendigkeit einer Reflexion 350 Vgl. Thomas Lemke : Biopolitik zur Einführung. Hamburg : Junius 2007 (= zur Einführung 335), S. 11. 351 Vgl. ebda., S. 20. 352 Vgl. ebda., S. 28 f.
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über die Wechselwirkungen dieser Faktoren auf das Leben.353 Mit Biopolitik sind hier jene politisch-rechtlichen Regulierungsmaßnahmen gemeint, die beispielsweise biotechnologische Möglichkeiten zum Eingriff in natürliche Prozesse steuern. Es scheint, als ob damit eine bipolare Struktur geschaffen würde, die auf der einen Seite das Leben, auf der anderen Seite aber Technologie oder ökologische Katastrophen wahrnimmt und Biopolitik als dazwischen vermittelnd. Biopolitik wird damit zu einer Handlungsweise, die dem natürlichen Leben entgegensteht, weil sie ja nur aufgrund der Notwendigkeit existiert, Technologie und Medizin mit dem, was zuerst als Leben definiert werden muss, in Einklang zu bringen, was zunehmend schwieriger wird, je mehr der Prozess der Medizinisierung und Technisierung von Lebensprozessen voranschreitet.354 Lemke sieht in Foucaults Biopolitikbegriff drei Verwendungsweisen desselben zusammenfallen, die an unterschiedlichen Stellen in dessen Werk seit 1974 auftauchen, aber in Der Wille zum Wissen zusammengefasst sind.355 Mir scheint es sich weniger um Verwendungsweisen des Begriffes Biopolitik zu handeln, als um miteinander in Zusammenhang stehende argumentative Stützpfeiler, die gemeinsam einen Begriff determinieren; drei Facetten einer politischen Handlungsweise, die in den drei vorgestellten Formen an die Oberfläche treten, aber noch unzählige Spielarten kennen, die es zu entdecken gilt oder die bereits von Vertretern verschiedener Forschungsrichtungen entdeckt wurden. Man kann Foucault durchaus beim Wort nehmen, wenn er seine Studie mit dem Anspruch einleitet, es handle sich hier nicht um ein fertiggestelltes und abgeschlossenes Werk, das nun auf seine Interpretation warte, sondern um »Probebohrungen in einem vielschichtigen Boden«356. Der Begriff »Leben« erfährt bei Foucault eine andere Bedeutung als in den Biopolitik-Konzepten der Vergangenheit.357 Hier ist das Leben nicht gesteuert von einer mystischen Lebenskraft, ebenso wenig besteht Leben aus der Summe der sichtbaren Lebensprozesse und ihrer medizinischen Beziehung zur Umwelt. Bis zu einem gewissen Punkt vermeidet Foucault diesen Begriff auch in seinem weiten und bisweilen missverständlichen Sinn. So spricht er von Leben erst, wenn seine Vorlesung das Problem der Atombombe berührt, also wieder dorthin zurückkehrt, wo er am Anfang war und was sich durch die gesamte Vorlesung 353 Vgl. ebda., S. 40 f. 354 Vgl. ebda., S. 43. 355 Vgl. ebda., S. 48 f. 356 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 7. 357 Vgl. i. d. F.: ebda., S. 47 f.
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als roter Faden gezogen hat, nämlich die Frage, worin sich die souveräne Macht aufgeteilt hat, nachdem sie nach und nach aus den politischen Systemen des 19. Jahrhunderts gedrängt wurde.358 Die atomare Waffentechnik ist nach Foucault eine dieser Emanationen einer souveränen Macht. Das duale System, das sich dieser Souveränität annimmt, die Disziplin einerseits und die Regulierung andererseits, lässt die einstmals große souveräne und sichtbare Macht zusammenschmelzen und kaum erkennbar in unzähligen Techniken wieder auftreten. Zusammen führen sie das Projekt der Biopolitik durch. Das Leben, welches der Souverän die Macht hatte zu nehmen, ist nun in die Bevölkerung eingeschrieben, aber es ist als individuelles Leben entwertet und existiert nur in den Statistiken und Kontrollen, die letztendlich im Staat und den Institutionen angesiedelt sind. Auf diese Weise wird es möglich, das »Leben« von dessen substanzhaften Trägern abzulösen. Nicht die singuläre Existenz von Menschen, sondern deren biologische Eigenschaften, die auf der Ebene der Bevölkerungen erhoben werden, sind Gegenstand der Biopolitik.359
Lemke trennt »Leben« und »Existenz« in diesem Zitat rigoros, und in der Tat weist Foucaults Analyse in diese Richtung, ohne jedoch das beschriebene System als starr und undurchdringlich zu charakterisieren. Das Leben ist auch auf der Ebene der individuellen Körper an die Macht gekoppelt, gerade da, denn »Bevölkerung ist ein […] ›Gesellschaftskörper‹«.360 Foucault betont das Zusammenspiel zwischen den beiden Techniken der Macht : »Zunächst die Disziplin : Sie richtet sich auf den Körper, sie produziert individualisierende Wirkungen. […] Und auf der anderen Seite haben wir eine Technologie, die sich nicht an den Körper, sondern an das Leben wendet.«361 In Der Wille zum Wissen ist mit der Sexualität eines jener Scharniere zum Thema gemacht, das diese Verbindung in seinen Funktionszusammenhängen plastisch macht, von den »äußerst gewissenhaften Raumordnungen«362 der Macht über den Körper zu den Regulierungsverfahren, die die Rasse in den Vordergrund stellen.363 358 Vgl. i. d. F.: Foucault : In Verteidigung der Gesellschaft, S. 293 f. 359 Thomas Lemke : Eine Analytik der Biopolitik. Überlegungen zu Geschichte und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Behemoth 1 (2008), S. 72–89, S. 80. 360 Lemke : Biopolitik zur Einführung, S. 51. 361 Foucault : In Verteidigung der Gesellschaft, S. 288. 362 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 140. 363 Vgl. ebda., S. 141.
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In einer weit ausholenden Bewegung projiziert der Vorlesungstext, um was es sich am Ende bei der Untersuchung handeln könnte : Eine minutiöse Beschreibung, die ihr Augenmerk lange Zeit auf den Krieg und seine Implikationen in Bezug auf die Souveränität gerichtet hat und sich langsam auf die Frage nach den großen humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts zubewegt. Eine Bewegung, die Giorgio Agamben und Antonio Negri von diesem Punkt aus zu Ende geführt haben. Foucault berührt mehrmals das Problem des Rassismus und beschreibt ihn als die unmittelbare Folge der modernen Biopolitik, die aus dem Rassismus alter Prägung, einer unabhängigen Größe im politischen Handeln, die Grundlage moderner Staaten macht. In der letzten Vorlesung von 1976 behauptet Foucault nichts weniger, als dass der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts auf einem darwinistisch geprägten Rassismus gründet und von dort sogar seine Legitimität bezieht, die sich bis heute nicht wesentlich verändert hat : Ab da schreibt sich der Rassismus als grundlegender Mechanismus der Macht ein, wie sie in den modernen Staaten eingesetzt wird, und bedingt, daß es kaum ein modernes Funktionieren des Staates gibt, das sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient.364
Hatte der Begriff des Lebens, wie er von anderen Biopolitikkonzepten verwendet wurde, den Nachteil, starr zu sein und eine Definition von Leben vorauszusetzen, an das dann eine flexible und veränderliche Technik anknüpfte, so ist Foucaults Begriff des Lebens durch das Gegenteil gekennzeichnet. Es scheint bisweilen so, als ob das Leben, von dem er spricht, nur dort existiert, wo sich die Technologien der Bio-Macht an es anschließen. Alles, was das Leben ausmacht, leitet sich von der Souveränität her und dem Leben, das unter dem Schutz oder unter der Bedrohung desselben existiert.365 Das war der Ausgangspunkt für das Argument, das die Bio-Macht einleitete, und diese Stelle markiert auch das erste Auftreten des »Lebens« als Argument in der Theorie Foucaults. Wenn die Disziplin den Körper angreift und die Regulierung das Leben, dann ist es wirklich so, dass zwei Aspekte einer menschlichen Existenz, seine physische und seine biologische Seite, von zwei verschiedenen Techniken bearbeitet werden. Ein Nachteil des Konzepts ist freilich, dass Leben und Bevölkerung in einem so engen Verhältnis stehen. Biopolitik und Leben werden in Foucaults Vorle364 Foucault : In Verteidigung der Gesellschaft, S. 295. 365 Vgl. i. d. F.: ebda., S. 276 ff.
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sung fast ausschließlich aus der Perspektive der Bevölkerung gesehen, deren Begriff nicht ganz unumstritten ist, und zwar in eben jenem Bezug seiner Funktionalität in Foucaults Argument.366 Im Besonderen traf die Formulierung auf Kritik, wonach Bevölkerung erst als Begriff erfunden werden musste, während das Signifikat Bevölkerung scheinbar a priori existierte, daher erst »entdeckt« werden musste. In diesem Sinne wäre »Bevölkerung« eine natürliche Entität zu nennen und könnte nicht kritisch hinterfragt werden.367 Als Antwort auf diesen Disput weist Keith Crome nach, dass Foucaults Begriff des Lebens hauptsächlich von Nietzsche geprägt ist.368 Der Zusammenhang, der mit der Wahl des Titels Der Wille zum Wissen offenbar ist, erstreckt sich nicht nur auf die Konzeption von Macht als nichtsubstanziell und nichtmetaphysisch. Das Leben, wie es bei Nietzsche erscheint, ist nicht ein Seiendes, sondern ein Werdendes. However, what I am insisting on here is that through his relation to Nietzsche, Foucault is able to address the contemporary predicament of modern humanity from the perspective of life itself, rather than from the perspectiveless perspective of the cosmotheoros – that disinterested observer – that is nothing other than the legacy of metaphysical thinking which lies at the root of the world-historical phenomenon of nihilism.369
Es lässt sich aber andererseits auch behaupten, dass es sich beim »Leben« wie beim Terminus der Biopolitik um eine Neubewertung eines Begriffs handelt. Die Bevölkerung, wie sie Foucault beschreibt, kommt aus dem Begriff des Lebens, der Summe klassifizierbarer Lebensprozesse, die zusammen Subjekt der Regulierungsmacht geworden sind. In Der Wille zum Wissen heißt es denn auch : Es war nichts Geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken.370 366 Legg fasst die Kritik zusammen, die Curtis an Foucaults Begriff der Bevölkerung formuliert, der sich seiner Meinung nach aus verschiedenen unterschiedlichen Konzepten zusammensetzt. Vgl. Stephen Legg : Foucault’s Population Geographies : Qualifications, Biopolitics and Governmental Spaces. Population, Space and Place 11 (2005), S. 137–156, S. 142. 367 Ebda., S. 142. 368 Vgl. Keith Crome : The Nihilistic Affirmation of Life : Biopower and Biopolitics in The Will to Knowledge. Parrhesia 6 (2009), S. 46–61. 369 Ebda., S. 49. 370 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 137.
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen Foucaults Biopolitikkonzept und den Alternativen in Form des naturalistischen und politizistischen Konzepts liegt darin, dass Ersteres schwer dazu geeignet ist, Fragen nach Handlungsweisen zu beantworten, die beispielsweise die Biotechnologie der Politik heute aufdrängt. Es ist das Ergebnis einer historischen Untersuchung, die nahelegt, dass sich die aufgezeigten Entwicklungen in der Zukunft intensivieren werden, aber Foucaults Biopolitikbegriff bezeichnet keinen exakten Punkt des Widerstands gegen die biopolitischen Systeme unserer Zeit. Foucault hat zwar erhellende Einsichten zur Entstehung des Rassismus des 20. Jahrhunderts ermöglicht und die beunruhigende Existenz einer oftmals vermuteten, aber auch gefürchteten Kontinuität in der politischen Geschichte Europas vor und nach dem Zweiten Weltkrieg schlüssig nachweisen können, die Punkte des Widerstands sind aber nur schwer auszumachen. Die Frage nach den Möglichkeiten eines Widerstands hat Foucault häufig gestellt bekommen und auch ausführlich beantwortet, allerdings wiederum mit einem Ergebnis, das diejenigen, die sich Handlungsanweisungen erhofft haben, enttäuscht haben muss. Das Schreiben eines Buches sei etwas anderes als politisch aktiv zu sein, schreibt er, und seine Analysen sagten niemandem, was zu tun sei oder was richtig oder falsch sei.371 »Ich sage […] lediglich, dass die Dinge sich in meinen Augen etwa in dieser Weise abgespielt haben, aber ich beschreibe sie so, dass die eingeschlagenen Wege sichtbar werden.«372 Der Widerstand und politisches, radikales Engagement kann nur Teil der Macht sein, und zwar nicht der einer metaphysischen, unsichtbaren Macht, sondern er muss dort ansetzen, wo sich ihre Verhältnisse zeigen, wo sich die Verbindungslinien und Orte ihrer Entfaltung finden.
Körper und Geist als Raum der Politik Der im Deutschen oft mit »Regierung« übersetzte Begriff der Gouvernementalität trägt als sein wichtigstes Kennzeichen, dass er nicht als eine von außen wirkende Macht gesehen werden kann : »Government is not seen as an external
371 Vgl. Michel Foucault : Erläuterungen zur Macht, Antworten auf einige Kritiker. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff/Hans-Dieter Gondek/Hermann Kocyba. Frankfurt : Suhrkamp 2003, S. 784–795, S. 794. 372 Ebda.
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force acting upon otherwise free agents.«373 Was das Konzept mitunter schwer fassbar macht, aber wesentlich zum Verständnis der Machtformen nach dem Ende souveräner Herrscher beiträgt, liegt in der Tatsache, dass sie nicht mehr in einem Körper oder einer Körperschaft ortbar ist. Aus Foucaults Schriften geht klar hervor, dass seine Theorie von Macht keine singuläre Quelle derselben sieht. Die souveräne Macht hat sich nicht aufgelöst, sondern ist erhalten geblieben im Körper. Die moderne Biopolitik ist dementsprechend an andere Mechanismen angedockt. Mit den modernen Regierungsformen beginnen die Körper der Subjekte produktiv zu werden, sie produzieren Normen, steuern die Politik, die wiederum auf sie zurückwirkt, und schließen den Kreis dort, wo sie begonnen haben, nämlich bei der Reduzierung von Risiken, die nicht nur als gegebene gesehen, sondern schon antizipierend vorweg wahrgenommen werden. An dieser Stelle lässt sich die Produktivität dieser Form der Politik am deutlichsten ablesen. Nadesan führt als Beispiel das Gesundheitsüberwachungssystem an New Yorker Schulen an, wo man bemüht ist, Gesundheitsrisiken bei Schülern durch Überwachung und Beobachtung relevanter Phänomene wie Übergewicht zu reduzieren.374 Man forscht nach »Protodiseases«, Krankheiten also, die noch nicht pathologisch feststellbar sind, sondern im Stadium der Entstehung ihrer Voraussetzungen erkannt werden müssen. Es bedarf der Schule als abgegrenzter Überwachungsraum, die Disziplinareinrichtung, die hier natürlich nicht nur das Wissen über Gesundheitsrisiken vermittelt, sondern auch Verhaltensnormen trainiert, die insgesamt zu einem gesünderen Korpus an Schülern führen soll. Die Regulierungsmaßnahmen werden erst wirksam, wenn zum Beispiel Übergewicht als ein Risiko erkannt wurde, das nicht nur einzelne Schüler betrifft, sondern statistisch messbar wird. Die Maßnahmen, die getroffen werden, zielen zuerst also auf die Masse der Schüler, wirken aber durchgehend durch alle Ebenen der Bevölkerung (wenn man »Schule« als Bevölkerung sieht) bis auf das einzelne Individuum, welches sich selbst zu »verwalten« beginnt, indem es seine Lebensgewohnheiten einer konstanten Evaluation unterzieht, um sie den Zielen der Regierung anzupassen. Das Ausmaß der Anpassung erfolgt freiwillig, die Anpassung des Verhaltens des einzelnen Schülers folgt Vorgaben und Tipps, wie diese zu erreichen wären. Die Grafik soll deutlich machen, dass sich im Zentrum der gouvernementalen Auseinandersetzung Individuum und Bevölke373 Majia Holmer Nadesan : Governmentality, Biopower, and Everyday Life. New York : Routledge 2008 (= Routledge Studies in Social and Political Thought. 57.), S. 10. 374 Vgl. i. d. F.: ebda., S. 110 f.
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Reduzierung von Risiken
Reduzierung von Krankheiten Verhaltensanpassung
Individuum
Bevölkerung Vorschriften, Tipps
Gesundheitsrisiko Protokrankheit
Ökonomische Auswirkungen durch tatsächliche Krankheit
Abb. 4 : Die beiden zentralen Größen, Individuum und Bevölkerung, interagieren direkt, aber auch indirekt auf verschiedenen Ebenen miteinander. (Quelle : Vom Autor erstellt.)
rung befinden, die einerseits direkt aufeinander einwirken, indem sich das Individuum der Bevölkerung anpasst, also dem gesunden Menschenverstand entspricht, dieser wiederum zurückwirkt über Vorschriften und Tipps, wie er als Ziel erreichbar wäre. Diese Zielvorstellungen einer Sorge um sich selbst kreisen in unterschiedlicher Nähe zum Individuum und zur Bevölkerung. Die Maßnahmen zur Reduzierung von Risiken sind an das einzelne Element der Bevölkerung gebunden, ebenso wie auf der anderen Seite das mit abweichendem Verhalten in Zusammenhang stehende Gesundheitsrisiko (z.B.: falsche Ernährung produziert Dickleibigkeit, die als Protokrankheit zu erhöhtem Risiko tatsächlicher Krankheiten führt). Auf der Bevölkerungsseite oder -ebene werden darum Maßnahmen zur Reduzierung von Krankheiten getroffen, die auf das Risiko oder die Protokrankheit abzielen und vorangetrieben werden von den ökonomischen Auswirkungen, den tatsächlichen Krankheiten der Bevölkerung, die empirisch messbar sind. In der obigen Grafik soll dieser Vorgang verallgemeinert dargestellt werden : Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft ist bestimmt
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durch gegenseitige direkte Einflussnahme, wie auch durch einen äußeren Kreis, dessen Geschlossenheit durch die fließenden Übergänge zwischen Maßnahmen und Auswirkungen hergestellt wird. Der äußere Kreis bezieht sich auf Handlungen, die auf Ereignisse wirken, die entweder noch nicht oder bereits stattgefunden haben, jedenfalls nicht gegenwärtig sind. Aus dieser Perspektive ist es naheliegend, dass die Techniken des Selbst keineswegs beim Körper haltmachen müssen, sondern von der Mitarbeit des Individuums bei der Selbstgouvernance abhängig sind. Es sollte auch klar sein, dass sich im Zentrum moderner Biopolitik keine Macht befindet, sondern diese sich in Institutionen wie der Medizin an den Peripherien ansiedelt. Im Zuge zunehmender Aufmerksamkeit, die Geisteskrankheiten in all ihren Formen genießen, und zunehmender Pathologisierung abweichenden Verhaltens im Verlauf des 20. Jahrhunderts rücken auch Verhalten und Emotionen in das Blickfeld medizinischer Technologien. Freud sah zu seinen Lebzeiten die Ausbreitung der Psychiatrie jenseits der psychiatrischen Institution, die einhergeht mit der Aufweichung der Grenzen zwischen normal und pathologisch zugunsten des Pathologischen als einer allgemeinen Beschreibungskategorie. Mit der Befragung in der Psychoanalyse konnte sich eine Technik etablieren, die in sich auch etwas wie Optimismus trägt. Immer mehr »leichte Fälle« präsentieren sich als heilbar, psychische Probleme sind oft nichts weiter als das geheimnisvolle Verborgene, das durch das therapeutische Gespräch an die Oberfläche gebracht werden kann. Das Stichwort »Mentalhygiene« stellt eine deutliche Analogie zur allgemeinen Medizin her, aus der sie deshalb große Wirkung bezieht, da die Hygiene im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erfuhr und zur einflussreichsten medizinischen Technik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde. In ihrer Interpretation von Drachs Roman Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum erkennt Mary Cosgrove im Protagonisten eine literarische Verkörperung dessen, was Giorgio Agamben in der Figur des Homo sacer berühmt gemacht hat : »Zwetschkenbaum embodies the legal ambiguity of homo sacer; he is clearly a body with which the courts, hospital personnel, prison inmates amongst others, can do what they like.«375 Es mag auch auf den ersten Blick so scheinen, als ob Zwetschkenbaum rechtlicher Willkür ausgeliefert sei, die 375 Mary Cosgrove : Boudoir Society. Violence and Biopolitics in Albert Drach’s Protocol Novels. In : Dirk Göttsche u.a. (Hg.) : Schreiben gegen Krieg und Gewalt. Ingeborg Bachmann und die deutschsprachige Literatur 1945–1980. Göttingen : V&R unipress 2006 (= Schriften des Erich Maria RemarqueArchivs 19), S. 152.
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ihn umso härter trifft, als er ihr mit seinem beharrlichen Schweigen und naiven Antworten in die Hände spielt. Wenn das Konzept des Homo sacer mit allen Konsequenzen auf diese Figur angewandt wird, so würde das bedeuten, dass Zwetschkenbaum sich außerhalb der Sphäre des Rechts befände, dass er getötet (mindestens verletzt), aber nicht geopfert werden dürfe und dass seine Rechtssituation eine Ausnahme darstelle.376 Nun sind sich die Interpreten des Zwetschkenbaum seit jeher einig darüber, dass es das Unglück des Zwetschkenbaum sei, in die »Mühlen des Gesetzes« geraten zu sein, dass er also eher »wo hineingeraten« sei, als draußen stehe.377 Drachs Roman ist in diesem Punkt wahrscheinlich subtiler, als es vordergründig den Anschein hat. Wie sich am Ende herausstellt, ist Zwetschkenbaum Spielball einer Farce, in der es vornehmlich um Geld geht, das ihm gebührt, weil er verletzt wurde, dessen andere aber habhaft zu werden hoffen. Alles, was ihm passiert, ist gesteuert von anderen Motiven als dem vordergründigen Antisemitismus, der sich eher in Gesten äußert. Nicht zuletzt spricht gegen die Justizopfertheorie, dass ein Gericht ihm Schadenersatz für das erlittene Unrecht zuspricht. Wie Cosgrove selbst bemerkt, spiegeln Drachs Texte, einschließlich des »Zwetschkenbaum« – verzerrt mithin –, eine rechtliche Realität wider.378 Es ist daher weniger Willkür denn das Ausgeliefertsein bestimmter Subjekte dieses Rechts, auf die Drachs ironische Darstellung abzielt. Ohne Zweifel ging es ihm wohl darum, Kritik an einem System zu üben, das diese Art Ausgeliefertsein möglich macht. Das ist einer der Gründe, die eine Interpretation des Romans schwierig machen. Der Text behilft sich mit einer Anzahl von naheliegenden Mustern, um letztendlich eine andere Aussage zu treffen und den Protagonisten in die Nähe der Täterrolle zu bringen – ein Konzept, das auch in Untersuchungen an Mädeln wiederkehrt sowie in den autobiografischen Romanen. Zwetschkenbaum ist zwar vom Gesetz betroffen, scheint aber außerhalb seines Schutzes zu stehen. Das ist es zumindest, was Cosgrove nahelegt, wenn sie die Hauptfiguren des »Zwetschkenbaum« sowie der autobiografischen Romane als Figuren des Ausnahmezustands betrachtet, und der Begriff des Homo sacer ist ihr dabei hilfreich, weil er in so vielen Formen und Facetten aufzutreten 376 Vgl. Agamben : Homo sacer, S. 81. 377 Vgl. Rino Sanders : Schmul in den Fängen der Kanzleisprache. Die Geschichte eines malträtierten Talmudschülers. In : Gerhard Fuchs/Günther Höfler (Hg.) : Albert Drach, S. 277–281 und Günther A. Höfler : »Wenn einer ein Jud ist, ist das Schuld genug.« Aspekte des Jüdischen im Werk Albert Drachs. In : Ebda., S. 179–202. 378 Vgl. Cosgrove : Boudoir Society, S. 146.
