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German Pages 325 Year 1996
Andrzej J. Szwarc (Hrsg.) . AIDS und Strafrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 107
AIDS und Strafrecht Herausgegeben von
Prof. Dr. Andrzej J. Szwarc
Duncker & Humblot · Berlin
Das Symposium, dessen Materialien in diesem Sammelband enthalten sind, wurde von der Robert Bosch-Stiftung gefördert.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Aids und Strafrecht I hrsg. von Andrzej J. Szwarc. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Strafrecht; H. 107) ISBN 3-428-08746-1 NE: Szwarc, Andrzej J. [Hrsg.]; GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-08746-1 Gediuckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Inhaltsverzeichnis Vorwort Von Andrzej J. Szwarc .............................................................
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AIDS und Strafrecht - Ein Überblick Von Bemd Schünemann ...........................................................
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Die strafrechtliche Haftung rür die Inf'lZierung oder Gerürdung durch HIV Referat Von Rolf-Dietrich Herzberg
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Diskussionsbericht Von Diego-Manuel Luzon-Peiia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Strafrechtliche Probleme des HIV-Tests Referat Von Frank Höpfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Diskussionsbericht Von Raimo Lahti .................................................................. 119 AIDS und strafrechtliche Probleme der Schweigepflicht Referat Von Dieter Meurer ................................................................. 133 Diskussionsbericht Von Witold Kulesza ............................................................... 155 AIDS und strafrechtliche Aspekte der unterlassenen Hilfeleistung Referat Von Kazimierz Buchala ............................................................ 161 Diskussionsbericht Von Santiago Mir Puig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169
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Inhaltsverzeichnis
AIDS und Schwangerschaft - Strafrechtliche Probleme Referat Von Hans-Georg Koch .......... . .................................................. 183 Diskussionsbericht Von Andrzej W~sek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199
AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen Referat Von Cornelius Nestler ............................................................. 211 Diskussionsbericht Von Karl-Ludwig Kunz ............................................................ 229
AIDS und Strafvollzug Referat Von Klaus Geppert ................................................................ 235 Diskussionsbericht Von Dionysios D. Spinellis ..................................... . .................. 265
Sinn oder Unsinn kriminalrechtlicher AIDS-Prävention? Zugleich Versuch eines vorläufigen Resümees Von Wilfried Bottke ............................................................... 277
Autoren ............................................................................... 321
Teilnehmer ............................................................................ 322
Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält Materialien vom Internationalen Symposium "AIDS und Strafrecht". Das Symposium fand in Posen vom 1. bis 5. Juni 1994 unter Beteiligung von 61 Personen aus 16 Ländern statt: Chile, Deutschland, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Japan, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz, Schweden, Slowenien, Spanien und Südafrika. Eine Liste der Symposiumsteilnehmer befindet sich am Schluß dieses Bandes. Das Symposium wurde von seinem Organisator Prof. Dr. Andrzej J. Szwarc von der Adam-Mickiewicz-Universität Posen eröffnet. Grußworte an die Teilnehmer richteten: der Staatssekretär im polnischen Justizministerium Prof. Dr. Adam Zieliriski, Prorektor der Adam-Mickiewicz-Universität Posen Prof. Dr. Jan Strzalko, der Vorsitzende des Polnischen Juristenverbandes und Leiter des Lehrstuhls für Strafrecht an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen Prof. Dr. Aleksander Ratajczak sowie der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Szczecin, Georg Koebel. Den vorliegenden Sammelband eröffnet das Referat von Prof. Dr. Bernd Schünemann, das eine Einführung in die Problematik des Symposiums darstellt. Im Rahmen des Generalthemas des Symposiums standen folgende Probleme zur Diskussion: strafrechtliche Verantwortlichkeit für HIV-Infizierung, strafrechtliche Probleme der HIV-Tests, AIDS und strafrechtliche Probleme der unterlassenen Hilfeleistung, AIDS und Schwangerschaft - strafrechtliche Probleme, AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen sowie AIDS und Strafvollzug. Diese Publikation enthält Referate über die genannten Probleme, die während des Symposiums gehalten wurden, und diesbezügliche Diskussionsberichte. Den Abschluß bildet ein Resümee von Prof. Dr. Wilfried Bottke. Die Idee des Symposiums war von der Erkenntnis getragen, daß viele in dem Generalthema des Symposiums angesprochene strafrechtliche Probleme, die neben den Problemen aus anderen Rechtsgebieten im Zusammenhang mit AIDS aufgetreten sind, einer dringenden Beurteilung und Lösung bedürfen. Dies wird von medizinischer Seite, von Richtern, Staatsanwälten, Polizisten, Bediensteten der Vollzugsanstalten und von vielen anderen Institutionen erwartet. Die Bedeutung dieser Probleme wird durch die besorgniserregende Ausbreitung der HIV-Infizierung und AIDS-Krankheit noch mehr verstärkt. Der internationale Charakter des Symposiums war durch die Tatsache begründet, daß HIV-Infizierung und AIDS-Krankheit in kleinerem oder größerem Umfang viele Länder betroffen und überall durch ähnliche Rechtsprobleme das Interesse der Juristen geweckt haben. So ist die AIDS-Problematik zum Gegenstand po-
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Vorwort
lizeilicherlstaatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Entscheidungen sowie wissenschaftlicher Veröffentlichungen geworden. Es gilt also festzustellen, daß die Zeit gekommen ist, die entsprechenden rechtlichen Regelungen, die einschlägige Rechtsprechung und die im juristischen Schrifttum geäußerten Meinungen zu sichten, miteinander zu vergleichen und auszuwerten. Wünschenswert war eine rechtsvergleichende Erfassung dieser Problematik. Damit hat man auch die Möglichkeit schaffen wollen, fremde Erfahrungen und Regelungen, die sich in der Praxis bewährt haben, nutzbringend zu verwerten. Das ertragreiche Symposium erfüllte diese Erwartungen. Es ist gelungen, für die Teilnahme an dieser Veranstaltung zahlreiche berühmte Rechtswissenschaftler aus vielen Ländern zu gewinnen, die einen sehr kompetenten Kreis von Fachleuten bilden. In diesem Gremium wurde der Versuch unternommen, die wichtigen und schwierigen Strafrechtsprobleme von AIDS zu beurteilen und zu lösen. Ich möchte mich bei den Referenten, Diskussionsleitern und Diskussionsteilnehmern herzlich bedanken. Alle Symposiumsteilnehmer haben auf diese Weise zur Veröffentlichung dieses Sammelbandes beigetragen. Mein besonderer Dank gilt hierfür dem Verlag Duncker & Humblot in Berlin. Einen guten Grund zur Genugtuung bildet bestimmt auch die Tatsache, daß das Symposium in Polen stattgefunden hat. Dadurch konnte das Engagement auch polnischer RechtswissenschaftIer in die Lösung aktueller und weltweit wichtiger Probleme eingebracht werden. Mein persönliches Interesse an der strafrechtlichen Problematik von AIDS, die Veranstaltung des Symposiums und das vorliegende Buch sind Ergebnisse meiner Aufenthalte in den deutschen Universitäten, die dank der Förderung der Alexander von Humboldt-Stiftung zustande gekommen sind. Dieses Vorhaben hätte aber nicht gelingen können, wenn es nicht von zahlr~i ehen Institutionen und Personen unterstützt worden wäre, denen ich ebenfalls meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Das Symposium wurde von der Robert Bosch-Stiftung gefördert. Zu den Mitveranstaltern bzw. Sponsoren gehörten: Justizministerium (Ministerstwo Sprawiedliwosci), Gesundheitsministerium (Ministerstwo Zdrowia i Opieki Spolecznej), Ausbildungsministerium (Ministerstwo Edukacji Narodowej), Polskie Towarzystwo Naukowe AIDS, Stefan Batory-Stiftung, Zaklad Ubezpieczen Spolecznych, Wielkopolski Bank Kredytowy, Bank Komercyjny ,,Posnania" S.A., Bank Rozwoju Rolnictwa, Rolbank S.A., Bank Rozwoju Rzemiosla, Handlu i Przemyslu "Market" S.A., Hestja, Polmax S.A., Emax. Nicht weniger herzlichen Dank haben alle Personen, die im Hintergrund mitgewirkt haben, besonders Frau Alexandra Wagner, Herr Dr. Christoph Sowada (Freie Universität Berlin) und Herr Dr. Jerzy Kal~zny (Adam-Mickiewicz-Universität Posen) - für die Hilfe bei der Bearbeitung der Symposiumsmaterialien - und Studenten aus meiner Seminargruppe, die das Tagungsbüro führten und das Symposiumsteam bildeten. Andrzej J. Szwarc
AIDS und Strafrecht Ein Überblick Von Bernd Schünemann
I. Vorbemerkung
1. Wenn - wie hier in Posen - das erste wirklich umfassende internationale Symposium über das Thema "AIDS und Strafrecht" aus 16 Ländern führende Kriminalisten versammelt, die durchweg zu diesem Thema schon wichtige Arbeiten vorgelegt haben und in ihren Ländern als die ersten Experten für diesen Problembereich anerkannt sind, so bedarf es natürlich keiner Einführung in die Symposiumsproblematik im traditionellen Sinne. Ich fasse meine Aufgabe deshalb in der dreifachen Weise auf, daß ich einerseits so etwas wie einen dogmatischen Verbindungsfaden zwischen den einzelnen Referaten zu spinnen versuche, andererseits zu einigen zentralen Streitfragen wie ein vorgezogener Korreferent eine dezidierte eigene Position beziehe und diese Betrachtungen drittens in eine kriminalpolitische Gesamtkonzeption einzubetten versuche, die von selbst auch die verfassungsrechtlichen Grundfragen unseres Themas zur Sprache bringt. 2. Wenn in einem zeitlich beschränkten Vortrag so viele und ehrgeizige Ziele angesteuert werden sollen, ist eine Konzentration und Selektion der anzusprechenden Einzelthemen unerläßlich, und ich bitte im vorhinein um Verständnis, wenn die von mir getroffene Auswahl zahlreiche nicht minder wichtige Einzelfragen unerörtert läßt. Was die Reihenfolge meiner Überlegungen anbetrifft, so würde die in allen modemen Rechtsstaaten zu beobachtende Dominanz des Verfassungsrechts an sich dafür sprechen, mit den allgemeinen Fragen der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre des Individuums einerseits und seinem Anspruch auf staatlichen Schutz von Leib und Leben andererseits zu beginnen und an den daraus abgeleiteten Grundsätzen die Interpretation der geltenden Strafrechtsnormen auszurichten. Weil die modeme Rechtsgewinnungstheorie aber nachgewiesen hat, daß im Bereich der Verfassungsinterpretation in Wahrheit mehr postuliert als deduziert wird, möchte ich mich den Grundsatzfragen von den konkreten Einzelregelungen her nähern, die ja in ihrer Gesamtheit jene Rechtskultur ausmachen, die die in ihrer Abstraktion semantisch diffusen Grundsätze des Verfassungsrechts wie eine Aura um-
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gibt und damit den eigentlichen Nährboden für deren seriöse juristische Interpretation liefert.
11. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Infizierung eines anderen mit HIV
1. Das deliktische Grundmuster
Das deliktische Grundmuster, um dessen dogmatische Analyse es hier geht, weist eine geradezu archaische Einfachheit auf und hat vielleicht auch deshalb das lebhafte Interesse so vieler Frankfurter Autoren gefunden, die bekanntlich den Deliktskonzepten der modernen Industriegesellschaft (d. h. der abstrakten Gefährdung von Universalrechtsgütern) teils skeptisch, teils scharf ablehnend gegenüberstehen und auch dem 21. Jahrhundert die strafrechtlichen Rezepte des 19. Jahrhunderts (d. h. das Erfolgsdelikt) verordnen möchten 1. Denn bei der Infizierung eines anderen mit dem AIDS-Virus geht es um ein simples erfolgsbezogenes Geschehen, das sich zumeist in einer Zweipersonen-Interaktion vollzieht, die vom Kausalverlauf her eine eindeutige Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer ermöglicht2 . Opfer des Kausalverlaufes ist eo ipso derjenige, der vor der Interaktion HIV-frei war und danach den AIDS-Virus in seinem Körper trägt, und als Täter kommt also nur derjenige in Betracht, der die Infektionsquelle, also die HIV-kontaminierte Flüssigkeit, zu Beginn der Interaktion beherrscht. Die Virusübertragung auf sexuellem Wege, die die heftigen Diskussionen von Anfang an bis heute ausgelöst und beherrscht hat, ist nur ein Sonderfall, dessen genauer Analyse zunächst einmal die Herausarbeitung der allgemeinen Zurechnungsprinzipien vorangehen muß. Und weil sich wiederum in der Beurteilung dieses Sonderfalles zwischen Rolf-Dietrich Herzberg, der darüber auf unserem Symposium referieren wird, und mir selbst nach einer überaus intensiven und fruchtbaren Diskussion in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine weitreichende Übereinstimmung ergeben hat, möchte ich die Zu dieser Grundsatzdebatte m.z.w.N. Schünemann, GA 1995,201,203 ff. Die Behauptung von Rottleuthner (in: Rosenbrock/Salmen - Hrsg. -, AIDS-Prävention, 1990, S. 121, 125), daß "auch die Unterscheidung von Täter und Opfer problematisch" werde, ist deshalb ebenso vage wie unzutreffend und erweist sich vollends durch die hinzugefügten rhetorischen Fragen, warum das Verhalten der Freier nicht als eigenverantwortliche Selbstgefährdung angesehen werde und seit wann immer nur die Prostituierten die Infizierten wären, als bloße Polemik. Denn die dogmatische Thematisierung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung setzt zunächst einmal die Feststellung der Opferrolle auf der Ebene der Kausalanalyse voraus; und selbstverständlich wird die Täter- oder Opferrolle nicht, wie Rottleuthner irrig annimmt, nach dem Beruf als Prostituierte, sondern nach der Transmissionsrichtung des AIDS-Virus beurteilt. Rottleuthners Polemik steht damit modellhaft für jene Arroganz, mit der eine bestimmte Gruppe von Soziologen den Zensor über die juristisch-dogmatische Fachdiskussion zur AIDS-Problematik zu spielen versucht (besonders prätentiös H. A. Hesse, Der Schutzstaat, 1994, S. 70 ff.). I
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heutige Gelegenheit nutzen, um einige Bemerkungen zu den allgemeinen Zurechnungsprinzipien bei der Transmission des AIDS-Virus beizusteuern.
2. Die Erfolgszurechnung bei der Infizierung eines anderen
a) Wer eine HIV-kontaminierte Flüssigkeit beherrscht, ist wegen des Grundsatzes "neminem laede" verpflichtet, diese Gefahrenquelle nicht durch aktives Tun oder durch garantenpflichtwidriges Unterlassen zur Ursache für die Schädigung anderer zu machen 3 . Hierfür spielt es zunächst einmal überhaupt keine Rolle, ob es sich bei der Flüssigkeit um eigenes oder um fremdes Blut oder um Blutprodukte, um Sperma oder Speichel oder um Anhaftungen auf einer Spritze oder anderen medizinischen Instrumenten handelt. Es ist deshalb schon im Ansatzpunkt unzulänglich, wenn Prittwitz analog der angeblich schon umgangssprachlich vorgegebenen Alternative, ob man einen anderen ansteckt oder sich ansteckt, ohne weitere dogmatische Differenzierung eine exklusive Charakterisierung des Transmissionsaktes entweder als Fremdgefährdung oder als Selbstgefährdung behauptet und dies mit der ebenso unrichtigen Behauptung verknüpft, daß bei symmetrischem Wissen oder Unwissen der beiden Interaktionspartner um die Ansteckungsgefahr eine Strafbarkeit des HIV-Infizierten de lege lata von vornherein nicht in Betracht komme4 . Denn das simple Wortspiel zwischen Selbstgefährdung und Fremdgefährdung löst ja nicht das Zurechnungsproblem, sondern macht nur unterschiedliche Perspektiven namhaft, deren Relevanz erst noch auf den verschiedenen Zurechnungsstufen zu prüfen ist und die durchaus nebeneinander bestehen können. Daß ferner die beiderseitige Unkenntnis der Interaktionspartner von der Infektiosität die Strafbarkeit des Inhabers der Herrschaft über die Infektionsquelle entgegen der angeführten Behauptung von Prittwitz gerade nicht von vornherein ausschließt, macht der Fall der Transfusion von HIV-verseuchtem Blut schlagend deutlich. Selbstverständlich trifft hier den Arzt eine strenge Sorgfaltspflicht zur Gewinnung und Verwendung ausschließlich HIV-freier Blutspenden, wie der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in seinem Grundsatzurteil vom 30. 4. 1991 mit Recht betont hat5 - während sich der Patient auf die Erfüllung dieser Pflichten durch den Arzt vollständig verlassen darf und deshalb im zentralen Schutzbereich dieser Sorgfaltspflichten steht. b) Es erscheint deshalb notwendig, noch einmal kurz die Zurechnungsgrundsätze beim Erfolgsdelikt zu rekapitulieren. Wie aus der bei allen Erfolgsdelikten vom Gesetz vorausgesetzten Trias "Handlung - Kausalzusammenhang - Erfolg" folgt, 3 Zu dieser Gemeinsamkeit von aktivem Tun und unechtem Unterlassen in der "Herrschaft über den Grund des Erfolges" sowie zu der darüber geführten Kontroverse m.w.N. Schünemann, in: Gimbernat Ordeig/Wolter/Schünemann (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49 ff. 4 In: Prittwitz (Hrsg.), AIDS, Recht und Gesundheitspolitik, 1990, S. 125, 140 f. 5 BGHZ 114,284, 291 ff.
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ist beim aktiven Tun wie beim unechten Unterlassen dem Inhaber der Herrschaft über die Gefahrenquelle die Verletzung des anderen allemal auf der ersten Zurechnungsstufe der Kausalität oder Quasikausalität zuzurechnen, während die Mitwirkung des Opfers erst auf den weiteren Zurechnungsstufen zu thematisieren ist und dann freilich hier u.U. eine Verneinung der Erfolgszurechnung begründen könnte. Bei den Vorsatzdelikten geht es dabei um die (zur Kausalität hinzukommenden) weiteren Voraussetzungen für die Qualifikation als unmittelbarer oder mittelbarer Täter nach § 25 Abs. 1 StGB, während bei den Fahrlässigkeitsdelikten die nicht vom Gesetz, sondern von der Strafrechtsdogmatik herausgearbeiteten weiteren Zurechnungsstufen des Adäquanz-, des Risiko- und des Schutzzweckzusammenhanges hinzukommen 6 . Bei der HIV-Infektion liegt der praktische und dogmatische Schwerpunkt naturgemäß bei den Vorsatzdelikten und dementsprechend bei den Täterschaftsvoraussetzungen gemäß § 25 Abs. I StGB. Weitgehend geklärt dürfte hierbei die Täterschaft kraft überlegenen Wissens sein, wenn also die infektiöse Flüssigkeit von ihrem Beherrscher vorsätzlich einem Unwissenden injiziert wird, gleichgültig, welches Injektionsinstrument hierbei zur Hand ist. Das hat der Bundesgerichtshof auch in der dogmatisch freilich unzulänglich begründeten7 Leitentscheidung BGHSt 36, I bekräftigt, und eine prinzipielle Gegenauffassung trifft man nur noch in dem ziemlich festgefügten Meinungskader an, das sich zum quasi offiziellen Sprachrohr der deutschen Homosexuellen gemacht hat und die in Wahrheit längst unangefochtene gesellschaftliche Emanzipation ihrer Lebensform unsinnigerweise gerade dadurch fördern zu müssen glaubt, daß die Infizierung anderer mit HIV zum rechtsfreien Raum erklärt wird. In der sine ira et studio geführten wissenschaftlichen Diskussion sind die Positionsunterschiede bezüglich der Tatherrschaft durch überlegenes Wissen hingegen denkbar gering, wie sich etwa daran zeigt, daß auch Nestler- Tremel diese Zurechnungsform in alltäglichen oder durch 6 Natürlich muß hier der Sach- und Streitstand in der Dogmatik der objektiven Zurechnung vorausgesetzt werden, was um so eher möglich ist, als ein erheblicher Teil der diesbezüglichen Kontroversen nur Fragen der Terminologie oder der systematischen Rubrizierung betrifft. In der Sache umstritten ist vor allem, ob die Regeln der objektiven Zurechnung beim Vorsatz- und beim Fahrlässigkeitsdelikt identisch sind (bejahend etwa Roxin, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1994, 11/36 ff. i.Y.m. 24/5 u. 24110; ders., Chengchi Law Review, Volume 50 (1994), 219 ff.; vgl. auch Wolter, in: Gimbernat Ordeig/Schünemann/Wolter - Fn. 3 -, S. 3 ff.) und ob für den Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg die Risikoerhöhung maßgeblich ist und ausreicht (diese Frage erscheint weitgehend ausdiskutiert, vgl. Roxin, Strafrecht AT a. a. O. 11/72 ff.; Schünemann, StV 1985,229 ff. zur Verteidigung der normativ reformulierten Risikoerhöhungstheorie; die Kritik von Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 539 ff., hat keine neuen Argumente mehr beigesteuert). Dagegen betrifft der Streit um die Notwendigkeit eines besonderen Schutzzweckzusammenhanges überhaupt nicht die Sache selbst, denn dessen Ersetzung durch die Theorie der Risikoverwirklichung läuft nur auf eine Vermengung von Risikoerhöhungs- und Schutzzweckzusammenhang hinaus (näher dazu Schünemann, StV 1985, 229, 231; Roxin Strafrecht AT a. a. O. 11/83 f.). Nach wie vor dürfte deshalb immer noch die im Text verwandte Unterscheidung von vier Zurechnungsstufen am klarsten sein, vgl. dazu bereits näher Schünemann, JA 1975,575,579 ff. - §§ ohne Gesetzesangabe sind i. f. solche des StGB. 7 Meine Kritik daran habe ich in JR 1989, 89 ff. geübt.
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persönliche Verbundenheit gekennzeichneten Situationen durchaus anerkennt und erst bei Risikosituationen leugnet, während ich selbst die Grenze erst bei den von mir sog. Desperadokontakten ziehe 8 • c) Weitaus weniger geklärt sind dagegen die Zurechnungsprobleme bei einer auf dem gleichen Informationsniveau erfolgenden Infizierung eines anderen. Hier muß zunächst der anscheinend unausrottbare Irrtum richtiggestellt werden, daß es um die Konstellation der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des HIV-negativen Partners ginge und sich dementsprechend die Straflosigkeit des HIV-positiven Partners bereits a fortiori aus der gesetzlichen Wertentscheidung zur Straflosigkeit der Selbstmordteilnahme 9 ergeben würde 10. Denn in den in Rechtsprechung und Schrifttum unstreitigen Fällen der Selbsttötung oder Selbstgefahrdung ging es stets um eine der fremden Ursachensetzung nachfolgende und deshalb vom Rechtsgutsträger allein beherrschte Verletzungs- und Gefährdungshandlung (BGHSt 24, 342: Die Freundin erschießt sich mit der von ihrem Freund liegengelassenen Pistole; BGHSt 32, 262: Der Rauschgifterwerber spritzt sich versehentlich eine tödliche Dosis). Wenn der Rechtsgutsträger dagegen nur die Verletzungshandlung des anderen duldet, so ist die Wertentscheidung der Straflosigkeit der Selbstmordteilnahme von vornherein nicht einschlägig, wie aus § 216 StGB folgt. Dogmatische Probleme bereitet deshalb allein die Mittelgruppe der "einverständlichen Fremdgefährdung", in der sich der Rechtsgutsträger durch eigene Mitwirkungshandlung dem vom anderen ausgehenden Risiko exponiert, und für diese Mittelgruppe ist die Frage der Erfolgszurechnung in der Vergangenheit durchaus kontrovers und unterschiedlich beantwortet worden 11. Prittwitzens kühner Satz, hier komme eine Strafbarkeit de lege lata von vornherein nicht in Betracht 12, wird diesem Diskus8 Vgl. Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 367 ff. einerseits, Schünemann, in: Schünemann/ Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 472 ff.; ders., in: Busch/Heckmann/Marks (Hrsg.), HIV/AIDS und Straffalligkeit, 1991, S. 111 ff. andererseits. 9 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT (Fn. 6), 11/86; Schünemann, JA 1975,715,720; auch der BGH erkennt diesen Grundsatz an, vgl. BGHSt 24, 342, sowie für den Fall der Abgabe von (vorn Erwerber zum "goldenen Schuß" benutzten) Rauschmitteln nach meiner Kritik in NStZ 1982, 60 auch BGHSt 32, 262; widersprüchlich dazu sind allerdings die Entscheidungen BGHSt 37, 179 zur Rauschmittelabgabe mit Todesfolge sowie BGH NStZ 1984,452; 1985, 319 zur angeblichen Ingerenzgarantenstellung des Veräußerers. 10 Eberbach, JR 1986, 231; Geppert, Jura 1987, 671; LG Kempten AIFO 1989, 256; Meyer, GA 1989, 219; Prittwitz, JA 1988, 432 f.; wohl auch ders. (Fn. 4), S. 240 f.; BayObLG NStZ 1990, 82; Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987, 366; Scherf, AIDS und Strafrecht, 1992, S. 80; Scheuerl, AIDS und Strafrecht, 1992, S. 182 ff. 11 Im Memelfall (RGSt 57, 172) hat das Reichsgericht etwa bei der gemeinsamen Überfahrt über den extrem gefährlichen Fluß die Erfolgszurechnung an den Fährmann verneint, während sie beispielsweise Dölling (GA 1984,71,78) in Abhängigkeit von einer freilich keinesfalls überzeugenden Interessenabwägung bejaht. Der BGH tendiert in seiner Rechtsprechung zu gemeinsamen Trunkenheitsfahrten überwiegend zur Erfolgszurechnung, vgl. BGHSt 7, 112; BGH VRS 17,277; BGHSt 23, 141. Erst recht zieht der BGH auch bei vorsätzlicher Erfolgsherbeiführung die Erfolgszurechnung an den anderen in Betracht, vgl. BGHSt 19, 135, was von Scheuer! (Fn. 10), S. 185 f. übersehen wird. 12 S.o. Fn. 4.
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sionsstand nicht gerecht und allein schon durch das sehr differenzierte und vorsichtige Kapitel über die "einverständliche Fremdgefährdung" in Roxins Lehrbuch zum Allgemeinen Teil falsifiziert \3. Ich möchte hierzu heute nur noch bemerken, daß meine eigene, ebenfalls restriktive Position aus dem Jahre 1975, die Fremdgefährdung nicht anders als die Selbstgefahrdung zu behandeln und also bei gleicher Risikokenntnis von Täter und Opfer immer eine Unterbrechung der Zurechnung anzunehmen 14 , bis zum Beginn der AIDS-Diskussion eine Mindermeinung gewesen ist 15 , so daß man nach den Maximen der bis dato herrschenden Meinung auch bei gleichem Kenntnisstand von Täter und Opfer in den meisten AIDS-Fällen zur Strafbarkeit hätte kommen müssen, weil die Weiterverbreitung des AIDS-Virus und die damit einhergehende Zunahme der Gefahrenherde einen über die Interessensphäre des Opfers hinausgehenden Unwert ausmacht und deshalb eine rechtfertigende Einwilligung ebenso hindern würde wie eine Unterbrechung des Schutzzweckzusammenhanges. In Wahrheit geht es nun aber bei der vorsätzlichen HIV-Infizierung, wie bereits bemerkt, nicht um diese Schlagworte, sondern um die Auslegung des § 25 Abs. 1 StGB und damit um die gleiche Abgrenzungsfrage zwischen Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Selbstmord, die der BGH beim einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord zu beantworten hatte. Nach allgemeiner Auffassung kommt es hierfür auf die Tatherrschaft an, wobei der BGH und im wesentlichen auch Herzberg auf die Beherrschung des unmittelbar letzten Geschehensabschnitts vor der Rechtsgutsverletzung abstellen 16 , während nach der restriktiven, vor allem von Roxin begründeten Auffassung schon eine Mitbeherrschung des Gesamtgeschehens durch das Opfer die Erfolgszurechnung ausschließen soll 17. Was nun das die Praxis am meisten beschäftigende Thema der Verteilung der Tatherrschaft bei Infizierung durch einverständlichen Geschlechtsverkehr anbetrifft, so möchte ich an Herzbergs kritische Frage aus seiner Auseinandersetzung mit Roxin und anderen im berühmten Scophedalfall erinnern, warum das direkte Beibringen eines tödlichen Stoffes verschieden beurteilt werden solle, je nachdem, ob der Täter ihn ejakuliere oder injiziere 18 !? Die Verneinung der objektiven Erfolgszurechnung in den AIDS-Fällen läßt sich dementsprechend nur konsistent begründen, wenn man sich grundSätzlich der äußerst extensiven Bestimmung der straflosen Selbstmordteilnahme durch Roxin anschließt - was ich früher ebenfalls getan habe 19, im Hinblick auf HerzRoxin, Strafrecht AT (Fn. 6), 11/98 ff. JA 1975,715,722 ff. 15 Anders etwa Dölling, GA 1984,75,80 ff.; Engisch, H. Mayer-FS, 1966, S. 399,412 f.; ders., Dreher-FS, 1977, S. 309, 317 f.; Hirsch, Welzel-FS, 1974, S. 775, 780; Schaffstein, Welzel-FS, 1974, S. 557, 570 ff.; Hillenkamp, JuS 1977, 166, 171 f.; Dach, Zur Einwilligung bei Fahrlässigkeitsdelikten, Diss. iur. Mannheim 1979, S. 28 f., 54 f. 16 BGHSt 19, 135; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 75 ff. 17 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Auf!. 1994, S. 566 ff. 18 NStZ 1989,559,560 Fn. 9, sowie ähnlich schon früher in JuS 1988,771 ff. Der Scophedal-Fall des BGH ist publiziert in NJW 1987, 1092. 13
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bergs vorerwähnte Kritik aber nicht mehr selbstverständlich finde und im vorliegenden Rahmen jedenfalls nicht ausdiskutieren kann.
d) Selbstverständlich setzt die Straflosigkeit der einverständlichen Fremdgefährdung auch die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Opfers voraus, die etwa bei einem 16-jährigen Mädchen, das im Überschwang seiner Teenagerliebe mit ihrem HIV-positiven Freund ungeschützt geschlechtlich verkehrt, größten Bedenken begegnet. Die entgegengesetzte Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts 20 , die als Beweis für die Reife des Mädchens wesentlich an seinen schulischen Widerspruchsgeist anknüpft, verkennt die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von intellektueller und emotionaler Reifung und setzt dadurch falsche Maßstäbe21 . Unabhängig von diesen Abgrenzungsproblemen zwischen strafbarer Täterschaft und strafloser Teilnahme muß ferner der durch die Infizierung eines anderen angerichtete weitere Sozialschaden registriert werden, der bei einer gefährlichen Pandemie vom Schlage von AIDS in der Schaffung eines neuen, zusätzlichen Risikopotentials besteht und deshalb auch nicht von der Dispositionsbefugnis des unmittelbaren Opfers erfaßt wird (dessen Einwilligung in eine täterschaftliche Fremdverletzung demgemäß nach h.M. auch immer entsprechend § 226 a StGB unwirksam sein müßte 22 ). Die hierin liegende abstrakte Gefährdung der Volks gesundheit im Sinne unbestimmter weiterer Menschen kann jedoch nicht durch ein individuelles Verletzungsdelikt, sondern nur durch ein spezifisches Gefährdungsdelikt erfaßt werden; ich komme darauf noch zurück.
3. Vorsatzprobleme
Die Infizierung eines anderen mit HIV bringt aber nicht nur im Bereich der objektiven Zurechnung, sondern auch im Bereich des Vorsatzes prinzipielle Probleme zur Sprache, und zwar völlig unabhängig davon, auf welchem Wege die Infizierung vor sich geht. Auf Argumente des Schlages, daß doch keinen Tötungswillen besitze, wer Liebe schenken wolle 23 , gehe ich deshalb nicht näher ein, auch wenn In: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 477. BayObLGSt 1989, 133 ff., und dazu Meurer, in: GallwaslRiedeUSchenke (Hrsg.), AIDS und Recht, 1992, S. 123 m.w.N. " 21 Für den Regelfall gegen die Einsichtsfähigkeit von Jugendlichen, "die aufgrund pubertärer oder situationsbedingter Konfliktsituationen einen Suizid begehen", mit Recht LKI Roxin, 11. Aufl., § 25 Rn. 127 (1992); meine eigenen Zweifel in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 478, sind durch die mir damals noch nicht bekannten Details der Fallgestaltung in concreto in Richtung auf eine Vemeinung der Einsichtsfahigkeit und in abstracto zur Befürwortung der Volljährigkeitsgrenze bei allen Lebens- und gravierenden Leibesverletzungen verstärkt worden. 22 Wenn man diese Vorschrift nicht für verfassungswidrig hält, vgl. dazu meine Überlegungen in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 482 f. 23 Spielerisch erwogen von Herzberg, JuS 1987,777,779; dems., NJW 1987, 2283; von der Tendenz her ähnlich Kreuzer, ZStW 100 (1988), 786, 797; Prittwitz, JA 1988, 486, 500. 19
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sie für einen bestimmten, gerade in der AIDS-Diskussion beliebten Typus verworren-emotionaler Argumentation charakteristisch sind. Von prinzipieller dogmatischer Bedeutung ist statt dessen die von Herzberg gerade auch am Beispiel der AIDS-Infizierung entwickelte, rein kognitive Vorsatztheorie, die die in die gleiche Richtung weisende, letztlich aber inkonsequent gebliebene Konzeption Frischi 4 zu Ende gedacht hat und zugleich mit der Formel von der "Erkenntnis eines ernstzunehmenden Risikos" die in der Rechtsprechung meist nur unter der Hand berücksichtigten objektiv-normativen Kriterien in den Vorsatzbegriff integriert hat25 . Ihre Veranschaulichung durch die Formel von der "unabgeschirmten Gefahr,,26 ist in den AIDS-Fällen besonders plakativ. Und ihre enorme Überzeugungskraft beweist sie selbst noch im Spiegel ihrer Kritiker, so wenn etwa Bottke in seinem mit Kritik an Herzberg durchaus nicht geizenden AIDS-Essay weitgehend die gleiche Vorsatzkonzeption vertritt27 oder wenn sich Prittwitz zu einer ausdrücklichen Verteidigung des voluntativen Vorsatzelernents gezwungen sieht, ohne dafür eigentlich handhabbare begriffliche Kriterien anbieten zu können28 . Ich würde diesen kognitiv-objektiven Vorsatzbegriff als eines der aufregendsten Kapitel der modemen Strafrechtsdogmatik am Beispiel der AIDS-Infizierung gerne diskutieren, muß mich aber heute 29 hierzu auf drei Anmerkungen beschränken: Zum ersten wird die in BGHSt 36, 1, 10 ausdrücklich geforderte sog. voluntative Komponente, bei der es sich ja in Wahrheit um die Berücksichtigung irrational-emotionaler Faktoren handelt 3o , gerade auch durch die Fälle der HIV-Infizierung anderer ad absurdum geführt, denn die für den Rechtsgüterschutz allein relevante Gestaltungsentschei24 Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 26 ff., 482 ff.; ders., JuS 1990,362,366 ff.; ders., Meyer-GS, 1990, S. 533 ff., 545 ff., wo auf S. 546 eine Identität zwischen der traditionellen und der eigenen Auffassung reklamiert wird. Die von Frisch nunmehr im Anschluß an seinen Schüler Freund (Normative Probleme der "Tatsachenfeststellung", 1987, S. 22 ff.) hinzugefügte "prozessuale Dimension der Vorsatzfeststellung" (Meyer-GS a. a. O. S. 550 ff.) führt naheliegenderweise in Ermangelung eines deutlichen Vorsatzbegriffs auch nicht weiter: Wenn das ganze Hantieren mit dem Inkaufnehmen des Erfolges (h.M.) oder dem Für-sichAusgehen von dessen realistischer Möglichkeit (Frisch) der in der Regel zwischen Hoffen und Bangen permanent schwankenden psychischen Realität beim Täter inadäquat ist (Schünemann, GA 1985, 341, 362 f.), dann kann auch bei den prozessualen Regeln nicht mehr herauskommen, wie Frisch selbst dadurch schlagend unter Beweis stellt, daß er auf den Charakter des Täters weiterverweist und bei einem Optimisten eher Vorsatz bejahen will als bei einem Skeptiker (Meyer-GS a. a. O. S. 558), was kriminalpolitisch zu absurden Konsequenzen führt. 2S Herzberg, JuS 1986, 249, 254 ff.; ders., NJW 1987, 1461 ff.; 2283 f.; ders., JuS 1987, 777 ff. 26 Herzberg, JuS 1986,249,254 ff.; ders., NJW 1987, 1461, 1464; 2283; ders., JuS 1987, 777,780 ff. 27 In: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 171, 194 ff. 28 - Fn. 4 -, S. 149, sowie ausführlicher in: StV 1989, 123 ff.; JA 1988,486,496. 29 Näher dazu und zum Aufbau eines typologischen Vorsatzbegiffes unter Berücksichtigung der AIDS-Problematik Schünemann, Chengchi Law Review 1994 (Vol. 50),259 ff. 30 Vgl. außer meiner Kritik in GA 1985,362 f. eingehend KargI, Der strafrechtliche Vorsatz auf der Basis der kognitiven Handlungstheorie, 1993, S. 37 ff., 61 ff.
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dung des Täters hängt nur davon ab, was er weiß und was er tut, während die ihn dabei begleitenden Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen nur etwas über seinen Charakter aussagen und folglich nur in einem Täterstrafrecht Beachtung beanspruchen könnten. Zweitens scheint mir die Konzeption von Herzberg allerdings dazu gezwungen zu sein, Gefährdungsvorsatz und Verletzungs vorsatz in eins zu setzen, was mit der Konzeption des Gesetzgebers, der diese Vorsatzformen oft genug unterscheidet, kollidieren dürfte. Und drittens möchte ich deshalb vorschlagen, den kognitiv-objektiven Vorsatzbegriff in einen typologischen Vorsatzbegriff fortzuentwickeln, der von zwei normativen Bezugssystemen, nämlich einerseits von der Tatherrschaft und andererseits von der rechtsgüterfeindlichen Gesinnung reguliert wird und bei dem es deshalb von dem generalpräventiv relevanten Bedrohungserlebnis der Gesellschaft abhängt, ob bei der Kenntnis des Täters von einer sei es auch nur geringen Erfolgswahrscheinlichkeit der Vorsatz zu bejahen oder zu verneinen ist. In diese generalpräventiv relevanten Einstellungskriterien gehören nun der Wert oder Unwert des Endzwecks des Handeins, die Bereitschaft des Taters, das Risiko auch selbst zu übernehmen, das Ausmaß der Tatherrschaft über das Opfer sowie die Risikogewöhnung der Gesellschaft, weshalb die Rechtsprechung bisher in durchaus konsequenter Intuition bei riskantem Verhalten im Straßenverkehr den Vorsatz verneint, bei der HIV-Infizierung hingegen häufig bejaht hae I . Wer also etwa in Kenntnis seiner eigenen HIV-Infektion mit einem Partner ungeschützt sexuell verkehrt, der die Infektion nicht kennt und auch nicht etwa aufgrund eines Desperado-Kontaktes damit ohne weiteres rechnet, unterscheidet sich durch seine überlegene Situationskenntnis und damit Tatherrschaft, durch die fehlende eigene Bereitschaft zur Übernahme eines Verletzungsrisikos und durch die fehlende Risikogewöhnung der Gesellschaft signifikant von demjenigen, der bei einem riskanten Manöver im Straßenverkehr die gleichen Risiken selbst eingeht, wie er sie seinem Gegenüber zumutet, der die Situation auch nicht besser als dieser überblickt und gegenüber dessen Verhalten die Gesellschaft inzwischen nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine normative Anpassung in Gestalt der Spezialnorm des § 315 c StGB entwickelt hat. Im ersten Fall Vorsatz zu bejahen, im zweiten zu verneinen wäre deshalb selbst bei statistisch gleichem Verletzungsrisiko durchaus zu rechtfertigen. Erst wenn der Täter die Realisierung des von ihm beherrschten Infektionsrisikos nicht mehr dem Zufall überläßt, sondern durch Praktiken des konsequenten Safer-Sex dagegen Vorsorge trifft, wird man auch im AIDSFall den Verletzungsvorsatz verneinen müssen.
31 Die tatrichterliche Annahme eines bedingten Verletzungsvorsatzes wurde nicht beanstandet in BGHSt 36, 1, 9 ff.; 36, 262, 266 f.; vgl. ferner die instanzgerichtlichen Entscheidungen LG Nümberg-Fürth NJW 1988, 2311; AG Hamburg NJW 1989, 2071; LG Kempten NJW 1989,2068; AG München NJW 1987,2314; LG München I AIFO 1991,598; LG Hechingen AIFO 1988, 220.
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4. Die Zurechnung der Spätfolgen und ihre tatbestandliche Qualifikation: Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung?
Ebenso große Probleme wie die objektive und die subjektive Zurechnung der Infektion als des unmittelbaren Verletzungserfolges bereitet auch die Zurechnung der weiteren Krankheitsfolgen bis hin zum tödlichen Ausgang, was sich in entsprechenden Tatbestandsproblemen des Besonderen Teils niederschlägt. Hier geht es deshalb teilweise um eine positivrechtliche Frage der einzelnen nationalen Strafgesetze, teilweise aber auch um überpositive Konsequenzen aus den sachlogischen Zurechnungsbedingungen tatferner, dem Einflußbereich des Täters entzogener und auch forensisch nicht mehr recht zu bewältigender Spätfolgen. Zwar hat der Bundesgerichtshof die Abgrenzung zwischen Tötungs- und Körperverletzungsdelikt bei der Infizierung anderer mit HIV ausschließlich in den subjektiven Tatbestand verlegt und mit dem Argument zu lösen versucht, daß vor der Tötung eines Menschen eine viel größere Hemmschwelle als vor dessen Verletzung liege und deshalb regelmäßig nur Körperverletzung anzunehmen sei32 . Aber das ist ein völlig verfehltes, die faktische und die normative Ebene konfundierendes Argument, denn wenn die Hemmschwelle bei der Tötung tatsächlich höher iäge und wenn die Tat objektiv ein Tötungsdelikt wäre, so hätte das eben zur Folge haben müssen, daß der Täter überhaupt nicht gehandelt hätte, während die nachträgliche Herabstufung seiner Tat zu einem bloßen Verletzungsdelikt auf einer Verwechselung von Hemmschwelle und Verdrängungswunsch beruht. Außerdem ist es auch nach nahezu jeder Theorie zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit ungereimt und widersprüchlich, wenn man trotz des statistisch geringen Infektionsrisikos 33 einen Verletzungsvorsatz bejaht, für den Fall der Infektion aber trotz der dann äußerst großen Wahrscheinlichkeit für einen letalen Verlauf den Tötungsvorsatz verneinen will 34 • Die Abgrenzung muß deshalb im Bereich des objektiven Tatbestandes gesucht werden, und zwar auf drei Ebenen: ob bereits die Infektion als solche eine Körperverletzung darstellt oder erst nach dem Auftreten äußerlich wahrnehmbarer Krankheitssymptome; ob nur die Körperverletzungsdelikte, nur die Tötungsdelikte oder beide nebeneinander anwendbar sind; und welches derjenige Tatbestand ist, der auf die Infizierung mit HIVam besten zugeschnitten ist. a) Nach den heutigen medizinischen Erkenntnissen führt die Infizierung eines anderen mit HIV dazu, daß - nach möglicherweise kurzfristig auftretenden, grippeähnlichen Symptomen - zunächst eine längere Latenz- bzw. Inkubationszeit ohne äußerlich wahrnehmbare Symptome verstreicht, die über eine chronische 32 BGHSt 36, 1, 15 m.w.N.; 36, 262, 267; dazu mit Recht krit. Puppe, ZStW 103 (1991), 1,8 f.; dies., NStZ 1992,576 f. 33 Vgl. dazu Weyer/Schmidt, AIFO 1988, 154, 156 und Weyer/SchmidtlKörner, AIFO 1988,206,210. 34 Zutreffend AG Kempten NJW 1988,2313,2315; w.N.b. Frisch, Meyer-GS, 1990, S. 553 Fn.89.
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Lymphadenopathie und das daran anschließende ARe-Stadium ("AIDS-related complex") zum Vollbild von AIDS führt, das aufgrund schwerer opportunistischer Infektionen und/oder von Krebserkrankungen zum Tode führt, wobei diese Entwicklung nach heutiger Einschätzung für die meisten, vielleicht sogar für alle mit HIV infizierten Personen unausweichlich ist35 • Daß unter diesen Umständen bereits die Infektion mit dem tödlichen Virus, selbst wenn zunächst keine äußerlich spürbaren Symptome auftreten, die körperliche Integrität als geschütztes Rechtsgut der §§ 223 ff?6 in gravierender Form verletzt und deshalb als eine "Gesundheitsbeschädigung" im Sinne des § 223 qualifiziert werden muß, ist für eine teleologische Begriffsbildung, wie sie in einer modemen Rechtsordnung unabweisbar ist, ebenso evident wie die Vereinbarkeit dieser Auslegung mit dem Umgangssprachgebrauch, der die Gesundheit einer mit einem letalen Virus infizierten Person völlig unabhängig davon als beschädigt bezeichnen wird, ob der Betroffene dies selbst bemerkt hat oder bemerken kann und ob eine an äußerlichen Symptomen diagnostizierbare, spezielle Erkrankung im Sinne medizinischer Krankheitsbilder vorliegt oder noch nicht. Die gegenteilige Auffassung des AG Kempten 37 ist mithin abwegig und bedarf hier schon deshalb keiner ausführlichen Widerlegung, weil sie in Rechtsprechung und Schrifttum auf einhellige und wohlbegründete Ablehnung gestoßen ist38 . b) Weitaus schwerer zu beantworten ist dagegen die Frage, ob die als Körperverletzung zu qualifizierende Infektion wegen der in den meisten oder sogar allen Fällen unabweisbaren letalen Konsequenzen strafrechtlich als Teilstück einer Tötungshandlung und damit - solange der Verletzte noch am Leben ist - als mögliche objektive Komponente eines Tötungsversuches zu qualifizieren ist. Obwohl die Rechtsprechung diese Frage bisher ohne viel Federlesen bejaht hat - sei es ausdrücklich 39, sei es durch die Bejahung des Tatbestandsmerkmals der "lebensgefährdenden Behandlung" in § 223 a und durch die Vemeinung lediglich des auf den Tötungserfolg gerichteten subjektiven Tatbestandes des § 21240 - und obwohl 35 Vgl. dazu Maass, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 16 ff.; Stille, in: Burkel (Hrsg.), Der AIDS-Komplex, 1988, S. 52 ff.; Koch, AIDS, 1987, S. 15 ff.; Redfield-Burke, Spektrum der Wissenschaft 12/1988, S. 98 ff.; Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), AIDS: Fakten und Konsequenzen, Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" des Deutschen Bundestages, Zur Sache 3/88, S. 63 ff.; w.N. in Fn. 52, 104. 36 Schönke/Schröder/Eser, StGB, 24. Aufl. 1991, § 223 Rn. 1; Dreher/Tröndle, StGB und Nebengesetze, 47. Aufl. 1995, § 223 Rn. I; Systematischer Kommentar/Horn, § 223 Rn. 3 (Sept. 1994). 37 AIFO 1988,640,641. 38 Vgl. nur Bottke, AIFO 1988,628,629 f.; BGHSt 36, 1,6 f.; beide m.w.N.; vgl. ferner bereits Eberbach, JR 1986, 230, 232; Herzberg, AIFO 1987, 52; Bruns, MDR 1987, 353, 356; Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987, 360, 363; Bottke, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 178 f. 39 LG München I AIFO 1987,648,649; AG Kempten AIFO 1988,640,642 f. 40 Zur Annahme des § 223a vgl. AG München NJW 1987, 2314; AG Kempten NJW 1988, 2313; LG Hechingen AIFO 1988, 220; LG München I AIFO 1988, 524; BGHSt 36, I, 9.
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auch in der Literatur kaum Bedenken gegenüber einer Subsumtion unter den objektiven Tatbestand der §§ 211 ff. geäußert worden sind4 1, führt das Verständnis der Infektion als Tötungshandlung, wenn man es konsequent durchhält, nicht nur zu prekären, von der Rechtsprechung offenbar als nicht akzeptabel empfundenen Ergebnissen, sondern erscheint auch von seinen Prämissen her - dem Verhältnis der Verletzungs- und Tötungsdelikte und den Besonderheiten eines erst nach langwierigem Siechtum zum Tode führenden Prozesses - nicht überzeugend42 • aa) Der BGH hat die objektive Qualifikation der Infizierung mit HIV als Tötungshandlung anscheinend vom Ergebnis her deshalb als unproblematisch angesehen, weil er das Erfordernis des Tötungsvorsatzes als ein ausreichendes Korrektiv empfunden und im konkreten Fall dessen VerneiilUng durch den Tatrichter gebilligt hat43 . Aber gerade diese vordergründig salomonische Lösung ist - wie schon bei der Erörterung des subjektiven Tatbestandes (s.o. 11. 3.) bemerkt worden ist - im Rahmen nahezu jeder Theorie zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit ungereimt und widersprüchlich, weil man nicht zugleich einen Verletzungs vorsatz trotz des statistisch geringen Infektionsrisikos44 bejahen, einen Tötungsvorsatz für den Fall der Infektion aber trotz der dann äußerst großen Wahrscheinlichkeit für einen letalen Verlauf verneinen kann. Und auch davon abgesehen wäre es wenig befriedigend, wenn die Qualifikation des Geschlechtsverkehrs eines HIV-Infizierten entweder (nur) als Körperverletzung oder (sogar) als versuchter Totschlag oder Mord von den forensisch schwer rekonstruierbaren Feinheiten seiner Einstellung zum Partner und den Imponderabilien der tatrichterlichen Feststellungen dazu abhängen würde - bis hin zu der Konsequenz, daß für ein und dasselbe Verhalten völlig unterschiedliche Strafen zu verhängen wären, je nach dem Ergebnis der im Gerichtssaal betriebenen Gewissenserforschung. bb) In dogmatischer Hinsicht geht es bei der Infektion mit HIV um die Herausnahme von Spätfolgeschäden, deren Ablauf im einzelnen weder vom Täter noch von der Gesellschaft voraussehbar ist und sich vor allem im weiteren Ablauf jeglicher Beherrschung durch den Täter vollständig entzieht, aus dem im Tatbestand erfaßten Geschehenszusammenhang. Daß eine solche Begrenzung des tatbestandlich vertypten Geschehensausschnittes im Strafrecht nichts Ungewöhnliches ist, lehren schon die Fahrlässigkeitsdelikte, wo eine Herausnahme der Spätfolgeschäden aus dem Zurechnungszusarnmenhang im Schrifttum weithin anerkannt ist45 • Zwar darf 41 Der Streit geht vielmehr immer nur um den subjektiven Tatbestand, vgl. Bruns, MDR 1987,353,356; ders., NJW 1987,2281,2282; Herzberg, NJW 1987, 1461, 1463 ff., 2283 f.; ders., JuS 1987, 777, 778 ff.; ders., JZ 1988, 573 ff., 635 ff.; Herzog/Nestler-Tremel, StV 1987,360,363 ff.; Bottke, AIFO 1988,628,636 f.; Prittwitz, JA 1988,501 f.; Geppert, Jura 1987, 672; eingehend Bottke, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 188 ff.; ders., AlFO 1988, 628,636 f. 42 Vgl. bereits Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 483 ff.; ders., JR 1989, 89 ff. 43 BGHSt 36, 1, 15 f. 44 S.o. Fn. 33, 35.
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man selbstverständlich strafbarkeitseinschränkende Rechtsfiguren des Fahrlässigkeitsdelikts nicht unbesehen auf das Vorsatzdelikt übertragen, weil eine solche afortiori-Argumentation lediglich in umgekehrter Richtung überzeugend wäre, sondern muß jeweils die Unterschiede zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung beachten. Aber gerade der Grund für den Ausschluß der Spätfolgeschäden aus der Fahrlässigkeitshaftung - die konkrete Unvorhersehbarkeit und Unbeherrschbarkeit des Ablaufs im einzelnen - läßt die Übertragung dieses Grundsatzes auf den Vorsatzbereich angebracht und hier sogar besonders naheliegend erscheinen, weil das Vorsatzdelikt durch die intensivere Art und Weise der Geschehensbeherrschung gekennzeichnet ist, an der es hinsichtlich der Spätfolgeschäden besonders eklatant mangelt. Freilich darf man diese Idee einer aus der Eigenart der Spätfolgeschäden abgeleiteten, restriktiven Tatbestandsauslegung noch nicht mit dem Nachweis verwechseln, daß den §§ 223 ff., 211 ff. nun auch wirklich eine solche Konzeption unausgesprochen zugrunde liegt. Es ist deshalb geboten, sie auf allen Stufen der konventionellen Gesetzesinterpretation sorgfältig zu überprüfen. aaa) Im Rahmen der grammatischen (besser: alltagssemantischen) Auslegung als erster Interpretationsstufe46 leuchtet zunächst ein, daß nach dem sozialen Sprachgebrauch unter einer "Tötung" als dem genus proximum der §§ 212 ff. nur ein auch in den Details zwangsläufig und kurzfristig von der Täterhandlung zum Erfolg ablaufender Prozeß verstanden wird, was in der vom Gesetzgeber vorgenommenen Kennzeichnung des § 212 als "Totschlag" als des Grundtatbestandes sämtlicher Tötungsdelikte47 besonders deutlich zum Ausdruck kommt, weil die Versetzung in ein langwieriges, irgendwann zum Tode führendes Siechtum evidentermaßen von den umgangssprachlichen Verwendungsregeln dieses Ausdrucks nicht mehr erfaßt wird und damit außerhalb seines sog. Bedeutungshofes liegt, kurz: die Wortlautgrenze überschreitet48 . Und auch bei der Tathandlungsbezeichnung "töten" sträubt sich das Sprachgefühl49 gegen die Einbeziehung erst langfri45 Vgl. dazu bereits Roxin, Gallas-FS, 1973, S. 253 ff.; SKlRudolphi, Rn. 77 vor § 1 m.w.N. (Juli 1994); Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 127 f.; Schünemann, JA 1975,720. Entgegen Herzberg (JuS 1987,780) betritt man hiermit also kein dogmatisches Neuland. 46 Vgl. Schünemann, Klug-FS, 1983, S. 169, 176 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 f.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 670; Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982, S. 153. 47 Schönke/Schröder/Eser (Fn. 36), § 212 Rn. 1; LKlJähnke, 10. Aufl., § 212 Rn. 1 (1980); SKIHorn, § 212 Rn. 1 (Mai 1993); LacknerlKühl, StGB, 21. Aufl. 1995, Vor § 211 Rn. 22; Dreher/Tröndle, StGB (Fn. 36), § 211 Rn. 14; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1,8. Aufl. 1995, S. 28 f.. 48 Vgl. zur Wortlautgrenze und zum Kern-Hof-Ansatz Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1979, S. 17 ff.; ders., Klug-FS, 1983, S. 177 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 166 f. Den Hinweis auf die Bedeutung der vom Gesetzgeber gewählten Tatbestandsdefinition "Totschlag" verdanke ich meinem Kritiker Bottke, AIFO 1988, 632, 635. 49 Entgegen Bottke (Fn. 48).
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stig wirksamer Kausalprozesse: Wer von seinem Sexualpartner mit HIV infiziert worden ist, würde mit der in einem umgangssprachlichen Diskurs aufgestellten Behauptung, sein Partner habe ihn zu töten versucht und der Versuch sei auch keinesfalls fehlgeschlagen, nur Kopfschütteln hervorrufen, und das auch mit gutem Grund. Denn darin kommt die intuitiv richtige soziale Wertung zum Ausdruck, daß sich der endgültige Ausgang eines langwierigen Siechtums (und damit erst recht einer jahrelang u.U. symptomlosen Infizierung mit letalen Lentiviren) nicht dazu eignet, den Charakter einer in ihren unmittelbaren Folgen (nur) als tiefgreifende und irreparable "Gesundheitszerstörung" zu bewertenden Handlung zu verändern und daraus eine Tötungshandlung zu machen. bbb) Auch die historische Auslegung spricht für dieses Ergebnis, denn es läßt sich - worauf sogleich bei der Erörterung des § 229 zurückzukommen ist - zeigen, daß schon der preußische Gesetzgeber, auf dem das StGB in diesem Bereich vollständig fußt, bei der Ausgestaltung des Tatbestandes der Vergiftung (heute § 229) neben dem Giftmord (heute § 211) u. a. an eine Infizierung mit langfristig letalen Krankheitskeimen (z. B. "Syphilisgift") gedacht hat5o . ccc) Ein besonderes Gewicht kommt im vorliegenden Zusammenhang der systematischen Auslegung zu, die in allen denkbaren Formen fruchtbar zu machen ist, von der Systematik innerhalb des einzelnen Straftatbestandes bis hin zum Zusammenhang von materiellem Recht und Prozeßrecht. (1) Weil wegen der Sterblichkeit des Menschen jede Tötung begrifflich nur eine Lebensverkürzung ist und weil jede ernsthafte Verletzung wegen des dadurch eintretenden Verbrauchs vitaler Ressourcen die restliche Lebenserwartung verringert, muß - wenn die Unterscheidung von Tötungs- und Verletzungsdelikten nicht ad absurdum geführt werden soll - der Begriff der Tötung von vornherein so gefaßt werden, daß die lebenserwartungsschmälernden Folgen von Körperverletzungen nicht darunter fallen. Der nach Jahren zu erwartende, womöglich sogar mit Sicherheit prognostizierbare tödliche Ausgang liefert deshalb noch keinen zureichenden Grund für eine Subsumtion unter den Tötungsbegriff; die gegenteilige Annahme wäre ein die systematischen Zusammenhänge von Verletzung und Tötung verfehlender Kurzschluß. (2) Daß auch der Gesetzgeber dies zumindest intuitiv richtig erkannt hat, wird auf der zweiten Stufe der systematischen Auslegung offenbar: In den §§ 224/225 sind besonders schlimme Verletzungserfolge (im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig: "Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit") und in § 229 ist die Beibringung von zur "Gesundheitszerstörung" geeigneten Stoffen zum Anlaß für eine Bildung von Unrechtstypen genommen worden, bei denen die voraussehbare wesentliche Lebensverkürzung offensichtlich bereits berücksichtigt und bei der Festlegung des Strafrahmens verarbeitet worden ist. Denn der als Siechtum be50 Vgl. Schwarze, Commentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 1871, S. 508; RüdorfflStenglein, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 4. Aufl. 1892, § 229 Anm. 3 a.E.; Skrzeczka, Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 1866,258.
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zeichnete "chronische Krankheitszustand, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht und ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeine Hinfälligkeit (!) zur Folge hat" in den §§ 224/225 wie auch die Tauglichkeit zur Gesundheitszerstörung, d. h. "zur umfangmäßig weitreichenden und zeitlich nicht nur vorübergehenden Aufhebung wesentlicher körperlicher Funktionen" in § 22951 tragen ihren lebensabkürzenden Effekt geradezu auf der Stirne geschrieben und wirken sogar wie antizipierte Beschreibungen des Spätstadiums von AIDS. Eine solche spezialgesetzliche Regelung des "Amfortas-Syndroms", wie ich es hier nennen möchte, wäre aber sinnlos, wenn die lebens abkürzende Wirkung des Siechtums unter die Tötungstatbestände subsumiert werden müßte. (3) Die dritte Stufe der systematischen Interpretation wird von dem Verhältnis zum Allgemeinen Teil des Strafrechts gebildet, das hier in Form einer Diskrepanz zu den Rücktrittsvorschriften des § 24 in Erscheinung tritt, wenn man die Infizierung mit HIVals einen versuchten Totschlag qualifizieren wollte. Denn wie sollte man über die Einlassung des wegen Totschlages Angeklagten entscheiden, daß er sich seit Beendigung des "Tötungsversuches" (mit Abschluß des Sexualverkehrs) ständig bemüht, sein Opfer durch Übersendung homöopathischer Mittel u.ä. am Leben zu erhalten, und daß auch in Kürze mit der Verfügbarkeit eines beliebig lebensverlängernden Gegenmittels zu rechnen sei, so daß die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts gern. § 24 Abs. I S. 2 vorlägen?52 Bottke hat dagegen eingewendet, daß diese Argumentation rücktritts- und strafbegründungsdogmatisch irrelevant sei, weil man von einem beendeten tauglichen Versuch nur dann strafbefreiend zurücktreten könne, wenn man die Erfolgseintrittsgefahr durch ex ante taugliche Abwehrmaßnahmen paralysiere 53, aber das trifft die AIDS-spezifische Problematik nicht: Sofern das Opfer (was bis zu seinem Tode in dubio pro reo unterstellt werden muß) den Tag der Entwicklung eines erfolgreichen Gegenmittels erlebt, erweist sich der Versuch (nachträglich) als fehlgeschlagen; bis dahin ist er jedoch noch vollendbar und deshalb auch rücktrittsfähig, und zwar nicht nur durch aktive Abwendung des Erfolges gern. § 24 Abs. I S. I 2. Alt., sondern auch gern. § 24 Abs. 1 S. 2 durch "freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung zu verhindern". Weil das Gesetz in § 24 Abs. I Satz 2 den nachträglich fehlgeschlagenen Versuch ebenso behandelt wie den von Anfang an untauglichen Versuch, muß es zur Erfüllung des Rücktrittsprivilegs ausreichen, wenn der Täter aus seiner Sicht alle ihm zur Verfügung stehenden Verhinderungsmöglichkeiten ausschöpft54 , was
51 Vgl. nur BGH bei Dallinger, MDR 1968, 17; BGHSt 4, 278; LacknerlKühl, StGB (Fn. 47), § 224 Rn. 5, § 229 Rn. 2. 52 Vgl. bereits Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 485, sowie zu den Aussichten auf unabsehbare Lebensverlängerung durch frühzeitige Behandlung mit AZT Jäger, in "Der Spiegel" Nr. 3411989, S. 180 f., und den Bericht im "Stern" Nr. 3611989, S. 24 ff. 53 AIFO 1988, 635 unter Hinweis auf dens., Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Taterverhalten, 1979, S. 531 ff.; ebenso mit im wesentlichen gleicher Argumentation Schlehofer, NJW 1989,2017, 2024.
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bei der Hingabe vitalitätsstärkender Mittel an das Opfer zwecks Lebensverlängerung bis zur Verfügbarkeit eines kausalen Gegenmittels schwerlich verneint werden kann. Zumindest die fortbestehende Rücktrittsfähigkeit des etwa anzunehmenden versuchten Tötungsdelikts wird man deshalb nicht ausschließen können und damit unweigerlich in einer Offenheit der strafrechtlichen Subsumtion steckenbleiben, die der Gesetzgeber sicherlich nicht im Sinne gehabt hat, als er die von ihrer sprachlichen Fassung her offensichtlich auf eine enge Zeitspanne zwischen Versuch und Aburteilung zugeschnittene Rücktrittsvorschrift des § 24 formulierte. (4) Diese Diskrepanz wird auf der vierten systematischen Ebene, die das Verhältnis von materiellem Recht und Prozeßrecht betrifft, noch eklatanter: Anstelle eines schließlich erfolgreichen Rücktritts ist ja die andere Alternative weitaus näherliegend, nämlich daß das Opfer an den Folgen der Infektion nach kürzerem oder längerem Siechtum verstirbt, was konsequenterweise eine Verurteilung wegen vollendeten Totschlages oder Mordes und deshalb eigentlich ein entsprechendes Abwarten der Strafverfolgungsbehörden erfordern müßte. Daß man aber nun bei der strafrechtlichen Verfolgung des Infizierers auf das AIDS-bedingte Ableben des Opfers nicht nur zufälliger-, sondern typischerweise nicht warten kann, liegt auf der Hand und ist nicht nur pragmatisch, sondern auch normativ überzeugend: Soll die Justiz gewissermaßen am Krankenlager des Infizierten Protokollheft bei Fuß stehen, um endlich den erwarteten (?) Exitus konstatieren zu können, und soll im Prozeß Beweis über die Einlassung des Angeklagten erhoben werden, der Infizierte habe in den letzten fünf Jahren fortlaufend auf eigene Gefahr gehandelt und sein Ende durch eine schädliche Lebensführung beschleunigt, die man jetzt nicht ihm, dem Angeklagten, anlasten könne? Offenbar macht es keinen Sinn, nach Herbeiführung eines Siechtums, welches irgendwann einmal zum Tode führen wird, mit der Strafverfolgung bis auf den Abschluß dieses langwierigen Ablaufes zu warten. Und der statt dessen ohne große Erörterung befürwortete Ausweg, den Infizierer lediglich wegen versuchter Tötung zu bestrafen55 , birgt nicht weniger intrikate Probleme: Wenn der Infizierte nach Rechtskraft der Verurteilung wegen Körperverletzung schließlich stirbt, soll dieser Eintritt der endgültigen Rechtsgutsverletzung nur noch nach einer heute in die Minderheit geratenen Auffassung mit Hilfe einer 54 So ausdrücklich BGHSt 31, 46, 49 f.; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 36), § 24 Rn. 71 m.w.N. Die Wendung in BGHSt 31, 50 oben, daß der Tater eine "wenigstens aus seiner Sicht ausreichende" Verhinderungsmöglichkeit ausschöpfen müsse, war für den konkreten Fall sinnvoll, da der Täter die ihm möglichen und bekannten Abwendungsmaßnahmen nicht ausgeschöpft hatte (wie übrigens auch im Fall BGH NJW 1985, 813 f., so daß die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Fälle durch den BGH, die bei Eser (a. a. 0.) nicht beanstandet wird, keinesfalls einleuchtet). Daraus kann man dann aber nicht, wie es bei einem bloßen Wortlautverständnis des Leitsatzes in BGHSt 31, 46 scheinen könnte, für den Fall der Verfügbarkeit lediglich unsicherer Abwehrmittel die Folgerung ziehen, daß bei deren Ausschöpfung überhaupt kein strafbefreiender Rücktritt möglich sei, denn § 24 Abs. 1 Satz 2 fordert nun einmal nicht ein garantiert erfolgreiches, sondern nur ein "ernsthaftes Bemühen", d. h. die Ausschöpfung aller dem Täter erkennbaren und zur Verfügung stehenden Abwendungsmöglichkeiten. 55 Vgl. nur nochmals Bottke, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 201 ff. m.z.w.N.
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sog. Vervollständigungsklage in einem neuen Verfahren berücksichtigt werden können 56 , ohne daß aber die Strafprozeßordnung für die hierbei drohende unerträgliche Konsequenz einer kumulativen Doppelbestrafung irgendeine Vorsorge getroffen hätte. Und nach der speziell auch für die AIDS-Problematik von Bottke für zutreffend erklärten h.M. 57 , daß der später eingetretene Tod des Opfers wegen des Grundsatzes "ne bis in idem" (Art. 103 Abs. 3 GG) strafprozessual unberücksichtigt bleiben müsse, wäre ohnehin davon auszugehen, daß gerade der Schlußpunkt der Verletzung objektivaußerhalb der strafrechtlichen Jurisdiktion verbleibt, weshalb dann aber eine ausschließlich subjektive Zurechnung durch Verurteilung wegen versuchter Tötung erst recht ungereimt erscheinen muß, weil ja alles so gekommen ist, wie es der Täter vorausgesehen hat - während für das Versuchsdelikt die Diskrepanz von Tatplan und Realisierung typisch ist58 ! Die "strafrechtsgestaltende Kraft des Strafverfahrens,,59 gebietet deshalb eine abschließende tatbestandliehe Vertypung der Infektion als solcher, wenn nicht im Gesamtsystem der Strafrechtspflege schwerste Brüche und Unzuträglichkeiten auftreten sollen. ddd) Nach diesem schlechthin eindeutigen Ergebnis der grammatischen, historischen und vor allem der systematischen Auslegung brauchen zur teleologischen Interpretation nur noch wenige Worte verloren zu werden. Es wäre ein fehlerhafter Inversionsschluß, wenn man zwecks besseren Schutzes des Rechtsgutes "Leben" eine Anwendung der §§ 211 ff. verlangen wollte, denn es stellt eine Verkrüppelung des teleologischen Denkens dar, wenn man darunter im Strafrecht nur eine Auslegung vom geschützten Rechtsgut her verstehen wollte und eine systematische Verarbeitung der für die Tathandlung relevanten Gesichtspunkte verabsäumen würde 6o . Unter den mit der teleologischen Auslegung aufgerufenen maßgeblichen kriminalpolitischen Aspekten ließe sich deshalb nur dann ein selbständiges Argument für die Anwendung der Tötungstatbestände gewinnen, wenn dadurch ein im Vergleich zur Verurteilung wegen Körperverletzung oder Vergiftung nachweisbarer zusätzlicher Präventionseffekt erzielt werden könnte. Bottke hat in eindringlichen Worten darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber durch die "wahrheitsharte" Benennung als Tötungsde1ikt dem integrationspräventiven Bedürfnis Rechnung trage, 56 In diesem Sinne Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Auf!. 1968, S. 388 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 24. Auf!. 1995, 50/17; Rüping, Das Strafverfahren, 2. Auf!. 1983, S. 159 f.; Busch, ZStW 68 (1956),11. 57 So BVerfG NStZ 1984, 325 m. Anm. v. Schnarr; Achenbach, ZStW 87 (1975), 85,95; Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 24. Auf!. 1988, Ein!. Kap. 12 Rn. 369; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Auf!. 1983, S. 653 ff.; Bottke, AIFO 1988,635 m. Fn. 52. 58 Auf diesen entscheidenden Gesichtspunkt gehen weder Bottke (AIFO 1988,635) noch Schlehofer (NJW 1989, 2024) ein, so daß sie die Achillesferse der h.M. offensichtlich nicht abzudecken vennögen. 59 Vg!. dazu allgemein Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff., ferner zur Bedeutung des prozessualen Argumentes allg. auch Frisch (Fn. 6), S. 501 ff. 60 Vg!. dazu Schünemann, Bockelmann-FS, 1979, S. 117, 129 ff.; ders., Faller-FS, 1984, S. 357, 361 f.
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anderen schuldhaft zugefügtes Unrecht im Tatspruch wirklichkeitsbenennend zu markieren, um so künftigen intolerablen Normbrüchen wirklichkeitsgestaltend entgegenzuwirken61 . Dem ist insoweit ohne jede Einschränkung beizupflichten, als die Rücksicht auf das eigene prekäre Schicksal des Täters nicht dazu führen darf, die gesellschaftliche Grundnorm "neminem laede" bei sexuellen Interaktionen zu suspendieren und den AIDS-Bereich gewissermaßen zum rechtsfreien Raum zu erklären - wie es in progressiv aufgezäumten Beiträgen heute vielfach propagiert wird. Denn wie im Rahmen der kriminalpolitischen Überlegungen noch näher auszuführen ist, kann auf die normstabilisierende Funktion des Strafrechts gerade in moralisch diffusen oder durch verworrene Beiträge61a diffus gemachten Interaktionsfeldern nicht verzichtet werden. Diese Notwendigkeit einer Verhaltensnormpräzisierung und -akzentuierung durch das Strafrecht besagt aber noch nicht, daß die generalpräventiv wirksame Normstabilisierung nur durch die Heranziehung des Tötungsverbotes erfolgen kann. Denn weil es sich auch bei den Verletzungstatbeständen der §§ 224 und 225 und beim Tatbestand der Vergiftung gern. § 229 um Verbrechen handelt, die mit einer Mindeststrafe von einern Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind, läßt sich schwerlich nachweisen, daß die Eindruckskraft dieser Normen zu gering wäre, um einern HIV-Infizierten das Unwerterlebnis der Weiterübertragung des Virus zu vermitteln. Eher könnte man sogar umgekehrt argumentieren, daß die Heranziehung des Tötungsverbotes, die - wie oben dargelegt - mit dem sozialen Sprachgebrauch nicht harmoniert, von den Betroffenen als unangebracht empfunden und deshalb eher normdestabilisierend wirken würde, also kontraproduktiv wäre. cc) Als Ergebnis ist damit festzuhalten, daß die Infizierung eines anderen mit HIV schon vom objektiven Tatbestand her nicht unter die Tötungsdelikte subsumiert werden kann, wobei es in konstruktiver Hinsicht am folgerichtigsten sein dürfte, das "Amfortas-Syndrom" aus dem strafrechtlichen Begriff der Tötung zu eliminieren und in den §§ 224, 225 und 229 exklusiv geregelt zu finden. Die konstruktive Alternative, (lediglich) eine Spezialität der Verletzungsdelikte und damit eine Verdrängung der Tötungsdelikte auf der Konkurrenzebene anzunehmen, führt nicht nur zu Schwierigkeiten bei der Ableitung der gleichen Lösung für die Fahrlässigkeitsdelikte, sondern vermag auch die in der Zurechnungsdogmatik anzusiedelnden Lösungsgesichtspunkte nicht zu absorbieren und stellt deshalb keine adäquate systematische Abbildung der hier erzielten inhaltlichen Ergebnisse dar62 . In: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 202 f. Nachw. o. in Fn. 2. 62 Aus diesem Grund habe ich schon in der ersten Skizze der im Text ausgeführten Konzeption, die sich in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 483 ff., findet, nicht die Konkurrenz-, sondern die Tatbestandslösung für richtig gehalten und § 229 als "Spezialregelung ... einer Übergangsform zwischen den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten" bezeichnet (a. a. O. S. 485; daß ich auch nur in diesem und nicht im strengen konkurrenzrechtlichen Sinne von § 229 als einer "lex specialis" gesprochen habe [So 486], mag als KlarsteIlung meiner mißverständlichen Formulierung und als Antwort auf die Kritik Herzbergs in JZ 1989,470,480, ge61
61.
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Die Konkurrenzlösung weist auch nicht etwa den Vorzug auf, daß man mit ihrer Hilfe bei atypischen Infizierungshandlungen (Injektion von HIV zu Forschungszwecken oder Sexualverkehr in der Absicht der Infizierung anderer) doch noch zu einer Bestrafung wegen Totschlagsversuches kommen könne. Denn solche Ausnahmen, denen Herzberg sich "geneigt" zeigt bzw. "zögernd zustimmt,,63, müßten auch bei einer Lösung auf der Konkurrenzebene vor den oben aneinandergereihten Sachargumenten überzeugend gerechtfertigt werden können. Daß dies nicht möglich ist, machen gerade Schlehofers einschlägige Bemühungen deutlich, und zwar in methodologisch besonders lehrreicher Weise. Nachdem Schlehofer zunächst die konkreten und gewichtigen Argumentationstopoi, die mir im Gesamtsystem der Strafrechtspflege als Hemmschuh für eine Einbeziehung des "Amfortas-Syndroms" in den Schutzbereich der Tötungsdelikte aufgefallen sind, teils beiseite ließ 64 , teils wegen der durch sie nicht schon erfolgten formallogischen Widerlegung der Einbeziehungsthese für überhaupt unbeachtlich erklärt hat65 , hat er als Argument für die Verneinung der Zurechnung des späten Todeserfolges nur noch die "zeitliche Zurechnungssperre" zur Verfügung, über deren präzise Voraussetzungen er selbst eingestandenermaßen so gut wie nichts angeben kann: Zur Festlegung, wann eine andere "Epoche" beginne, seien (seil. i.e. unbekannte) Kriterien nötig, die von der Schwere der Rechtsgutsverletzung, der Größe der Gefahr, der Art ihrer Entwicklung und der Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit der Risikoschaffung abhingen, wobei alle diese Faktoren in ihrer Gesamtheit zu bewerten und zu einem oft schwankenden Urteil zu führen seien, bei dem das Rechtsgefühl mit einem "Schuß irrationaler Erwägung" den Ausschlag geben müsse; freilich sei es nicht zwingend, das Zurechnungsband in den AIDS-Fällen wegen der langen Latenzzeit zu kappen, doch müsse die Dogmatik, wenn sie dem derzeitigen Rechtsempfinden Rechnung tragen wolle, beim ungeschützten Geschlechtsverkehr des HIV-Trägers die zeitliche Zurechnung des Todeserfolgs verbieten66 . Daß sich Schlehofer hiermit vollständig auf die "Wünschelrute des Rechtsgefühls,,67 verläßt, damit zum Sklaven ihrer historischen und individuellen Zufälligkeiten wird und das dogmatische Räsonnement durch das Warten auf (wie und bei wem zu messende?) Wandlungen des Rechtsgefühls und damit letztlich auf Godot ersetzt, ist offensichtlich; aber wo liegt unter methodischen Aspekten der Fehler? Nach meiner Überzeugung in der Mißachtung der bleibenden Erkenntnis des Neukantianismus, nügen, nachdem Herzberg auf S. 480 f. nunmehr meine Konzeption der Sache nach in den wesentlichen Punkten akzeptiert hat). 63
JZ 1989,481.
64
Nämlich das Argument von der Exklusivität des § 229, das bei Schlehofer (NJW 1989,
2017 ff.) nur in Fn. 88 gestreift wird.
65 Nämlich die Argumente aus der Unvorhersehbarkeit und Unbeherrschbarkeit des konkreten Schadensverlaufes, aus der strafrechtsgestaltenden Kraft des Strafverfahrens und aus den Schwierigkeiten im Rahmen der Rücktrittsdogmatik. 66 NJW 1989,2022 ff., 2025. 67 So die zum geflügelten Wort prädestinierte Bezeichnung von Bottke, in: Schünemannl Pfeiffer (Fn. 8), S. 202.
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daß Tatsachen immer nur durch ihren Bezug auf bestimmte leitende Wertungsgesichtspunkte rechtliche Relevanz erlangen können68 , so daß also die normative Bedeutung des bloßen Faktums ,,zeitablauf' nur durch seine Verbindung mit anerkannten Rechtsprinzipien angemessen erfaßt werden kann, in concreto unter der leitenden Hinsicht der Erfolgszurechnung qua Geschehensherrschaft, der Unterscheidung von lebensverkürzender Verletzung in den §§ 224, 225 und 229 versus direkt lebensbeendender Tötung in den §§ 2111212 und der "Sperrigkeit" von Spätfolgen im Legalsystem des Rücktritts und des Strafverfahrens. Dadurch, daß Schlehofer diese aus konkreten Rechtsprinzipien abgeleitete Situationsbewertung zurückweist69 , bleibt ihm selbst nur noch das factum brutum des Zeitablaufes, dem er dann freilich, um den naturalistischen Fehlschluß nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, nur noch mit dem deus ex machina des Rechtsgefühls ein normatives Ergebnis abzutrotzen vermag. Infolgedessen ist Schlehofers Konzeption dann aber zwangsläufig den in Wahrheit ja permanent irisierenden und oszillierenden Anmutungen des Rechtsgefühls hilflos ausgeliefert, kann das "Amfortas-Syndrom" nicht als einheitliches und einheitlich zu lösendes dogmatisches Problem erfassen und muß deshalb beispielsweise eine Differenzierung der objektiven Erfolgszurechnung je nach Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Täters für möglich, aber nicht zwingend erklären70 - obwohl die Sachgründe für die Eliminierung des "Amfortas-Syndroms" aus den Tötungsdelikten mit der subjektiven Einstellung des Täters nichts zu tun haben71. 68 Vgl. dazu nur Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modemen Strafrechtssystems, 1984, S. 24 f. m.z.w.N. in Fn. 46 sowie S. 51 ff. zur Bedeutung des modemen zweckrationalen bzw. funktionalen Systemdenkens als Fortentwicklung des wertbeziehenden Verfahrens des Neukantianismus. 69 Dabei verkennt Schlehofer vor allem, daß die Friktionen, zu denen die Qualifikation des "Amfortas-Syndroms" als Tötung an zahlreichen Stellen des Strafrechtssysstems führt, keine formallogische Unvereinbarkeit zu ergeben brauchen (und von mir auch nicht so hingestellt worden sind), um für die juristische Argumentation verwertbar zu sein; gerade in der behutsamen Herausarbeitung und Gewichtung nicht gefühlsmäßig behaupteter, sondern systematisch verankerter Lösungsgesichtspunkte liegt die Aufgabe der Strafrechtsdogmatik, und nicht in der unfruchtbaren Alternative "Begriffsjurisprudenz oder irrationales Rechtsgefühl". 70 NJW 1989,2025; Herzberg spitzt diesen Gedanken in JZ 1989,481 sogar noch dahin zu, daß die starke (subjektive) Antizipation des Erfolges durch Beabsichtigung nicht als Willensmoment des Vorsatzes, sondern allein für die Frage der objektiven Zurechnung des gedachten Todeserfolges relevant würde. 71 Denn die Regelung der §§ 224, 225 und 229 zeigt ja gerade, daß das "Amfortas-Syndrom" aus den Tötungstatbeständen ingesamt herausgenommen worden ist, so daß für eine strengere Erfolgshaftung des Absichtstäters hier kein Anlaß besteht - im Unterschied zur Abgrenzung des erlaubten Risikos, wo absichtsvolles Handeln durchaus mit gutem Grund zu einer schärferen Haftung führt: Wer mit minimaler Trefferchanche allein zu dem Zweck auf den weit entfernten Erbonkel schießt, durch einen glücklichen Flug der Kugel vielleicht doch den Erbfall herbeiführen zu können, kann unbeschadet dessen wegen versuchter Tötung bestraft werden, daß der gleiche Schuß des Försters, der dem anvisierten Rehbock galt, unter dem Aspekt der minimalen Gefährdung des Erbonkels im Bereich des erlaubten Risikos anzusiedeln wäre!
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dd) Es bleibt also dabei, daß die Infizierung mit HIV in keinem Fall unter den objektiven Tatbestand der Tötungsdelikte subsumiert werden kann, womit auch jede Bestrafung wegen eines versuchten Tötungsdeliktes ausscheidet, eben weil der Vorsatz des Taters nicht auf einen unter die §§ 211 ff. subsumierbaren Erfolg gerichtet ist. Diese qualitative Lösung, daß die letalen Spätfolgen von gravierenden Körperverletzungen in den §§ 224, 225 und 229 bereits abschließend erfaßt sind und deshalb nicht den Tötungstatbeständen subsumiert werden können, behauptet sich nun meiner Meinung nach auch gegenüber derjenigen Kritik, die nunmehr wieder von Herzberg in einer nach Art einer "dogmatischen Abrißbirne" gebündelten Form vorgetragen wird72 - während umgekehrt die von Herzberg nunmehr unter Preisgabe seiner früheren Auffassung vorgetragene "quantitative Lösung", die lediglich auf die analoge Heranziehung der Verjährungsvorschriften hinausläuft, einer Prüfung durch eine derartige Abriß birne nicht standzuhalten vermag. Es ist gerade ein Vorteil meiner Konzeption, daß ich die Spätfolgen nicht etwa als solche aus dem Zurechnungszusammenhang herausnehme. Denn ich sehe nur die Verkürzung der Lebenserwartung bei schweren Körperverletzungen, die zu einem im Einzelverlauf oft nicht absehbaren Siechtum führen, als durch die §§ 224, 225 und 229 bereits vollständig erfaßt an, und dieses qualitative Urteil darf nicht mit der bloß quantitativen Berücksichtigung der zeitlichen Dimension verwechselt werden, wie sie erst von Herzbergs Schüler Schlehofer in einer für mich nicht akzeptablen Verengung meiner Konzeption propagiert worden ist73. In dem von Herzberg angeführten Fall des erst nach Jahr und Tag zugestellten beleidigenden Briefes74 habe ich deshalb nicht die geringsten Schwierigkeiten, die Erfolgszurechnung zu bejahen, und bei dem von Herzberg weiterhin angeführten Beispiel der radioaktiven Verseuchung75 hängt die Qualifikation als Verletzungsdelikt oder als Tötungsdelikt ausschließlich von dem qualitativen Urteil ab, ob die Verseuchung zu einem lebensverkürzenden Siechtum mit einem im einzelnen nicht prognostizierbaren Verlauf oder aber in einer kontinuierlichen und im Einzelverlauf prognostizierbaren Verschlimmerung zum Tode führt. Auch die Regelung des § 78 a Satz 2, wonach die Verjährung erst mit dem Erfolgseintritt beginnt, spricht insoweit überhaupt nicht gegen meine Konzeption, weil § 78 a Satz 2 natürlich den tatbestandsmäßigen Erfolg meint, der bei § 224 im Siechtum liegt und bei § 229 bereits in der Beibringung des AIDS-Virus. Und schließlich kann auch Herzbergs Duisburger Fall des mit Tötungsabsicht injizierten HIV-verseuchten Blutes76 mich nicht beirren, weil es dem Tater ja in diesem Fall jedenfalls auf das Siechtum als die von ihm beherrschte Folge ankam, so daß die schwere Strafvorschrift des § 225 Abs. 2 72 73 74 75 76
In diesem Band unten S. 61, 63 ff. Vgl. Schlehofer, NJW 1989,2017,2022 ff. In diesem Band unten S. 65. In diesem Band unten S. 64. In diesem Band unten S. 61.
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anwendbar und die Lebensverkürzung also auch strafrechtlich erfaßt ist, während die bloße Hoffnung des Täters, der von ihm im einzelnen nicht mehr beherrschte Eintritt des Erfolges möge so früh wie möglich geschehen, als Hoffnung ohne Tatherrschaft weder eine Tötungshandlung noch einen Tötungsvorsatz begründen kann. Die von Herzberg statt dessen vorgeschlagene Analogie zu den Verjährungsvorschriften77 scheint mir dagegen weder inhaltlich gerechtfertigt noch praktikabel zu sein. Zunächst einmal setzt die Verjährung des staatlichen Strafanspruches ja die den Tatbestand erfüllende Erfolgszurechnung immer schon voraus, so daß es bei der Erfolgszurechnung nicht um eine ähnliche Frage wie bei der Verjährung, sondern um eine präjudizielle Frage geht. Sodann verjährt Mord etwa nach § 78 Absatz 2 überhaupt nicht, Totschlag gemäß § 78 Absatz 3 Nr. 2 in 20 Jahren, obwohl der tatbestandliehe Erfolg jedesmal der gleiche ist. Und weil der Tod bei einer HIV-Infektion schließlich normalerweise vor Ablauf von 20 Jahren eintritt, sehe ich letzten Endes überhaupt nicht, wie Herzbergs neuer Ansatz hier jemals zu einer Verneinung eines zumindest versuchten Tötungsdelikts führen soll. Die entscheidende Innovation dürfte deshalb erst in Herzbergs Forderung eines spezifischen Versuchserfolges als Voraussetzung der Versuchsstratbarkeit liegen 78, worunter Herzberg, wenn ich ihn hier richtig verstanden habe, das Akutwerden der Gefahr im Sinne eines jederzeit möglichen Erfolgseintritts versteht. Das scheint mir aber schon allgemein äußerst zweifelhaft und weder mit dem Wortlaut noch mit der Systematik der §§ 22, 24 vereinbar zu sein. Denn wenn ein stratbarer Versuch erst mit der unmittelbaren Gefährdung des Rechtsguts zu bejahen ist (also wenn beispielsweise die eingebaute Höllenmaschine kurz vor dem Losgehen ist), dann wäre die Versuchshandlung (also der Einbau der Höllenmaschine) noch keine stratbare Versuchshandlung, während im unmittelbaren Versuchsstadium nicht mehr gehandelt würde - eine paradoxe Selbstaufhebung des Versuchsbegriffs, die sich bei § 24 dahin fortsetzen würde, daß es eigentlich gar keinen Rücktritt vom unbeendeten Versuch mehr geben würde. Aber wie dem auch sei - speziell in den AIDS-Fällen bliebe dann für die gerade von Herzberg für Sonderfälle begründete Anwendbarkeit der Tötungsdelikte in der Praxis kein Raum mehr übrig, weil die akute Todesgefahr ja erst längere Zeit nach einer HIV-Infektion eintritt und der Täter immer vorher schon wegen Körperverletzung verurteilt wäre, in welchem Fall auch nach Herzberg ein uneingeschränkter Strafklageverbrauch für das Tötungsdelikt eintreten soll. Herzbergs neue Lösung scheint mir deshalb ebenso in Paradoxien hineinzuführen wie die traditionelle Auffassung, daß die AIDS-Infektion den objektiven Tötungstatbestand erfüllte und die Abgrenzung zwischen Tötungs- und Körperverletzungsdelikt deshalb im subjektiven Tatbestand zu erfolgen habe, und zwar in Paradoxien, die schon die Umgangssprache deutlich zum Vorschein bringt: Wenn A von B mit HIV infiziert worden ist, so müßte er nach der traditionellen 77 78
In diesem Band unten S. 66 ff. In diesem Band unten S. 73 ff.
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Auffassung dafür die Beschreibung geben: "B hat versucht, mich zu töten, und der Versuch ist auch nicht fehlgeschlagen" - was eine offensichtlich paradoxe Äußerung ist, weil A ja noch lebt. Nach Herzbergs Lösung müßte A dagegen sagen: ,,B wird in einigen Jahren versuchen, mich zu töten", was als Situationsbeschreibung nicht weniger Kopfschütteln hervorrufen muß. Nach meiner Lösung wird er dagegen sagen: "B hat mich in Siechtum versetzt, dessen Ende nicht abzusehen ist", und genau damit wird die richtige Wertung des Geschehens umgangssprachlich angemessen umschrieben. Während ich mich also Herzbergs neuer Zurechnungskonzeption nicht anschließen möchte, finde ich seinen Gedanken, für den Begriff der ,,körperlichen Mißhandlung" in § 223 StGB auf das Urteil des objektiven Betrachters abzustellen und dementsprechend den Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten als vollendete üble Behandlung (= Mißhandlung) zu qualifizieren 79, in kriminalpolitischer Hinsicht äußerst attraktiv. Denn weil sich der Handlungserfolg der "Gesundheitsbeschädigung", der (entgegen der zitierten abwegigen Mindermeinung) in der HIVInfektion als solcher besteht, nur selten als Ergebnis einer ganz bestimmten einzelnen Handlung nachweisen lassen wird, muß die Rechtsprechung, weil sie das in Wahrheit einschlägige Delikt der Vergiftung (§ 229 StGB) aus einem irrigen Verständnis des subjektiven Tatbestandes heraus ablehnt, ihr Heil in der Annahme einer versuchten gefährlichen Körperverletzung (§§ 223 a, 22) suchen, was dem Unrechts gehalt einer Gefährdung durch gesundheitszerstörende Viren von vornherein nicht gerecht wird. Herzbergs neue Interpretation der ,,körperlichen Mißhandlung" kann diesem Gewicht besser Rechnung tragen, entfernt sich allerdings bei der Ablösung vom subjektiven Wohlbefinden des Opfers als Kriterium recht weit vom Umgangssprachgebrauch, der einen vom Opfer als wohltuend empfundenen Geschlechtsverkehr nicht ohne Zwang als eine "Mißhandlung" deuten wird. Ohnehin kommt diese Lösung in all den Strafrechtsordnungen nicht in Betracht, die noch nicht die Mißhandlung, sondern erst die Gesundheitsbeschädigung bestrafen. Hier könnte deshalb nur ein Spezialdelikt für die Gefährdung durch gesundheitszerstörerische Krankheitserreger einen lückenlosen Schutz begründen, wobei ich zunächst noch offenlassen möchte, ob man sich dabei unter Einbeziehung aller Giftstoffe an § 229 StGB, unter Beschränkung auf Krankheitserreger an die Vorbilder im österreichischen und spanischen Strafrecht oder gar unter Beschränkung auf den AIDS-Virus an § 6 des deutschen Geschlechtskrankheitengesetzes orientieren sollte. c) Aus der vorstehend im einzelnen begründeten Unanwendbarkeit der Tötungsdelikte folgt zugleich, daß die in Rechtsprechung und Schrifttum ohne viel Federlesen bejahte Anwendbarkeit des Tatbestandes der gefährlichen Körperverletzung wegen einer "das Leben gefahrdenden Behandlung"SO in Wahrheit schweren und In diesem Band unten S. 84; ebenso bereits Meurer (Fn. 20), S. 119. Vgl. BGHSt 36, 1, 8 f.; AG München NJW 1987, 2314; LG Hechingen AIFO 1988, 220 ff.; LG München AIFO 1988, 524 f.; LG Nürnberg-Fürth NJW 1988,2311; Bruns, MDR 79
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letztlich unüberwindlichen Bedenken begegnet. Denn wenn die in naturalistischer Hinsicht nicht zu leugnende Beschleunigung des Todeseintritts durch eine HIV-Infizierung unter normativen Gesichtspunkten nicht als Lebensverletzung zu qualifizieren ist, so kann man die Infizierungshandlung auch nicht sinnvoll als eine Lebensgefährdung ansehen: Unter dem Aspekt des Lebensschutzes geht es gerade nicht um die Unterscheidung von Gefährdung und Verletzung, sondern um die Exklusivität der Verletzungsdelikte für das Amfortas-Syndrom und damit beim Sexualverkehr eines HIV-Infizierten im Rechtssinne nur um die Schaffung einer Siechtumsgefahr, die in § 223 a gerade nicht ausreicht. Die übliche Heranziehung dieser Vorschrift beruht deshalb auf einer unzulänglichen Vertiefung der systematischen Zusammenhänge und ist nicht akzeptabel. d) Während also § 223 a bei genauer Prüfung ausscheidet, ist der Tatbestand der Vergiftung (§ 229) einschlägig und sogar auf die spezifische Situation der HIV-Infizierung so verblüffend genau zugeschnitten, daß wir hier ohne Zweifel den von Kreuzer8l verrnißten, direkt einschlägigen Tatbestand der Leibes- und Lebensgefährdung durch infektionsgeneigtes Verhalten82 vor uns haben. Daß der AIDS-Erreger als "Gift" im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist, verträgt sich durchaus mit dem heutigen Umgangs sprachgebrauch und paßt nahtlos zu dem bei Schaffung des § 229 üblichen sozialen und juristischen Sprachgebrauch, Krankheitserreger als Pockengift, syphilitisches Gift etc. zu bezeichnen 83 . Indem § 229 bereits den extrem gefährlichen Vorgang der Giftbeibringung als solchen ohne Rücksicht auf die im Einzelfall eingetretenen Folgen pönalisiert, werden die bei den Verletzungsdelikten der §§ 223 abis 225 horrenden Beweisschwierigkeiten von vornherein ausgeschlossen, und mit dem Begriff der "Beibringung" wird zugleich der entscheidende Unwert so präzise beschrieben, daß der bisher ziemlich vagen safersex-Debatte84 hierdurch klare normative Maßstäbe vorgegeben werden. Der Tatbestand ist danach erfüllt, wenn der Stoff mit dem Körper dergestalt in Verbindung 1987, 353, 356; Eberbach, JR 1986, 230, 232; Schönke/Schröder/Stree (Fn. 36), § 223 a Rn. 12 a. Ebenso letztlich auch Schlehofer, NJW 1989, 2017, 2026 mit der mich nicht überzeugenden Erwägung, daß bei der Lebensgefährdung die Zeitdimension noch nicht zum Tragen komme (in Wahrheit kann aber ein noch in grauer Zukunft liegender und deshalb gegenwärtig für die rechtliche Bewertung noch nicht relevanter Tod auch nicht als aktuelle Gefährdung aufgefaßt werden!). 81 ZStW 100 (1988), 797. 82 Zum Charakter des § 229 als konkretes Gefährdungsdelikt vgl. LK/Hirsch, 10. Auf!., § 229 Rn. 2 f. (1981); SK/Horn, § 229 Rn. 2 (Mai 1993). Die verbreitete Auffassung, daß sich § 229 nicht widerspruchsfrei in das System der Leibes- und Lebensschutztatbestände einfügen lasse (Stree, JR 1984, 335; Lackner/Kühl, StGB [Fn. 47], § 229 Rn. 1), wird durch die hier vorgenommene Deutung weitgehend entkräftet, zumal danach auch die Erfolgsqualifikation von Abs. 2 zweite Alternative zwanglos als eine objektiv noch zurechenbare Abweichung des Kausalverlaufes vom Vorsatz (schneller Tod des Opfers anstelle von Siechtum) erklärt werden kann. 83 Vgl. Bottke, AIFO 1988, 634 f. 84 Vgl. Rosenbrock, AIDS kann schneller besiegt werden, 3. Auf!. 1987, S. 32 ff., 42 ff. mit dem Bemühen um Präzisierung.
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gebracht wird, daß er seine gesundheitszerstörenden Wirkungen konkret entfalten kann 85 , wobei auch früher schon als typische Tathandlungen das Einspritzen oder Einführen in Körperöffnungen sowie die Benutzung des Opfers als gutgläubiges Werkzeug hervorgehoben worden sind86 . Verboten ist also jedes Eindringen viruskontaminierter und zur Infektion geeigneter Flüssigkeiten in den Körper des anderen, so daß die risikomindernde Praktik des Koitus interruptus, über die der BGH im Urteil vom 4. 11. 1988 zu befinden hatte, wegen der dabei auch ohne Ejakulation stattfindenden Absonderung virus-kontaminierter Sekrete 87 unmittelbar unter § 229 zu subsumieren ist. § 229 liefert damit jene für eine generalpräventive Wirkung unerläßliche plakative Verhaltensnorm der zeitlich lückenlosen Kondomverwendung durch einen HIV-Infizierten bei penetrierendem Geschlechtsverkehr, die nicht nur von den besonnenen Vertretern des safer-sex-Konzepts88 , sondern offenbar auch vom BGH favorisiert wird 89 , aber wegen des natürlich auch dabei bestehenden Restrisikos einer Infizierung ohne einen Anhaltspunkt im Gesetz schwer zu begründen wäre, und verleiht damit auch der vom BGH ausgesprochenen Verneinung des erlaubten Risikos und der Sozialadäquanz beim Koitus interruptus eines HIV-Infizierten90 eine eindeutige gesetzliche Basis. Weil schließlich auch die Anknüpfung des § 229 an eine unerträglich gefahrliche Handlung für die Beantwortung der Vorsatzprobleme einen wichtigen Fingerzeig gibt (vgl. dazu oben 11. 3.), erweist sich dieser (vom BGH bisher leider allzu voreilig abgelehnte 91 ) Tatbestand insgesamt als die Modellvorschrift zur strafrechtlichen Erfassung ungeschützten Geschlechtsverkehrs eines HIV-Infizierten. Und das ist auch weder Zufall noch eine unstatthafte nachträgliche Konstruktion, sondern Ausdruck der konstanten Handlungs- und Gefahrdungsstrukturen einer Vergiftung, die unabhängig vom benutzten Mittel sind und deshalb auch beim Aufkommen neuer "Giftstoffe" maßgeblich bleiben. Zugleich hat der Gesetzgeber damit ein bemerkenswert frühes Exempel für Herzbergs Unterscheidung von abgeschirmter und unabgeschirmter Gefahr geliefert, denn wenn ein HIV-Infizierter sog. geschützten Geschlechtsverkehr mit einem Kondom ausübt, dann hat er die Gefahr abgeschirmt und handelt also nach Herzberg ohne Verletzungsvorsatz, nach der Wertung des Gesetzgebers sogar nicht einmal tatbestandsmäßig. e) Auch der subjektive Tatbestand des § 229 bereitet nicht etwa die ihm selbst in der BGH-Rechtsprechung falschlicherweise nachgesagten Schwierigkeiten92, weil Vgl. BGHSt 15, 113; RG JW 1936,513; LK/Hirsch, 10. Aufl., § 229 Rn. 11 (1981). Siehe BGHSt 4,278; RGSt 59,1; LK/Hirsch, 10. Aufl., § 229 Rn. 12, 14 (1981). 87 BGHSt 36, 1, 12 f.; AG Hechingen AIFO 1988,220,221; vgl. auch Prittwitz, JA 1988, 486,500. 88 Vgl. Rosenbrock (Fn. 84). 89 BGHSt 36,1,16 f. 90 BGHSt 36, 1, 16 f. 91 BGHSt 36, 262, 266; s. dazu Lf. im Text. 92 S. Fn. 91 und zuletzt wieder Knauer, AIFO 1994,463,475. 85
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nach der eindeutigen historischen Auslegung ein bloßer Verletzungs vorsatz verlangt wird, der sich nach Auffassung des Gesetzgebers bei der Beibringung gesundheitszerstörender Stoffe von selbst versteht. aa) Die im Schrifttum anzutreffende Auffassung, daß der Tater des § 229 mit Gesundheitsbeschädigungsabsicht i.e.S. handeln müsse93 , erweist sich bei historischer, systematischer und teleologischer Auslegung übereinstimmend als unrichtig und muß auch nicht vermöge der Wortlautgrenze des' Art. 103 Aos. 2 GG akzeptiert werden. § 229 geht direkt auf § 197 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 zurück, der in Abs. 1 lediglich von vorsätzlicher Giftbeibringung sprach und in Abs. 4 klarstellte, daß der Täter nicht in Tötungsabsicht gehandelt haben dürfe. Weil dies zu der Streitfrage geführt hatte, ob der subjektive Tatbestand des § 229 überhaupt den Eintritt einer Körperverletzung umfassen müsse 94 , wurde die von § 197 Abs. 4 preußStGB geleistete Abgrenzung zum Giftmord bei Schaffung des RStGB ins Positive gewendet und in Abs. 1 eingestellt, ohne daß damit aber eine Einschränkung auf den zielgerichteten Willen gemeint gewesen wäre, auf den sich der Gesetzgeber des RStGB bei der Verwendung des Absichtsbegriffs nirgendwo festlegen wollte 95 .
93 Lackner/Kühl, StGB (Fn. 47), § 229 Rn. 4; Gehrig, Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986, S. 126 f. Die dafür ebenfalls angeführte Entscheidung BGHSt 32, 130 spricht zwar ständig von ,,Absicht", aber nur in Form eines obiter dictums, weil im konkreten Fall ohnehin ein zielgerichteter Wille gegeben war. So auch ohne neue Begründung und ohne Auseinandersetzung mit den von mir schon früher vorgebrachten Gegenargumenten BGHSt 36, 262, 266; Knauer, AIFO 1994,463,475, der die untechnische Verwendung des Absichtsbegriffs im RStGB von 1871 und damit auch in dem bis heute unveränderten § 229 verkennt; Scherf (Fn. 10), S. 55 unter ebensolcher Ignorierung der Entstehungsgeschichte des § 229 und des Sprachgebrauches des RStGB. 94 Vgl. Hälschner, Das Preußische Strafrecht III, 1868, S. 169 m. Fn. 3, wo aus dem Kontext hervorgeht, daß Absicht als Synonym für den auf einen außertatbestandlichen Erfolg gerichteten Vorsatz verwendet wird; Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, 2. Auf!. 1858, § 197 Anm. 6 und besonders 10, wonach die "Tötungsabsicht" einen Mordversuch ergibt, der gern. § 175 nur ("schlichten") Tötungsvorsatz voraussetzte. Völlig eindeutig die amtlichen Quellen bei Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten 11, 1852, S. 428, wonach die vorsätzliche Giftbeibringung selbstverständlich auch die Kenntnis der schädlichen Wirkungen und damit die ,,Absicht" zu beschädigen enthalte, weil ohne diese Kenntnis der Tatbestand des § 198 (fahrlässige Körperverletzung) eingreifen würde. 95 Vgl. die Wiedergabe der Motive bei Höinghaus, Das neue Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 160; Schwarze, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 1871, S. 507; Stenglein/Rüdorff, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 4. Auf!. 1892, § 229 Anm. 3; Oppenhoff/Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 6. Auf!. 1877, § 229 Anm. 6, wo Absicht und Vorsatz ständig synonym verwendet werden. Die unklare und synonyme Verwendung von Absicht und Vorsatz bis zum Inkrafttreten des RStGB gibt auch Gehrig (- Fn. 93 -, S. 18 ff.) zu, weshalb es unverständlich ist, daß er bei § 229 einen Regelungswillen des Gesetzgebers im modemen, technischen Sinne für gegeben hält.
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Dieses Ergebnis der historischen und systematischen Auslegung 96, daß in § 229 nur der Verletzungsvorsatz zwecks Abgrenzung vom Giftmord verlangt werden sollte, ist auch teleologisch sinnvoll, weil ein zielgerichteter Wille, das Opfer nur zu verletzen und nicht zu töten, außerhalb von Schauerromanen und Lehrbuchkriminalität keinen kriminalpolitisch sinnvollen Anwendungsbereich fande 97 , während es andererseits der von Anfang an so konzipierten Struktur des § 229 als eines selbständig strafbaren Verletzungsversuches mit besonders gefährlichen Mitteln entspricht, daß der Tater mit "normalem" Verletzungsvorsatz handeln muß9S • Eine mit Argumenten und nicht bloß mit einem Zirkelschluß arbeitende Gegenargumentation findet sich nur bei Scheuerl, die aber in Wahrheit meine Position nicht etwa in Frage stellt, sondern sogar stützt, denn Scheuerl gibt an Hand der Entstehungsgeschichte ausdrücklich den "Verzicht auf eine schon begrifflich zwingende Einschränkung auf ein zielgerichtetes Erstreben der Gesundheitsbeschädigung" zu 99 • So bleibt denn als letztes das auch von Scheuerl verwendete Pauschalargument übrig, die harte Strafdrohung des § 229 spreche für dessen restriktive Auslegung lOO • Aber auch das macht keinerlei Sinn, denn auch bei noch weitaus schwereren Delikten wie Mord und Totschlag reicht unbestritten dolus eventualis aus, und der die Strafdrohung des § 229 rechtfertigende, gravierende Unwert der Vergiftung liegt eben schon in der vorsätzlichen Beibringung von zur Gesundheitszerstörung geeigneten Stoffen, die der Gesetzgeber in § 229 lediglich gegen den mit absoluter lebenslanger Freiheitsstrafe (1871 sogar mit der Todesstrafe!) bedrohten Giftmord abgrenzen wollte. Die Auslegung, daß bei § 229 auch bedingter Verletzungsvorsatz genügt, ist deshalb eindeutig und läuft auch auf keine Verletzung des strafrechtlichen Analogieverbots hinaus, weil es unbestritten ist, daß der Gesetzgeber vor der Strafrechtsreform das Wort "Absicht" ohne weiteres auch als Synonym für schlichten Vorsatz verwendet hat, beispielsweise in den §§ 43 und 49 a.F. 101, und weil § 229 seit 1871 keine inhaltlichen Veränderungen erfahren hat. bb) Dadurch, daß § 229 somit den Verletzungsvorsatz als eine geradezu selbstverständliche Konsequenz der vorsätzlichen Giftbeibringung ansieht, lassen sich 96 Auch Herzberg (JZ 1989, 470, 480 f.) kommt nun mit weiteren systematischen Erwägungen in diesem Punkte zU demselben Schluß. 97 Weshalb § 229 auch von der h.M. zu Recht als mögliches Durchgangsstadium eines Tötungsdelikts behandelt wird, vgl. LKiHirsch, 10. Auf!., Vor § 223 Rn. 14 ff. (1981). 98 Dagegen verschlägt auch nicht der Hinweis auf § 225 Abs. 2, wo es um die Beabsichtigung besonders schwerer Folgen geht, während bei § 229 jede Verletzung ausreicht, deren ,,Beabsichtigung" sich bei der Beibringung von zur Gesundheitszerstörung geeignetem Gift nach dem Willen des Gesetzgebers von selbst verstand und nur gegen den Giftmord abgegrenzt werden mußte. 99 (Fn. 10), S. 80. 100 Scheuerl (Fn. 10), S. 81 m.w.N. 101 Vgl. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 10. Auf!. 1916, § 48 Anm. 11 c; Schönke/Schröder, StGB, 14. Auf!. 1968, § 59 Rn. 69; Jescheck, Strafrecht Allgemeiner Teil,!. Auf!. 1969, S. 200.
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nun aber auch jene Zweifel am subjektiven Tatbestand beschwichtigen, die bei einer dem Tatrichter vorbehaltenen "Gesamtwürdigung des Einzelfalls" immer wach bleiben würden: Die vorsätzliche Beibringung eines zur Gesundheitszerstörung geeigneten Stoffes ist vom Gesetzgeber als so unerhört gefährlich eingestuft worden, daß er Verletzungs- und Gefährdungsvorsatz hier implizit gleichgestellt hat - wodurch er zugleich den Sachgesichtspunkt der modernen Vorsatzlehre vorweggenommen h'lt, daß sich der Vorsatz auf die Verletzung erstreckt, wenn die Realisierung einer sozial unerträglichen Gefahr nach Kenntnis des Täters jeder weiteren Einflußnahme entglitten ist. cc) Bei korrekter Auslegung des § 229 kommt man deshalb zu dem Ergebnis, daß die Beibringung von HIV-kontaminierten Flüssigkeiten jedenfalls durch Analoder Vaginalverkehr und damit auch der Koitus interruptus wegen der dabei vorhandenen Infektionseignung bereits dann den subjektiven Tatbestand dieser Vorschrift erfüllt, wenn der Tater über die physiologischen Zusammenhänge informiert ist - im Unterschied zum lückenlos durch Kondombenutzung abgeschirmten Geschlechtsverkehr, dessen Restrisiko jedenfalls nicht eo ipso dem Tatbestand des § 229 subsumiert werden kann. f) In anderen Ländern gibt oder gab es andere mehr oder weniger gut auf die HIV-Infizierung passende Tatbestände, so etwa nach dem spanischen Codigo Penal Art. 348 bis a.F. als allgemeines Gefährdungsdelikt bei Infektionskrankheiten. Weil die HIV-Infektion wegen der heimtückischen Langsamkeit der AIDS-Erkrankung und wegen des anfangs diskreten Infektionsverlaufes eine nirgendwo sonst in dieser Weise anzutreffende, spezifische Gefahr für die Volksgesundheit darstellt, die fast noch gravierender ist als die daraus für den Betroffenen selbst resultierende Lebensbürde, kann der spezifische Unrechtsgehalt nur in einem delictum sui generis vollständig erfaßt werden, welches am besten als abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltet werden sollte. Wenn ich die erst am Ende meiner Überlegungen zu erörternde Frage, ob das Strafrecht überhaupt einen relevanten Beitrag zur AIDS-Eindämmung leisten kann, hier noch offenlasse und mich dementsprechend auf die rechtstechnische Seite eines solchen Spezialtatbestandes konzentriere, so möchte ich kurz auf ein Konzept hinweisen, das Wilfried Bottke und ich gemeinsam mit unseren spanischen Kollegen Santiago Mir Puig, Diego Luzon-Pefia und Jesus-Marfa Silva-Sanchez im Jahre 1991 im Kloster Andechs entwickelt haben und welches folgende Tatbestandsfassung vorschlägt:
Wenn jemand, der mit dem HI-Virus infiziert ist und weiß, daß er infiziert ist oder daß er sich nachhaltig einem qualifizierten Infektionsrisiko ausgesetzt hat, einen anderen diesem Risiko aussetzt, ohne daß dieser mit dem betreffenden Risiko einverstanden ist, so wird er mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Wenn es zur Infektion des anderen mit dem HI-Virus kommt, so beträgt die Strafe 1 bis 10 Jahre Freiheitsstrafe. Die vorstehenden Vorschriften gelten entsprechend, wenn jemand die Infektion oder Infektionsgefahr durch den Umgang mit HIV-kontarninierten Gegenständen verursacht, so-
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fern er um die Kontamination oder ein schwerwiegendes Risiko derselben weiß. Wenn der Täter in diesem Fall nur fahrlässig handelt, so beträgt die Strafe Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe. Natürlich könnte man auch daran denken, die Straftatbestände des Bundesseuchengesetzes oder des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten auch auf die Infizierung mit HIV anwendbar zu machen, für die sie bis heute aufgrund einer eigenartigen Berührungsangst des Gesetzgebers nicht einschlägig sind 102 . Wegen des im einzelnen höchst unterschiedlichen Gewichts der im Bundesseuchen- und im Geschlechtskrankheitengesetz behandelten Krankheitsformen dürfte es aber letztlich doch den Vorzug verdienen, einen eigenen Spezialtatbestand der Gefährdung mit AIDS zu schaffen, immer dessen erst am Ende meiner Überlegungen zu thematisierende kriminalpolitische Effizienz vorausgesetzt.
III. Delikte zum Nachteil des mV-Infizierten
Wenn ich nunmehr den Blick von der möglichen Straftat der Infizierung anderer auf die strafbare Verletzung der Rechte des Infizierten selbst wende, so treten insbesondere zwei mögliche Delikte ins Zentrum der Betrachtungen: zum einen die Körperverletzung durch einen unerlaubten HIV-Antikörpertest (sog. AIDS-Test) und zum anderen die nach § 203 StGB strafbare Verletzung der ärztlichen oder behördlichen Schweigepflicht in bezug auf das Geheimnis der HIV-Infektion. Natürlich möchte ich in dieser Hinsicht den Referaten von Frank Höpjel und Dieter Meurer nicht vorgreifen und muß mich deshalb auf einige wenige einleitende Bemerkungen beschränken. 1. Die Durchführung eines rechtlich unzulässigen AlDS-Tests ist an und für sich ein unerlaubtes Ausspähen von Daten und gehört deshalb im deutschen Strafgesetzbuch in den unmittelbaren Zusammenhang von § 202 a, wonach allerdings nur codierbare Informationen geschützt, die im Körper selbst verborgenen Geheimnisse mithin als solche strafrechtlich vogelfrei sind. Daß der Gesetzgeber hier wieder einmal die professionell behandelten, und das heißt: die ökonomisch funktionalisierten Informationen ungerechtfertigt bevorzugt und den Schutz der Intimsphäre ungerechtfertigt vernachlässigt hat, bedarf wohl kaum weiterer Darlegungen. Jedenfalls taugt der bisher im Vordergrund der Diskussion stehende Körperverletzungstatbestand zur Schließung dieser ärgerlichen Strafbarkeitslücke weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht. Wenn man nicht an die uner102 Wobei es dahingestellt bleiben mag, ob dies darauf zurückzuführen ist, daß die AIDSProblematik und ihre Regelungsmöglichkeiten federführend im Bundesgesundheitsministerium behandelt werden und daß der hauptsächliche Berater der für die AIDS-Politik früher richtungsweisenden Bundesgesundheitsministerin Süssmuth, selbst einer Risikogruppe angehörte und mutmaßlich bereits zur Zeit der Formulierung der offiziellen AIDS-Poltik selbst HIV-infiziert war.
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laubte Entschlüsselung des Geheimnisses als solche, sondern an die als bloßes Mittel der Entschlüsselung üblicherweise eingesetzte Venenpunktion anknüpft, so arbeitet man von vornherein in einer falschen, nämlich das Objekt durch das Verletzungsmittel ersetzenden Rechtsgutsperspektive. Außerdem bietet diese Perspektive auch gravierende praktische Nachteile, weil eine mit Einwilligung des Probanden entnommene Blutprobe in dem Augenblick der Trennung vom Körper ihren strafrechtlichen Schutz über die Körperverletzungsdelikte verliert. Selbst wenn der entnehmende Arzt aber von vornherein vorgehabt hat, die Blutprobe auch zu einem heimlichen AIDS-Test zu verwenden, bleibt die in Unkenntnis dieser Absicht erklärte Einwilligung weiterhin wirksam, weil sich Irrtum und Täuschung nicht als ,,rechtsgutsbezogen" qualifizieren lassen, sondern einen bloßen Motivirrtum nach sich ziehen, der nach der im neueren Schrifttum herrschenden Auffassung 103 die Wirksamkeit der Einwilligung nicht beeinträchtigt. Gerade die moderne Doktrin von der Relevanz lediglich rechtsgutsbezogener Willensmängel hat hier also eine Strafbarkeitslücke akzentuiert, die nach der Natur der Sache freilich immer schon bestanden hat. De lege lata kann diese Lücke deshalb nur durch eine Erweiterung des § 202 a StGB geschlossen werden. 2. Was die Frage nach der Pflicht anbetrifft, sich einem AIDS-Test zu unterziehen, so muß ich mich hier auf vier Aspekte beschränken: auf die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine moralische Pflicht, sich einem HIV-Antikörpertest zu unterziehen, begründet werden kann; auf die Ableitbarkeit von Testpflichten aus den allgemeinen Strafrechtsnormen; auf die der Einführung anonymer Tests und auf die Benutzung des HIV-Tests als Beweismittel im Strafprozeß. a) Ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Grund für die Durchführung eines HIV-Tests ist in den Konsequenzen zu sehen, die ein positives Testergebnis für eine vernunftgemäße Lebensführung des Betroffenen nach sich ziehen sollte: Auf der einen Seite hat die medizinische Forschung in den letzten Jahren deutlich gemacht, wie wichtig eine möglichst früh einsetzende Behandlung für eine Verlangsamung des Infektionsverlaufes über das ARe-Stadium bis zum Vollbild von AIDS ist 104; und die Einsicht in die nur noch begrenzte Lebenszeit kann eine bewußtere und sinnvollere Nutzung der verbliebenen Frist zur Folge haben im Vergleich mit dem unbedachten Zeitvertreib eines die Frage des Endzeitpunktes verdrängenden Lebens. Dennoch läßt sich daraus keine moralische Pflicht zur Testdurchführung ableiten, weil es (jedenfalls in der vorliegend allein relevanten So103 Vgl. Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 20 ff.; Meyer, Ausschluß der Autonomie durch Irrtum, 1984, S. 166; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 4. Auf!. 1988, S. 603 f.; Janker, Strafrechtliche Aspekte heimlicher AIDS-Tests, Diss. iur. Gießen 1988, S. 80 f.; differenzierend Roxin, Strafrecht AT (Fn. 6), 13/66 f.; anders Pfeffer, Durchführung von HIV-Tests ohne den Willen des Betroffenen, 1989, S. 80 f.; Lackner, StGB (Fn. 47), vor § 32 Rn. 11; Dreher/Tröndle, StGB (Fn. 36), vor § 32 Rn. 3 b. 104 Frösner, AIFO 1987,61 ff.; ders., AIFO 1989,552,555; Hehlmann, AIFO 1988,41 ff.; Williams/Gabriel/Kelly u. a., AIDS 1990, 909 ff.; Moore/Kemly/Riehman, AIDS 1992, 671 ff.