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in der Lage ist, dass sich mit Sicherheit ohne Mühe noch einige andere Homines sacri in der drachschen Literatur finden ließen. Cosgroves Interpretation schließt eng an den ersten Band von Agambens Homo-sacer-Projekt an, das er in drei Teilen veröffentlicht hat.379 Die Identifizierung der Romanfigur Zwetschkenbaum mit der juristischen Figur des Homo sacer resultiert vor allem daraus, dass Drach ganz ähnliche Räume wählt, in denen sich auch Agambens Beispiele finden, zuvorderst natürlich das Lager, aber auch das Gesetz als Raum, der von den Figuren besetzt wird. Er, Zwetschkenbaum, habe »nach Art eines alten Propheten gesprochen«380, und der Homo sacer zeichnet sich, wie der Name sagt, durch seine Nähe zum Heiligen aus. Agambens politische Philosophie baut auf Foucaults Mitte der 1970er-Jahre entstandenen Schriften auf, inhaltlich und methodisch lassen sich deutliche Parallelen ausmachen. Ohne Foucault direkt zu kritisieren, besteht Agambens Arbeit im Versuch, dessen Konzepte und Methoden zu verfeinern und einzelne Aspekte der politischen Philosophie zu präzisieren. Aufgefallen ist er allerdings eher durch radikal anmutende Thesen, zum Beispiel der von der »innersten Solidarität von Totalitarismus und Demokratie« 381 und der vom »Lager als Paradigma der modernen Politik«382 – davon war im dritten Kapitel schon die Rede. Wie sich aus diesen verkürzten Beispielen deutlich herauslesen lässt, ist auch Agambens Technik von Foucault entlehnt. So wie dieser das Panoptikon als das Paradigma der Disziplinargesellschaft beschreibt, also eine Architektur, die kaum in die Realität umgesetzt wurde, deren Idee aber in unzähligen Beispielen einer Technik der Disziplin ihre Gestalt gibt, so ist für jenen der Homo sacer das Paradigma für den biopolitischen Körper, der getötet, aber nicht geopfert werden darf, eine Figur des römischen Rechts, von der Agamben meint, es spiele keine Rolle, ob sie in der beschriebenen Form im antiken Rom in Realität anzutreffen gewesen sei.383 Voraussetzung dafür, dass er den Homo sacer als ein Paradigma beschreiben kann, ist seine Definition desselben, nämlich als das Beispiel, das außerhalb der Norm steht und dieselbe bestätigt : »Es ist tatsächlich parádeigma im etymologischen Wortsinn, das, was 379 Giorgio Agamben : Homo sacer/G. A.: Was von Auschwitz bleibt/G. A.: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt : Suhrkamp 2004 (= edition suhrkamp 2366). 380 Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 47. 381 Agamben : Homo sacer, S. 20. 382 Ebda., S. 175. 383 Vgl. Eva Geulen : Giorgio Agamben zur Einführung. 2., vollst. überarb. Aufl. Hamburg : Junius 2009. S. 102 und Agamben : Homo sacer, S. 93.
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›sich daneben zeigt‹; eine Klasse kann alles beinhalten, nur nicht das eigene Paradigma.«384 Die Ausnahme wird zunehmend zur Regel und der biopolitische Mensch ist eine Ausnahme eines leeren Gesetzes. Die Redensart von der Ausnahme, die die Regel bestätigt, hat in der politischen Philosophie ihren Ursprung, unter anderem bei Carl Schmitt, der darüber in Politische Theologie schreibt : »Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme.« 385 Der Verweis Agambens auf Schmitt ist irritierend,386 beweist aber, in Geulens Worten, dass sich Agamben mit Philosophien »jenseits ideologischer Umzäunungen auseinandersetzt«387. Schmitt folgt er auch in dessen allgemeiner Souveränitätslehre in der Kurzformel : Der Souverän steht außerhalb der Rechtsordnung.388 »Außen« und »Innen« sind die Leit- und Schlüsselwörter für das Verständnis von Gesetz (nómos) und Souveränität bei Agamben. So liest er die kafkasche Türhüterlegende aus einem neuen Blickwinkel : »Es ist bezeichnend«, schreibt er, »daß die meisten Interpreten die Legende letztendlich als Lehrfabel einer Niederlage lesen«389, aber sei es nicht auch möglich zu sagen, der Mann vom Lande habe mit seinem Verhalten etwas erreicht, was der Türhüter gar nicht beabsichtigt habe und was den Ausschluss des Gesetzes durch die Schließung der Türen erwirkte ? »Und am Ende gelingt dem Mann vom Lande sein Vorhaben ja tatsächlich, er erreicht, daß die Tür des Gesetzes […] geschlossen wird.«390 Die eigenwillige Lesart soll offenbar keine Neubewertung des »Prozesses« sein, sondern die Frage eröffnen, warum der gesunde Menschenverstand annimmt, jeder hielte sich selbstverständlich innerhalb des Gesetzes auf oder wolle dies zumindest. Die Kräfte, die Zwetschkenbaum verurteilen, tun dies unter Berufung auf einen Text, der ihnen die Legitimation dazu gibt. Mir scheint, dass gerade darin die Absicht und Kritik Drachs zu finden sein wird, nämlich im Skandal von einem ungerechten Gesetz und nicht in dessen falscher oder einseitig gewichtender Auslegung. Zwetschkenbaums Zustand ist 384 Agamben : Homo sacer, S. 32. 385 Carl Schmitt : Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 9. Aufl. Berlin : Duncker und Humblot 2009, S. 21. 386 Vgl.: Leland de la Durantaye : Giorgio Agamben. A Critical Introduction. California : Stanford 2009. S. 363 : »Schmitt not only theorized a state of exception, he also helped bring about an effective declaration of such a state. In 1934 he prominently supported Hitler’s mounting sovereignty.« 387 Geulen : Agamben, S. 14 (Anm. 380). 388 Vgl. Schmitt : Politische Theologie, S. 7. 389 Agamben : Homo sacer, S. 66. 390 Ebda.
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entrückt von dieser Welt, der eines Sehers und Visionärs, eines Mannes also, für den die gesprochene Sprache und das gehörte Wort einen weit höheren Stellenwert haben als der geschriebene Text und das offen »Er-Sichtliche«. Das christliche Pendant ist der Heilige oder der Messias wie in Agambens Lesart Kafkas : Der Mann vom Lande ist eine Messiasfigur, der das Gesetz bei seiner Ankunft durch seine Entscheidung, den Raum des Gesetzes nicht zu betreten, aufhebt.391 In ähnlicher Weise ist auch die Weigerung Bartlebys in der Erzählung Melvilles zu verstehen, den Aufforderungen seines Arbeitgebers zu folgen, die berühmte Phrase : »I would prefer not to.«392 Bartleby ist viel eher mit dem Homo sacer zu identifizieren als Zwetschkenbaum. Auch hier setzt die Abkehr vom Gesetz oder der Norm eine Abkehr von der Welt voraus. In der konsequenten Verweigerung wird das Gesetz zu einer Norm. Worin besteht nun die Funktion eines Gesetzes, dessen Tore offen stehen, das aber nicht betreten werden kann ? Die Antwort gibt Agamben schon ganz am Anfang seines ersten Homo-sacer-Bandes mit der Einführung des Schlagwortes vom souveränen Bann, welcher nichts anderes bezeichnet als das Gesetz, »das gilt, ohne zu bedeuten[,] und ein[e] Tür, die einen nicht eintreten lässt, weil sie zu weit offensteht«393. Letztendlich sei es Kafka gelungen, auszudrücken, mit welchen Aporien der Mensch der Moderne fertigzuwerden hofft, nämlich das Gesetz zu überwinden, was nur gelingt, wenn die Tür dazu geschlossen wird, und dadurch den Ausnahmezustand herzustellen. Diesen Begriff schuldet er Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte, wo es heißt : Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand« in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen.394
Es geht um zwei verschiedene Modi des Ausnahmezustands, den virtuellen, von dem Agamben sagt, dass er derzeit faktisch im souveränen Bann herrsche, und einen wirklichen Ausnahmezustand.
391 Vgl. ebda. S. 67. 392 Melville : Bartleby, S. 643. 393 Agamben : Homo sacer, S. 67. 394 Walter Benjamin : Über den Begriff der Geschichte. In : W. B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt : Suhrkamp 1977 (= suhrkamp taschenbuch 345), S. 251–261, S. 254.
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Nur, wenn es gelingt, das Sein der Verlassenheit jenseits jeder Idee von Gesetz (auch in der leeren Form einer Geltung ohne Bedeutung) zu denken, werden wir aus dem Paradox der Souveränität hinaustreten in Richtung einer von jeglichem Bann losgelösten Politik.395
Was nun die »Verlassenheit« betrifft, so meint Agamben damit den Zustand, dem die Hauptfiguren in Kafkas Erzählungen und Romanen unterliegen, die dem Zwang folgen, vor einem Gericht zu erscheinen oder in das Innere des Schlosses zu kommen, ohne dass dieser Zwang eine konkretere Form annehmen würde als eben diesen »Bann«, von dem Agamben spricht. »Die Verlassenheit ist nicht eine Vorladung, vor diesem oder jenem Gerichtsherrn zu erscheinen. Es ist der Zwang, absolut unter dem Gesetz zu erscheinen, dem Gesetz als solchem und in seiner Totalität.«396 Spätestens hier scheint die drachsche Darstellung von der Weigerung vor dem Gesetz Cosgroves Interpretation zu widersprechen. Zwetschkenbaum steht nämlich unter keinem mir ersichtlichen Bann wie die Figuren Kafkas, seine Weigerung vor den Repräsentanten des Gesetzes ist durchzogen von seinen Versuchen, mit diesen zu kommunizieren, und wo er es kann, nimmt er die Gelegenheit zur Flucht wahr. Das Gesetz bei Drach ist ein von außen auf das Subjekt einwirkendes und deshalb anders gewichtet als Kafkas Türhütergesetz. Während Kafka keinen Zweifel an der Paradoxie lässt, die den Raum des Gesetzes umgibt, sind Drachs Figuren von dieser Paradoxie befreit. Das Gesetz steht auf einer Stufe mit Zwetschkenbaum selbst, und dessen Fluchtversuche sowie die erfolgreichen Manipulationen seiner Mithäftlinge evozieren weniger den Gedanken an ein Paradox als an der prinzipiellen Ungerechtigkeit des Rechts. Bei Drach schimmert die Hoffnung auf ein gerechtes Gesetz, auf ein Außen, welches Agamben in seiner Theorie nicht vorsieht, durch das Narrativ durch. Dass es ein ungerechtes und ein gerechtes Gesetz geben kann, widerspricht der Theorie eines paradoxalen Zustandes desselben. Agamben benutzt die Metapher der Schwelle, um dem Zustand der Unentschiedenheit einen Raum zu geben. Da auf der Schwelle zu stehen bedeutet, den einen Raum weder betreten noch den anderen wirklich verlassen zu haben, ist klar, dass er damit jene Unentschiedenheit meint, die vorhin beschrieben wurde als der virtuelle Ausnahmezustand, der alle Möglichkeiten in sich trägt, aber keine sich zur Wirklichkeit entfalten lässt. Die Schwelle als Ort bezeichnet aber auch noch etwas anderes, das er in der Lektüre des »Prozesses« bestätigt sieht. 395 Agamben : Homo sacer, S. 70. 396 Ebda., S. 69.
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Kafka habe etwas erkannt, was zu einem dauernden Problem der abendländischen Politik geworden sei, dass nämlich alle Subjekte des Rechtes sich auf der Schwelle zwischen Privatem und Öffentlichem aufhalten : »Der Fall des Josef K. ist dadurch so unheimlich und zugleich komisch, dass ein öffentliches Ereignis par excellence – ein Prozess – sich stattdessen als eine absolute Privatsache darstellt, in der der Gerichtssaal an das Schlafzimmer angrenzt.«397 Wie noch ausführlicher erläutert werden soll, sind Drachs Prosatexte im selben Geist gehalten, die Mädel und Zwetschkenbaum müssen es erdulden, dass ihr Privatleben vor dem Richter seziert und der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Das Recht nimmt sich ihrer als lebender Wesen an und nicht so sehr als Rechtssubjekte. Wie bei Foucault sind es die Raummetaphern, die ins Auge fallen und die sich in den literarischen Beispielen zu tatsächlichen Räumen verwirklichen. Das betrifft auch den Souverän, von dem es heißt, er sei »der Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht«398. Foucault hatte der politischen Philosophie nur insoweit Aufmerksamkeit geschenkt, als es sein biopolitisches Konzept zum Auftakt zu »Geschichte der Sexualität« erforderlich machte. Überblickt man sein gesamtes Werk, entfallen nur geringe Teile auf die ausschließliche Beschäftigung mit Politik.399 Die ausführliche Analyse souveräner Macht, die Agamben unternimmt, markiert den ersten wichtigen Unterschied zur politischen Philosophie Foucaults. Dieser hatte, wie oben besprochen, einschneidende Veränderungen in der westlichen Politik und ihrem Verständnis von der Rolle des Lebens darin wahrgenommen; Agamben hingegen begreift das Konzept der Biopolitik als Fundament westlicher Zivilisation. In der Geschichte der Moderne gebe es keine »radikalen Transformationen«.400 Er beruft sich auf Aristoteles und dessen Unterscheidung der beiden Begriffe zoē und bios, die heute noch mit dem einzigen Wort »Leben« beschrieben und deshalb ununterscheidbar werden. Diese Unterscheidung ist für Agamben der Schlüssel zum Verständnis eines von Foucault hergeleiteten Biopolitikbegriffs. Jener hatte in Der Wille zum Wissen eher beiläufig darauf 397 Giorgio Agamben : In diesem Exil. Italienisches Tagebuch 1992–1994. In : G. A.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. 2. Aufl. Zürich/Berlin : diaphanes 2006. S. 103–120, S. 104. 398 Agamben : Homo sacer, S. 42. 399 Vgl. Paul Patton : Agamben and Foucault on Biopower and Biopolitics. In : Matthew Calarco/Steven DeCaroli (Hg.) : Giorgio Agamben. Sovereignty and Life. Stanford : Stanford University Press 2007, S. 203–218, S. 206. 400 Vgl. ebda., S. 205.
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hingewiesen, dass sich ein Leben, das man mit dem griechischen Vokabular eben als »zoē« bezeichnen würde, zum Zentrum der Politik macht. Patton vermutet, dass sich diese Unterscheidung als zunehmend problematisch herausgestellt habe und Foucault deshalb nicht tiefer schürfte,401 wogegen Agamben den Topos aufgreift, um daraus den Homo sacer als Paradigma abzuleiten. Geht man beispielsweise davon aus, dass die Menschenrechte ein Rechtstext sind, so muss schon im ersten Satz der ersten Erklärung auffallen, dass hier davon die Rede ist, dass jeder »Mensch frei geboren« sei, dass sich also ein juristischer Begriff der Freiheit neben den biologischen (»geboren«) gesellt, und dass dieses Recht demselben Menschen aufgrund seines »Mensch-Seins« zusteht.402 Bios, zoē und Recht vermischen sich, nach Agamben interpretiert, ununterscheidbar miteinander zu einer einzigen Grauzone oder Schwelle, die es möglich macht, selbst in der einfachsten möglichen Form, wie hier, Kritik nicht nur an der Formulierung des Textes zu üben, sondern schon an dessen Existenz. Das Basiskonzept für Agamben stellt das »nackte Leben« dar, welches er von Foucaults vorhin besprochenen Texten herleitet. Der Homo sacer ist nicht nur das Bild für dieses »nackte Leben«, sondern steht in einem bestimmten Verhältnis zur souveränen Macht. Diese muss jenen hervorbringen, es ist ihre eigentliche Aufgabe.403 Das Verhältnis könnte man beschreiben als »inclusive exclusion from the political domain«.404 Wie das Beispiel der Menschenrechte vorhin gezeigt hat, ist das Leben selbst in Rechtstexte eingeschrieben, die keinen direkten Bezug zu den Bürgerrechten, also politischen Rechten, haben. Wenn der erste Artikel der United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007 auch in einer einzigen Phrase alle von der UN herausgegebenen Rechte und Menschenrechte als Voraussetzung übernimmt, so bemühte man sich dennoch im Folgenden, die Artikel so zu formulieren, dass vor allem das »bios«, die politische Existenz der indigenen Völker, geschützt werden soll. So lautet der zweite Artikel im Kontrast zum ersten Artikel der Allgemeinen Menschenrechte : Indigene Völker haben das Recht, als Kollektiv wie auch auf der Ebene des Individuums, alle in der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der 401 Vgl. ebda., S. 207. 402 Vgl. Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948. Web : http://www. un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 403 Vgl. Agamben : Homo sacer, S. 83 und S. 181. 404 Patton : Agamben and Foucault on Biopower, S. 211.
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Biopolitik
Menschenrechte und den internationalen Menschenrechtsnormen anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt zu genießen.405
Auch der Rest der Deklaration dreht sich im Wesentlichen darum, indigenen Völkern die rechtliche Möglichkeit zu eröffnen, ihre politische und kulturelle Organisation weitgehend unbeschränkt selbst zu bestimmen. Dieses Beispiel kann ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen; es soll aber festgehalten werden, dass es sich hier um einen juristischen Text handelt, der der zuvor beschriebenen Problematik der Allgemeinen Menschenrechte absichtlich aus dem Weg geht, freilich mit der Prämisse, dass in die Rechte der indigenen Völker die Menschenrechte als erster Artikel eingeschrieben sind. Stattdessen soll die Fragestellung auf die Ausübung souveräner Macht zurückkommen. Foucault hat dazu in Überwachen und Strafen ausführlich geantwortet, als er das »Fest der Martern« des 17. und 18. Jahrhunderts beschreibt. Sie sind Ausgangspunkt für seine Besprechung der Reformen des Strafsystems, welche immer mit der Frage nach der Lokalisierung souveräner Macht im Zusammenhang standen. Das Europa des 19. Jahrhunderts stand im Zeichen des massenweise verwaltetenen Guts Leben : »Nie waren die Kriege blutiger als seit dem 19. Jahrhundert, und niemals richteten die Regime – auch bei Wahrung aller Proportionen – vergleichbare Schlachtfeste unter ihren eigenen Bevölkerungen an.«406 Dazu zählen nicht nur die Kriege, die im Namen der neu etablierten Nationen ausgefochten werden, sondern auch die Bedeutung der Todesstrafe, der rasante Anstieg der Exekutionen, beispielsweise in England, den Foucault daraus erklärt, dass im Gegenzug ein Schutz des Lebens einsetzt. Foucault schlägt vor, er hätte auch dieses Thema in den Mittelpunkt von Der Wille zum Wissen stellen können. Das Prinzip ist das gleiche wie beim Problem der Sexualität, wenn auch auf einer anderen Ebene. Lewis Carrolls Alice in Wonderland 407 persifliert die Ausübung der souveränen Macht per Todesstrafe in der Figur der Herzkönigin, die, Monarchin und Richterin in einer Person, ihre Untertanen beim geringsten Vergehen unermüdlich 405 Resolution 61/295 Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Indigenen Völker. Web : http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration%28German%29.pdf (zuletzt eingesehen am 4.1.2016). 406 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 132. 407 Lewis Carroll : Alice’s Adventures in Wonderland. In : L. C.: The Complete Works of Lewis Carroll. With an Introduction by Alexander Woolcott and the Illustrations by John Tenniel. London : The Nonesuch Library 1939, S. 15–125.
Körper und Geist als Raum
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zum Schafott befördert : »Off with their heads !«408 In der filmischen Bearbeitung von 2010 steht der roten Königin die weiße gegenüber, die an ihren Schwur gebunden ist, kein Leben, aus welchem Grund auch immer, zu verletzen.409 In einer ironischen Weise ist sie auf die Hilfe von Alice angewiesen, die, ohne an einen Schwur gebunden zu sein, diese blutige Arbeit für sie erledigen kann und von der Träumenden im Buch zur messianischen Heldin im Film mutiert und damit einen weiteren Aspekt moderner (Bio-)Politik in die Geschichte einbringt. Mit der roten Königin steht eine alte, repräsentative Macht einer neuen biopolitischen Macht in Form der weißen Königin gegenüber. Es ist eine grelle Illustration dessen, was vorhin theoretisch als die Schwelle von der alten Souveränität zur modernen Gouvernementalität dargestellt wurde.
408 Ebda., S. 80 ff. 409 Vgl. Alice in Wonderland, USA. 2010. Regie : Tim Burton. Buch : Linda Woolverton nach Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass von Lewis Carroll. Kamera : Dariusz Wolski. Darsteller : Mia Wasikowska, Johnny Depp, Anne Hathaway, Helena BonhamCarter. Produktion : Walt Disney Pictures. Dauer : 108 Minuten. Hollywoods Blockbuster seit den 1980er-Jahren und vor allem Adaptionen von literarischen Vorlagen aus dem 19. Jahrhundert sind wahre Fundgruben für die Besprechung dieses Problems. Das Ergebnis ist meistens eine Umdeutung der souveränen Macht in eine biopolitische. Möglicherweise steht die populäre Kulturproduktion thematisch in der Tradition der amerikanischen Literatur, zum Beispiel der Werke Herman Melvilles.
5. Große Protokolle Es heißt mitunter, das Abendland sei niemals fähig gewesen, eine einzige neue Lust zu erfinden. Zählt etwa die Wollust beim Wühlen, Aufscheuchen und Deuten, kurz die ›Analysierlust‹ im weiten Sinne nicht ?410
Es ist der erste Band der neuen Werkausgabe von 2002 und der letzte der Werkausgabe von 1971. Auch wenn die Rezeption Drachs immer wieder Umwege gegangen ist, so ist doch klar, dass es sich bei Untersuchung an Mädeln um einen der wichtigsten Texte in seinem Schaffen handelt. Hier laufen der Protokollstil und die damit in Verbindung stehenden Finessen des drachschen Erzählens zu ihrer Höchstform auf. Die von Ingrid Cella rekonstruierte Textgenese nimmt die Zeit Mitte der 60er-Jahre als Schreibbeginn an, wenngleich Pläne dafür schon für das Jahr 1962 nachweisbar sind. Ins Jahr 1964 fällt ein von Drach selbst zitierter Vorfall einer Beobachtung von zwei jungen Frauen in einer Situation, die dem Beginn des Romans ähnelt und im Zusammenspiel mit einem ihm im Gedächtnis gebliebenen, weiter zurückliegenden Kriminalfall zur Initialzündung für das Schreiben des Romans Untersuchung an Mädeln wird. Die Beschreibung des Inhalts ist kein leichtes Unterfangen, da damit indirekt die Stimme eines Protokollanten wiedergegeben wird. Es soll aber im Folgenden trotzdem der Versuch unternommen werden : Bei Untersuchung an Mädeln handelt es sich um ein nachträglich erstelltes Protokoll zu einem Strafprozess, das sich aus der Schilderung des Tathergangs ergibt, so wie er sich aus der Vernehmung verschiedener Zeugen und vor allem aus der Darstellung der Mädel, aber auch aus den Vermutungen des Protokollanten, des Richters und der Staatsanwaltschaft darstellt. Demnach soll es an einem regnerischen Abend an einem vorerst nicht näher bezeichneten Ort, jedenfalls an einer stark befahrenen Straße in der österreichischen Provinz dazu gekommen sein, dass die zwei in Verdacht stehenden jungen Frauen gezwungen waren, autozustoppen. Der Autofahrer, der sie schließlich einsteigen lässt, soll nun die beiden Frauen, Esmaralda Nepalek und Stella Blumentrost, vergewaltigt haben. Drach schildert diesen Vorgang mit einer zum Teil ans Komische 410 Michel Foucault : Das Abendland und die Wahrheit des Sexes. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II, 1976–1979, S. 135–140, S. 137.