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zialethik) keine moralischen Pflichten gegen sich selbst gibt 105 , so daß es keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Lebensform ist, ob man sein Leben auf die Kenntnis und Verarbeitung der Wirklichkeit oder auf Nichtwissen und Verdrängung gründen will. Daß eine in der Bevölkerung verbreitete und durch die offizielle AIDS-Politik eher begünstigte Lebensform in der Verdrängung besteht, kann in der narzißtischen Gesellschaft der Postmoderne niemanden verwundern. Wer diese Lebensform zum Modell der rechtspolitischen Diskussion machen möchte (sei es, weil er sie für einen Ausdruck des Liberalismus hält, sei es im Interesse einer Vorausverteidigung der gerade erst erreichten Homosexuellenemanzipation wie Rosenbrock), sollte sich dann aber wohlweislich hüten, ausgerechnet einer nüchtern-rationalen Kalkulation der AIDS-Risiken die Verbreitung irrationaler Ängste vorzuwerfen 106 und dadurch das wahre Verhältnis von rationaler Wirklichkeitsanalyse und irrationalen Verdrängungswünschen genau auf den Kopf zu stellen. Eine moralische Pflicht zur Testdurchführung kann also nur aus dem Grundsatz "neminem laede" für denjenigen abgeleitet werden, der sich zuvor einem AIDS-Infektionsrisiko ausgesetzt hat und nunmehr ein Verhalten erwägt, das zur Weitergabe des Virus geeignet ist. Diese moralische Pflicht entfällt auch nicht durch risikobezogene Aufklärung und Einverständnis des durch das Verhalten gefährdeten Partners. Denn bei einer Seuche und erst recht bei einer Pandemie mit einem verheerenden Vernichtungspotential wie bei AIDS würde es hier zu kurz greifen, die Schädlichkeit der Virustransmission allein in der unmittelbaren Verletzung des Partners zu sehen (die VOn diesem konsentiert werden könnte) und das eigentliche antisoziale und vom unmittelbaren Partner nicht konsentierbare Risiko, nämlich die Schaffung eines neuen und weiteren Ansteckungsherdes, zu übersehen. b) Natürlich kann aber aus einer moralischen Testpflicht nicht auf die Existenz einer entsprechenden Rechtspflicht geschlossen werden. Hierfür ist vielmehr, weil es um einen Eingriff sowohl in die körperliche Unversehrtheit als auch in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geht lO7 , eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Dabei geht es im Strafrecht, anders als im öffentlichen Recht lO8 , nicht um unmittelbar vollstreckbare Pflichten, sich einem HIV-Antikörpertest zu unterziehen, sondern um bedingte Testpflichten in der Weise, daß ein bestimmtes infektionsgeeignetes Verhalten sorgfaltswidrig wäre und zumindest einen Fahrlässigkeitsstraftatbestand erfüllen würde, sofern nicht ein negatives Testergebnis dessen Unbedenklichkeit ergeben hat (wobei die aus bekannten Gründen unausräumbare Unsicherheit des Tests in strafrechtlicher Hinsicht ein erlaubtes Risiko konstiAnders bekanntlich Kant, Die Metaphysik der Sitten, 2. Teil, 1797, S. 63 ff. So Kreuzer, ZStW 100 (1988), 786, 787 f.; ders., in: Prittwitz (Fn. 4), S. 115; vgl. auch die Behauptung der ,,Mystifizierung" durch Böllinger, KJ 1988,51 ff. u. die Nachw. o. in Fn. 2. 107 BVerfGE 65, l. 108 Zur Diskussion um polizeilich angeordnete Zwangstests vgl. Pfeffer (Fn. 103), S. S. 100 ff.; Losche1der, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 153, 164 f. 105
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tuieren würde). Wer sich einem Infektionsrisiko ausgesetzt hat, hat nun vor der Vornahme von an sich infektionsgefährlichen Handlungen grundsätzlich drei Möglichkeiten: Er kann entweder so zuverlässige Sicherheitsvorkehrungen verwenden, daß jedes ernsthafte Übertragungsrisiko ausgeschlossen ist, also auch kein Restrisiko besteht, das bei einer tödlichen Gefahr wie bei AIDS niemandem einseitig oktroyiert werden darf; oder er kann den Partner über das Infektionsrisiko rückhaltlos aufklären und damit dessen Entscheidung herbeiführen, was die eigene Verantwortung aber nur ausschließen kann, wenn der Partner voll verantwortlich handelt und sich bei der Zustimmung zu dem riskanten Kontakt auch nicht in einer faktischen Zwangslage befindet; und er kann sich schließlich einem HIV-Antikörpertest unterziehen und bei dessen negativem Ausgang dann den bei wirklich gegebener HIV-Infektion riskanten Kontakt ohne Sorgfalts widrigkeit eingehen. Hieraus scheint mir eine Testpflicht für solche Angehörige des Gesundheitspersonals zu folgen, die mit invasiven Maßnahmen befaßt sind, weil sich hier auch bei Einhaltung strenger Hygienevorschriften ein Ansteckungs-Restrisiko nicht ausschließen läßt und der Patient über Risikokontakte des Chirurgen nicht aufgeklärt zu werden pflegt, sich im übrigen einer medizinisch indizierten Operation auch kaum entziehen kann. Schon bei Prostituierten ist die Ableitung einer Testpflicht aus der strafrechtlichen Sorgfaltspflicht jedoch zweifelhaft, weil der Kunde eigentlich aufgrund der sozialen Typizität das Kontaktsituation über das Risiko Bescheid weiß, und es ist deshalb nicht das Schutzbedürfnis des einzelnen Kunden, sondern der später von diesem gefährdeten und typischerweise nicht aufgeklärten Partner, welches eine spezialgesetzliche Normierung der Testpflicht für Prostituierte unabweisbar erscheinen läßt. Daß die Prostituierte hierdurch nicht unzumutbar belastet wird, folgt aus der schlichten Selbstverständlichkeit, daß zur Ausübung jedes gesellschaftsbezogenen Berufes die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gehört. In Österreich ist deshalb in § 4 des AIDS-Gesetzes vom 16. Mai 1986 109 zu Recht die regelmäßige Untersuchung von Prostituierten auf eine HIV-Infektion vorgeschrieben, und in Deutschland bietet § 32 Abs. 2 BSeuchenG eine entsprechende Rechtsgrundlage, von der allerdings in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich Gebrauch gemacht wird l1o . Besondere Bedürfnisse für einen AIDS-Test, aber auch besondere Rechtsprobleme ergeben sich schließlich noch beim erzwungenen Zusammenleben in geschlossenen Anstalten, worauf ich sogleich zurückkomme, ebenso wie auf die Frage, wieweit die Behörden strafrechtlich verpflichtet sind, von ihren Testbefugnissen zum Schutze Dritter auch Gebrauch·zu machen. c) Bei der Frage der Durchführung von Tests zur Gewinnung des notwendigen epidemiologischen Faktenwissens geht es um einen für die AIDS-Politik besonders neuralgischen Punkt. Die Hartnäckigkeit, mit der etwa in Deutschland wirksamere ÖBGBl. 1986, S. 2021. Zu den bayerischen Vollzugsrichtlinien vgl. die Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministeriums des Innem in der Bekanntmachung v. 19. 5. 1987 betreffend AIDS (MAßl. 1987,248 ff.). 109 110
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epidemiologische Erkenntnisinstrumente als die höchst unzuverlässige Laborberichtsverordnung verschmäht werden 1l1, ist zweifellos ein eindrucksvoller Beleg für den politischen Einfluß der "Verdrängungsideologie", die zwar ursprünglich in dem von mir schon erwähnten Interesse der Vorwärtsverteidigung der Homosexuellenemanzipation konzipiert und von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Süßmuth durchgesetzt wurde, aber diese Durchschlagskraft natürlich nur wegen einer in der gesamten Gesellschaft dominierenden Verdrängungsbereitschaft erlangen konnte. Weil diese künstliche Blindheit aber anders als mit Torheit nicht zu erklären ist, muß weiterhin mit Nachdruck die Schaffung aussagekräftiger epidemiologischer Erkenntnisinstrumente gefordert werden, wie es etwa schon 1987 auf dem erwähnten Mannheimer AIDS-Symposium von Schenke und mir am Beispiel eines Mikrozensus diskutiert wurde 1l2 und inzwischen durch mannigfaltige Formen eines sog. unlinked testing ll3 wenigstens partiell möglich wäre. d) Einen eindeutigen Widerspruch muß ich schließlich gegen die These von Höpfel anmelden, daß der Beschuldigte in einem Strafverfahren wegen Infizierung
eines anderen mit HIV nicht zur Duldung des HIV-Tests gezwungen werden könne 1l4 • Eine derartige Maßnahme ist in § 81 a StPO direkt vorgesehen, und sie verstößt auch nicht gegen den allgemeinen menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsatz "nemo tenetur se ipsum prodere", denn diese letztlich in der Menschenwürde wurzelnde Garantie soll den Beschuldigten nur davor schützen, aktiv zu seiner eigenen Überführung beitragen zu müssen, verbietet aber keinesfalls die körperliche Untersuchung des Beschuldigten als Beweismittel ll5 . 3. a) Zwar nicht die Ausspähung, aber doch die Weitergabe des Geheimnisses der HIV-Infektion ist nun allerdings bei Ärzten und anderen in § 203 StGB aufgeführten Berufsgruppen, namentlich auch den zuständigen Amtsträgem, als Verletzung von Privatgeheimnissen unter Strafe gestellt. Auch insoweit liegen die wichtigsten und dogmatisch interessantesten Fragen auf dem Gebiet der Rechtfertigungsgründe, namentlich hinsichtlich der Reichweite des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB). Nach einer alten Entscheidung des Reichsgerichts wäre die Offenbarung der HIV-Infektion eines Patienten durch den Arzt an einen anderen 111 Vgl. die Verordnung über die Berichtspflicht für positive HIV-Bestätigungstests (LaborberichtsVO) vom 9. 9. 1987, BGBl. I, 1987, S. 2141 und vom 18. 12. 1987, BGBl. I, 1987, S. 2819; zu den Lücken der LaborberichtsVO vgl. Schwartländer, in: Busch/Heckmann/Marks (Fn. 8), S. 11, 15; Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 373, 378 f.; Gerhardt, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 73, 77 ff. 112 In: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 392 ff., 500 f., 508 f.; die Kritik daran von Rottleuthner, in: Rosenbrock/Salmen (Fn. 2), S. 121, 132 ff. besteht im wesentlichen aus rhetorischen Fragen, die auf die Anzweifelung jeglicher Sozialforschung hinauslaufen und deshalb im modemen Planungs- und Steuerungs staat reaktionär erscheinen. 113 Interessant die Pilotstudie von van Eunneren u. a., Anonyme unverknüpfbare HIVTests am Restblut aus bayerischen Krankenhäusern, 1992. 114 In diesem Band unten S. 111. 115 Ranft, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1995, Rn. 712; Löwe-Rosenberg-Dahs (Fn. 57), § 81 aRn.2.
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Patienten, dem ohne eine diesbezügliche Information eine Infektion drohen würde, unter dem Gesichtspunkt der Pflichtenkollision gerechtfertigt 1l6 • Es ist aber zweifelhaft, ob der eigentlich zufällige Umstand, ob der Gefährdete ebenfalls Patient des den Gefährdenden behandelnden Arztes ist, zur entscheidenden Voraussetzung für die Rechtfertigung gemacht werden darf. Das gleiche Problem stellt sich auch für den Leiter einer Strafvollzugsanstalt und andere Anstaltsbedienstete als Amtsträger gemäß § 203 Abs. 2 StGB, beispielsweise wenn sie durch die namentlich bei Transporten von HIV-infizierten Gefangenen übliche Tafel "Achtung, Blutkontakt vermeiden" in einer nach dem heutigen objektiven Erklärungswert ziemlich eindeutigen Weise auf die HIV-Infektion des betreffenden Gefangenen hinweisen ll7 . Hierbei käme als spezieller Rechtfertigungsgrund die Eingriffs-Generalklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Betracht, in deren Rahmen der Sachgehalt der Notstands- oder Nothilfevorschriften zur Geltung zu bringen wäre. Für den Anstaltsleiter und den Anstaltsarzt muß eigentlich die soeben erwähnte Entscheidung des Reichsgerichts erst recht gelten, weil beide eine GarantensteIlung für die Gesundheit der übrigen Gefangenen besitzen, so daß eine Rechtfertigung der Geheimnisoffenbarung durch sie nicht nur nach den strengen Grundsätzen des § 34 StGB, sondern sogar unter den erweiterten Voraussetzungen der rechtfertigenden Pflichtenkollision 1l8 und erst recht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Betracht kommt. Voraussetzung ist dafür aber selbstverständlich, daß die Information an solche Personen weitergegeben wird, die einem konkreten Infektionsrisiko ausgesetzt sind, also beispielsweise an den behandelnden Arzt, an Pflegepersonal, Transportpersonal oder Intimpartner. Man wird deshalb einen entsprechenden Hinweis für den Transport bei als gewalttätig bekannten Gefangenen, aber nur bei diesen, noch als zulässig ansehen müssen, nicht aber etwa einen entsprechenden allgemeinen Hinweis an der Zellentür, den beliebig viele Mitgefangene, Bedienstete oder Besucher zur Kenntnis nehmen können, ohne daß bei diesen eine konkrete Gefährdung festgestellt werden kann. b) Dementsprechend werden durch § 203 Abs. 2 StGB auch die sonst üblichen Informationswege im Strafvollzug jedenfalls im Grundsatz blockiert. So ist etwa eine Information des Bewährungshelfers über die HIV-Infektion eines vorzeitig entlassenen Gefangenen durch den Strafanstaltsleiter nur mit Einwilligung des Betroffenen zulässig, weil im übrigen § 203 Abs. 2 StGB entgegensteht. Ein Mitteilungsrecht gegenüber dem externen Arbeitgeber setzt ebenfalls voraus, daß entweder eine Einwilligung gegeben ist oder eine konkrete Infektionsgefahr besteht, und das gleiche gilt nach Haftende in bezug auf den Intimpartner des Entlassenen. Generell darf der Anstaltsarzt gemäß § 56 StVollzG nur dem Anstaltsleiter Mitteilung über die HIV-Infektion machen. RGSt 38, 62. Vgl. Eberbach, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 249, 258. 118 Zur rechtfertigenden Pflichtenkollision vgl. nur Roxin, Strafrecht AT (Fn. 6), 161 100 ff.; Lackner, StGB (Fn. 47), § 34 Rn. 15; Jescheck (Fn. 103), S. 327 ff. 116 117
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c) Besondere Probleme gelten schließlich im Klinikbereich, wo der Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes nur die Information solcher Personen abdeckt, die - wie etwa das Personal bei einer Operation - für ihren eigenen Schutz auf die Kenntnis der HIV-Infektion angewiesen sind. Das verbreitete Gegenargument, daß es sich durch eigene hygienische Vorsorge genügend absichern könnte, geht an den Realitäten eines Operationsbetriebes vorbei und überzeugt deshalb nicht, weil eine ständige maximale hygienische Vorsorge unter den Belastungen des Krankenhausalltages erfahrungsgemäß nicht möglich ist, sondern nur an den wirklich neuralgischen Punkten aufgebracht werden kann 119. 4. a) In diesem Zusammenhang spielt auch der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) eine wichtige Rolle. Denn eine an sich geschuldete Hilfeleistung wird häufig unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit davon abhängig gemacht werden können, daß derjenige, dem die Hilfe zu leisten ist, in eine Klärung seines HIV-Status einwilligt. Im einzelnen kann ich hier zweifellos vollständig auf das Referat von Kazimierz Buchala verweisen, der nach seinen uns bereits vorliegenden Thesen alle Probleme der unterlassenen Hilfeleistung in tiefgründiger Weise ausloten wird. Ich möchte statt dessen nur noch kurz auf das "Komplementärthema" eingehen, das die Abwehr der vom HIV-Infizierten ausgehenden Infektionsgefahren für andere betrifft. Es geht hier vornehmlich um die Strafbarkeit von Amtsträgern wegen eines unechten Unterlassungsde1ikts oder auch wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323 c StGB, wenn diese ein ihnen mögliches Einschreiten gegen eine weitere Ausbreitung von AIDS unterlassen. b) Die erste und vermutlich am wenigsten kontroverse Fallgruppe wird vom Nichteinschreiten der zuständigen Behörden gegen den Vertrieb HIV-kontaminierter Blutkonserven, Blutbestandteile und Blutprodukte gebildet. Weil es sich hierbei nach deutschem Recht um zulassungsbedürftige Arzneimittel handelt 120, würde der Bundesgerichtshof den für die Zulassung und entsprechend für den Widerruf der Zulassung zuständigen Beamten vermutlich eine Garantenstellung zuerkennen, nachdem er die Garantenstellung von Amtsträgern in seiner Rechtsprechung namentlich zum Umweltstrafrecht in den letzten Jahren äußerst extensiv bestimmt hat l21 . Ich selbst sehe in der Kontrolle der Zulassung eine Garantenpflicht, im Einschreiten gegen unerlaubten Vertrieb als solchen dagegen nur eine spezielle polizeiliche Aufgabe und vermisse dementsprechend im letzteren Fall die Garantenvoraussetzung der "Herrschaft über den Grund des Erfolges,,122, weshalb ich die Pflicht zum Widerruf der Zulassung aus § 13 StGB und zum Einschreiten gegen den Vertrieb infektiöser Blutprodukte aus § 323 c StGB wegen unterlassener Hilfeleistung bei "gemeiner Gefahr" ableiten würde. Doch will ich auf diese Streitfrage 119 120 121
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72 ff.
Zutr. Bottke, in: Schünernann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 237. §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 i.Y.rn. §§ 4 Abs. 2, 21 ff. AMG. BGH NStZ 1986, 503; BGHSt 38, 325, 332 ff. wistra 1986, S. 243 f.; ferner in: Girnbernat Ordeig/Schünernann/Wolter (Fn. 3), S.
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hier nicht näher eingehen, weil sich der Dissens nicht auf die Existenz einer Gefahrabwendungspflicht, sondern nur auf deren Herleitung und strafrechtliches Gewicht bezieht und deshalb nicht das "Ob", sondern nur das "Wie" der Strafbarkeit betrifft. Außerdem würde bei einem fahrlässigen Verhalten wohl auch die Rechtsprechung über die Anwendung des § 323 c StGB nicht hinauskommen, weil sich die Kausalität des Nichteinschreitens für die einzelne Infektion häufig nicht exakt feststellen lassen wird und damit die fahrlässigen Erfolgsdelikte aus Beweisgründen nicht zur Anwendung kommen können. An dieser Möglichkeit des Kausalitätsnachweises wird es namentlich in der für Deutschland praktisch wichtigsten Fallgruppe fehlen, die jenen Zeitraum betrifft, als dem Bundesgesundheitsamt bereits alarmierende Nachrichten über die mögliche Infektiosität von Blutkonserven und Blutprodukten wegen Kontaminierung mit dem damals noch gar nicht näher bekannten Virus vorlagen, als diese Nachrichten aber andererseits noch nicht so eindeutig und wissenschaftlich abschließend interpretierbar waren, daß schon eine klare Marschroute formuliert werden und beispielsweise alle nicht wärmebehandelten Seren aus dem Verkehr gezogen werden konnten bzw. mußten. Hierbei lege ich wohlgemerkt zugunsten der Amtsträger des Bundesgesundheitsamtes die offizielle Version zugrunde, daß man von einem früheren Durchgreifen wegen Ungeklärtheit der medizinischen Fakten Abstand genommen habe und nicht etwa unter lobbyistischem Druck der Pharmaindustrie, wie eine durchaus ernstzunehmende andere Version lautet. Selbst nach der offiziellen Version kann nun aber kein Zweifel daran bestehen, daß die strafrechtlich geschuldete Hilfeleistung dann jedenfalls in der Aufklärung der Betroffenen über die Verdachts situation bestanden hat, so daß der Tatbestand des § 323 c StGB beispielsweise dadurch erfüllt worden ist, daß das Bundesgesundheitsamt nicht sämtliche Bluter auf die wenn auch noch ungeklärten Risiken einer weiteren Fortsetzung der bis dato üblichen Therapie mit hochdosierten Faktor VIII-Präparaten hingewiesen und ihnen dadurch eine eigene Entscheidung zwischen den auf dem Spiele stehenden Risiken ermöglicht hat. In der in Deutschland hierzu ziemlich heftig geführten Diskussion 123 ist dieser Aspekt eigenartigerweise völlig übersehen worden, und die zuständigen Amtsträger des Bundesgesundheitsamtes haben sich deshalb in strafrechtlicher Hinsicht bisher ziemlich einfach herausreden können. Daß sie aber wegen Nichtweitergabe der bei ihnen zusammenlaufenden Informationen an den gefährdeten Personenkreis auf jeden Fall eine strafbare unterlassene Hilfeleistung begangen haben, scheint mir evident zu sein. c) Während die Versäumnisse der deutschen Gesundheitsbehörden gegenüber der AIDS-Ausbreitung durch Blut und Blutprodukte der Vergangenheit angehören dürften, ist das Thema in bezug auf die quantitativ zweifellos noch viel bedeutendere AIDS-Ausbreitung im Prostitutionsmilieu unvermindert aktuell. Nach den in einem bestimmten Teil des Schrifttums vielgeschmähten, teilweise geradezu hyste123 Aber vorwiegend in zivilrechtlicher Hinsicht, s. Brüggemeier, Staatshaftung für HIVkontaminierte Blutprodukte, 1994; Urt. des LG Aachen vom 23. 11. 1994, 4 0 365/93; Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses vom 21. 10. 1994, BT-Dr. 12/8591.
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risch kommentierten 124 bayerischen Vollzugshinweisen von 1987 125 , deren weitgehende Übereinstimmung mit dem unter einer sozialdemokratischen Regierung erlassenen österreichischen AIDS-Gesetz von 1986 126 (etwa bezüglich der Testpflicht aller und des Berufsverbotes der HIV-infizierten Prostituierten!) in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, sollte - grob gesagt - die Verwaltungspraxis nach dem Geschlechtskrankheitengesetz auch zur Eindämmung der AIDS-Ausbreitung eingesetzt werden, indem Prostituierte zu regelmäßigen HIV-Antikörpertests angehalten und HIV-infizierte Prostituierte sozusagen aus dem Verkehr gezogen werden sollten. Aus der Fülle der hier schlummernden strafrechtlichen Probleme möchte ich nur den Fall herausgreifen, daß der zuständige Leiter eines Ordnungsamtes es unterläßt, gegen die Prostitutionsausübung einer amtsbekannt HIVinfizierten Prostituierten einzuschreiten - eine Zurückhaltung übrigens, die in weiten Teilen Deutschlands der gegenwärtigen Behördenpraxis entsprechen dürfte. Der Bundesgerichtshof hat vor einiger Zeit den Leiter eines Ordnungsamtes wegen Beihilfe durch Unterlassen zur Förderung der Prostitution gemäß § 180 a StGB verurteilt, weil dieser gegen einen strafrechtlich verbotenen Bordellbetrieb nicht eingeschritten war 127 . Was dem mit diesem Tatbestand verfolgten Schutz der Prostituierten gegen eigenes unvernünftiges Verhalten recht ist, sollte dem Schutz ihrer Kunden umso eher billig sein, als sich deren Verhalten anders als bei der Berufsentscheidung der Prostituierten nicht auf ihren eigenen Rechtsgüterkreis beschränkt, sondern nach den Regeln der Epidemieausbreitung eine weitere Gefahrenquelle für die Gesundheit der Allgemeinheit eröffnet. Der Bundesgerichtshof müßte in dem von mir gebildeten Fall also erst recht eine Garantenstellung des Ordnungsamtsleiters für Leib und Leben der Kunden bejahen, und anders als bei § 180 a StGB, wo ein in der BGH-Entscheidung völlig übersehenes, weitreichendes Ermessen der Behörde zu respektieren ist l2S , müßte man bei der Pflicht der Ordnungs- und Polizeibehörden, eine weitere AIDS-Ausbreitung durch HIV-infizierte Prostituierte zu verhindern, unbedingt eine Ermessensreduzierung auf Null erwägen. Nach meiner eigenen Konzeption ist die Garantenstellung freilich schon im Ansatz zu verneinen, weil Polizeibeamte zwar im öffentlichen Interesse polizeirechtlich zum Einschreiten verpflichtet sein mögen, aber keine Herrschaft über den Grund des Erfolges besitzen l29 . Es bleibt also auch hier richtigerweise bei der "gemeinen Gefahr", die eine HIV-infizierte Prostituierte (nebenbei natürlich ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht) im Sinne des § 323 c StGB darstellt und deretwegen das unterlassene polizeiliche Einschreiten als eine strafbare unterlassene Hilfeleistung zu qualifizieren ist. 124 Vgl. etwa Prankenberg, in: Prittwitz (Pn. 4), S. 93, 94; Rottleuthner (Pn. 1), S. 126; B. u. M. Breitbach/Rühl, KJ 1988,62, 64. 125 Ministerialamtsblatt der Bayer. Inneren Verwaltung 1987, S. 248 ff. 126 S.O. Pn. 109 und vor allem §§ 2, 4 ÖAids-Ges. 127 BGH NStZ 1986,503. 128 Näher Schünemann (Pn. 3), S. 62 ff. m.w.N. 129 Siehe Schünemann (Pn. 3), S. 65.
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d) Wenn man sich fragt, warum das skandalöse Verhalten des Bundesgesundheitsamtes in puncto Sicherheit der Blutkonserven und Blutprodukte bisher in der strafrechtlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl eine Verjährung der (nach dem Standpunkt der Rechtsprechung in Betracht zu ziehenden) Tötungsdelikte durch Unterlassen wegen der späten Erfolgseintritte (s. § 78 a!) längst noch nicht droht; und warum die nach vorliegenden Berichten häufig notorische Duldung der Berufsausübung AIDS-kranker Prostituierter durch die Ordnungsbehörden bisher ebenso wenig unter strafrechtlichen Aspekten überprüft worden ist: wegen jener eigenartigen Melange aus Liberalismus und Verdrängung, Scheinrationalität, selektiver Larmoyanz und Krypto-Rücksichtslosigkeit, die den moralischen Kern der postmodernen Gesellschaft bildet und gerade bei ihrer Verarbeitung des AIDS-Komplexes gründlich demaskiert werden kann. Der Verzicht auf Intervention oder wenigstens öffentliche Information nach den ersten triftigen Verdachtsmomenten gegenüber der Sicherheit von Blutkonserven und Blutprodukten, die Ablehnung einer Meldepflicht wie überhaupt jeder gesetzlichen Regelung der AIDSProblematik mit Ausnahme der Laborberichtsverordnung, die Nichteinführung eines epidemiologisch zuverlässigen Erfassungssystems und schließlich die Ersetzung der ursprünglich auch auf die Testempfehlung gegründeten amtlichen AntiAIDS-Propaganda durch eine reine Kondomwerbung im Kielwasser der AIDS-Hilfegruppen (und von deren Reaktion auf das AIDS-Urteil BGHSt 36, I!) fügen sich zu jener ,,süssmuth-Linie,,130, die ihre im Ansatz berechtigte Zurückhaltung gegenüber jeder staatlichen Intervention durch ihre gezielte kollektive und individuelle Verdrängung der epidemiologischen Wirklichkeit in Wahrheit längst diskreditiert hat. Denn wenn der Staat gar nicht wissen will, welche konkrete Entwicklung die weitere AIDS-Ausbreitung nimmt, und wenn dem einzelnen nicht einmal mehr geraten wird, sich bei begründetem Anlaß über seinen eigenen HIV-Status und damit über seine eigenen Verhaltenspflichten gegenüber anderen zu vergewissern, dann läuft das kurzweg auf die Politik der drei Affen hinaus, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen wollen. Ausgerechnet dies als einen rationalen Umgang mit AIDS hinstellen zu wollen, stellt die Dinge genau auf den Kopf und führt sich durch die Verabsolutierung der Kondomwerbung völlig ad absurdum: Von der empirisch längst belegten, nur begrenzten Wirksamkeit dieses Konzepts ganz abgesehen!3! (die natürlich nur die zusätzliche, nicht aber die alleinige Verfolgung dieser Strategie legitimiert), wird damit die primäre Botschaft der totalen Verdrängung mit der sekundären Botschaft des "so tun als ob" kombiniert und damit die permanente Beobachtung einer nur hypothetisch begründeten höchsten Sorgfalt ausgerechnet im Bereich der Sexualität erwartet, deren anarchisch-irrationale, triebbestimmte Handlungsstruktur seit 5000 Jahren Allgemeingut der menschlichen Selbsterkenntnis ist, von den Verfechtern der Süssmuth-Linie aber krampfhaft geleugnet wird, obwohl darüber ja in Wahrheit nirgendwo so viel aktuelles Erfah130 Zu deren näherer Charakterisierung Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 403 ff. 131 Siehe Koch, AIDS - die lautlose Explosion, 1988, S. 95 f.
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rungswissen vorliegt wie in der als spiritus rector fungierenden Homosexuellenkultur und den in ihr wurzelnden AIDS-Hilfegruppen. Während ein Rückzug von Staat und Recht aus der aktiven Gefahrenabwehr dort sachlich begründet werden kann, wo die Grenzen der Wirksamkeit des Staates erreicht sind wie in dem jeder Intervention unzugänglichen privaten Lebensraum, macht es einen rein ideologischen Hintergrund offenbar, wenn dieser auf das Prostitutionsmilieu als dem wegen der enormen Partnerwechselfrequenz wichtigsten Scharnier für die sexuelle AIDS-Ausbreitung außerhalb bestimmter promiskuitiv organisierter Subkulturen ausgedehnt wird. Das gewöhnlich hinzukommende Argument von der fehlenden Schutzwürdigkeit der Kunden bedeutet eine eigenartige Umschaltung auf die an sich überwunden geglaubte Ebene der Sexualmoral und ist schon deshalb abwegig, weil dabei die typische Anschlußgefährdung der Lebenspartner der Kunden mit einer unerklärlichen Ignoranz übergangen wird. Und deshalb.gibt es keinen tragfähigen Grund, die polizeiliche Aufgabe zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in öffentlichen Bereichen wie der Gesundheitsfürsorge und der Prostitution ausgerechnet bei AIDS einzuschränken.
IV. Die Probleme von Strafzumessung und Strafvollzug 1. Das Referat von Comelius Nestler wird hoffentlich nicht der erste Anlaß sein, uns die Frankfurter Sicht der AIDS-Problematik im Strafrecht nahezubringen, denn ich zweifle nicht, daß schon die Diskussion zu den vorangehenden Referaten hierfür reichlich Gelegenheit bieten wird. Ein Hauptproblem der Strafzumessung ist sicher die vorzeitige Entlassung, denn weil die HIV-Infektion die Strafempfindlichkeit enorm steigert, sprechen durchaus triftige Gründe für eine Unterbrechung des Strafvollzugs gemäß § 455 StPO oder gar für eine Aussetzung des Strafrestes über die Grenzen des § 57 StGB hinaus. Die bisher ablehnende Haltung der Rechtsprechung\32 erscheint aber aus zwei Gründen akzeptabel: Zum einen droht gegenwärtig bei einer vorzeitigen Entlassung für den Gefangenen ein "Absturz ins Nichts", weil bis jetzt keine spezielle und ausreichende Vorsorge für die spezifische Situation des HIV-infizierten Gefangenen nach seiner Entlassung aus der Strafhaft getroffen worden ist. Und zum anderen wird man die in § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB für die Aussetzung des Strafrestes angeführte Voraussetzung, "ob zu erproben verantwortet werden kann, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird", bei einer prognostisch relevanten HIV-Infektion, insbesondere also etwa bei der Besorgnis künftiger Beschaffungsprostitution, zu verneinen haben. Wegen der verzweifelten Situation eines aus der Strafhaft entlassenen Gefangenen, der HIV-infiziert ist, wie auch wegen der daraus resultierenden spezifischen Infektionsgefahr für die Allgemeinheit müssen Gesetzgeber und Justizverwaltung unter allen Umständen für diese Personen eine therapeutische 132
LG Ellwangen NStZ 1988, 330, 331; OLG Stuttgart NStE Nr. 2 zu § 455 StPO.
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Nachbetreuung installieren, die weitaus intensiver als die heutige Bewährungshilfe ausgestaltet werden muß 133. 2. a) Überaus vielfältig sind die Probleme von AIDS im Strafvollzug; über sie wird im Beitrag von Klaus Geppert umfassend berichtet. Ein HIV-Sonderrecht existiert auch insoweit bis heute in Deutschland nicht, was im Strafvollzug deshalb durchaus problematisch ist, weil in Justizvollzugsanstalten die Angehörigen von Risikogruppen, insbesondere intravenös Drogenabhängige, überproportional häufig anzutreffen sind und weil ursprünglich ca. 90 % aller HIV-Infizierten und heute immer noch der größte Teil diesen sog. Risikogruppen angehören. Weil die Freiheitseinschränkungen der übrigen Mitgefangenen sowie die Berufspflichten der in der Justizvollzugsanstalt tätigen Personen deren Möglichkeiten zum Ausweichen vor abstrakten oder konkreten Infektionsgefahren auch durchaus einschränken, läßt sich ein Bedürfnis für gewisse Sonderregelungen in diesem Bereich an sich nicht leugnen. Nach der heutigen Praxis der Vollzugsgestaltung gegenüber HIV-infizierten Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland scheint eine abweichende Behandlung dieser Personen gegenüber den übrigen Gefangenen nur, aber immerhin unter wenigen Aspekten stattzufinden, nämlich in Gestalt einer Einzelunterbringung während der Ruhezeit sowie durch eine Ablehnung der Beschäftigung an Arbeitsplätzen mit einer gesteigerten Gefahr stark blutender Verletzungen, schließlich auch aus "optischen Gründen" überwiegend durch eine Verneinung des Arbeitseinsatzes in Versorgungseinrichtungen wie Küche und Wäscherei, teilweise auch als Friseur oder in den Krankenabteilungen. Im übrigen findet dagegen eine vollständige Integration in den normalen Vollzugsalltag statt. Auch bei Vollzugslockerungen wird der HIV-infizierte Gefangene nicht anders als andere Gefangene behandelt. Einem externen Arbeitgeber pflegt der HIV-Befund nicht ungefragt offenbart zu werden. Wenn sich ein Gefangener weigert, den auf freiwilliger Basis angebotenen HIV-Test durchführen zu lassen, so werden hieran regelmäßig keine vollzugsrechtlichen Folgen geknüpft. Allerdings wird dann offenbar eine sehr starke "Motivationsarbeit" geleistet, weshalb heute immer noch der größte Teil der Gefangenen diesen Test durchführen läßt 134 . b) Diese Praxis scheint mir im wesentlichen mit dem Gesetz und insbesondere auch den verfassungsrechtlichen Grundlagen in Einklang zu stehen 135. Besondere Sicherungsmaßnahmen wie etwa Absonderung und Einzelhaft sind nur dann zulässig, wenn es sich um einen als gewalttätig bekannten Gefangenen bzw. um einen solchen handelt, der angekündigt hat, Gewalt gegenüber Personen im Vollzug anzuwenden (Verhaltensabnormität), oder sofern der HIV-Infizierte einen seelischen Defektzustand aufweist (seelische Abnormität). Die Einzelunterbringung während 133 Diese Forderung habe ich bereits früher erhoben, in: Busch/Heckmann/Marks (Fn. 8), S. 155 f. 134 Eberbach, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 253; Schäfer, in: Busch/Heckmannl Marks (Fn. 8), S. 181; Rex, in: Busch/Heckmann/Marks (Fn. 8), S. 189. 135 Näher dazu Hefendehl, ZfStrVo 1996, Heft 3.
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der Ruhezeit ist dagegen bei HIV-infizierten Gefangenen allgemein zulässig, weil sie ja ohnehin der gesetzlichen Regel entspricht und deshalb keine gegen das Gesetz verstoßende Diskriminierung darstellt. Die Einschränkungen bei der Beschäftigung HIV-infizierter Gefangener sind durch die Generalklausei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Vollzugsanstalt gedeckt, weil die Anstaltsleitung hiernach auch irrationale Ängste zu berücksichtigen hat, sofern es sich um solche handelt, die in der Gesellschaft noch allgegenwärtig und auch durch Aufklärungsmaßnahmen nicht vollständig auszurotten sind. Derartigen im Ermessensbereich angesiedelten Maßnahmen dürfte aber kein korrespondierender Rechtsanspruch des Mitgefangenen etwa auf Entfernung eines HIV-Infizierten aus einer mit dem Lebensmittelbereich in Verbindung stehenden Arbeitstätigkeit entsprechen. Denn die Sicherheits- und Ordnungsgesichtspunkte können nur insoweit als eine bloße Kumulation der Sicherheitsansprüche der anderen Gefangenen gesehen werden, wie eine reale Gefahr besteht, nicht aber bei einer irrationalen Gefährdungsangst, weshalb ich den Anspruch eines nicht infizierten Gefangenen auf eine bestimmte Arbeitszuweisung an den infizierten Gefangenen verneinen möchte. Anders dürfte es bezüglich der gemeinsamen Unterbringung mit einem infizierten Gefangenen in den Ruhezeiten liegen, weil hier reale Gefahren bestehen, auf deren Abwendung der einzelne betroffene Gefangene einen Anspruch hat. Was die externen Arbeitsverhältnisse anbetrifft, so kann die Fürsorgepflicht der Anstalt, freie Beschäftigungsverhältnisse für hierfür geeignete Gefangene offenzuhalten und zu fördern, nicht über das den körperlichen Gesundheitszustand einschließende Recht des Gefangenen zur Geheimhaltung seiner persönlichen Daten gestellt werden, so daß eine ohne Einwilligung des Gefangenen erfolgende Offenbarung seiner Infizierung nicht gestattet ist, der Anstaltsleiter sich in diesem Fall also vielmehr nach § 203 Abs. 2 StGB wegen Verletzung von Privatgeheimnissen strafbar machen würde. Am wenigsten geklärt dürfte schließlich die Frage einer speziellen Behandlung von Gefangenen sein, die die Durchführung des HIV-Tests verweigern. Wenn sich ein solcher Gefangener tatsächlich aggressiv-gefährlich verhält, so sind m.E. gegen ihn die gleichen besonderen Schutzmaßnahmen in Erwägung zu ziehen, die auch bei einer tatsächlichen HIV-Infektion angebracht wären. Bei einer günstigen Verhaltensprognose des den Test verweigernden Gefangenen kommt eine spezielle Behandlung allenfalls dann in Betracht, wenn sich die Testverweigerung herumgesprochen hat und von den Mitgefangenen mit einer möglichen HIV-Infektion gleichgesetzt wird. Unstatthaft ist es dagegen, bei gemeinsamer Unterbringung während der Ruhezeit die davon betroffenen anderen Gefangenen auf die fehlende Testdurchführung hinzuweisen, denn das hätte die nach geltendem Recht nur bei Angehörigen von Risikogruppen begründbare Testpflicht zur Voraussetzung.
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v. Zusammenfassende rechtspolitische und verfassungsrechtliche Überlegungen zum Einsatz des Strafrechts als Mittel der AIDS-Eindämmung
Es liegt auf der Hand, daß zu dieser abschließenden Thematik nicht nur ein, sondern mehrere Beiträge nötig wären, um sie erschöpfend abzuhandeln. Ich möchte mich deshalb hier auf eine ganz knappe Erörterung einiger zentraler Aspekte beschränken und mich sodann noch einem in der neueren deutschen Diskussion ganz stark in den Vordergrund getretenen prozessualen Thema zuwenden, nämlich der Frage eines Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter in anerkannten Beratungsstellen für AIDS- und Suchtfragen und der korrespondierenden Einführung einer strafrechtlich sanktionierten Schweigepflicht.
1. Zur allgemeinen Möglichkeit der Steuerung gesellschaftlichen Verhaltens mit rechtlichen Mitteln im A1DS-relevanten Bereich
a) Wenn das Urteil des BGH vom 4. 11. 1988 136 den Widerruf der Empfehlung von HIV-Antikörpertests durch die Deutsche AIDS-Hilfe zur Folge hatte - und zwar zu dem Zweck, den praktisch nur aufgrund eines solchen Tests nachweisbaren Vorsatz bezüglich der eigenen Infektiosität entfallen zu lassen -, was erkennbar eine Billigung ungeschützten Sexualverkehrs ohne Aufklärung des Partners über eine bestehende Infektion impliziert, so macht dies beispielhaft deutlich, daß die für den Lebensschutz unerläßlichen Verhaltensnormen im Bereich infektionsgefährlichen Sexualverhaltens dringend der Präzisierung und Verstärkung mit den Mitteln des Rechts bedürfen. Gerade auch ein Aufklärungs- und Beratungskonzept als dominierende Strategie der AIDS-Eindämmung kann hierauf nicht verzichten, weil allgemeingültige Normen in der pluralistischen Gesellschaft nur vom Recht festgesetzt werden können und zum Schutz elementarer Rechtsgüter der Akzentuierung durch das Strafrecht als "ethisches Maximum" bedürfen (während eine bloße Selbstschutzempfehlung je nach Lebensmaxime des Einzelnen und Affektgeladenheit der Situation ins Leere geht)!37. BGHSt 36, I ff.; dazu Schünemann, JR 1989, 89. Daß man die gesellschaftliche Effizienz einer mit den Mitteln des Rechts betriebenen Werte-Kommunikation freilich auch nicht überschätzen darf, ist in der kriminologischen Forschung insbesondere im Hinblick auf die relative Wirkungslosigkeit des Rechts gegenüber durch andere Werte geprägten Subkulturen seit langem bekannt und durch die "Theorie der autopoietischen Systeme" in einen umfassenden theoretischen Bezugsrahmen gestellt worden. Unbeschadet dessen muß aber betont werden, daß AIDS kein bloßes Subkulturphänomen ist, sondern auch - wenngleich in der BRD gegenwärtig noch in geringerem Umfange ein Problem der Gesamtgesellschaft darstellt und daß wegen der fließenden Grenzen zwischen Gesamtkultur und Subkultur sowie den ständigen infektionsrelevanten Kontakten zwischen beiden die Verhaltensnormen des Rechts nur einheitlich formuliert werden können. 136
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b) Die Frage nach der Möglichkeit einer rechtlichen Steuerung gesellschaftlichen Verhaltens im AIDS-relevanten Bereich ist eine sowohl rechtlich als auch empirisch zu beantwortende Frage, wobei sich beide Aspekte wegen des für jeden staatlichen Eingriff geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der rechtlichen Voraussetzung der Geeignetheit der fraglichen Maßnahme zum Rechtsgüterschutz überschneiden. c) Solange aber keine empirischen Untersuchungen vorliegen, die speziell die Möglichkeiten und Grenzen der AIDS-Eindämmung durch eine mit den Mitteln des Rechts betriebene Verhaltenssteuerung betreffen 138, so daß die für die AIDSBekämpfung verwertbaren sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zum größten Teil unspezifisch sind, muß die Entwicklung rechtlicher Handlungsmaximen für Entscheidungen unter Unsicherheit 139 im Vordergrund des Problemlösungsverhaltens stehen. Konkrete Erfahrungen mit bisher auf anderen Gebieten der staatlichen Gesundheitspolitik angewandten Mitteln der Verhaltenssteuerung sind auf den AIDSKomplex nur unter Inkaufnahme grober Verzerrungen übertragbar. Dies gilt, um nur ein Beispiel zu nennen, für die Kampagne gegen das Rauchen. Die gesellschaftliche Risikowahrnehmung unterscheidet sich beim Tabakrauchen grundlegend von derjenigen bei AIDS, weil es dabei nicht die Vorstellung der Irreversibilität eines tödlichen Verhängnisses nach einem einzigen Verhaltensfehler gibt, sondern das Rauchen in der Gesellschaft äußerstenfalls als eine beliebig abzubrechende, unmerkliche Konsumtion der vitalen Reserven analog dem Prozeß des Alterns überhaupt empfunden wird. Modellerfahrungen könnten deshalb lediglich auf dem Gebiet der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vorliegen. Bedauerlicherweise sind aber auch insoweit die wirklich verwertbaren Befunde dürftig, weil das interventionistische Instrumentarium des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten zur Seucheneindämmung in den letzten Jahrzehnten wegen der in der Regel leichten Therapierbarkeit nur noch eine marginale Rolle gespielt hat. Davor, also zwischen den Weltkriegen, dürfte sich die Wirkung des Gesetzes und der polizeilichen Kontrolle auf diesem Gebiet im wesentlichen auf die Garantie relativ risikoarmer Räume des Sexualverkehrs im Bereich der registrierten Prostitution beschränkt haben, worin man heute bei zu vermutender enormer Ausbreitung eines promiskuitiven sexuellen Tauschmarktes wohl keinen ausreichenden Beitrag zur AIDS-Eindämmung erblicken würde. Als wesentliche Erfahrung dürfte deshalb zu verbuchen sein, daß die fundamentalen Akzeptanzprobleme 14o, die gegenwärtig interventionistischen 138 Zur staatlichen Pflicht zur Erfolgskontrolle von Maßnahmen der AIDS-Bekämpfung vgl. Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 391 ff. 139 Zu dieser Kategorie vgl. Kirsch, Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse I, 1972, S. 29 f. 140 Vgl. Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 399 ff.; zur Einführung des GeschlKrG s. Rühmann, in: Rosenbrock/Salmen (Fn. 2), S. 291, 302 f.
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Konzepten nachgesagt werden, bei der Einführung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in der Weimarer Republik nicht aufgetreten sind. Auch diese Erfahrung ist freilich auf die heutigen Verhältnisse wegen der unterschiedlichen Verbreitung von von der Seuchenbekämpfung spezifisch betroffenen Subkulturen nur eingeschränkt übertragbar l41 . d) aa) Die rechtliche Frage nach den Grenzen der Eigensteuerung durch Selbstverantwortung bzw. dem Erfordernis der Fremdsteuerung durch Normen kann man zunächst auf das Handeln des schon Infizierten beziehen l42 . Dann gibt schon das Grundgesetz die normative Antwort, daß der Staat zum Schutz der Grundrechte, darunter natürlich auch von Leben und Gesundheit der Bürger, zu einer Fremdsteuerung durch Normen verpflichtet ist, und zwar in Ausführung der Kardinalnorm des "neminem laede,,143. Eine normfreie Eigensteuerung beschränkt sich danach auf den Bereich der für die Rechte anderer ungefährlichen Privatautonomie. bb) Wichtiger und differenzierter zu beantworten ist demgegenüber die Frage nach der Selbstverantwortung des noch nicht Infizierten, die im Verfassungsrecht im Rahmen des sog. Subsidiaritätsprinzips zu erörtern und speziell im Strafrecht als Konkretisierung des Grundrechtsschutzes im Rahmen der sog. Viktimo-Dogmatik l44 intensiv diskutiert worden ist. (1) Nach den Ergebnissen dieser Diskussion ist für das Prinzip der Selbstverantwortung bei einem erheblichen Wissensdefizit des Infizierten gegenüber dem Infizierenden kein Raum. (2) Vor allem greift aber der Gedanke der Selbstverantwortung deshalb als alleiniges normatives Prinzip bei AIDS zu kurz, weil dabei die Existenz des Neu-Infizierten als neuer Infektionsquelle z. B. auch für schutzlose Opfer übersehen oder ignoriert wird.
cc) Es kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, daß eine etwaige "Interventionsschwelle" des Rechts bei einer drohenden Infizierung mit HIV weit überschritten ist, so daß sich allein die Frage stellt, welche rechtlichen Maßnahmen zum Lebensschutz geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. e) Bei der Prüfung der grundsätzlichen Geeignetheit steht es zunächst außer Zweifel, daß eine lückenlose oder auch nur flächendeckende rechtliche Kontrolle des Sexualverhaltens unmöglich ist l45 . 141 Das gleiche gilt für die zuletzt nur noch äußerst lückenhafte Erfüllung der Meldepflicht nach dem GeschlKrG, die z.T. ebenfalls auf der Überholung des Gesetzes durch die Fortschritte der Medizin beruhen und deshalb keine für die andersartige Situation bei AIDS verwertbaren Erfahrungen liefern dürfte. 142 Dazu Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 422 ff. 143 Was in Hesses Anknüpfung an den beim Lebensschutz deplazierten "fragmentarischen Charakter des Strafrechts" (a. a. O. - Fn. 2 -, S. 70 ff.) ebenso verkannt wird, wie seine ständige Diagnose von "Bestrafungswillen" bei seinen Kontrahenten die Sachargumente ersetzt. 144 Dazu Schünemann, in: Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege, 1979, S. 407 ff.; ders., Faller-FS, 1984, S. 357 ff.; ders., NStZ 1986,439 ff.
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Daraus folgt aber nicht, daß es unmöglich wäre, mit rechtlichen Mitteln bestimmte, unerträglich schädliche sexuelle Interaktionen wenigstens in ihrer Häufigkeit zu reduzieren l46 . Vielmehr beeinflußt das Recht das gesellschaftliche Verhalten normalerweise in dreifacher Form, nämlich durch Kommunizierung des betreffenden Wertes (Theorie des symbolischen Interaktionismus), durch Androhung von Sanktionen (Theorie der Generalprävention) und durch die physisch-reale Wirkung der Sanktion selbst, wodurch insgesamt eine bald mehr, bald weniger große Reduzierung des verbotenen Verhaltens erreicht wird. Gegenüber einem HIV-Infizierten dürfte die zweite Einflußform entfallen ("Le neant neantise"), während die erste Form, in welcher die Aufklärungsstrategie allein wurzeln kann, sogar von besonderer Bedeutung sein dürfte. Die dritte Form ist schließlich gegenüber durch Aufklärung nicht belehrbaren, durch ihre Lebensform für die Gesundheit anderer direkt schadensverursachenden Infizierten als einzige Maßnahme erfolgversprechend und deshalb auch verfassungsrechtlich zwingend geboten. Selbst wenn die epidemiologische Gesamtwirkung solcher Interventionen eher gering sein sollte, werden sie durch den verfassungsrechtlichen Höchstwert jedes einzelnen Menschenlebens legitimiert. Eine "Kontraproduktivität" interventionistischer Maßnahmen wäre möglich, wenn diese schlecht konzipiert oder durch eine systematische Gegenpropaganda denunziert würden, kann aber durch eine zweckmäßige Trennung der Beratungsschiene von der administrativen Schiene vermieden werden. Notwendig ist dafür die Fortsetzung der schon heute praktizierten Entkoppelung durch Herausnahme der weiterhin staatlich finanzierten Beratung aus der staatlichen Kontrolle und durch die Absicherung dieser Trennung mit Hilfe der Begründung von Schweigepflichten der staatlich anerkannten Beratungsstellen, mit einem korrespondierenden Zeugnisverweigerungsrecht im Strafverfahren und einer Strafandrohung für den Fall ihrer Verletzung (s. dazu u. 3.). Die Vorstellung, Gesundheitsbeeinträchtigungen im Einzelfall müßten aus Gründen der besseren Akzeptanz von Beratungsmaßnahmen geduldet werden, läuft dagegen auf eine Art Saldotheorie hinaus, die vom BVerfG in der Entscheidung zur Schwangerschaftsunterbrechung explizit verworfen worden ist l47 .
Vgl. dazu Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 409 ff. Wer das Gegenteil behauptet, beruft sich meist fälschlicherweise auf das überholte, seit 15 Jahren abgeschaffte Sittlichkeitsstrafrecht, das freilich wegen seines Eingriffs in die Privatautonomie der Bürger von vornherein nicht auf soziale Akzeptanz rechnen konnte. Bei der Infizierung mit HIV geht es dagegen um eine noch weitaus schlimmere Verletzung als etwa bei einer Vergewaltigung, bei der sich bisher noch niemand auf die Wirkungslosigkeit des Rechts berufen hat. Vgl. Lü. zu außerrechtlichen Präventionsstrategien die Beiträge in Rosenbrock/Salmen (Fn. 2). 147 BVerfGE 39, 1, 58 ff. und zur AIDS-Entscheidung vom 28. 7. 1987 Schünemann, in: SchünemannlPfeiffer (Fn. 8), S. 381 ff. 145
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2. Kriminalpolitische Desiderate?
a) Was die Frage nach der Notwendigkeit weiterer Straftatbestände anbetrifft, so läßt sich die theoretische Lückenhaftigkeit des geltenden Rechts nicht leugnen, weil beispielsweise die in beiderseitigem Einverständnis erfolgende Infizierung unter seuchenpolizeilichen Gesichtspunkten nicht minder gefährlich und unerwünscht ist als die Infizierung in mittelbarer Taterschaft und weil etwa ein abstraktes Gefahrdungsdelikt nach dem Muster des § 6 GeschlKrG die Unanwendbarkeit der fahrlässigen Erfolgsdelikte kompensieren würde. Ich darf hierzu auf den bereits erwähnten deutsch-spanischen Entwurf hinweisen (s.o. 11. 4 t), dessen genauere Vorstellung und Begründung an dieser Stelle freilich nicht mehr möglich ist. b) Dringend reformbedürftig erscheinen die strafrechtlichen Rechtsfolgen. Daß die Verhängung eines ausschließlich negativ verstandenen Strafübels gegen den ja selbst vom Tode gezeichneten Infektionstäter von diesem selbst verachtet und von der Gesellschaft als inhuman empfunden werden muß, liegt auf der Hand. Der (zur Sicherung der Gesellschaft notwendige) Einsatz des Strafrechts wird sich deshalb nur legitimieren lassen, wenn man ihn als einschränkende Voraussetzung für den Einsatz des seuchenpolizeilichen Instruments der Absonderung ausgestaltet und zugleich nicht nur beide Maßnahmen zusammenführt, sondern in Richtung auf eine die Freiheitsentziehung oder -beschränkung binnen kurzem entbehrlich machende Sozialtherapie fortentwickelt. c) Daneben erscheint eine Erweiterung der bisher lückenhaften Rechtsgrundlagen für die Durchführung von "AIDS-Tests" als erforderlich - allein schon zur Gewinnung zuverlässiger epidemiologischer Befunde, die durch wahlweise doppelt (d. h. auch gegenüber dem Betroffenen) anonyme Auswertung zumutbar gemacht werden kann. Nach Verfügbarkeit besserer Erkenntnisse über die weitere Ausbreitung der HIV-Infektion einschließlich der Gefährdung bestimmter Berufsgruppen wird die Frage der Ausdehnung der Testmöglichkeiten - vielleicht sogar auf erheblich breiterer Front - erneut zu untersuchen sein. Das im Zwischenbericht der Enquete-Kommission in den Vordergrund gestellte unlinked testing 148 ist für sich allein unzureichend, um diejenige Kenntnis über Richtung und Geschwindigkeit der weiteren AIDS-Ausbreitung zu vermitteln, die sich der Staat aus Rechtsgründen beschaffen muß 149. Die in der bisherigen einschlägigen Diskussion deutlich zum Ausdruck kommende Berührungsangst gegenüber der Beschaffung klarer epidemiologischer Erkenntnisse ist nicht nur wegen der Pflicht des Staates zum Lebensschutz und damit zuförderst zur Beschaffung einer zuverlässigen Beurteilungsgrundlage verfassungsrechtlich unhaltbar 15o, sondern wirkt auch angesichts dessen geradezu grotesk, daß die Protagonisten des non-interventionistischen Lagers ihren ,,zur Sache" 3/88, S. 131. Vgl. Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 391 ff. ISO Übersehen im Kammerbeschluß des BVerfG vom 28. 7. 1987; vgl. dazu nur Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 381 ff., 391 ff. 148 149
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Diskussionspartnern gerne vorwerfen, sich von irrationalen Ängsten leiten zu lassen 151 . d) Ferner ist zu betonen, daß jeglicher Versuch einer administrativen AIDS-Eindämmung, sei es auf polizeirechtlichem, sei es auf strafrechtlichem Wege, auf gleichzeitige Anti-Diskriminierungsmaßnahmen sowohl unter Effizienz- als auch unter Legitimationsgesichtpunkten angewiesen ist. Die Reaktionen des Rechts auf AIDS dürfen deshalb nicht isoliert voneinander, sondern nur im Rahmen einer allgemeinen Abstimmung konzipiert werden.
3. Einführung einer Schweigepflicht für Mitarbeiter in anerkannten Beratungsstellen für AIDS-Fragen und eines Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter in anerkannten Beratungsstellen für AIDS- und Suchtfragen a) Zum systematischen Zusammenhang von strafrechtlicher Schweigepflicht und prozessualem Zeugnisverweigerungsrecht aa) Die strafrechtliche Schweigepflicht § 203 StGB schützt in erster Linie den persönlichen Lebens- und Geheimbereich und ist deshalb eine Ausführungsnorm zu Art. 1 und 2 GG. Diese schon früher im strafrechtlichen Schrifttum vertretene, aber durchaus umstrittene Auffassung 152 kann seit der Anerkennung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das BVerfG 153 nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Die strafrechtliche Schutzwürdigkeit des Rechtsgutes steht deshalb außer Frage.
Das neben, früher sogar häufig vor dem persönlichen Lebens- und Geheimbereich angeführte Schutzgut des allgemeinen Vertrauens in die Verschwiegenheit bestimmter Berufe und - wiederum hinter diesem stehend - etwa bei der Schweigepflicht der Ärzte die VOlksgesundheit 154 haben im Regelfall keine selbständige Bedeutung, sondern bilden nur die Kehrseite des Schutzes der Privatsphäre aller Bürger. Die Beschränkung der strafrechtlichen Schweigepflicht auf bestimmte Berufsgruppen läßt sich deshalb statt mit der Dominanz eines institutionellen Rechtsgutes besser mit dem unterschiedlichen Schutzbedürfnis der Privatsphäre erklären, je nach dem, gegenüber welchen Personen und unter welchen Bedingungen sie geöffnet wird - ob allein durch eine dem Rechtsgutsträger zuzurechnende Luxushandlung oder aufgrund eines faktischen Zwanges zur Geheimnispreisgabe. So ist etwa die Öffnung der Privatsphäre gegenüber einem Rechtsanwalt oder Arzt sozial 151 152 153 154
S. etwa Kreuzer, ZStW 100 (1988), 787. Vgl. nur Schünemann, ZStW 90 (1978),11,15 ff., 51 ff. BVerfGE 65, 1 ff. So vor allem Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 36), § 203 Rn. 3.
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notwendig, gegenüber einem Rechtsbeistand oder Heilpraktiker aber als Luxushandlung zu werten, die das strafrechtliche Schutzbedürfnis entfallen läßt l55 .
bb) Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht Recht verstanden ist das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO im Normalfall nur die prozessuale Verlängerung des durch Art. I und 2 GG garantierten Schutzes der Privatsphäre des Geheimnisträgers. Der unterschiedliche Umfang des von § 203 StGB einerseits, § 53 StPO andererseits erfaßten Personenkreises erklärt sich durch die besonders gewichtigen Gegeninteressen, die im Strafverfahren in Gestalt des Legalitätsprinzips und des Prinzips der materiellen Wahrheitsfindung durch das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht berührt werden. Der Schutz der Privatsphäre durch Zubilligung eines Zeugnisverweigerungsrechts an Vertrauenspersonen muß hier gegen die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege abgewogen werden, die nach der Rechtsprechung des BVerfG Teil des Rechtsstaatsprinzips ist und deshalb selbst Verfassungsrang genießt l56 . Unstreitig ist der gegenwärtige Katalog der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen des § 53 StPO zu eng, weshalb das BVerfG in methodisch äußerst anfechtbarer Weise u.U. ein Zeugnisverweigerungsrecht direkt aus dem Grundgesetz ableiten will, und zwar aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsabwägung im Einzelfan lS7 . Auch in inhaltlicher Hinsicht ist diese Lösung nicht überzeugend, weil eine so unpräzise definierte Ausnahmekategorie keine brauchbare. Vertrauensbasis für die Entscheidung des Informationsträgers abgeben kann, ob er seine personale oder berufliche Sphäre gegenüber einer dritten Person öffnen soll oder nicht. Unter dem Aspekt der Sachverhaltsaufklärung im Strafprozeß noch wichtiger als das Zeugnisverweigerungsrecht ist das diesem korrespondierende Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO, durch das dem Staat der Zugriff auf die Unterlagen der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen verwehrt wird und das deshalb eine mittel-mittelbare Absicherung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bedeutet.
ISS Sog. viktirno-dogrnatischer Ansatz, vgl. dazu nur Schünernann, ZStW 90 (1978), 11, 32,40 ff.; ders., Faller-FS, 1984, S. 357, 362; ders., NStZ 1986,439 ff. rn.w.N. 156 V gl. nur BVerfGE 33, 367, 383; 51, 324, 343. 157 BVerfGE 33,367 ff.; 44, 353 ff.; BVerfG NStZ 1988,418.
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b) Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf Mitarbeiter in Beratungsstellen für AIDS-Fragen aa) Die strafrechtliche Schweigepflicht Die Schutzwürdigkeit solcher Geheimnisse, die einem Mitarbeiter in AIDS-Beratungsstellen anvertraut werden, kann überhaupt nicht in Zweifel gezogen werden, weil es durchweg um extrem sensible Daten geht, sei es um sexuelle Gewohnheiten des Geheimnisträgers, sei es um vergangenen oder zukünftigen Drogenmißbrauch oder sei es um seine HIV-Infektion. Das strafrechtliche Schutzbedürfnis gegenüber Mitarbeitern von AIDS-Beratungsstellen könnte nur dann in Zweifel gezogen werden, wenn kompetentere und vom Zugang her ebenso zumutbare Beratungsinstanzen zur Verfügung stünden, so daß die Konsultation einer Beratungsstelle für AIDS-Fragen vom Recht als unerwünscht und dementsprechend als eine das Schutzbedürfnis aufhebende Luxushandlung qualifiziert werden könnte. Das ist aber nicht der Fall: Daß die Klienten nicht auf eine Beratung durch das staatliche Gesundheitsamt verwiesen werden können, sondern einen Anspruch auf die Konsultation staatsfreier Vertrauenspersonen besitzen, ergibt schon ein Vergleich mit den bisherigen Katalogen der §§ 203 StGB und 53 StPO. Und weil im Zusammenhang mit der Bedrohung durch AIDS spezifische Beratungsleistungen gefordert sind, die eine Kombination aus den Kompetenzen des Arztes, des Psychologen, des Sozialarbeiters und vielleicht auch des Seelsorgers darstellen, besteht auch ein objektives Bedürfnis für die Inanspruchnahme einer hierauf zugeschnittenen Beratungsinstitution. Bei der vom Gesetzgeber vorzunehmenden Abwägung muß wegen der Gefahr weiterer HIV-Infektionen als selbständig involviertes Schutzgut die Volksgesundheit berücksichtigt werden (und zwar - im Unterschied zur normalen Konstellation des § 203 StGB - in ihrer Repräsentation durch andere als den Geheimnisträger selbst, was eine doppelte und deshalb besonders massive Beteiligung bedeutet). Das überragende Interesse an einer Eindämmung der weiteren AIDS-Ausbreitung, das die aus der Verfassung folgende Pflicht des Staates zum Lebensschutz aktiviert l58 , erfordert für die Sicherstellung von Beratungsleistungen zweierlei: zum einen die Gewährleistung einer starken Nachfrage der Beratung und eine vertrauensvolle Öffnung des Klienten bei der Beratung, was nur bei völliger rechtlicher Selbständigkeit der Beratungsstrategie neben der staatlichen Interventionsstrategie möglich erscheint (Notwendigkeit der Abkoppelung der Beratungsschiene von der Interventionsschiene); und zum anderen die Gewährleistung einer seriösen, d. h. auch die Rechtspflichten der HIV-Infizierten ernstnehmenden Beratung. Hieraus ergibt sich als Konsequenz, daß § 203 StGB auf die Mitarbeiter von in einem qualifizierten Verfahren anerkannten AIDS-Beratungsstellen auszudehnen ist. 158
Eingehend Schünemann, in: Schünemann/Pfeiffer (Fn. 8), S. 378 ff.