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grenzenden Sprache, die die Geständnisse der Frauen, erweitert durch Erklärungen des Protokollanten, zusammenfasst. Beim Versuch, eine Reifenpanne zu reparieren, wird der Vergewaltiger, der Stechviehhändler Josef Thugut, von Stella mit einem Wagenheber attackiert, während ihn Esmaralda ablenkt. Von der mutmaßlichen Leiche fehlt allerdings jede Spur, so bleibt auch bis zuletzt unklar, ob das Opfer tatsächlich an der erlittenen Kopfverletzung gestorben ist oder die Situation dazu nutzte, um für tot erklärt zu werden und aus seiner prekären finanziellen Lage durch anonyme Flucht nach Südamerika zu entkommen. Der Status quo dieser Ermittlungen weicht schon bald der Darstellung der Versuche von Seiten der Voruntersuchungsorgane, Klarheit in den Fall zu bringen, der offenbar auf einen Indizienprozess hinausläuft, da weder unbefangene Zeugen noch eindeutige Spuren vorhanden sind. Allerdings gibt es zwei Geständnisse und die Ironie in Drachs Roman besteht nun darin, dass diese Geständnisse der beiden Frauen, die beide angeben, dass Stella den Stechviehhändler zumindest mit einem Wagenheber angegriffen habe, nicht ausreichen, denn : »Das Geständnis bedurfte einer Erklärung, es war unvollständig. […] Die Klärung der Gegenwart musste in der Vergangenheit gesucht werden.«411 Die Befragung sowohl in der Voruntersuchung wie auch im Prozess selbst forscht, weil dem Totschlag eine Vergewaltigung vorangegangen ist, den Teil der Persönlichkeiten der Mädel aus, die ihr sexuelles Vorleben betreffen, so als ob ihre Tat kein Mord, sondern eine sexuelle Handlung gewesen wäre. Es entsteht der Eindruck, dass es um die Vergewaltigung selbst geht und nicht um den tödlichen Schlag, mit dem Argument, dass erst die Gefügigkeit der Esmaralda und die nur mutmaßliche Gefügigkeit der Stella es waren, die letztendlich für das Verschwinden des Thugut verantwortlich gemacht werden können. Die Tat der Vergewaltigung ist also der wirkliche Mittelpunkt der Erhebungen, das Motiv der Mädel, allerdings verschwindet der Körper des Mannes daraus, und zwar schon in dem Sinne, dass seine Leiche nicht gefunden wird, und auch dadurch, dass er, der Täter und das Opfer, im Prozess insgesamt eine untergeordnete Rolle einnimmt. »Den Prozessverlauf kann er also nur als Verhandlungsgegenstand bestimmen, nicht aber als body of evidence. So trägt der abwesende Körper des Mannes zur Abstraktheit der Verhandlung bei.«412 In der Wendung, die das Protokoll vollzieht, werden Motiv und Tat zweifach vertauscht. 411 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 34. 412 Hermann Schlösser : Einschlägige Erregungen. Sieben Untersuchungen zu Albert Drachs Roman ›Untersuchung an Mädeln‹. In : Bernhard Fetz (Hg.) : In Sachen Albert Drach. Sieben Beiträge zum Werk. Mit einem unveröffentlichten Text Albert Drachs. Wien : WUV 1995, S. 17–35, S. 21.
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Nachdem dieser Sachverhalt vom Protokoll geklärt werden konnte, sollen nun die Lücken im Geständnis aufgefüllt werden. Es bleiben zum Tathergang Fragen offen, die mit der »Wesenheit« von Frauen zusammenhängen, wie sie der vorerst zuständige Richter Mausgrub in seinem Buch zusammenfasst, das sich freilich nur auf Täterinnen bezieht und damit schon im Ansatz eine Vorverurteilung in Kauf nimmt : »Die weibliche Kriminalität im Lichte des Mangels an Kraft und Wagemut.«413 Die pointierte Kritik zielt auf den Irrtum des Richters, der es nun mit einem Fall zu tun hat, der seiner im Buchtitel formulierten These widerspricht, handelt es sich doch um den Akt des Erschlagens eines robusten und sehr kräftigen Stechviehhändlers. Es bedarf eines solchen Anlasses für eine Untersuchung der sozialen Verhältnisse der Täterinnen, die letztendlich eine klar ersichtliche Linie zwischen Ursachen und Wirkungen ziehen soll, gewissermaßen eine Nachzeichnung zweier verschiedener fataler Lebenswege zu einer gemeinsamen Tat. Der Zweck des Protokolls ist in dem Augenblick erfüllt, als sich die Aufmerksamkeit ganz auf die beiden Frauen gerichtet hat. Das Protokoll ist zwar nicht formal aber inhaltlich und stilistisch in Abschnitte gegliedert. Der erste, nämlich die Darstellung der bekannten Tatsachen über den Tathergang, wurden bereits beschrieben, es folgt die Biografie der Stella, dann die der Esmaralda, in der das Vorleben der beiden Verdächtigen nachgezeichnet werden soll, sodann schwenkt der Bericht auf die Vorgänge, die den Prozess selbst betreffen. Die an vier Tagen stattfindende Hauptverhandlung macht den größten Teil der zweiten Hälfte des Romans aus, in dem es noch einmal, in allen Details, um die Zusammenhänge zwischen dem Vorleben der »Mädel« und der Tat geht. Durch die Anwälte, welche die Verteidigung übernehmen, werden außerdem eine Reihe von Alternativen zum bisher behaupteten Tatbestand eingeführt. Der Roman endet Augenblicke vor der Urteilsverkündung. Diese inhaltliche Strukturierung wird durch eine stilistische verstärkt, die vor allem die Erzählerposition betrifft, von der gesagt werden kann, dass sie sich je nach Beschreibungsgegenstand einmal mehr, dann weniger auf der Achse Hintergrund-Vordergrund verschiebt und sich mitunter zugunsten personaler Perspektiven zurückzieht.414 Das drachsche Protokoll ist nicht statisch angelegt, sondern so, dass es im Bedarfsfall seinen Beschreibungsgegenständen, also Figuren, die Stimme leihen kann. Der erste, der davon profitiert, ist der Richter 413 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 26. 414 Vgl. Gerhard Fuchs : Männer, Mütter, Mädel. Zur Funktionalisierung des Weiblichen bei Albert Drach. In : G. F./Günther A. Höfler : Albert Drach, S. 79–121.
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Baldur Mausgrub, den ein an sich unbedeutender Vorfall mit einem Bleistift dermaßen aus der Fassung bringt, dass der Text darauf mit einem inneren Monolog reagiert.415 Die Reflexionen Stellas im dritten Drittel des Romans sind ebenfalls in dieser Weise wiedergegeben. Man kann festhalten, dass insbesondere die Opferperspektive in den nach wie vor im Ton protokollarisch gefärbten Text eingewoben wird und dort vielleicht sogar eine prominente Rolle spielt. Davon wird im Folgenden noch die Rede sein. Vorerst soll es um die Ergebnisse der Vorerhebungen gehen, die den zweiten Abschnitt des Textes dominieren und die inhaltliche Grundlage für die insgesamt vier Hauptverhandlungstage darstellen. Es stellt sich für das Protokoll heraus, dass Stella, die jüngere der beiden Angeklagten, bis kurz vor dem Zeitpunkt der Tat unter behüteten Umständen aufgewachsen und nur ihren »Anlagen« die Schuld zu geben war, dass sie auf die schiefe Bahn geraten ist.416 Insgesamt vier für sie zuständige Bildungseinrichtungen sind in ihrer Biografie genannt. Die erste, ein Internat für Mädchen, ist sie infolge eines intimen Verhältnisses mit einem Schüler der benachbarten Schule gezwungen zu verlassen.417 Sie setzt ihre Schulkarriere in einem »Gymnasium unter geistlicher Leitung mit angeschlossenem Heim«418 fort, um schließlich nach einem Skandal, der eine Flucht nach Italien beinhaltete, in eine private Lehranstalt zu übersiedeln, schließlich aber noch eine Haushaltsschule zu absolvieren. Zwei Autounfälle ihrer Eltern, von denen der zweite tödlich endet, bringen sie erstens in Kontakt mit dem ritterlichen Versicherungsvertreter Kunibert Falkner und werfen sie zweitens, nach der Darstellung des Protokolls zumindest, vollkommen aus der Bahn eines möglichen bürgerlichen Lebenslaufs. Zeitlich nicht unweit von dieser Stelle lokalisiert ist der zur Debatte stehende Vorfall, wobei ein Schwergewicht der Darstellung ihren Vermögensverhältnissen gewidmet ist, die allerdings vollkommen im Dunkeln bleiben. Es kommt nur zu der Feststellung, dass sie in dieser Sache vom Versicherungsmann und dessen Wohlwollen abhängig ist und sie zur Tatzeit vermutlich den Großteil, wenn nicht ihr ganzes Vermögen aufgebraucht hatte. Ihre Abhängigkeit wird zunächst aber an den Bildungseinrichtungen festgemacht, dann an ihren finanziellen Verhältnissen. Die prononcierte Stellung der pädagogischen Institutionen in der Biografie der Stella ist auffallend, ebenso die Rolle, die die 415 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 212 ff. 416 Ebda., S. 68 f. 417 Vgl. ebda., S. 48. 418 Vgl. ebda.
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Architektur in den Beispielen für ihr Verhalten spielt. Sie ist in Einrichtungen untergebracht, die eine deutliche Grenze zwischen dem Innen und dem Außen haben, Mauern und Zäune, handelt es sich doch um Internate und Heime, also geschlossene Schulen, die in ihrer Struktur nahe Verwandte zu Gefängnissen darstellen. Bei ihrer ersten Begegnung mit Paul muss dieser die Strecke bis zu ihrem Fenster im ersten Stock überwinden, um zu ihr zu gelangen. Dass er ihrer überhaupt ansichtig wird, ist »widrigen Raumverhältnissen« geschuldet, welche »ergaben, daß der Garten des Gymnasiums für Knaben an das Gebäude des strengen Mädcheninstituts anschloß«419. Die zweite Begegnung findet in besagtem Heim statt, eigentlich aber beinahe außerhalb, denn die beiden Jugendlichen graben sich einen Tunnel unter der Einfriedungsmauer, um sich zu treffen. Beide Male ist es die Überschreitung dieser Grenze, die den eigentlichen Skandal ausmacht. Es liegt im Interesse des Protokollanten, der ja schließlich ein Protokoll gegen die Mädel und eine Untersuchung an Ihnen durchführt, auf diese Umstände Wert zu legen, um die beteiligten Institutionen zu schützen, wiewohl eingeräumt werden muss, dass diese ihrer Pflicht mitunter nicht mit letzter Konsequenz nachkommen. Das betrifft zum Beispiel die »Lehrkraft, welche die nächtliche Bewachung der Mädchen schlafend durchführte«420, oder den »Hausbesorger, der es an Achtsamkeit und Fürsorge für die Anstalt hatte fehlen lassen«421. Während erstere Aufsichtsperson infolge eines Missverständnisses sogar befördert wird, muss zweiterer eine ernste disziplinarische Verwarnung hinnehmen. Wie ein Kreis schließen sich die Personengruppen um sie herum, die mit ihrer Erziehung und Bildung, vor allem aber Bewachung betraut sind, angefangen mit ihren Eltern, dann Hausbesorger, Schulärztinnen, geistliche Schwestern, Aufsichtsorgane, sogar ein Wachhund und zweifelhafte GönnerInnen, wie die Hermione von Saas oder der Versicherungsagent Falkner.422 Nach ihrer Verhaftung übernehmen das Untersuchungsgefängnis und das in ihm wirkende Personal, der Untersuchungsrichter, Erhebungsorgane und Sachverständige, die Rolle, die vordem die Ausbildungsstätten innehatten. Der Text lässt keinen Zweifel über die Zusammenhänge, die er durch diese Struktur vermittelt. So treten die Schulen Stellas immer unpersönlich und in Form der Institution 419 Ebda., S. 40. 420 Ebda., S. 41. 421 Ebda., S. 47. 422 Siehe dazu mit jeweiliger Erstnennung die Seiten 35, 42, 47, 50, 61 und 75 (Drach : Untersuchung an Mädeln).
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auf, ohne Namensnennung der Entscheidungsträger. Der Wegfall ihres Einflusses, wie in dem Fluchtversuch von Paul und Stella zu sehen, führt zu einer entgrenzten Sexualität, die letztendlich in die Untreue Pauls mündet und in die Straffälligkeit Stellas. Diese Flucht wird bezeichnenderweise nach dem Muster bewerkstelligt, wie es aus Gefängnisausbrüchen bekannt ist, indem ein Tunnel unter dem Mauerwerk gegraben wird und die Beteiligten bei Nacht und Nebel entweichen.423 Das Motiv des Mordes wird spiegelbildlich und metaphorisch evoziert, wenn etwa Paul Pieperl bei ihrem ersten Zusammentreffen ebenfalls regendurchweicht vor ihr steht. Diese nun nachträgliche Schilderung der Ereignisse bringt auch Paul Pieperl in den Geruch, zu Stella in demselben Verhältnis zu stehen wie der im Regen an ihr hantierende Stechviehhändler. Wiederum später bedroht sie mit einem zur Waffe zweckentfremdeten Werkzeug eine Nebenbuhlerin.424 Das Protokoll ist bemüht, Zusammenhänge herzustellen, selbst wenn sie solch einer absurden Logik gehorchen wie in diesen Beispielen. Stella ist im Fokus eines insgesamt als panoptische Institution agierenden Ensembles an Menschen und Einrichtungen, denen sie sich nicht zu entziehen weiß, denn selbst dorthin, wohin sie flieht, um aus der ununterbrochenen Überwachung auszubrechen, folgt ihr das Protokoll, welches natürlich mehr »sieht« als jede einzelne andere Figur, zieht es zu seiner Information auch die Innensicht Stellas in Form von Aussagen, Eigeninterpretationen und Tagebuchnotizen heran. Das ergibt ein vollkommen rundes und abgeschlossenes System von Beobachtenden, die jedoch, allen voran der Protokollschreiber, körperlos bleiben. Ihr Leben wird, wie schon in der eingangs formulierten Frage angedeutet, aus dem Protokoll heraus organisiert, von einem Punkt aus, der jenseits ihrer Wahrnehmungsreichweite liegt, denn mit dem Protokoll oder seinem Verfasser steht sie ja nicht im Austausch. Die Figur der Stella ist deutlicher akzentuiert als alle anderen Figuren des Romans. Ihre Position zum Prozess ist ausgeprägt dargestellt, ihre Angaben und Aussagen werden ergänzt durch den Inhalt ihres Tagebuchs, das immer wieder an entscheidenden Stellen diesbezüglich erklärend in den Text montiert ist.425 Nicht überraschend finden sich hier Reflexionen zu moralischen Fragen und Bedenken und der Situation ihrer Beziehungen, immer wieder jedoch sind Sätze wiedergegeben, die das Problem der bezahlten Sexualität berühren, die sie strikt mit dem Verweis auf ihre Ehre ablehnt. Ernestine Schlant hat auf den 423 Ebda., S. 51 ff. 424 Vgl. ebda., S. 69. 425 Vgl. ebda., z.B.: S. 117, 121, 128, 132, 136, 225 usw.
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intertextuellen Zusammenhang zwischen Untersuchung an Mädeln und Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum hingewiesen.426 Eine Analogie besteht jedenfalls darin, dass es hier um ein Individuum geht, das »seinen Freiund Freiheitsraum, seinen Anspruch auf Unversehrtheit und ein bißchen Glück gegen die übermächtigen Zwänge und Repressionen der Umwelt zu verteidigen sucht«427. Stella spielt mehr als einmal darauf an, dass sie bereit sei, ihre Ehre wenn nötig auch mit Gewalt zu verteidigen, aber die Geste bleibt wirkungslos und je vehementer sie es behauptet, umso stärker wendet sich dieses Argument gegen sie. Ihre Reflexionen bezüglich des Verhältnisses von Recht und Wahrheit werden begleitet von Wahrnehmungen des Protokollanten zu ihrer Perücke, die sie zu tragen gezwungen ist, da sie in der Haft nach einer rätselhaften Krankheit ihre Haare verliert. Der entscheidende Zeuge, offenbar ein Schwindler, glaubt sie denn an ihrer falschen Haarfarbe als diejenige wiedererkannt zu haben, der er beim Reifenwechsel geholfen habe.428 Als Stella kurz zuvor ihrer Zuversicht Ausdruck verleiht, »dass der Prozess eine Wendung zur Wahrheit genommen«429 habe, bemerkt auch das Protokoll : »Sie trug sich nicht anders als sonst. Nur ihre Perücke saß unheimlich gut, als ob es die eigenen Haare wären. Schade, daß sie so schwarze Haare statt der angestammten braunen tragen mußte.«430 Stellen wie diese lassen vermuten, dass es sich vor allem im letzten Drittel des Romans um einen subtilen Dialog zwischen dem Protokollanten und Stella handelt. Stella wird das Wort eingeräumt, das Protokoll lässt sie direkt und indirekt sprechen, indem es ihre Tagebucheintragungen paraphrasierend wiedergibt, ebenso ihre Träume und in indirekter Rede auch ihre Aussagen detailgetreuer in den Text aufnimmt als bei jeder anderen Figur. Besonders zum Ende des Prozesses hin wird der vermutete negative Ausgang des Prozesses aus der Sicht Stellas angedeutet. Je mehr sie allerdings spricht, je mehr sie das System, das ihre Verurteilung vorantreibt, und die Aussichtslosigkeit, dagegen zu gewinnen, zum Ausdruck bringt, umso tiefer verstrickt sie sich in das Netz, das ihr das Protokoll gelegt hat. Dasselbe passiert vor Gericht. Nachdem sie in einem Schwindler ihren Pannenhelfer erkannt zu haben be426 Ernestine Schlant : An Introduction to the Prose Narratives of Albert Drach. Modern Austrian Literature 13/3 (1980), S. 69–85. 427 Jochen Vogt : Heinrich Böll. In : Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 26. Nachlieferung, S. 15. 428 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 356 f. 429 Ebda., S. 340. 430 Ebda., S. 343.
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hauptet, schweigt sie beim darauf folgenden Zeugen, der es wohl tatsächlich gewesen sein muss.431 Das Protokoll arbeitet nicht ununterbrochen gegen sie, sondern verhält sich zu Stella vielmehr wie jene Disziplinierungsinstitutionen, in denen sie in ihrer Jugend untergebracht war. Es straft, sanktioniert, wertet ihre Aussagen und ihr Betragen aus, protokolliert ihr Auftreten, ihr Verhalten gegenüber Zellengenossinnen wie auch vor Gericht. Es deutet ihre Träume und bewertet ihr Tagebuch. So entsteht der panoptische Blick einer körperlosen Entität, der nur auf ihren Körper gerichtet bleibt. Auf die Darstellung der (gescheiterten) Disziplinierung Stellas durch eine Anzahl von dafür eingerichteten Institutionen folgt die Biografie ihrer Freundin und der Mitangeklagten Esmaralda Nepalek, die ein vollkommen anderes Bild eines »Mädels« liefert. Dieser Abschnitt orientiert sich an Handlungsstrukturen pornografischer Texte wie zum Beispiel der »Josefine Mutzenbacher«432, indem die Biografie der Esmaralda ausschließlich auf ihr erotisches Vorleben reduziert wird, sohin die Begriffe Leben und erotisches Leben gleichgesetzt werden.433 Von ihren Erziehungsberechtigten vernachlässigt und ohne formale Ausbildung ist Esmaralda bald Opfer einer Männergesellschaft, die sich vornehmlich darum bemüht, ihren Körper als Einsatz für Dienstleistungen oder auch ohne deren Erbringung zu verlangen, wenn auch Tauschgeschäfte auf freiwilliger Basis oft den Ausschlag geben, sodass auch der verhandelte Vorfall mit dem Stechviehhändler wie die Fortsetzung einer lang geübten Praxis der Esmaralda dastehen muss, dass nämlich eine Gefälligkeit mit einer anderen abgegolten wird, wobei den Preis die beteiligten Männer festlegen und Esmaralda früh daran gewöhnt wird, mit ihrem Körper zu bezahlen. Diese Tatsache erklärt die Bemerkung des Protokollanten zu Beginn des Textes, als es heißt, dass der Griff zwischen die Beine eine »Übung« sei, »die dem Gemeingebrauche gegenüber jüngeren Autostopperinnen«434 entspräche. Schon das erste Zusammentreffen der beiden Frauen in der Erinnerung der Stella signalisiert ein Naheverhältnis zur Prostitution. »Wie eine Dirne«435 sei Esmaralda damals auf der Straße 431 Vgl. ebda., S. 359 f. 432 [N. N.] : Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt. Vorbemerkungen von K[arl] H[einz] Kramberg. Im Anhang »Beiträge zur Ädöologie des Wienerischen« von Oswald Wiener. Hamburg : Rowohlt 1996. 433 Vgl. Clemens Ruthner : Gegen-Pornographie ? Albert Drachs intertextuelle Antwort auf »Josefine Mutzenbacher«. ÖGL 44/43 (2000), S. 159–172. 434 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 6. 435 Ebda., S. 82.
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gestanden, um dort auf ihren Liebhaber zu warten. Später bemerkt ihr eigener Anwalt : »Wieso heiße sie denn Esmaralda, wenn sie nicht einmal auf den Strich gegangen sei ? Das sei ja kein Name für ein Mädel hier.«436 Wie in der Biografie der Mutzenbacher sind Personen mit Autorität ihre ersten Liebhaber, die sie gegen ihren Willen zum Beischlaf zu nötigen verstehen, als da sind der Lehrer und der Sohn des reichsten Bauern des Dorfes : »Da es ihr damals nicht gefiel, wollte sie angeblich keine Wiederholungen. Trotzdem kam es zu deren mehreren.«437 Clemens Ruthner führt noch einige andere Beispiele an, die beweisen sollen, dass die Geschichte der Esmaralda am Mutzenbacher-Text orientiert ist, merkt aber selbst an, dass die zitierten Texte letztendlich nichts anderes tun, als sozusagen pornografische Standardsituationen im Strafraum des Literaturbetriebs durchzuspielen, d. h. dass sie beide auf ein festes Motivrepertoire des einschlägigen Genres zurückgreifen, ohne dadurch notwendigerweise aufeinander Bezug nehmen [zu] müssen.438
Dieses Repertoire taucht auch in der Erzählung Vermerk einer Hurenwerdung439 auf, einem Text, der die soziale Misere der Hauptfigur Marie in einer biografischen Skizze aus der Sicht eines gerichtlichen Protokollführers beschreibt. Auch Maries Leben ist durchzogen von Vernachlässigungen, die sich mit strenger Zucht abwechseln. So kommt sie als Kind nach einem Fluchtversuch, dem der von ihr verschuldete Unfalltod ihres Bruders voranging, ins Krankenhaus, wo es ihr ausgesprochen gut geht. Später wird sie in ein offenbar privates Internat gebracht : »Die Herren Doktoren und Inspektoren straften die unwissenden Prüflinge stets, nachdem sie ihnen die zarten Höschen und Röckchen herabgelassen hatten, durch saftige Peitschenstreiche auf empfindliche Stellen.«440 Die Institutionen sind auch hier wieder aufgrund ihrer disziplinierenden Gewalt identifiziert, die mit Sexualität in intimer Beziehung steht. Aus dem Fürsorgeinstitut bricht die Jugendliche aus, von wo aus ein direkter Weg in die Prostitution führt. Wie in Stellas Biografie sind die Orte der Disziplin und ihre Abwesenheit ursächlich und ironisch an sozialen Abstieg gekoppelt. In der Schule wird eine 436 Ebda., S. 232. 437 Ebda., S. 138. 438 Ruthner : Gegen-Pornographie, S. 171 (Anm. 430). 439 Albert Drach : Vermerk einer Hurenwerdung. In : A. D.: Die kleinen Protokolle und das Goggelbuch. Gesammelte Werke. 3. Bd. Wien/München : Langen-Müller 1965, S. 54–76. 440 Drach : Vermerk einer Hurenwerdung, S. 69.
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Form von Sexualität praktiziert, die diese mit der Demonstration von Macht verbindet, sodass außerhalb der Schule eigentlich nur noch die Praxis einer Sexualität, die mit Geschäft zu tun hat, denkbar wird. Die Voruntersuchungen an Esmaralda in Untersuchung an Mädeln bestehen in der Aufzählung der Gelegenheiten, an denen sie sexuell mit verschiedenen Männern verkehrte, zum großen Teil gegen ihren Willen. Ihre Ziehmutter verkuppelt sie gegen Geldleistung an einen älteren Mann,441 ihr Vater steht ihren Kontakten gleichgültig gegenüber. Auch, weil sie sein bereits 14. Kind ist, steht sie unter seiner »ununterbrochenen, wenn auch nicht immer wirksamen Hut«442, sodass das Protokoll ihre Jugendjahre dahingehend zusammenfasst, dass es »an hinreichender Überwachung gefehlt«443 habe. Selbst die Bemerkung des libertinösen Matrosen, es sei »nicht ungefährlich für ihn sich mit einem so streng behüteten ganz jungen Mädel einzulassen«444, kann hier nur als blanke Ironie verstanden werden. Gemeinsam mit der Figur des Harald Puppinger trägt sie das Thema der promiskuitiven Sexualität im Roman, die für den Prozess eine ebenso entscheidende Rolle abgibt wie die angebliche Gewaltbereitschaft und Bildung der Stella. Drach beweist in den Abschnitten zu Esmaralda und zu Puppinger, wie auch Liessmann anmerkt, dass er »das Talent zu einem großen Pornographen«445 haben dürfte. Esmaralda steht Stella gegenüber weniger stark individuell gezeichnet da, deutlich lässt sich Drachs Vorliebe für die humanistisch gebildeten Figuren entdecken, die in diesem Fall der Stella auch von Seiten des Protokollanten deutlich mehr Sympathie zuteilwerden lassen. Die symbolische Aufwertung des »Wagenheber-Schwingens« zur revolutionären Befreiungstat, die einer gerechten Empörung entspringt, vollführt der Erzähler ganz ohne ironische Distanzierung, er berichtet von Stellas Einschätzungen nicht ohne einen impliziten Appell zu solidarischer Identifikation.446
Ziemlich eindeutig lässt sich hier auch eine Vorliebe für die Selbstreflexion lesen, die in den autobiografischen Romanen ebenfalls als Technik der Weltwahrneh441 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 141 f. 442 Ebda., S. 185. 443 Ebda., S. 186. 444 Ebda., S. 176. 445 Konrad Paul Liessmann : Puppingers Orgien. Notizen zu einer geheimen Hauptfigur in Albert Drachs »Untersuchung an Mädeln«. In : Bernhard Fetz (Hg.) : In Sachen Albert Drach, S. 36–49, S. 42. 446 Fuchs : Männer, Mütter, Mädel, S. 111.