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Bemd Schünemann
Die Anerkennung darf nicht etwa allein aufgrund einer fonnalen Prüfung ausgesprochen werden, wie es dem Gesetzesentwurf der "Grünen,,159 entspricht, wonach die von den Finanzämtern vorzunehmende Anerkennung einer Einrichtung als "gemeinnützig" ausreichen solle l60 . Denn durch eine solche fonnale Anerkennung könnte die auf dem Spiel stehende Volksgesundheit nicht geschützt werden. Weil die verfassungsrechtliche Pflicht zum Lebensschutz den Staat trifft, darf er die Anerkennung auch nicht etwa nichtstaatlichen Stellen überlassen, wie etwa den Kirchen, denen zeitweise im Bereich der §§ 218 ff. StGB eine entsprechende Funktion übertragen worden war 161 . Vielmehr darf die Anerkennung vom Staat nur aufgrund einer Prüfung ausgesprochen werden, die die Leitung der Stelle durch eine beruflich hinreichend qualifizierte Person, die Leistungsfähigkeit der Trägerorganisation und die Seriosität des Beratungskonzepts unter dem Aspekt der Wahrung der Volksgesundheit umfaßt. Der Staat hat also das Recht und die Pflicht, die Seriosität des Beratungskonzepts der betreffenden Stelle fortlaufend zu prüfen, um Mißbräuche etwa durch eine Propagierung der Verletzung von Strafgesetzen zu verhindern, wie sie im Anschluß an das Urteil des BGH vom 4. 11. 1988 zu beobachten waren l62 . Aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG folgt ferner, daß der Kreis der Träger einer strafrechtlichen Schweigepflicht organisatorisch exakt und in einer von der Behörde anerkannten Zahl festliegen muß, z. B. durch der Anerkennungsbehörde einzureichende Mitarbeiterlisten.
bb) Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht Alle sachlich zutreffenden Kriterien, die in der Grundsatzentscheidung BVerfGE 33, 367 als Voraussetzung für ein von Verfassungs wegen gebotenes Zeugnisverweigerungsrecht zu fordern sind, treffen auf die Mitarbeiter anerkannter AIDS-Beratungsstellen zu: Es geht um ein höchstpersönliches Vertrauensverhältnis mit typischer Verschwiegenheitserwartung 163. Statt der vom BVerfG angesprochenen Berufstypizität l64 kommt es richtigerweise auf die Situationstypizität des Vertrauens verhältnisses an, durch die der sog. De159 BT-Dr. 11/3483. A. a. O. S. 3. Vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 46. Auf!. 1993, vor § 218 Rn. 5b zur Rechtslage vor dem Urteil des BVerfG (BVerfGE 88, 203); nunmehr ist gern. § 219 Abs. 2 S. 1 StGB i.Y.m. §§ 8, 9 SchKG in der Neufassung v. 21. 8. 1995 (BGBI. I, S. 1050) eine staatliche Anerkennung erforderlich. 162 Vgl Schünemann, IR 1989, 89, 95 mit Pn. 66. 163 Vgl. BVerfGE 33, 378 f. 164 BVerfGE 33, 380. 160 161
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professionalisierung im Bereich der Sozialarbeit Rechnung getragen wird und die im Bereich der AIDS-Beratung gegeben ist. Nach der vorstehend geforderten Ergänzung des § 203 StGB ist auch die Prämisse der strafrechtlichen Verschwiegenheitsgarantie 165 erfüllt. Auch das Erfordernis der Eigenverantwortlichkeit ist erfüllt 166 . Beim Mitarbeiter einer anerkannten AIDS-Beratungsstelle handelt es sich nicht um einen Repräsentanten des Staates 167 • Bei der weiteren Anforderung 168, daß die Gewähr für einen verantwortungsbewußten Gebrauch des Zeugnisverweigerungsrechts durch ein Berufsrecht nach Art des ärztlichen und anwaltlichen Standesrechts bestehen müsse, handelt es sich um ein offensichtlich fehlerhaftes Argument, weil der Zeugnisverweigerungsberechtigte nach heute einhelliger Auffassung für den Fall, daß er nicht von seiner Pflicht zur Verschwiegenheit entbunden wird, kein Wahlrecht besitzt, sondern zur Ausübung des Weigerungsrechts verpflichtet ist, wenn er sich nicht nach § 203 StGB strafbar machen will 169 . Die bei der Ausdehnung des Zeugnisverweigerungsrechts auf die Mitarbeiter von anerkannten AIDS-Beratungsstellen zu besorgende Einbuße der Strafrechtspflege ist nicht besonders hoch und fallt gegenüber den für diese Ausdehnung sprechenden Gesichtspunkten nicht ins Gewicht. Daß also die vom BVerfG bei einer Ausdehnung des § 53 StPO für gefährdet erachtete "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,170 nicht wirklich auf dem Spiele steht, wird einerseits durch die Überlegung verdeutlicht, daß es in den meisten Fällen ja nur um eine "Verlängerung" der Aussagefreiheit des Beschuldigten in Richtung auf seine Vertrauensperson geht, und andererseits durch einen Blick auf die Ausbreitung des Opportunitätsprinzips und der summarischen Erledigungsformen bis hin zu verfahrenserledigenden Absprachen, durch die sich die Idee der materiellen Wahrheitsfindung als Leitbild für die meisten Strafverfahren verabschiedet hat 171, ohne daß die Rechtsprechung darin bis heute eine Gefahr für die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" gesehen hätte. Außerdem wird es in der Praxis auch nur in wenigen Fällen auf die Aussage eines Mitarbeiters einer AIDS-Beratungsstelle im Strafverfahren ankommen, so daß eine Beeinträchtigung der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" allenfalls theoretisch ausmalbar wäre, nicht aber real droht. Umgekehrt kann dagegen aus BVerfGE 33, 386. BVerfGE 33, 381, wobei der dort zu findende Hinweis auf das Verfügungsrecht des Wohlfahrtsverbandes über das Geheimnis schon in arbeitsrechtlicher Hinsicht zweifelhaft ist, siehe BAG NZA 1987,515. 167 BVerfGE 33, 381 f. 168 BVerfGE 33, 383 ff. 169 Schilling, JZ 1976, 620. 170 BVerfGE 33, 383. 171 Vgl. Schünemann, Pfeiffer-FS, 1988, S. 461 ff. 165
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der allenfalls seltenen Heranziehung solcher Mitarbeiter zur Erstattung von Zeugenaussagen kein Argument gegen die Erweiterung des § 53 StPO abgeleitet werden, weil erstens prozessuale Kautelen allgemein zum Schutz auch nur gegen theoretische Mißbrauchsgefahren vorgesehen werden und weil zweitens allein schon die theoretische Lückenhaftigkeit des strafprozessualen Schutzes des Vertrauensverhältnisses die notwendige rückhaltlose Offenheit im Beratungsgespräch ex ante untergräbt und deshalb einen nicht mehr wiedergutzumachenden psychologischen Flurschaden anrichtet. Aus diesem plausiblen Mechanismus "Ohne Zeugnisverweigerungsrecht keine Offenheit im Beratungsgespräch" folgt zugleich, daß der Berater ohne Zeugnisverweigerungsrecht allenfalls einen Bruchteil der hochsensiblen Daten anvertraut bekommt und deshalb als Beweisperson auch nicht besonders wichtig ist, so daß die Zubilligung eines Zeugnisverweigerungsrechts also nur solche Informationsquellen blockieren würde, die eigentlich auch erst durch seine Zuerkennung entstehen - so daß das dadurch bewirkte Informationsdefizit der Justiz gegen Null tendiert. Falls sich die Mitarbeiter der AIDS-Beratungsstellen dagegen selbst an Straftaten beteiligen (etwa durch den Rat zu infektionsgefährlichem rechtswidrigen Verhalten HIV-Positiver oder durch Straftaten nach dem BtMG, etwa durch "wilde Methadon-Ausgabepraxen"), so greift die Beschlagnahmefreiheit ohnehin nicht ein (s. § 97 Abs. 2 S. 3 StPO), während an die Stelle des Zeugnisverweigerungsrechts in diesem Fall ohne Rücksicht auf die Reichweite des § 53 StPO ohnehin das Schweigerecht des Beschuldigten tritt (§ 136 StPO). Etwaigen Zweifeln über die Reichweite des Privilegs der Beschlagnahmefreiheit in solchen Fällen könnte durch die Klarstellung vorgebeugt werden, daß die Beschlagnahmefreiheit des § 97 StPO für die gesamte Beratungsstelle ausscheidet, wenn auch nur ein einziger Mitarbeiter unter Beteiligungsverdacht steht (unter Umständen - das bedarf noch weiterer Überlegung - jedoch nur, wenn auch eine Verletzung der Aufsichtspflicht des Stellenleiters hinzukommt). Auf der anderen Seite müßte dann allerdings, damit kein Anreiz zu rechtswidrigen Durchsuchungen geschaffen würde, die Regelung über die Verwertbarkeit von Zufallsfunden in § 108 StPO drastisch eingeschränkt werden.
c) Ergebnis Insgesamt ist deshalb die Einführung einer strafrechtlichen Schweigepflicht für Mitarbeiter in anerkannten AIDS-Beratungsstellen ebenso zu bejahen wie die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für diesen Personenkreis, wobei aber die Vorschaltung eines zuverlässigen Anerkennungsverfahrens hierfür unerläßlich ist.
Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV* Referat Von Rolf Dietrich Herzberg
A. Ausgangsfall (LAndgericht Duisburg) und Überblick "Der Angeschuldigte Heinz Georg Hoffmann, 29 Jahre alt, seit über vier Jahren HIV-positiv, zog am 21. Juli 1993 eigenes Blut auf eine Einmal-Spritze und injizierte es in Tötungsabsicht in den linken Unterarm der Zeugin Elke Jobko, mit der er seit längerer Zeit zusammenlebte und die zu diesem Zeitpunkt HIV-negativ war. Der Angeschuldigte tat das, weil er sich darüber geärgert hatte, daß Elke Jobko ihm einen Rest Cola weggetrunken hatte. Ihm war bewußt, daß sein Opfer langsam und qualvoll zu Tode kommen würde." Ich habe mit diesen Sätzen die Staatsanwaltschaft Duisburg zitiert, die Hoffmann angeklagt hat wegen des Versuches, "einen Menschen grausam und aus niedrigen Beweggründen zu töten", Verbrechen strafbar nach §§ 211,22 StGB. Gewiß ein Einzelfall, aber er zeigt vielleicht, was wir von manchen Aids-Kranken, die nur noch eine kurze Lebensstrecke vor sich sehen, zu fürchten haben: den Zusammenbruch elementarer Hemmungen, die Bereitschaft, sich mit einer jederzeit einsetzbaren Waffe furchtbar zu rächen, womöglich für eine Lappalie, die aber der Kranke in seinem Elend nicht mehr verkraftet. Sogar unter Nichtinfizierten könnte die Waffe populär werden, weil es kein geeigneteres Mittel gibt, wenn man seinem Feind nicht nur den Tod bereiten, sondern ihm gerade auch das Leid der über Jahre sich streckenden Krankheit und Todesangst antun will. So war in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 26. Mai 1994 zu lesen: "Anschlag mit Aids-Spritze: 10 Jahre Haft AMSTERDAM (dpa) Ein 39jähriger Mann ist von einem Gericht in Amsterdam zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er seiner Ex-Freundin Blut mit dem Aids-Virus gespritzt hatte. Der Angeklagte hatte die Frau am 12. Juni 1993 in ihrer Wohnung aufgesucht und aus
* Stark erweiterte Fassung meines in Posen am 2. Juni 1994 vorgetragenen Referates. Der Stil des mündlichen Vortrages ist beibehalten. Auf die Diskussionsbeiträge, die mir zum großen Teil freundlicherweise in Schriftform übersandt worden sind, gehe ich ausführlich schon im Aufsatz ein, so daß sich ein "Schlußwort" erübrigt.
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einer Sporttasche eine mit Blut gefüllte Spritze hervorgeholt. ,Du hast nur noch ein paar Jahre zu leben! Diese Spritze ist von einem Aids-Patienten!' rief er und spritzte ihr das Blut unter Gewaltanwendung in den Arm. Einige Monate später stellten Ärzte fest, daß die Frau tatsächlich HIV-positiv war. Vor Gericht erklärte sie, ihr Ex-Freund habe sich mit der Tat dafür rächen wollen, daß sie die Beziehung zu ihm abgebrochen hatte."
Keine Einzelfälle sind die unbeabsichtigten Infizierungen durch Bluttransfusion in Krankenhäusern. Man glaubte diese Gefahr nach beruhigenden Zusicherungen bereits gebannt, und mit dieser Begründung habe ich im Thesenpapier ein auf die Sexualkontakte beschränktes Referat angekündigt. Die jüngste Zeit hat es uns anders gelehrt. Überhaupt nicht oder unzureichend untersuchtes Spenderblut ist als konserviertes Plasma oder Konzentrat in den Handel gelangt und, wiederum gar nicht oder unzulänglich getestet, Patienten verabfolgt worden. Hieß es vor einiger Zeit noch, die Verantwortlichen hätten "die Dinge im Griff', so ist jetzt von Fachleuten zu hören, daß ein Restrisiko immer verbleibe, selbst bei Kombination von Eleisa- und Westemblod-Test und selbst wenn beide Tests sowohl vor der Abnahme wie vor der Übertragung des Blutes gemacht würden. Ohne Zweifel haben brutale Absichtstaten von Aidskranken und skandalöse Pflichtverletzungen in Kliniken bei weitem nicht die epidemiologische Bedeutung wie sie anderen Wegen der Aids-Ausbreitung zukommt: dem gemeinsamen Benutzen HIV-haltiger Injektionskanülen unter Drogenabhängigen und vor allem dem sexuellen Kontakt mit HIV-positiven Männem und Frauen, worauf zwischen 70 und 80 % aller Neuinfizierungen zurückgehen sollen. Dennoch scheint mir die angekündigte Begrenzung meines Vortrages heute nicht mehr berechtigt, zumal die Problematik der Tötungsdelikte anhand krasser Beispiele viel deutlicher wird und überzeugender gelöst werden kann. Ich beginne darum mit der Frage, ob im Duisburger Fall, wenn wir die geschilderte Tat als erwiesen annehmen, die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beurteilung als Mordversuch recht hat.
B. Die Frage des Tötungsdeliktes I. Objektive Zurechnung des Todeserfolges
Sie hätte nicht recht, wenn dem Angeklagten, gesetzt, das Opfer stürbe und er hätte es verursacht, der Tod gleichwohl objektiv nicht zurechenbar wäre. Denn dann hätte sich seine "Vorstellung von der Tat" zwar auf eine Todesverursachung bezogen, nicht aber auf die "Verwirklichung des Tatbestandes" (§ 22 StGB), wozu ja bei allen Tötungsdelikten gehört, daß dem Verursacher der Tod auch objektiv zugerechnet werden kann 1• Angesichts dieser Voraussetzung des objektiven Tatbe1 Zu diesem heute, zumindest der Sache nach, allgemein anerkannten Erfordernis vgl. nur Theodor Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl. (1991), Vorb. §§ 13 ff. Rdnr. 91 f.; Claus Roxin: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 2. Aufl. (1994), S. 230 ff.; neuestens
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standes wäre also beim Angeklagten der "Vorsatz" zu verneinen - eine Sicht, die Bernd Schünemann zu der Kritik verleitet hat, ich hätte das Problem "zu Unrecht auf der Vorsatzebene angesiedelt,,2. Aber dieser Einwand trifft nicht zu. Wo es nur um einen Versuch geht, sind objektive Defizite der vorgestellten Tat notwendigerweise beim Vorsatz (oder "Tatentschluß") zu berücksichtigen. Problematisch ist die objektive Zurechenbarkeit des Todes, weil er als Folge der Blutinjizierung keinesfalls bald und wahrscheinlich erst nach mehreren Jahren eintreten würde. Allerdings ist das Bewußtsein, daß das Problem bereits in einem Fall böswillig gezielter Injizierung HIV-verseuchten Blutes auftrete, noch nicht weit verbreitet. Die einschlägigen Äußerungen im Schrifttum, angewandt auf die Duisburger Tat, lassen es fast ausnahmslos als selbstverständlich erscheinen, daß der Angeklagte sich eine ihm objektiv zurechenbare Todesverursachung vorgestellt und einen Mordversuch begangen hat3 .
1. Schünemanns Lehre: keine Zurechnung von Spätfolgen
Eindeutigen Widerspruch entnehme ich allein der Lehre von Schünemann. Er fordert allgemein "die Herausnahme von Spätfolgeschäden aus dem strafrechtlichen Zurechnungszusammenhang" und verneint im Besonderen "die Anwendbarkeit der 1ötungstatbestände auf die HIV-Infizierung ... schon auf der Ebene des objektiven Tatbestandes ... , so daß allein eine strafrechtliche Haftung aus den Körperverletzungstatbeständen übrigbleibt,,4.
a) Kritik Was ist von dieser Lehre zu halten? Nicht einleuchten wollen mir Schünemanns ArgumenteS, und in der behaupteten Allgemeinheit scheinen mir auch die ErgebVolker Erb: Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, Juristische Schulung 1994, S. 453 ff. (m.w. Nachw. in Fußn. 29). 2 Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung, in: Schünemann/Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 483. 3 Vgl. etwa Wilfried Bottke: Die Immission infektiösen Ejakulats ... , Aids-Forschung 1988, S. 628 ff. (697); Manfred Bruns: AIDS, Prostitution und Strafrecht, Neue Juristische Wochenschrift 1987, S. 693 ff.; Dreher/Tröndle: StGB, 47. Auf!. (1995), § 223 Rdnr. 7; Bernd-Dieter Meier: Strafrechtliche Aspekte der Aids-Übertragung, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1989, S. 207 ff. (226); Klaus Geppert: Stratbares Verhalten durch - möglicheAids-Übertragung?, Juristische Ausbildung 1987, S. 668 ff. (672); Rudolf Rengier: Aids und Strafrecht, Juristische Ausbildung 1989, S. 225 ff. (229); Walter Scheuerl: Aids und Strafrecht: Die Stratbarkeit HIV-infizierter Personen beim Vollziehen sexueller Kontakte, S. 131 ff. 4 AaO. (Fußn. 2), S. 483. 5 Diese finden sich aaO. (Fußn. 2), S. 483 ff.
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nisse nicht haltbar. So sehe ich schlechterdings keinen Grund, weshalb z. B. die auf einen einzelnen gerichtete und tödlich wirkende radioaktive Bestrahlung nicht - je nachdem - als Mord oder fahrlässige Tötung bestraft werden sollte. Daß der Tod erst nach mehreren Monaten eintritt, wird als Grund niemanden überzeugen. Auch vermag ich nicht zu erkennen, wieso Aporien und praktische Schwierigkeiten auftreten, wenn das Strafverfahren schon vor dem Eintritt der Spätfolge betrieben wird. Schünemann sieht das Gericht hilflos, wenn es eine erwiesene HIV-Infizierung als Tötungsversuch bewertet und der Angeklagte sich zutreffend damit verteidigt, er setze seit der Tat alles daran, seinem Opfer zur Heilung zu verhelfen. Das Problem liegt hier doch allein in der Rechtsfrage, ob bei dieser Sachlage § 24 I 2 StGB zu bejahen oder zu verneinen ist. Darüber kann man streiten, weil man für das Merkmal der Nichtvollendung Endgültigkeit verlangen kann, aber nicht muß. Je nachdem wird das Gericht einen strafbaren Tötungsversuch annehmen oder allein wegen Körperverletzung bestrafen. Daß sich auf der Basis einer Bestrafung neue "intrikate Probleme" ergäben, die Schünemann als Argument verwerten kann, bestreite ich gleichfalls. Die Gefahr einer ,,kumulativen Doppelbestrafung" bei späterem Todeseintritt besteht nur in dem Sinne, daß Fehlurteile natürlich hier sowenig wie sonst sicher auszuschließen sind. Folgt die Staatsanwaltschaft der herrschenden und m.E. richtigen Meinung, so wird sie sich durch Art. 103 III GG ("ne bis in idem") schon an einer neuen Anklage gehindert sehen. Folgt sie und folgt das Gericht der Minderansicht, die in solchen Fällen eine ,,Ergänzungsklage" für legitim hält6 , so ist natürlich die neue Strafe so zu bemessen, daß sie die alte Strafe nur "ergänzt" und nicht verdoppelt. Schließlich finde ich auch das argurnenturn ad usum loquendi nicht schlagend, das Schünemann seinem Hauptgegner in diesem Punkt, nämlich Battke, entgegenhält. Als "einfache Probe aufs Exempel" fordert er die Befragung des Sprachgebrauchs und meint: "Wer von seinem Sexualpartner mit HIV infiziert worden ist, würde mit der in einem umgangssprachlichen Diskurs aufgestellten Behauptung, sein Partner habe ihn zu töten versucht und der Versuch sei auch keineswegs fehlgeschlagen, nur Kopfschütteln hervorrufen"7. Dieser Satz muß sich auch auf eine Infizierungstat wie die des Angeklagten Hoffmann beziehen lassen, denn sonst würde er Schünemanns allgemeine These von den nicht zuzurechnenden Späterfolgen nicht stützen. Mein eigenes Ergebnis vorwegnehmend, gebe ich Schünemann zu, daß Frau Jobko im Sinne der Gesetzessprache nicht sagen darf, der Angeklagte habe sie zu töten versucht. Nicht bestätigen kann ich jedoch, daß diese höchst strittige juristische Verneinung schon umgangssprachlich vorgezeichnet sei. Ich kann mir gut vorstellen, daß die Zeugin, ohne damit Kopfschütteln zu erregen, die schreckliche Tat Hoffmanns gekennzeichnet hat mit den juristisch falschen Worten: ,,Er hat mich zu töten versucht." Das bestätigt eine Allensbach-Umfrage, woDafür Claus Roxin: Strafverfahrensrecht, 23. Auf!. (1993), S. 358 (rn.w.Nachw.). Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung?, Juristische Rundschau, 1989, S. 89 ff. (92). 6
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nach 61 % der Bevölkerung die bewußte mV-Infizierung, die zum Tod führt, als Mord oder Totschlag bewerten.
b) Berechtigte Problematisierung im Grundsätzlichen auch bei Vorsatzdelikten Was ich Schünemann nach allem Widerspruch aber entschieden als richtig zugestehe, ist die grundsätzliche Problematisierung. Es stellt sich auch bei Vorsatzde!ikten die Frage, ob nicht der Zeitablauf als solcher bewirken kann, daß für eine späte Tatfolge die objektive Zurechnung entfallt. Ich bilde bewußt zunächst Beispiele mit vergleichsweise harmloser, d. h. nichttödlicher Spätfolge. Erstes Beispiel: A fordert telefonisch von B Schweigegeld mit der Drohung, schwere Verfehlungen aufzudecken. Dabei macht er deutlich, daß er dies, wenn das Geld ausbleibe, vielleicht sehr bald tun werde, vielleicht aber auch erst nach Jahren zu einem Zeitpunkt, wo es B besonders hart treffe. B ignoriert die Drohung lange Zeit, entsinnt sich ihrer jedoch mit Sorge, als er Jahre später in ein bedeutendes Amt berufen wird, und überweist deshalb doch noch die geforderte Summe. A hat die Sache längst vergessen. - Als zweites Beispiel sei angenommen, daß A bei B zu Besuch ist und ihm heimlich ein schwer beleidigendes Schreiben in ein Buch legt. Er rechnet anfangs täglich mit der Entdeckung. Als sie ausbleibt, verliert er die Tat aus dem Gedächtnis. Jahre später stößt doch noch jemand auf das Papier, und B erhebt Privatklage. - Die Lösung, die Schünemann diesen Fällen eindeutig geben würde 8 , kommt auch für Horst Schlehofer in Betracht9 . Doch bliebe sie bei ihm, trotz vieler verschiedener Aspekte, die er pro und contra zu berücksichtigen fordert, dem Rechtsgefühl überlassen und am Ende ins Belieben des Urteilenden gestellt. Etwas Besseres wüßte ich auch nicht zu bieten, es sei denn, das Gesetz ließe Rückschlüsse zu, wo die Zurechenbarkeit des späten Erfolges ihre Grenzen findet. 8 Die Diskussion nach dem Vortrag hat allerdings die Dinge in ein anderes Licht gerückt. Schünemann will so verstanden werden, daß nur gerade der Tod eines Menschen, wenn "Spätfolge", nicht als Deliktserfolg zugerechnet werden kann. Dahinter steht das Anliegen, möglichst wenig vom vertrauten Lehrgebäude der Dogmatik abzureißen und sich mit riskanten Neuentwürfen zurückzuhalten ("Sie kommen immer gleich mit der Abrißbime!"). Aber mit solcher Beschränkung verwickelt man sich in Widersprüche. Ist die Infizierung mit HIV, die Jahre später das menschliche Opfer zu Tode bringt, kein Delikt nach §§ 211, 212 oder 222 StGB, dann kann sie bei einem Schimpansen keine strafbare Wirbeltiertötung und Sachzerstörung sein (§§ 17 Tierschutzgesetz, 303 StGB). Und ebensowenig kann man mit rationalen Gründen einen Unterschied machen je nachdem, ob die vom Täter gesetzte Ursache im Angriffsobjekt schlummert oder außerhalb bedrohlich verborgen liegt. Die von Schünemann aufgeworfene Frage kann sich also unter dem Aspekt einer fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) z. B. auch stellen, wenn jemand sorgfaltswidrig verdorbene Babynahrung verkauft und die Kindesmutter sie erst Monate später verfüttert. 9 Risikovorsatz und zeitliche Reichweite der Zurechnung beim ungeschützten Geschlechtsverkehr des HIV-Infizierten, Neue Juristische Wochenschrift 1989, S. 2017 ff., 2024 f.
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2. Analogie der Vorschriften über die Verfolgungsverjährung
Um dies herauszufinden, muß man zunächst den Grund präziser erfassen, der uns die fragliche Hypothese nahelegt, also die Annahme, daß große zeitliche Entfernung des Erfolges dessen Zurechnung ausschließen könne. Vertraut ist uns die Nichtzurechnung einer Tatfolge, wenn diese aus der ex-ante-Sicht zum Handlungszeitpunkt extrem unwahrscheinlich ist oder aus guten Gründen (wegen eines überwiegenden Interesses) trotz nicht ganz geringer Gefahr in den Kauf genommen werden muß ("erlaubtes Risiko"): Man blickt gewissermaßen von der Tat auf die (mögliche) Folge und verneint in einem normativen Urteil ihre Zusammengehörigkeit, d. h. eine Verknüpfung, die mehr wäre als bloßer Kausalzusammenhang. Daß ein Mann einen Herzschlag erleidet und tot umfällt, kann ein plötzliches Ansprechen, etwa die Bitte um Feuer oder die Frage nach dem Weg, zwar verursachen; aber es paßt nicht zu solch einer Handlung und wird darum normativ nicht als ihre Folge gewertet. Wo uns der Zeitablauf an der Zurechenbarkeit zweifeln läßt, scheinen mir nun die Dinge etwas anders zu liegen. Daß das beleidigende Schreiben im Lexikonband von jemandem irgendwann gefunden und gelesen wird, paßt als Folge vollkommen zur ursächlichen Handlung des heimlichen Hineinlegens. Auch wird niemand finden, es gebe gute Gründe für die Gestattung des Risikos fremder Kenntnisnahme, sofern sie eine sehr späte Folge der Tat ist. Nein, der die Zurechenbarkeit prüfende Blick richtet sich weniger von der Handlung auf die (mögliche) Folge als vielmehr von der gegenwärtigen Person auf die vergangene Handlung. Hier, in dieser Beziehung zweifeln wir an der noch genügenden Verbundenheit. Wir erwägen, eine Handlung mit dem verhältnismäßig unbedeutenden Wirkungspotential bloßer Ehrverletzung von irgendeinem Zeitpunkt an als abgetan, erledigt, als sozusagen historisch geworden anzusehen und darum nicht mehr als eine Tat des gegenwärtigen Menschen, der ggf. die Strafe erleiden wÜfde IO • Gibt es gesetzliche Regeln, worin eben dieser Gedanke sich ausdrückt? Wenn ja, dann ist es geboten, sich nach diesen Regeln zu richten und ihre zeitlichen Festsetzungen zu übernehmen. Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind die Vorschriften über die VerfolgungsveIjährung, die es in vielen Fällen nach bestimmter Zeit und gestaffelt nach dem Gewicht der Tat aus exakt dem beschriebenen Sachgrund verbieten, auf die vergangene Tat zurückzugreifen und sie dem, der sie einst verübt hat, heute noch strafrechtlich anzulasten. Schon vor mir hat Schlehofer erwogen, die Spätfolgenproblematik nach Maßgabe der Verjährungsvorschriften zu lösen, diesen Gedanken aber sofort wieder verworfen, weil es hier um eine "ganz andere Frage" gehe. Die VeIjährung schließe 10 Diese Akzentverschiebung schließt es natürlich nicht aus, weiterhin von der Nichtzurechnung der Spätfolge zu sprechen. Denn wenn die lang zurückliegende Tat dem Täter nicht mehr zugerechnet wird, gilt das zwangsläufig auch für die Wirkungen, die die Tat noch zeitigt.
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für eine begangene Straftat von einem bestimmten Zeitpunkt an "die Ahndung" aus (§ 78 I StGB), die Nichtzurechnung eines späten Erfolges bedeute hingegen, daß die fragliche Straftat gar nicht zustande komme ll . Dieser Unterschied ist vorhanden, aber er beweist noch nichts, weil es sich gerade um den handeln könnte, den wir in analoger Gesetzesanwendung vernachlässigen dürfen. Die Frage der analogen Anwendbarkeit gesetzlicher Bestimmungen wird ja noch nicht dadurch beantwortet, daß man dartut, weshalb diese Bestimmungen auf den anstehenden Fall nicht direkt anwendbar sind. Man muß das Trennende vergleichen mit dem Gemeinsamen und wertend entscheiden, was den Ausschlag gibt. Das Gemeinsame liegt hier zum einen in dem Befund, daß ein vergangenes Verhalten von einem bestimmten Zeitpunkt an eine Bestrafung nicht mehr rechtfertigen können soll; zum anderen in den dafür sprechenden Gründen: im großen zeitlichen Abstand, im Schwund an Aktualität, in der damit verbundenen Wertung, daß man das in der Vergangenheit versinkende Tun nicht mehr recht ansehen kann als eine Tat der gegenwärtigen Person, und schließlich in den häufigen Schwierigkeiten der Aufklärung, die eine unwiderlegliche Vermutung der Unaufklärbarkeit empfehlen. Das Bedürfnis, dem die VeIjährungsvorschriften Rechnung tragen, und das Bedürfnis, irgendwo Schluß zu machen mit der Zurechnung später Tatfolgen, finden also Erklärungen, die vollkommen übereinstimmen. Darum ist es geboten, die Zeitgrenzen der Verfolgbarkeit (§§ 78 ff. StGB) auch für das zweite Bedürfnis maßgebend sein zu lassen. Durch die hier vertiefte Argumentation widerlegt scheint mir Klaus Gepperts Einwand, die "Rechtsfigur" der VerfolgungsveIjährung passe zur Lösung der Spätfolgenproblematik "schon im Ansatz nicht", weil für sie die Sachgründe, die die Verjährungsregeln tragen, keine Rolle spielen 12• Abgesehen vom Fehlen einer Begründung krankt diese Kritik an einem Mißverständnis. Daß ich das ,,heikle Zurechnungsproblem mit einer Analogie zur Verjährung aus der Welt schaffen" zu können glaube, trifft für die Aids-Fälle gerade nicht zu. Denn hier ergibt es sich nur ganz ausnahmsweise, daß der späte Tod nicht mehr zugerechnet werden darf (s. u. c). In der Diskussion ist auch mehrfach der formale Einwand aufgetaucht, die Analogie verbiete sich schon deshalb, weil die Verjährung ein bloß prozessuales Verfolgungshindernis bedeute, während unser Problem die materiellrechtliche Verneinung einer Straftat sei (Nichtzurechnung eines Erfolges, dessen Zurechnung der Tatbestand voraussetzt). Akzeptiert man die dogmatische Unterscheidung, dann drängt sich wieder die Frage auf, wieso denn eigentlich dieser Unterschied die Analogie versperre. Das Gesetz sagt nur, daß die Verjährung "die Ahndung der Tat" ausschließt. Entscheidend sein muß für uns die Frage, warum sie das tut. Die Antwort läßt sich kaum anders formulieren als in einer Weise, daß sie mit der oben für unser Problem herausgearbeiteten übereinstimmt. Auch bei der Verjährung 11
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Neue Juristische Wochenschrift 1989 (Fußn. 9), S. 2024. V gl. den Diskussionsbeitrag von Geppert.
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liegt der Sachgrund des Bestrafungsverbotes darin, daß die Tat nicht mehr aktuell genug ist, sie der Person ebenso zuzurechnen wie gegenwärtige Handlungen. Verjährung bedeutet also formalisierte, gesetzlich festgeschriebene Nichtrnehrzurechnung vergangenen Tuns. Diesem Befund gegenüber ist es ohne Belang, ob man sich die aus § 78 StGB folgenden Nichtrnehrzurechnung dogmatisch erklärt als materiellrechtliche oder verfahrensrechtliche Sperre. Im übrigen ist die Einordnung eine Prämisse, die meine Kritiker erst einmal auf ihre Richtigkeit hin überprüfen müßten. Es ist zumindest ein Indiz gegen sie, daß nicht die StPO, sondern das StGB die Regeln enthält, die wegen langer Vergangenheit der Tat deren Bestrafung ausschließen. Rilde Kaufmann, die in das Problem der Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht wohl am tiefsten eingedrungen ist, begreift denn auch die Verfolgungsverjährung rein materiellrechtlich 13 • Das Kriterium ist für sie die Frage, ob die jeweilige Bestrafungsvoraussetzung ihren Sinn auch dann behält, wenn man sich den Prozeß als Medium der Strafanspruchserfüllung wegdenkt, d. h. sich eine Rechtsverwirklichung vorstellt, wie sie im Zivilrecht normal ist. Ist also etwa bei einem Dieb, der elf Jahre nach der Tat sich selbst anzeigt, die Bestrafung an sich angemessen und wünschenswert? Sind die Gründe für die gesetzliche Anordnung, daß er jetzt keine mehr erleiden soll, hinfällig, wenn man den staatlichen Strafanspruch genauso erfüllen könnte wie die Forderung des Bestohlenen auf Rückgabe der Sache? Mir scheint es einleuchtend, daß man dies verneinen muß. Unabhängig von allem, was dagegen spricht, wegen eines so lange zurückliegenden Vergehens noch einen Strafprozeß durchzuführen, erkennen wir die Wertung des Gesetzes, daß nach bestimmten Zeitabläufen das Strafübel als solches nicht mehr wünschenswert sei und besser unterbleibe. Lautet aber so der Befund, dann ist auch Rilde Kaufmanns Einordnung der Verjährungsregeln plausibel: Sie schneiden schon materiellrechtlich die Zurechnung ab und nehmen der vergangenen Handlung die Eigenschaft der "Straftat", wozu es paßt, daß das Gesetz sie in §§ 78 ff. StGB durchgängig eben nicht mehr als "Straftat", sondern nur noch als "Tat" bezeichnet
a) Anwendung auf allgemeine Beispiele Es ist also geboten, auch für die zeitliche Begrenzung der Zurechenbarkeit später Erfolge die entscheidenden gesetzlichen Wertungen und Vorgaben in den Negationen und Fristen des § 78 StGB zu sehen, also etwa in der Fünfjahresfrist für die Erpressung, der Dreijahresfrist für die Beleidigung oder in der Unbegrenztheit beim Mord. Um es am Beleidigungsfall zu veranschaulichen: Hätte die Frau des B schon am nächsten Morgen das Schreiben des A gefunden, es ihrem Mann aber erst nach dreieinhalb Jahren gezeigt, so wäre in all der Zeit ein vollendetes Delikt in der Welt gewesen und ein Rückgriff auf A's einstiges Tun infolge Verjährung 13
Strafanspruch Strafklagerecht, 1968, S. 133 ff., 154.
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ausgeschlossen. Bleibt die Entdeckung aus, so fehlt es an einer strafbaren Beleidigung, weshalb nach heutigem Recht eine Verjährung gar nicht laufen kann 14 • Um einen Wertungswiderspruch zu vermeiden, erscheint es aber geboten, dem Verjährungsende ein Zurechnungsende entsprechen zu lassen. Denn es ist nicht einzusehen, warum nach dreieinhalb Jahren das jetzt erst entdeckte Tun des A eine Bestrafung noch rechtfertigen können soll, die nach so langer Zeit nicht mehr erlaubt gewesen wäre, wenn jemand sogleich Kenntnis erlangt hätte. Folgerichtig sind auch die Vorschriften entsprechend anzuwenden, die unter bestimmten Umständen die Verjährung "unterbrechen" (§ 78c StGB) oder ihr "Ruhen" anordnen (§ 78b StGB). Wenn B ein Jahr nach dem telefonischen Erpressungsversuch Anzeige erstattet und dem A, der alles bestreitet, nun die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben wird, so läßt dieser Akt für den Erpressungsversuch die schon laufende Verjährung von vom beginnen. Genauso müßte man es sehen für die entsprechende Fünfjahresfrist, nach deren Ablauf der doch noch eintretende Schadenserfolg nicht mehr zugerechnet werden dürfte. Diese Parallelisierung scheint mir auch für Fahrlässigkeitsdelikte plausibel, einen Bereich also, wo das Bedürfnis nach zeitlicher Begrenzung der Zurechnung des späten Erfolges deutlicher empfunden wird und wo deshalb eine hilflose und willkürliche Grenzziehung besonderes Unbehagen bereitet. Nehmen wir etwa an, ein Autofahrer verschuldet den Unfall eines Fußgängers, der dabei seine einzige Niere einbüßt. Die Dialyse hält das Opfer trotz aller Sorgfalt nur vier Jahre am Leben. Der Schuldige, bisher unentdeckt, erfährt von dem Tod und stellt sich voller Reue der Polizei. - Die fünfjährige Verjährungsfrist enthält die wertende Festsetzung, daß bei tödlicher Auswirkung fahrlässigen Tuns durchaus auch über vier Jahre hinweg auf die fahrlässige Tat zurückgegriffen und diese dem Täter strafrechtlich noch angelastet werden darf15 . Dann wäre es aber unstimmig, mit Schünemann 14 Denn § 78a StGB läßt die VeIjährung erst beginnen, wenn die jeweilige Tat zur Straftat geworden ist, bei den sog. Erfolgsdelikten also erst mit Eintritt des Erfolges. Daß dies, wie manche sagen, schon aus dem "Wesen" oder der "Rechtsnatur" der VeIjährung folge, ist zu bestreiten. Bis 1975 galt mit § 67 IV StGB a.F. ("Die VeIjährung beginnt mit dem Tage, an welchem die Handlung begangen ist, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des eingetretenen Erfolges") eine Vorschrift, wonach bei unvoreingenommener und m.E. richtiger Deutung die VeIjährungsfrist schon zu laufen anfangen konnte, auch wenn noch gar kein Delikt in der Welt war (z. B. beim fahrlässigen Verkauf verdorbener Konserven, die erst sechs Jahre später einen Gesundheitsschaden verursachen; § 67 StGB a.F. verhinderte, daß eine nach § 230 StGB bestrafbare Tat überhaupt zustande kam). Was heute die Analogie begründen muß, ergab sich also damals direkt aus den VeIjährungsvorschriften: das Verbot, dem Täter die weit zurückliegende Handlung noch zuzurechnen. 15 In seinem Diskussionsbeitrag fragt SowatUz, wie meine VeIjährungsanalogie m!t § 226 StGB zurechtkomme, denn dort bedürfe es "nach weithin vertretener Ansicht ... eines Unmittelbarkeitszusammenhanges als besonderer Zurechnungsvoraussetzung". Ich sehe keine Schwierigkeiten. Hätte der Autofahrer meines Beispiels den Fußgänger (bedingt) vorsätzlich verletzt, dann wäre er nach dem Tod des Opfers aus § 226 StGB zu bestrafen. Warum sollte die in der Verletzung liegende Todesverursachung, wenn sie für § 222 StGB genügt, für § 226 StGB nicht genügen? Die Voraussetzung des § 18 StGB jedenfalls ist erfüllt. Daß eine
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den anlastenden Rückgriff abzulehnen, wenn die vier Jahre zwischen der Fahrlässigkeitstat und dem durch sie verursachten Tod liegen. Außerdem mißachtet Schünemanns Dogmatik den § 78a StGB, wo es heißt, daß dann, wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg "erst später" eintritt, "die Verjährung mit diesem Zeitpunkt" beginnt. Die Vorschrift hätte keine Anwendungsfälle, wenn man Spätfolgen - und das sind die "erst später" eintretenden Erfolge doch wohl immer - dem schuldigen Verursacher gar nicht erst zurechnet.
In der Debatte ist auch meiner Konzeption § 78a StGB entgegengehalten worden. Die Vorschrift lasse die Verjährung des Vollendungsdelikts ausnahmslos mit Eintritt des Vollendungserfolges einsetzen, während bei mir denkbar sei, daß der Erfolg dies nicht bewirke, weil er gar nicht erst zugerechnet werde 16. Aber diese Kritik geht fehl. Denn § 78a StGB setzt natürlich den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolges voraus. Ob der Erfolg im Einzelfall diese Qualität hat, kann und will die Vorschrift nicht entscheiden. So ist im Beispiel des dreieinhalb Jahre nach der Tat entdeckten Schreibens die Kenntnisnahme kein tatbestandsmäßiger Erfolg i. S. des § 185 StGB, weil die ihr zugrunde liegende Tat seit einigen Monaten dem, der sie vor Jahren begangen hatte, nicht mehr zugerechnet werden darf. Mit dieser Sicht nicht zu vereinbaren sind Kommentierungen des § 78a StGB, die behaupten, daß mit dem Erfolgseintritt für das vollendete Delikt die Verjährungsfrist auch dann beginne, wenn das Versuchsdelikt bereits verjährt war l7 . Ist die für den Versuch geltende Verjährungsfrist abgelaufen, dann ist immer auch im Hinblick auf noch mögliche Spätfolgen das Ende der Zurechenbarkeit erreicht. Daß es so sein könnte, bedenken die Autoren deshalb nicht, weil die Spätfolgenproblematik in ihrer Allgemeinheit ja bislang fast nirgends erkannt ist. Als Stellungnahmen in dieser Sache darf man die Äußerungen mithin nicht verstehen. Sie wollen im Grunde nur sagen, daß der Annahme eines vollendeten Delikts jedenfalls keine Verjährung, d. h. keine direkte Anwendung des § 78 StGB entgegenstehe. b) Vergleich mit der Spätfolgenlehre Roxins Beschränkt auf das Problem der Folgeschäden nach fahrlässiger Körperverletzung ist die Lehre Roxins, die mit meiner allgemeiner gefaßten zu vergleichen mir aufschlußreich scheint. Nach Roxin soll der zeitliche Abstand, wie groß er auch sei, die Zurechnung der Todesfolge nicht hindern, "wo ein Unfallschaden sich kontinuierlich ... zum Tode hin entwickelt" (das Opfer erliegt seinen inneren Verlet"weithin vertretene Ansicht" einen "Unmittelbarkeitszusammenhang" (was immer das sei) verlangt, scheint mir demgegenüber kein Argument. Folgerichtig würde sich von meinem Standpunkt aus die Zeitgrenze der Zurechenbarkeit des späten Todeserfolges auf zwanzig Jahre verschieben (vgl. §§ 226 I, 38 11, 78 m Nr. 2 StGB). 16 Vgl. insbesondere den Beitrag von Sowada unter 11 ("Verkürzung des § 78a StGB"). 17 Dreher/Tröndle (Fußn. 3), § 78a Rdnr. 4; Burkhard Jähnke, in: LK, StGB, 10. Aufl. (1985), § 78a Rdnr. 4; Walter Stree, in: Schönke/Schröder (Fußn. I), § 78a Rdnr. 2.
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zungen "erst nach jahrelangem Siechtum"). Wo dagegen "eine Krankheit zum Stillstand kommt, ohne daß eine vollständige Wiederherstellung möglich ist, sollten Spätfolgen, die sich aus der allgemeinen Reduzierung der Widerstands- und Leistungskraft ergeben, als vom Schutzzweck der §§ 222, 230 nicht mehr erfaßt angesehen werden" (der Beinamputierte erleidet "nach vielen Jahren" infolge seiner Gehbehinderung einen tödlichen Sturz)18. Ich sehe von der Unschärfe der Unterscheidung ab; das Argument "unüberwindbarer" Abgrenzungsschwierigkeiten ist zwar beliebt und üblich, aber nicht sehr bedacht und von geringem Gewicht. Ich gehe einfach davon aus, daß mein Beispiel des Dialysepatienten in die erste Fallgruppe fällt, und frage gleich nach der Überzeugungskraft der Roxinschen Lösung. Für ihre Härte könnte man anführen, daß der Dauerkampf gegen den unablässig drohenden Tod durch Blutvergiftung auch die Schuld, die daran der Unfallverantwortliche trägt, aktuell hält. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, daß Roxins Lösung den Vorwurf der Ungerechtigkeit auf sich zieht. Denn eine fahrlässige Todesverursachung wiegt ja nicht deshalb schwerer, weil das Opfer nach der Verletzung noch jahrelang lebt. Dieser Umstand gebietet in unserer Rechtsordnung eher die umgekehrte Wertung. Wäre nun das Opfer beim Unfall sofort gestorben und der Täter erst zwölf Jahre später bekannt geworden, dürfte man ihn für die fahrlässige Todesverursachung nicht mehr bestrafen. Daß man dies aber sehr wohl dürfe, wenn bis kurz vor der Entdeckung des Täters sich das Opfer bei aller Belastung immerhin doch seines Lebens erfreut hat, erscheint mir als ein Wertungs widerspruch, und zwar als der, den zu venneiden der Sinn des § 67 IV StGB a.F. war. Daß § 78a StGB die vollkommene Venneidung nicht mehr zuläßt, muß man respektieren. Aber im Spiel der Argumente den Wertungswiderspruch überhaupt nicht zu beachten geht zu weit. Darum ist meine mittlere Lösung vergleichsweise sachgerechter: Mit dem Tode erst beginnt die fünfjährige Verjährungsfrist (§78a StGB). Allerdings muß er innerhalb von fünf Jahren nach der Handlung eintreten. Andernfalls ist er nach § 222 StGB nicht mehr zurechenbar (§ 78 III Nr. 4 StGB analog), so daß sich die Frage der Verjährung nicht stellt. Was die zweite Fallgruppe anlangt, so sehe ich hier zunächst eine Zurechnungsproblematik, die mit dem Zeitablauf nichts zu tun hat. Roxin will dem fahrlässigen Verursacher der Beinamputation den tödlichen Sturz dann nicht zurechnen, wenn er sich erst "nach vielen Jahren" ereignet. Aber wäre denn ein Delikt nach § 222 StGB anzunehmen, wenn das Opfer beim Gehtraining mit der Prothese schon im Krankenhaus oder ein halbes Jahr nach der Entlassung beim Spaziergang tödlich zu Fall kommt? Vorrangig ist hier wohl ein Problem der Risikozuweisung, das vielleicht nach folgender Regel zu lösen ist: Behinderungsbedingte Unfälle sind dem Behinderungsverursacher nicht zuzurechnen, wenn sie zugleich auf eine Sorgfaltsverletzung des Behinderten oder eines Dritten zurückgehen. 18 Roxin (Fußn. 1), S. 904 f.; ders.: Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten, in: Festschrift für Wilhelm Gallas, 1974, S. 241, 256 f.
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Aber gehen wir mit Roxin davon aus, daß in seinem Beispiel entscheidend ist, ob die tödliche Auswirkung als Früh- oder als Spätfolge eintritt! Was hat seine Lehre dann zur Lösung anzubieten? Sie erkennt zwar an, daß hier ein Problem liegt und daß der Zeitablauf für die Zurechnung eine Rolle spielt, läßt aber eben die Frage offen, auf deren Beantwortung es ankommt: Wie spät muß der Tod eintreten, damit wir ihn als "Spätfolge" anzusehen haben und ihn dem Verursacher nicht mehr zurechnen dürfen? Der Begriff "Spätfolge" selbst ist kein Maßstab, und die Aussage, daß jedenfalls der erst "nach vielen Jahren" eintretende Tod nicht mehr zurechenbar sei, hilft ebensowenig weiter, weil offen bleibt, wie viele Jahre es sein müssen und ob nicht "wenige Jahre" oder selbst einige Tage auch genügen.
c) Anwendung auf Aids-Fälle Beziehen wir nun unsere Verjährungsanalogie auf die Aids-Fälle, dann zeigt sich ein gewisser strafausschließender Effekt für fahrlässige Infizierungen, die einem bestimmten Täter nachgewiesen werden, z. B. einem Arzt, der gebotene Tests versäumt und kontaminiertes Blut übertragen hat. Hier beginnt mit der Handlung eine fünfjährige Zurechnungsfrist, in die der spätere Tod häufig nicht mehr hineinfällt. Allerdings wird die Zahl der Fälle, wo sich deshalb Strafe wegen fahrlässiger Tötung verbietet, dadurch erheblich gemindert, daß gegen den nachweislich Schuldigen wegen der fahrlässigen Handlung in der Regel ein Strafverfahren in Gang kommt. Dies bedeutet, daß sich durch Unterbrechungen die Verjährungsfrist für die sofort gegebene fahrlässige Körperverletzung verlängert, im Extremfall auf zehn Jahre (vgl. § 78c StGB). Ich sagte schon, daß sich dann folgerichtig für die objektive Zurechnung der noch ausstehenden Todesfolge di~ Zeitgrenze entsprechend verschiebt. Andererseits wiederum ist zu beachten, daß selbst bei einer zeitlich noch gegebenen Zurechenbarkeit des späten Todes nach der m.E. richtigen herrschenden Lehre die Bestrafung aus § 222 StGB entfällt, wenn bereits ein rechtskräftiges Urteil über die fahrlässige Körperverletzung in der Welt ist (Art. 103 III GG). Was aber ergibt sich für die viel häufigeren Fälle, in denen Delikte der vorsätzlichen Tötung in Frage kommen, weil der Täter die tödliche Auswirkung bewußt in Kauf genommen oder gar erstrebt hat? Eingangs hatte ich gesagt, daß der Angeklagte vielleicht deshalb die Vorstellung der Tatbestandsverwirklichung nicht gehabt habe, weil sich seine Vorstellung auf einen sehr weit entfernten und darum objektiv nicht zurechenbaren Erfolg bezog. Entsagt man der Willkür und bindet man sich an gesetzliche Wertungen, dann läßt sich nun klar feststellen, daß mit dieser Begründung der Tötungsversuch nicht verneint werden kann, und zwar weder im Duisburger Fall noch für den risikobewußten Sexualkontakt einer HIV-positiven Person mit einem unaufgeklärten Partner. Denn der Tötungsversuch, den es zu prüfen gilt, ist entweder ein Mordversuch mit unbefristeter Zurechnung analog § 78 11 StGB oder ein Totschlagsversuch, für den nach meiner Analogie eine Zwanzigjahresfrist gilt (vgl. § 78 III Nr. 2 StGB). Die tödliche Auswirkung seiner Tat
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stellt sich der Täter, wenn er auch nur ungefähr über seine Krankheit Bescheid weiß, innerhalb dieses Zeitraumes vor.
11. Die versuchsspezifische Problematik Den Angeklagten Hoffmann wegen Mordversuches anzuklagen war aber vielleicht aus einem anderen Grunde falsch. In diesem Zusammenhang ist eine Information von Interesse, die ich bisher zurückgehalten habe. In der Hauptverhandlung ist der Vorwurf gegen den Angeklagten auf den einer gefährlichen Körperverletzung (§ 223a StGB) reduziert worden. Gericht und Staatsanwaltschaft haben sich auf die Deutung geeinigt, daß Hoffmann vielleicht doch keinen Tötungsvorsatz gehabt habe. Als Begründung mußte wieder einmal und selbst in diesem Fall gezielter Injizierung hoch verseuchten Blutes der formelhafte Topos von der erhöhten Hemmschwelle herhalten, die es zweifelhaft erscheinen lasse, ob der Angeklagte seine Freundin habe töten "wollen". In casu und wo immer sonst ist das Festhalten am voluntativen Element des Vorsatzes irrtümlich 19, die darauf gestützten Vorsatzvemeinungen sind entweder nicht überzeugend oder befriedigen oberflächlich, weil sie nicht schaden. Für den Duisburger Fall gilt ersteres, aber vielleicht war die Begründung nur ein Notbehelf, um von einer mit Recht als verfehlt empfundenen Beurteilung wegzukommen.
1. 1st mit der Versuchshandlung notwendig das Versuchsdelikt verwirklicht?
Fragen wir also noch einmal, ob Hoffmann, wenn seine Tat in der Anklage richtig geschildert ist, die Voraussetzungen eines Mordversuches erfüllt hat. Das Gesetz verlangt, daß der Täter "nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt" (§ 22 StGB). Wir haben gesehen, daß der Aids-Tod, auch wenn ihn Frau Jobko erst viele Jahre nach der ursächlichen Handlung erleiden sollte, dem Angeklagten zuzurechnen sein wird. Er hatte also die Vorstellung, den Tatbestand zu verwirklichen. Das Gesetz fordert aber auch noch, daß der Täter dazu nach seiner Vorstellung "unmittelbar ansetzt". Bei der Interpretation dieses Merkmals lassen die Definitionsversuche und Paraphrasierungen immerhin in einem Punkt vollkommene Einigkeit erkennen, nämlich darin, daß das Verhalten des Täters nach seiner Sicht eine unmittelbare (nahe, zugespitzte) Gefahr der Tatbestandsverwirklichung schaffen muß 20 . Lehrbuchfälle sind etwa 19 Ich verweise auf die ausführlichen Begründungen meines Standpunktes in den Beiträgen: Die Sorgfaltswidrigkeit im Aufbau der fahrlässigen und der vorsätzlichen Straftat, Juristenzeitung 1987, S. 536 ff. (allgemein), und: Aids: Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, Juristenzeitung 1989, S. 470 ff. (speziell zu den Aids-Fällen). 20 BGHSt 30, 363 (364); Ulrich Berz: Grundlagen des Versuchsbeginns, Juristische Ausbildung 1984, S. 11 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder (Fußn. 1), § 22 Rdnr. 42; Hans-Heinrich
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das Ziehen und Anlegen der Waffe in der Absicht, den Feind sofort zu erschießen, oder das Einsteigen durch ein Fenster, um drinnen unverzüglich zu stehlen. In solchen Beispielen trifft zweierlei zeitlich zusammen: die Handlung, die das Ansetzen bildet, und die Entstehung der unmittelbaren Gefahr für das Angriffsobjekt in der Tätervorstellung, so daß der Täter mit der Ansetzungshandlung sofort wegen Versuches strafbar wird. Das Paradigmatische und die didaktische Dominanz derartiger Fälle haben, jedenfalls in Deutschland, einen dogmatischen Irrtum erzeugt und weit verbreitet. Man ist der falschen Meinung, daß es so liegen müsse, daß ein Tun nur dann das Ansetzen, die Versuchshandlung sein könne, wenn mit ihm zugleich das Versuchsdelikt zustande komme. Das unmittelbare Ansetzen wird geradezu identifiziert mit dem Überschreiten der Schwelle zum strafbaren Versuch. Bestandteil dieser Sicht ist die meist stillschweigend aufgestellte Voraussetzung, daß der Täter bewußt die Schwelle überschreite. Während des Schlafes strafbar werden können soll man zwar wegen Vollendung, nicht aber wegen Versuchs 21 . Nun sind seit langem Konstellationen bekannt, die diese Prämissen als unhaltbar erweisen. Ich mache Sie aufmerksam auf den Versuch des mittelbaren Täters und, für uns besonders aufschlußreich, den Versuch des Alleintäiers, der bewußt in großem zeitlichem Abstand vom Eintritt der akuten Gefahr sein den Erfolg heraufbeschwörendes Handeln abgeschlossen hat. Aber wie es zu gehen pflegt, den meisten bleibt verborgen, daß die immer wieder auftretenden Friktionen die entschlossene Preisgabe gewohnter Prämissen und eine grundsätzliche Korrektur der vertrauten Dogmatik fordern. Sie begnügen sich mit Kompromißlösungen und ad-hoc-Konstruktionen von Fall zu Fall, die das Übel eher verdecken als beheben.
2. Unterscheidung zwischen der Versuchshandlung und dem Versuchserfolg der unmittelbaren Gefahr in der Iätervorstellung
Angenommen, eine Frau will ihren Mann umbringen und vergiftet seinen Cognac in der Voraussicht, daß er davon in vier Wochen, gleich nach Rückkehr von einer Geschäftsreise, trinken wird. Ist das schon ein Mordversuch? Die meisten finden heute, daß es zu weit ginge, in so einem Fall das Versuchsdelikt schon im Zubereiten des Giftgetränkes zu sehen. Sie verschieben deshalb das "unmittelbare Ansetzen" auf einen späteren Zeitpunkt. Am beliebtesten ist dabei eine Lösung, die alternativ abstellt auf die "Entlassung aus dem eigenen Herrschaftsbereich" Jescheck Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auf!. (1988), S. 468; Harro Otto: Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 4. Auf!. (1992), S. 227 ff. 21 In diesem Sinne etwa Michael Hettinger: Die "actio libera in causa", 1988, S. 462; Wilfried Küper: Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, 1985, S. 62; Ingeborg Puppe: Der objektive Tatbestand der Anstiftung, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1984, .S. 101 ff., 117; Claus Roxin: Tatentschluß und Anfang der Ausführung beim Versuch, Juristische Schulung 1979, S. I ff. (10).
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oder, wo es daran fehlt, auf das Zulassen der akuten Gefahr, die im Beispiel einträte, wenn der Mann Anstalten macht, aus der Flasche zu trinken 22 . Aber das sind, wie ich selbstkritisch einräumen muß, halbherzige Verbesserungen, die die Schwierigkeiten nicht überwinden. Erklärt man das beobachtende Zulassen des Eingießens zum entscheidenden Verhalten, dann müßte der Versuch folgerichtig als bloßes Unterlassungsdelikt eingestuft werden, was offenbar falsch wäre. Vergißt die Frau nach einigen Tagen ihre Tat, weil ständige Vergnügungen sie bis zuletzt ablenken, dann wäre es konsequent, den Versuch zu verneinen. Man hätte nämlich überhaupt kein bewußtes Verhalten, das man als "unmittelbares Ansetzen" markieren könnte. Die richtige und überzeugende Lösung verlangt die vollständige Preisgabe der gewohnten Sichtweise, wonach mit der Handlung des Ansetzens notwendig das komplette Versuchsdelikt vorliege. In Wahrheit muß man beim Versuch, ähnlich wie bei der vollendeten Straftat, unterscheiden zwischen der Handlung und - sit venia verbo - dem Erfolg, genauer zwischen Ansetzungshandlung und Ansatzerfolg, wobei es für letzteren allein auf die Tätervorstellung ankommt. Beides kann zusammenfallen, es kann aber auch zeitlich weit voneinander getrennt sein. So bildet im Beispiel das Vergiften des Cognacs die Versuchshandlung. Sie ist mehr als bloße Vorbereitung, aber sie bedeutet noch nicht die Erfüllung des Versuchstatbestandes. Dazu bedarf es noch des Ansatzerfolges, d. h. der Erreichung des Zeitpunktes, für den sich die Täterin bei ihrer Handlung den Eintritt der unmittelbaren Gefahr der Tatbestandsverwirklichung vorgestellt hat. Ist sie z. B. davon ausgegangen, ihr Mann werde frühestens in vier Wochen gegen drei Uhr nachts heimkehren und vom Cognac trinken, dann vervollständigt sich ihr Versuchsdelikt zu diesem Zeitpunkt, einerlei, ob sie zu Hause oder abwesend ist, daran denkt oder nicht, wacht oder schläft, und gleichgültig auch, ob der Mann tatsächlich kommt und ob er zur Flasche greift. Um sich dieser Betrachtungsweise zu öffnen, muß man nur folgendes bedenken: Kein Mensch würde am Vorliegen eines vollendeten Mordes zweifeln, wenn der Mann heimkehrt und den geplanten Tod erleidet, während die Täterin bei ihrem Geliebten fest schläft. Es würde sich also, während sie schläft, das Handlungsmerkmal des Tötens erfüllen. Warum sollte das nicht ebenso mit dem Handlungsmerkmal des unmittelbaren Ansetzens geschehen können? Ich will in aller Kürze ein zweites Beispiel nachschieben: Ein Vater schickt seinen zwölfjährigen Sohn zur Großmutter mit dem Auftrag, ihr heimlich Geld zu entwenden und es ihm zu überbringen. Die Beauftragung des Sohnes ist nicht bloße Vorbereitung, sie ist vielmehr schon die Versuchshandlung. Worin sonst sollte sie auch liegen, da der Vater von nun an untätig bleibt? Aber das Versuchsdelikt ist damit noch nicht komplett, und es wird dies auch nicht etwa mit der "Entlassung aus dem eigenen Herrschaftsbereich" beim Aufbruch des Sohnes. Der Versuchstat22 Für viele Rolf Dietrich Herzberg: Der Anfang des Versuchs bei mittelbarer Täterschaft, Juristische Schulung 1985, S. I ff. (6), Jescheck: AT (Fußn. 19), S. 609; Karl Lackner: StGB, 21. Aufl. (1995), § 22 Rdnr. 9; grundlegend Claus Roxin: Der Anfang des beendeten Versuchs, in: Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 213 ff.; Hans-Joachim Rudolphi, in: SK, StGB, § 22 Rdnr. 20a.