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mung benutzt wird. Stella ist im Gegensatz zu Esmaralda nicht in den immer gleichen Reflexen gefangen und erkennt die Lage, in der sie sich befindet, mit klarerem Blick. Esmaralda dagegen wiegt sich, auch als ihr das letzte Wort gegeben wird, nur in den Hüften, ohne etwas zu sagen, während Stella zumindest im finalen »Ich« einen Rest ihres Reflexionsvermögens zum Ausdruck bringt. Am Anfang steht eine ähnliche Szene : Die Ermordung des Vergewaltigers besorgt Stellas »Wagenheber-Schwinger«, die Ablenkung durch passive Zurschaustellung ihrer körperlichen Reize ist dabei Aufgabe Esmaraldas. Die erste Hälfte des Romans steht ganz im Zeichen des ehemaligen Matrosen und der männlichen Wunschprojektion Harald Puppinger, der abschnittweise vielleicht als heimliche Hauptfigur gelten kann,447 da er sowohl den Wagenheber als Tatwaffe in die Handlung einführt als auch Dreh- und Angelfigur der Zeit kurz vor der Tat darstellt. Er führt die beiden Frauen zusammen und es ist seine Abwesenheit am fraglichen Abend, die Stella und Esmaralda in die Verlegenheit bringt, autostoppen zu müssen. Später besorgt er für die beiden einen Anwalt und bietet diesem seine Unterstützung an. Er spielt also eine eminent wichtige Rolle im Narrativ, aber vor allem auf der Ebene der Symbole und Verweise sammeln sich in seiner Figur einige Anhaltspunkte. Puppingers Bedeutung ist, nachdem er einmal als Tatverdächtiger ausgeschlossen wird, gänzlich zurückgesetzt, sodass er am Ende zur Hauptverhandlung selbst so gut wie keinen Beitrag mehr leistet aber trotzdem vor Gericht erscheint. Jedoch ist sein Auftreten entgegen seinen Bemühungen alles andere als heroisch und er wirkt geradezu deplatziert.448 Sein Beitrag ist auch nicht mehr notwendig, da er im ersten Teil als Komplementärfigur zu Esmaralda in puncto männlicher und weiblicher freier Sexualität fungiert, mit dem Abschluss der Voruntersuchungen aber die wichtigsten Aussagen diesbezüglich getroffen worden sind. Die untergeordnete Rolle im zweiten Teil hängt wesentlich damit zusammen, dass der vom Protokoll angestrebte Prozess als abgeschlossen gelten kann. Der Matrose ist nicht so sehr der Gegenentwurf zu einer bürgerlichen Sexualmoral als vielmehr der Gegenentwurf zu Esmaralda und zu Stella. Seiner ausufernden Bereitschaft zu Gewalt wie zu promiskuitiven Handlungen kann er nachgeben, ohne deshalb eine Untersuchung an sich erleiden zu müssen. Puppingers Haus stellt eine Heterotopie par excellence dar. Es beginnt damit, dass es sich um einen ehemaligen Stall handelt, der von ihm zur einzigen Villa 447 Vgl. Liessmann : Puppingers Orgien, S. 36. 448 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 331.
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des Dorfes umgebaut worden war. Diese Tatsache allein hebt es schon aus der Umgebung hervor, doch wer das Haus von innen gesehen hat, staunt : Es stelle das Luxusrefugium eines auf abenteuerliche Weise, aber auch durch Erbschaft wohlhabend gewordenen, kunstsinnigen ehemaligen Matrosen dar, verziert mit den erinnerungsbedingten, verkleinert aufgestellten Schiffen, außerdem mit dem gehörigen Muschelkram, ausgestopften Seetieren, darunter echten Ungeheuern, aber auch restlichen Reliquien aus Südsee- und anderen Inseln, selbst Totenschädeln, zum Schmuck präpariert oder bloß bei anthropophagischen Festmählern unbearbeitet übriggebliebenen, Gebetzeug unterentwickelter Nationen, selbst aus dem Iran und noch entfernteren Gegenden, sowie buddhistischen Kult- und Schmuckstücken.449
Puppinger ist auf mehreren Ebenen dem Handlungsort enthoben. Allein die Eigenschaft, ein ehemaliger Seemann zu sein, spannt die Verbindung zum Schiff als Heterotopie. Die von ihm bei Gelegenheit vorgebrachten Geschichten erzählen von fremden Orten und Begebenheiten, die aus einem Abenteuerfilm stammen könnten. Seine körperliche Kraft ist die eines Herkules, seine Ausdauer beim sexuellen Akt kann getrost als bemerkenswert gelten : »Er trieb es dann mit Stella nach deren Ansicht sieben Male, sie konnte sich allerdings gehörig verzählt haben, zumal er die andere nicht losließ und dieser auch nach deren Angaben vier weitere Folgen seiner Zuneigung leistete.«450 Von ihm stammt die »menschenfressende Göttin«, eine Holzstatue, die er Stella als Zeichen seiner Wertschätzung zueignet, ein Symbol freilich, das durch die Bürokratie des Gefängnisses hindurch nicht leicht seinen Weg zur Empfängerin findet und daher im Text immer wieder auftaucht, am prominentesten da, wo sie vom Richter Mausgrub nach Hause mitgenommen wird und dieser daraufhin stirbt.451 Puppinger habe die Statue, die eine von einem Pfahl aufgespießte Gottheit darstellt, von einer jungen Kannibalin für geleistete Liebesdienste erhalten. Die »pfahlgetragene Göttin« ist nicht einfach nur sexuell konnotiert, sondern trägt auch eine exotische Vorstellungswelt von Sexualität in die beengte Atmosphäre der niederösterreichischen Kleinstadt, eine Vorstellungswelt, die der Matrose lebendig verkörpert. Auch der Wagenheber bekommt symbolische Qualitäten, ist sein Gebrauch als Mordwerkzeug doch von Puppinger in der Ferne in der Not erlernt worden, als er sich damit eine »Horde Eingeborener« vom Leibe 449 Ebda., S. 107. 450 Ebda., S. 101. 451 Vgl. ebda., S. 135, 213, 223.
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hält. Es scheint, dass bei Drach die Bedeutungsebene eines Möglichkeitssinns, obwohl diese Möglichkeit in keiner Weise ausgesprochen wird, vorhanden ist : eine vom System der Disziplin befreite Sexualität beispielsweise oder die Integration des fremden Ortes. Beide Möglichkeitswelten sind sowohl im Matrosen als auch in Esmaralda in minimalen Spuren angelegt, aber in der Realität der Handlung besteht vor allem für die weibliche Hauptfigur keine Chance auf eine Ausführung. Denn obwohl es Puppinger schafft, selbst unbehelligt zu bleiben, schrumpft seine ganze Kraft zusammen, wenn es darum geht, vor Gericht eine ähnliche Tat zu vollbringen wie an der Bar. Er hinterlässt keinen anderen Eindruck als den eines kauzigen Burschen, den man besser in Frieden lässt. Das Protokoll bringt keine Schwärmerei zum Ausdruck, erweist sich aber mitunter mächtig in der Konstruktion dieser Möglichkeits-Räume. Stella beobachtet ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen vorerst von hinten, wie er an der Theke sitzend »so manchen Schluck schmeckte und in sich hinuntergleiten ließ, ohne daß dadurch seine Bewegungen und andere Daseinsäußerungen der Unsicherheit in der Ausführung unterworfen worden wären«452. Gleich darauf streckt er seine männlichen »Gegner«, eigentlich nur zufällige Trinkkumpane, nieder und erobert weibliche Anwesende quasi en passant. Souveräner als in diesem Auftritt wirkt er noch, als Stella auch noch mitgeteilt wird, dass der Mann über Reichtum verfüge und er, was sich von selbst ergibt, ein von außen Zugereister sei, jedoch : »[D]as Größen-Selbst, wie es sich hier im fiktio nalen Raum materialisiert, wird als Objekt des weiblichen Begehrens fingiert, während es sich doch nur dem Wunsch nach narzißtischer Selbstüberhöhung verdankt.«453 Stella aber bezeichnet den Matrosen als »das, was überhaupt der Mann für eine Frau bedeuten könne«454. Zwar ist Drach an diesem Punkt weit entfernt von einem politischen Vergleich, wenn sich auch, wie oben angedeutet, der Fall ergibt, dass sich der Matrose für seine Taten nicht vor dem Gesetz verantworten muss, doch zeigt sich immerhin in der karikaturhaften Zeichnung seiner Figur, dass es ein Außerhalb der Rechtsordnung sehr wohl gibt, dass sich also der Begriff der Gerechtigkeit auf die Mädel wie auf den Matrosen verschiedentlich anwenden lässt. Auf der einen Seite der mit Geldmitteln ausgestattete Mann, der die Grenzen seines Tuns auszudehnen in der Lage ist, auf der anderen die Mädel, die sich bis zum Schluss des Textes ohne ihr Zutun immer weiter im Rechtssystem verstricken. 452 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 79. 453 Fuchs : Männer, Mütter, Mädel, S. 113. 454 Ebda., S. 82.
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Dieses Rechtssystem ist von Drach nun so gezeichnet, dass es einen Raum herzustellen in der Lage ist, in dem sich die Verhältnisse und Abhängigen einer mathematischen Formel nach ableiten lassen. Der Fall wird nach einem Kategoriensystem schematisiert und erhält erst dadurch, nicht aber durch die präsentierten Fakten sein Aussehen. Frühere Textstufen von Untersuchung an Mädeln, die im Österreichischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek einsichtig sind, lassen den vorsichtigen Schluss zu, dass Drach den Text so umgearbeitet hat, dass die oben angesprochenen Momente der Disziplinierung innerhalb eines geschlossenen Systems, das meistens auch eine architektonisch abgeschlossene Einheit bildet, deutlicher zur Ausprägung kommen.455 Beispielsweise enthält eine in einer Handschrift erhaltene Fassung einen Schuldspruch und führt das Protokoll weiter in den Haftalltag der beiden Mädel. Mit dem vorliegenden Ende in der Druckversion, dem Abbruch vor der Urteilsverkündung, verstärkt sich, wie erwähnt, der Eindruck einer endlosen Befragung, wie sie die Disziplinareinrichtung auszeichnet. Drach muss es bei der Überarbeitung darum gegangen sein, die Urteilsfindung als weniger wichtig darzustellen, den Vorgang der Befragung aber herauszustellen, dafür sprechen auch andere Fakten im Vergleich zwischen den beiden Texten. Ein weiterer deutlicher Unterschied ergibt sich aus der Darstellung der Tat, die in der früheren Textstufe eine brutale Vergewaltigung der Mädel schildert (während die Druckfassung eine eher pornografische Perspektive bevorzugt) und den Stechviehhändler weit drastischer als Täter beschreibt wie auch den Widerstand der Mädel akzentuiert. Die verwendeten direkten Reden machen die Positionen deutlicher, sodass der Schlag mit dem Wagenheber nach einer weiteren Drohung des Fahrers als Notwehr erscheinen muss. In derselben Textstufe sorgt Stella mit einer Nadel für die Reifenpanne, sodass ihr Tun geplant erscheint im Gegensatz zur Druckversion. Der Protokollant erlaubt sich außerdem eigene Reflexionen zum Thema Recht und Gerechtigkeit, wie sie in der Druckversion nur Stella in den Mund gelegt werden. Da heißt es zum Beispiel : »Das Gesetz dagegen in seiner Zwangsanwendung gestattet kein Entweichen und wenn ein solches trotzdem vorkommt, so trachtet es in aller ihm erlaubter Gestalt, das Unrecht wieder wettzumachen, wie auch den beiden [… ?] Mädeln geschehen ist.«456 Die Metapher vom Gesetz als einem geschlossenen (Gefängnis-)Raum erscheint immer wieder im Text, auch in der Druckfassung, wo 455 Vgl. i. d. F.: Albert Drach : Untersuchung an Mädeln. Sig. ÖLA 31/95, 1.1.1.5 [M/1 : H. A5] und M/4 : H. A5. Die insgesamt vier Hefte sind nicht paginiert. 456 Drach : Untersuchung an Mädeln, o.S. (Anm. 455).
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mehrmals von einem Entweichen durch ein Loch die Rede ist.457 Es finden sich außerdem deutlichere Beschreibungen zur Beschaffung von brauchbaren Aussagen von den beiden Verdächtigen. Stella wird vorübergehend in Einzelhaft verbracht : Sie ließ sich aber nicht über die Zwangshaft aus, die ihr zustand, auch nichts über Wiederkäuung von Mitteilungen seitens bisheriger Zellengenossinnen, sondern beschmierte das Papier in bezug auf ihr Unschuldbeteuern. […] Das Papier, zu dessen Verunzierung ihr neben dem Rohstoff auch das Beschreibungsmaterial bereitgestellt worden war, wurde ihr vorübergehend abgenommen, als sie schlief. Es war dies das Ergebnis der Dienstfertigkeit einer Vertrauensperson. Man gab es ihr wieder zurück und vernahm sie ein weiteres Mal in der Anstalt, sie sagte wieder nichts.458
Die Druckversion macht keine diesbezüglichen Aussagen, was darauf schließen lässt, dass es Drach daran gelegen war, die Institutionen des Rechts weitgehend unsichtbar werden zu lassen. Diese wenigen Beispiele sollen illustrieren, dass sich der Text von seiner ersten Konzeptionierung weg in eine Richtung entwickelt hat, die dem Begriff der Disziplin, wie er im vorigen Kapitel beschrieben wurde, weit näher ist als ursprünglich geplant, und damit auch Aussagen trifft, die eine außerhalb der Gefängnisse und der Justizinstitutionen stehende Wirklichkeit beschreiben. Was die Aktualität des Stoffes betrifft, macht Drach lange nach der Veröffentlichung von Untersuchung an Mädeln klar : »Ich bin heute noch der Ansicht, daß die Behandlung der Frauen eine hundsgemeine ist«459, und führt an selber Stelle weiter aus, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen schon darin bestehe, dass ein Mann, der soundso viele Frauenbekanntschaften verbuchen könne, sich mit großen Zahlen schmücken dürfe, wie etwa der Schriftsteller George Simenon, während Frauen das gleiche Recht nicht eingeräumt werde. Geradezu exemplarisch dazu ereignete sich im Frühsommer 2011 ein Fall, der in internationalen Medien breit diskutiert wurde. Die Vergewaltigungsklage gegen den vormaligen Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, wird fallengelassen, nachdem eine Untersuchung an dem kla457 Vgl. z.B. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 127 und Andrea Dorner : »Bocksprünge«. Die Rolle des Opfers in Albert Drachs Romanen »Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum« und »Untersuchung an Mädeln«. Diplomarbeit. Eingereicht an der Univ. Wien 1997, S. 91. 458 Drach : Untersuchung an Mädeln, o.S. (Anm. 455). 459 Hans Heinrich : Erinnerungen an Albert Drach. Wien : WM-Literatur Verlag 1991, S. 13.
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genden Zimmermädchen eines New Yorker Hotels die Unzuverlässigkeit ihrer Zeugenaussage bewiesen haben will. Interessant ist an dem Fall, dass dabei ihr Lebenswandel als illegale Einwanderin mit Kontakten zum organisierten Verbrechen den Ausschlag gibt, ihre Glaubwürdigkeit herabzusetzen, also Fakten, die mit der mutmaßlichen Tat in keinem direkten Zusammenhang stehen, während Strauss-Kahn als Opfer eines Komplotts beklagt wird.460 Was immer tatsächlich geschehen ist, so ist doch eine grundsätzliche Strategie erkennbar, die von den meisten Medien unhinterfragt aufgenommen wurde und sich ganz auf den »Hintergrund« der beteiligten Frau konzentriert, während der »Hintergrund« Strauss-Kahns, seine zahlreichen Affären, auch seine widersprüchlichen Aussagen, nicht in das Kalkül miteinbezogen461 oder mit dem vorliegenden Fall in Verbindung gebracht wurden. Eine andere Sache ist da schon der Fall eines schon erwähnten Obstdiebstahls :
Zwetschkenbaum In dem sehr zweifelhaften Schatten eines sogenannten Zwetschkenbaumes saß ein Mann, der hieß auch Zwetschkenbaum, aber er war es nicht.
Mit diesem verwirrenden, kryptischen Satz beginnt Albert Drachs großer Erfolgsroman, der 1964 als erster Band der Werkausgabe beim Verlag LangenMüller erschien, etwa 25 Jahre nachdem er die erste Fassung – zu der Zeit bereits im Exil – geschrieben hatte. Eine phantastische Geschichte, auch deshalb, weil der Erfolg des Buches durch ein Missverständnis zustande kam. Was zuerst aussieht wie eine Parodie auf die Sprache der k. u. k. Bürokraten – nach dem Krieg eine verklärte Erinnerung an die Zeiten vor den großen Katastrophen –, ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Und dass die folgenden Bände der Werkausgabe so erfolglos blieben, dass sich der Langen-Müller- und nach ihm der Claassen-Verlag dazu gezwungen sahen, das Projekt abzubrechen, scheint daran gelegen zu haben, dass das Publikum bemerkte, wie wenig die Protokollsprache Drachs mit dem gemein hatte, was Herzmanovsky-Orlando zu dieser Zeit repräsentierte. 460 Vgl. dazu auch ausführlicher : Sibylle Hamann : ›Spektakuläre Wende‹ im Fall DSK ? Es geht bloß um das Zimmermädchen. In : Die Presse vom 6. Juli 2011, S. 27. Die Autorin macht auf die Übereinstimmungen zwischen Untersuchung an Mädeln und diesem Fall aufmerksam. 461 Vgl. Brigitte Egger : »Der nächste Akt …« In : Kronen Zeitung. 5. Juni 2011, S. 6 f.
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Dabei lässt sich schon aus diesem ersten Satz vieles davon ableiten, was danach folgen sollte. Was sollte an einem Schatten »zweifelhaft« sein, und was bedeutet der Nebensatz »aber er war es nicht« ? Wer immer hier etwas zu Protokoll gegeben hat, dem wird gleich von vornherein misstraut. Der imaginäre Verfasser dieses Protokolls macht schon auf der ersten Seite deutlich, dass Juden in diesem Land unerwünscht, »schlecht« seien. Man könnte freilich diesem Protokollanten, der sich erst im letzten Absatz des Romans als solcher zu erkennen gibt, eine antisemitische Haltung nachsagen, wie das André Fischer in seinem Nachwort zur letzten Ausgabe tut,462 aber verwechselt man da nicht die Botschaft mit ihrem Überbringer ? Dieser Protokollant ist von fluider Gestalt und keineswegs sollte man seinem Selbstbekenntnis auf den letzten Seiten das Gewicht geben, das Fischer im zugesteht. Der Protokollant gibt einem zum gesunden Menschenverstand gehörenden Antisemitismus seine Sprache in einer Gestalt, die transparent ist und alle beteiligten Figuren und Personae durchscheinen und sprechen lässt. Die Lektüre sollte wohl nicht darauf hinauslaufen, dass sich der Leser und die Leserin damit zufriedengeben darf, eine historische, schreckliche, antisemitische Gesellschaft bei ihrem bösen Spiel porträtiert zu sehen, eine in Österreich lange gepflegte Praxis der kollektiven Reinigung, wie man weiß, und eine erfolgreiche Strategie im Literaturbetrieb seit der Erfindung des AntiHeimat-Romans. Das große Protokoll hat damit wenig zu tun, sondern bemüht sich mit seiner eigentümlichen Sprache darum, zu zeigen, wie leicht man das für recht und richtig zu erachten bereit ist, was eigentlich unmenschlich ist. Drach wählt die Zeit von 1914 bis in etwa zum Beginn des Aufstiegs des Nationalsozialismus, also einen Zeitraum, in dem es fast allen politischen Kräften mit dem Antisemitismus ernst wird463 und die Vorwände, Ressentiments tatkräftig Ausdruck zu verleihen, zunehmend fadenscheiniger werden oder ganz weggelassen werden, weil sie nicht mehr notwendig sind. Es sind ein Bagatelldelikt und die Intervention des Ortsgendarmen Johann Schöberl – vielleicht eine Anspielung auf den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober –, die den Ausgangspunkt der Geschichte darstellen. Die Aussage »Er war es nicht …« beschreibt gleich zu Beginn den diskursiven Charakter der fraglichen Handlungen, denn das, was dem Schmul Leib Zwetschkenbaum zur Last gelegt wird, ist mehr als der Diebstahl von Zwetschken, und das »es« bedeutet eine Variable, die sich im Lauf des Narrativs immer neue Bedeutungen gibt. Was nun 462 André Fischer : Nachwort. In : Albert Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 303– 316, S. 314. 463 Vgl. Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 113 f.
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folgt, sind ausschließlich zu Protokoll gegebene Reden einzelner zum Thema befragter Zeugen. Zwetschkenbaum wird inhaftiert und nach qualvollen Tagen einem Richter, dann einem Psychiater vorgeführt, der ihn für verrückt erklärt und in eine Irrenanstalt überweist, damit er keinen weiteren Schaden anrichten könne, heißt es. Seine Behandlung, die aus Schlägen und »Waterboarding« besteht, wird ergänzt durch Schikanen der anderen Eingewiesenen, die ihn als »Saujude« oder »stinkender Mausche« ansprechen und entsprechend behandeln. Das Gutachten des Anstaltsarztes widerspricht dem Einweisungsgutachten, das des zweiten Arztes hinwiederum dem ersten und so werden aus den wenigen Worten und Gesten, die Zwetschkenbaum äußert, weitschweifende Schlussfolgerungen über seinen Geisteszustand. Der Inhaftierte steht im Einflussbereich einer von Intrigen, Machtspielen und Inkompetenz beherrschten Welt, zu der er zwar nicht gehört, für die er aber den Kopf hinhalten muss. Er wird durch einen Messerstich schwer verletzt und von einem angeblichen Starchirurgen wieder zusammengeflickt, erzählt dem Anstaltsleiter seherische Träume und wird bald darauf auch von seinen Zimmergenossen für einen Menschen gehalten, der nicht von dieser Welt ist. Diese Wahrnehmung pflanzt sich allerdings nicht weiter fort, beziehungsweise wird sie wieder vergessen, sodass Zwetschkenbaum weiterhin für einen Irren angesehen wird. »Was kann man denn mit einem Narren machen, als ihn gleich ins Narrenhaus abschieben.«464 Zwetschkenbaum flüchtet aus der Anstalt, vertrieben vom Anblick einer Vergewaltigung. Kurz darauf brennt die Scheune des Bauern Hinterroder ab. Zu vermuten ist ein Versicherungsbetrug, indem man Zwetschkenbaum die Brandlegung unterschiebt. Nun allerdings verschiebt sich dieses Urteil und ein Gericht stellt fest, dass er für seine Taten verantwortlich sei. Man bringt ihn dazu, die nicht begangene Tat zu gestehen : »Der Beschuldigte erinnerte sich nunmehr vollends, daß sich die Tat gemäß der Vorstellung des Gerichtes abgespielt habe.«465 Der Schuldspruch bewirkt Zwetschkenbaums Zusammenbruch und er wird in das Inquisitenspital überstellt. Wie in den bisherigen Unterbringungen macht er auch hier die Bekanntschaft mit anderen Häftlingen, die ihn in unterschiedlicher Weise behandeln. Sein Habitus erzeugt auch hier teilweise heftige Reaktionen, die von Bewunderung bis zur handgreiflichen Ablehnung reichen. Jedenfalls schildert ihn das Protokoll als Zentrum und Empfänger großer Aufmerksamkeit. Schimaschek, den er im Irrenhaus kennengelernt hat, tritt auf den Plan und beweist dem Staatsanwalt die Unschuld Zwetschkenbaums und dieser 464 Ebda., S. 59 f. 465 Ebda., S. 116.
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zieht tatsächlich die Klage zurück. Schmul Zwetschkenbaum wird zurück ins Irrenhaus überstellt, da man der Überzeugung ist, dass jemand, der ein falsches Geständnis mache, wohl für unschuldig, aber verrückt gelten müsse. Wo er früher allerdings in Wasser getaucht und geschlagen wurde, wird er nun zu seiner eigenen Verwunderung wie ein König behandelt. Es ist bald klar, dass dahinter Interessen stecken, von denen Zwetschkenbaum nichts weiß. Eines Tages endet der Aufenthalt im »Paradies« und Zwetschkenbaum zieht (erzwungenermaßen) mit Zwischenstationen zu einem Geschäftsmann mit Namen Eisig Spennadl, der gemeinsam mit einem Meier Druckmann Geld verwalten soll, dass der angeblich verstorbene Bruder Schmuls, Josef Salomon, vor seinem Tod hinterlegt haben soll. Über die genauen Zusammenhänge lässt man den Bedachten im Unklaren, ebenso über die Summe. Der jedoch ist misstrauisch, hat er doch seinen Bruder in einem seherischen Traum beobachtet, wie er sich auf dem Schlachtfeld eine falsche Identität zugelegt habe. Weiterhin bleiben die Hintergründe der finanziellen Transaktionen, die das alles möglich machen, im Dunkeln. Zwetschkenbaum vermutet, dass sich sein Bruder Salomon im Krieg die Identität des dort gefallenen Grafen Grzezinsky zugelegt hat. Bei Spennadls schließt er Freundschaft mit dessen Compagnon Meschulim Donnensaft und dessen Nichte Hermine, die seine Akkulturation mit der weltlichen Gesellschaft vorantreibt, sodass aus Schmul Sam wird, der Deutsch lesen und schreiben kann und sogar im Tanz Unterricht nimmt : »So war ein östliches Reis in eine verwandte, ihm nichtsdestoweniger doch nicht ganz verständliche Welt umgesetzt worden.«466 Dringlicher wird sein Wunsch, die Herkunft des Geldes zu erfahren, das Spennadl für ihn verwaltet. Seine Versuche, dies herauszufinden, enden beinahe tödlich in einer kalten Winternacht in einem Park des ihm unbekannten Wien. Doch lesen ihn zwei Mithäftlinge aus vergangenen Zeiten rechtzeitig auf. Johann Himbeer und Wolf Stengel erfassen geschwind, dass sie die Situation Zwetschkenbaums für ihre Zwecke nützen können, denn dieser ist überzeugt, von unehrlichem Geld zu leben, und will das ändern. Sie richten ein Geschäft ein, das Zwetschkenbaum führen soll. Dass die Kleidungsstücke, die er dort verkauft, gestohlene Ware sind und er sich damit schuldig gemacht hat, erfährt er zu spät, ebenso, dass die Herkunft des Geldes eine rechtmäßige war, nämlich die vom Anwalt Schimaschek erstrittenen Zahlungen an den vielfach geschädigten Zwetschkenbaum. Hier schließt sich der Kreis einer konsequenten Irreführung, nicht zuletzt des Lesers und der Leserin. 466 Ebda., S. 241.
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Das Ende des Romans gehört aber nicht Zwetschkenbaum, sondern ist dem Auftreten des geheimnisvollen Grafen Grzezinsky gewidmet und dessen Ausführungen, die den Holocaust als Geschäftsidee beschreiben. In einer letzten Schleife werden antisemitische Programme durchgespielt und ein mysteriöser, zur Spekulation verleitender Schluss konstruiert. Die den Roman durchziehenden Gesichte Zwetschkenbaums, die ihn unter anderem so sehr in die Irre geleitet haben, werden hier noch einmal in Erinnerung gerufen. Das große Protokoll bemüht sich darum, die Rezeptionshaltung zu steuern und diese Manipulationsversuche auch sichtbar zu machen. Zwetschkenbaum wird als Opfer einer antisemitischen Grundhaltung von Bevölkerung und Behörden eingeführt. Bezeichnenderweise schlafend unter einem Obstbaum aufgegriffen, setzt er dem ihm begegnenden Unrecht nichts entgegen als seinen Glauben und beharrliche Passivität, aber die Empathie für Schmul muss zwangsläufig oberflächlich bleiben, denn eine Identifikation mit der Hauptfigur ist weitgehend ausgeschaltet, da Innensichten fehlen und die erschwerte Kommunikation mit dem des Deutschen kaum Mächtigen sich auch auf das Protokoll zu übertragen scheint. Der Text verfällt, obwohl er vorgeblich paraphrasierend direkte Reden (Aussagen) indirekt wiedergibt, in sprechertypische Idiomatik, sodass er multiperspektivisch wird. Getäuscht wird der Leser und die Leserin durch die Tatsache, dass der Antisemitismus im Plot nur eine untergeordnete Rolle spielt, wo man über weite Strecken annimmt, dass er die treibende Kraft darstellt. Es ist wohl wahr, dass der Antisemitismus ein gemeinsamer Nenner des nichtjüdischen Figureninventars darstellt, doch geht es fast allen eigentlich nur ums Geld. Hans Druckmann fasst es so zusammen : »Mit diesen Summen [also dem, was von allen Beteiligten in den Fonds eingezahlt wurde] hätte Zwetschkenbaum bei seiner Bescheidenheit steinalt werden können, ohne einen Finger zu rühren.«467
Die Formen von Vereinzelung bei Drach Das sogenannte »nicht beteiligte Protokoll« »Ironie vom Glück« verrät am Ende eine starke Beteiligung des imaginären Protokollanten am Leben des Hans Schmidt, der im ersten Satz als Antithese zu den zahlreichen Hänsen der Märchentradition eingeführt wird.468 Da übernimmt der Text die träumerische und 467 Ebda., S. 293. 468 Vgl. Albert Drach : Ironie vom Glück. In : A. D.: Ironie vom Glück, S. 37–68, S. 37.
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entrückte Perspektive der Hauptfigur, die sich, obwohl im Mittelpunkt des Interesses, kein solches am eigenen Schicksal mehr hat : »Und es ging ihm auch nicht mehr um Schuld oder Nichtschuld, sondern daß ihm der Anblick Gretens bleiben würde trotz allen amtlichen und außeramtlichen Versuchen, ein anderes, zerstücktes Bild an dessen Stelle zu setzen.«469 Die Erzählung ist analog zu Untersuchung an Mädeln strukturiert. Auch hier steht am Ende eine Figur vor Gericht in Erwartung eines Schuldspruchs wegen Mordes, wenn auch das Opfer der Tat diesmal die Begehrte darstellt und der vermeintliche Täter ein junger Mann ist. Die Coming-of-Age-Geschichte kreist wie der Roman um die Vorgeschichte des Paares und verfolgt dann in größerer Detailschärfe die zur Verhandlung gekommenen Vorgänge, die zum Tod von Grete geführt haben. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass letztere davor von einem anderen Mann missbraucht wurde, der sich dabei als Hans ausgegeben hatte, und somit wird Grete erst, als sie auf dem trügerischen Felsen liegt, klar, was dem Hans erst später auffallen muss. Für das Gericht ergibt diese Tatsache ein Motiv für Hansens Mord ebenso wie eines für Gretes Selbstmord, nämlich die Erkenntnis, dass es nicht Hans, sondern ein anderer war, der sie in den dunklen Verschlag des Donaudampfschiffes gezogen hat. Dass ihr Absturz von dem Felsen ein bloßer Unfall war, wie das Hans behauptet, scheint in der nach Kausalitäten und damit nach Tätern suchenden Logik des Gerichts von vornherein unplausibel. Drach macht das in zynischen Nebenbemerkungen deutlich, etwa dieser : »Im übrigen war es Katachismern [dem Untersuchungsrichter] gleichgültig, ob Hans schuldig war oder nicht, ob er überwiesen werden würde oder entschlüpfen konnte.«470 Im sprechenden Namen »Katachismer« klingt eine Affinität zur Erziehung und moralischen Bildung an, die sich erhärtet, wenn der Richter als Wahrer des Wortes beschrieben wird, ein Wort, »das bekanntlich schon am Anfang als vorhanden bekundet ist, darüber hinaus als gottbegleitend oder Gott selbst, wiewohl es zweifellos, einmal in der Welt auch ohne Divinität sich halten konnte«471. Der Kern des Interesses der Öffentlichkeit wie des Gerichts ist aber wiederum die Sexualität junger Menschen. Dazu werden auch die Sachverständigen tätig, die zwar Mühe haben, den exakten Todeszeitpunkt herauszufinden, was immerhin für den Prozessverlauf entscheidende Auswirkungen haben könnte, dafür aber die Deflorierung Gretes
469 Ebda., S. 67. 470 Ebda., S. 59. 471 Ebda., S. 59.
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mit äußerster Bestimmtheit festzustellen vermögen.472 Noch weniger als bei den »Mädeln« ist von einem der Norm widersprechenden Lebenswandel die Rede. Die bloße Tatsache des Zur-Sprache-Kommens reicht bereits für eine Vorverurteilung. So wird im Umkreis eines Verbrechens, das auch ein Unfall sein könnte, nach Sexualdelikten gesucht, um eine Beziehung herstellen zu können. Dass Hans als Waise großgezogen wird und unter sorgsamer Überwachung steht, der er sich auch pflichtschuldigst unterordnet, reicht nicht aus, ihn vom generellen Verdacht freizusprechen. Da ist nämlich noch seine Sehnsucht, zur See zu fahren, und seine träumerische Art, seine Sammelleidenschaft und das allgemein wenig zynische Betragen, das gegen ihn spricht. Er würde wenig über Gut und Böse nachdenken, heißt es, und er hielte »alles für ratsam und erstrebenswert, was nach seinem Dafürhalten einen ganzen Mann erforderte und unabhängig machte«473. Auch hier ist der Untersuchung eine Analyse seiner Schulkarriere vorangestellt, die auf dem Prüfstand steht und wieder versagt. Von seiner Überwachung war bereits die Rede, die Schule hat ebenso keinen Grund zur Klage. Trotzdem ereilt ihn das Schicksal, als er sich in Grete verschaut. Sowohl die Erziehungsberechtigte von Hans wie die Eltern Gretes sind im Prozess des inszenierten Falls der beiden involviert. In den beiden Figuren Herrmann Ohnegut und Alfred Mugelhuber schließlich gibt es zwei Instanzen, die wiederum einerseits mit der Sexualität des Paares in Verbindung stehen, die aber andererseits bei Prozessbeginn ebenfalls verschwunden sind. Sie gehören in die Tradition der Figuren in den drachschen Texten, die sich dem Rechtssystem zu entziehen vermögen und schließlich gar zu Profiteuren desselben werden, während die Protagonisten, gegen die das Protokoll anschreibt, schonungslose Behandlung erfahren. Zwischen Untersuchung an Mädeln und Ironie vom Glück bestehen also mehr als nur inhaltliche Parallelen. Mir erscheint im hier gegebenen Zusammenhang wichtig, dass in diesen Texten ein Schwergewicht auf die Erziehung und Bildung der vor Gericht stehenden Figuren gelegt wird, darauf, dass es sich um eine Bestandsaufnahme zu handeln scheint, was diese Institutionen geleistet haben, und dass es Drach wichtig zu sein scheint, festzustellen, dass sich im Endergebnis keine Auswirkungen zeigen, da dieses Endergebnis erst vor Gericht und durch das Protokoll hergestellt wird. Der Prozess stellt die eigentliche Disziplinierung dar, indem er die Figuren isoliert. Immer wieder betont Drach in Interviews die Richtung, die er mit dieser Konzeption des Romans zu gehen 472 Vgl. ebda., S. 67. 473 Ebda., S. 40.
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beabsichtigte : »Denn was bisher als Roman ausgegeben wurde, ist eine Propagandaschrift für den Helden, und bei mir ist das nicht der Fall.«474 Wenn dann alles zusammengetragen ist, was gegen den Helden spräche, dann könne eine Abrechnung über ihn gemacht werden. »Am Schluß aber bleibt die Sympathie für ihn übrig, das heißt er überlebt seine Widersacher, er überlebt sich selbst, er überlebt sein Schicksal.«475
Einsamkeit/Vereinzelung In den Figuren des Hans, der Stella und des Zwetschkenbaum erscheinen mindestens zwei der drei Formen von Einsamkeit oder Vereinzelung, von »solitude«, um hier den Begriff aufzugreifen, wie ihn Richard Sennett beschreibt : Die erste davon wurde in diesem Kapitel bereits ausführlich beschrieben, es ist die Einsamkeit, die von Macht hergestellt wird, also jene Isolation, die üblich ist, um mutmaßliche TäterInnen der Macht zu berauben und sie damit der Macht des Staates auszuliefern.476 Diese Form von erzwungener Vereinzelung ist auch in den Disziplinarinstitutionen üblich und wird in Untersuchung an Mädeln, insbesondere Stellas Erziehung zeigt das, dort zum Spott genutzt, wo sie ungenügend exekutiert wird. Seht, sagt der Protokollant, selbst die lückenlose Überwachung hat ihre Schlupflöcher freigelassen, durch die ihre Subjekte in einen anderen Raum gelangen. Es wurde schon oben erwähnt, dass das Gesetz bei Drach bisweilen als eine Art Box mit Schlupflöchern dargestellt wird, dass er also eine Metapher findet, die diesen Zustand des Innen und Außen in einen Raum übersetzt. Die Ironie ist, dass dieses Versäumnis zum Auslöser ungezügelter Sexualität wird. Das Verregeln und Normieren funktioniert nur in den dafür vorbereiteten Räumen und das Gefängnis, das ist der Hohn, den Drach diesen Texten als Grundierung und nicht als Beschreibung unterlegt, ist die letztgültige Form der Disziplinierung. Gerade als der Leser und die Leserin das zu glauben geneigt ist, beginnt Esmaralda eine Affäre mit einer Zellengenossin und muss in die Einzelhaft überführt werden, weil die Regulierung des Geschlechtsverkehrs unbedingt in die Domäne der Disziplinarinstitution fällt. Es ist also eine stu474 Albert Drach : Im Gespräch mit Peter Huemer. 9.1.1992. Österreich 1. Prozesse. Mitteilungsblatt der Internationalen Albert Drach-Gesellschaft 2 (1998), S. 21. 475 Ebda. 476 Vgl. Michel Foucault/Richard Sennett : Sexuality and Solitude. London Review of Books 3/9 (1981), S. 2.
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fenweise Vereinzelung ablesbar, die in allen Facetten durchgespielt wird und deren Widerstand die Sexualität ist, die sich hier als die Antagonistin der Macht der Disziplin darstellt. Die letzte der Stufen der Disziplin stellt das Protokoll selbst dar, die ortlose Schranke. Im literarischen Protokoll geht es um die Vereinzelung der dargestellten Person, das machen die Titel deutlich : Untersuchung an Mädeln oder Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. In bestimmten Fällen muss die Position des Protokollanten präzisiert werden, sodass es zu »ungemütlichen«, »nichtbeteiligten« und »wohlwollenden« Protokollen kommt, um sicherzustellen, dass es sich hier nur um eine vorläufige Isolation handelt. Der Bericht dagegen nimmt sich als Gattung der Reise an.477 In jedem Fall sind die Opfer dieser Perspektive aus ihren Zusammenhängen insofern gelöst, als alles, was für sie spräche, außerhalb des Textes, alles was gegen sie spricht, aber an ihnen haften bleibt.478 Diese erste Form von Einsamkeit ist also eng verwandt mit dem Begriff der Isolation, sie ist das Produkt eines Akts, der von außen gesetzt wird und den Sennett wiederum in drei Architekturformen wiederkehren sieht.479 Das Büro gebäude beispielsweise mit seinen vielen Zellen, die bisweilen durchbrochen und einsichtig sind, aber jedenfalls auf Vereinzelung abzielen. Das Bürohaus muss in allen seinen Facetten eine geordnete Vielheit möglich machen, die Wege und Verbindungen gehorchen der Logik des Verkehrs. Verkehrsmittel bewegen sich ebenso in einem geordneten Raum und produzieren durch ihre Bewegung eine Vereinzelung, die am besten dort zu beobachten ist, wo AutofahrerInnen zwar Kontakt zu anderen aufnehmen, aber mit der strikten Absicht, von diesen getrennt zu bleiben. Isolation kann auch durch Sichtbarkeit hergestellt werden, durch die panoptischen Instrumente, aber auch die Architektur, die eine Sichtbarkeit produziert, die, je nach Verwendung, panoptisch genutzt werden kann oder nicht. Menschen, die in Gebäuden aus Glas arbeiten, finden beispielsweise weniger Gelegenheit, sich von ihrer Arbeit zu entfernen, um mit Kollegen zu plaudern. Das ist die Umsetzung der Utopie vom Arbeitsprozess als Uhrwerk.480 Alle Gebäude, die eine panoptische Funktion haben können, fallen in diese Kategorie. Dann gibt es aber auch noch eine zweite Art von Einsamkeit, die nicht von Macht initiiert wird, sondern im Gegenteil von ihr gefürchtet, das ist die Ein477 Vgl. Drach : Unsentimentale Reise. 478 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler : Wider die verzuckerten Helden, S. 12. 479 Vgl. i. d. F.: Richard Sennett : The Fall of Public Man, S. 14 f. 480 Vgl. ebda., S. 15.
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samkeit des Träumers, des homme révolté, die Einsamkeit des Rebellen.481 Als Prototyp und paradigmatischer Anschauungsfall dieser doppelt konnotierten Figur mag Schmul Leib Zwetschkenbaum gelten, der im Großen Protokoll ebenfalls Gegenstand einer umfassenden Untersuchung wird. Hier ist es nicht so sehr die Vergangenheit als die erzählerische Gegenwart, die die Behörden interessiert und Drachs Text zu einer umfassenden Parodie der Praxis der Verwaltungsinstitutionen der k. u. k. Monarchie werden lässt. Der ahasverische Trödler aus »Z. Z.« das ist die Zwischenzeit, der der Bruder im Geiste des Zwetschkenbaum sein könnte, ist wie dieser »gekommen[,] um da zu sein«482. Dieses »Dasein« des sogenannten Ostjuden reicht den Behörden schon zur Provokation und zur Demonstration eines Verfahrens gegen den Einzelgänger. Die Vergangenheit Zwetschkenbaums erregt im Verlauf des Romans vielleicht auch deshalb kein sonderliches Interesse, weil sich seine Behandlung »aus offen ersichtlichen Umständen«483 ergibt, aus der prinzipiellen Sichtbarkeit seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die inszeniert ist in einem gut organisierten Geflecht von Wahrnehmungsmustern, die ihren Weg von den machttragenden Institutionen hinab bis in die Ebenen der Opferperspektive gehen.484 Die Einsamkeit wird von Zwetschkenbaum zum Teil selbst gewählt, er trifft auf Institutionen – eine ironische Wendung –, die ihn ungenügend isolieren. Nichts stört ihn mehr als die Tatsache, dass er mit anderen in einen Raum gesperrt ist. Seine anfängliche, vollkommene Einsamkeit unter dem Baum, begleitet vom Gebet, aber auch der stillen Kontemplation, wird während der gesamten Erzählung nie wieder in dieser Vollkommenheit hergestellt, und so bleibt die Einsamkeit ein unerfüllter Wunsch und die Vertreibung aus dem Paradies in Kraft. Das ist der eine Grund, warum Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum bisweilen als harmlose Satire missinterpretiert werden konnte. Der andere Grund hat mit dem Widerstand 481 Foucault/Sennett : Sexuality and Solitude, S. 2. Und diese Einsamkeit findet man ebenfalls in zahlreichen Figuren in Drachs Texten wieder, in Stella (Untersuchung an Mädeln), in Hans (Ironie vom Glück), in Peter Kucku (Unsentimentale Reise), in Amanda (Das Kasperlspiel vom Meister Siebentod), nicht zuletzt auch in den autobiografischen Masken, dem Ich-Erzähler in Das Beileid, im Sohn (»Z . Z .« das ist die Zwischenzeit) oder in de Sade (Das Satansspiel vom göttlichen Marquis). Vereinzelung geht bei Drach oft einher mit Entwurzelung oder mit dem Verlust der Eltern, mit einer Desillusionierung oder dem beruflichen Fall. 482 Drach : »Z. Z.« das ist die Zwischenzeit, S. 139. 483 Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 9. 484 Vgl. Elmar Lenhart : »Der scheue und unsichere Blick«. Die Wahrnehmung des »Jüdischen« in Österreich am Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Albert Drachs Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. Modern Austrian Literature 43/4 (2010), S. 41–60.
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zu tun, oder besser seinem Fehlen. Es heißt, Zwetschkenbaum spräche nach der Art alter Propheten.485 Er hat Traumgesichte, die ihm die Zukunft und die Vergangenheit erklären helfen, aber seine aktive Reflexion bleibt unterentwickelt oder kann vom Protokollanten aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse nicht interpretiert werden. Das betrifft die politische Seite seines Falles. Zwetschkenbaum weiß nichts vom Verbleib seines Bruders und von seiner Rolle in den ihm zur Last gelegten Gesetzesbrüchen. Er bleibt aber, vor allem was seine Sexualität betrifft, schlicht unbedarft. Diese Form der Selbstreflexion, die über den Körper und seine Lust Rechenschaft ablegt, die dem christlichen Individuum als Pflicht auferlegt ist, findet in Zwetschkenbaum nicht statt. Und das erzeugt scheinbar eine komische Wirkung. Von den Techniken, die das Subjekt anwendet, um sich selbst innezuwerden,486 praktiziert Zwetschkenbaum keine in genügendem Ausmaß. Er zeigt keine Anzeichen des Wunsches, Herrschaft über andere auszuüben, er kommuniziert nur ungenügend und er lässt sich kaum dazu überreden, etwas herzustellen und Arbeit im klassischen Sinn zu leisten. Um diesen Mangel auch noch auf die Spitze zu treiben, ist es gestohlene Ware, die er verkauft. In diesen Kategorien bleibt Zwetschkenbaum ein Mensch, dem Merkmale zum Subjekt und damit zum Menschsein in der christlichen Tradition zu fehlen scheinen, und dazu gehört wesentlich eine vierte Technik, die Foucault den habermasschen Kategorien hinzufügt und die er als die »Technik des Selbst«487 beschreibt.
Die dritte Einsamkeit : Solitude of Difference Einer der Höhepunkte der Befragung Zwetschkenbaums durch den Gerichtsarzt, Herbert Zoltan Ondoraki, welcher feststellen soll, ob der Angeklagte geistig ausreichend gesund ist, um vor Gericht gestellt zu werden, ist die Frage nach dem Unterschied zwischen Mann und Frau.488 Nachdem der Befragte darauf zur Antwort gibt, dass »man die Männer beschneide, die Frauen aber nicht«489, 485 Vgl. Drach : Zwetschkenbaum, S. 47. 486 Foucault und Sennett halten sich an Habermas. Die drei Techniken sind die Produktion (etwas herstellen, produktiv sein), die Kommunikation (mit anderen in Kontakt treten) und die Technik, andere zu beherrschen (Macht auf andere auszuüben). Vgl. Foucault/Sennett : Sexuality and Solitude, S. 6. 487 «Let’s call these techniques technologies of the self« (ebda.). 488 Drach : Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum, S. 22. 489 Ebda.
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passt sich diese Art von Reaktion in das restliche Gespräch ein, welches von Missverständnissen und grotesken Interpretationen der ebenso grotesken Fragen gekennzeichnet ist. Immerhin trägt die Antwort Zwetschkenbaums dazu bei, ihn als »eigentumsgefährlichen Menschen«490 zu charakterisieren, da ihm der Unterschied zwischen Mann und Frau offenbar nicht ausreichend bekannt sei. Der ärztliche Befund des Dr. Ondoraki legt fest, dass das Bewusstsein über das eigene Geschlecht unbedingt eine Basis darstellt, auf der moralische Grundsätze wie das Verbot zu stehlen beruhen. Wie sich bald herausstellt, vermischen sich aber konfessionelle und juristische Belange. Das Spiel wird nämlich komplizierter durch die Feststellung, dass die Kenntnis der Heiligen Schrift auch eine Kenntnis des Verbots zu stehlen impliziere. Zwetschkenbaum wüsste also zwar, dass man nicht stehle, er könne aber dieses Wissen nicht in die Tat umsetzen, und dieser Widerspruch könne nur aus seiner Zugehörigkeit zum Judentum erklärt werden, das so etwas wie ein schizophrenes Programm darstelle. Gemeint sind offenbar die in einem Körper gefangenen Persönlichkeiten, die auf unterschiedlichen Ebenen von Kompetenz agieren.491 Entscheidend ist in jedem Fall, dass Drach in dieses Zentrum des antisemitischen Diskurses über Schuld und Sühne, Wissen und Handeln die Sexualität stellt, in einer ähnlichen Weise, wie das Gesetz mit den Mädeln verfährt und mit Hans. Diesen Figuren einer reinen, weil auf die Liebe gerichteten Sexualität stehen in Drachs Werk die Wüstlinge gegenüber, Catilina492 oder de Sade493, aber auch der »Sohn« aus dem Roman Z. Z.494, diese autobiografische Maske, die in Pierre Coucou495 transformiert wird, um später zu einem »Ich«496 zu werden. Wenn sich auch die Erfolge in unterschiedlichem Grad einstellen, zeigen doch alle drei Figuren die gleichen Verhaltensstrategien, wenn es darum geht, ihre Lust zu befriedigen. Es ist eine grobe, direkte und oftmals abstoßend frauenfeindliche Art, wie sich die autobiografischen Alter Egos hier gebärden. Man mag darin Symbolisches, 490 Ebda., S. 23. 491 Gilmans Aufsatz zeichnet die gängigen Strategien des medizinischen Diskurses um die jüdische Bevölkerung nach. Ein wesentlicher Bestandteil, schreibt Gilman, sei dabei die Sprecherposition. »In Drach’s novel, the lawyer and the accused speak two very different languages : […] the language of power and powerlessness« (Sander Gilman : Zwetschkenbaum’s Competence : Madness and the Discourse of the Jews. Modern Austrian Literature 26/2 (1993), S. 1–34, S. 5). 492 Vgl. Albert Drach : »O Catilina«. Ein Lust- und Schaudertraum. München/Wien : Hanser 1995. 493 Drach : In Sachen de Sade. 494 Drach : »Z . Z .« das ist die Zwischenzeit. 495 Vgl. Drach : Unsentimentale Reise. 496 Vgl. Drach : Das Beileid.