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bestand erfüllt sich erst in dem Zeitpunkt, für welchen der Vater sich frühestens die unmittelbare Gefahr der Wegnahme vorstellt. Entgegen einer verbreiteten Theorie 23 kann man also den Übertritt in die Strafbarkeit nicht am Verhalten des Tatmittlers ablesen. Das Falsche dieser Lehre liegt auf der Hand. Denn für den Versuch des Vaters kommt es ja auf dessen Vorstellung an und nicht auf objektive Umstände. Auch wenn der Sohn den Vater täuscht und die Großmutter gar nicht aufsucht, begeht der Vater den Diebstahlsversuch.
3. Synthese der konträren Lehren von Schünemann und Bottke
Immer wieder fasziniert mich eine Beobachtung, die ich schon oft gemacht habe, wenn in einem rechtswissenschaftlichen Streit konträre Standpunkte zunächst unüberbrückbar scheinen und man absolut einseitig, so oder so, Partei ergreifen zu müssen glaubt. Fast jedesmal gewinne ich dann nach langem Nachdenken eine Sicht der Dinge, die eine Synthese bildet und mit Einschränkung beiden Parteien recht gibt. Den Streit, um den es gegenwärtig geht, kann man am Duisburger Fall konkretisieren und mit Angehörigen der Roxin-Schule personalisieren. Auf der einen Seite steht Schünemann. Er hat recht, wenn er die Anklage wegen Mordversuches verwirft und dieses Delikt deshalb verneint, weil Hoffmann sich den Tod als eine "Spätfolge" seiner Tat vorgestellt hat24 • Allein diese Auffassung, die Schünemann freilich ganz anders begründet, verträgt sich mit dem Gesetz, d. h. mit dem Gefahr-Merkmal der Unmittelbarkeit in § 22 StGB. Niemand wird wegen eines Tötungsversuches schon strafbar, wenn er etwas tut, was nach seiner eigenen Sicht erst in Monaten oder Jahren sich tödlich auswirken wird. Es fehlt dann in der Tatervorstellung an der unmittelbaren Gefahr. Nebenbei bemerkt, liegt hier auch der Sachgrund für die an sich doch ungeheuerliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft, auf unveränderter Tatsachenbasis den Vorwurf eines Mordversuches einfach fallen zu lassen. Es wfU" ihr damit anscheinend von Anfang an nicht ganz ernst. Und ähnlich mag es im Amsterdamer Prozeß zugegangen sein. Die Zeitung berichtet: "Da die Frau noch lebt, konnte der 39jährige nicht wegen Mordes, sondern nur wegen schwerer Körperverletzung bestraft werden." Warum nicht immerhin wegen versuchten Mordes? Ich antworte: Weil das Gericht erkannt oder gespürt hat, daß der Versuch den Eintritt der unmittelbaren Gefahr in der Tatervorstellung voraussetzt. Daran fehlte es. Der Angeklagte hatte bei seiner Tat gesagt: "Du hast nur noch ein paar Jahre zu leben. Die Spritze ist von einem Aids-Patienten." 23 Bertold Kadel: Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft - versuchte mittelbare Täterschaft, Goltdammer's Archiv für Strafrecht, S. 299 ff.; Kristian Kühl: Versuch in mittelbarer Täterschaft - BGHSt 30,363, Juristische Schulung 1989, S. 180 ff.; Wilfried Küper: Der Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft, Juristenzeitung 1983, S. 361 ff.; TheoVogler, in: LK, StGB, 10. Aufl. (1985), § 22 Rdnr. 104. 24 Vgl. insbesondere seine Auseinandersetzung mit Bottke: Juristische Rundschau 1989, S. 91 f.
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Auf der anderen Seite stehen Rottke und Roxin, die übereinstimmend Taten wie die der beiden Angeklagten als Tötungsversuch zu bestrafen fordern 25 . Auch diese Autoren, deren Lehre z. Z. wohl die herrschende ist26 , haben in beträchtlichem Umfang recht. Was Hoffmann seiner Freundin angetan hat, ist im Hinblick auf den gewollten Tod die Versuchshandlung. Je nach der zeitlichen Vorstellung des Täters kann sie sich noch zu seinen Lebzeiten zum strafbaren Versuch komplettieren, und dieser wiederum kann sich durch den wirklichen Tod des Opfers zum vollendeten Mord fortentwickeln. Denn der Tod wäre, darin stimme ich Rottke zu, trotz großer zeitlicher Distanz die objektiv zurechenbare und vorsätzlich bewirkte Folge der Tat. In den Ergebnissen hat freilich fast immer Schünemann und nicht Rottke recht. Absichtliche HIV-Injizierungen sind zwar Tötungsversuchshandlungen, aber sie erfüllen den Versuchstatbestand eben nicht vollständig und dürfen deshalb als Mordoder Totschlagsversuch nicht angeklagt werden. Ganz und gar unnötig ist darum das in offenkundige Widersprüche führende Unternehmen, dieses Delikt dadurch auszugrenzen, daß man das "Wollen" der Gesundheitsbeschädigung vom "Wollen" der Tötung unterscheidet und nur ersteres bejaht, letzteres aber verneint. Beschränkt sich also die Bestrafung auf ein versuchtes oder vollendetes Körperverletzungsdelikt, so wird der späteren Verfolgung als Tötungsdelikt in der Regel ein rechtskräftiges Urteil entgegenstehen, weil es "dieselbe Tat" betrifft (Art. 103 III GG). Daß ich die sog. "Ergänzungsklage" mit der h.A. für ungesetzlich halte, habe ich schon gesagt. 4. Zur Kritik in der Diskussion
Es war zu erwarten, daß die vorstehende Konzeption Befremden und Widerspruch hervorrufen wÜfde 27 • Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich versuchen, zu antworten und die Zweifel auszuräumen. a) Nicht recht verständlich ist mir, daß Geppert den Eindruck gewonnen hat, meine Lösung bewirke, entgegen dem geltenden Recht (§§ 22 ff. StGB), eine "Wiederbelebung ,objektiver' Versuchslehren". Ich betone ja gerade, daß es nicht auf objektive Gegebenheiten, sondern auf die Tätervorstellung ankomme, und stehe im früheren Streit um den untauglichen Versuch selbstverständlich auf dem Boden des Gesetzes und der subjektiven Theorie. Wandeln wir den Amsterdamer Fall dahin ab, daß der Täter nur irrig glaubt, dem Opfer HIV-positives Blut zuzu25 Bottke, wie oben, Fußn. 3; Roxin: AT (Fußn. 1), S. 382 f. Bei Roxin ergibt sich das aus der Begründung, mit der er im konkreten Fall (BGHSt 36, 1 ff.) den Tötungsvorsatz und den strafbaren Tötungsversuch verneint. Diese Begründung trägt offensichtlich nicht in den hier betrachteten Fällen. 26 Vgl. die Nachw. oben, Fußn. 3. 27 Ich verweise generell auf die gedruckten Diskussionsbeiträge und beschränke mich i.ü. auf die Namensnennung.
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führen, dann ändert sich für mich nichts am Vorliegen einer Tötungsversuchshandlung. Und diese könnte sich auch - vorbehaltlich der ne-bis-in-idem-Sperre - zum strafbaren Versuch vervollständigen, nämlich zu einer Zeit, für die der Täter bei Begehung der Tat sich vorgestellt hat, als Tatfolge könnte seiner Ex-Freundin akute Todesgefahr drohen. Ja, er entginge der Strafbarkeit nicht einmal, wenn er dann die Untauglichkeit seines Mittels längst erkannt hat oder die Frau im Straßenverkehr tödlich verunglückt ist. Denn entscheidend ist, was er sich "bei Begehung der Tat" (§ 16 StGB) vorstellt. b) Auf der anderen Seite scheint Geppert aber auch wieder den konsequenten Subjektivismus meiner Lehre zu erkennen und gerade daran Anstoß zu nehmen, denn ihm tun "die armen Tatrichter leid ... , die derartige Tätervorstellungen in revisionssicherer Weise feststellen müssen". Ich erwidere: Geppert stellt Schwierigkeiten, die eindeutig im Gesetz begründet liegen, als spezifische Erzeugnisse meiner Konzeption hin. § 22 StGB läßt nun einmal die "Vorstellung" des Täters entscheidend sein, auch hinsichtlich der Umstände, die die "Unmittelbarkeit" i. S. der Vorschrift ausmachen. Man darf mir nicht anlasten, daß meine Dogmatik - was man doch begrüßen sollte! - die großen Unsicherheiten sichtbar macht, womit der Tatrichter bei Anwendung des § 22 StGB fertig werden muß. Nehmen wir an, beim Oktoberfest wird die Bombe im Abfallkorb gerade noch rechtzeitig entdeckt, und der Terroranschlag scheitert. Die Zahl der tateinheitlich begangenen Mordversuche hängt von der "Vorstellung" des Täters ab. Diese ist vage und offen, und doch muß der Richter sie zu klären suchen und dem Täter nachweisen, wie viele Tötungen er sich mindestens als möglich vorgestellt hat28 • Im Prinzip genauso liegt es bei zeitlicher Fixierung. Der Richter muß sich eine Überzeugung bilden, für welchen Zeitpunkt spätestens der Täter es sich als möglich vorgestellt hat, daß das Opfer "in den letzten Zügen" liege. c) Koch wendet sich nicht direkt gegen meine Trennung von Versuchshandlung und -erfolg, aber er weist kritisch hin auf den drohenden Streit darüber, "was als ,unmittelbare Gefahr' anzusehen ist", und neigt selbst dazu, sie schon zu bejahen, wenn das Opfer "sich tatsächlich infiziert hat". Daß diese Sicht mir nicht ins Konzept paßt, weil sie meine Lehre um die Pointe und um die praktische Auswirkung brächte, kann die Zurückweisung natürlich nicht begründen. Wohl aber darf ich replizieren, daß das Kochsche Verständnis der anerkannten Voraussetzung unplausibel erscheint. Es setzt die annähernde Gewißheit des Erfolges gleich mit der unmittelbaren Gefahr seines Eintritts. Zum Vergleich: Jemand dringt in ein fremdes Ferienhaus ein mit der festen Absicht, dort eine Woche zu bleiben und beim Auszug 28 Das Beispiel zeigt, daß auch Koch keinen relevanten Einwand macht, wenn er mir vorhält, es sei "fraglich, ob sich denn der Tater überhaupt genauere Vorstellungen über den Verlauf machen wird". Fehlt es daran, dann muß der Richter eben auf die "ungenaueren Vorstellungen" zurückgreifen und sich überlegen, was sich aus ihnen im Hinblick auf § 22 StGB ergibt. Ich bin nicht verantwortlich dafür, daß das Gesetz die "Vorstellung" maßgeblich sein läßt, obwohl sich viele Tater bei ihrer Tat von deren Auswirkung keine genaue Vorstellung machen.
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das Fahrrad des Eigentümers mitzunehmen. Zu Recht ist er überzeugt, daß ihn in der ganzen Zeit niemand stören wird. Unter diesen Umständen steht praktisch fest, daß der Wegnahmeerfolg eintreten wird. Aber niemand wird deshalb sagen, der Täter sei schon wegen Diebstahlsversuchs strafbar, obwohl es nach seinem Plan noch eine Woche dauert, bis er das Fahrrad aus dem Keller holt. Oder ein ganz anderes Beispiel: Die Lebenserwartung eines rüstigen Neunzigjährigen ist geringer als die eines Vierzigjährigen, der sich mit HI-Viren frisch infiziert hat. Würde Koch wohl sagen, der alte Herr sei, während er im Park spazierengeht, in "unmittelbarer Gefahr" zu sterben? d) In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiteres Argument von Geppert. Er sieht einen Widerspruch darin, daß ich in den Problemfällen - absichtliche Infizierung mit Blut, infizierungsriskanter Sexualkontakt mit unwissendem Partner zwar eine vorsätzlich verübte "das Leben gefährdende" Gesundheitsbeschädigung bzw. körperliche Mißhandlung und Strafbarkeit nach § 223a StGB annehme (siehe dazu unten C 11), nicht aber auch schon die Vorstellung der "unmittelbaren Gefahr" bejahe, die den Tötungsversuch begründet. Mit anderen Worten: Wer § 223a StGB in der Lebensgefährdungsaltemative bejaht, müsse immer auch einen Tötungsversuch annehmen; sonst widerspreche er sich selbst. Das halte ich für unrichtig. Der Gesetzgeber hat es zweifellos so gesehen, daß jemand ein Delikt der Lebensgefährdung wie § 223a oder § 315c StGB vorsätzlich begehen kann, ohne zugleich wegen versuchten Mordes oder Totschlages strafbar zu werden. Diese Differenzierung kann man nur auf dem hier beschrittenen Wege realisieren, d. h. durch Unterscheidung zwischen einer Lebensgefährdung überhaupt und einer qualifizierten, die sich der Täter beim Tötungsversuch vorstellen muß. Auch verhält es sich nicht so, daß die Abstufung dem Gesetzgeber nur vorgeschwebt hat. Sie findet vielmehr im Gesetz selbst ihren Ausdruck. Denn die Voraussetzung "unmittelbar", die in § 22 StGB die Nähe der Tatbestandsverwirklichung, konkret: des Tötungserfolges, in der Tätervorstellung kennzeichnet, fehlt bei Delikten wie §§ 223a, 315c StGB. Meine Beurteilung der HIV-Infizierungsfälle läßt es also nicht, wie Geppert meint, an Konsequenz fehlen. Sie entwickelt sich vielmehr folgerichtig aus Andeutungen des Gesetzes und ist vor allem vollkommen konsequent, wenn man den Versuchstatbestand so liest, wie man ihn nach insoweit unstreitiger Interpretation lesen muß: Wer nach seiner Vorstellung von der Tat die unmittelbare Gefahr der Verwirklichung des Tatbestandes schafft; eine Entfaltung des Gesetzessinnes, die die Trennung von Versuchshandlung und Versuchserfolg ganz deutlich macht. Die vertiefte Begründung meiner Sicht hat außerhalb des eigentlichen Themas vielleicht ein schiefes Bild von § 223a StGB entstehen lassen. Darum bedarf es noch einer Klarstellung: Daß der Gefahr die Qualifizierung durch "Unmittelbarkeit" allein aus Zeitgründen fehlt, ist nur ein Fall der notwendigen Differenzierung und wohl kaum derjenige, den der Gesetzgeber vor Augen hatte. Die Hauptfälle der Alleinanwendbarkeit des § 223a StGB wegen Fehlens unmittelbarer Lebensgefahr sind die, wo die Mißhandlung zwar im Hinblick auf die tödliche Auswirkung schon ein unerlaubtes Risiko schafft, der Täter diese Gefahr aber noch abgeschirmt
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sieht durch Vermeideanstrengungen, die er selbst, das Opfer oder beide leisten. Beispiele: Jemand setzt ohne Tötungsabsicht die Dolchspitze auf die Kehle des reglos am Boden liegenden Gegners; der Beifahrer schafft bewußt eine erhöhte Unfallgefahr, indem er den Fahrer mit einigen Faustschlägen traktiert. Beiläufig wird an solchen Beispielen erkennbar, wogegen Geppert seinen Vorwurf des Selbstwiderspruchs richten müßte, um ihm Berechtigung zu verschaffen. Den Tötungsversuch zu verneinen ist in den meisten Fällen mit der Bejahung einer lebensgefährlichen Körperverletzung tatsächlich unvereinbar, weil der Täter die tödliche Gefahr durchaus auch als eine unmittelbare erkennt. Wenn z. B. jemand einen anderen in ein tiefes Wasser stößt oder vom fahrenden Moped oder vom hohen Wall in einen Graben, wenn er ihn bis zur Bewußtlosigkeit würgt, mit dem fahrenden Auto gezielt zu Boden wirft oder mit einem Bierkrug wuchtig auf den Kopf schlägt, dann ist es ein Widersinn zu sagen, der Täter habe zwar den Vorsatz, das Leben des Angegriffenen akut zu gefährden, nehme dabei aber nicht in Kauf, daß sich der Angriff unmittelbar tödlich auswirkt. Daß trotzdem die Fälle meistens so gelöst werden, hat irrationale Gründe. Es erklärt sich aus dem Unbehagen, den harten Grundsatz, daß als "Vorsatz" (§ 16 StGB) und "Vorstellung" (§ 22 StGB) auch sog. "dolus eventualis" genüge, selbst dann durchzuhalten, wenn dies die Bejahung des Tötungsvorsatzes und schwerste Strafe (§ 211 StGB) bedeutet. e) Sowada wandelt den Duisburger Fall dahin ab, daß das Opfer an der Infizierung unerwartet früh stirbt, der Täter erst später, vier Jahre nach der Tat, gefaßt wird und er sich nun unwiderleglich damit verteidigt, er sei überzeugt gewesen, daß seine Freundin mit dem Aids-Virus noch mindestens sechs Jahre leben werde. Mir ist nicht ganz deutlich geworden, was Sowada mit diesem Fall demonstrieren und kritisch gegen mich wenden will. Darum sage ich am besten, wie ich den Fall lösen würde und warum ich die Lösung für sachgerecht halte. Gemessen an der Tätervorstellung bei Tatbegehung steht der Versuchserfolg der unmittelbaren Todesgefahr noch aus. Darum fehlt es an einem kompletten Mordversuch. Dann wäre es aber auch falsch, dem Täter einen vollendeten Mord anzulasten, denn ein vollendetes Vorsatzdelikt kann nur aus dem ihm entsprechenden Versuch hervorgehen. Selbst wenn also später der deliktische Versuch zustande kommt, bleibt der vollendete Mord zu verneinen: Der längst gegebene Erfolg wäre nicht die Frucht des späteren Versuches. Die tatsächliche Verursachung des Todes ist also nur mit § 226 StGB zu erfassen 29 . Wer die Lösung unbefriedigend findet und - wie wohl auch Sowada - zur Annahme eines mit dem Todeserfolg vollendeten Mordes neigt, der bedenke, daß wir ja auch sonst viele Konstellationen kennen, in denen Erfolgsverursachung und Wollen des Erfolges sich nicht zum vollendeten Vorsatzdelikt vereinen 3o. Am 29 Zu den Bedenken, die Sowada gegen die Anwendung dieser Vorschrift äußert, habe ich schon oben, Fußn. 15, Stellung genommen. 30 So wäre es ja höchst fraglich, ob in Sowadas Fall bei Annahme eines schon mit der Blutinjizierung strafbar begangenen Versuches die vom Täter für ausgeschlossen gehaltene
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nächsten benachbart ist der bekannte Fall, daß der an sich gewollte Erfolg unerwartet schon aus einer "Vorbereitungshandlung" hervorgeht, ein Fall, den ich um einen ins Leere stoßenden Versuch erweitere: M ist Alkoholiker. Seine Frau F will ihn umbringen und versetzt eine im Keller vor M versteckte Flasche Cognac mit Gift. M findet zufällig die Flasche, trinkt daraus und legt sich bald ins Bett, weil ihm übel wird. Als F am Abend ein Glas füllt und es M darreicht, rührt er sich nicht mehr. - Es scheint mir unstreitig, daß in einem solchen Fall der vollendete Mord zu verneinen ist, obwohl doch ein auf Tötung gerichtetes Handeln mit geringer zeitlicher Verschiebung den erstrebten Tod auch bewirkt hat31 .
C. Die Frage des Körperverletzungsdelikts Wie steht es nun um die Strafbarkeit solcher Taten unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Mißhandlung und der Gesundheitsbeschädigung? Dies ist die übrig bleibende Problematik, nachdem ich zu klären versucht habe, daß Tötungsdelikte anfangs nicht vorliegen und später in der Regel wegen Strafklageverbrauchs nicht verfolgt werden dürfen. Wohlgemerkt, mein Thema ist die Strafbarkeit nach geltendem Recht, und dieses enthält nirgends die Voraussetzung der kriminal- und gesundheitspolitischen Opportunität und Nützlichkeit von Strafe. Mich damit ausein-. anderzusetzen und auf die einschlägigen strafrechtskritischen Argumente einzugehen, sehe ich mich also nicht beauftragt32 •
I. Erlaubtes Risiko der Gesundheitsbeschädigung 1. Bei nichtsexuellen Handlungen
Dies klargestellt, betone ich zunächst den prinzipiell anerkannten und grundsätzlich zu berücksichtigenden Gesichtspunkt des erlaubten Risikos. Darauf berufen kann sich z. B. ein Arzt, der unter Wahrung der erforderlichen Sorgfalt (vgl. § 276 BGB), d. h. nach Durchführung der vorgeschriebenen Tests, einem Bluter oder frühe Todesfolge einen vollendeten Mord ergäbe. Niemand wird so zynisch sein und es für "unwesentlich" erachten, ob jemand nach der Ansteckung noch volle sechs Jahre oder nur ein paar Monate lebt. Nach der h.L. müßte man also eine erhebliche Abweichung vorn vorgestellten Kausalverlauf annehmen und könnte genau wie ich den realen Erfolg nur als fahrlässig verursacht (§ 226 StGB) zurechnen. 31 Peter eramer in: Schönke/Schröder (Fußn. 1), § 15 Rdnr. 55; Günther Jakobs: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auf!. (1991), 8/76 (Fußn. 149); Roxin: AT (Fußn. 1), S. 383 f.; Günter Stratenwerth: Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Auf!. (1981), Rdnr. 285; Eberhard Struensee: Versuch und Vorsatz, in: Gedächtnisschrift für Arrnin Kaufmann, 1989, S. 523, (533 f.). 32 Ausführlich Stellung genommen habe ich - im Rahmen einer Kontroverse mit Herzog in Juristenzeitung 1989, S. 470-473. 6 AIDS und Strafrecht
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Dialysepatienten Blutplasma zuführt. Wenn sich dann das unvermeidbare Restrisiko einer HIV-Infizierung realisiert, ist ihm dieser Erfolg objektiv nicht zuzurechnen; eine Straftat nach § 230 StGB liegt nicht vor. Weitgehend durchgesetzt hat sich inzwischen auch die Erkenntnis, daß selbst böse Absicht aus einem erlaubten Risiko kein rechtlich mißbilligtes macht 33 . So bliebe im Beispiel die Lösung gleich, wenn sich mit der extrem unwahrscheinlichen Infizierung ein geheimer Wunsch des Arztes erfüllt hätte. Auch in realistischeren Fällen von Böswilligkeit muß man stets fragen, ob nicht der Versuch der qualifizierten Körperverletzung schon aus diesem objektiven Grund entfallt. So etwa, wenn ein HIV-Infizierter das Virus übertragen will durch Anspeien oder bloßes Bespritzen mit Blut; oder wenn er einen unwissenden Partner ins Verderben zu reißen trachtet, indem er ihn küßt. Ich bin nicht kundig genug, hier jeweils die Frage der objektiven Größe und Hinnehmbarkeit des Ansteckungsrisikos entscheiden zu können. Geht man aus von einem verschwindend geringen und deshalb erlaubten Risiko der Infizierung und Lebensgefahrdung, dann kommt es für den Versuch einer qualifizierten Körperverletzung (§§ 223a, 229 StGB) auf die Tcitervorstellung an. Räumt er sich selbst nur eine Erfolgschance von I: 100.000 ein, so stellt er sich ein Verhalten im Spielraum des erlaubten Risikos, also nicht die fragliche Tatbestandsverwirklichung vor. Wahrscheinlicher ist freilich, daß jemand, der aus bösem Willen so handelt, die Gefahr erheblich überschätzt und jedenfalls deshalb die für den Versuch zu fordernde Vorstellung hat. 2. Bei Sexualakten
Was speziell bei genital-sexuellen Kontakten das erlaubte Risiko betrifft, so herrscht in Deutschland ein grundSätzlicher Streit. Die einen verwerfen diesen Aspekt. Sie betonen die Bedrohung der Gesellschaft im ganzen, die selbst bei allgemeiner und ausnahmsloser Kondombenutzung immer noch groß bleibe, und das berechtigte Interesse des Gesunden, auch bei minimiertem Ansteckungsrisiko sich in Freiheit, d. h. in Kenntnis der Krankheit des Partners, für oder gegen den Kontakt zu entscheiden. Wer Virusträger ist und es weiß, soll deshalb nur dann einen unverbotenen Geschlechtsverkehr genießen, gewähren oder verkaufen, wenn er zuvor der Partnerperson sein eigenes Risikowissen mitgeteilt hat. Ohne Aufklärung bleibe ihm der Verkehr verboten; "safer sex", selbst bei sorgfaltiger Beachtung der Kondombenutzungsvorschriften, sei mit einem Restrisiko verbunden, das man dem Unwissenden nicht "aufbürden" dürfe und das als unerlaubtes zu gelten habe 34 • 33 Jakobs (FuBn. 31), 7/39; Detlef KrauB: Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Unrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 76 (1964), S. 19 ff. (47); Mandred Maiwald: Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" für die Strafrechtssystematik, in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 405 ff. (423); Eberhard Schmidhäuser: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auf!. (1984), 6/ I 09.
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Die anderen bewerten eben dieses Risiko, also das nach vollständiger und vorschriftsmäßiger Abschirmung durch ein Kondom übrigbleibende, als ein erlaubtes und glauben damit den Infizierten neben der Partneraufklärung einen zweiten legalen Weg zur Befriedigung ihrer sexuellen oder finanziellen Bedürfnisse zu öffnen 35 • Auch hier muß man beide Auffassungen verbinden, um die Wahrheit zu gewinnen. Die zweite Ansicht hat recht, wenn man die Frage darauf beschränkt, ob im Hinblick auf die Infizierung und Lebensgefährdung das Risiko ein erlaubtes ist. Welche Risikosetzungen hinzunehmen sind, richtet sich, wo rechtliche Normen fehlen, nach den in der Gesellschaft vorherrschenden Wertungen und Belehrungen. In Deutschland ist die Entwicklung dahin gegangen, daß staatlich eingerichtete oder geförderte Stellen im Sinne der zweiten Ansicht warnen, verbieten und beraten: Die zuständigen Personen fordern in den Einzelgesprächen nicht, künftig den Partner vor jedem Sexualkontakt aufzuklären, sondern sie fordern dessen vollständige und sorgfältige Abschirmung und stellen damit das Restrisiko tödlicher Ansteckung als vernachlässigenswert und tolerabel hin. Die Anwendung des § 223a StGB ist darum gesperrt. Der ersten Ansicht ist aber darin zuzustimmen, daß der Infizierte dem irrenden Partner dieses Restrisiko nicht aufbürden darf. Weiß der Infizierte, daß der andere nur auf Grund seines Irrtums mit der Einwirkung auf seinen Körper einverstanden ist, dann macht er sich wegen einfacher Körperverletzung (§ 223 StGB) strafbar. Die Begründung hat größere Relevanz für die praktisch wichtigste Konstellation, d. h. den Fall des ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit getäuschtem Partner. Ich bringe sie deshalb sogleich in diesem Zusammenhang. 11. Vorsatzdelikte durch ungeschützten Sexualkontakt bei ausgebliebener oder nicht nachweisbarer Infizierung
Nur selten kann man einen Angeschuldigten überführen, eine bestimmte Neuinfizierung verursacht zu haben. Daß man es nicht kann, schließt jedoch keineswegs die Strafbarkeit aus. Als Straftaten kommen bei geschlechtlichen Kontakten natürlich zunächst einmal Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Betracht, etwa der Mißbrauch von Kindern (§ 176 StGB) oder Widerstandsunfähigen (§ 179 34 Dreher/Tröndle (Fußn. 3), Vor § 32 Rdnr. 13, § 222 Rdnr. 8; Wolfgang Frisch: Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Straftat? - BGHSt 36, I, Juristische Schulung 1990, S. 362 ff. (364); Hans-Walter Mayer: Forum: Die ungeschützte geschlechtliche Betätigung des Aidsinfizierten unter dem Aspekt der Tötungsdelikte - ein Tabu?, Juristische Schulung 1990, S. 784 ff. (786); Rengier (Fußn. 3), S. 231; Heinrich WokaleklChristian Köster: AIDS und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, Medizinrecht 1989, S. 286 ff. (288). 35 Bruns (Fußn. 3), S. 693; ders.: Ein Rückschlag für die AIDS-Prävention, Monatsschrift für Deutsches Recht 1989, S. 199; Meier (Fußn. 3), S. 230; Cornelius Prittwitz: Die Anstekkungsgefahr bei AIDS, Juristische Arbeitsblätter 1988, S. 427 ff. (437); ders.: Das "AIDS-Urteil" des Bundesgerichtshofs, Strafverteidiger 1989, 123 ff. (127).
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StGB), die Vergewaltigung (§ 177 StGB) oder die sexuelle Nötigung (§ 178StGB). Diese Tatbestände interessieren uns hier aber nur am Rande, weil sie das spezifische Unrecht der Belastung des anderen mit dem Infizierungsrisiko nicht erfassen und von HIV-positiven Personen nur ganz selten erfüllt werden. Unsere Frage zielt also auf die Körperverletzungsdelikte.
1. Die falsche Prämisse: 1n Betracht kommt nur der Versuch einer Körperverletzung
Was diese betrifft, hat sich in Deutschland die Diskussion der HIV-Problematik von Anfang an beschränkt auf die Tatbestände der versuchten gefährlichen Körperverletzung (§§ 223a, 22 StGB) und der Vergiftung i.S. von § 229 StGB. Erklären mag sich das daraus, daß die sexuelle Einwirkung auf den Körper eines anderen, wenn dieser sie hinnimmt oder gar begehrt, auf den ersten Blick keine ,,körperliche Mißhandlung" sein kann. Darum scheint es, als sei ein mit den Aids-VIren zusammenhängendes Unrecht nur unter dem Aspekt der Gesundheitsbeschädigung zu erfassen. Diese ist aber dem Täter nicht als objektive Auswirkung seiner Tat, sondern allenfalls als Gegenstand seines Vorsatzes nachzuweisen. Hier scheinen mir Widerspruch und Neubesinnung notwendig. Man muß bedenken, daß die rechtliche Mißbilligung der fraglichen Taten ihren Grund in der ausdrücklichen oder stillschweigenden Täuschung hat, die die Täter als Mittel einsetzen. Der Partner des HIV-positiven Täters begehrt oder akzeptiert die im sexuellen Kontakt liegende Einwirkung auf seinen Körper nur deshalb, weil er das Risiko, infiziert zu werden, nicht kennt. Ein solcher täuschungsbedingter Irrtum muß aber die Frage aufwerfen, ob nicht die Einwirkung, weil dem wahren Willen des Rechtsgutsträgers widersprechend, als körperliche Mißhandlung zu bewerten ist. Scheuerl gibt darauf die Antwort, daß "der einverständliche Geschlechtsverkehr ... objektiv gerade auf eine Beförderung des Körperinteresses des Sexualpartners gerichtet" ist und darum "bereits nicht als ,üble und unangemessene Behandlung'" erscheint, "auch wenn er eine Infizierung des Sexualpartners ... bewirkt,,36. Diese Begründung beansprucht allgemeine Geltung, aber sie erfaßt nicht die zahllosen Fälle des einverständlichen Verkehrs, den die eine Seite um des Friedens willen oder des Geldes wegen nur lustlos und widerwillig mitmacht, den sie also als übel und unangenehm empfindet. Offenbar will Scheuerl diesem Umstand sowenig wie andere Autoren Relevanz geben. Dann heißt es aber konsequent sein: Ob die getäuschte Person die Einwirkung auf ihren Körper als Lust oder als Last erfährt, welchen Part sie übernimmt und auf welchen Körperteil der oder die andere einwirkt, kann nicht entscheidend sein. Wenn wirklich die körperliche Mißhandlung zu verneinen ist, dann deshalb, weil die Person in die Einwirkung auf ihren Körper wirksam gewilligt hat. 36
Scheuerl (Fußn. 3), S. 84.
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Wie es um die Wirksamkeit der Einwilligung steht, soll ein Vergleichsfall deutlich machen. Eine Ehefrau will ein Kind und verlangt notgedrungen nach künstlicher Insemination. Der Arzt führt Sperma ein, wobei er ernstlich für möglich hält, daß es HI-Viren enthalte. Tatsächlich ist das der Fall. Zum Glück bleibt die Infizierung aus, aber die empörte Frau stellt trotzdem Strafantrag. - Jeder wird sagen, daß unter diesen Umständen der Eingriff des Arztes in die Körperintegrität der Frau durch deren Zustimmung und Begehren nicht gedeckt und deshalb rechtswidrige körperliche Mißhandlung sei: Das Einverständnis zählt nicht, es ist entwertet durch den Irrtum über die tödliche Gefahr, die mit dem Eingriff verbunden ist. Zugegeben, es fällt uns nicht leicht, die Lösung zu übertragen, besonders wenn Objekt der Einwirkung das männliche Glied ist. Aber man muß den Fall nur einmal zuspitzen: Eine Aids-positive Nymphomanin lernt auf einem Fest einen schüchternen Schüler kennen, nimmt ihn mit nach Hause und fordert kondomlosen Verkehr. Der Schüler sträubt sich aus Angst vor Aids. Erst als sie ihm hoch und heilig versichert, "clean" zu sein, willigt er ein. - Das Mißliche, Üble und Unangemessene der Einwirkung auf den Körper des Gesunden liegt eben darin, daß Täterin eine infizierte Person ist, von der er die Einwirkung nicht will. Man kann sein für die Zustimmung ursächliches Vertrauen auch nicht als unbeachtlichen Motivirrtum abtun. Nein, die Täuschung bewirkt einen ,,rechtsgutsbezogenen" Irrtum, denn er betrifft das Risiko der Zerstörung eben des Körpers, den der Irrende zur Einwirkung freigibt 37 •
2. Das gesetzessystematische Argument des § 229 StGB
Für die Bejahung der Mißhandlungsalternative bietet § 229 StGB sogar ein gesetzessystematisches Argument. Eingeordnet in den Abschnitt "Körperverletzung", ist die Norm vom Gesetzgeber offenbar gemeint als ein Tatbestand, der eine qualifizierte vollendete Körperverletzung beschreibt. Neben den seltenen Fällen der gewaltsamen Beibringung will die Vorschrift natürlich vor allem Taten erfassen, mit denen das getäuschte Opfer ahnungslos einverstanden war; oft wird es sogar, essend oder trinkend, den Vorgang der Beibringung als Genuß erleben. Daß dann allemal dennoch eine vollendet-qualifizierte Körperverletzung vorliege, kann man offenbar nicht mit der Alternative der "Gesundheitsbeschädigung" begründen, denn diese muß der Täter nicht objektiv bewirken, sondern nur im Sinn haben. Also bleibt allein die ,,körperliche Mißhandlung", die sich auch ohne weiteres aus dem rechtsgutsbezogenen Irrtum des Opfers erklären läßt. Übrigens wird nirgends bestritten, daß in den eigentlichen Problemfällen jedenfalls der objektive Tatbestand des § 229 I StGB erfüllt sei: Auch ohne Anstek37 Vgl. Schlehofer (Fußn. 9), S. 2022; ders.: Einwilligung und Einverständnis, 1985, S. 77; Gunther Arzt: Willensmängel bei der Einwilligung, 1970 , S. 19; Albin Eser: Strafrecht I, 3. Auf!. (1980), S. 87; Jescheck (Fußn. 20), S. 344.
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kungsfolge bedeute die Zufuhr von Viren durch Ejakulation oder im Austausch von Körperflüssigkeit das' Beibringen eines Stoffes, der die Gesundheit zu zerstören geeignet sei38 . Ist es dann nicht schlicht konsequent, eine so eingestufte Tat auch als ,,körperliches Mißhandeln" anzusehen?
3. Zur Kritik in der Diskussion
Meine Innovation zur Frage des Körperverletzungsdelikts in den hauptsächlich interessierenden Fällen - ungeschützter Sexualkontakt unter Verschweigung der eigenen Infektiosität - hat nach meinem Eindruck den meisten Zuhörern eingeleuchtet 39 . Aber auch Skepsis und Kritik wurden laut. Ich führe dies, wenigstens zum Teil, darauf zurück, daß ich im Vortrag das Argument, das § 229 StGB liefert, aus Zeitmangel nicht vorgetragen habe. Denn wie man sich ihm entziehen könnte, vermag ich nicht zu erkennen. Dennoch will ich mich, in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Einwänden, um eine vertiefte Begründung bemühen. a) Die meisten Äußerungen liefen auf den Einwand hinaus, es genüge zur Annahme einer ,,körperlichen Mißhandlung" nicht, daß der Betroffene ohne Irreführung die im sexuellen Kontakt liegende Einwirkung auf seinen Körper wegen des gesundheitlichen Risikos nicht hingenommen hätte. So meint etwa Geppert, ich ließe für die im Gesetz geforderte ,,körperliche Mißhandlung ... die Verletzung der Selbstbestimmung des in Unwissenheit gehaltenen Partners" eintreten; das dehne "den Tatbestand des § 223 StGB über den Wortlaut hinaus auf Fälle aus ... , die von ihm nicht erfaßt werden". In der Tat bin ich der Meinung, daß der von Geppert verworfene Maßstab bei unschädlichen Einwirkungen der allein richtige und brauchbare ist. Entscheidend für das Vorliegen einer körperlichen Mißhandlung kann hier nur sein, daß der Betroffene in das, was seinem Körper angetan wird, nicht wirksam gewilligt hat. Verlangt eine Frau vom Friseur, ihr Haar um genau 2 cm zu kürzen, dann ist das heimlich-eigenmächtige Abschneiden von 4 cm eine körperliche Mißhandlung, obwohl es nicht wehtut und selbst wenn der Kundin die Frisur mit den kürzeren Haaren besser steht. Die Begründung ist klar und bekannt. § 223 StGB soll den ganzen Körper, einschließlich der Haare, schützen, auch gegen schmerzlose Einwirkungen, wenn der Inhaber des Körpers sie nicht will. Der Irrtum der Frau ist also ,,rechtsgutsbezogen" und macht die Einwilligung ungültig.
38 Dreher/Tröndle (Fußn. 3), § 229 Rdnr. 2; Laclrner (Fußn. 22), § 229 Rdnr. 2, 3; Schünemann (Fußn. 7), S. 92. 39 Mißverständig ist Sowadas Annahme, daß ich allgemein, auch bei absichtlicher Beibringung HIV-positiven Blutes wie im Duisburger und im Amsterdamer Fall, auf die Mißhandlungsalternative zu ,,rekurrieren" für nötig hielte. Wo die Tat nicht nur riskant war, sondern das Virus nachweislich übertragen hat, ist die körperliche Mißhandlung natürlich zugleich Gesundheitsbeschädigung.
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Wollen meine Kritiker wirklich für eine andere Beurteilung eintreten, wenn die Täuschung dem Rechtsgutsträger verschleiert, daß die Einwirkung auf seinen Körper dessen Gesundheit gefährdet? Nehmen wir an, der Friseur will der Frau übel, weil sie seine Werbungen zurückgewiesen hat. Er empfiehlt ihr als Haarwasser eine Lösung, die meistens nicht schadet, aber in einem von zehn Fällen Haarausfall verursacht. Die Betrogene sagt ja und läßt sich die gefährliche Tinktur mit Behagen einmassieren. Soll diesmal die Einwilligung gültig und die Einwirkung, die die Frau bei Kenntnis der Gefahr mit Entsetzen um ihres Körpers willen verboten hätte, keine körperliche Mißhandlung sein? Geppert beruft sich auf den Wortlaut und meint damit wohl, daß eine Körpereinwirkung, die als neutral oder gar angenehm empfunden wird und gegen die sich der Wille nicht aktuell auflehnt, nicht "Mißhandlung" genannt werden könne. Daß wir uns nach dieser Interpretation, die auf mich naturalistisch-vordergründig wirkt40 , in Wahrheit nicht richten, scheinen mir meine Vergleichsfälle zu beweisen. Ich bestreite sie aber schon auf der Ebene der Wortlautbetrachtung. Denn gerade die Alternative in § 223a I StGB, deren Anwendbarkeit i. S. eines vollendeten Delikts ich zu beweisen suche, spricht ja von einer das Leben gefährdenden ,,Behandlung". Die Verwendung dieses neutralen Begriffs ist aufschlußreich. Sie zeigt an, daß das Gesetz bei körperlichen Einwirkungen, die das Leben gefährden, das pejorative Präfix für überflüssig erachtet. Mißhandlungscharakter hat die Behandlung schon deshalb, weil sie das Leben des Behandelten (ohne dessen gültige Einwilligung) gefährdet; eine davon unabhängige Mißlichkeit, wie Geppert sie fordert, verlangt das Gesetz nicht.
b) Koch findet es richtig, "der Mißhandlungsalternative in § 223 StGB verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken". Ein Mißverständnis ist aber der mir gespendete Beifall für den "durchaus treffenden Ansatz ... , die psychische Reaktion des Opfers auf das Geschehene als tatbestandsmäßigen Erfolg anzusehen". Zum einen ist es problematisch und angreifbar, das Bewirken seelischer Effekte wie Angst oder Zorn als körperliche Mißhandlung anzusehen. Zum anderen verwässert Koch meine Lösungsidee, wonach ja die im Sexualakt liegende körperliche Einwirkung als solche bereits die Mißhandlung der Partnerperson darstellt. Sind die übrigen Voraussetzungen gegeben, so ist darum das Delikt sofort verwirklicht und nicht etwa abhängig von dem ungewissen Umstand, daß das Opfer von seinem Irrtum erfährt. Koch sieht die Schwäche dieses Gesetzesverständnisses in der "Gefahr", daß § 223 StGB zum "Auffangtatbestand" werde "für alle möglichen sexuellen Handlungen ... , die der Gesetzgeber mit gutem Grund in den §§ 174 ff. StGB nicht kriminalisiert hat". Das sehe ich anders. Ist eine sexuelle Handlung nach allgemeinen Regeln zugleich eine Nötigung oder Körperverletzung, dann muß man daraus die 40 Man denke etwa an den Begriff "Mißbrauch" im Zivilrecht oder in § 266 StGB, den man auch nicht schon deshalb verneinen würde, weil das Opfer infolge Irrtums den schädlichen oder gefährlichen Akt wünscht und begrüßt.
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Konsequenz ziehen, d. h. wegen dieser Vergehen bestrafen, sofern sie nicht in Gesetzeskonkurrenz hinter einem Sexualdelikt zurücktreten. Will Koch etwa eine brutale Vergewaltigung, die der Tater an seiner Ehefrau begeht, für straffrei erklären? c) An sich durchaus zu Recht betont Koch am Ende, wie unscharf in meiner Konzeption "die Grenze relevanter Willensmängel" verlaufe. Es ist wahr, ich bin darauf nicht eingegangen, weil ich mich beschränkt habe auf den in dieser Hinsicht relativ klaren Fall, daß der Tliter seine ihm selbst bekannte Infektiosität dem anderen verschweigt und dieser nur deshalb die sexuelle Einwirkung auf seinen Körper begehrt oder gestattet. Zu verkennen scheint Koch aber, daß die Unschärfe nicht im mindesten ein Spezifikum meiner Lehre ist. Überall, auch bei Vorsatzdelikten, stellt sich die Frage, ob man das Verhalten des Taters im Hinblik auf mögliche Folgen als Sorgfaltspjlichtverletzung bewerten muß. Nur konkretisiert sich für uns die allgemeine Frage in einem bestimmten Sinne: War es unter den gegebenen Umständen sorgfaltswidrig, davon auszugehen, daß ein risikorelevantes Faktum (z. B. Sexualkontakte in Schwarzafrika) für das Einverständnis der gegenwärtigen Partnerperson nicht entscheidend sei? Es versteht sich bei dieser Fragestellung, daß es einen Unterschied machen kann, wer über das problematische Faktum uninformiert bleibt, die sittenstreng-ängstliche Lebensgefährtin oder der unbekannte Zufallspartner in der Schwulensauna.
III. Die neue Fragestellung bei § 223a 8tGB
Die Frage der gefahrlichen Körperverletzung (§ 223a StGB) muß also anders gestellt werden. Es geht nicht darum, ob ein Versuch, sondern ob das vollendete Delikt vorliegt. Denn die Nichtnachweisbarkeit der Ansteckung betrifft allein die Alternative der Gesundheitsbeschädigung. In der Form der körperlichen Mißhandlung ist das Grunddelikt erfüllt, so daß nur noch zu fragen ist, ob der Tliter die Körperverletzung vorsätzlich mittels einer Behandlung begeht, die das Leben des Opfers gefahrdet. Hier liegen indes keine Probleme mehr. Denn die in Rede stehenden Fälle zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß der Tliter durch ungeschützten Sexualkontakt ein als unerlaubt bewertetes Infizierungsrisiko schafft. Dieses Risiko ist identisch mit der nicht mehr tolerablen, rechtlich mißbilligten Gefahr, daß das Opfer erkrankt und sein Leben verliert. Die körperliche Mißhandlung wird also objektiv mittels einer das Leben gefahrdenden Behandlung begangen. Am Vorsatz zweifeln darf auf der neuen Basis aber nicht einmal, wer am voluntativen Moment festhält. Denn die Zweifel rühren ja daher, daß der Täter die Verwirklichung von Erfolgsmerkmalen im eigentlichen Sinne - Gesundheitsbeschädigung und Tod - als äußerst unwahrscheinlich ansehen und auf das Ausbleiben "vertrauen" kann. Genau umgekehrt liegt es, wenn die bloße Gefahr dieser Auswirkungen Vorsatzgegenstand ist. Der Tliter weiß sicher, daß er sie mit der "Behandlung" des Opfers, sprich mit dem ungeschützten Sexualakt, erzeugt als eine damit unmittelbar verknüpfte Folge. Da er die Gegebenheiten kennt, d. h. seine Infektiosität und
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das Ansteckungsrisiko, kann die Verneinung der Gefahr nur ein unbeachtlicher Subsumtionsirrtum sein.
IV. Zur Anwendbarkeit des § 229 StGB Ob die Tat zugleich § 229 I StGB unterfällt, erscheint zweifelhaft. Schünemann bejaht es41 , die meisten widersprechen ihm mit der Begründung, der Wortlaut verlange, daß der Tater mit der Absicht der Gesundheitsbeschädigung handle; der Infizierte hoffe aber normalerweise im Gegenteil, den Partner nicht anzustecken. Das hat Gewicht. Die Behauptung, der Virusträger habe dem Partner die Viren beigebracht, "um" ihn an der Gesundheit zu beschädigen, würde in einem umgangssprachlichen Diskurs nur Kopfschütteln erregen. Diese "Probe aufs Exempel,,42 ist für Schünemann also mißlich. Indes scheint es mir falsch, hier das Alltagssprachverständnis maßgebend sein zu lassen. Blickt man genauer hin, dann empfiehlt es sich, den sog. bedingten Vorsatz genügen zu lassen, genau wie beim Merkmal "zur Tauschung im Rechtsverkehr" in § 267 StGB: Daß der Berufsfälscher hofft, sein Auftraggeber werde die Täuschung mit dem Falsifikat nicht nötig haben, kann nichts ausmachen. Bei § 229 StGB sollte man es genauso sehen, z. B. wenn jemand einem Ahnungslosen, um dessen Abwehrkräfte zu testen, Gift oder gefährliche Viren zuführt, wobei er die Gesundheitsbeschädigung nicht wünscht, aber ernstlich erwartet.Insoweit teile ich also den Standpunkt Schünemanns. Damit stellt sich mir doch noch die Frage, die für § 223a StGB, wie dargelegt, nicht entscheidend ist: Hat der Aids-Infizierte bei ungeschütztem Verkehr den Vorsatz, den getäuschten Partner nicht nur körperlich zu mißhandeln, sondern auch an der Gesundheit zu beschädigen? Darauf noch eine begründete Antwort zu geben, fehlt mir der Raum.lch darf die Frage aber auch guten Gewissens offenlassen, weil sie für mich, angesichts einer ohnehin vollendeten gefährlichen Körperverletzung, nur ganz periphere Bedeutung hat.
D. Das Hauptergebnis Das zentrale Ergebnis meiner Überlegungen hat mich selbst überrascht. Fast allgemein hält man für selbstverständlich, daß die Schlüsselfrage die nach dem Vorsatz sei, und zwar sowohl für das Tötungs- wie das Körperverletzungsdelikt. Ich selbst habe mit mehreren Beiträgen einigen Anteil daran, daß sich diese Überzeugung mit Beginn der Diskussion sogleich gebildet hat. Jetzt sehe ich es anders. 41 Schünemann (Fußn. 7), S. 92; ders. (Fußn. 2), S. 469 Cf.; ders.: Die Strafrechtlichen Probleme von AIDS, in: Büsch/Heckmann/Marks: HIV/AIDS und Straffälligkeit, 1991, S. 97 f. 42 Die Schünemann in anderem Zusammenhang selbst fordert (s.o. Fußn. 7), S. 92.
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Ein Mord- oder Totschlagsversuch liegt selbst dort nicht vor, wo alle, bis auf Schünemann, ihn bejahen würden, d. h. bei gezielt-böswilliger Injizierung von Aids-Viren, wie sie die Angeklagten im Duisburger und im Amsterdamer Fall begangen haben. Obwohl dann der Tötungsvorsatz, entgegen Schünemann, zu bejahen ist und die Versuchshandlung vorliegt, fehlt es am Versuchseifolg, d. h. an der nach § 22 StGB erforderlichen unmittelbaren Gefahr in der Tätervorstellung. Später scheitert die Verfolgung wegen Versuches oder Vollendung praktisch immer am Strafklageverbrauch. Was das Körperverletzungsdelikt betrifft, so ist die entscheidende Frage nicht die nach dem Gesundheitsbeschädigungsvorsatz des Infizierten, sondern die nach einer gültigen Einwilligung des Partners in die körperliche Behandlung, die ihm im Sexualakt zuteil wird. Denn diese ist - nach allgemeinen Regeln - als körperliche Mißhandlung zu bewerten, wenn der Einwilligung ein rechtsgutsbezogener Irrtum zugrunde liegt, und ein solcher ist in der Verkennung des Ansteckungsrisikos zweifellos zu sehen. Es geht also um eine vollendete, nicht um eine nur versuchte Körperverletzung. Bei der Vorsatzprüfung entfällt damit das Problem, denn der Infizierte hat das sichere Wissen, daß er durch ungeschützten Verkehr den irrenden Partner in eine Lebensgefahr bringt, die nicht mehr als erlaubtes Risiko angesehen werden kann.
E. Zusammenfassung Der Beitrag beschränkt sich auf eine Beurteilung nach dem deutschen Strafrecht. Er behandelt hauptsächlich Fälle, die auch die Gerichte schon beschäftigt haben: die gewaltsame Injizierung von HIV-positivem Blut in der Absicht, den Aids-Tod des Opfers zu verursachen, (Fall 1); den kondomlosen Sexualkontakt einer HIVpositiven mit einer gesunden Person, die bei Kenntnis des Ansteckungsrisikos den Kontakt abgelehnt hätte (Fall 2). Der Autor begründet zunächst, daß - entgegen der Lehre Schünemanns - die große zeitliche Entfernung der Todesfolge, die der Täter erstrebt oder voraussieht, die Annahme eines Tötungsversuchs nicht verbietet. Dies ergibt sich für ihn letztlich aus den gesetzlichen Regeln zur Verjährung, deren analoge Anwendbarkeit bei später Deliktsvollendung er im Streitgespräch zu beweisen sucht. Entscheidend isr danach, daß Mord gar nicht und Totschlag erst nach 20 Jahren verjährt. Trotzdem verneint der Autor sogar bei absichtlicher Zufuhr verseuchten Blutes (Fall 1) einen Tötungsversuch; dies entgegen der in Deutschland fast allgemeinen Rechtsauffasssung. Begründung: Ein strafbarer Versuch setzt voraus, daß der Täter nach seiner Vorstellung vom Tatverlauf die unmittelbare Gefahr der Deliktsvollendung, hier des Todes, schon geschaffen hat. Daran fehlt es, weil der Täter bei seiner Handlung den Aids-Tod des Opfers noch in weiter Feme sieht. Aber selbst wenn nach Jahren die versuchte oder sogar die vollendete Tötung vorliegt, verbietet sich
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meistens die Bestrafung. Denn der Tater, wenn überhaupt ermittelt, ist dann regelmäßig schon längst wegen vollendeter oder versuchter Körperverletzung rechtskräftig verurteilt: "ne bis in idem". Im Fall 1 liegt eine vollendete Körperverletzung "mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung" vor. Im Fall 2 zieht man allgemein nur einen Versuch dieses Delikts in Betracht. Das scheint zunächst richtig, denn eine Gesundheitsbeschädigung durch Ansteckung ist hier selten und, falls gegeben, kaum nachweisbar. Aber auch der Versuch wird von vielen verneint, und zwar mit der Begründung der Virus träger habe normalerweise keinen Vorsatz, den anderen an der Gesundheit zu beschädigen. Der Autor bestreitet die Prämisse, daß nur ein Versuch in Betracht komme. Er betont, daß eine Körperverletzung auch begeht, wer einen anderen ,,körperlich mißhandelt". Diese Gesetzesalternative wir in der Aids-Diskussion allgemein vernachlässigt, weil sie bei einvernehmlichen Geschlechtsverkehr fernliegt. In Wahrheit ist sie aber erfüllt. Die nicht ganz unerhebliche Einwirkung auf den Körper eines anderen ist Mißhandlung, wenn sie ohne wirksames Einverständnis geschieht. Im Fall 2 ist das Einverständnis unwirksam, weil es auf Verkennung des Ansteckungsrisikos beruht. Dies weiß der Tater, und er hat auch den Vorsatz einer lebensgefährlichen Behandlung. Denn mag er auch darauf vertrauen, daß die tödliche Ansteckung sebst ausbleibt, so ist ihm doch bei ungeschütztem Sexualkontakt die sichere Folge bewußt, daß er immerhin eine unerlaubte Gefahr für das Leben des anderen schafft.
Diskussionsbericht Von Diego-Manuel Luzon-Peiia
I. I. Die Diskussion begann mit einem Bericht von Herrn D{az y Garc{a Conlledo über die Lage in Spanien, die große Ähnlichkeit zu der deutschen Diskussion aufweise. Die spanische Lehre streite mit fast denselben Argumenten und Positionen wie die Lehre in Deutschland über die Probleme des Kausalitätsnachweises, über die vielleicht fehlende Täterschaft bei Einwilligung des Opfers in das Infektionsrisiko, über die objektive Zurechnung des späteren Erfolgs zur Täterhandlung, über die Entsprechung der Tat mit einem oder anderem Tatbestand, über die prozessualen Schwierigkeiten in den Fällen, wo der tödliche Erfolg erst viele Jahre nach der Infektion stattfindet, über die eventuelle Rechtfertigung bzw. Tatbestandsausschließung durch erlaubtes Risiko, Sozialadäquanz oder Sozialtoleranz in bestimmten Fällen, über die Probleme des subjektiven Tatbestandteils, über die Möglichkeit der Minderung oder sogar des Ausschlusses der Schuld wegen der psychischen Lage des AIDS-kranken Täters, usw. Das spanische StGB typisiere übrigens in Art. 348 die böswillige Verbreitung einer auf Menschen übertragbaren Krankheit, die gleichzeitig ein Verletzungsoder zumindest ein konkretes Gefährdungsdelikt gegen individuelle Rechtsgüter und ein abstraktes Gefährdungsdelikt gegen die kollektive Gesundheit darstelle. Die Strafe sei Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 6 Jahren, und in besonders schweren Fällen von 6 bis 12 Jahren. Die Hauptschwierigkeit für die Anwendbarkeit der Vorschrift auf die Fälle der AIDS-Ansteckung mit bedingtem Vorsatz bestehe in der Interpretation der h. L., nach der die gesetzlich geforderte "Böswilligkeit" den bedingten Vorsatz ausschließt; nur eine Mindermeinung, so z. B. Luzon, glaube - nach D{az mit Recht -, daß Böswilligkeit "objetiv böser Wille" heiße und deshalb das Handeln mit bedingtem Vorsatz nach Art. 348 strafbar sei. Gegen fahrlässiges Handeln sei jedenfalls diese Vorschrift nicht anwendbar. Nach D{az empfehle sich wegen der großen Schwierigkeiten einer geeigneten Bestrafung von strafwürdigen und strafbedürftigen Taten der HIV-Infizierung die Schaffung eines spezifischen Gefährdungsdelikts der Ansteckung von AIDS (und ähnlichen Krankheiten), etwa in der Richtung des "Andechser Entwurfs" von Bottke, Luzon, Mir, Schünemann und Si/va.
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2. Herr Luzon fügte zur Lage der Diskussion in der spanischen Strafrechtswissenschaft einen Hinweis zu der objektiven Zurechnung des Todeserfolges bei einer vorsätzlichen oder fahrlässigen HIV-Infizierung hinzu. Während teilweise die objektive Zurechnung von Spätfolgen verneint werde, lehnten andere Autoren - wie Si/va und Luzon - die Behauptung ab, daß die Spätfolgen als solche allgemein die Erfolgszurechnung verhindern könnten. Dann aber schlage Silva für den Fall des nachträglichen Todes auf Grund einer HIV-Infizierung eine Strafmilderung des Strafrahmens der Tötungstatbestände wegen Unrechtsminderung vor, denn der Handlungsunwert sei geringer, weil die Handlung weniger gefährlich sei und sich auf einen nicht so schweren Erfolg (bei einem zwar zum Tode führenden, aber noch mehrere Lebensjahre voraussetzenden Ablaut) beziehe. Seinerseits hat Luzon eine andere Möglichkeit in Erwägung gezogen: daß die Verursachung einer langwierigen Krankheit, die das Leben verkürzen kann, die aber nicht unmittelbar den Tod herbeiführt, sondern das Opfer noch mehrere Jahre weiterleben läßt, vielleicht den Sinn des tatbestandlichen Wortes "töten" nicht erfüllt. 3. Darauf folgte ein Beitrag von Herrn Künsenmüller über die Lage des chilenischen Rechts. In diesem StGB gebe es keinen Tatbestand der körperlichen Mißhandlung, und die schweren Körperverletzungen verlangten als Verhaltensweisen Wundenverursachung, Schlagen, Mißhandeln oder Verabreichen schädlicher Getränke oder Stoffe, mit einer mehrere Tage dauernden, für die Gesundheit oder Körperunversehrtheit schädlichen Folge. Derzeit seien im chilenischen Parlament zwei Gesetzesvorschläge über die AIDS-Infizierung vorgelegt worden: Im ersten Vorschlag (von den Senatoren Soro und Vodanovic) wird zunächst eine Veränderung des Art. 397 chilenisches StGB (schwere Körperverletzung) vorgesehen, wonach in Abs. 1 die auf irgendwelche Weise verursachten Schäden an der Körperunversehrtheit oder an der physischen oder psychischen Gesundheit je nach der Schwere des Erfolgs mit Freiheitsstrafe von 1,5 bis 3 Jahren oder von 5 bis 10 Jahren bedroht werden, und in Abs. 2 wird bestimmt, daß die durch Geschlechtsansteckung herbeigeführten Körperverletzungen nur auf Antrag des Opfers verfolgt werden dürfen und bei dessen Kenntnis und Einverständnis Strafausschluß vorliegt. Die Veränderung des Art. 398 würde ein vorsätzliches konkretes Gefährdungsdelikt schaffen, wonach mit Freiheitsstrafe von 2 Monaten bis 1,5 Jahren derjenige bestraft wird, der wissend, daß er an einer durch Geschlechtsverkehr übertragbaren Krankheit leidet und sie sich in einem Stadium mit tastsächlicher Übertragungsmöglichkeit befindet, mit einem anderen Beischlaf ausübt und dadurch ohne dessen Kenntnis oder Einwilligung das Leben oder die Gesundheit gefährdet. Der zweite Gesetzesvorschlag (von den Abgeordneten Naranjo, ToM, Smok und Kuzmanic) sieht folgende Delikte vor: der AIDS-Infizierte, der wissentlich irgendwie einen anderen ansteckt oder mit ihm Geschlechtsverkehr hat, soll gemäß Art. 15 mit einer Freiheitsstrafe von 15 bis 20 Jahren bestraft werden. In Art. 45 werden für die wissentliche AIDS-Ansteckung (außer Art. 15) 15 Jahre bis zu lebenslänglichem Freiheitsentzug vorgesehen, und in Art. 46 5 bis 10 Jahre Frei-
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heitsstrafe für die täuschenden Behandlungen oder Eingriffe eines HIV-Infizierten mit einer falschen Diagnose von Virusbeseitigung. 4. Anschließend kam Herr Spinellis zu Wort, der feststellte, daß die rechtliche Lage in Griechenland der deutschen sehr ähnlich sei. Das griechische StGB enthalte Vorschriften über vorsätzlichen Totschlag (Art. 299) sowie über einfache, gefährliche und schwere Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge (Art. 309-311). Darüber hinaus typisiere Art. 284 die Verletzung der behördlichen Normen zur Verhütung von ansteckenden Krankheiten, wobei aber AIDS in die entsprechende amtliche Liste der Krankheiten bisher nicht aufgenommen worden sei. Vor allem aber sei Art. 425 StGB interessant, der als Übertretung eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Monaten oder eine Geldstrafe für denjenigen vorschreibt, der an einer ansteckenden Krankheitleidend, mit einem anderen in einen Kontakt tritt, in dem ihre Übertragung erfolgen könne. Mit einer Erschwerung von Übertretung zu einem Vergehen könne dieses abstrakte Gefährdungsdelikt nach Spinellis eine gute Grundlage für die Bestrafung der meisten Fälle von AIDS-Infizierung bilden. Was den späteren Eintritt von schweren Folgen einer Tat betreffe, so könne nach der griechischen Rechtsprechung auch dann, wenn bereits die Strafverfolgung wegen Versuchs begonnen habe, vor der Hauptverhandlung in der letzten Tatsacheninstanz (wohl aber vor einem rechtskräftigen Urteil) diesen später eingetretenen Folgen einer Handlung mit einer Ergänzungsklage Rechnung getragen werden. Außerdem fehle es nach Herrn Spinellis Auffassung an einem sicheren Kriterium für die Differenzierung zwischen sofortigem und "späterem" (nach Tagen, Monaten, Jahren?) Eintritt des Todes. Wenn z. B. ein Terrorist im Keller einer Schule eine Bombe legt, die Jahre später explodiert, könnte das nicht ein Grund für den Ausschluß der Strafbarkeit wegen einer vorsätzlichen Tötung sein. Schließlich zur Verfolgungsverjährung: sie beginne nach dem griechischen StGB mit der Beendigung der Handlung, wobei der Erfolgseintritt dafür irrelevant sei. So habe beispielsweise - weil das Vergehen nach 5 Jahren verjährt - die Tat eines Bauingenieurs nicht verfolgt werden können, der in Thessaloniki einen Wohnungsblock mit Verletzung der Vorschriften zur Sicherung der Gebäudefestigkeit gegen Erdbeben baute, mit der Folge, daß das Gebäude zehn Jahre später bei einem Erdbeben mit tödlichen Folgen für mehrere Menschen niederstürzte. 5. Gegenüber der Empfehlung von Herrn D{az, eine spezifische Vorschrift mit einem Gefährdungsdelikt der AIDS-Ansteckung einzuführen, meint Herr Herzberg, daß die Grundlagen dieses Gedankens heute nicht mehr gegeben seien: Früher habe man die Verfolgung der Täter wegen Körperverletzungsversuchs als verfehlt erachtet, weil es doch eine wirkliche Körperverletzung gebe; aber heute sei klar, daß dies als Mißhandlung eines anderen zu qualifizieren sei und damit genüge. Man bräuchte also keine Sondervorschrift für die Gefährdung eines anderen, und man sollte auch nicht kasuistisch (AIDS gegenüber) verfahren, denn später würden andere Konstellationen erscheinen.