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auf die politische, gesellschaftliche oder moralische Situation der Hauptfigur Reflektierendes sehen oder eine Sache der animalischen Lust, so wie sie ist. Der Zynismus Drachs präferiert wohl eher die zweite Variante. Drach hat mit seinen Sexualitätsdiskursen seinen Interpreten und Interpretinnen eine scheinbar leicht zu lösende Aufgabe gegeben. Psychoanalytische Ansätze drängen sich geradezu auf. »Z. Z.« beginnt am Totenbett des Vaters.497 Der Text endet mit der prophetischen Ermordung der Mutter,498 die angeblich stirbt, weil der Sohn mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis hat.499 Eine seltsame Verkettung von Ursache und Wirkung, die an die Logik des Dr. Ondoraki denken lässt. In Wirklichkeit stirbt sie 1939 an den Folgen einer Operation im Krankenhaus der israelitischen Kultusgemeinde.500 Es gehört zum literarischen Spiel des Albert Drach, Schuld auf seine Figuren zu verteilen. Manchmal nach Belieben. Das bedeutet in seiner Literatur der Begriff »den Prozess machen«. Die Forschung nach der Wahrheit über Schuld und Unschuld ist nicht die Sache des Gesetzes oder des Protokolls, sondern die quasiwillkürliche Anordnung der für diesen Vorgang notwendigen Parameter. Jedoch : So willkürlich ist diese Anordnung deshalb nicht, weil hinter ihr Interessen stehen, die über die gegenständlichen Fälle hinausreichen. Drach versäumt es nicht, diese Interessen dort bloßzustellen, wo sie für ihn sichtbar sind. Die Vereinzelung oder die Einsamkeit der Figuren ist entweder eine vom Gesetz zugerichtete oder eine, die bewusst eingegangen wird, um Macht Widerstand zu bieten. Auf der Ebene des Körpers wird dieser Widerstand vollzogen. Das Gesetz zielt folgerichtig auf diesen Punkt und entscheidet dort über Recht und Unrecht.
Biomacht in Albert Drachs Texten Die Zusammenhänge zwischen Machtformen, dem Individuum und der Bevölkerung lassen sich folgendermaßen vereinfacht in einem Schema darstellen : Nicht nur, was die Rolle der Disziplinareinrichtungen im juristischen Kontext betrifft, ist der Roman Untersuchung an Mädeln der Paradefall eines längeren Prosatexts innerhalb des Schaffens Albert Drachs. Das im Untertitel bezeichnete »Kriminalprotokoll« stellt wegen seiner zentralen Motive, vor allem 497 Vgl. Drach : »Z . Z .« das ist die Zwischenzeit, S. 7 f. 498 Vgl. ebda., S. 382. 499 Vgl. ebda., S. 381. 500 Vgl. ebda., S. 397.
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Machtformen (Souveränität)
Disziplin
Biopolitik
Individuum, individueller Körper
Masse (Bevölkerung) Leben
Abb. 5 : Seit dem 19. Jahrhundert hat sich der Weg der Einflussnahme auf den individuellen Körper stark verlagert. Der Weg zum individuellen Körper beginnt im 20. Jahrhundert zunehmend über den Weg der Biopolitik zu führen. (Quelle : Vom Autor erstellt.)
auch wegen seiner Form, einen für den Autor typischen Text dar. Weiter oben wurde anhand des Auftaktes gezeigt, welche Auswirkungen die Wahl des Protokollstils auf die literarische Raumkonstruktion hat, die Verschiebung von einem Handlungsraum auf einen Körperraum. Hier soll es nun darum gehen, dem Zusammenspiel zwischen Disziplin und Biopolitik nachzuspüren, wie es in Untersuchung an Mädeln dargestellt ist, vor allem auch, dass es hier dargestellt ist, denn dass Drach der Themenkomplex der Biopolitik kaum bewusst gewesen sein dürfte, lässt sich aus dem Fehlen jeder expliziten Äußerung ableiten. Drach hat weder in Interviews noch in seinen Werken Anspielungen gemacht, die darauf hinweisen könnten, dass er diesen Begriff auch nur kannte. Wie also deutlich ist, hatte er diesen Aspekt auch kaum im engeren Fokus seiner Reflexionen. Viel stärker ist der in der obigen Grafik auf der linken Seite dargestellte Teil der Disziplin in seinen Werken denotativ ausgeprägt. Dieser Themenbereich der normierenden Institutionen zieht sich durch sein gesamtes Werk und findet vermutlich in Untersuchung an Mädeln seine deutlichste Ausprägung. Drach hat sich schon in seinen frühen Werken, lange vor dem intensiven Diskurs zu Irrenhäusern und Gefängnissen der 1960er- und 1970er-Jahre, für die problematische Verbindung von Rechtsinstitutionen mit Disziplinareinrichtungen interessiert und hier seine Skepsis zum Ausdruck gebracht. Mit den im vorigen Kapitel dargestellten Zusammenhängen lässt sich feststellen, dass die Schilderung eines Gerichtsprozesses, in dem zwei junge Frauen
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des Mordes an ihrem Vergewaltiger angeklagt sind, kaum ohne einen zumindest impliziten Zusammenhang mit biopolitischen Fragen auskommt, da, wie im obigen Schema ersichtlich, an die Machtform Disziplin diejenige der Biopolitik angeschlossen ist. Außerdem ist das Vehikel, mit dem die Handlung vorangetrieben wird, der Sexualitätsdiskurs, den Drach in sehr ähnlicher Weise wie Foucault als paradigmatisch wahrnimmt. Die intensive Beschäftigung mit den Disziplinareinrichtungen, die an juristische Einrichtungen angeschlossen sind oder überhaupt dort lokalisiert werden (wie die Untersuchungshaft), bestimmt den Roman. Als Normierungsinstitutionen leisten diese Einrichtungen ihren Beitrag zur Biopolitik, indem der Zugriff auf die Subjekte über biopolitische Maßnahmen erfolgt : Es geht darum, die Biografien der beiden Protagonistinnen zu durchleuchten, sie zu analysieren und aus der Analyse heraus nicht nur die Frage nach der Schuld zu beantworten, sondern diese Antwort an ein Urteil zu binden, das das Wesen der Angeklagten beschreibt und sie in Bezug auf ihre Art – oder man könnte auch sagen : Gattung – festlegt. Diese Zuordnung funktioniert im Roman ausschließlich über den Diskurs zur Lebensführung der beiden Frauen. Am Ende steht wie auch im vorangegangenen Kapitel die Suche nach der Lokalisierung der souveränen Macht. Das Protokoll wendet sich auch deshalb ganz von der Darstellung der Topografie ab, weil sein Fokus der Körper der Hauptfiguren ist, dessen Äußerungen und Wirkungen. Macht ist, und das ist die dem Text zugrunde liegende Kritik Drachs, auf die Institution des Protokolls beschränkt. Man liest einen Diskurs, der nur von einer Instanz aus formuliert und gestaltet wird und deshalb notwendigerweise die Gestalt hat, die der Zweck ihm vorgibt. Was könnte aber der Zweck sein, wenn nicht die Überführung der Täterinnen ? Die beiden Frauen haben im Wesentlichen schon zu Beginn ihre Tat gestanden, das ist also erst der Ausgangspunkt der Untersuchung. Es ist nicht die Absicht des Protokolls, etwas über den Mordfall zu schreiben, sondern der Fall (in seinem doppelten Sinne) ist das Leben der Hauptfiguren. Die inhaltlichen Parallelen zu anderen Texten Drachs wie Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum oder Ironie vom Glück sind augenscheinlich, ebenso, dass Drach Partei ergreift und in den geschilderten Prozessen auf seine vom Zynismus geleitete Art Opfer und Täter beschreibt. In Untersuchung an Mädeln ist diese Schreibabsicht am deutlichsten ausgeprägt, zudem arbeitet der Roman mit größter Genauigkeit den drachschen Blickwinkel auf das Recht heraus. Die beiden Protagonistinnen sind nicht unbedarft wie Hans auf seiner erfolglosen Glückssuche501, hilflos entrückt von der Lebenswelt wie Schmul Zwetschken501 Vgl. Drach : Ironie vom Glück.
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baum, naiv wie Marie oder aufrührerisch wie de Sade.502 Sie haben Anwälte auf ihrer Seite, Freunde, die sie unterstützen, und dennoch sind auch sie mit einem Gesetz konfrontiert, das offenbar zu ihrem Nachteil verfasst wurde.503 In Albert Drachs an Justizopfern nicht gerade armem Werk nehmen Stella Blumentrost und Esmaralda Nepalek keine Sonderstellung ein. Das Protokoll ist bemüht, so viel wie möglich zusammenzutragen, das gegen die Protagonistinnen sprechen könnte. Auf einer zweiten, darüberstehenden Ebene vermittelt der Autor Drach vermittels der ironisierten Form der Darstellung die gegenteilige Absicht und distanziert sich damit vom Protokollanten. Er zielt darauf ab, zu zeigen, wie dieser aufgrund der Struktur und Beschaffenheit seines Textes eine Form von Macht ausübt, indem er die Linie markiert zwischen einer Form von Souveränität und ihrem Subjekt.504 Das Gerichtsprotokoll berichtet umfangreich über die Lebensführung der beiden Frauen : Und trotzdem bleiben wesentliche Fragen zum konkreten Fall ungeklärt, weil sich der Prozess und die Wahrheitsfindung nicht so sehr auf die Auflösung von unstimmigen Details in der Beweisführung konzentrieren, sondern viel eher darum bemüht sind, den Fall als Norm zu charakterisieren in dem Sinne, als die Lebensführung der beiden Frauen sie als Täterinnen nahelegt. Das bedeutet, dass Motive, Personen und Handlungen zueinander in eine logische Beziehung gesetzt werden und nach vorgegebenen Rastern kategorisiert werden müssen. Das naheliegendste Raster ist das des Raubmordes. Um diese Vorgabe erfüllen zu können, müssen beispielsweise die Personen entsprechend beschrieben werden, es muss also plausibel sein, dass die Verdächtigten eine entsprechende Handlung setzen können. Dieses Können ist in der hier vorgefundenen Darstellung allerdings wesentlich mit ihrem Sein verknüpft. So müht 502 Vgl. Drach : Das Satansspiel vom göttlichen Marquis und Drach : Vermerk einer Hurenwerdung (Anm. 322). 503 Vgl. Drach : In Sachen de Sade, S. 20 und Drach : Das Satansspiel vom göttlichen Marquis, S. 147 (Anm. 1). 504 Mit dieser Erzählhaltung steht der Text am Rande dessen, was man als den Bereich der Metareferenz bezeichnet, vor allem deshalb, weil durch die ironische Überhöhung die Absicht des Autors und das Bewusstsein des Lesepublikums, einen Text zu lesen, der über sich selbst reflektiert, korrespondieren (vgl. dazu auch : Werner Wolf : Is There a Metareferential Turn ? And If So, How Can One Explain It ? In : W. W.: The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media. Forms, Function, Attempts at Explanation. Amsterdam/New York : Rodopi 2011 (= Studies in Intermediality 5), S. 1–47). Es soll in dieser Analyse aber vornehmlich um die Spuren einer Darstellung der Biopolitik im Text selbst gehen und weniger um die für die Rezeption relevanten Fragen. Diese sei an dieser Stelle nur angemerkt, um die Differenz, die Drach zwischen sich und dem Protokollanten als Mittel der Kritik herstellt, deutlich zu machen.
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man sich lange mit der Frage, wie, und nicht ob, eine Frau wie Stella in der Lage gewesen sein konnte, einen kräftigen Mann mittleren Alters zu erschlagen. Bei den beiden Frauen handelt es sich um einen Typus, eine Gattung Mensch, der mit seinem Körper noch eine Sprache spricht, wenn er stumm ist, denn mit Fortgang der Handlung verlieren Stella und Esmaralda die Fähigkeit, vielleicht auch nur die Lust oder das Vertrauen, zu sprechen, während der Diskurs um sie herum immer umfangreicher wird. Alles, was für sie spricht, auch ihre Verteidigung, wird systematisch verkürzt : Die Verteidiger nahmen gerade ihren Sitz ein, zunächst siegessicher, aber dann sahen sie den Aufzug, in dem ihre Klientinnen erschienen waren. Dr. Permsusel sagte nur »Mädel«, aber in dem Wort war alles darin. Dr. Ahlinger sagte nicht einmal das und starrte nur wie gebannt auf den kahlen Schädel der Blumentrost. […] Nur die Tante des Mädchens, die auch da war, bewegte ihre Hände zu einer abwehrenden Geste und ihre Zähne zu einer solchen klapprigen Entsetzens.505
Das Wort »Mädel«, ein Begriff, der schon mit dem Titel eingeführt ist und der Auseinandersetzung des Gerichtes mit dem Fall sein Gepräge gibt, ist als Leitwort konzipiert : »In dem Wort war alles darin.« Mit »alles« ist vermutlich das gemeint, was auf den vorangegangenen etwa 400 Seiten beschrieben ist, die unzähligen Aussagen, Fakten, Hinweise und Verleumdungen, die, zusammengefasst, den Begriff »Mädel« diskursiv charakterisieren als einen Typus einer jungen Frau, der über die Ebene ihrer Sexualität definiert ist. Die Art und der Umfang, wie diese Sexualität praktiziert wird, ist nicht entscheidend, fallen doch sowohl die zurückhaltende Stella als auch die promiskuitive Esmaralda unter diesen Begriff, der im bloß verniedlichenden und harmlosen, immer aber im abwertenden Gebrauch steht. Das Protokoll entwickelt »Mädel« zu dem Klischee, das die beiden Angeklagten darstellt und das den aus der Literatur bekannten Begriff des »Mädels« erweitert. Zu den Eigenschaften des »Mädels« gehört ihre sexuelle Verfügbarkeit, verbunden mit ihrem Willen, daraus einen finanziellen oder sonstigen Nutzen zu ziehen, aber auch die Bereitschaft, ihre Sexualität selbstbestimmt zu gestalten, was im Protokoll grotesk umgedeutet wird : Sexualität und Leben sind in eins gesetzt, mit der Schlussfolgerung, dass der Mord am Stechviehhändler passiert sei, obwohl dieser sie vergewaltigt habe. Drach verbindet eine Darstellungstradition eines Weiblichkeitsbilds mit einer anderen, sein Begriff des »Mädels« ist ohne Zweifel nahe an dem des süßen 505 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 387.
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Mädels, aber auch an dem der Femme fatale angesiedelt. In dem Begriff »Mädel« hallen intertextuelle Bezüge wider : Johann Nestroy und Arthur Schnitzler prägten den neben der Femme fatale und Femme fragile stehenden kulturellen Archetyp des süßen Mädels im Wien des Fin de Siècle.506 Dabei steht dieses nicht gleichberechtigt neben den genannten dämonischen Figuren. Das süße Mädel ist aus männlicher Perspektive ein vergleichsweise harmloser Typus, von natürlicher Sinnlichkeit und mit praktischer Veranlagung. Sie stammt aus der Wiener Vorstadt und ist angestellt in reichen Bürgerhäusern des Zentrums, wo sie zwanglose Verhältnisse eingeht. Sie ist auf ihre Sexualität reduziert, aber diese Sexualität ist nicht pathologisch, wie die der oben erwähnten Weiblichkeitsbilder. In Schnitzlers Reigen spricht der Dichter über sie : »Du bist schön, du bist die Schönheit, du bist vielleicht sogar die Natur, du bist die heilige Einfalt.«507 Sie wird nicht als bedrohlich wahrgenommen, vielmehr als ungefährliche Erfüllerin männlicher Fantasien.508 Das Wiener süße Mädel heiratet nicht ihren Dienstgeber, sondern bleibt in ihrem eigenen Milieu, zumeist einer unteren sozialen Schicht. Schnitzlers männliche Figuren nennen die »Mädel« »dumm«,509 doch nehmen sie nicht an, dass sie soziale Schranken durchbrechen könnten. Drachs »Mädel« widersprechen diesem Konzept in ihrer Lebensführung, das Protokoll unternimmt aber den Versuch, sie in das Schema zurückzuführen, wenn beispielsweise das Gerichtsprotokoll wiederholt zu verstehen gibt, dass sich die Freizügigkeit ihrer Gunst nicht nur auf die ihnen genehme, sondern auf alle Bewerber zu erstrecken habe. Auffallend an den beiden Biografien ist, dass der Begriff »Mädel« im Gegensatz zu Schnitzlers und Nestroys Verwendung nicht klassenspezifisch ist. 506 Vgl. i. d. F.: Stephanie Catani : Das fiktive Geschlecht : Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg : Königshausen und Neumann 2005 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. 28.), S. 109–113. 507 Arthur Schnitzler : Reigen. Zehn Dialoge. Liebelei. Schauspiel in drei Akten. Mit einem Vorwort von Günther Rühle und einem Nachwort von Richard Alewyn. Frankfurt : Fischer 1991, S. 77. 508 Die zweite wichtige Verwendung des Begriffs »Mädel« findet sich in der nationalsozialistischen Propaganda. Der »Bund deutscher Mädel«, durch die 1936 in Kraft getretene Regelung der Pflichtmitgliedschaft größte Jugendorganisation der Welt ihrer Zeit, hatte die Aufgabe, junge Frauen in den Apparat der nationalsozialistischen Ideologie einzubauen. Die »Mädel« sollten im Sinne des nationalsozialistischen biopolitischen Programms zu politischen Frauen erzogen werden. 509 Vgl. Schnitzler : Reigen, S. 72 : »Dichter : Freilich bist du so dumm. Aber gerade darum hab ich dich lieb. Ah, das ist so schön, wenn ihr dumm seid. Ich mein, in der Art wie du.«
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Die individuellen werden gegenüber den allgemeinen Merkmalen verkleinert dargestellt. Stella »las eine Anzahl Bücher, was Mädel hierzulande nicht häufig tun. Doch besuchte sie auch ihre Nachbarinnen und klatschte mit denselben, wie es üblich ist.«510 »[…] [M]itunter pflegen Mädel abergläubisch zu sein, selbst in der Bildungsstufe dieser des Raubmordes Verdächtigten […].«511. Die Beschreibung von Esmaraldas Lebenslauf ist deutlich weniger reflexiv diesbezüglich. Für sie wird in der Regel der Begriff »Mädchen« verwendet. Das mag damit zusammenhängen, dass sich Stellas Biografie vornehmlich in Bildungsund Erziehungsinstitutionen abspielt, also dort, wo Normen systematisch herausgebildet werden. Davon soll weiter unten noch die Rede sein. Die Überzeichnung der Merkmale des Typus ist darauf angelegt, den Finger auf ein Problem zu legen, das nach Drach virulent ist : Die Rechtsprechung ist auf Kategorisierungen dieser Art angewiesen. Der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit ist in der juristischen Praxis nur noch ein Schlagwort ohne Bedeutung, wohingegen Vorurteile und Klischees operativ eingesetzt werden. Es ist das Hinarbeiten der juristischen Institutionen auf das vereinbarte Wunschergebnis, das die drachschen Figuren die Zuversicht auf die Gerechtigkeit des Rechts verlieren lässt : Er aber, Harald Puppinger, früherer Matrose, sei der Ansicht, daß es Gerechtigkeit gar nicht gebe und daß man nur auf so viel ein Recht hätte, als mit Preis und Stückezahl angeschrieben und erstanden. […] Denn das Gesetz habe ein Loch, und durch dieses sei die Gerechtigkeit schon herausgefallen, bevor sie drinnen gewesen.512
Es handelt sich bei dieser Ansprache (und der Matrose spricht immer zu e inem imaginären, größeren Publikum und wendet sich daher indirekt an den Leser und die Leserin) um die Antwort auf den Anspruch, den der Versicherungs510 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 132. Der Name Stella verweist auf Goethes »Stella. Ein Schauspiel für Liebende«. In der ersten Fassung von 1775 (uraufgeführt 1776) endet das Stück damit, dass sich die zwei Frauen dazu entschließen, sich einen Mann zu teilen. Goethe sah sich später veranlasst, den Schluss zu ändern. Das Motiv stammt vermutlich aus Jonathan Swifts Journal to Stella. Vgl. Michael Schmid/Reinhard Prill : Stella, ein Schauspiel für Liebende. In : Walter Jens (Hg.) : Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 6. München : Kindler 1989, S. 508 f. Drachs Stella vermerkt in einem Tagebucheintrag, dass es ihr durchaus nicht unnatürlich erscheine, wenn ein Mann mehr als eine Frau für sich beanspruche. Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 110. 511 Ebda., S. 240. 512 Ebda., S. 127.
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agent Kunibert Falkner aus seinen Verdiensten für Stella ableitet, eine Schlüsselszene zum Verständnis der Mann-Frau-Beziehungen, wie sie Drach inszeniert : Die drei Faktoren Gesetz, finanzielle Interessen und die Körper der Frauen werden auf eine Linie gebracht. Falkner veranstaltet ein privates Essen für Stella mit der Absicht, sie sich gewogen zu machen. Die gute Nachricht von ihrer finanziellen Absicherung (die natürlich er selbst bewirkt hat) im Verein mit einem angenehmen Ambiente sollen dafür sorgen. Das Essen wird zu früh geliefert, und als er eintrifft, haben sich auch der Matrose und Esmralda schon eingestellt. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern geht es dann darum, sich die Beute aufzuteilen, wobei der Matrose das bessere Ende für sich hat und den Besitz beider Frauen, das Essen und die Demütigung Falkners auf sein Konto verbuchen kann.513 Es sind diese beiden männlichen Figuren, die den Frauen die Verwendung eines Wagenhebers als Waffe nahelegen. Der Matrose, vielleicht tatsächlich eine heimliche Hauptfigur des Romans,514 und Falkner verkörpern das Element, das die Frauen erst zu Mädeln in dem zuvor geschilderten Sinne macht, indem sie sich und ihre Ansprüche parallel zu denen des Gerichts stellen. Einen Anspruch auf die beiden Frauen erhebt nämlich auch der Prozess selbst. Der Dreh- und Angelpunkt der Wirkungen, die hier beschrieben werden, ist der Körper oder die Körperlichkeit der Mädel, ihr »biologisches Sein«, um mit Foucault zu sprechen. Es ist nicht nur ihre physische Erscheinung, die zur Debatte steht, sondern ihre Sexualität in ihrer ganzen diskursiven Breite, die zum Thema der Untersuchung gemacht wird. Im Gegensatz zu Stella ist die Lebensgeschichte Esmaraldas von wirtschaftlichen Überlegungen zur Nutzung ihrer Sexualität geprägt. Von ihrer Stiefmutter 515 wird sie regelrecht an zahlende Kundschaft verkauft, der auch das Recht zur Vergewaltigung eingeräumt wird. Esmaralda selbst versucht sich durch eine Affäre finanziell unabhängig zu machen und erhofft sich bei anderer Gelegenheit durch pornografische Aufnahmen eine Chance im Filmgeschäft.516 Stellas Sexualität ist dagegen eng an ihre bürgerlichen Vorstellungen von Liebe und Moral geknüpft, ihren Körper setzt sie für Beziehungen ein, die sie am Anspruch 513 Vgl. ebda., S. 127 f. 514 Vgl. Liessmann : Puppingers Orgien. 515 Alle tragischen Hauptfiguren bei Drach sind Halb- oder Vollwaisen. Dieses Merkmal ist insbesondere in seinen autobiografischen Büchern zu beobachten, deren wichtigstes durchgängiges Motiv der Tod der Eltern darstellt. Der Verlust der Eltern ist bei ihm immer verknüpft mit tragischem Scheitern und dem Verlust des festen Bodens unter den Füßen. Zieheltern und Stiefmütter richten ebensolchen Schaden an wie die in der Regel gleichgültigen Väter. 516 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 137–168.
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misst, den sie an einen Mann als Sexual- und Lebenspartner hat. In ihrem Tagebuch vermerkt sie : Für sie sei »das« etwas Entscheidendes, sei überhaupt alles. […] Sie würde es einem erlauben, der gar nicht danke sage.517 Er [der Matrose] hatte es durch die Versäumung des letzten Rendezvous, mehr aber noch durch die Rücknahme des Göttinnengeschenkes mit ihr leiblich verscherzt. [sic] Etwas anderes als den Leib hatte sie vorläufig nicht, jedenfalls nicht soweit sie sich selber fühlte.518
Was diesen Formen der Selbstbestimmung der Mädel entgegensteht, ist eine Macht, die im Protokoll spürbar, aber schwer fassbar ist. Diese Tatsache kann als erster Hinweis darauf gelten, dass man es mit einer gouvernementalen Machtform zu tun hat. Eine ihrer wesentlichsten Ausdrucksformen ist die Analyse. Es ist das Kernstück der Untersuchung an Mädeln, dass das Gericht aus dem Geständnis das Recht ableitet, den Hintergrund der Täterinnen mit einer Vielzahl an Methoden auszuleuchten und damit eine Unzahl weiterer Geständnisse zu erzielen, die nicht mehr zwangsläufig von den zu Untersuchenden selbst kommen müssen. Umberto Eco erzählt davon, wie Kinofilme – und bestimmt kann dasselbe für viele Beispiele der erzählenden Literatur behauptet werden – auf einen bestimmten Punkt hinarbeiten, einen Moment, der nur dann seine volle Wirkung auf das Publikum entfalten kann, wenn dasselbe die Handlung davor, den Spannungsauf bau, miterlebt hat.519 In seinem Beispiel ist es die delectatio morosa, der Befreiungsschlag des Helden gegen seine Widersacher, der dem miterlebenden Publikum Befriedigung verschafft. Dieser Moment kann auch ganz andere Formen annehmen, aber gemeinsam ist ihnen die punktuelle Erklärung oder Auflösung eines Spannungsverhältnisses. Eco vergleicht das mit der Wahrnehmung des eigenen Lebens, welches sich ebenfalls aus der Rekonstruktion der Ereig517 Ebda., S. 132. 518 Ebda., S. 227. 519 Das ist nicht der Fall, wenn man beispielsweise zu einer Kinovorstellung zu spät kommt oder aus einem anderen Grund erst in der Mitte des Films einsetzt. Vgl. Umberto Eco : Verweilen im Wald. In : U. E.: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen (Norton Lectures 1992–93). Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München/Wien : Hanser 1994, S. 67–100, S. 88 f.
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nisse, die vor dem eigenen Erleben liegen, vervollständigt. Es ist mit einer Form von Lust verbunden, alle Einzelheiten und alle Handlungen kennenzulernen, die in ihrer logischen Stringenz zu einem bestimmten Ereignis geführt haben, es ist eine Form von Kontrolle über etwas, das ohne all diese Informationen wie ein Zufall des Schicksals ausgesehen hat. Es ist aber auch der Versuch, das, was man nicht auszudrücken vermag, zu erklären. Ist es diese Lust, die Analysierlust, die Untersuchung an Mädeln prägt ? In jedem Fall kann behauptet werden, dass Drach seinen Lesern und Leserinnen diesen Moment der Befriedigung vorenthält. Auf einen Moment der delectatio morosa zu warten – das wird schnell klar –, ist müßig. Der Roman beginnt mit dem Geständnis der beiden verdächtigten Frauen. Nach der Recherche, die danach angestrengt wird, kann im Wesentlichen nichts anderes behauptet werden, als das, was in diesem Geständnis schon enthalten ist, was der Leser und die Leserin also schon in etwa auf Seite dreißig in seinem vollen Umfang kennt. Es ist also nicht die Auflösung eines Rätsels, wofür das Protokoll erstellt wird. Es kann sogar das Gegenteil behauptet werden : Relevantes und Nichtrelevantes, Fakten und Vermutungen werden zusammengetragen zu dem Zweck, ein vorgegebenes Schema zu erfüllen, eine Bestätigung zu sein dafür, dass alles so war, wie es von vornherein angenommen wurde. Der dabei entstehende Diskurs wird von einem Protokollanten gebündelt wiedergegeben. Die Voraussetzungen werden am Beginn folgendermaßen zusammengefasst : Das Geständnis bedurfte einer Ergänzung, es war unvollständig. […] Die Klärung der Gegenwart mußte in der Vergangenheit gesucht werden. Daher war der äußere Ablauf des Lebens der Mädel zu überprüfen, in dem sich die Spuren von deren Innern abgeprägt hätten.520
Anders als Foucault konzentriert sich Drach ganz auf die Träger des Diskurses und markiert diese als mit Macht identifiziert. Es sind hauptsächlich Mitglieder von Disziplinareinrichtungen, die im Protokoll zu Wort kommen. Sie tun auch das nur indirekt, weil das Protokoll die Beamten zitiert, die wiederum die Befragten zitieren. Der Großteil der Aussagen kommt aber von den Angeklagten selbst, die die Perspektive der Disziplinarinstitutionen affirmieren. Am deutlichsten lässt sich das an der Figur Stella nachweisen, deren Biografie von Bildungsinstitutionen geprägt ist. Die Untersuchung setzt bei ihrer Zeit in einem Internat für Mädchen ein, das sie wegen eines Verhältnisses zu einem Schüler 520 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 34 f.
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der Nachbarschule gezwungen ist zu verlassen.521 Sie setzt ihre Schulkarriere in einem »Gymnasium unter geistlicher Leitung mit angeschlossenem Heim«522 fort, um schließlich nach einem Skandal, der eine Flucht nach Italien beinhaltete, in eine private Lehranstalt zu übersiedeln, schließlich aber noch eine Haushaltsschule zu absolvieren. Sie ist also während ihrer Adoleszenz in insgesamt vier Einrichtungen untergebracht. Stella ist im Fokus eines insgesamt als panoptische Institution agierenden Ensembles an Menschen und Einrichtungen, denen sie sich nicht entzieht. Es verhält sich zu Stella wie jene Disziplinierungsinstitutionen, in denen sie untergebracht war. Es straft, sanktioniert, wertet ihre Aussagen und ihr Betragen aus, protokolliert ihr Auftreten, ihr Verhalten gegenüber Zellengenossinnen wie auch vor Gericht. Es deutet ihre Träume und bewertet ihr Tagebuch, welches ein wichtiger Teil in der Kette der Argumentation der Anklage ist. So entsteht der panoptische Blick einer körperlosen Entität, der nur auf ihren Körper gerichtet bleibt. Wenn Drach behauptet, in seinen Romanen innerhalb des Protokollstils alles gegen eine Figur vorbringen zu wollen, was gegen diese Figur gesagt werden kann, dann konkretisiert sich das im Roman dahingehend, dass es die öffentlichen Institutionen sind, die sich am meisten ihrer Körperlichkeit annehmen, während sie von den privaten Figuren sukzessive im Stich gelassen wird bzw. deren Hilfe unwirksam ist. Figuren der öffentlichen Einrichtungen greifen auf eine bestimmte Weise in das Leben Stellas ein, sie verwalten ihren Körper, indem sie Normen vorgeben und exekutieren. Im Roman konkretisiert sich das biopolitische Modell neben der genauen Analyse auch in der Norm, die negativ in der Abweichung dargestellt wird. Die Disziplin hatte die individuellen Körper angeordnet, im konkreten Beispiel ist das die Erziehung Stellas. Sie flüchtet vor dieser Kontrolle in ihr Tagebuch, das sowohl dem Zweck der Selbstreflexion als auch dem Protokoll dient und damit am Schnittpunkt zwischen den beiden Machtformen Disziplin und Biopolitik steht. Was in diesen privaten Aufzeichnungen vermerkt ist, ist in den Teilen wiedergegeben, die das Verhältnis Stellas mit den beiden männlichen Hauptfiguren berühren und deshalb ins Protokoll Eingang finden.523 Das Protokoll zitiert nur jene Stellen aus dem Tagebuch, in denen Stella ihre Bedenken, sich mit Falkner einzulassen, formuliert und dass dieser ihre Willfährigkeit als Bezahlung für seine Bemühungen fordern könnte. Sie streitet ab, dass sie außer 521 Vgl. ebda., S. 48. 522 Ebda. 523 Vgl. ebda., S. 117, 121, 128, 132, 136, 225.
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zum Zweck der Lust mit einem Mann verkehren wolle und daher ihren Körper nicht zum Einsatz für Gegen- oder Geldleistungen machen könne. Drach erzielt komische Effekte damit, die normale Sexualität der Frauen als im Sexualitätsdiskurs peripher darzustellen, als von der Norm abweichend. Esmaraldas Verhältnis zu Johannes Binsenschmied ist in einem solchen Ton gehalten,524 der sowohl die Regel als auch die Ausnahme der Situation betont. Esmaralda ist – das Protokoll zählt mit : Es ist ihr elfter Liebhaber – als nymphoman charakterisiert. Ihre Darstellung orientiert sich strukturell ohne Zweifel am populären Josefine-Mutzenbacher-Roman, wie Ruthner beweist,525 mit einem gravierenden Unterschied : Die Frage, ob Esmaralda bei den Sexualakten Lust empfindet, wird, im Kontrast zu »Josefine Mutzenbacher«, konsequent ausgeblendet zugunsten der Konzentration auf die Nützlichkeit. Die Episode mit Binsenschmied ist eine Parodie auf eine Eheanbahnung, in der der in Liebesdingen schlecht unterrichtete Binsenschmied gegenüber der erfahreneren Esmaralda mit ihrem Einverständnis seine Rolle erfüllen will. Es handelt sich um die Parodie auf die Norm einer Sexualität des verheirateten Paares. Binsenschmied glaubt nämlich, dass er nach dem Geschlechtsverkehr verpflichtet sei, Esmaralda zu heiraten. Drach präsentiert das Modell, das dem Protokollanten als Norm dient, durch die Hintertür, zur Beschreibung kommt nur das Gegenteil davon. Regulierende Maßnahmen sind im Lebenslauf von Stella skizziert. Die Schulen und Internate fokussieren nach der Darstellung des Protokolls darauf, sie am Kontakt mit möglichen Partnern zu hindern, das Protokoll selbst übernimmt die Rolle, die Lebensorganisation Stellas zu bewerten, und agiert dabei höchst manipulativ.526 Ein bei Drach wiederkehrendes Motiv ist das Gespräch im Zugabteil, das es ihm erlaubt, ein Ensemble an Meinungen in einem kleinen Raum zu konzentrieren.527 Auch in Untersuchung an Mädeln kommt eine solche Szene vor. Stella Blumentrost unternimmt mit Paul Pieperl eine Fahrt nach Italien, auf der die anwesenden Fahrgäste den »Fall« des jugendlichen Paars diskutieren und unterschiedliche Positionen dazu einnehmen.528 524 Vgl. ebda., S. 154 ff. 525 Vgl. Clemens Ruthner : Gegen-Pornographie ?. 526 Vgl. z.B. ebda., S. 95 ff. 527 Vgl. dazu auch : Drach : Unsentimentale Reise, S. 7 ff. (Anm. 8). 528 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 48 ff. Es ist im Gegensatz zur entsprechenden Stelle in Unsentimentale Reise hier natürlich vollkommen ausgeschlossen, dass ein Gerichtsprotokoll die Aussagen einzelner Mitreisender realistisch wiederzugeben in der Lage wäre. Szenen dieser Art sind Fiktionszeichen und bezeugen die Absicht des Autors, den Protokollstil als Beschrei-
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Das Sexualitätsdispositiv, wie es Drachs Roman präsentiert, ist dadurch äußerst stabil, dass es eine Vielzahl von Diskursen an einer zentralen Stelle zusammenfasst, die diese entsprechend vereinheitlichend darstellt. Genannt wurde als Beispiel das Tagebuch Stellas, darunter fallen aber auch alle Aussagen der im Untersuchungsverlauf gesammelten Ergebnisse. Der Leser und die Leserin weiß nicht, von wem oder von wie vielen Personen das Protokoll verfasst ist, und meistens auch nicht, wessen Aussage wiedergegeben wird, registriert wird aber ein Kippen einer bestimmten Figur, nämlich des Landesgerichtsrats Baldur Mausgrub. Mausgrub wird in die Handlung nicht nur als der zuständige Justizbeamte für die Vorerhebungen, sondern auch als der Verfasser eines Werkes mit dem Titel Die weibliche Kriminalität im Lichte des Mangels an Kraft und Wagemut eingeführt.529 Während des Verhörs von Esmaralda wechselt die Erzählperspektive auf seine Innensicht. Der Richter wendet seine Methoden zunehmend auf sich selbst an. Als sein Stift in den Schoß Esmaraldas fällt und er ihn im Reflex wieder an sich nimmt, erkennt er in diesem Missgeschick eine Symbolik, die ihn aus dem Konzept bringt. Sein späterer, mysteriöser Tod steht ganz im Zeichen dieser Begegnung und dem An-sich-Nehmen jener Statue der menschenfressenden Göttin, die für Stella bestimmt war, also mit der Konfrontation mit seinem eigenen sexuellen Begehren. Während des Verhörs erkennt er : »In Wahrheit war die Schwächere [Esmaralda] noch viel weiblicher als die andere, daher viel gefährlicher und mit Worten gar nicht zu bewältigen.«530 Später weiß er : »Da lag nicht nur ein Mord vor, wahrscheinlich ein Raubmord, da lag auch ein Prüffall für ihn selbst vor, Prüffall, wieviel er wert wäre.«531 Das Gewissen des Richters ist nach dem Vorfall mit dem Stift beschäftigt, so nämlich, dass er der unbeabsichtigten Bewegung in seinen sich im Kreis bewegenden Gedanken beginnt eine Absicht zuzuschreiben und in seiner Erinnerung den Stift dort belässt, wo er war, nämlich auf ihrem Schoß. Der innere Monolog offenbart die Machtverhältnisse in der Amtsstube als ein von der Selbstbeobachtung des Richters ausgehendes Netz. Das Wissen um die Anwesenheit und das Mitwissen des Schriftführers besorgt ihn zuerst, dann sein eigenes. Die Begegnung bungstechnik darzustellen und nicht als eine realistische Wiedergabe eines Gerichtsprotokolls. Vielleicht wird es dank Datenvorratsspeicherung und GPS schon in naher Zukunft möglich sein, Passanten und Mitreisende auszuforschen (vgl. dazu Arthur : iPhone Keeps Track of Everywhere You Go) und zu diesem Zweck an der Befragung teilhaben zu lassen, im Jahr 1971 war das wohl nicht möglich. 529 Ebda., S. 26. 530 Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 198. 531 Ebda., S. 198.
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mit dem darauffolgenden Zeugen – das ist ausgerechnet der Matrose – ist ebenfalls davon geprägt. Die Schuld ist aber ganz in Mausgrub verinnerlicht und hat nach außen Wirkung, vor allem die, dass der Richter mehrmals die Beherrschung verliert.532 Der Textabschnitt ruft Erinnerungen an Schnitzlers Lieutenant Gustl wach, insofern dass ein unbedeutend erscheinender Vorfall in einer in einem inneren Monolog wiedergegebenen Gedankenspirale immer drastischere Ausmaße an Schuld und Scham produziert. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied : Es geht nicht um den Gesichtsverlust vor den anderen, sondern das Eingeständnis einer Schwäche vor sich selbst. Im Gegensatz zu Gustl kann Mausgrub seinem eigenen Urteil nicht entkommen. Während Gustl in dem Moment vor sich selbst gerettet ist, da der nichtsatisfaktionsfähige Herausforderer stirbt, ist Mausgrubs Gegner er selbst und seine Schwäche untilgbar. Wie Stella, so führt auch der Richter eine Art Tagebuch, eine Tonbandaufzeichnung. Kurz vor seinem Tod vermerkt er, »er führe ein Verfahren gegen sich selbst. Aber nicht wie der Richter Adam, der doch wenigstens den Krug zerschlagen hatte. Ein ganz anderes Verfahren. Weil aller Gedanke sich vom Fleisch entfernt und bei seiner Fleischwerdung aufhört, Gedanke zu sein.« Der Hinweis auf Kleists Der zerbrochene Krug ist bedeutsam. Auch Adam ist eine tragische Figur, die sich aufgrund seines Begehrens in Schuld verstrickt und gezwungen ist, über sich selbst zu Gericht zu sitzen, auch er verliert mit seiner Perücke ein Symbol seiner Gewalt, das ihn letzten Endes verrät. Jedoch gibt es einen Ausweg, denn in Kleists Komödie gibt es eine andere, eine souveräne Instanz, die des Gerichtsrats, die diesen Widerspruch auflöst und die Affäre in Bahnen des Rechts lenkt. Wie das Zitat andeutet, hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die äußere, vermittelnde Instanz gibt es bei Drach nicht, stattdessen wird der Mensch in Dingen der Lust sich selbst der strengste Richter, die Souveränität ist von einer Außen- in eine Innenposition gewechselt. Mausgrub leidet an etwas, das als eine extreme Ausprägung der Selbstgouvernance bezeichnet werden könnte, die mit dem Zeichenhaften von Macht nicht in Einklang zu bringen ist, denn als Zeichen hat der Richter den Bleistift identifiziert : »Dieser Bleistift, der zwischen ihre Schenkel drang, war doch stärker als der Mann, der zwischen Mädchenschenkel eindrang [gemeint ist der Matrose].«533 Drachs Spiel mit Symbolen erscheint gerade durch den trockenen Stil des Textes wie durch 532 »Er schrie vielmehr den Zeugen sogleich an, er wußte nicht genau warum, und wußte es vielleicht doch, aber nicht ganz offiziell.« Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 202. »Er schrie bereits, aber das war der Stift, der zwischen ihren Schenkeln steckengeblieben war.« Ebda., S. 203. 533 Ebda., S. 212.
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ein Vergrößerungsglas. Das Symbol bricht in die geordnete Welt Mausgrubs ein, als würde es von außen kommen und als hätte es eine Wirkung für sich auf den Richter, in Wirklichkeit aber ist das Symbol nur Auslöser für eine produktive Selbstbeobachtung. Er habe sich bis zu diesem Moment nie etwas zuschulden kommen lassen, denkt Mausgrub bei sich, und der Bleistift hört für einen Moment auf, Symbol zu sein, entfaltet aber seine Wirkung umso stärker, als ein Weiblichkeitssymbol als neuerlicher Auslöser ins Spiel kommt.534 Dem Bleistift des Gerichtsrats steht eine Statue gegenüber, die der Matrose Stella zuzueignen gedenkt. Der Stolz Harald Puppingers sei aber eine Göttin auf einem Pfahl, angeblich aus Gold, vielleicht auch nur vergoldet, welche ziemliche Ausmaße aufweise und nebst peinlicher Bereithaltung weiblichster Reize ein breites Lächeln in einem noch frauenhaften, aber doch schon menschenfresserischen Antlitz zeige.535
Mausgrub nimmt die verpackte Statue der »menschenfressenden Göttin« dem Matrosen nach dessen Festnahme ab und mit nach Hause, ohne sie vorher gesehen zu haben. Dort baut er ihr einen Altar, legt den Bleistift daneben und stirbt. Das Protokoll vermerkt : »Das Herz des Richters mochte schon früher ein schwaches gewesen ein.«536 In Hinblick auf die vorangegangenen Ausführungen zur Biopolitik könnte man in Bezug auf Untersuchung an Mädeln formulieren : Die panoptische Disziplin hat den paradigmatischen Ausnahmefall im Blick. Drei Figuren werden als Ausnahmefälle vorgestellt : Harald Puppinger, Esmaralda Nepalek und Stella Blumentrost. Nur bei letzteren beiden gilt : Die Machtverhältnisse sind durch eine Linie, die das Protokoll bezeichnet, klar von den souveränen Entscheidungsträgern getrennt. Seine Wirkung hat eine Richtung, es wendet sich gegen die beiden Angeklagten. Am deutlichsten ist dieser Umstand im Fall des Richters Mausgrub dargestellt, der das Opfer der eigenen Anwendung dieser Form von Gewalt wird. Wie die Figur Zwetschkenbaum sind auch die sogenannten Mädel nicht unbedingt als Homines sacri zu bezeichnen, sie stehen aber 534 »Er vernahm zwar den Zeugen weiter, und nichts in der Welt verriet, was er sich in der Zwischenzeit überlegt hatte. Nur daß er nunmehr, als er wiederkam, den Stift vom Boden aufhob […]. Es [!] war kein Symbol mehr, noch etwas anderes, er hatte den Mann, er hatte ihn sicher […].« Ebda., S. 211 f. 535 Ebda., S. 107. 536 Ebda., S. 215.
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wie jener dieser Figur des Rechts sehr nahe. Sie sind zwar innerhalb der Sphäre des Rechts, dort aber auf einen Status festgelegt, der dem Gericht ausgedehnte Befugnisse einräumt, die jenseits der mit dem Fall befassten Bereiche stehen. Drach sieht die Institution des Rechts nicht durch den Begriff Gerechtigkeit definiert oder prinzipiell offen, sondern als geschlossenen, machtproduzierenden Apparat, der nicht reflexiv agiert, sondern aggressiv vorgeht. Wie in Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum versucht Drach zu zeigen, dass nicht eine Handlung geprüft und beurteilt wird, sondern ein Sein, nicht Rationalität oder Absicht der handelnden Personen, sondern der Körper und seine Bedürfnisse sind Zielscheibe einer Macht, die hier die Form des Rechts angenommen hat. Auch das Recht wird damit zu einer Variablen in der Darstellung von Machtverhältnissen. Foucaults Biopolitikkonzept ist hier insofern hilfreich, als sich die Konstanten in Drachs Literatur herausschälen lassen, das sind der Körper, die Sexualität und das biologische Sein als Objekte von Machtformen. Drach macht deutlich, in welcher Gestalt diese Machtformen vorkommen : zuallererst in der Norm und dem Bruch derselben, dann durch den Diskurs, der eine Gattung hervorbringt, hier die »Mädel«, deren Geständnis mehr als nur ihre Tat zum Thema hat, die zu einem endlosen Sprechen gebracht werden, das wiederum in eine potenziell endlose Analyse mündet.
Resümee Giovanni Battista Piranesi hat um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kerker- und Gefängnisphantasien in Radierungen festgehalten, die eine Reihe unterschiedlicher Deutungen zulassen. Was auf den sechzehn Blättern zu sehen ist, ist in der Tat schwer einzuordnen, jedenfalls aber entsteht der Eindruck, puren, zeitlosen Raum zu betrachten – falls es so etwas überhaupt gibt. Auf dem sechzehnten und letzten Blatt der überarbeiteten Serie von 1761 ragen geborstene Holzkonstruktionen einer gigantischen Maschine in eine steinerne Halle, in deren Mitte eine Grabstele an zwei römische Bürger erinnert,537 deren Köpfe so in den Stein gepasst sind, dass es aussieht als würden hier zwei Delinquenten in einer Eisernen Jungfrau stehen. Drückend lastet eine Brückenkonstruktion über dem Betrach terstandpunkt. Barocke Laternen, die kein Licht geben, freistehende, funktionslose Säulen aus verschiedenen Epochen, römische Inschriften unterschiedlicher Autoren, unzählige Torbögen, die den Blick öffnen in immer weitere architektonische Versatzstücke der antiken Baukunst : keine Gitter und keine Türen und doch ein großes, ewiges Gefängnis. Darin ergehen sich gesichtslose, schemenhafte, von der Architektur miniaturisierte Figuren im Nichtstun, so mag es scheinen. Viele gebeugt und mit ausgestreckten Armen. Wollte man dieses Bild genauer beschreiben, so würde man auf immer mehr Schwierigkeiten stoßen, die sichtbaren Elemente in ihrer Beziehung zueinander zu erklären : eine Zugbrücke, die aus einer Mauer entspringt, das andere Ende hängt frei in der Luft, ein Metallträger, der keinen Ursprung und kein Ende erkennen lässt, selbst das Seil, das die barocke Laterne an einer Winde zum Herablassen halten soll, kann den Mechanismus nicht bedienen. Das ist das Konstruktionsprinzip : Der Mensch in Piranesis Carceri-Bildern ist eine zwergenhafte Gestalt inmitten dysfunktionaler Maschinerien und Architekturen. Die Funktionen sind nur inszeniert zur Befriedigung des unaufmerksamen Betrachterauges. Es ist Raum, der nicht einmal unmöglich ist, wie M. C. Eschers Treppenhäuser, sondern sich selbst auslöscht, denn er ist nur beobachtbar, aber eine Bewegung in ihm ist nicht möglich (deshalb auch die vielen Verben des S ehens in diesem Absatz). Sergei Eisenstein schlägt bei einem Bild aus den Opera varie eine gedankliche Sprengung der Strukturen vor, um die eingeschlossene E kstase, die er hier vermutet, 537 Vgl. Alexander Kupfer : Piranesis Carceri. Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der Phantasie. Stuttgart, Zürich : Belser 1992, S. 56.