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Auch die von Herrn Künsenmüller dargelegten Gesetzesvorschläge in Chile hätten nach Herzbergs Ansicht nicht die Vorteile des Mißhandlungsdelikts. Darauf erklärte Herr Künsenmüller, daß seine persönliche Meinung zu den spezifischen AIDS-Tatbeständen sehr kritisch sei, so daß solche Fälle nach der lex generalis behandelt werden sollten. Dem Beitrag von Herrn Spinellis fügte Herr Herzberg hinzu, daß das Vergehen der Mißhandlung besser als die Umwandlung des abstrakten Gefährdungsdelikts von Übertretung in Vergehen sei. Andererseits habe es ein Mißverständnis bezüglich der Analogie zu der Verjährung gegeben, denn er glaube, daß bei vorsätzlichen Taten der Tod objektiv zurechenbar sei. Herr Herzberg betonte, daß im früheren deutschen Recht - wie im griechischen StGB - die Verjährung mit der Handlung begann. Heute beginnt sie dagegen gemäß § 78a deutsches StGB erst mit dem Erfolg.
11. 1. In seinem Diskussionsbeitrag schlug Herr Sowada zunächst vor, den von Herrn Herzberg angeführten Duisburger Fall dahingehend abzuwandeln, daß sich der Täter vier Jahre lang auf der Flucht befindet und das Opfer während dieser Zeit an der Infektion stirbt. Wenn man dann eine Strafbarkeit wegen vollendeten Mordes verneinte, weil es - nach Herzbergs Maßstab - in der Tätervorstellung an einer unmittelbaren Gefahr fehlen könnte (z. B. wenn der Täter frühestens für einen Zeitraum nach sechs Jahren mit einer zum Tode führenden Erkrankung des Opfers gerechnet hätte) so bliebe nach Sowada zu erörtern, ob die Todesherbeiführung als fahrlässige Tötung (§ 222) oder bei Bejahung des Unmittelbarkeitszusammenhangs als Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB) erachtet werden könnte. Wenn man dies ablehnt, so fragt Herr Sowada, ob dann nicht konsequenterweise in Herzbergs Originalfall entgegen seiner Lösung ein untauglicher Mordversuch mit bedingtem Vorsatz bejaht werden müßte. Zuletzt fragt sich Herr Sowada, ob Herzbergs Konzeption, nach der die für den Zurechnungsausschluß maßgebliche Frist mit der Vornahme der Tathandlung zu laufen beginnt, nicht dem § 78a StGB, wonach die Verjährung erst mit der Beendigung der Tat beginne, widerspreche und eine Verkürzung des § 78a bedeute. 2. Auch Herr Buchala fragte, ob man nicht wegen untauglichen Mordversuches verurteilen könnte, denn nach Herzbergs Lösung wäre die Strafe sowohl mit als auch ohne Tötungsabsicht dieselbe, und das sei unrichtig. Nach dem polnischen StGB könne wegen untauglichen Versuchs derjenige bestraft werden, der im irrtümlichen Glauben handelt, daß ein Mittel zur Tötung tauglich ist. 3. Herr Herzberg befaßte sich mit der von Herrn Sowada vorgeschlagenen Abwandlung des Duisburger Falles und meinte, daß, wenn das Opfer nach der Rückfahrt des Täters noch lebe, das Entscheidende sei, für welchen Zeitpunkt in der Zukunft sich der Täter die unmittelbare Gefahr vorgestellt habe. Außerdem sehe er
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keine Notwendigkeit, auf § 226 bzw. § 222 zurückzugreifen. Was die Analogie zu der Verjährung betrifft, so meint er, daß sie eine Erheblichkeitsminderung mit dem Zeitverlauf bedeute; darüber hinaus könne ein innerhalb der Verjährungsfristen eintretender später Erfolg die Verjährungsfristen nur dann in Gang setzten, wenn er tatsächlich eintritt. Übrigens hätte Herr Herzberg entgegen Herrn Sowada und Herrn Buchala nicht gedacht, daß der Verhaltensunwert durch den untauglichen Versuch erfaßt werden könnte. Das sei nicht ein Problem des untauglichen Versuchs. Es wäre dann der Fall, wenn der Täter irrtümlich glauben würde, daß sich das Risiko unmittelbar verwirkliche; wenn es aber nach seiner Vorstellung noch Jahre bis zum Tode dauern würde, wie es normalerweise geschehe, dann gebe es keinen untauglichen Versuch. 4. Herr du Plessis berichtete über die Lage im südafrikanischen Gewohnheitsrecht, das in den letzten Jahren eine deutliche Wendung der Rechtsprechung von einer objektiven zu einer subjektiven Betrachtung erfahren habe. Im Duisburger Fall wäre es nach dem früheren objektiven Standpunkt nicht zu einer Verurteilung wegen versuchten Mordes gekommen und eine solche Anklage wäre vom Staatsanwalt nicht ernst genommen worden, während heute auf der Grundlage der subjektiven Perspektive der Rechtsprechung eine solche Verurteilung (und zwar wegen "Assault" oder "Assault with intenten to do grievous bodily harm" mit einer ziemlich schweren Strafe) nicht ausgeschlossen sei, weil die Absicht des Täters die Tötung des Opfers sei. Andererseits verjährten im südafrikanischen Recht die Verbrechen nach 30 Jahren, wobei Mord und Totschlag (beide unter derselben Bezeichnung "Murder") nicht verjährten. Der Grundsatz "ne bis in idem" werde in seinem Land ausschließlich für die Fälle reserviert, wo der Angeklagte im ersten Verfahren eine Verurteilung wegen Totschlags riskiert habe, und, da in den hiesigen Fällen der Tod noch nicht eingetreten sei, dieser Grundsatz nicht angewandt werde. Übrigens könne die lange Frist zwischen HIV-Infizierung und Tod große Schwierigkeiten in der Beweisführung bereiten; hier gelte der Satz "curia ad remota causa non spectat". Herr Herzberg räumte ein, daß es in der Praxis häufig Vorbehalte gegenüber der Lösung des versuchten Mordes geben könne; aber man dürfe nicht sagen, daß niemals ein solcher Versuch vorliege, denn gerade dies sei, wie man in dieser Diskussion feststelle, diskutabel. 5. Daraufhin legte Herr Matikkala dar, daß sich in den Nordländern die Diskussion über die Anwendung der Tötungstatbestände als einer Folge der AIDS-Infizierung nicht um die Frage der objektiven Zurechnung des Todes, sondern darum drehe, wie weit der Vorsatz reiche, wobei je nach den Ländern verschiedene Lehren über den bedingten Vorsatz in Anspruch genommen würden. In all diesen Ländern gebe es neben Verletzungsdelikten auch Gefährdungstatbestände für die Übertragung schwerer Krankheiten. Trotzdem seien bisher die Entscheidungen der Gerichte bei Geschlechtsverkehr von AIDS-Infizierten (denn Übertragung bei Dro7 AIDS und Strafrecht
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gensüchtigen gebe es wenig) ziemlich unterschiedlich gewesen: In Dänemark sei wegen des (konkreten) Gefahrdungsdelikts des § 252 DStGB, in Norwegen wegen eines gemischten Verletzungs- und Gefahrdungsdelikts des § 155 I NStGB, in Schweden meist wegen (versuchter) schwerer Körperverletzung nach § 3:6 SStGB, und in Finnland wegen schwerer fahrlässiger Tötung oder versuchtem Totschlag nach §§ 21:9 oder 21:1,4:1 FStGB verurteilt worden.
III. 1. Herr Kunz berichtete, daß in der Schweiz ein Vorschlag zur Einführung eines besonderen Tatbestandes der AIDS-Übertragung abgelehnt worden sei. Auch die deutsche Diskussion zu diesem Thema werde unbeteiligt beobachtet. Zu Herzbergs Thesen merkte Herr Kunz zunächst an, daß die Lösung der Mißhandlung sehr interessant sei und es beim Irrtum des Opfers zwar nicht um einen irrelevanten Motivationsirrtum, sondern um einen relevanten rechtsgutsbezogenen Irrtum gehe, daß aber daraus nicht die Tatbestandsmäßigkeit der Mißhandlung abgeleitet werden könne, weil diese eine verpönte Handlung verlange. Bei den Tötungsdelikten überzeuge ihn Herzbergs Lösung, die wie eine Erfolgshaftung aussehe, nicht, denn es sei ein Zufallselement, ob der Todeserfolg eintrete oder nicht. In Übereinstimmung mit Herrn SchünefrUlnn betrachte Herr Kunz das als ein Fall von Spätfolgen, bei denen das Rechtsgefühl eine Erfolgszurechnung ablehne, so daß hier der Unwert der Tat entfalle, nicht aber die Verfolgbarkeit, die anders sei, weil es eine Unterbrechung derselben usw. geben könne.
2. Herr SchünefrUlnn fand es faszinierend, daß Herr Herzberg in der Frage der tatbestandsmäßigen Einordnung der HIV-Infektion abermals ein neues Konzept vorgestellt habe, ohne sich dabei zu scheuen, auch seine eigenen früheren Beiträge zu diesem Thema zu verwerfen. Trotzdem meint er hierzu, daß die Zertrümmmerung aller bisher errichteten Konstruktionen durch die "dogmatische Abrißbirne" von Herzberg doch zu weit gehe und daß die "quantitative Lösung", auf die sein Vorschlag analoger Heranziehung der Verjährungsvorschriften für die Begrenzung der strafrechtlichen Zurechnung hinauslaufe, weniger gute Gründe für sich habe als die von Schünemann 1988 konzipierte qualitative Lösung, nach der die Infizierung eines anderen mit HIV schon objektiv nicht den Tatbestand der Tötungsdelikte, sondern denjenigen der schweren Körperverletzungsdelikte (§§ 224, 225 und vor allem 229 dt. StGB) erfülle. Zur Begründung seiner These griff SchünefrUlnn nach verschiedenen Argumenten: dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes "Totschlag", dem Mangel an Tatherrschaft - Herrschaft über den Infektionsverlauf -, den sonst eigenartig endlosen Möglichkeiten des Rücktritts vom beendeten Versuch der Tötung, dem Grundsatz "ne bis in idem" als einem Hindernis in der Berücksichtigung des Todeserfolges nach einer Verurteilung wegen versuchter Tötung, und vor allem einem zentralen systematischen Argument, daß nämlich die AIDS-Infektion als eine das
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Siechtum hervorrufende Körperverletzung die Lebenserwartung des Opfers immer verkürze, weshalb diese Lebensverkürzungsfolge der schweren Körperverletzungen in den §§ 224 ff. StGB immer schon mitberücksichtigt worden sein müsse und sinnvollerweise nicht die Subsumtion unter ein Tötungsdelikt begründen könne, weil die schweren Körperverletzungsdelikte sonst gar keinen Anwendungsbereich hätten. Es handele sich also keinesfalls um eine Herausnahme der Spätfolgen als solche aus dem Zurechnungszusammenhang, wie es Herzberg dargestellt habe, sondern darum, daß die Verkürzung der Lebenserwartung bei schweren Körperverletzungen, die zu einem im Einzelfall oft nicht absehbaren Siechtum führen, durch die §§ 224 ff. bereits vollständig erfaßt seien, und das sei eine qualitative und nicht bloß, wie Herzbergs Schüler Schlehhofer in einer unakzeptablen Verengung der Schünemannschen Konzeption propagiert habe, quantitative Berücksichtigung der zeitlichen Dimension. Deshalb könne in dem von Herzberg angeführten Fall des beleidigenden Briefes zweifellos die Erfolgszurechnung bejaht werden. Und bei Herzbergs Beispiel der radioaktiven Verseuchung hänge die QualifIkation als Verletzung oder als Tötung davon ab, ob die Verseuchung zu einem lebensverkürzenden Siechtum mit einem im einzelnen nicht prognostizierbaren Verlauf oder aber zu einer kontinuierlichen und im Einzelverlauf prognostizierbaren Verschlimmerung bis hin zum Tode führe. Schließlich komme es dem Täter im Duisburger Fall jedenfalls auf das Siechtum als von ihm beherrschte Folge an, so daß § 225 anwendbar sei, während die bloße Hoffnung des raters, der von ihm im einzelnen nicht mehr beherrschte Eintritt des Todes möge so früh wie möglich erfolgen, keinen Tötungsvorsatz sei. Schünemann lehnte die von Herzberg vorgeschlagene Analogie zur Verjährung ab: Erstens sei sie nicht gerechtfertigt, weil die Verjährung die Erfolgszurechnung immer schon voraussetze und es bei der Erfolgszurechnung um eine präjudizielle Frage gehe. Zweitens sei diese Analogie nicht praktikabel, denn der Totschlag verjähre nach § 78 StGB in 20 Jahren und der Tod trete bei einer HIV-Infektion normalerweise vor diesem Zeitablauf ein, so daß man nach Herzbergs Ansatz ein zumindest versuchtes Tötungsdelikt annehmen müßte.
Nach Schünemann dürfte deshalb die entscheidende Innovation erst in Herzbergs Forderung eines spezifIschen Versuchserfolges - des Akutwerdens der Gefahr im Sinne eines jederzeit möglichen Erfolgseintritts - als Voraussetzung der Versuchsstafbarkeit liegen. Das scheine ihm jedoch äußerst zweifelhaft und weder mit dem Wortlaut noch mit der Systematik der §§ 22, 24 StGB vereinbar zu. sein. Aber wie dem auch sei - speziell in den AIDS-Fällen bliebe ja für die von Herzberg eingehend begründete Anwendbarkeit der Tötungsdelikte in der Praxis kaum Raum mehr übrig, weil die akute Todesgefahr ja erst längere Zeit nach einer HIVInfektion eintrete und der Täter immer vorher schon wegen Körperverletzung verurteilt wäre, mit der Folge eines uneingeschränkten Strafklageverbrauchs. Herzbergs neue Lösung führe deshalb genauso wie die traditionelle Auffassung in Paradoxien hinein, die schon die Umgangssprache zum Vorschein bringe: Wenn A von 7*
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B infiziert worden sei, so hätte er nach der traditionellen Auffassung sagen müssen: "B habe versucht, mich zu töten, und der Versuch sei auch nicht fehlgeschlagen", was ja eine paradoxe Äußerung sei, weil A ja noch lebe. Nach Herzbergs Lösung müßte er dagegen sagen: "B werde in einigen Jahren versuchen, mich zu töten", was als Situationsbeschreibung nicht weniger Kopfschütteln hervorrufen werde. Nach Schünemanns Lösung werde er gerade mit einer umgangssprachlich richtigen Beschreibung sagen: "B habe mich in Siechtum versetzt, dessen Ende nicht abzusehen sei". Dagegen findet Schünemann den Vorschlag Herzbergs, nach dem Urteil des objektiven Betrachters den Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten als ,,körperliche Mißhandlung" nach § 223 StGB zu qualifizieren, in kriminalpolitischer Hinsicht äußerst attraktiv. Da sich der Handlungserfolg der HIV-Infektion und also der "Gesundheitsbeschädigung" nur selten als Ergebnis einer einzelnen Handlung nachweisen lassen werde, müsse die Rechtsprechung, weil sie das einschlägige Delikt der Vergiftung (§ 229) aus einem irrigen Verständnis des subjektiven Tatbestandes heraus ablehnt, eine versuchte gefährliche Körperverletzung (§§ 223a, 22) annehmen. Demgegenüber trage die Figur der köperlichen Mißhandlung dem Unrechts gehalt einer Gefährdung durch gesundheitszerstörende Viren besser Rechnung. Allerdings entferne sich diese Interpretation recht weit vom Umgangssprachgebrauch, der einen vom Opfer als wohltuend empfundenen Geschlechtsverkehr schwerlich als eine "Mißhandlung" deuten werde; und ohnehin komme sie in all den Rechtsordnungen nicht in Betracht, die noch nicht die Mißhandlung, sondern erst die Gesundheitsbeschädigung bestraften. Ein Spezialdelikt für die Gefährdung durch gesundheitszerstörerische Krankheitserreger dürfte deshalb de lege ferenda die beste Lösung sein, wobei hier die Diskussion um die verschiedenen rechtsvergleichenden Modelle offenbleiben müsse. Zuletzt wies Schünemann auf die Frage der Bedeutung der Selbstgefährdung des Opfers für die Erfolgszurechnung hin. Der dt. Bundesgerichtshof habe in BGHSt 36 zu Recht den Grundsatz bekräftigt, daß eine Beteiligung des Opfers an dem gefährlichen Geschehen jedenfalls dann die Zurechnung nicht hindert, wenn der Tater die Gefahr besser und vollständiger überblickt als das Opfer. Weitaus komplizierter sei die Situation bei gleicher Risikokenntnis von Täter und Opfer. Im übrigen aber erschöpfe sich der durch die Infizierung eines anderen angerichtete Sozialschaden bei einer extrem gefährlichen Pandemie vom Schlage von AIDS nicht in der Verletzung des individuellen Opfers, denn die Begründung eines neuen, zusätzlichen Risikopotentials durch dessen Infektion sei - völlig unabhängig vom Einverständnis des Opfers - sozialschädlich und könne deshalb von Rechts wegen auch nicht in der Disposition des unmittelbaren Opfers stehen. Auch aus diesem Grunde erscheine die Schaffung eines spezifischen Straftatbestandes unerläßlich. 3. In seiner Antwort bestand Herr Herzberg zunächst darauf, daß die Versuchshandlung nicht identisch mit der Versuchsstrafbarkeit sei. Andererseits wies er wieder auf das Beispiel der radioaktiven Bestrahlung mit Todeserfolg nach 10-12 Monaten hin: Wie könne Schünemann hier darauf beharren, den Todeserfolg nicht
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zuzurechnen und einen vollendeten Mord abzulehnen? - fragte Herzberg. Zuletzt wies er auf die Annahme einer Mißhandlung hin: Das Mißliche, die Mißbräuchlichkeit der Behandlung liege in der Nichteinwilligung des Opfers. Wenn eine körperliche Mißhandlung bei einem nicht eingewilligten Haarschneiden angenommen würde, müßte dasselbe für den Fall eines Sexualaktes ohne Einwilligung in das Infektionsrisiko gelten. Entscheidend sei nicht, ob der Geschlechtsverkehr an sich angenehm sei, sondern die Nichteinwilligung in dessen physische Folgen. 4. Ebenfalls von deutscher Seite kam weiterhin Herr Geppert zu Wort. Seine Skepsis beziehe sich nicht nur auf die Herausnahme künftiger tödlicher AIDS-Erfolge als Spätfolgen aus der Zurechnung, sondern eher noch auf die Analogie zur Verjährung, denn die beiden Gründe dieser Rechtsfigur, nämlich die prozessualen Gründe der Beweisnot und der materielle Grund der Lebensweisheit, daß "die Zeit alle Wunden heile", könne in den AIDS-Fällen nicht gelten, ganz abgesehen davon, daß die Verjährung nach § 78a eben erst mit Eintritt des Erfolgs zu laufen beginne. Zweitens bringt Herr Geppert seine Bedenken gegen Herzberg Forderung nach einem Versuchserfolg in der Form des Eintritts der unmittelbaren Gefahr aus der Sicht der Tatervorstellung vor, denn einerseits seien solche Vorstellungen richterlich schwer feststellbar und andererseits erscheine diese Lösung letztlich als eine Wiederbelebung überholter und gesetzlich aufgegebener objektiver Versuchslehren. Was Herzbergs Lösung hinsichtlich der Qualifizierung des Sexualkontakts bei rechtsgutsbezogenem Irrtum des Partners als körperlicher Mißhandlung betreffe, bemerkte Herr Geppert, daß es dabei weniger um eine Gesundheitsbeschädigung als vielmehr um die Verletzung der Selbstbestimmung des unwissenden Partners gehe, womit § 223 StGB auf von seinem Wortlaut nicht erfaßte Fälle ausgedehnt wird; das ähnele freilich der Stellungnahme der deutschen Rechtsprechung, die den ohne wirksame Einwilligung des Patienten durchgeführten ärztlichen Heileingriff als Gesundheitsbeschädigung oder körperliche Mißhandlung ansehe. Jedenfalls lasse sich die Konstruktion Herzbergs halten, wenn man weniger auf den Sexualakt als vielmehr auf das spätere physisch-psychische Leid des HIV-Infizierten abstelle. Letztens bezweifle Herr Geppert das Vorliegen des Totschlags- oder gar Mordvorsatzes in "normalen" AIDS-Fällen und plädiere daher für einen spezifischen absb:-akten Gefahrdungstatbestand, aus dessen privilegierendem Effekt jedoch das Handeln mit direktem Tötungsvorsatz ausgeschlossen werden müßte. 5. Herr Herzberg antwortete einerseits, daß seine Forderung eines Versuchserfolges nicht eine Wiederbelebung der objektiven Versuchslehre bedeute, weil er auf die Vorstellung des Taters darüber abstelle, wann die Gefahr, der Zuspitzungserfolg beginne. Dies geschehe auch in den Fällen der actio libera in causa: Wenn sich z. B. ein Mann in der Kneipe betrinkt, um nachher zu Hause seine Frau zu verprügeln, liege noch kein Anfang des Versuches vor. Andererseits könne man zwar bei Heileingriffen verneinen, daß Gesundheitsschäden oder Mißhandlungen vorliegen, aber bei einer künstlichen Insemination wie bei einem bezüglich der Infizierungsfolgen nicht eingewilligten Sexualakt sei es anders, denn es gebe etwas Mißlichkeit. Bezüglich des Tötungsvorsatzes bezweifelt er, daß der reine Zeitablauf, wo
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die Selbstverantwortung des Täters keine Rolle spiele, ein ausreichender Grund zur Verneinung der subjektiven Zurechnung sei. Und schließlich bestand Herr Herzberg auf der Vergleichbarkeit der Verjährung mit der hiesigen Problematik. 6. Zum Schluß leistete Herr Koch seinen Diskussionsbeitrag, der Sympathien für die zeitliche Begrenzung der objektiven Zurechnung des Todeserfolgs zeigte. Dann äußerte er zur Frage der Tötungsdelikte seine Zweifel über Herzbergs Kriterium, den Versuchserfolg durch die Vorstellung des Täters über den Eintritt der unmittelbaren Gefahr zu bestimmen; denn es erscheine fraglich, ob sich der Täter überhaupt genauere Vorstellungen über den Verlauf mache, und außerdem könne es wohl unterschiedliche Auffassungen darüber geben, was in den HIV-Fällen als unmittelbare Gefahr anzusehen sei: beispielsweise schon der Eintritt des Virus in die Blutbahn des Opfers oder die Ausbildung von Antikörpern oder erst das Auftreten von ARe oder sogar erst das Vollbild der Krankheit? Dabei neige er eher zum Zeitpunkt der tatsächlichen Infizierung, in dem die Kausalkette definitiv, unumkehrbar auf das Opfer übergesprungen sei. Schließlich enthalte nach Herrn Koch die Mißhandlungslösung den durchaus treffenden Ansatz, die psychische Reaktion des Opfers auf das Geschehene als tatbestandsmäßigen Erfolg anzusehen, aber er wolle sogar noch weiter als Herr Herzberg gehen und gerade darin den maßgeblichen Verletzungserfolg sehen, also nicht schon in dem mit einern irrtumsbehafteten Konsens gestatteten Geschlechtsverkehr. Dies sei zur Abgrenzung von Köperverletzungsdelikten und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Vermeidung der Gefahr geboten, § 223 dt. StGB zum "Auffangtatbestand" für alle möglichen sexuellen Handlungen zu machen, die der Gesetzgeber mit gutem Grund in den §§ 174 ff. nicht kriminalisiert habe.
Strafrechtliche Probleme des HIV-Tests Referat Von Frank Höpfel* Für die Einladung, hier in Posen, diesem hervorragenden Ort der internationalen Begegnung, von den strafrechtlichen Problemen von AIDS jene des HIV-Tests zu behandeln, danke ich Herrn Professor Andrzej J. Szwarc herzlich. Als Österreicher dazu ausgewählt worden zu sein, darf ich auf die ausgeprägte Rechtslage zurückführen, die unser kleines Land hier insbesondere mit dem Freiheitsdelikt nach § 110 StGB, dem Vergehen der "Eigenmächtigen Heilbehandlung", charakterisiert. Diese kann für einen wesentlichen Teil unseres Themas Ansatzpunkt der Rechtsvergleichung sein. I. Dem Konzept der Veranstaltung entspräche es freilich nicht, einen reinen Landesbericht zu liefern; auf der anderen Seite muß ich auf Ihr Verständnis hoffen, wenn ich in dem vorgegebenen Rahmen keinen umfassenden komparativen Überblick biete, sondern exemplarisch Regelungen verschiedener Rechtsordnungen zu - ebenso exemplarisch ausgewählten - Problemen des HIV-Tests würdige. Die internationale Beteiligung an dieser Konferenz läßt erwarten, daß sich das Bild mosaikartig erweitern wird. Ich muß es mir dabei versagen, selbst rechtspolitische Vorschläge, etwa im Sinne einer Modellregelung vorzulegen. Zu verschieden sind heute noch die Mentalitäten, die die rechtlichen Lösungen der einzelnen Länder bestimmen. Ich darf das mit einem kurzen Vergleich zwischen Italien und den USA beleuchten: Wahrend das italienische AIDS-Gesetz! die Durchführung des HIV-Tests ohne besondere Einwilligung erlaubt, wenn der Test im medizinischen Interesse des Betroffe-
* Für die überaus anregende Zusammenarbeit und mühevolle Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung danke ich in erster Linie dem Projektleiter, Herrn Professor Dr. Andrzej J. Szwarc, und dem Diskussionsleiter, Herrn Professor Dr. Raimo Lahti, für wertvollen Gedankenaustausch und Hilfe bei der Beschaffung des Materials darüber hinaus insbesondere Frau Mag. Margarethe Flora, Herrn Dr. Thomas Kraft, Frau Mag. Ursula Pemfuss und Herrn Dr. Silvio Riondato. ! Programma di interventi urgenti per la prevenzione e la lotta contro l' AIDS (Legge 5 giugno 1990, n. 135, kundgemacht in Gazetta Uffiziale 8. 6. 1990, n. 132), Art. 5.
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nen gelegen ist, wird etwa im Staat New Yorl2 ein Test nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen schriftlichen Einwilligung gestattet. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen; das Beispiel zeigt uns, wie verschieden die Vorstellungen über das Verhältnis von Arzt und Patient sich in einem so sensiblen Feld wie bei AIDS niederschlagen können. Auch innerhalb Europas - auf das wir uns im folgenden konzentrieren wollen - ist zwischen den verschiedenen Rechtsvorstellungen eine gemeinsame Linie kaum auszumachen; doch hoffe ich, mit den ausgewählten Beispielen immerhin ein zusammenhängendes Bild geben, ein gewisses Profil der Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen zu können. Ist das rechtspolitische Klima, das die zweite Dekade der Pandemie kennzeichnet, weltweit recht wechselhaft, so hat es sich in der europäischen Landschaft mittlerweile doch stabilisiert. Auf dem Boden des gemeinsamen Bemühens, das Recht - wie es Herr Staatssekretär Professor Adam Zielinski in seiner gestrigen Ansprache so vornehm ausgedrückt hat - "mit Werten auszufüllen, die charakteristisch für demokratische Gesellschaften sind", können wird dem wiederholt ausgedrückten Anliegen der Weltgesundheitsorganisation zustimmen: daß der Respekt der involvierten Menschenrechte die Bekämpfung von AIDS noch am besten unterstützt. Wie es Dr. Dorothy Blake, Deputy Director of WHO's Global Programme on AIDS, ausdrückt: 3 "Non-discrimination is not only a human rights imperative, but a technically sound strategy for ensuring that infected persons are not driven underground" . Für den Fragenkomplex des HIV-Tests sind wir damit auf die Begriffe der Freiwilligkeit und Vertraulichkeit verwiesen; das Strafrecht kann einen Beitrag dazu leisten, diese Säulen zeitgemäßer Gesundheitspolitik abzusichern. Es wäre wünschenswert, wenn unsere Arbeit hier den Boden für den nächsten Schritt - dieser bestünde letztlich doch in der Ausarbeitung konkreter Modellregelungen - bereiten könnte. Denn die Probleme und die medizinischen Ausgangsbedingungen sind ja europaweit und an sich global vergleichbar; und das Ziel, die Pandemie AIDS in den Griff zu bekommen, verlangt zweifellos ein stärkeres Maß an Koordination. 2 Siehe New York State Public Health Law, Article 27-F (Laws of New York, 1988 Ch. 584, in der Fassung der Laws ofNew York, 1990 Ch. 592 und 1991 Ch. 193). 3 Objective: Justice, Vol. XXIII No. 2 (Dec 1991), United Nations Department of Public Information, S. 21. Vgl. die Empfehlungen in dem "Report of an International Consultation in AIDS and Human Rights", Geneva, 26-28 July 1989, Organized by the Centre for Human Rights with the support of the World Health Organization Global Programme on AIDS, United Nations, New York, 1991. - Zur europäischen Perspektive der menschenrechtlichen Dimension des Umgangs mit AIDS siehe insb. die Beiträge des Brüsseler Kolloquiums "LE SIDA, UN DEFI AUX DROITS", Actes du colloque organise I'Universite Libre de Bruxelles 1es 10, 11 et 12 mai 1990 (Coordinateur: Michel Vincineau), Bruxelles 1991; weiters Luzius Wildhaber, in: Internationaler Kommentar zur EMRK, Köln 1992, zu Art. 8, Rdn. 154-161; den Bericht "Comparative study on discrimination against persons with HIVor AIDS", Study by the Swiss Institute of Comparative Law, Lausanne (Switzerland), under the auspices of the Council ofEurope, Strasbourg 1993.
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Das Strafrecht ist an sich nicht das erste und gewiß nicht das wichtigste Rechtsgebiet, an das wir zu denken haben. Es baut vielmehr auf dem Gesundheitsrecht samt seinen mannigfachen Verzweigungen (vom Arbeits- bis zum Einwanderungsrecht) auf. Wo nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, sind die strafrechtlichen Lösungen in strenger Akzessorietät gegenüber dem Gesundheitsrecht zu entwickeln. Die dort vorzufindenden Vorschriften, insbesondere über bestimmte Pflichten zur Duldung eines Tests, bilden daher eine gedankliche Voraussetzung (z. B. als Ausnahmen von Regelungen zum Schutz der Selbstbestimmung) und nicht unmittelbar Teil unseres Themas. Freilich können sie auf anderer Ebene, so zum Beispiel im Prozeßrecht oder im Strafvollzug, wieder als unmittelbar einschlägige Fragen auftauchen: etwa die Zeugnisverweigerungsrechte von Ärzten oder AIDS-Beratern oder die Untersuchung auf HIV samt Konsequenzen in der Haft; beide Fragenkreise werden auf dieser Tagung gesondert Erörterung finden. Die Unterwerfung Prozeßbeteiligter, insbesondere des Beschuldigten, unter einen HIV-Test wird den abschließenden Punkt unserer eigenen Überlegungen bilden.
11. Für die Strafgesetzgebung sind freilich die gesundheitsrechtlichen Voraussetzungen doch aus mehreren Gründen nicht unbeachtlich: zum einem gehen rechtspolitisch vom Strafrecht wichtige Rückwirkungen auf den Vollzug gesundheitsrechtlicher Vorschriften aus. Will man etwa die Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Bürgers stärken und in diesem Sinn zur freiwilligen Durchführung von Tests ermutigen, so kann es sich für den Strafgesetzgeber geziemen, auf dem Gebiet der Drogenpolitik oder bei der Behandlung der Prostitution eine zurückhaltende Position einzunehmen. Er muß die Bedingungen reflektieren, die er durch die Androhung von Strafen auf diesen Gebieten mitformt. Sie können die Implementation bestimmter Untersuchungspflichten maßgeblich beeinflussen. Wie das Thema AIDS eine wesentliche Rückwirkung auf das Drogenstrafrecht hatte4 , betrifft die gemeinte Wechselbeziehung auch und insbesondere die Prostitutionsgesetzgebung. Österreich kennt wie andere Länder - etwa Polen - bestimmte Untersuchungspflichten für Prostituierte. 5 Die Implementation dieser Gesetze kann wesentlich behindert werden durch eine Rechtslage, die die Prostitution selbst für illegal und strafbar erklärt. 4 In Österreich konnte letztlich wegen des Gewichts der AIDS-Gefahr 1987 ein Methadon-Programm installiert werden (vgI. dazu Frank Höpfel: Landesbericht Österreich, in: Eser, Albin/Barbara Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa 3, Teilbd. 2, Freiburg i. Br. 1988, S. 819 ff. (848); aIIgemein die Bemerkungen von Arthur Kreuzer, Aids und Strafrecht, ZStW 100 (1988), S. 786 ff. (814 ff.). 5 Zu Österreich siehe § 4 Abs. 2 AIDS-Gesetz 1993, Bundesgesetzblatt 1993 Nr. 728 (Wiederverlautbarung).
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Auf dieses Faktum war hier nur hinzuweisen; man hat es in Österreich zuletzt damit berücksichtigt, daß man 1989 die gerichtliche Strafbestimmung gegen homosexuelle Prostitution aufhob. 6 Die Strafbarkeit der weiblichen Prostitution außerhalb zugelassener Bordelle oder in bestimmten Sperrzonen bildet dagegen noch im Polizeirecht der einzelnen Bundesländer eine Verwaltungsübertretung, die mit Geldstrafe oder Arrest bedroht ist. Das Gebiet der Testvorschriften wäre für einen Strafrechtler auch noch in weiteren Richtungen reizvoll: Betrachtet man etwa die Spezialbestimmungen im Einwanderungs- und Asylrecht verschiedener Länder oder auch die Auseinandersetzung über die Zulassung HIV-Positiver zum öffentlichen Dienst, so fällt zunächst eine Parallelität mit den Implikationen einer strafrechtlichen Verurteilung auf; gleichzeitig aber eine grundlegende Differenz insofern, als der Test allenfalls die Eigenschaft, Virusträger zu sein, herausstellt, die Ableitung einer besonderen Gefährlichkeit dieser Person daraus jedoch eine für die Vorstellungen eines Strafrechtlers extrem erscheinende Abstrahierung darstellt. Und er wird dieses Urteil im interdisziplinären Gespräch auch äußern. Darüber hinaus hat er zur Frage Stellung zu nehmen, ob bestimmte Untersuchungspflichten mit Strafdrohungen bewehrt sein sollen. 7 So ist die Vernetzung mit dem Gesundheitsrecht nicht nur in den dogmatischen Fragen, die wir noch erörtern werden, sondern rechtspolitisch gesehen eine starke. Wir werden auch darauf noch kurz zurückkommen.
III. Wenn wir uns zunächst die Sache medizinisch noch näher in Erinnerung rufen, so muß man sagen: Der Test auf HIV ist ein Test mit enormen Konsequenzen. Das heute übliche Verfahren war ursprünglich entwickelt worden, die Sicherheit von Blutkonserven und Blutprodukten zu gewährleisten. Es ist aber in beiden Richtungen (Feststellung wie Verneinung des Vorhandenseins des Virus) nicht ganz verläßlich. Mit zunehmender Erfahrung und Verfeinerung der Testverfahren ist die Zahl der falsch positiven wie falsch negativen Beurteilungen stark verringert worden. 6 Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch und das AIDS-Gesetz geändert werden, Bundesgesetzblatt 1989 Nr. 243. 7 Beispielsweise hat sich hier die in Österreich übliche Abstufung zwischen gerichtlichem und Verwaltungsstrafrecht bewährt: Das österreichische AIDS-Gesetz (siehe oben Anm. 4) sieht Sanktionen auf verwaltungsrechtlicher Ebene für die Nichteinhaltung von Untersuchungspflichten vor und koppelt damit den Tatbestand einer zweiten Verwaltungsübertretung, nämlich der Fortsetzung des Berufes trotz positivem oder nicht eindeutig negativem Testergebnis (§ 9 Abs. I: Geldstrafe; bei qualifiziertem Rückfall droht Abs. 2 derselben Bestimmung auch Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen an). Davon heben sich als gerichtliche Straftatbestände die §§ 178, 179 öStGB (Vergehen der Vorsätzlichen bzw. der Fahrlässigen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten) ab.
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Es handelt sich normalerweise um eine Testserie, bis man zum Urteil "positiv" kommt; dabei weist man das Vorhandensein von Antikörpern nach, die sich bei der Reaktion des Immunsystems ca. zwei bis sechs Wochen, eventuell aber auch erst Monate nach der Virusübertragung bilden. Bis zu dieser "Serokonversion" besteht bei dieser Methode - ein direktes Verfahren zum Nachweis der Erreger selbst wäre viel aufwendiger - ein "diagnostisches Fenster". Die Person kann also antigen-positiv, aber noch antikörper-negativ sein. (Umgekehrt ist es, insbesondere bei Neugeborenen, möglich, daß im Blut Antikörper ohne tatsächliche Infektion vorhanden sind.) Erfährt der Betroffene das Urteil "HIV-positiv", so wird das in der Regel als schwerer Schicksalsschlag erlebt. Und doch gilt es grundsätzlich als ärztlich geboten, das positive Ergebnis mitzuteilen. 8 Das österreichische AIDS-Gesetz9 verpflichtet dazu ausdrücklich und verknüpft damit die weitere Pflicht, den Betroffenen über seine Lebensführung und Schonung Dritter zu beraten. Weil er den Ausbruch der Krankheit aber nach gegenwärtigem Stand des Wissens vielleicht - nach Verkraftung des Testergebnisses - hinauszögern, aber letziich nicht verhindern kann, ist die Entscheidung zum Test eine schwerwiegende. Wird sie für den Patienten ausschließlich von fremder Seite gefallt und hat man ihm dann allenfalls ohne Vorbereitung zu eröffnen, daß er positiv ist, kann die Erschütterung besonders arg ausfallen. Die Folgen - das sogenannte "Post-Test-Trauma", mit dem eine erhöhte Suizidalität einhergehen, das Immunsystem andererseits in Mitleidenschaft gezogen und der Ausbruch der Krankheit begünstigt werden kann - sind womöglich stärker. 10 Daher kommt der Einwilligung nicht nur eine formal-juristische, sondern unmittelbar medizinische Bedeutung zu. Dies hebt den HIV-Test von anderen diagnostischen Maßnahmen ab. Zunächst haben wir für die strafrechtliche Einordnung eines unkonsentierten Tests freilich die gewöhnliche Frage zu beantworten: Welches Rechtgut wird durch einen medizinischen Eingriff verletzt, der zwar indiziert, aber nicht von der Einwilligung des Patienten getragen ist? Es ist die Selbstbestimmung des Patienten. Ihre Mißachtung wird aber nur ganz ausnahmsweise von einem eigenen Deliktstypus erfaßt. Wahrend Deutschland trotz verschiedener Anläufe in den Entwürfen zu einem neuen StGB darauf verzichtet hat, II kennt Österreich traditionell eine gesonderte Strafdrohung gegen Eigenmächtige Heilbehandlung (heute § 110 8 Henryk Dancygier: AIDS - Ein klinischer Leitfaden, 2. Aufl., Stuttgart - New York 1993, S. 91 ff. 9 Oben Anm. 4 (siehe § 5 Abs. I und 2). 10 Zur Problematik siehe nur Hans Jäger: Ethische Fragestellungen, in: Jäger, Hans (Hrsg.), AIDS - Psychosoziale Betreuung von AIDS- und AIDS-Vorfeldpatienten, StuttgartNew York 1987, S. 117 ff. (121 ff.); Dancygier (Anm. 7), S. 221 ff. 11 Vgl. Detlef KrauB: Zur strafrechtlichen Problematik der eigenmächtigen Heilbehandlung, in: Fs. für Paul Bockelmann, München 1979, S. 557 ff.
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öStGB).12 Sie erspart es, Behandlungen (einschließlich diagnostischer Maßnahmen), die an sich medizinisch indiziert, aber nicht konsentiert sind, in den Begriff der Körperverletzung zu pressen; in verschiedenen Ländern, so in Finnland 13 , schließt das Verständnis dieses Begriffes eine Subsumtion medizinischer Maßnahmen von vornherein aus. Das Unbehagen an der Konstruktion über die Körperverletzung ist ja auch in der deutschen Lehre bereits laut geworden; 14 der heimliche HIV- Test wirft aber eine besondere konstruktive Schwierigkeit auf: daß ja in der Regel in die Blutabnahme als solche durchaus eingewilligt wird, nur unter Umständen ohne Wissen über den Zweck. In Polen 15 wird es als durchaus problematisch gesehen, hier noch unter dem Aspekt der körperlichen Integrität zu bestrafen. In Deutschland ist die Grenze dafür - nach ganz herrschender Lehre 16 - dort erreicht, wo der Zweck zu dem das Blut benötigt wird, erst nach Abnahme im Sinne des HIV-Test definiert wird. Ich kann zwar auch der vereinzelten Gegenansicht im Hinblick auf das "Post-Test-Trauma" etwas abgewinnen; die angeführte herrschende Ansicht konzentriert ihren Blick aber auf den Nadeleinstich bei der Blutabnahme (Venenpunktion). Damit wird ein Eingriff erfaßt, der für sich genommen nicht schwer wiegt; wird ohne eigenen Einstich nur um wenige Milliliter mehr Blut abgenommen, befinden wir uns sogar in jenem Bagatellbereich, in dem die Körperverletzung als unerheblich eingestuft werden kann. Das Schwergewicht liegt statt dessen auf der Selbstbestimmung als Rechtsgut. 12 Eingehend und mit nÜiZlichen Hinweisen auch zur rechtspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland Heinz Zipf: Probleme eines Straftatbestandes der eigenmächtigen Heilbehandlung (dargestellt an Hand von § 110 öStGB), in: Fs. für Paul Bockelmann, München 1979, S. 577 ff; Diethelm Kienapfel: Grundriß des österr. Strafrechts, Besonderer Teil I, 3. Aufl., Wien 1990, S. 311 ff. 13 Siehe Raimo Lahti: Rechtfertigungs- und Entschuldigungsprobleme im Bereich medizinischer Tätigkeit, in: Eser, Albin/George P. Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung - Justification and Excuse, Bd. II, Freiburg i. Br. 1988, S. 1415 ff. (1427 ff.); ders.: Towards a Comprehensive Legislation Governing the Rights of Patients: The Finnish Experience, in: Westerhäll, Lotta/Charles Phillips (eds.), Patient's Rights - Informed Consent, Access and Equality, Stockholm 1994, S. 207 ff. (213 f.). 14 Deutlich z. B. bei Frank P. Michel: Aids-Test ohne Einwilligung - KörperverieiZung oder Strafbarkeitslücke? in: JuS 1988, 8 ff. 15 Siehe die Bemerkungen von Andrzej J. Szwarc: Karnoprawne problemy AIDS, in: Szwarc, Andrzej J. (Hrsg.), Prawne problemy AIDS, Warszawa 1990, S. 103 ff. (126). 16 Wolfram H. Eberbach: Heimliche Aids-Tests, in: NJW 1987, 1470 ff. (1471); Helmut Janker: Heimliche HIV-Antikörpertests - strafbare Körperverletzung? in: NJW 1987, 2897 ff. (2898); Wilfried Bottke: Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann, Bernd/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden 1988, S. 171 ff. (223); Günter Hirsch: AIDS-Test bei Krankenhauspatienten, in: AIDS-Forschung (AIFO) 1988, 157 ff. (161). Ganz ähnlich für die Schweiz: Karl-Ludwig Kunz: Die strafrechtliche Beurteilung heimlicher HIV-Tests, in: SchwZStR 1990, 259 ff. - Die Heranziehung der fahrlässigen Körperverletzung erwägt für Deutschland Hans Pfeffer: Durchführung von HIV-Tests ohne den Willen des Betroffenen, Berlin 1989, S. 94 ff.
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Wie weit dieses freilich wertend verselbständigt werden kann, ist umstritten. Ich verweise auf die beiden Abhandlungen von Zipf 17 einerseits, der sich für das österreichische Vorbild ausspricht, und KraußI8 andererseits, der die beiden Aspekte untrennbar verschmolzen sieht.
IV. Einige nähere Bemerkungen daher zu § 110 öStGB. Nach dieser Bestimmung ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen, "wer einen anderen ohne dessen Einwilligung, wenn auch nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft behandelt". Zunächst zum Begriff der Heilbehandlung. Die Überschrift ist irreführend eng gefaßt; nach herrschender Ansicht fallen darunter außer eigentlichen Heilbehandlungen auch prophylaktische und diagnostische Maßnahmen, soweit sie im medizinischen Interesse des Betroffenen erfolgen. Außerhalb, zum Beispiel bei ausschließlich fremdnützigen medizinischen Experimenten oder bei Untersuchungen polizeilicher oder forensischer Medizin, zieht man auch in Österreich die Körperverletzung heran; wo es an einer solchen mangelt, andere Freiheitsdelikte (so wurde etwa in einem Fall illegaler Experimente an Kindern die Nichteinholung der Zustimmung von den Eltern als ein Fall der Tauschung nach § 108 StGB - ebenfalls ein Spezifikum des öStGB - angesehen oder würde die Blutabnahme an einem bewußtlosen Kraftfahrer zum Zweck der Alkoholuntersuchung als Körperverletzung gelten). Hingegen sind Routinetests bei der Aufnahme eines Patienten in das Krankenhaus zur Behandlung zu zählen. Dies auch dann, wenn sie dem Schutz des Personals dienen. Bei genauer Betrachtung liegt freilich auch der HIV-Test an einer Geburtenstation oder vor einer Operation im mittelbaren Interesse des Patienten: Kann etwa der Chirurg beruhigt sein, muß er nicht jene Vorsichtsmaßnahmen wie die Benützung von Handschuhen aus einem Stahlgeflecht, das ihn vor Schnitten schützt, ergreifen, die letztlich für die Handgriffe des Arztes eine Behinderung darstellen. Es spricht nichts dagegen, das einem Patienten zu erklären. Die Heimlichkeit eines HIV-Tests läßt sich heute im allgemeinen nicht mehr rechtfertigen, ein "therapeutisches Privileg", das im sogenannten wohlverstandenen Interesse des Patienten von der Aufklärung abzusehen erlaubt, im Normalfall nicht begründen. Angesichts der weiten Verbreitung von Routinetest in Österreich liegt hier aber die Frage nahe, welche Effizienz unserem § 110 zukommt. Sofort ist man versucht, jegliche Effizienz zu bezweifeln, da dieses Privatanklagedelikt die Gerichte praktisch nie beschäftigt. Aber ich habe den Eindruck, daß die Bestimmung, wenn man sie dem
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Oben Anm. 12. Oben Anm. 11.
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medizinischen Personal einschärft, präventiv wirkt. Meine Erfahrung: Man kann sie Ärzten sehr gut erklären. Freilich bleibt gerade bei Betrachtung des HIV-Tests zu bedenken, was unser Hin- und Herwandern zwischen Sachverhalt und Norm einen besonderen Körperbezug der Aufklärung 19 zu Tage gefördert hat: Es beginnt sich als ärztliche Kunstregel herauszubilden, daß man ohne "informed consent" nicht testet. Das könnte uns wieder zur Körperverletzung führen. Aber § 110 fangt diese möglichen Folgen eines heimlichen HIV-Tests durch den Post-Test-Schock mit auf. Idealkonkurenz mit Körperverletzung ist nur anzunehmen, wo unabhängig von der Frage der Einwilligung ein Kunstfehler geschieht. In Rechtsordnungen allerdings, in denen man ausschließlich mit dem Körperverletzungstatbestand operieren kann, sind solche Folgen - wenn sie eintreten - ein eigener Gegenstand der Zurechnung. Dabei kommt es auf Kausalität insofern nicht mehr an: es würde - da wir ja an der Durchführung des Tests anknüpfen können Risikoerhöhung genügen. Und die ist zweifellos gegeben. Das kann hier nicht zu Ende ausgeführt werden; mein Gedanke entspringt eher dem Versuch, doch jenen Rechtsordnungen gerecht zu werden, die ausschließlich die Körperverletzung kennen. Aber Herr Schünemann hat uns gestern deutlich gemacht, daß man in Deutschland ohnedies einen Weg heraus aus diesem beengenden Rahmen sucht. Als dritte Blickrichtung wurde uns Datenschutzrecht vorgeschlagen.
v. Hier stellen wir die Ermittlung des gesundheitlichen Datums in bezug auf HIV in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Blutabnahme verschwindet - zu Recht aus dem Blickfeld. Und doch scheint mir die Perspektive nicht adäquat. Mit dem Ansatz ,,Eigenmächtige Heilbehandlung" wären wir näher an der Sache: Steht doch der Test typischerweise in direktem Zusammenhang mit einer Krankenbehandlung. Für die Schiene des Datenschutzes spricht, daß dann Tests, die außerhalb dieses Zusammenhanges stehen (also rein fremdnützige Tests wie die zu wis19 Von daher ist es erklärbar, wenn die überkommene Auffassung in Österreich auch den Tatbestand des § 110 öStGB mit dem Rechtsgut Leib und Leben verknüpft sieht. Die von mir in einem früheren Vortrag (in Ablehnung der prononcierten Verknüpfung mit dem körperlichen Eingriff bei Klaus-Peter Bittmann: Strafrechtliche Probleme im Zusammenhang mit AIDS, in: Österr. Juristen-Zeitung 1987,486 ff. [491]) vorgeschlagene Loslösung der Schutzrichtung des § 110 öStGB vom Körper - mit der Konsequenz, daß das Rechtsgut der Selbstbestimmung in tatbestandsmäßiger Weise auch als verletzt anzusehen wäre, wenn der Entschluß zu der Maßnahme erst nach Abtrennung der Substanz (Blutprobe) vom Körper gefaßt wird - hat sich nicht durchgesetzt: vgl. Manfred Burgstaller: Gentechnologie und österreichisches Strafrecht, in: Gentechnologie im österreichischen Recht (Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung), Wien 1991, S. 295 ff. (322 f.).
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senschaftlichen oder forensischen Zwecken verfügten), gleichermaßen aufzufangen wären. Damit befanden wir uns gleichzeitig bei ähnlich dramatischen Datenermittlungen - wie insbesondere der Genomanalyse 20 - auf einem Weg, der direkt einem Mißbrauch steuern könnte. Aber für den Normalfall des heimlichen HIV-Tests trifft der von Schünemann in den Vordergrund gestellte Gesichtspunkt der Datenausspähung für mich nicht das Hauptproblern. Sondern es geht doch um die Vergewaltigung des Patienten, der vielleicht (jedenfalls ohne ausreichende Vorbereitung) nicht wissen will, ob er Virusträger ist und nun mit diesem Wissen ungewollt konfrontiert wird. Paradoxerweise wäre die Untersuchung für den Betroffenen weniger dramatisch, wenn man auch das positive Ergebnis geheimhalten würde. Freilich gilt das nur für die unmittelbaren Wirkungen. Das Datenschutzdelikt würde aber gerade hier eingreifen können. Es hätte einen anderen Schwerpunkt: nämlich die Hintanhaltung von Diskriminierungen, zum Beispiel in der Arbeitswelt. So gesehen ersetzt der Vorschlag, das Problem über das Datenschutzrecht zu erfassen, den Aspekt der eigenmächtigen Behandlung nicht, sondern ergänzt ihn. Nur wenn wir den Blick auf die medizinischen Zusammenhänge beibehalten, werden wir verschiedene Detailprobleme der Einwilligung sachgerecht lösen können: Ich meine die Form der Einwilligung. Wie ausdrücklich sie erfolgen muß, richtet sich nach den einschlägigen Vorschriften, die das Arztrecht, insbesondere das Krankenanstaltenrecht der einzelnen Länder haben. Ich habe einleitend Italien und die USA gegenübergestellt; und die rechtspolitisiche Diskussion geht nicht nur in diesen zwei Ländern weiter. Allerdings betrachte ich die Regelungen des Bundesstaates New York doch als besonders ausgereift. 21 Sie verlangen einen schriftlichen ,,informed consent" mit "pre-test und post-test counseling". Anderswo - gerade in Österreich - ist mangels konkreter Vorschriften den individuellen Ansichten (und Rechtsirrtümern) noch breiter Raum geöffnet. Als nicht mehr haltbar würde ich etwa die viel zuhörende und auch von offizieller Seite unterstützte Ansicht bezeichnen, mit dem Vertrag über die Aufnahme in ein Krankenhaus sei konkludent die Einwillung in einen HIV-Test verbunden, da er zu den normalen Routineuntersuchungen gehöre. Ganz anders wird man es zu sehen haben, wenn ein Patient den Arzt mit Symptomen aufsucht, die auf Erscheinungen auf AIDS abzuchecken sind. Hier ist es ja im wesentlichen unbestritten, daß die Diagnose nicht sofort vorbesprochen zu werden braucht.
Die Verbindung zieht Burgstaller, a. a. O. Oben Anm. 2. Näher siehe State of New York - Department of Health, ,.A Physician's Guide to AIDS: Issues in the Medical Office" (March 1988); Albert Einstein College of Medicine of Yeshiva University, Comrnittee on Clinica1 Investigations, "Guidelines for HIV Testing in Research Involving Human Subjects as Mandated by New York State Law" (8/17/ 89, revised 10/7/91). 20 21
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VI.
Ich möchte hier das Kemthema verlassen und noch zu den Materien übergehen, die in Punkt VI meiner Thesen enthalten sind. Denn wir haben mit dem Akzent, den Schünemann gesetzt hat, ja das Antidiskriminierungsrecht bereits berührt. Während wird die Probleme der ärztlichen Schweigepflicht noch morgen diskutieren werden, geht es mir hier um die Weitergabe ohne Verletzung einer solchen Schweigepflicht. Insbesondere bei Verbreitung in einem Massenmedium beeinträchtigt sie die Privatsphäre des Betroffenen empfindlich. Auch ohne daß die Tatsache der Infektion oder Erkrankung an sich ehrenrührig ist, kann ihr Bekanntwerden im Hinblick auf die stigmatisierende Wirkung, die damit im allgemeinen verbunden ist, geradezu eine gesundheitliche Bedrohung bedeuten ("soziales AIDS"). Freilich bin ich mir bewußt, den Gesundheitsbegriff damit über den im Strafrecht maßgebenden zu erweitern. Aber in dem Ausdruck kommt gut heraus, worum es geht: um die Verletzung der höchstpersönlichen Sphäre durch eine Bloßstellung. Die Instrumente des Presserechts sind daher auf ihre Eignung zur Verhütung derartiger Bloßstellungen zu untersuchen. In Rechtsordnungen, die hier eine Abhilfe anbieten (siehe zum Beispiel das österrreichische Mediengesetz 22 ) stellt sich das Problem: Sollte solche Abhilfe auch in dem praktisch wichtigen Bereich der Kriminal- und Gerichtssaalberichterstattung möglich sein, so etwa wenn die Tatsache der Seroposivität oder Erkrankung in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zur Sprache gekommen ist, mit dem dort abgehandelten Delikt aber in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht?23
VII.
Wir betreten damit das Strafprozeßrecht. Hier sind wir an das Spannungsfeld zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und Rechten anderer gewohnt. Konkret haben wir auf die Frage einzugehen, ob der Beweis der HIV-Infektion im einzelnen Verfahren, insbesondere wo ein Ansteckungsdelikt zur Diskussion steht, den Verfahrensbeteiligten abverlangt werden kann. Man darf nicht bloß auf die Eingriffshöhe im Sinne der körperlichen Belastung sehen; denn dann wäre die Venenpunk22 § 7 des österr. Mediengesetzes (Bundesgesetzblatt 1981 Nr. 314, zuletzt geändert 1993 Nr. 91) stellt einen zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch für Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereiches zur Verfügung. 23 Die Studie des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung (siehe oben Anm. 3) erwähnt auf S. 169 mit Anm. 14 richtig die in dieser Frage negative Entscheidung des OLG Innsbruck vorn 19. 1. 1989,8 Bs 607/88, geht aber mit der folgenden pauschalen Behauptung (S. 193), die österreichischen Gerichte hätten bislang Entschädigungsansprüche für Personen mit HIV grundsätzlich abgelehnt, zu.weit.
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tion ein ganz geringer Eingriff. Er bliebe wie eine Röngtenuntersuchung 24 oder die Gewinnung von Zellen für eine DNA-Untersuchung unter dem Niveau des Art. 3 EMRK, d. h. er wäre einer Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ohne weiteres zugänglich. Wiederum ist an die Konsequenzen des Tests zu denken. Nur ganz ausnahmsweise kennen Staaten explizite Regeln zu den prozessualen Fragen des HIV-Test. Im übrigen muß von den allgemeinen Grundsätzen ausgegangen werden. Nach der österreichischen StPO (§§ 132, 245) und der ständigen Rechtsprechung 25 dürfen weder beim Beschuldigten noch bei Zeugen zwangsweise körperliche Untersuchungen oder Blutentnahmen durchgeführt werden. Neben der Betonung des Persönlichkeitsrechtes wurde beim Beschuldigten darauf hingewiesen, daß er sich nicht als Beweismittel gegen sich selbst zur Verfügung stellen muß. 26 Diese Sicht wird durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. 12. 198827 unterstützt, das in der zwangsweisen behördlichen Blutabnahme gegen den Willen des Betroffenen oder ohne seine Einwilligung - hier hatte es sich um einen Bewußtlosen gehandelt - einen Verstoß gegen das Anklageprinzip (den Nemo-tenetur-Grundsatz) und das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens sah. Ein HIV-Test, insbesondere an einem Beschuldigten, für Zwecke eines Strafverfahrens ist daher in Österreich ohne Einwilligung grundsätzlich nicht zulässig. Aus der Schweiz ist mir im Ergebnis nichts anderes bekannt. Eine punktuelle Inforrnation 28 geht dahin, daß nach einer Entscheidung der Anklagekammer des St. Galler Kantonsgerichtes aus dem Jahr 1988 der HIV-Test ohne Einwilligung mangels einer gerichtlichen Eingriffsbefugnis unzulässig ist. Anders - zumindest auf den ersten Blick - die Bundesrepublik Deutschland: Gemäß § 81a dStPO darf ein Beschuldigter auf richterliche Anweisung zur Feststellung von Tatsachen, die für das Verfahren von Bedeutung sind, ärztlich untersucht werden. Zu diesem Zweck ist auch die zwangsweise Entnahme von Blutproben zulässig?9 Diese Regelung erlaubt den bundesdeutschen Gerichten - ganz abgesehen von den Fällen der Alkoholuntersuchung - eine relativ problemlose Ein24 Vgl. die Hinweise von Wildhaber/Breitenmoser, in: Int. Kommentar z. EMRK (oben Anm. 3), zu Art. 8, Rdn. 63. 25 Siehe OGH SSt 29/85, 49/55, 50172, RZ 1977/52, EvBI 1984/37. Das Verbot richtet sich neben körperlichen Eingriffen auch gegen psychologische Explorationen. 26 Ausgenommen davon sind erkennungsdienstliche Maßnahmen wie die Abnahme von Fingerabdrücken oder die Herstellung von Lichtbildern, die nach Ansicht des OGH (EvBI 1993/174) mit Art. 8 EMRK vereinbar sind. In diesem Sinne auch die EKMR in Mc Veigh, O'Neill und Evans ./. Großbritannien. 27 ÖJZ 1990, 317 =EuGRZ 1990,162. 28 Günter Heine/Susanne Hein, in: Strafrechtsentwicklung in Europa 3 (Anm. 4), S. 1038. 29 § 81c dStPO erlaubt - mit Einschränkungen - auch die ärztliche Untersuchung und Blutabnahme bei Zeugen.
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führung der auf Blutproben gestützten DNA-Analyse als Beweismittel. 30 Die verfassungsrechtlichen Grenzen ergeben sich dabei aus Fragen der Menschenwürde und dem in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG einbezogenen Recht auf informationelle Selbstbestimmung,31 nicht aber aus dem Recht des Angeklagten, sich nicht selbst belasten zu müssen. Ein Urteil des BGH32 zur Zulässigkeit der DNAAnalyse fand ihre Heranziehung als alleinige Beweisquelle nur deshalb problematisch, weil sie lediglich eine statistische Aussage enthalte. Die Zulässigkeit einer zwangsweisen Blutabnahme zur Durchführung eines HIV-Tests gemäß § 8la dStPO ist dennoch keineswegs eindeutig zu bejahen. Im Unterschied zum Testergebnis bei Blutalkoholmessungen oder zu einer gentechnischen Vergleichsanalyse bedeutet die Feststellung einer HIV-Infizierung eine schwere psychische Belastung für den Beschuldigten 33 . Gemäß § 8la dStPO dürfen derartige Eingriffe aber nur vorgenommen werden, "wenn kein Nachteil für die Gesundheit zu befürchten ist". Maye?4 will trennen: Die Blutabnahme selbst müsse streng von den aus ihr resultierenden Folgen (er spricht hier - in dieser Reihenfolge - von der "seelischen Belastung infolge der Venenpunktion bei Spritzenphobie oder infolge der Mitteilung des Ergebnisses") unterschieden werden, da die Information über das Testergebnis nicht mehr als Eingriff zu definieren ist; zudem hätte jede Blutentnahme ja nur den Sinn einer daran anschließenden Austestung ein HIV-Test sei demnach gedeckt. Die Argumentation ist wenig überzeugend. Denn bei der Schaffung des § 8la konnte man nicht an Blutabnahmen mit derartigen Implikationen denken. Diese Implikationen bestimmen den Gehalt des Eingriffs - wie wir schon bei der materiellrechtlichen Einordnung gesehen haben wesentlich mit. §§ 81a und 81c dStPO erfassen unser Problem also erst dann vollständig, wenn man die möglichen Nachteile für die Gesundheit berücksichtigt. 35 Dann aber bilden diese Bestimmungen wohl nicht mehr eine eindeutige Rechtsgrundlage für den Eingriff. Im Sinne einer klaren Regelung hat 1988 der schwedische Reichstag ein Gesetz über zwangs weisen HIV-Test im Strafverfahren beschlossen, damit Verbrechensopfer die Untersuchung des Beschuldigten erzwingen können. 36 30 Nachweise zur Rechtsprechung bei Christoph Hülsmann: Landesbericht Deutschland, in: Eser, Albin/Barbara Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa 411, Freiburg i. Br. 1993, S. 137 ff. (241). 31 Siehe Thomas Vogt, Entscheidungsanmerkung, StV 1993, 175 f. 32 Urteil vom 12. 8.1992, NJW 1992,2976 =StV 1992,455. 33 Im gleichen Sinn R. Penning/W. Spann, Der ..AIDS-Test" im Rahmen gerichtlicher Leichenöffnungen und bei körperlichen Untersuchungen nach §§ 81a, 81c StPO, MedR 1987, 171 ff. (173), die eine derartige Maßnahme als "anderen körperlichen Eingriff' im Sinne des § 81a StPO definieren, die dann für den Bereich des § 81 c ohne Einwilligung von vornherein ausgeschlossen wäre. 34 JR 1990, 359. 35 Die Regelung des § 81c verpflichtet Zeugen in engerem Rahmen zur Duldung von Blutuntersuchungen. Dazu sogleich.
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Solche Regelungen sind aber angreifbar, da doch eine Rückrechnung auf den Tatzeitpunkt ebenso wie der Kausalitätsnachweis in der Regel auf Schwierigkeiten stößt. Diese praktischen Bedenken sprechen dagegen, den Nemo-tenetur-Grundsatz durch eine ausdrückliche Regelung zu durchbrechen. Zum Vergleich sei an den Blutalkoholtest nach schweren Verkehrsunfallen erinnert, für den in Österreich eine Verfassungsbestimmung vorsorgt?? Obwohl dieser Test viel eindeutigere Ergebnisse ermöglicht und auch der dramatischen Aspekte des HIV-Tests entbehrt, war die Frage in Österreich vor Erlassung der' Verfassungsbestimmung im Jahr 1960 äußerst umstritten. Der hohe Stellenwert, der damals dem Anklageprinzip aus der innerstaatlichen Verfassung heraus zugesprochen wurde, ist inzwischen im Lichte der Straßburger Rechtsprechung zum Fair-trialGrundsatz nach Art. 6 EMRK nicht geringer geworden. Zudem kennt auch die zitierte Ausnahme für den Blutalkoholtest nicht die Möglichkeit der Durchsetzung mit physischem Zwang, sondern nur eine Verwaltungs strafe bei Verweigerung. So singulär die schwedische Regelung ist, so verständlich ist freilich ihre Grundidee: dem möglichen Opfer einer Infektion, insbesondere in der ,,Fenster-Zeit", eine Handhabe zu bieten, den Verdacht zu erhärten oder vielleicht entkräften zu können. Eine Durchbrechung des Nemo-tenetur-Grundsatzes (und nicht nur der privacy im Sinne des Art. 8 EMRK, die hier zweifellos zurückstehen darf) liegt demnach vor. Für Länder, die keine eindeutige Eingriffsermächtigung kennen, wäre die Befugnis m. E. daher "in dubio" zu verneinen. Gemäß § 8lc Abs. 2 dStPO können auch Zeugen zur Duldung von Blutproben verpflichtet werden, wenn "die Maßnahme zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich ist". Ein positives Testergebnis beim Opfer ist für die Verurteilung wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zwar unerläßlich, bei Fehlen des Nachweises kann der aidskranke Täter aber wegen Versuches belangt werden; die Maßnahme ist daher nicht "unerläßlich". Weitere Bedenken gegen eine zwangweise Blutuntersuchung bei Zeugen ergeben sich wiederum aus dem Vorbehalt "wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist" (§ 8Ic Abs. 2 dStPO) und der Bestimmung des § 8Ic Abs. 4, daß die Eingriffe bei Unzumutbarkeit für den Zeugen nicht zulässig sind. 38 Der zwangsweise HIV-Test zur Feststellung von Tatsachen für ein Strafverfahren ist sohin m. E. nach §§ 81a, 8Ic dStPO weder für Beschuldigte noch für Zeugen zulässig. Die angestellten Betrachtungen sprechen gleichzeitig dafür, materiellrechtliche Lösungen zu entwickeln, welche die Problematik der Ansteckungsdelikte auf eine Weise zu bewältigen verstehen, daß der Nachweis derVIrusübertragung entbehrSiehe Karin Comils, in: Strafrechtsentwicklung in Europa, Band 3/2 (Anm. 4) S. 978. § 5 Abs. 6 der österr. Straßenverkehrsordnung. 38 Bei Zeugen hält den Test auch Mayer, IR 1990,363, im Hinblick auf die seelischen Belastungen bei Erfahren einer Infizierung für unzumutbar. 36
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lich wird. 39 Ein weiteres Beispiel "strafrechtsgestaltender Kraft des Strafprozesses"!
* Um nochmals auf unsere Kernfrage, die materiellrechtliche Beurteilung des heimlichen HIV-Tests, zurückzukommen - hier ergibt sich durchaus eine Parallelität mit der soeben behandelten prozessualen Frage -: Die Bedeutung einer heimlichen oder erzwungenen HIV-Blutuntersuchung treffend zu erfassen, hängt, wie gesehen, von der Rechtsgütersystematik ab. Paradigmatisch haben wir das österreichische System dem deutschem gegenübergestellt. Behandelt man eigenmächtige Heilbehandlungen und Diagnosemaßnahmen als Körperverletzung oder löst man die "medizinische Selbstbestimmung" von dem Begriff der körperlichen Integrität, wie das in einem Tatbestand der Eigenmächtigen Heilbehandlung angelegt ist? Spaltet man im Sinn der österreichischen Tradition auf, dann können gesundheitliche Nachteile, die mit der Eigenrnacht bei der Testung unmittelbar zusammenhängen mögen (erhöhte Suizidalität und Begünstigung des Krankheitsausbruchs ) immer noch als mitabgegolten betrachtet werden; sie lassen sich aber auch erfassen, wenn man mit dem Tatbestand der Körperverletzung operiert. Hier muß aber die Schädigung im konkreten Fall nachgewiesen werden. Für die Kausalbeziehung reicht freilich Risikoerhöhung aus, daja nicht die Unterlassung der Einholung des Einverständnisses unser Anknüpfungspunkt ist, sondern ein aktives Tun, 39 Freilich erscheint - wenn man die Frage der Zulässigkeit eines zwangs weisen HlV-Tests im Strafverfahren einmal beiseite läßt - der Anwendungsbereich für eine derartige Maßnahme schon nach heutigem deutschem Strafrecht gering: Behandelt man eine Ansteckung mit HIVals (vorsätzliche) Körperverletzung, so führt eine Testung des dieser Tat Angeklagten gewöhnlich zu keiner verfahrensrelevanten Erkenntnis, da - auch bei positivem Testergebnis - dem Angeklagten erst einmal die kognitive Komponente des Vorsatzes bei der Ansteckungshandlung nachgewiesen werden muß (vgl. dazu die Ausführungen von Bruns, MDR 1989, 199 ff., der feststellt, daß mit der Rspr. des BGH praktisch nur bereits vor der Tat getestete Infizierte wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt werden können, was in der Konsequenz eine Schwächung der AIDS-Prävention bedeute, da die Bereitschaft, sich einem HIV-Test zu unterziehen, damit sinke. Die gerichtlich angeordnete Blutprobe ist daher praktisch gesehen nur für die Ansteckungsfälle von Bedeutung, in denen dem Infizierten meist durch ungeschützten Geschlechtsverkehr - eine fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen wird, weil für ihn zum Tatzeitpunkt "objektive Anhaltspunkte für eine AIDS-Infektion" vorlagen (vgl. Bottke, in Schünemann - Pfeiffer [Anm. 16], 197). Unter diesen Anhaltspunkten seien etwa erste typisch auftretende Krankheitszustände wie Fieber, Gewichtsabnahme, Lymphknotenschwellung etc. zu verstehen. Die Frage, ob die nach § 81 a dStPO verlangte Verhältnismäßigkeit zwischen Eingriff in die Rechte des Beschuldigten und staatlichem Verfolgungsinteresse bei einem Fahrlässigkeitsdelikt noch gegeben ist, ist zweifelhaft. Mayer, IR 1990,361, bejaht dies mit dem Argument, daß die Blutentnahme als solche einen bloß geringen Eingriff in die körperliche Integrität darstelle. Die bei positivem Testergebnis sich ergebenden psychischen Beeinträchtigungen sind seines Erachtens ja nicht durch den Eingriff entstanden, sondern nur eine Folge davon (s.o.). Zudem bestehe kein geschütztes Recht auf Nichtwissen (zum Recht auf ,,Nichtwissen", das aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung resultiert, siehe Bottke, in Schünemann - Pfeiffer, 222) mehr, da der Täter bei fahrlässigem Handeln seine Krankheit schon erkennen hätte müssen!
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die sorglose Durchführung des Tests. Die Venenpunktion für sich, um die sich der Großteil der Diskussion dreht, tritt demgegenüber in den Hintergrund; bei bloß zusätzlicher Entnahme einer geringen Blutmenge hat die Nadel überhaupt nicht verletzt! Diese Verschiebung der Betrachtung macht den Tatzeitpunkt beweglich: die Testung als solche zählt - auch für den Vorsatz. Sachgerechter erscheint uns im Vergleich dennoch das Modell der Eigenmächtigen Heilbehandlung, auch wenn Schwächen sichtbar geworden sind und insbesondere die vollständige Abstrahierung des Rechtsgutes von der Körpersphäre noch nicht gelungen ist. Was den datenschutzrechtlichen Ansatz betrifft, den Schünemann gestern empfohlen hat, so meine ich, überspringt man damit etwas: Das erste Interesse des möglicherweise Infizierten liegt ja nicht in der Vermeidung von Diskriminierungen, sondern er will seinen Status vielleicht selbst gar nicht kennen! Ich würde hier ungern von einem "Delikt gegen den HIV-Positiven" sprechen, da es doch nicht um den Positiven geht, nicht um "das Wissen um die Infektion eines anderen", sondern um den möglicherweise Infizierten und seine Autonomie gegenüber dem Arzt. Der Datenschutz hätte dort einzusetzen, wo wir ein Datum überhaupt haben: Bei Positivität des Testergebnisses stehen wir dann unmittelbar vor der Aufgabe, vor Diskriminierung zu schützen. Ein Element dieser Aufgabe, das Medienrecht, habe ich berührt; im übrigen ergibt sich dazu morgen mit der Betrachtung des ärztlichen Berufsgeheimnisses eine Fortsetzung. Wir haben gesehen, daß die Testproblematik eigentlich im Schnittpunkt der anderen auf dieser Tagung behandelten Themen steht. Ich danke Herrn Professor Szwarc, daß er sie an dieser Stelle in das Programm aufgenommen hat. Und er hat mit seinem konzisen Bemerkungen 1988 hier in Posen40 schon die wesentlichen Punkte aufbereitet. Ich bin mir bewußt, daß ich selbst nicht viel hinzufügen konnte, würde mich aber freuen, die Diskussion auf diesem Gebiet angeregt zu haben.
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Siehe oben Anm. 15.
Diskussionsbericht Von Raimo Lahti Der folgende Bericht umfaßt die Beiträge und Kommentare der Herren Riondato, du Plessis, Koch, Spinellis, Schünemann, Janker. Szwarc und Lahti. Die meisten Äußerungen enthalten rechtsvergleichende Gesichtspunkte und ergänzen dadurch das Referat von Frank Höpfel. Der Beitrag von Herrn Koch enthält ausdrückliche Fragen und der von Herrn Schünemann kritische Kommentare zum Referat Höpfels. Der Bericht endet mit einer Antwort von Herrn Höpfel und seinen Schlußbemerkungen. 1. Silvio Riondato berichtete kurz über die Lösungen der AIDS- Problematik in Italien.
Bezüglich des AIDS-Problems ist in Italien ein besonderes Gesetz in Kraft (Gesetz vom 5. Juni 1990, Nr. 135, unter dem Titel "Eingriffsplan für dringende Verhütungs- und Bekämpfungsmaßnahmen gegen AIDS", im Amtsblatt des 8. Juni 1990, Nr. 132 veröffentlicht). Die Erwägung dieses Gesetzes ist für die Behandlung von zahlreichen und für das Strafrecht bedeutenden Themen grundlegend; und diese ratio ist auch für die Themen wesentlich, auf die Herr Riondato eingegangen ist, und die den heimlichen HIV-Test betreffen. a) In bezug auf das Testproblem äußerte Herr Riondato die Meinung, daß im allgemeinen eine Blutabnahme als eine Körperverletzung, aus der eine Krankheit folgt, gemäß der Tatbestandsbeschreibung des Art. 582 des Strafgesetzbuches zu betrachten ist oder immerhin einen "Schlag" gemäß Art. 581 cod. pen. darstellt; dies gilt in Anbetracht der Ausführungsweise der Blutabnahme, nämlich des Eindringens in den Körper, selbst dann, wenn es auch wenig schmerzhaft ist und eine fast unbedeutende Störung der normalen physiologischen Funktionen mit sich bringt. Diesbezüglich berücksichtige Herr Riondato eine besonders strenge Rechtsprechung hinsichtlich der Delikte gegen die individuelle Unverletzlichkeit (physische Integrität). In der voraussichtlichen Entscheidung der italienischen Richter dürfte vielleicht selbst die einfache Entziehung einer geringen Blutmenge das Tatbestandselement erfüllen, insofern, als sie eine Störung auslöst, die zu einem wenn auch nur kurzfristigen Reintegrationsprozeß führt. Als Zwischenbemerkung betonte Herr Riondato, daß im italienischen Recht im allgemeinen ein Ausschluß der Strafbarkeit aufgrund der minimalen Beträchtlichkeit der Rechtsgutsverletzung bisher nicht Fuß gefaßt hat. Herr Riondato fügte hinzu, daß nach heutigem Stand die Einordnung einer rechtswidrigen Blutentziehung unter eine Straftat gegen das Vermögen eine Verzerrung darstellen würde.
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Diese Prämisse sei notwendig, weil im italienischen Strafgesetzbuch die "Delikte gegen die Person", zu denen auch die obengenannten Delikte gegen die individuelle Unverletzlichkeit sowie auch jene, gegen die moralische (psychische) Freiheit zählen, keinerlei direkten Schutz der in unseren Fällen mit einbezogenen Verfügungsfreiheit bieten und insbesondere keinerlei Schutz, der sowohl von der Gewalt, als auch von der Drohung absieht, gewähren, wie es z. B. im Deliktstypus der österreichischen ,,Eigenmächtigen Heilbehandlung" der Fall ist. Ein obligatorischer HIV-Test mit entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen oder Zwangsmaßnahmen ist - so Riondato - im Falle einer Nichtunterziehung bei AIDS mit Bezug auf die Allgemeinheit oder auf näher bezeichnete Kategorien nicht vorgesehen, weder zum Schutz der Gesundheit des sich dem Test Unterziehenden, noch zum Schutz der Gesundheit anderer. Eine besonders zweideutige Norm läßt jedoch rechtmäßigen, nicht wie im allgemeinen auf der Einwilligung des Interessenten beruhenden Eingriffen freien Raum. Das Gesetz setzt nämlich fest, daß ,,[j]emand, ausschließlich aus Gründen klinischer Notwendigkeit, in seinem Interesse Untersuchungen zum Nachweis der HIV-Infektion ohne Einwilligung ausgesetzt werden darf' (Art. 5, Absatz 3). Es handelt sich nicht um eine pleonastische Norm, d. h. um eine Norm, die nach der Behauptung einiger den Wert der Notwendigkeit für jenen Fall bestätigt, in dem der Patient zu einer gültigen Einwilligung unfähig ist. Eine Einwilligung in den Test sei im Gegenteil in bezug auf Personen, die zu einer gültigen Einwilligung fähig sind, nicht unbedingt erforderlich; das entnimmt man auch den parlamentarischen Arbeiten. Der Begriff ,,klinische Notwendigkeit" im Interesse des Patienten ist ziemlich weit und allgemein und umfaßt schließlich jedes medizinisch-sanitärische Behandlungsmittel gemäß den besten Kunstregeln ; daher kann sich die Auslegung durchsetzen, daß der Arzt in den meisten Fällen nicht angemessen handeln kann, wenn er nicht über die Informationen bezüglich der Ergebnisse des HIV-Tests verfügt (der Test ist verläßlich, wenn er positiv ausgefallen ist). Die Maßstäbe zur Bewertung des Interesses des Patienten sowie jene zur Bewertung der klinischen Notwendigkeit liegen nicht mehr in den Händen des Patienten, sondern in denen des Arztes. Wenn man annimmt, aus der Verfassung sei das Prinzip der Verfügbarkeit des Gesundheitsgutes von Seiten des einzelnen zu entnehmen, wenigstens soweit dies anderen keinen Schaden zufügt, so scheint die obenbeschriebene Situation verfassungswidrig zu sein. Herr Riondato stellte fest, daß der Test in den Krankenhäusern beinahe allgemein ohne vorherige Einwilligung und außerhalb der Bedingung der ,,klinischen Notwendigkeit" durchgeführt wird. Deutlich erscheint hier der Zweck der Selbstverteidigung. Wie dieser Zweck durchgesetzt wird, widerspricht - so Riondato schließlich auch der Anweisung des Gesetzes, gemäß der "die Ergebnisse der direkten oder indirekten diagnostischen Untersuchungen hinsichtlich der HIV-Infektion ausschließlich jener Person mitgeteilt werden dürften, auf die sich die Untersuchungen beziehen" (Art. 6, Absatz 4). Z.B. werden die Ergebnisse des positiv
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ausgefallenen Tests in die klinische Mappe eingetragen und diese wird dann neben das Bett des Patienten gestellt oder am Bett befestigt. Die Blutabnahme ohne Einwilligung oder ohne ,,klinische Notwendigkeit" ist nach den obengenannten Vorschriften strafbar. Zweifel können sich in jenem sehr häufigen Fall stellen, in dem eine Einwilligung in die Blutabnahme bezüglich eines oder mehrerer notwendiger Tests besteht, aber die Blutabnahme selbst ohne Einwilligung des Patienten und ohne klinische Notwendigkeit auch zum Zweck des HIV-Tests durchgeführt wird. Normalerweise erweist sich die entzogene Blutmenge nicht größer als die zur Durchführung des ein ge willigten Tests notwendige, weil man jedenfalls genügend Blut abnimmt, um im Notfall die Wiederholung der Untersuchung zu garantieren. Herr Riondato sieht den kritischen Punkt darin, die Gültigkeit der Einwilligung anzuerkennen: der Patient hat in den Schaden an der physischen Integrität eingewilligt; worin er aber nicht eingewilligt hat und was sicherlich unter der Mißbilligung des Gesetzes verbleibt, obwohl es nicht strafbar ist, ist die Durchführung des HIV-Tests. b) Durch das AIDS-Gesetz hat man den öffentlichen und privaten Arbeitgebern verboten, "Untersuchungen zum Nachweis eines seropositiven Zustandes an den Bediensteten oder an den für ein künftiges Arbeitsverhältnis in Betracht gezogenen Personen" durchzuführen (Art. 6, Absatz 1). Die Nichteinhaltung dieses Verbotes unterliegt denselben strafrechtlichen Sanktionen (Art. 6, Absatz 2) wie die im Arbeiterstatut (Gesetz vom 20. Mai 1970, Nr. 300) beschriebenen schweren Rechtsverletzungen: als Hauptstrafe droht Geldbuße von 300.000 bis zu 3 Mio Lire oder Haft von 15 Tagen bis zu einem Jahr; in besonders schweren Fällen findet eine Kumulierung von Geldbuße und Haft statt, und die Gerichtsbehörde ordnet die Veröffentlichung der Entscheidung an; wenn die für die geringen Zuwiderhandlungen vorgesehene Geldbuße aufgrund der Vermögensverhältnisse des Täters auch in der maximalen Anwendung vermutlich keine Wirkung hätte, kann der Richter die Geldbuße bis auf das Fünffache erhöhen. Es handelt sich um eine Übertretung; daher ist sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Handlung strafbar (Art. 42, Absatz 3, cod. pen.). Nur in bezug auf den Arbeitsbereich hat man den Wert des im AIDS-Gesetz ausgesprochenen Prinzips in dieser Weise vorverlagert und durch Sanktionen abgesichert; das Prinzip lautet: "Die nachgewiesene HIV-Infektion darf keineswegs als Diskriminierungsgrund gelten, insbesondere bei der Einschreibung in die Schule, beim Sportbetreiben, beim Zugang zu den Arbeitsplätzen und bei deren Bewahrung" (Art. 6, Absatz 5). Der in Erwägung gezogene Fall ist völlig anders als jener, der das bereits bestehende Verbot der Untersuchungen von Seiten des Arbeitgebers über die Tauglichkeit und die Unfähigkeit des Bediensteten wegen Krankheit oder Unfall betrifft. Das eben erwähnte Verbot ist mit dem Gesichtspunkt, daß diese Untersuchungen vom öffentlichen Dienst durchgeführt werden müssen, verbunden; es zielt also ausschließlich auf die Objektivität und die Unparteilichkeit der Ergebnisse (Art. 5, Gesetz Nr. 300/1970). Bezüglich des HIV-Tests verweigert man hin-
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gegen die Untersuchung an und für sich, auch wenn sie durch Dritte durchgeführt wird. Die Einwilligung in die Untersuchungen ist in der Auffassung von Riondato keine Rechtfertigung. Selbst die Frage nach der Einwilligung in die Untersuchungen erweise sich ihrerseits als eine Erforschung "zum Nachweis" eines seropositiven Zustandes. Die Vorschrift könne sich als Norm zur Verhütung von Diskriminierungen nur dann als wirksam erweisen, wenn man annimmt, in ihr sei die Voraussetzung enthalten, man dürfe zwischen jenen, die in die Durchführung der Untersuchungen einwilligen und jenen, die sich weigern, nicht diskriminieren. 2. Jacobus Roselt du Plessis berichtete über die südafrikanische Prozeßordnung (Criminal Procedure Act). a) Sie enthält einen Paragraphen, der der Polizei das Recht gibt, einen verhafteten Verdächtigen auf körperliche Merkmale zu untersuchen. Es ist auch vorgeschrieben, daß nur ein Arzt Blut von solch einem Verdächtigen abnehmen darf. Die Absicht des Paragraphen ist, den Verdächtigen wegen des Blutalkohols untersuchen zu lass~n. Das wird aber nicht ausdrücklich gesagt. Es steht also der Polizei frei, nach dieser Bestimmung einen Verdächtigen auf HIV-Infizierung zu untersuchen. Die Gerichte können aber entscheiden, daß dieses nicht die Absicht des Gesetzgebers war und daß es ein Mißbrauch des Gesetzes wäre, jenen Paragraphen auf HIV-Tests anzuwenden. Die Angelegenheit hängt noch in der Luft. b) Wenn ein Arzt einem Patienten sagte, er nehme Blut für etwas anderes, aber in Wahrheit nähme er es für einen HIV-Test, wäre das ein Verbrechen. 3. Hans-Georg Koch ging auf das Referat von Herrn Höpfel ein. a) Herr Höpfel hat sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit Tatverdächtige strafprozessual gezwungen werden können, einen HIV-Test in eigener Sache zu dulden, und er hat dazu nicht zuletzt im Hinblick auf damit verbundene Nachteile für die Betroffenen eine recht zurückhaltende Position vertreten. Kochs Frage ging dahin, ob solchen Erwägungen nicht weit über das Thema AIDS hinaus Bedeutung zukommen müßte. Als Beispiel wurde ein Beschuldigter genannt, der psychiatrisch untersucht werden soll, und dem sowohl durch diese Untersuchung selbst als auch durch etwaige Konsequenzen der Diagnose unter Umständen erhebliches Ungemach zugemutet wird, etwa wenn eine (zeitlich nicht befristete) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu gewärtigen wäre - eine gegenüber dem Strafvollzug keineswegs weniger eingreifende Maßnahme. b) Herr Koch äußerte sich auch zu Höpfels Bemerkungen bezüglich der Strafbarkeit nicht konsentierter HIV-Tests: In der Praxis werde eine Strafbarkeit des eigenmächtig testenden Arztes kaum einmal gegeben sein. Umso mehr stellt sich - in Kochs Sicht - die Frage, ob den Betroffenen nicht ein Schmerzensgeldanspruch zuerkannt werden sollte. Mehrere deutsche Amtsgerichte haben dies im Hinblick auf die angebliche Geringfügigkeit der darin liegenden Verletzung des Persönlichkeitsrechts verneint. Herr Koch fragte den Referenten, ob er diesen Weg - wozu
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Koch selbst neigt - als geeigneten Ersatz (fragwürdiger) strafrechtlicher Sanktionierung ansehen würde.
4. Dionysios Spinellis bemerkte zum Problem des Grundsatzes "nemo tenetur se ipsum accusare" folgendes: der Sinn dieses Grundsatzes sei der, daß keine Person aktiv und als vernünftiges Lebewesen gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen, indem man z. B. unter Eid vernommen wird. Es würde aber zu weit gehen, wenn aufgrund desselben Grundsatzes auch die körperliche Untersuchung des Angeklagten als Augenscheinsobjekt oder als Gegenstand einer gerichtsmedizinischen Begutachtung verboten wäre. Insbesondere erscheint Herrn Spinellis die Verwehrung des HIV-Tests von Personen, die verdächtigt werden, andere infiziert zu haben, nicht richtig; denn dann würden die meisten solchen Fälle mangels Beweises zu Freisprüchen gelangen. In diesem Zusammenhang nannte Herr Spinellis einen Fall, der sich vor einigen Jahren in Griechenland ereignete: Ein Mann wurde wegen Zuhälterei angeklagt. Der entsprechende Tatbestand des Art. 350 gr. StGB bedroht mit Strafe einen Mann, der sich von einer Frau, die mit anderen Unzucht treibt, unter Ausbeutung ihrer unsittlichen Gewinne unterhalten läßt. Nun behauptete der Angeklagte in jenem Prozeß, daß die Person, von der er sich unterhalten ließ, keine Frau, sondern ein Mann war. Das Gericht ordnete danach eine medizinische Untersuchung dieser Person an, um festzustellen, welchem Geschlecht sie angehörte. Diese aber weigerte sich, sich dafür zur Verfügung zu stellen, unter Berufung auf die eventuelle Verletzung ihrer Menschenwürde. Das Gericht gab ihr Recht und sprach danach den Angeklagten mangels Beweises frei. Herr Spinellis, der damals diese Entscheidung interessant fand, glaubt jetzt, daß sie zu untragbaren Ergebnissen führen könnte, wenn andere Gerichte ihr konsequent folgen würden.
5. Bernd Schünemann nahm Stellung zu Höpjels Referat, indem er das Bild, welches Höpfel von den Strafrechtsproblemen des sog. AIDS-Tests gezeichnet hat, in seiner Behutsamkeit und Differenziertheit mit dem Pointillismus verglich. Ein mündlicher Diskussionsbeitrag könne demgegenüber nur gewissermaßen mit flüchtigem Pinsel und al fresco ausgeführt werden. Deshalb beschränkte sich Herr Schünemann auf vier Aspekte: auf die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine moralische Pflicht, sich einem HIV-Antikörpertest zu unterziehen, begründet werden kann; auf die Ableitbarkeit von Testpflichten aus den allgemeinen Strafrechtsnormen; auf die von Herrn Höpfel weitgehend ausgeklammerte Frage der Einführung anonymer Tests und auf die Benutzung des HIV-Tests als Beweismittel im Strafprozeß. a) Ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Grund für die Durchführung eines HIV-Tests ist nach Schünemanns Auffassung in den Konsequenzen zu sehen, die ein positives Testergebnis für eine vernunftgemäße Lebensführung des Betroffenen nach sich ziehen sollte: Auf der einen Seite hat die medizinische Forschung in den letzten Jahren deutlich gemacht, wie wichtig eine möglichst früh einsetzende Behandlung für eine Verlangsamung des Infektionsverlaufes über das ARC-Sta-
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dium bis zum Vollbild von AIDS ist; und die Einsicht in die nur noch begrenzte Lebenszeit kann eine bewuBtere und sinnvollere Nutzung der verbliebenen Frist zur Folge haben im Vergleich mit dem unbedachten Zeitvertreib eines die Frage des Endzeitpunktes verdrängenden Lebens. Dennoch läBt sich daraus - so Schünemann - keine moralische Pflicht zur Testdurchführung ableiten, weil es Gedenfalls in der vorliegend allein relevanten Sozialethik) keine moralischen Pflichten gegen sich selbst gibt, so daß es keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Lebensform ist, ob man sein Leben auf die Kenntnis und Verarbeitung der Wirklichkeit oder auf Nichtwissen und Verdrängung gründen will. Daß eine in der Bevölkerung verbreitete und durch die offizielle AIDS-Politik eher begünstigte Lebensform in der Verdrängung besteht, kann in der narziBtischen Gesellschaft der Postmoderne niemanden verwundern. Wer diese Lebensform zum Modell der rechtspolitischen Diskussion machen möchte (sei es, weil er sie für einen Ausdruck des Liberalismus hält, wie etwa die hier in Posen leider nur teilweise vertretenen Frankfurter Kollegen Nestler, Herzog und Prittwitz; sei es im Interesse einer Vorausverteidigung der gerade erst erreichten Homosexuellen emanzipation wie deren "Chefideologe" Rosenbrock), sollte sich dann wohlweislich hüten, ausgerechnet einer nüchtern-rationalen Kalkulation der AIDS-Risiken die Verbreitung irrationaler Ängste vorzuwerfen und dadurch das wahre Verhältnis von rationaler Wirklichkeitsanalyse und irrationalen Verdrängungswünschen genau auf den Kopf zu stellen. Eine moralische Pflicht zur Testdurchführung kann im Urteil von Herrn Schünemann nur aus dem Grundsatz "neminem laede" für denjenigen abgeleitet werden, der sich zuvor einem AIDS-Infektionsrisiko ausgesetzt hat und nunmehr ein Verhalten erwägt, das zur Weitergabe des Virus geeignet ist. Diese moralische Pflicht entfällt auch nicht durch risikobezogene Aufklärung und Einverständnis des durch das Verhalten gefährdeten Partners. Denn bei einer Seuche, und erst recht bei einer Pandemie mit einem verheerenden Vernichtungspotential wie bei AIDS, würde es hier zu kurz greifen, die Schädlichkeit der Virustransmission allein in der unmittelbaren Verletzung des Partners zu sehen (die von diesem konsentiert werden könnte) und das eigentliche antisoziale und vom unmittelbaren Partner nicht konsentierbare Risiko, nämlich die Schaffung eines neuen und weiteren Ansteckungsherdes, zu übersehen. b) Herr Schünemann betonte, daß aus einer moralischen Testpflicht nicht auf die Existenz einer entsprechenden Rechtspflicht geschlossen werden kann. Hierfür sei vielmehr, weil es um einen Eingriff sowohl in die körperliche Unversehrtheit als auch in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geht, eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Dabei geht es im Strafrecht, anders als im öffentlichen Recht, nicht um unmittelbar vollstreckbare Pflichten, sich einem HIV-Antikörpertest zu unterziehen, sondern um bedingte Testpflichten in der Weise, daß ·ein bestimmtes Verhalten sorgfaltswidrig wäre und zumindest einen Fahrlässigkeitsstraftatbestand erfüllen würde, wenn nicht ein negatives Testergebnis dessen Unbedenklichkeit ergeben hat (wobei die aus bekannten Gründen unausräumbare Unsicherheit des Tests in strafrechtlicher Hinsicht ein erlaubtes Risiko konstituieren
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würde). Wer sich einem Infektionsrisiko ausgesetzt hat, hat nun vor der Vornahme von an sich infektionsgefährlichen Handlungen grundsätzlich drei Möglichkeiten: er kann entweder so zuverlässige Sicherheitsvorkehrungen verwenden, daß jedes ernsthafte Übertragungsrisiko ausgeschlossen ist, also auch kein Restrisiko besteht, das bei einer tödlichen Gefahr wie bei AIDS niemandem einseitig oktroyiert werden darf; oder er kann den Partner über das Infektionsrisiko rückhaltlos aufklären und damit dessen Entscheidung herbeiführen, was die Eigenverantwortung aber nur ausschließen kann, wenn der Partner voll verantwortlich handelt und sich bei der Zustimmung zu dem riskanten Kontakt auch nicht in einer faktischen Zwangslage befindet; und er kann sich schließlich einem HIV-Antikörpertest unterziehen und bei dessen negativem Ausgang dann den bei wirklich gegebener HIV-Infektion riskanten Kontakt ohne Sorgfalts widrigkeit eingehen. Hieraus folgert Schünemann eine Testpflicht für solche Angehörigen des Gesundheitspersonals, die mit invasiven Maßnahmen befaßt sind, weil sich hier auch bei Einhaltung strenger Hygienevorschriften ein Restrisiko nicht ausschließen läßt und der Patient über Risikokontakte des Chirurgen nicht aufgeklärt zu werden pflegt, sich im übrigen einer medizinisch indizierten Operation auch kaum entziehen kann. Schon bei Prostituierten sei die Ableitung einer Testpflicht aus der strafrechtlichen Sorgfaltspflicht jedoch zweifelhaft, weil der Kunde eigentlich aufgrund der sozialen Typizität der Kontaktsituation über das Risiko Bescheid weiß, und es ist deshalb nicht das Schutzbedürfnis des einzelnen Kunden, sondern der später von diesem gefährdeten und typischerweise nicht aufgeklärten Partner, welches eine spezialgesetzliche Normierung der Testpflicht für Prostituierte unabweisbar erscheinen läßt. Daß die Prostituierte hierdurch nicht unzumutbar belastet wird, folgt - so Schünemann - aus der schlichten Selbstverständlichkeit, daß zur Ausübung jedes gesellschaftsbezogenen Berufes die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gehört. In Österreich, dem Heimatland von Herrn Höpfel, ist deshalb in § 4 des AIDS-Gesetzes vom 16. Mai 1986 zu Recht die regelmäßige Untersuchung von Prostituierten auf eine HIV-Infektion vorgeschrieben, und in Deutschland bietet § 32 Abs. 2 des Bundesseuchengesetzes eine entsprechende Rechtsgrundlage, von der allerdings in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich Gebrauch gemacht wird. Besondere Bedürfnisse für einen AIDS-Test, aber auch besondere Rechtsprobleme sieht Schünemann im Zusammenhang mit dem erzwungenen Zusammenleben in geschlossenen Anstalten, also namentlich im Strafvollzug, was noch im Referat von Herrn Geppert gesondert thematisiert wird. Dies gilt auch für die Frage, wieweit die Behörden strafrechtlich verpflichtet sind, von ihren Testbefugnissen zum Schutze Dritter Gebrauch zu machen, was im Zusammenhang mit dem Referat von Herrn Buchala zur Diskussion gestellt sein sollte. c) Schünemann zeigte Verständnis dafür, daß Herr Höpfel aus Zeit- und Raumgründen auf die Frage der Durchführung von Tests zur Gewinnung des notwendigen epidemiologischen Faktenwissens nicht eingehen konnte. Dies sei verständlich, aber auch bedauerlich, weil es hier um einen für die AIDS-Politik besonders neuralgischen Punkt gehe. Die Hartnäckigkeit, mit der etwa in Deutschland wirk-
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samere epidemiologische Erkenntnisinstrumente als die höchst unzuverlässige Laborberichtsverordnung verschmäht werden, ist - in Schünemanns Urteil - ein eindrucksvoller Beleg für den politischen Einfluß der "Verdrängungsideologie", die zwar ursprünglich in dem von Herrn Schünemann schon erwähnten Interesse der Vorwärtsverteidigung der Homosexuellenemanzipation konzipiert und bei der damaligen Bundesgesundheitsministerin Süßmuth von einem inzwischen übrigens selbst an AIDS verstorbenen Berater durchgesetzt wurde, aber die diese Durchschlagskraft nur wegen einer in der gesamten Gesellschaft dominierenden Verdrängungsbereitschaft erlangen konnte. Weil diese künstliche Blindheit aber anders als mit Torheit nicht zu erklären sei, müsse weiterhin mit Nachdruck die Schaffung aussagekräftiger epidemiologischer Erkenntnisinstrumente gefordert werden, wie es etwa schon 1987 auf dem erwähnten Mannheimer AIDS-Symposium von Fincke und Schünemann am Beispiel eines Mikrozensus diskutiert wurde und inzwischen durch mannigfaltige Fonnen eines sog. unlinked testing möglich wäre. d) Herr Schünemann meldete schließlich einen eindeutigen Widerspruch gegen die These von Herrn Höpfel an, daß der Beschuldigte in einem Strafverfahren wegen Infizierung eines anderen mit HIV nicht zur Duldung des HIV-Tests gezwungen werden könne. Eine derartige Maßnahme ist in § 81 a der deutschen Strafprozeßordnung direkt vorgesehen, und sie verstößt auch nicht gegen den allgemeinen menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsatz "nemo tenetur se ipsum prodere", denn diese letztlich in der Menschenwürde wurzelnde Garantie soll den Beschuldigten nur davor schützen, aktiv zu seiner eigenen Überführung beitragen zu müssen, verbietet aber keinesfalls die körperliche Untersuchung des Beschuldigten als Beweismittel. 6. Helmut Janker stellte in bezug auf die Strafbarkeit der Blutentnahme wegen einer Körperverletzung sowie einen heimlichen HIV-Test folgendes fest:
a) Eine strafbare Körperverletzung liegt nicht vor, wenn die Blutentnahme im Rahmen einer indizierten Behandlung erfolgt, wie bei der vor Operationen üblichen Routinediagnostik, und der Betroffene lediglich über die beabsichtigte weitere Blutuntersuchung im Unklaren gelassen wurde. Eine Aufklärung über die Labordiagnostik ist nicht erforderlich, weil dies für die Frage der Einwilligung in die Venenpunktion nicht unmittelbar (rechtsgutsbezogen) von Bedeutung ist. An dieser Beurteilung ändert sich auch dann nichts, wenn der Betroffene über die Durchführung des weiteren HIV-Tests getäuscht wird. b) Die Durchführung eines heimlichen HIV-Tests kann allenfalls dann eine strafbare Körperverletzung darstellen, wenn die Blutentnahme ohne Wissen des Betroffenen ausschließlich zum Zwecke des HIV-Antikörpertests erfolgt ist. Wenn der die Blutentnahme vornehmende Arzt zum Schutz Dritter handelt, um die Infektionsgefahr von sich oder sonstigen Dritten abzuwenden, und Indizien für eine AIDS-Infektion vorlagen, kann der Eingriff jedoch durch § 34 StGB gerechtfertigt sein. Bei der Interessenabwägung im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB sind auf der Erhaltungsseite ggfs. auch die Gesichtspunkte der Funktionsfähigkeit des Gesund-
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heitswesens und der Vermögensinteressen der Krankenversicherungsträger zu berücksichtigen. c) In diesen Fällen heimlicher AIDS-Tests stellt sich allerdings die Frage, ob in der bloßen Blutuntersuchung, die als Erhebung personenbezogener Daten anzusehen ist, eine zu Schadensersatz verpflichtende Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu sehen ist. Damit wäre den Belangen der Betroffenen wohl auch besser Rechnung getragen, als mit strafrechtlichen Sanktionen gegenüber den untersuchenden Ärzten.
7. Andrzej J. Szwarc äußerte sich zu den Bedingungen der Legitimität einer Blutentnahme zur Durchführung des HIV-Tests. Die Feststellung der HIV-Infizierung bedarf der Blutentnahme und Durchführung entsprechender Testuntersuchung auf Vorhandensein der sog. Antikörper im Organismus. Diesbezügliche Blutentnahme ist also eine diagnostische Maßnahme. Zu den Bedingungen ihrer Legitimität gehört - wie bei jedem ärztlichen Eingriff die Einwilligung der Person, an der eine solche Maßnahme angewendet werden sollte. Die Wirksamkeit der Einwilligung ist gleichzeitig durch frühere Erklärung des Betroffenen bedingt, was das Ziel der Untersuchung ist und wie sie durchgeführt werden soll. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage, ob diese Regel immer und ausnahmslos gilt oder ob man vielleicht die genannten Untersuchungen auch ohne Einwilligung des Betroffenen, bei einer mangelhaften Einwilligung oder sogar gegen seinen Willen durchführen kann.
Diese Frage ist - so Szwarc - folgendermaßen zu beantworten: Die Durchführung einer notwendigen diagnostischen Untersuchung ist manchmal zulässig, sowohl ohne Einwilligung des Betroffenen als auch gegen seinen Willen. Dies ist dann der Fall, wenn entsprechende Rechtsbestimmungen die Durchführung eines bestimmten Eingriffes und einer diagnostischen Untersuchung ohne Einwilligung des Betroffenen zulassen, oder ihn sogar verpflichten, sich solchen Untersuchungen zu unterziehen. Das kann natürlich auch Testuntersuchungen auf HIV-Virus im Organismus betreffen. Wie es Herr Szwarc darstellte,' sehen aktuelle polnische Rechtsbestimmungen eine solche Situation voraus, sei es in bezug auf alle diagnostischen Untersuchungen, sei es im Hinblick auf Maßnahmen und Untersuchungen zwecks Entdeckung von Infektionskrankheiten, zu denen auch AIDS gehört.· Im Hinblick auf einen begrenzten Rahmen dieses Beitrages ist eine ausführliche Präsentation und Besprechung von diesbezüglichen Rechtsbestimmungen nicht möglich. Nur als Beispiel sei hier also darauf hingewiesen, daß besprochene Ausnahmen u.a. in Art. 17 des Gesetzes vom 28. Oktober 1950 über den Arztberuf (Gesetzblatt Nr. 50, Pos. 458 mit späteren Änderungen), in Art. 65 des Strafprozeßgesetzbuches, in den Art. 61 und 62 des Strafvollzugsgesetzbuches vorgesehen sind. Sie können ihre Rechtsgrundlage auch in den Art. 2 und 3 des Gesetzes vom 13. No-
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vember 1963 über Bekämpfung der Infektionskrankheiten (Gesetzblatt Nr. 50, Pos. 279 mit späteren Änderungen) sowie in den Ausführungsvorschriften haben. Herr Szwarc hat das mögliche Auftreten gewisser Bedenken und Kontroversen signalisiert, wenn der Betroffene keine eindeutige Einwilligung in die Blutentnahme zwecks Durchführung des HIV- Tests gegeben hat und wenn es keine in Rechtsvorschriften vorgesehene Situation ist, in der man genannte Tätigkeiten ohne eine solche Einwilligung durchführen darf. Im Hinblick auf die Praxis in anderen Ländern wird z. B. folgendes Problem diskutiert: Darf man in der oben genannten Situation die Testuntersuchung durchführen, wenn der Betroffene in die Blutentnahme zu einem anderen Zweck einwilligte und wenn eine solche Untersuchung irgendwie zusätzlich, ohne sein Wissen und seine Akzeptanz, stattfindet? Unter vielen Meinungen zu diesem Problem scheint - so Szwarc - folgender Standpunkt besonders überzeugend zu sein. Da der Betroffene über die später durchgeführte Testuntersuchung nicht informiert wurde, soll angenommen werden, daß seine Einwilligung diese Untersuchung nicht umfaßte. Denn die Einwilligung zur Blutentnahme hatte in diesem Fall einen Fehler: sie war nicht vollkommen bewußt. Dieser Fehler allein beeinträchtigt allerdings die Wirksamkeit der Einwilligung zur Blutentnahme nicht, weil der Betroffene in die Blutentnahme eingewilligt und damit auch die Verletzung seiner körperlichen Unverletzlichkeit akzeptiert hat. Diese und weitere Untersuchungen der Blutprobe haben keinen Einfluß auf Ausmaß und Charakter der Verletzung des Rechtsgutes, das körperliche Unverletzlichkeit heißt. Eventuelle Illegalität der Untersuchung kann daher im Kontext der Verantwortlichkeit für Körperverletzung nicht behandelt werden. In einem solchen Fall könnte eventuell nur eine Straftat gegen die persönliche Freiheit des Menschen (im poln. Strafrecht eine Straftat gemäß Art. 167, bzw. Art. 246 des Strafgesetzbuches) in Frage kommen. Aber auch diese Strafverantwortlichkeit soll ausgeschlossen werden, insbesondere in den Fällen, in denen die früher nicht bewilligte Blutuntersuchung doch aus therapeutischen Gründen (z. B. wegen der Nichtfeststellung anderer Ursachen der Beschwerden beim Betroffenen) und nicht ausschließlich zur Feststellung der HIV-Infizierung vorgenommen wurde. Es sei denn, daß der Betroffene auch einen solchen Bluttest nachdrücklich verweigerte.
In dieser Situation wird die Meinung geäußert, eventuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Durchführung eines HIV-Tests ohne eine klare Einwilligung des Betroffenen sollte ausgeschlossen werden, insbesondere in folgenden Fällen: a) Der Patient, der unter bestimmten Beschwerden leidet, bittet um die Durchführung notwendiger Untersuchungen, die die Ursachen seiner Erkrankung aufklären sollten, oder akzeptiert sie zumindest. Er schließt dabei den HIV-Test nicht aus, so daß man von einer vermuteten Einwilligung in solche Untersuchungen sprechen kann. Ihre Durchführung hängt von den medizinischen Umständen ab.
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b) Die besprochene Untersuchung wird ohne einen eindeutigen Widerspruch des Betroffenen zu Heilzwecken im Rahmen einer routinemäßigen Voruntersuchung bei der Aufnahme ins Krankenhaus bzw. vor einer Operation durchgeführt. Es ist abschließend noch auf folgenden Umstand hinzuweisen. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Durchführung des HIV-Tests kann - neben den oben genannten Bedingungen einer legalen Durchführung der Testuntersuchung oder wenn diese Bedingungen nicht erfüllt wurden - auch auf Grund der Konstruktion über den Notstand ausgeschlossen werden, wenn die in Art. 23 des Strafgesetzbuches bestimmten Bedingungen erfüllt sind. 8. Raimo Lahti knüpfte an Herr Höpfels Beispiel an, in dem er Skandinavien als ein Beispiel der Länder erwähnte, in denen es problematisch sei, einen heimlichen HIV-Test strafrechtlich zu beurteilen. In Skandinavien, Finnland mitgerechnet, ist der Anteil des öffentlichen Sektors an der Gesundheitsfürsorge und Krankenpflege verhältnismäßig groß. Darum ist es auch verständlich - so Lahti -, daß die mögliche Sanktionierung des Pflegepersonals aufgrund jenes Fehlverhaltens meistens durch verwaltungsrechtliche Mittel - d. h. auf disziplinarischem Wege oder von der Aufsicht über die Berufsausübung - verdrängt wird. Das finnische Gesetz über die Stellung und Rechte des Patienten (Gesetz vom 17. August 1992, Nr. 785) gibt dieser Entwicklung Ausdruck: Die rechtliche Position des Patienten wurde durch dieses Gesetz deutlicher und verbindlicher geregelt als früher, aber das Gesetz läßt es offen und auf der ganzen Rechtsordnung beruhen, in welchen Fällen ein die neudefinierten Rechte des Patienten verletzendes Verhalten die Realisierung z. B. der strafrechtlichen, der schadensersatzrechtlichen oder der disziplinarischen Haftung nach sich zieht. Die Rolle der schadensersatzrechtlichen Haftung wurde durch das Gesetz über Patientenschäden (vom 25. Juli 1986, Nr. 585), das sich auf die objektive Verantwortlichkeit und obligatorische Haftpflichtversicherung stützt, akzentuiert.
Auch die finnische Rechtsordnung baut traditionell auf der Anerkennung der körperlichen Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts des Individuums auf. Die in Finnland aktuellen Gesetzesreformen, die die gehörigen Grundrechte in der Verfassung und die Tatbestände der Delikte gegen jene Rechtsgüter betreffen, bestärken - zusammen mit dem obengenannten Gesetz über die Stellung und Rechte des Patienten - noch diese Rechtslage. Dadurch sei es klar, daß die Pflicht, sich einem HIV-Antikörpertest zu unterziehen, auf der gesetzlichen Regelung oder einem entsprechenden Rechtfertigungsgrund basieren muß. Eine solche Gesetzesbestimmung ist im Gesetz über die strafprozessualen Zwangsmittel (vom 30. April 1987, Nr. 450, Kap. 5, § 11) enthalten, so daß eine Blutentnahme oder andere körperliche Untersuchung beim Beschuldigten erlaubt ist, wenn sie zur Ermittlung einer solchen Straftat nötig ist, für die als Mindeststrafe mehr als sechs Monate Gefängnis vorgeschrieben ist. Dem § 81 a StPO entsprechend darf ein derartiger Eingriff dem Betroffenen keinen nennenswerten Nachteil verursachen. Es ist nach Lahtis Ermessen nicht anzunehmen, daß die Blutprobe für einen HIV-Test in die9 AIDS und Strafrecht
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sem Sinne nachteilig bewertet würde oder daß sie dem nemo-tenetur-Grundsatz oder dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Anwendung der Zwangsmittel widerspreche. Lahti stellte in bezug auf den heimlichen HIV-Test als eine Diagnosemaßnahme fest, daß die Möglichkeit der strafrechtlichen Sanktionierung sehr begrenzt ist. Die Mißhandlungsbestimmungen sind im Kap. 21 (Neufassung im Gesetz vom 21. April 1995, Nr. 578) des finnischen Strafgesetzbuches von 1889 enthalten, und durch die Straftatbestände in diesem Kapitel "Verbrechen gegen Leben und Gesundheit" ist die körperliche Unversehrtheit nich vollständig geschützt. Es ist immerhin stratbar - abgesehen vom Gebrauch der körperlichen Gewalt -, einem anderen vorsätzlich Schmerzen zu zuzufügen (Kap. 21 § 5). Jedoch ist nach herrschender Auffassung die Stratbarkeit von ohne Einwilligung ausgeführten medizinischen Eingriffen als ein gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit gerichtetes Delikt - in typischen Fällen - verneint worden. Die Begründungen variieren von der einschränkenden Auslegung der Straftatbestände und deren Schutzobjekte (besonders sollte die Mißhandlung gegen die Gesundheit gerichtet sein) bis zu verschiedenen Rechtfertigungsgründen (besonders der Notstand des Kap. 3 § 10 im finn. StGB und die Pflichtenkollision).
In der Sanktionierung der Verletzungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung betonte Lahti die Bedeutung anderer Mittel als der gerade genannten Stratbestimmungen, u.a. Schadensersatz und verwaltungsrechtliche Sanktionen. Auch der Datenschutz und die Vorbeugung vor Diskriminierung seien wichtige Gebiete in der Verwirklichung der Rechte des HIV-Infizierten. Eine Beschwerde einer finnischen HIV-infizierten Person ist zur Prüfung in dem Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte. Nach dem Beschluß der Menschenrechtskommission (2. 12 1995) war Art. 8 EMRK (right to respect her private and family life) verletzt worden (Application No. 22009/93; Z against Finland); der Datenschutz dieser Person, die als Zeuge in einer Strafsache gegen ihren Mann gehört wurde, war nicht sachgemäß gesichert worden. Was die Vorbeugung vor Diskriminierung betrifft, so enthält das finn. StGB in dessen neuformulierten Stratbestimmungen (Kap. 11 § 9; Gesetz Nr. 578/95) u.a. ein Verbot, einen anderen in offensichtlich ungleichwertiger oder - im Verhältnis zu anderen - wesentlich schlechterer Stellung anzustellen, wenn dies aus (u.a.) gesundheitlichen Gründen geschieht.
9. Frank Höpfel bedankte sich zunächst für die reichhaltigen Diskussionsbeiträge, mit denen das Mosaik rechtsvergleichender Betrachtung erweitert und vertieft wurde. Die Beiträge bestätigen - so Höpfel - die Vielfalt der möglichen Ansätze zu einer juristischen Bewältigung der mit der Durchführung eines HIV-Tests verbundenen Probleme. Zunächst kam Herr Höpfel kurz auf die Erfassung der Fälle illegaler Testung zurück. Es hat sich gezeigt, daß die Heranziehung des Körperverletzungstatbestandes für solche Fälle - insbesondere dort, wo die Blutabnahme ohne einen diesbezügli-
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chen Vorsatz erfolgt - in verschiedenen Ländern unmöglich oder jedenfalls untunlich ist. Die Herren Koch, Janker und besonders am Ende auch Lahti haben in diesem Zusammenhang die wichtige Frage aufgeworfen, ob der Schutz der Selbstbestimmung auch mit anderen als spezifisch strafrechtlichen Mitteln erzielt werden könnte. Darüber wird sich in dem notwendigen internationalen Dialog - wie Herr Höpfel behauptet - eher ein Konsens finden lassen als über die Installierung eines bisher wenig verbreiteten medizinrechtlichen Straftatbestandes wie des - keineswegs problemlosen - § 110 öStGB. Auch in Österreich wären neue Lösungen diskutabel, zumal der Fragenkreis der Patientenrechte in letzter Zeit in Bewegung geraten ist. Der Weg der Entkriminalisierung, wie ihn das österreichische Medienrecht bei der Gestaltung der Ansprüche zum Schutz der Privatsphäre gegangen ist, deutet ja in dieselbe Richtung. Herr Koch habe zu Recht gemeint, daß die Fragen des Medizinrechts eng zusammenhängen und hat dazu auf die psychiatrische Untersuchung im Strafprozeß verwiesen. Höpfel weist im allgemeinen darauf hin, daß es dazu in den Prozeßordnungen der einzelnen Länder - mit Zweispurigkeit oder auch bei einspurigem System - häufig Sonderregelungen gibt. Sehen solche Regelungen bestimmte Eingriffsbefugnisse vor, so sind diese freilich in Anbetracht der grundrechtlichen Dimension der Fragestellung nicht ohne weiteres analogiefähig. Wenn Herr Höpfel sich für die Klärung der Frage, wann ein Verdächtiger im Strafprozeß zur Duldung einer Blutuntersuchung verpflichtet ist, auf den Nemo-tenetur-Grundsatz bezogen hat, so ausdrücklich nur für Rechtsordnungen, die keine klare Eingriffsbefugnis vorsehen. § 81a der deutschen Strafprozeßordnung schien ihm keine so ganz glatte Antwort zu geben. Aber eine Reihe von Wortmeldungen - am Ende auch von den Herren Geppert und W{lsek - hat ein allgemeines Problem der Deutung des Nemo-tenetur-Satzes aufgeworfen, zu dem auch Herr Höpfel kurz Stellung nahm: Es ist deutlich hervorgekommen, daß das österreichische Verständnis des Verbots eines Zwangs zur Selbstbelastung, wie es z. B. in der zitierten Verfassungsbestimmung über den Blutalkoholtest zum Ausdruck kommt, international nicht das herrschende ist. Ob man das Problem der Selbstbelastung nur auf Fälle von Geständniszwang oder aber auf ein weiteres Feld, in dem der Beschuldigte als sonstiges Beweismittel gegen sich selbst zur Debatte steht, beziehen will, hängt wohl- so Höpfel- von der ratio ab, die man dem Privileg gibt. Begründet man es damit, daß eine erzwungene Aussage die Gefahr eines Fehlurteils in sich birgt, so ist es nur konsequent, die Regel, wie etwa Herr Spinellis gemeint hat, auf die Herbeiführung von Aussagen zu beschränken, den Verdächtigen als Augenscheinsobjekt aber nach anderen Grundsätzen zu behandeln. Dies ist der Weg, der aus dem amerikanischen Verfassungsdenken geläufig ist. Verbindet man hingegen mit dem "privilege against self-incrimination" den Gedanken der Subjekts stellung des Beschuldigten ..:. Herr Schünemann hat mit seinem Rekurs auf die Menschenwürde selbst in diese Richtung gewiesen -, dann ist eine solche Beschränkung nicht selbstverständlich. 9"
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Rairno Lahti
Dennoch stehen wir hier wiederum vor dem Problem, dem sich - wie Herr Höpfel behauptet - jedes Bemühen um eine Rechtsharmomsierung gegenübersehen wird: daß man in der Suche nach einer sachgerechten Lösung nach Möglichkeit auf einem gemeinsamen Nenner aufzubauen trachten sollte. Für die weitere Erörterung der prozessualen Frage muß daher ein anderer als der von Herrn Höpfel gewählte Zugang bevorzugt werden. Dies böte vielleicht auch den Vorteil, daß man die Behandlung eines Zeugen leichter miterfassen kann. Nun aber noch zur Thematik der Ansteckungsdelikte selbst, die Herr Schünemann mit seinem Vorstoß zu einer privaten Verpflichtung, sich bei gegebenen Anhaltspunkten über eine mögliche Infektion testen zu lassen: Schon in seinen vorbereitenden "Diskussionsthesen" habe Herr Höpfel angemerkt, daß eine solche Sorgfaltspflicht nur in eng umgrenzten Fällen angenommen werden dürfte - so etwa, wenn die Witwe eines an AIDS Erkrankten wieder heiraten will. Die manchmal zu hörende Ansicht, eine zurückhaltende Position in dieser Frage würde dazu motivieren, den Test eben zu vermeiden, weil erst das Wissen um ein positives Testergebnis für eine ,,reasonable person" ganz bestimmte Sorgfaltspflichten auslöst, ist wohl - wie Herr Höpfel behauptet - zu pessimistisch. In der Motivationslage für oder gegen den Test dürften psychologisch ganz andere Dinge im Vordergrund stehen. Strafrechtsdogmatisch betrachtet, ergeben sich zudem an diesem Punkt Probleme, denen in diesem knappen Rahmen nicht ausreichend nachgegangen werden kann: Ist nicht eine vom möglicherweise riskanten Verhalten abgesetzte, vorverlagerte Handlungspflicht, wie sie Herr Schünemann annimmt, ein ungeeigneter Zurechnungspunkt, insbesondere wenn es um Verletzungsdelikte geht? Oder sollen wir uns die Unterlassung eines Tests und einen nachfolgenden gefährlichen Akt als Einheit vorstellen, so daß Risikoerhöhung (diagnostisches Fenster!) genügen würde? Das Recht wird sich - durchaus im Sinne der von Herrn Schünemann betonten Rationalität - einem potentiellen Opfer von HIV möglichst fürsorglich nähern müssen. Seine primäre Eigenschaft ist es nicht, ,,Ansteckungsherd" zu sein! Und man soll auch jede falsche Sicherheit, wie sie durch die Erwartung, der andere unterwerfe sich regelmäßig einem Test, genährt wird, vermeiden. Die vorrangig zu propagierende Vorsichtsmaßregel sollte daher weiterhin sein, sich selbst zu schützen (einschließlich der vernünftigen Idee, bei Eingehen einer Sexualbeziehung einen HIV-Test zu verlangen). Eine Reihe weiterer interessanter Fragen wurde in der Diskussion berührt, so das Problem des ärztlichen Notstandes. Dieses richtet sich stark nach der Existenz von Spezialbestimmungen in den einzelnen Rechtsordnungen. Die Klausel, die z. B. in § 11 0 öStGB enthalten ist, verlangt für eine eigenmächtige medizinische Maßnahme die unmittelbare Gefahr des Todes oder eines ernsten Nachteils für die Gesundheit des Patienten. Damit ist der Annahme von Notstand in den uns beschäftigenden Fällen praktisch der Boden entzogen. Herr Höpfel stellte abschließend fest, daß die Diskussion weitergehen muß. Eine Basis scheint jedenfalls geschaffen zu sein. Herr Höpfel bedankte sich herzlich bei allen Diskutanten, insbesondere bei Herrn Lahti als dem Vorsitzenden.