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Abb. 6 : Giovanni Battista Piranesi : Carceri, Blatt XVI (2. Fassung), 1761. Radierung. (Quelle : Yale University Art Gallery, www.artgallery.yale.edu)
zu befreien.538 Mit dieser Herangehensweise käme in der Tat auch in den Carceri einiges in Bewegung. Doch zu welchem Zweck ? Was passierte mit der inszenierten Unordnung in diesem Bild ? Wäre das Ergebnis vielleicht eine Befreiung in dem Sinne, das die einzelnen Teile dann in eine andere, chaotische Beziehung zueinander geraten würden ? Mögen die Romantiker geheime Botschaften und die Abbildung der menschlichen Seele in den Carceri erblickt haben,539 so hegt die moderne, politische Perspektive einen spezifischen materielleren und sozialen Charakter : Die Figuren können sich in diesem unendlichen Raum nicht bewegen ! Das Denken der Moderne strebt danach, Verhältnisse herzustellen. Zu Lasten des Faktors Zeit beginnt der Raum dabei eine größere Rolle zu spielen. Das Konzept ist flächendeckend in fast allen Texten Drachs wiederzufinden, nicht 538 Vgl. Sergei Eisenstein : Über Kunst und Künstler. Aus dem Russischen von Alexander Kaempfe. München : Rogner und Bernhard 1977 (= Reihe Passagen), S. 126 ff. 539 Kupfer : Piranesis Carceri, S. 57.
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zuletzt wegen des häufig eingesetzten Protokollstils, der ein formaler Ausdruck von räumlich organisierten Machtverhältnissen ist. Die entscheidende Frage bei der Analyse dieser Verhältnisse im drachschen Figurenkosmos ist die Frage nach der räumlichen Position des Sprechenden und des Angesprochenen und die daran anschließende Frage, die seit etwa dem Beginn der 1990er-Jahre einzelne Bereiche der Humanwissenschaften beschäftigt, aber auch die Brücke zu anderen akademischen Feldern gebaut hat, nämlich die nach der Materialität des sozialen Raums. Das, was die Einrichtungen der Disziplin über ein Jahrhundert ausgezeichnet hat, war ihre Tendenz, Individuen an einen Ort zu binden. Der einzelne Körper war Angriffspunkt für Training, Veränderung und Ordnung. Michel Foucault hat schlüssig nachgewiesen, dass die Prinzipien, die die Einrichtung des Militärs und des Gefängnisses, der Schule, des Krankenhauses und der Irrenanstalt leiten, miteinander verwandt sind. Das Ziel dieser Einrichtungen ist es, von einem zentralen Punkt aus Macht auf individuelle Körper auszuüben, eine Macht, die sich durch die Position und Ordnung der Körper vervielfacht. Disziplin zielt darauf ab, das Individuum dadurch produktiv zu machen, dass es die Energie, die aufgewandt wurde, um es zu disziplinieren, bindet und durch die ihm eigene Energie, die in dieselbe Richtung wirkt, vergrößert. Die klassischen Institutionen vergangener Jahrhunderte waren daher gezwungen, die Körper an einen festen Platz zu verweisen. Das war ein beschränkter und einsehbarer Raum. Aus diesem Grund ist die panoptische Architektur das Paradigma des 19. Jahrhunderts und der gelehrige Körper sein Subjekt. Die Wirkung der Disziplin dehnt sich ab dem 20. Jahrhundert zunehmend auf Räume außerhalb der Orte aus. Die Machtverhältnisse werden nach außen getragen und setzen sich dort fort. »Das Gefängnis ist überall !«540 Drach hat dieses System in seinem Roman Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum eindrücklich in Szene gesetzt. Er wählt einen chassidischen Juden, um an seinem Beispiel zu demonstrieren, dass jemand, der einmal im Gefängnis war, immer wieder dorthin zurückkehrt. Der Text präsentiert ein drastisches Beispiel für Foucaults These von der Produktion von Delinquenten am Ort des Gefängnisses. Drach hat vorweggenommen, was die künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurse ab den 60er-Jahren immer deutlicher als Kritik an den Institutionen zum Ausdruck brachten. Die Literatur hat ebenso wie etwa die bildenden Künste eigene Techniken entwickelt, um Raum darzustellen. Der moderne Lesende erfährt die Bildung eines Raumes über die Perspektive einer Figur, die mehr oder weniger handelnd 540 Foucault : Das Gefängnis ist überall, S. 236 f.
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in das Narrativ integriert ist. Die Zentralperspektive, in der bildenden Kunst seit Leon Batista Alberti bestimmendes Prinzip der Weltwahrnehmung, veränderte in der Literatur des 18. Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen dem erzählenden Menschen und seiner Umgebung. Im Überblick, der personalen Perspektive, im Sprung und in der Drehung der erzählenden oder mit einer Erzählinstanz versehenen Figur entstehen Handlungsräume, in denen Verhältnisse abgebildet werden. So ist die Figur Micromégas in Voltaires gleichnamigen Roman einmal Riese, einmal Zwerg. Rationalität ist bei Voltaire eine Sache des Vergleichens und Abwägens. Sind diese zentralen Fähigkeiten des Zusammenspiels zwischen Wahrnehmung und Rationalität behindert oder manipuliert, entstehen Räume des Schreckens und der Unwägbarkeit wie bei E. T. A. Hoffmann und E. A. Poe. Das gilt auch für die Räume, die sich aus der Bewegung der erzählenden Instanz herausbilden. Der Film hat mit der Kameraperspektive eine wichtige Voraussetzung zur Verfügung, um die Möglichkeiten dieser Art der Bedeutungsgenerierung auszuschöpfen. Hier finden sich direkte Analogien zu den Raumbildungsprozessen der Literatur, die von der Bewegung der Figuren ausgehen. Wir leben im »Zeitalter des Raumes«541, schreibt Foucault 1964, in etwa zur selben Zeit als der erste Band in Drachs Werkausgabe erscheint. Auf den ersten Blick scheint sich das in Drachs Literatur nicht widerzuspiegeln. Im Gegenteil erscheinen die topografischen Informationen für das Protokoll Nebensache zu sein und sich die Räume sowie andere Elemente des Narrativs den Stereotypisierungstendenzen des juristischen Textes unterzuordnen. In Drachs Literatur spielen Räume aber eine besondere Rolle, da die Qualitäten, die für gewöhnlich Heterotopien zugeschrieben werden, in seiner Literatur Räumen zukommen, die per se noch keine Gegenräume darstellen. Drach entwirft eine Reihe negativer Heterotopien und Utopien. Weder sind seine Räume Gegenorte im positiven Sinn, noch wird das Gewicht der Körper in utopischen Räumen aufgehoben. Im Gegenteil, es drückt sich in Drachs Raumkonzeption der dunkle Teil des sozialen Bewusstseins der europäischen Kultur aus. Seine Räume sind durchsetzt von Rücksichtslosigkeit, Berechnung und Strategien. Es sind Orte, die deviant und gefährlich sind. Dem Lager und dem Bunker sind zwar schon von vornherein lebensbedrohliche Eigenschaften zu eigen, doch auch der Garten, der Zug und das traute Heim sind bei Drach Orte, an denen eine generelle Unmoral oder Verbrechen bis hin zum Mord ihre Heimstatt haben. Eine Lösung ist von Drach nur implizit intendiert. Und insofern gestaltet er seine Literatur nicht als Kritik 541 Foucault : Von anderen Räumen, S. 931.
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der Vereinnahmung des Raumes, sondern der Pervertierung seiner kulturellen Implikationen. Parkbänke zum Beispiel werden zu Orten der Vergewaltigung, Autos ebenso, Züge sind Vehikel für Deportationen, der öffentliche städtische Raum verschlingt seine Opfer. Während Foucault Gegenräume wie Gasthäuser, Theaterbühnen und Schiffe beschreibt, lässt sich bei Drach der Verfall einer Kultur des Raumes beobachten, der nicht an den genuinen Qualitäten dieser Räume liegt, sondern an einer Form der Ausübung des Gesetzes, das den Orten bestimmte Eigenschaften gibt.
Bewegung und Stillstand Es kann festgestellt werden, dass Drachs Hauptfiguren – sieht man von wenigen Ausnahmen ab – in ihren jeweiligen Räumen eingeschlossen sind oder ihre Bewegungen einen Kreis beschreiben, aus dem sie ausbrechen wollen, aber nicht können. Ihre Umgebung zwingt ihnen Spielregeln auf. Die Aufteilung ist meistens streng bipolar geregelt, in mächtige und ohnmächtige Figuren. Der Protokollstil ist Ausdruck für die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten. Er schreibt die Figuren in einer Rückschau – Foucault würde sagen : in einer Rückfaltung der Zeit542 – in zweifachem Sinne fest. Einerseits interpretiert das Protokoll vergangene Ereignisse schematisch, auf eine bestimmte Argumentation hin ausgerichtet, andererseits wird damit auch die Zukunft der Figur präfiguriert, als eine vom Schicksal geleitete Entwicklung, die dem logischen Schema der Analyse der Vergangenheit folgt. Das Gesetz muss sich die Frage stellen : »Was wird der oder die Angeklagte in Zukunft tun ?« Davon ist sein Urteil abhängig. Der Text ist eine gleichsam überzeitliche Betrachtung des Subjekts aus der Sicht der Institution des Rechts, das nur daran interessiert ist, zu erfahren, wo, in welchen räumlichen Verhältnissen und in welchen Abhängigkeiten sich dieses Subjekt befindet, um die Zwänge aufzudecken, denen diese Figur unterworfen ist. Das Protokoll entfernt sich zu diesem Zweck vom Objekt der Betrachtung, indem es ein Minimum an Empathie zeigt, und rückt ihm gleichzeitig unendlich nahe, indem es seinen Blick auf minutiöse Details an der Figur richtet, wie das vor allem in Untersuchung an Mädeln vorgeführt wird. Hier verengt sich der Bewegungsspielraum der Protagonistinnen mit Fortdauer der Beobachtung und lässt nichts als das bloße »Ich« übrig, dem selbst das »Bin« als Ergänzung zu einem vollständigen Satz 542 Vgl. Foucault : Die Sprache des Raumes. In : M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 1, 1954–1969, S. 533–538, S. 535.
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noch zu fehlen scheint.543 Der Held der Unsentimentalen Reise, in vielerlei Hinsicht die Figur mit dem stärksten Willen zur Autonomie, bewegt sich durch die prädefinierten Räume wie ein Schlafwandler, immer im Bewusstsein eines Selbst und mit dem Wissen um die Bedrohung, die von diesen Räumen ausgeht, aber ohne auf die feststehend scheinenden Strukturen Acht zu geben. Genau das wird dem Verfolgten als Überlebensstrategie mitgegeben.
Der biopolitische Raum Drachs Reflexionen gehen nicht so weit, dass man den Sprung vom disziplinarischen zum biopolitischen Raumkonzept deutlich erkennen kann. Allerdings ist bei Drach von »Maschinen der Anreizung«544 auf einer Metaebene zu sprechen, insofern der von ihm entwickelte Protokollstil als literarische Gattung die Technik des Sprechenmachens thematisiert. Die Protokolle geben ein beredtes Zeugnis davon ab, wie ein Diskurs zu einem umfassenden Text über den Körper und seine Bedürfnisse werden kann. In Drachs Werk lassen sich Tendenzen und Spuren einer Beschäftigung mit dem Thema der Bemächtigung des Körpers durch das Sexualitäts- und das Sicherheitsdispositiv ausmachen. Die Kategorien Macht und Wissen sind bei dieser Besetzung entscheidende Maßeinheiten, die unmittelbar mit der »Anreizung« zum Sprechen zu tun haben. Mit Foucault formuliert, durchziehen auch in Drachs Texten »Machtverhältnisse das Körperinnere«.545 Eine ähnliche Ausprägung dieser Idee ist in Teilen von Drachs Werk nachweisbar, insbesondere dort, wo eine juristische Institution mit ihren Mitteln der protokollarischen Erfassung als Normierungsinstitution agiert, die aufgrund der bipolaren Aufteilung in »normal« und »abweichend« Urteile fällt, die abseits des Prozesses der Urteilsfindung zu »Schuld« oder »Nichtschuld« stehen. Es bilden sich also Diskurse der Ausnahme, der Para-Digmen, wie sie Agamben in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt, als »das, was sich daneben zeigt«546 und was die moderne Biopolitik auszeichnet. Macht ist damit sowohl bei Drach als 543 Vgl. Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 388. 544 Das ist der Titel des Kapitels in dem von Pravu Mazumdar herausgegebenen Sammelband mit Schriften Foucaults, das die in Der Wille zum Wissen dargelegten Thesen behandelt (Pravu Mazumdar (Hg.) : Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von P. M. München : DTV 2001 (= Philosophie jetzt !)). 545 Michel Foucault : Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. In : Ebda., S. 423–433. 546 Agamben : Homo sacer, S. 32.
Die Rückverwandlung des Raumes
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auch bei Foucault eine omnipräsente Entität, wobei ersterer den Schwerpunkt auf die Wirkung legt, Zweiterer dagegen auf die Verortungen. Durch das Zusammenspiel von Disziplin und Biopolitik verschwindet der Raum, den die Souveränität einst hatte, ohne dass sich diese wirklich auflösen würde. Stattdessen hat sie sich in eine Vielzahl von Beziehungen aufgeteilt. Drach kann wie Franz Kafka und Elias Canetti als »Experte der Macht« verstanden werden, da er die Konzentrationen von souveräner Macht ausfindig macht; die Punkte, wo sie als Bündelung von Effekten in Erscheinung tritt, aber auch die Punkte, wo sie sich bricht, wenn etwa ein Untersuchungsrichter das Verfahren, das er an anderen gewohnt ist anzuwenden, gegen sich selbst richtet. Es ist ein vorsichtiger Vorausblick auf das, was Deleuze später die Society of Control nennen wird, die nächste Stufe der Selbstgovernance, der sich der Mensch im 21. Jahrhundert ausgesetzt sieht. Die Aufteilungen funktionieren hier schon in einem neuen Raum, jenseits des physischen Raums, der ganz aufgehört hat, Macht zu repräsentieren. Schon das 1939 entstandene Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum ist eine deutliche Beobachtung der Kategorien »Gattung« und »Analyse« bei der Ausübung von Macht; Kategorien, die im gesamten Werk Drachs in Verbindung mit dem Recht eine Rolle spielen. Foucault sah diese Begriffe ebenfalls als zentrale Schnittstellen zum Verständnis der Verbindung zwischen Diskursen und Machtformen. Dass Drach ein Kritiker von Machtformen ist, darüber herrscht in der Rezeption Einigkeit. Von wo aus diese Machtformen aber ihre Effekte erzielen, das sollte mithilfe des foucaultschen Vokabulars deutlich geworden sein.
Die Rückverwandlung des Raumes der Macht zum Punkt des Widerstands Dem Raum als Kategorie kommt immense Bedeutung zu, wenn es sich um die Entwicklung von Strategien dreht vor, allem aber um Gegenkonzepte. Es geht letztendlich, wenn von einer Kritik an Macht die Rede ist, immer um die Punkte von Widerstand, die dort zu finden sein müssen, wo sich Macht entfalten kann. Deshalb ist es Drach wichtig, an die Quelle der Wirkungen von Macht zu gehen und mit dem Protokollstil ein sprachliches Mittel zu finden, das sowohl Macht abbildet als auch die Möglichkeit von Widerstand deutlich macht. Diese Haltung ist immer wieder als Zynismus umschrieben worden und Drach als Schriftsteller, der zynische Verhältnisse aufdeckt. Deshalb reicht es ihm nicht, das Gesetz als repressiv darzustellen und seine Opfer nur als Opfer. Vielmehr drückt seine Literatur die Sehnsucht nach einem machtfreien Raum
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aus, die nur an wenigen Stellen, in Unsentimentale Reise etwa, vorsichtig explizit formuliert ist. Erst dort entsteht der utopische Charakter der Literatur, den Drach als Autor bestrebt war, zu vermeiden. Wider die verzuckerten Helden ist ein Interview betitelt, das Wendelin Schmidt-Dengler mit ihm geführt hat und in dem Drach einmal mehr behauptete, die deutschsprachige Literatur mache es sich zu leicht, indem sie nur »zuckrige Helden« als Identifikationsfiguren anböte.547 Es ginge eher um Prozesse denn um Figuren, um das, was die Beziehungen dieser Figuren untereinander ausmacht. Der erklärten Absicht Drachs widerspricht es eventuell, dass sein literarisches Protokoll keine eindeutige Parteinahme abgibt, sondern als Verfahren arbeitet, das Machtprozesse sichtbar macht.548 Die Kategorie Raum ist in der Entwicklung der modernen biopolitischen Gesellschaft im Zentrum gestanden und wird es vielleicht auch in Zukunft tun, wenn sich neue Formen von Macht entwickeln. Die Werkgeschichte Foucaults zeigt, dass bis zu seiner intensiven Beschäftigung mit dem Subjekt, also bis etwa 1975, wesentliche Impulse für seine Theorien und Konzepte direkt aus der Beschäftigung mit Räumen und Orten kommen, insbesondere aus der Verbindung zwischen den Kategorien Souveränität, Macht und Raum. Die Verbindung zwischen der Souveränität und dem Raum, in dem sie sich manifestiert, besteht nach wie vor und wird von Autoren wie Albert Drach zum Thema gemacht, der ebenso wie der Philosoph erkannt hat, dass sich der alte juristische Begriff von Macht als einer negativen Macht gewandelt hat zu einer Macht, die produktiv agiert und ihre Subjekte auf mannigfache Weise beeinflusst. Drachs Literatur nimmt Tendenzen zu einer biopolitischen Gesellschaft und einer »Society of Control« wohl war, ruht aber in der Hauptsache auf dem Konzept, das die Verbindung der Disziplin mit dem individuellen Körper beschreibt. Eine Bezugnahme auf die Bevölkerung wird in seiner Literatur nur dadurch hergestellt, dass seine »Opfer« einer repressiven Macht jeweils bestimmten, abgegrenzten sozialen Gruppen zuzuordnen sind.
Ausblick : Macht und Freiheit Was Drach und Foucault in ihrer Beschäftigung mit Macht verbindet, ist die Suche nach den Möglichkeiten, im Kontext der politischen und sozialen Um547 Vgl. Schmidt-Dengler : Wider die verzuckerten Helden, S. 13. 548 Vgl. Ingrid Cella : Nachwort. In : Albert Drach : Untersuchung an Mädeln, S. 391–423, S. 399.
Ausblick : Macht und Freiheit
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gebung ihrer jeweiligen Lebensräume einen Raum der Machtfreiheit und damit einen Raum von Freiheit zu finden, und ihre fundamentale Skepsis gegenüber Orten, an denen sich Macht konzentriert. Ein gemeinsames Untersuchungsobjekt stellen juristische Institutionen dar oder, allgemeiner formuliert, in weiterer Folge : das Gesetz. Aus dem umfangreichen Gesamtwerk Drachs wurde hier vor allem auf die in der neuen Werkausgabe bisher erschienenen Texte Bezug genommen. Insbesondere die Theaterstücke Drachs, viele davon bisher unveröffentlicht, versprechen allerdings Aufschluss über die skizzierten Fragestellungen nach dem Begriff der Freiheit zu geben. Drachs Interpretation der Werke de Sades wie auch dem Roman Oh, Catilina ist zu entnehmen, dass Freiheit nicht im Rückzug auf Moral zu erlangen zu sein scheint. Moral ist – hier folgt er Nietzsche – im Gegenteil eine Technik der Macht, um Subjekte zu produzieren, ebenso wie Recht und Gesetz. Freiheit ist bei Drach also nicht eine vom Gesetz unabhängige Kategorie und sie ist in der Form, in der sie auftritt, nicht das Mittel, um Freiheit herstellen zu können. In diesem Sinne gebührt Michel Foucault das Schlusswort : Die Freiheit der Menschen wird nie von Institutionen oder Gesetzen garantiert, deren Aufgabe es ist, Freiheit zu garantieren. Deshalb kann man die meisten dieser Gesetze und Institutionen drehen und wenden. Nicht weil sie mehrdeutig wären, sondern weil man »Freiheit« nur ausüben kann.549
549 Foucault : Raum, Wissen und Macht, S. 330.
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Register Agamben, Giorgio : 12, 88–89, 134–135, 139, 144–151, 204 Alberti, Leon Batista : 43–44, 202 Arendt, Hannah : 88–89 Augé, Marc : 86–87 Bachtin, Michail : 33–34 Benjamin, Walter : 98–99, 148 Best, Werner : 102 Böll, Heinrich : 161 Bousquets, Réne : 103 Brockes, Barthold Hinrich : 47–52 Brunellesci, Filippo : 43 Cardiff, Janet : 130–131 Carroll, Lewis : 152–153 Dannecker, Theodor : 103 de Certeau, Michel : 22–23, 37, 45, 59 de Sade, Donatien Alphonse François : 12, 13, 65, 113, 179, 181, 185, 207 Deleuze, Gilles : 23–25, 68, 205 Derrida, Jacques : 92 Diogenes von Sinope : 120 Döblin, Alfred : 104–106, 109, 131 Eco, Umberto : 190 Eichendorff, Josef von : 75 Eisenstein, Sergei : 199–200 Feuchtwanger, Lion : 103–106, 109–111, 131 Feuerbach, Ludwig : 14 Foucault, Michel : 9, 11, 13–15, 17–25, 29–32, 37–41, 60, 68–70, 72, 74, 82, 84, 86, 89, 110, 131, 133–142, 146, 150–152, 155, 177, 179– 180, 184, 189, 191, 197, 201–207 Grabbe, Christian Dietrich : 13 Habermas, Jürgen : 117, 119, 180 Handke, Peter : 58–60 Hardt, Michael : 135
Harvey, David : 19 Hasenclever, Walter : 103, 111 Hegel, Friedrich : 14, 19 Herwegh, Georg : 13 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von : 169 Hitler, Adolf : 100, 103, 147 Hoffmann, E.T.H.: 50, 52, 60–61, 202 Hofmannsthal, Hugo von : 73–74 Howard, Ebenezer : 71–73 Kafka, Franz : 12, 13, 69, 131, 147, 148–150, 205 Kant, Immanuel : 34, 37–38, 60, 90–91 Klarsfeld, Serge : 100, 102, 217 Kracauer, Siegfried : 53 Kraus, Karl : 77–79 Laval, Pierre : 103 le Corbusier : 21 Le Nôtre, André : 44–46, 50 Lefebvre, Henri : 18–20 Lotman, Juri : 33–34 Melville, Herman : 43–44, 148, 153, Miller, Georges Bures : 130–131 Negri, Antonio : 135, 139 Nestroy, Johann : 187 Nietzsche, Friedrich : 13–16, 25, 120, 140, 207 Pétain, Philippe : 102 Petrarca, Francesco : 42–44 Piranesi, Giovanni Battista : 199 Poe, Edgar Allan : 50, 202 Poulet, Georges : 124 Pynchon, Thomas : 56 Rabinow, Paul : 21 Rembrandt van Rijn : 40 Rilke, Rainer Maria : 124 Rimbaud, Arthur : 68, 125–126 Röthke, Heinz : 103
224 Said, Edward : 29 Schmitt, Carl : 147 Schnitzler, Arthur : 187, 195 Schober, Johann : 171 Seghers, Anna : 103 Sennett, Richard : 21, 24, 72, 86, 117, 177–180 Simenon, Georges : 169 Starobinski, Jean : 87
Register Stendhal [=Marie-Henri Beyle] : 13 Strauss-Kahn, Dominique : 169–170 Toscanelli, Paolo : 43 Voltaire [= François-Marie Arouet] : 49, 52, 202 von Hagen, Gunther : 41 von Trier, Lars : 53, 55, 61