AIDS und strafrechtliche Probleme der Schweigepfficht Referat Von Dieter Meurer
I. Allgemeine Probleme ärztlicher Schweigepflicht Die ärztliche Schweigepflicht wirkt heute fast wie ein archaisches Rudiment, das, von Daten umspült, als jahrtausendealter Fels in der Brandung der Informationsflut des modemen Sozialstaates steht. Angesichts des häufig bis ins Detail gehenden Wissens, das staatliche Stellen über den Einzelnen sammeln, mutet es fast anachronistisch an, daß den Arzt heute zwar einerseits eine umfassende Aufklärungs- und Dokumentationspflicht trifft, er gleichwohl andererseits gehalten ist, jedes aus der Behandlung erlangte Wissen für sich zu behalten. Im Grundsatz uneingeschränkt gilt heute noch - oder besser, zu einem Zeitpunkt, in dem der Datenabgleich zwischen Arzt und öffentlichen oder staatlichen Stellen technisch noch problemloser zu bewerkstelligen wäre als früher: erst recht! - der auf den Eid des Hippokrates zurückgehende Kernsatz: "Was immer ich sehe und höre bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf...2
1. Übereinstimmende und divergierende Interessen zwischen Arzt, Patient, Dritten und der Allgemeinheit Mit der so formulierten Schweigepflicht des Arztes, die sich in ähnlicher Form in den jeweiligen Berufsordnungen findet, sind zunächst einmal die wesentlichen Interessen des Patienten und in zweiter Linie des Arztes und der Allgemeinheit angesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies so formuliert: "Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muß und darf erwarten, daß alles, was der Arzt im 1 Vgl. Schlund, Grundsätze ärztlicher Verschwiegenheit im Rahmen der Verkehrssicherheit, DAR 1995, 50 (54). 2 Zitiert nach Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 69 Rn. 1; eine Übersetzung des vollständigen Textes sowie andere Dokumente zur Ethik der Ärzte finden sich in: Troschke/Schmidt, Ärztliche Entscheidungskonflikte, Stuttgart 1983, S. 243 ff.
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Rahmen seiner Berufsausübung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unbefugter gelangt. ..3 Damit ist unmittelbar das Interesse des Patienten angesprochen, daß das, was er dem Arzt ja nicht völlig aus freien Stücken, sondern wegen der möglicherweise existentiellen - Bedrohung durch eine Krankheit offenbart, vom Arzt nicht weiterverbreitet wird. Mittelbar ist damit das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient betroffen. Zum nicht verschwiegenen Arzt hätte kein Patient Vertrauen, der Arzt würde sich selbst und der ganzen Ärzteschaft schaden. Von einem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient könnte schwerlich die Rede sein, wenn der Patient befürchten müßte, daß der Arzt vom Ergebnis der Untersuchung Dritte unterrichten würde. Denn dies könnte für den Patienten nicht nur unangenehm oder peinlich, sondern möglicherweise existenzgefährdend sein. So fahrt das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung in bezug auf die Schweigepflicht auch fort: "Nur so kann zwischen Arzt und Patient jenes Vertrauen entstehen, das zu den Grundvoraussetzungen ärztlichen Wirkens zählt. ..4 Diesen Interessen, nämlich des Patienten auf volle Wahrung seiner Privatsphäre und von Arzt und Patienten auf ein vertrauensvolles Verhältnis, stehen Interessen der Allgemeinheit und Dritter sowie auch Interessen des Arztes gegenüber. So sehr der Allgemeinheit daran gelegen ist, daß niemand sich vom Gang zum Arzt dadurch abhalten läßt, daß er Indiskretionen über seinen Gesundheitszustand zu befürchten hat, so sehr ist der Allgemeinheit daran gelegen, daß die Behandlung dokumentiert wird und nachprüfbar ist5 . Dieses Interesse ist jedoch mit dem Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen und dem Vertrauensverhältnis Arzt/Patient nicht vereinbar, so daß es ohne weiteres hinter der Schweigepflicht zurückzutreten hat. Ein größeres Gewicht kommt dem allgemeinen Interesse jedoch zu, sobald dem Arzt aus der Behandlung Umstände bekannt werden, die ihrerseits ein besonders starkes Interesse der Allgemeinheit begründen können: So z. B., wenn sich im Rahmen der Behandlung ergibt, daß der Patient an einer hochansteckenden, gefahrlichen Krankheit leidet6 , zum Führen eines Kfz ungeeignet7 oder gar ein Schwerverbrecher ist8 . Auch den konkreten Interessen individualisierbarer Dritter BVerfGE 32, 373 (379). BVerfGE 32, 373 (380). - Das Interesse der Ärzteschaft an einem vertrauensvollen Arzt! Patient-Verhältnis deckt sich mit dem Interesse der Allgemeinheit, daß eine medizinisch, organisatorisch und finanziell mögliche Heilbehandlung von jedem Gesellschaftsmitglied möglichst repressionsfrei wahrgenommen werden kann. Es entspricht dem ethischen Grundkonsens unserer Gesellschaft, daß jedem Kranken nach Kräften geholfen werden soll und es liegt im Interesse der Allgemeinheit, daß Epedemien auf diese Weise wirksam erkannt und eingedämmt werden können. S Dieses Interesse besteht aus verschiedenen Gründen: Vor allem liegt es im allgemeinen Interesse, über das Auftreten von Krankheiten informiert zu sein; aber es soll auch die Behandlung auf Fehler und die Abrechnung der Leistungen nachkontrollierbar sein. 6 In diesen Fällen entstehen im allgemeinen die Meldepflichten nach dem BSeuchG, die die Schweigepflicht begrenzen. 7 Zum Recht der Straßenverkehrsbehörden, vom Patienten eine Schweigepflichtentbindung zu verlangen, vgl. OVG Weimar, DAR 1995, 80 f. 3
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kann die ärztliche Schweigepflicht zuwider laufen. So insbesondere, wenn der Arzt im Rahmen der Behandlung erkennt, daß der Patient, aus welchen Gründen auch immer, für diese eine Gefahr darstellt oder darstellen könnte. Zumindest in dem Fall, daß sich dem Arzt zeigt, daß der Patient nicht bereit oder in der Lage ist, die Gefahr zu beseitigen oder wenigstens Dritten diese Gefahr mitzuteilen, geht ihr mutmaßliches Interesse dahirt, vom Arzt über die Gefahr aufgeklärt oder gewarnt zu werden. Aber nicht nur Interessen der Allgemeinheit und Dritter können konträr zur Schweigepflicht stehen. Der Arzt selbst kann ein Interesse daran haben, diese zu brechen. Unzweifelhaft verdrängt von der Schweigepflicht wird allerdings das schlichte Kommunikationsinteresse des Arztes; das verständliche Bedürfnis eines jeden, sich über seine täglichen Arbeitserfahrungen mit anderen auszutauschen, muß insoweit zurücktreten. Dies gilt selbst gegenüber Berufskollegen, so daß der Arzt die ihm über einen Patienten bekannt gewordenen Umstände auch einem Kollegen nicht mitteilen darf, von begründeten Ausnahmefallen, etwa der ärztlichen Konsultation 9 , abgesehen. Allerdings gibt es Situationen, in denen das Interesse des Arztes an Mitteilung seiner Erkenntnisse an andere ein ungleich größeres Gewicht hat. Dies gilt in den denkbaren, aber sicherlich seltenen Fällen, daß durch die Krankheit des Patienten der Arzt selbst bedroht ist; diese Bedrohung kann etwa von hoher Ansteckungsgefahr oder einer psychischen Erkrankung mit Neigung zur Gewalttätigkeit des Patienten herrühren. In solchen Fällen hat der Arzt natürlich ein elementares eigenes Interesse daran, seinen ärztlichen Befund sofort Dritten mitzuteilen, um Gefährdungen für sich zu verhindem lO • Ein gesteigertes Interesse an einer Aussage hat der Arzt auch dann, wenn er sich in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren etwa seinerseits zur Rechtfertigung zu schnellen Fahrens auf rechtfertigenden Notstand berufen will 11 • Vor allem aber deckt sich das Interesse des Arztes mit denen der Allgemeinheit - und dieser Fall ist in der Praxis bedeutsam -, wenn vom Patienten unmittelbar Gefahren für Leib, Leben oder erhebliche Vermögenswerte Dritter ausgehen, mögen diese Dritten nun individualisierbar sein (Familienangehörige etc.) oder nicht (Personen, mit denen der Patient zufällig in Kontakt kommt). Schließlich kann das Interesse des Arztes darauf gerichtet sein, sich mitzuteilen, wenn die Anamnese des Patienten für die Medizin allgemein bedeutungsvoll ist 12 oder im Einzelfall eine unverzügliche Unterrich8 In ExtremfäHen kann es hier zu einer Kollision gesetzlich geforderter Verhaltenspflichten kommen: Einerseits die Schweigepflicht aus § 203 StGB, andererseits die Anzeigepflicht aus § 138 StGB. Die hinter beiden Normen stehenden Verhaltenserwartungen lassen sich dann nicht vereinbaren, aHerdings überwiegt grundsätzlich die Pflicht aus § 138 StGB, wie sich aus § 139 StGB ergibt. Auch wenn § 139 Abs. 3 StGB insoweit für Ärzte (und Rechtsanwälte und Verteidiger) eine Einschränkung aufsteHt, geht die Anzeigepflicht - zumindest in ExtremfäHen - der Schweigepflicht vor. 9 Hierzu Laufs, Arztrecht, Rn. 305 ff. 10 Eine Einhaltung der Schweigepflicht in diesen FäHen wird man vom Arzt unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit jedenfal1s dann ablehnen müssen, wenn die Gefahr nicht nur eine abstrakte, sondern ein konkrete ist. 11 Dazu neuestens Schrader, Ärztliche Patientenfahrt und Notstand, DAR 1995, 84 ff.
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tung der Allgeme~nheit geboten erscheint, etwa dann, wenn sich ein begründeter Verdacht auf schwere Nebenwirkungen eines Medikamentes zeigt. 2. Das berufliche Selbstverständnis des Arztes
Trotz aller Veränderungen in der Medizin "gilt doch die Schweigepflicht als eine der höchsten ärztlichen Standes- und Rechtspflichten fort"I3; ,,im Zeitalter fortschreitender technischer Vernetzung und umfangreicher Datenspeicherung" habe sie sogar an Bedeutung gewonnen 14• Diese Schweigepflicht wird vom Arzt zu allererst als ein Recht zum Schweigen begriffen, soweit es keine gesetzliche Pflicht zur Offenbarung von Erkenntnissen gibt 15 . Allerdings gehen die Ärzte auch davon aus, daß es in begründeten Fällen ein Recht des Arztes gibt, nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Schweigepflicht zu brechen, wenn der Arzt zunächst gewissenhaft widerstreitende Interessen abgewogen hat. Denn jenseits dieser gesetzlichen Offenbarungspflichten sieht sich der Arzt den geschilderten Interessen der Allgemeinheit oder Dritter gegenüber, die von ihm erwarten, daß er sein Schweigerecht in begründeten Ausnahmefallen bricht. Das ärztliche Selbstverständnis geht jedoch dahin, daß es neben den gesetzlichen Meldepflichten eine Pflicht, bestimmte Umstände zu offenbaren oder gar anzuzeigen, nicht gibt und nicht geben darf16 • Folgerichtig wird es abgelehnt, daß der Arzt in besonderen Fällen, etwa zum Schutz des Patienten, eine Pflicht haben soll, sein Schweigerecht zu brechen l7 . Neben diesen ethisch begründeten Erwägungen zum beruflichen Selbstverständnis des Arztes und der hohen Bedeutung des Vertrauensverhältnisses Arzt/Patient für die allgemeine Gesundheitsvorsorge - niemand soll den Gang zum Arzt aus Angst vor Indiskretionen scheuen - sollte man freilich hier auch erwähnen, daß eine weitgehende ärztliche Schweigepflicht und das korresponiderende Schweigerecht den wirtschaftlichen Interessen der Ärzteschaft entspricht. Ärztliche Heilbehandlung hängt eben oft auch mit sehr viel Geld zusammen; auch die 12 Zum Erfordernis der Anonymisierung wissenschaftlicher Mitteilungen: Laufs, Arztrecht, Rn. 307. 13 Laufs, Arztrecht, 4. Aufl. 1988, Rn. 295. 14 Schlund DAR 1995,50 (54). 15 Beispiele für gesetzliche Meldepflichten vgl. Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 72 Rn. 3. 16 Laufs, Arztrecht, Rn. 300. - Eine anerkannte Ausnahme hiervon, nämlich eine Mitteilungspflicht, kann dem Arzt aus dem Gesichtspunkt einer GarantensteIlung dann erwachsen, wenn er durch gefahrbegründendes Vorverhalten (Ingerenz), etwa eine falsche Behandlung des Patienten, erst selbst die Gefahr für Dritte geschaffen hat, vgl. Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 150 Rn. 10. 17 So BGH NJW 1983,350: Ein Arzt hatte seinen dringenden Verdacht des Vorliegens einer Eileiterschwangerschaft auf ausdrücklichen, mehrfachen Wunsch der Patientin weder deren Mutter noch anderen mitgeteilt; wie der Arzt befürchtet hatte, starb die Patientin kurz darauf. Der BGH hatte im Verhalten des Arztes eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) gesehen.
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ärztlichen Dienstleistungen sind ein Wirtschaftsmarkt. Eine umfassende Schweigepflicht des Arztes und das korrespondierende Aussageverweigerungsrecht ermöglichen auch eine freiere wirtschaftliche Betätigung 18 .
3. Das Rechtsgut ärztlicher Schweigepflicht Das in Art. 2 Abs. 1 i.Y.m. Art. 1 GG statuierte allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet das Recht eines jeden auf Geheimhaltung seiner Privatsphäre. Daher obliegt es jedem einzelnen zu entscheiden, wem, wann und in welcher Form er Informationen über sich mitteilt. Dieses vom Bundesverfassungsgericht als ,,Recht auf informationelle Selbstbestimmung,,19 bezeichnete Grundrecht steht im Zentrum des von § 203 StGB vermittelten Rechtsgüterschutzes. Allerdings wird daneben, zum Teil untergeordnet20 , zum Teil gleichberechtigt 21 , das Interesse der Allgemeinheit in ihrem Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen des Arztberufes als Rechtsgut angesehen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Interpretation dem Kernpunkt der ärztlichen Schweigepflicht gerecht wird: Immerhin ist zu bedenken, daß der Patient selbst die vollständige Verfügungsgewalt über die Geheimhaltung seines Privatbereichs und damit über die Schweigepflicht des Arztes hat. Indem er den Arzt bitten kann, den bei ihm festgestellten Befund anderen mitzuteilen oder indem er selbst anderen diese Mitteilung macht, hat er es in der Hand, die ärztliche Schweigepflicht vollständig zu beseitigen. Denn wo kein Geheimnis ist, bedarf es auch keiner Geheimhaltung. Die angesprochenen Interessen der Allgemeinheit ebenfalls als Rechtsgut des § 203 StOB anzusehen, ist mit dem so weitgehenden Individualrecht des Patienten schwerlich vereinbar. Außerdem müßte zumindest ein allgemeines Interesse feststellbar sein, daß jeder Patient seinen Arzt nur in begründeten Ausnahmefällen ermächtigen soll, sein Wissen anderen zu offenbaren. Eine solche allgemeine Erwartung gibt es indessen nicht und sie liegt § 203 StGB nicht zugrunde. Es ist daher überzeugender, den durch die ärztliche Schweigepflicht vermittelten Schutz allgemeiner Interessen und berufsständischer Interessen der Ärzteschaft nur als beachtenswerten Reflex der ärztlichen Schweigepflicht zu begreifen. 18 Arzt, in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH I, 2. Aufl., Rn. 501, weist darauf hin, daß es bei der Novellierung des § 300 a.F. zum heutigen § 203 StGB zu dem kuriosen Drängen verschiedener Berufsgruppen kam, in den Kreis der gern. § 203 StGB mit Strafe Bedrohten einbezogen zu werden. Er zitiert insoweit Jescheck aus der Diskussion in der großen Strafrechtskommission, der das Streben vieler Berufsgruppen, zu den in § 203 StGB genannten Berufsgruppen zu zählen, auf die privaten wirtschaftlichen Interessen der betreffenden Gruppen zurückgeführt habe. 19 BVerfGE 65, 41 ff.; Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, 1992, S. 216 f., spricht vom ,Jnformationsbeherrschungsrecht" des Patienten. 20 Vgl. Dreher/Tröndle § 203 Rn. I m.w.N.; auch Meurer, Ärztliche Schweigepflicht und Verkehrssicherheit, 14. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1976, S. 301 ff. 21 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner § 203 Rn. 3 m.w.N.
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4. Entwicklungen der ärztlichen Schweigepflicht durch Ausformung des Datenschutzrechts
Zu Beginn war von der Informationsflut des modemen Sozialstaates die Rede, in der als Fels die ärztliche Schweigepflicht steht. Das Datenschutzrecht könnte man entsprechend als System von Hochwasserdämmen begreifen, die den überschwappenden Fluten von Informationen Einhalt gebieten und sie interessengerecht kanalisieren sollen. Die Entwicklung des Datenschutzrechtes hat insofern keine Weiterungen der ärztlichen Schweigepflicht zur Folge gehabt, sondern war um den Bau von Dämmen bemüht. Es sind, wie bereits angesprochen, eine ganze Reihe von gesetzlichen Auskunftspflichten des Arztes entwickelt worden, die den absoluten Anspruch der Reichweite der ärztlichen Schweigepflicht in einigen Punkten relativiert haben 22 . Gleichwohl hat die Entwicklung des Datenschutzrechtes und die intensive Befassung höchstrichterlicher Rechtsprechung mit dieser Frage dazu geführt, daß das durch die ärztliche Schweigepflicht verbürgte Recht des Einzelnen auf Wahrung seiner informationellen Selbstbestimmung in seinem hohen Stellenwert bestätigt worden ist. Daher ist ihm ein größeres Gewicht zugemessen worden als dem allumfassenden Informationsinteresse der Institutionen im modemen Sozialstaat.
5. Besondere Grundsätze bei AIDS?
Angesichts des Auftretens der Immunschwächekrankheit AIDS stellt sich die Frage, ob die dargestellten, hergebrachten Grundsätze der ärztlichen Schweigepflicht und des ärztlichen Selbstverständnisses über das ärztliche Recht, die Verschwiegenheit im Einzelfall nach gewissenhafter Abwägung zu durchbrechen, auf den Umgang mit AIDS zu übertragen sind. Immerhin sieht sich der Arzt trotz der Nichtaufnahme von AIDS in den Katalog der anzeigepflichtigen Erkrankungen i. S. d. Bundesseuchengesetzes einem zwar abstrakten, aber existenziellen Informationsbedürfnis der Allgemeinheit und potentiell gefährdeter Dritter gegenüber: Infolge der von AIDS ausgehenden tödlichen Gefahr, die bisher nach einer Infektion nicht abgewendet werden kann23 , steht die ärztliche Schweigepflicht dem Interesse, eine solche Krankheit unter allen Umständen zu vermeiden, gegenüber. Daher stellt sich die Frage, ob insoweit die Schweigepflicht nicht in ihr Gegenteil, einer Aufklärungspflicht gegenüber Dritten, verkehrt werden muß.
22 Beispiele bei Schlund in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 76 Rn. 412. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß durch solche Ausnahmetatbestände deutlich wird, daß dem Arzt kein großer Spielraum bei der Frage bleiben kann, ob die Schweigepflicht im Einzelfall aufgrund wichtiger entgegenstehender Interessen gebrochen werden darf. 23 Zum Krankheitsverlaufbei AIDS: Buchborn, MedR 1987, 260 ff.
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6. Die strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung ärztlicher Schweigepflicht in Gesetzgebung und Praxis Die einschlägige Sanktionsnorm der Verletzung ärztlicher Schweigepflicht ist § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Danach wird das Offenbaren eines fremden Geheimnisses durch einen Arzt mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Diese seit dem 1. Januar 1975 geltende Vorschrift hat den vorher geltenden § 300 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F. abgelöst, aber inhaltlich in bezug auf die Ärzte nicht wesentlich verändert. Eine Erweiterung fand der Straftatbestand allerdings insoweit, als in § 203 Abs. 2 Satz 2 versucht worden ist, zuvor im Nebenstrafrecht verstreute Datenschutztatbestände durch eine umfassende Regelung zu ersetzen. Diese Regelung, von der die Ärzte nur am Rande berührt sind, wird als uferlos kritisiert und festgestellt, daß man die Strafdrohung info1ge ihrer Unbestimmtheit "nicht ernst nimmt,,24. In der Praxis sind Strafverfahren wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht selten25 ; eine größere Bedeutung kommt freilich dem teilweise korrespondierenden Aussageverweigerungsrecht gern. § 53 StPO zu 26 .
11. Die tatbestandliche Beschreibung der Verletzung ärztlicher Schweigepflicht J. Objektive Tatbestandsmerkmale
§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB will mit seiner Aufzählung zwar einerseits die heilberuflich Tätigen sehr weit erfassen, indem auf die staatliche Regelung einer Ausbildung, die der Berufsausübung oder der Berufsbezeichnungsführung vorausgehen muß, abgestellt wird; andererseits werden die Heilpraktiker, die nach dem Heilpraktikergesetz nur mit Genehmigung tätig werden dürfen, von der Regelung nicht erfaßt. Neben den Ärzten sind also vor allem Krankenschwestern und -pfleger, Krankenpflegehelferinnen und -helfer sowie Hebammen und Entbindungspfleger zu nennen 27 . Hinzu kommen über § 203 Abs. 3 StGB die berufsmäßig tätigen Gehilfen und die in Ausbildung befindlichen Personen, die den Ärzten bzw. den anderen Personen zur Seite stehen. Nach dem Gesetzeswortlaut kann man zweifeln, ob unter den berufsmäßig Tatigen auch solche Gehilfen zu erfassen sind, die nur gelegentlich als Helfer tätig sind. Richtigerweise wird man den Tatbestand, der dem Schutz der Privatsphäre des Patienten dient, dahin zu interpretieren haben, daß die Arzt, in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH 1,2. Aufl., Rn. 517. Vgl. etwa LG Braunschweig NJW 1990,720; die Entscheidung betrifft allerdings eine zivilrechtliche Schadensersatzklage. Vgl. auch Wagner, JZ 1987,705 (707 f.). 26 Zum engen Zusammenhang zwischen der Strafdrohung des § 203 StGB und dem Zeugnisverweigerungsrecht gern. §§ 53, 53a StPO vgl. Arzt, in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH I, 2. Aufl., Rn. 500 f. 27 Zahlreiche weitere einschlägige Heilberufe sind bei Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl., Rn. 14 zu § 203 und Rn. 2 zu § 132a genannt. 24
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aushilfsweise tätigen Gehilfen ebenfalls voll von der Schweigepflicht erfaßt sind. Denn ein Patient kann möglicherweise nicht einmal erkennen, ob es sich um ,,reguläre" oder ,,irreguläre" Gehilfen des Arztes handelt28 . Kernbegriff des objektiven Tatbestandes des § 203 StGB ist das "Geheimnis". Geheimnisse sind nach allgemeiner Definition Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und deren Verbreitung der Geheimnisträger aus einem verständlichen Interesse heraus verhindern will 29 • Dabei entscheidet jedoch nicht allein der Geheimhaltungswille, sondern richtigerweise ist auch die objektive Geheimhaltungswürdigkeit einzubeziehen 3o • Aus dem Kontext ergibt sich, daß dieses Geheimnis auf eine Person bezogen sein muß; dies dürfte bei den meisten denkbaren Fallkonstellationen der ärztlichen Schweigepflicht unproblematisch sein, da Krankheitsbefunde immer auf die Patienten bezogen sind. Keineswegs muß es sich aber um Erkenntnisse über eine Erkrankung handeln, vielmehr sind selbstverständlich auch andere Geheimnisse, die der Patient dem Arzt im Rahmen der Behandlung mitteilt, von der Schweigepflicht betroffen, sofern es sich wie bereits ausgeführt - um Tatsachen handelt, bei denen der Arzt davon ausgehen muß, daß der Patient sie nicht verbreitet wissen will. Neben den fremden Geheimnissen sind über die wenig praktikable Vorschrift des Abs. 2 S. 2 auch ,,Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse eines anderen" erfaßt; relevant ist dies jedoch nur für die in Abs. 2 genannten Personen, so daß der Arzt nicht hierunter fällt. Die Art der Kenntniserlangung des Geheimnises ist unbedeutend, sofern die Kenntnis in ärztlicher Funktion erlangt wurde. Dies muß nicht unmittelbar im Rahmen ärztlicher Behandlung geschehen sein; es genügt, wenn zwischen der Kenntniserlangung und dem Beruf ein innerer Zusammenhang besteht, die Information z. B. im Rahmen einer Konsultation von einem Dritten erlangt wurde. Die Tathandlung des Geheimnisbruchs ist das unbefugt Offenbaren. Offenbaren ist jedwede Art von Mitteilung des Geheimnisses an einen Dritten. Die Form der Mitteilung ist unerheblich; Adressat der Mitteilung können auch Personen sein, die ihrerseits Ärzte oder aus anderen Gründen schweigepflichtig sind. Voraussetzung ist allerdings, daß der Dritte die ihm mitgeteilte Tatsache nicht schon kennt, da ihm das Geheimnis ansonsten nicht mehr offenbart werden kann. Insofern käme nur ein nicht unter Strafe gestellter - Versuch in Betracht. Unbefugt ist das Offenbaren, wenn der Schweigepflichtige sich nicht auf einen Erlaubnistatbestand berufen kann. Hier kommt die (tatbestandsausschließende ) Einwilligung und die mutmaßliche Einwilligung des Patienten in Betracht. Unproblematisch ist die Befugnis auch zu bejahen, wenn der Arzt eine Mitteilungspflicht hat. Abgrenzungsprobleme werden allerdings aufgeworfen, wenn ein Arzt in einem Beamten- oder Dienstverhältnis zu einem Arbeitgeber steht. Nach überwie28 29 30
Zum Streit vgl. Samson, in: SK, StGB, § 203 Rn. 15 m.w.N. OLG Schleswig NJW 1985, 1090 (1091) m.w.N. Vgl. Lackner, § 203, Rn. 14.
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gender Meinung gibt diesen Personen ihre dienstliche Tätigkeit kein besonderes Recht zur Weitergabe von Informationen 31 •
2. Besondere tatbestandliche Einschränkungen z. B. gegenüber Kollegen, ärztlichen Verrechnungsstellen und Versicherungen
Es ist bereits mehrfach dargelegt worden, daß die Schweigepflicht auch gegenüber Kollegen gilt, die Weitergabe von Behandlungserkenntnissen also auch in diesem Rahmen unbefugt ist. Allerdings sind hier Ausnahmen zu machen. Liegt etwa eine Erkrankung vor, bei der der Arzt für den Patienten erkennbar eine Entscheidung über die angezeigte Behandlung zu treffen hat, so ist von einem mutmaßlichen Einverständnis des Patienten auszugehen, daß der Arzt eine eventuelle Therapie mit Kollegen bespricht. Überhaupt wird jede übliche und im Rahmen des Behandlungsvertrages der richtigen Behandlung dienende Weitergabe von Informationen durch den Arzt an andere Ärzte vom mutmaßlichen Willen des Patienten gedeckt sein, sofern der Arzt nur so viel individualisierendes Wissen über den Patienten weitergibt, wie zur effizienten Konsultation eines Kollegen erforderlich ist. Die Fragestellung der Berechtigung der Weitergabe von Behandlungsdaten an ärztliche Verrechnungsstellen hat durch die Entwicklung der Rechtsprechung und die inzwischen vorgenommene Anpassung der Praxis weitgehend an Relevanz verloren. Die Ärzte lassen sich formularmäßig in von der Rechtsprechung gebilligter Weise von ihren Patienten das Recht einräumen, ärztlichen Verrechnungsstellen Daten über die Behandlung insoweit zukommen zu lassen, daß eine ordnungsgemäße Liquidation der Behandlung möglich ist. Ähnliches gilt gegenüber Versicherungen; auch hier werden die Ärzte formularmäßig von ihrer Schweigepflicht insoweit entbunden, als die Versicherungen im Rahmen des Versicherungsvertrages bestimmte Auskünfte der Ärzte einholen dürfen. Liegen solche Entbindungserklärungen nicht vor, handelt es sich um eine unbefugte Weitergabe von Daten.
3. Weitere Einschränkungen in besonderen Ver:rragsbereichen
z. B. gegenüber dem Betriebsarzt und bei Einstellungsuntersuchungen Aus der Stellung der Amts- und Vertrauensärzte und der Betriebsärzte ergibt sich von selbst, daß hier besondere Mitteilungsrechte des Arztes eingreifen. Beim Amts- und Vertrauensarzt folgt die Befugnis des Arztes zur Offenbarung seiner Erkenntnisse, vor allem was den Umfang der Mitteilungsbefugnis betrifft, aus der Natur des jeweiligen Verfahrens, in dem er tätig geworden ise 2 . Die Aufgaben des Betriebsarztes bestimmen sich nach § 3 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG). Die Be31 32
Vgl. Lackner, § 203, Rn. 20 m.w.N. LK-Jähnke, § 203 Rn. 98.
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fugnis zur Offenbarung der ärztlichen Erkenntnisse gegenüber dem Arbeitgeber sind jedoch stark eingeschränkt. Der Betriebsarzt darf dem Arbeitgeber insoweit nur mitteilen, ob die Untersuchung eine Arbeitsfähigkeit ergeben hat. Über den einzelnen Befund darf der Arbeitgeber ohne Einverständnis des Arbeitnehmers nicht unterrichtet werden 33 .
4. Zulässigkeit einer allgemeinen vertraglichen Einschränkung der Schweigepflicht bei AIDS
Die ärztliche Schweigepflicht kann im Rahmen eines Behandlungsvertrages grundsätzlich eingeschränkt sein. Da der Arzt einen Patienten umfassend zu beraten hat, kann eine Interessenkollision auftreten, wenn der Arzt mehrere Patienten behandelt, die miteinander Kontakt haben. Stellt der Arzt anläßlich einer Untersuchung bei einem Patienten eine AIDS-Infektion fest, so kann ihm daraus die Pflicht erwachsen, einen anderen Patienten auf diese Erkrankung hinzuweisen, wenn der Arzt z. B. weiß, daß beide Patienten miteinander Geschlechtsverkehr haben oder dasselbe "Spritzbesteck" beim Heroinkonsum benutzen. In solchen Konstellationen kann die vertragliche Pflicht des Arztes zur umfassenden Beratung des einen Patienten mit der Schweigepflicht gegenüber den Erkenntnissen aus der Behandlung des anderen Patienten kollidieren. Man wird hier jedoch von einer Pflicht zur Aufklärung des ebenfalls vom Arzt behandelten nicht infizierten Patienten ausgehen müssen 34 . Fraglich ist, ob es zulässig wäre, im Verhältnis Arzt/Patient generell vertraglich zu vereinbaren, daß der Arzt von der Schweigepflicht in bezug auf AIDS entbunden ist. Zwar ist dargelegt worden, daß nach hier vertretener Ansicht das Rechtsgut des § 203 StGB in dem Recht auf Erhaltung einer Privatsphäre zu sehen ist. Grundsätzlich kann sich jeder Patient dieses Rechtes begeben, so daß im Rahmen der Privatautonomie auch vertragliche Vereinbarungen zulässig sind, mit denen Ärzte von der Schweigepflicht entbunden werden. Zu bedenken ist jedoch, daß ein genereller formularmäßiger Ausschluß der Schweigepflicht in bezug auf eine HIV-Infektion als Verstoß gegen § 9 AGBG unwirksam ist. Aber auch abgesehen davon stieße eine solche vertragliche Vereinbarung auf rechtliche Bedenken. Zu erwägen ist nämlich, daß es sich um ein sittenwidriges Rechtsgeschäft handeln könnte, weil es das strafrechtliche Gebot der Schweigepflicht aushebein würde. Die Zulässigkeit einer Regelung hängt davon ab, wie sie im einzelnen formuliert ist. Würde dem Arzt die Möglichkeit eröffnet, in bestimmten Fällen nahe Angehörige des Patienten zu benachrichtigen, so wäre ein Verstoß gegen die guten Sitten zweifelhaft. In der medizinischen Praxis wird ein solcher Weg über die Einräumung eines Mitteilungsrechtes des Arztes auf vertraglicher Basis nicht gegangen. Jedenfalls wird in 33 34
Vgl. Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, § 74 Rn. 1 ff. Vgl. Eberbach, IR 1986, S. 233.
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der Literatur nicht hierüber berichtet. Der Grund dürfte darin zu sehen sein, daß nach dem geschilderten ärztlichen Selbstverständnis der Arzt in begründeten Fällen das Recht in Anspruch nimmt, andere über die Infektion zu informieren; ansonsten besteht für die Ärzteschaft weder aus ethischen Motiven noch aus wirtschaftlichen Gründen heraus ein Interesse daran, die Schweigepflicht einzuschränken.
5. Ärztliche Schweigepflicht in besonderen Gewaltverhältnissen
z. B. der Untersuchungshaft, dem Strafvollzug 35 und dem Militär In allen drei genannten besonderen Gewaltverhältnissen tritt der Arzt dem Patienten in dem schon beschriebenen besonderen Verhältnis gegenüber, daß er für eine Institution arbeitet, zum anderen aber dem Patienten als Arzt dienen soll. Im Grundsatz gilt die ärztliche Schweigepflicht in diesen Verhältnissen uneingeschränkt. Als Befugnis des Arztes zur Offenbarung seiner Erkenntnisse kommt hier ebenfalls zunächst die Einwilligung in Betracht. Allerdings sind die Erwägungen, mit denen eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten bejaht oder verneint werden kann, dahin zu erweitern, daß einerseits zu beachten ist, daß der Patient sich zwar häufig freiwillig untersuchen läßt, aber den betreffenden Arzt nicht frei wählen kann. Andererseits ist zu bedenken, daß Anstaltsleitung wie Vorgesetzte ihrerseits zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, so daß der Arzt, wenn er Erkenntnisse weiterleitet, diese nicht der Öffentlichkeit, sondern nur innerhalb der Institutionenhierarchie preisgibt36 . Daneben ist zu beachten, daß Ärzte in diesen Einrichtungen eine besondere Verantwortung für alle Gefangenen bzw. für die Soldaten trifft. So ist es etwa ein offenes Geheimnis, daß in vielen Strafanstalten Rauschgift konsumiert wird. Von AIDS-Infizierten können daher große Gefahren für Mithäftlinge ausgehen, wenn z. B. gemeinsam Spritzen verwendet werden. Gleiche Überlegungen greifen, wenn es innerhalb der genannten Institutionen zu Geschlechtsverkehr kommt. Auch hier sieht sich der Arzt einer besonderen Verantwortung nicht nur dem Patienten, sondern allen Personen innerhalb dieses besonderen Gewaltverhältnisses gegenüber. Richtig wird daher angenommen, daß dem Arzt bei solchen Fällen der Interessenkollision das Recht nicht abgesprochen werden kann, seine Erkenntnisse über entsprechende Erkrankungen weiterzugeben, damit den Besonderheiten innerhalb des besonderen Gewaltverhältnisses Rechnung getragen werden kann und Schutzmaßnahmen für Nichtbetroffene eingeleitet werden können.
6. Einwilligung des Patienten, Voraussetzungen, Reichweite
Unabhängig vom allgemeinen dogmatischen Streit um die richtige Einordnung der Einwilligung als tatbestandsausschließend oder als rechtfertigend 37 ist im Rah35 36
Speziell zu "AIDS im Strafvollzug" Arloth, MedR 1986, 295 ff. Vgl. Arlotb, MedR 1986, S. 295 (297).
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men des § 203 StGB davon auszugehen, daß die Einwilligung des Patienten ein tatbestandsmäßiges Verhalten des Arztes ausschließt. Willigt der Patient in die Weitergabe eines Geheimnisses ein, so wird sein Recht auf seine Privatshäre überhaupt nicht tangiert, sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht verletzt. Daher kann von einem Interessenverlust, wie von der Gegenmeinung behauptet38 , keine Rede sein39 . Die Einwilligung macht eine ansonsten unbefugte Offenbarung zu einer befugten. An ihre Gültigkeit sind die allgemeinen Anforderungen an eine Einwilligung zu stellen40 . Insbesondere muß der Patient erkannt haben, in was er einwilligt. Dies hängt eng zusammen mit der Frage, wie weit das Offenbarungsrecht des Arztes im Einzelfall reicht. Es ist schon angesprochen worden, daß eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten auf jeden Fall dahin geht, daß der Arzt die Krankheit so weit anderen offenbart (Kollegen), daß er die zu treffende Behandlungsentscheidung sorgfältig erwägen kann. Dies beinhaltet dann natürlich nicht, daß der Arzt befugt ist, weiteren Personen von seinen Erkenntnissen Mitteilung zu machen. Eine allgemein erklärte ausdrückliche Einwilligung wie die mutmaßliche Einwilligung des Patienten kann immer nur insoweit einen Befugnistatbestand ergeben, wie nach den verständigen Interessen des Patienten - um dessen Rechtsgut es hier geht - der Arzt von seiner Schweigepflicht entbunden werden soll.
111. RechtfertigungsgrÜDde der Verletzung ärztlicher Schweigepflicht bei AIDS 1. Offenbarungsbefugnis aufgrund rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) und aufgrund Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB analog)
a) Allgemeine Offenbarungsbefugnis des Arztes gegenüber Gesundheitsbehörden und bei überwiegenden Allgemeininteressen Eine auf überwiegende Allgemeininteressen gestützte Offenbarung von Untersuchungsergebnissen gegenüber Gesundheitsbehörden über die allgemeinen Meldepflichten hinaus läßt sich nach hergebrachter Dogmatik nur in engen Grenzen unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes gern. § 34 StGB rechtfertigen. Dies setzt eine gegenwärtige Gefahrenlage für eines der in § 34 StGB bestimmten Rechtsgüter, eine konkrete Interessenkollision und ein Überwiegen der bedrohten Interessen voraus. Auf diesen Rechtfertigungsgrund läßt sich daher ein allgemeines Offenbarungsrecht des Arztes nicht stützen, sondern es ist in jedem Fall eine Vgl. Lackner, StGB, 20 Auflage 1993, Vor § 32 Rn. 10 mwN. Lackner, Vor § 210 Rn. 2 m.w.N. 39 Zutreffend Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Auflage 1991, § 203 Rn. 21 f. 40 Vgl. allgemein hierzu Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Auflage 1991, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 29 ff. 37 38
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Einzelabwägung der in der konkreten Situation einander gegenüber stehenden Interessen erforderlich 41 • Aus der besonderen Gefährlichkeit der Krankheit oder aus allgemeinen anderen Umständen, die mit AIDS zusammenhängen, läßt sich daher kein allgemeiner Rechtfertigungsgrund des Arztes ableiten, unbeschadet der näheren Umstände des Falles, Behörden etwas zu offenbaren; die Schweigepflicht bleibt nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes grundsätzlich hiervon unberührt. So ist im Einzelfall das Interesse des Patienten auf Bewahrung seiner Privatsphäre gegen das allgemeine Interesse an der Nichtverbreitung der Krankheit abzuwägen. Eine Offenbarung der Krankheit gegenüber Gesundheitsbehörden kann von diesem Ansatzpunkt allenfalls in Betracht kommen, wenn der Arzt den Patienten voll über die Erkrankung, die Bedeutung der Erkrankung und ihre Infektiösität umfassend aufgeklärt hat. Erst dann, wenn sich für den Arzt irgendwe1che Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Kranke nicht gewillt ist, Sorge dafür zu tragen, daß das Risiko einer Weiterverbreitung der Krankheit weitgehend ausgeschlossen wird, kann auf dieser Grundlage seine Berechtigung zur Datenweitergabe in Betracht kommen. So etwa dann, wenn der an AIDS Infizierte dem Arzt gegenüber keinen Zweifel daran läßt, daß er nicht gewillt ist, künftige Sexualpartner auf die Erkrankung hinzuweisen und auch nicht willens ist, Schutzvorkehrungen zur Verhinderung einer Übertragung zu treffen. In diesem Fall dürfte die Berechtigung des Arztes, die Untersuchungsergebnisse der Behörde zu offenbaren, auch aus dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes unbestreitbar sein42 • Freilich ergibt sich aus den skizzierten Extremfällen bereits, daß der Arzt zwar einerseits die Befugnis zur Offenbarung im Einzelfall genau prüfen muß; andererseits kann der Arzt natürlich auch in Entscheidungssituationen kommen, die nur schwer zu bewältigen sind. Hier von einem pflichtgemäßen Ermessen des Arztes zu sprechen, ist jedoch nicht ganz richtig. Vielmehr muß der Arzt prüfen, ob die objektiven Voraussetzungen der Rechtfertigung vorliegen. Nimmt der Arzt begründeterweise irrig die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes an, so ist ihm ein Erlaubnistatbestandsirrtum mit der Folge zuzubilligen, daß von der Verwirklichung tatbestandlichen Unrechts letztlich nicht die Rede sein kann43 . Allerdings ist es fraglich, ob es hiermit sein Bewenden hat. Immerhin ist es kein neuer Gedanke, im Rahmen des § 203 StGB den allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) fruchtbar zu machen44 , der sich allerdings nach herrschender Meinung allein auf die Straftaten des 14. Abschnitts bezieht45 . Insbesondere Lenckner ist dem Gedanken eines allgemeiSchlund, in: Arzt/Uhlenbruck, § 75 Rn. 18 ff. Zur Frage, ob diese Berechtigung zur Offenbarung in eine Pflicht zur Offenbarung "umschlagen" kann, vgl. im folgenden Text unter 3. 43 Allgemein zum (nach richtiger Ansicht das Vorsatzunrecht ausschließenden) Erlaubnistatbestandsirrtum eramer in: Schönke/Schröder, § 16 Rn. 15 ff. 44 Vgl. Noll ZStW 77, 1 (31); Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, 1969, S. 15, 40; Geppert Jura 85, 25 (28); Tiedemann JZ 1969, 717 (721). Vgl. auch AG Groß-Gerau StV 1983,247. 41
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nen Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen entgegengetreten; in Bezug auf die §§ 201 ff. StGB warnt er davor, daß nicht die Rechtfertigungsseite, sondern die Tatbestandsseite eine Stärkung brauche, indem er auf die Gefahr des "gläsernen Menschen" hinweist46 • Dieser Hinweis ist insofern sicher richtig, als die Konturen des Rechtfertigungsgrundes scharf gehalten werden müssen. Lenckner weist darauf hin, daß nach seiner Ansicht für die Notwendigkeit eines Rekurrierens auf einen über § 34 StGB hinausgehenden Rechtfertigungsgrund kein Bedürfnis erkennbar sei, wenn dieser - wie er es befürwortet - extensiver ausgelegt werde. Er führt an, daß jedes Rechtsgut notstandsfähig und der Eintritt der Gefahr auch gegenwärtig sei, wenn alsbald ein schädigendes Ereignis drohe47 . Es ist hier nicht der Raum, ausführlich auf diese Debatte einzugehen. Wesentlich erscheinen mir aber folgende Bemerkungen. Bei der Betrachtung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit geht es letztlich darum, ein Verhalten des Taters rechtlich zu mißbilligen. Sowohl der rechtfertigende Notstand als auch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gehen insofern von einer vorzunehmenden Abwägung aus; die Interessen, die das Verhalten als nicht mißbilligtes erscheinen lassen, können nur solche sein, die die beeinträchtigten Interessen überwiegen. Daß es einen in diese Richtung gehenden Rechtfertigungsgrund geben muß, leuchtet ohne weiteres ein, da die Rechtsgemeinschaft einem Gemeinschaftsmitglied schwerlich vorwerfen kann, daß es sehenden Auges die Verletzung wichtiger Rechtsgüter hingenommen hat, wo nur die Verletzung minderer Rechtsgüter drohte. Immerhin verpflichtet das Gesetz über § 323c StGB den Einzelnen in gewissen Fällen dazu, zum Schutz von Rechtsgütern einzugreifen, auch wenn dadurch mindere Rechtsgüter (z. B. des Rettungspflichtigen) betroffen werden. § 34 StGB bietet in einem solchen Konfliktfall dem Arzt eher Steine als Brot, so daß es zweifelhaft ist, ob der von Lenckner vorgeschlagene Weg der ausdehnenderen Auslegung dieser Vorschrift der Vorzug zu geben ist. Bei einer ärztlichen Entscheidung über die Weitergabe einer erlangten Information über eine Krankheit eines Patienten kann man dies zeigt die Diskussion um AIDS - sehr unterschiedlicher Ansicht sein, welche Gefahren von einem Erkrankten ausgehen und welcher Grad der Gefahr vom Erkrankten für andere ausgeht. Meines Erachtens jedenfalls wiegt der Schutz Dritter vor lebensgefährlicher Infektion deutlich höher als das Interesse des Betroffenen auf Wahrung seiner Intimsphäre. Daher ist es durchaus vertretbar, dem Arzt, der eine solche Information etwa an den Geschlechtspartner des Infizierten weitergibt, als gerechtfertigt anzusehen, auch wenn sich nach herkömmlicher Dogmatik die Gefahr der Infizierung als gering erweist: Sei es wegen des geringen Ansteckungsrisikos48 oder sei es, weil der Patient sich jedenfalls gegenüber dem Arzt nicht un45 Lenckner, GS-Noll, 243 (247); SK-Samson, Vor § 201 Rn. 7-9; Lackner, § 193 Rn. 2 jew.m.w.N. 46 Lenckner, GS-Noll, 243 (251). 47 Lenckner aaO. 251. 48 Vgl. zu den Implikationen des geringen Ansteckungsrisikos Frisch, GS-K. Meyer, 533 (536 ff.).
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einsichtig zeigt. In diesen Fällen ist eine Lösung über § 34 StGB kaum möglich; der Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen könnte daher dort eingreifen, wo es für Dritte um ganz besondere Risiken geht, die man auch nicht, wie viele andere - nach den Regeln der Medizin heilbare - Krankheiten, unter das allgemeine Lebensrisiko fassen kann. Damit einhergehen darf freilich nicht eine uferlose Aushöhlung einer Rechtfertigungsmöglichkeit für den Arzt im Falle von AIDS oder anderen lebensgefährlichen Krankheiten; die Wahrnehmung berechtigter Interessen als gegenüber § 34 StGB weitergehender Rechtfertigungsgrund kann jedoch solche Fallgestaltungen erfassen, in denen das Urteil über das Vorliegen einer nicht anders abwendbaren Gefahr nicht möglich ist. Trotz der niedrigen statistischen Wahrscheinlichkeit einer Infizierung anderer wäre daher nach hier vertretener Ansicht ein Arzt, der den Geschlechtspartner eines an AIDS erkrankten Patienten auf die Erkrankung hinweist, dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn er z. B. den Patienten selbst nicht erreichen kann. Grenzfälle wird es freilich auch bei Anerkennung des vorgeschlagenen, weiteren Rechtfertigungsgrundes geben. Ein nach Aufklärung über eine infektiöse, lebensgefährliche Erkrankung besonnen reagierender und die Ratschläge des Arztes akzeptierender Patient wird den Raum für die Wahrnehmung berechtigter Interessen durch den Arzt jedenfalls auf Null einschränken. Allein die theoretische Möglichkeit des Schadenseintritts für andere kann hier sicherlich keine berechtigten Interessen begründen.
b) Besondere Entscheidungsfreiheit des Arztes bei überwiegenden Individualinteressen Die gleichen allgemeinen Kriterien sollten bei der Frage, ob eine besondere Entscheidungsfreiheit des Arztes gegenüber Individualinteressen gegeben ist, angewandt werden. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Fürsorge gegenüber Kontaktpersonen. Der Arzt ist berechtigt, Kontaktpersonen (z. B. die Familie des Erkrankten) insoweit aufzuklären, daß sie erkennen können, welche Art des Kontaktes ein tödliches Risiko beinhalten kann. Dies gilt nach dem Gesagten nicht nur, wenn eine objektive Gefahrenlage besteht, sondern kann bereits dann der Fall sein, wenn der Arzt gerade nicht weiß, ob eine erhöhte Möglichkeit gegeben ist, daß der Patient die Kontaktpersonen nicht aufklärt und trotzdem mit ihnen in einer ihr Leben gefährdenden Weise verkehrt. Ähnliches gilt für den ärztlichen Arbeitsbereich (Klinikspersonal usw.). Hier ist jedoch vorab festzustellen, daß der Arzt gegenüber dem Personal insoweit nicht schweigepflichtig ist, als es dem Arzt bei Ausübung seiner Tätigkeit hilft; insofern darf und muß der Arzt das Klinikspersonal über eventuell bestehende Gefahren einer ansteckenden Krankheit der Patienten - auch wenn sie nicht lebensgefährlich ist - aufklären. Die Gehilfen ihrerseits wiederum sind schweigepflichtig. Im Einzelfall kann darüber hinaus eine Aufklärung auch solcher Personen gerechtfertigt sein, die nicht als Gehilfen des Arztes tätig werden. Hierfür muß aber wiederum ein berechtigtes Interesse des Arztes oder eine Gefahr i. S. d. § 34 StGB vorliegen. Die genannten Kriterien sind schließlich auch frucht10*
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bar zu machen, wenn es um die Frage geht, ob der Arzt berechtigt ist, Personen mit sozialen Nähebeziehungen zum Patienten (Arbeitsbereich, Polizei usw.) über den Untersuchungsbefund zu unterrichten. Allein die Tatsache der Erkrankung mit AIDS begründet eine Ansteckungsgefahr nicht.
2. Mögliche Pflichtenkollisionen
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß sich der Arzt bei der Entscheidung, ob er befugt ist, Daten weiterzugeben, einer Kollision verschiedener interessen gegenüber sehen kann. Er ist zunächst berechtigt - nicht verpflichtet! -, diese Kollision durch Aufgabe der Schweigepflicht zu lösen, wenn die geflihrdeten interessen das Recht der Privatsphäre des Patienten überwiegen. Nur dann ist unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen oder des § 34 StGB die Begehung tatbestandlichen Unrecht letztlich gerechtfertigt. Da jedoch bisher AIDS den meldepflichtigen Krankheiten nicht zugerechnet wird, ist der Arzt nicht berechtigt, allein aufgrund der Geflihrlichkeit dieser Krankheit die Daten weiterzugeben. Auch wenn der Arzt persönlich rechts politisch oder gesundheitspolitisch der Überzeugung ist, daß eine Anzeige der Krankheit unter gesundheitspolizeilichen oder epidemiologischen Gesichtspunkten erforderlich sei, so berechtigt ihn dies nicht zur Weitergabe von Krankheitsdaten. Vielmehr ist der Arzt vollständig für die Einhaltung seiner Schweigepflicht verantwortlich. Der Arzt kann sich jedoch nicht nur kollidierenden Interessen, sondern auch kollidierenden Pflichten gegenübersehen. Aus §§ 138, 139 III Nr. 1 StGB ergibt sich die Pflicht des Arztes zur Anzeige, wenn ein Patient einen Totschlag (§ 212 StGB) plant; diese Pflicht überlagert nach dem klaren Gesetzeswortlaut die ärztliche Schweigepflicht. Sieht sich der Arzt, um einen Extremfall zu konstruieren, einem Patienten gegenüber, der die Absicht äußert, mit seiner AIDS-Erkrankung andere zu infizieren, so lassen sich überzeugende Gründe ins Feld führen, daß dieser Patient bei einem eventuellen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem Dritten tatbestandliches Tötungsunrecht verwirklicht und auch einen entsprechenden Tötungsvorsatz hat49 • Würde beispielsweise ein AIDS-Erkrankter einem Arzt gegenüber äußern, er werde weiterhin mit anderen ungeschützt geschlechtlich verkehren und eine Infektion der anderen sei ihm gerade recht, so müßte man unter diesem Gesichtspunkt eine Anzeigepflicht des Arztes bejahen. Damit ist aber die schwieri49 Vgl. Frisch, GS-K. Meyer 533 (542); JuS 1990,362 (365). Zwar bejaht Frisch bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr eine mißbilligte Risikoschaffung i. S. d. §§ 212 und 223 StGB, er verneint jedoch für Fälle des ungeschützten Geschlechtsverkehrs, sofern der über seine HIV-Infektion wissende Täter auf einen guten Ausgang vertraut, sowohl Körperverletzungsals auch Tötungsvorsatz, vgl. Frisch, GS-Meyer 533 (536 ff.); JuS 1990, 362 (368). Dies scheint Knauer, AIFO 1994,463 (466) zu verkennen, indem er Frisch - wenig sachgerechtzu Vertretern einer ,,harten Linie" rechnet. Zur Problematik ferner z. B. Scharf, AIDS und Strafrecht, 1992; Meurer, in: Gallwas/Riedel/Schenke, Aids und Recht, 1992, S. 117 ff.
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gere Frage angesprochen, ob auch dann, wenn der Patient - für den Arzt erkennbar - fahrlässig verursachte Todesgefahr Dritter aufgrund seiner Krankheit hinnehmen will. Hier kann keine Pflicht des Arztes aus § 139 StGB angesprochen sein, weil ein vorsätzliches Tötungsdelikt nicht in Betracht kommt. Fraglich ist im Hinblick auf § 323c StGB, ob schon die allgemeine Hilfspflicht des Arztes gegenüber Dritten in bestimmten Fällen eine Pflicht zur Offenbarung an Dritte begründen kann. Eine AIDS-Erkrankung muß dann als Unglücksfall oder gemeine Gefahr zu begreifen sein. Beides kann anzunehmen sein, wenn der Infizierte ohne Aufklärung Dritter mit diesen geschlechtlich verkehren will. Die erforderliche Hilfeleistung bestünde darin, daß die entsprechenden Kontaktpersonen des Patienten aufgeklärt werden müßten. Die Hilfeleistung müßte ohne Verletzung erheblicher eigener Pflichten möglich sein. Es könnte also die Schweigepflicht entgegenstehen; allerdings ergibt sich aus § 139 StGB, daß die Schweigepflicht bei einer drohenden Gefahr für das Leben einer anderen Person im speziellen Fall des Totschlags zurückstehen muß; da bei einer fahrlässigen Tötung das gleiche Rechtsgut betroffen ist, spricht dieser Gedanke dafür, daß die Schweigepflicht bei drohender fahrlässiger Tötung ebenfalls zurückzustehen hat, jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit des Schadenseintritts die Intensität einer Gefährdung im Sinne des § 323c StGB erreicht. In einem solchen Fall müßte man auch die Hilfeleistung, die in der Mitteilung an einen potentiell Gefahrdeten bestehen kann, als zumutbar ansehen. Daher erscheint es richtig, dem Arzt für solche Fälle, in denen eine an AIDS erkrankte Person sich uneinsichtig zeigt und Gefährdungen Dritter durch sein künftiges Verhalten fahrlässig, leichtfertig oder gar vorsätzlich herbeiführen will, eine Hilfeleistungspflicht, die die Schweigepflicht aus § 203 StGB verdrängen kann, aufzuerlegen. Der Arzt hat dann betroffenen Dritten Hilfe zu leisten; diese Hilfeleistung kann in einer intensiveren Aufklärung des Erkrankten, sie kann aber auch ein einer Mitteilung an betroffene Dritte bestehen.
3. Offenbarungsrecht und Offenbarungspflicht unter epidemiologischen Gesichtspunkten
Wissenschaftliche Erforschung von AIDS und die Bekämpfung von AIDS sind öffentliche Aufgaben. Darüber besteht in der allgemeinen Debatte schon seit Jahren Konsens über alle Streitpunkte hinweg, auch wenn die Erforschung der Krankheit bisher wenig Fortschritte zu machen scheint. Epidemiologisch gesehen haben sich einerseits schlimmste Befürchtungen zur Ausbreitung der Krankheit bisher (bezogen auf die Bundesrepublik) nicht bewahrheitet; diese Befürchtungen hingen mit dem anfänglich wohl weit überschätzten Infektionsrisiko zusarnmen 50 • Ande50 Zum zunächst überschätzten Risiko der Ausweitung der Krankheit vgl. Weyerl Schmidt/Körner AIFO 1988,219 m.w.N. und Knauer AIFO 1994,463 ff. m.w.N. Weltweit gesehen steigen die Zahlen der Neuinfizierten allerdings in epidemiehaftem Ausmaß, so Schlund JR 1995,43.
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rerseits ist es aber auch nicht gelungen, die Krankheit wirksam zurückzudrängen. Allein unter dem Gesichtspunkt der Erfaßbarkeit der Krankheit wäre es sicherlich begrüßenswert, wenn Fälle von AIDS ebenso behandelt würden wie andere im Bundesseuchengesetz genannte meldepflichtige Krankheiten 51 . Gegen eine Meldepflicht dürfte heute auch wohl nicht mehr so sehr der Aspekt der Stigmatisierung der Patienten sprechen; man wird sachlich feststellen müssen, daß sich unsere Gesellschaft infolge der aufwendigen Aufklärungskampagnen, der häufigen Behandlung des Themas in den Medien und schließlich allein auch aufgrund des Zeitablaufs inzwischen stärker daran "gewöhnt" hat, daß es AIDS gibt und daß unsere Gesellschaft mit dieser Krankheit leben muß; die Erkrankung von vielen Bluttransfusionspatienten an AIDS hat zudem gezeigt, daß von der Krankheit nicht nur ,,Randgruppen" betroffen sind, sondern daß es Übertragungswege gab, die in den ersten Jahren der Diskussion der Krankheit noch nicht bekannt waren. Es dürfte unzweifelhaft sein, daß solche Übertragungswege, die es möglicherweise auch gegenwärtig gibt oder die erst in Zukunft neu entstehen könnten, bei einer Untersuchungs- und Meldepflicht sicherlich eher erkannt werden könnten. Aufgrund der Unerforschtheit der Krankheit und insbesondere des bislang nicht bestimmbaren Krankheitsverlaufes ist jedoch eine Meldepflicht nach wie vor in ihrer Wirkung sehr beschränkt. Zum einen läßt sich aus dem Nichtvorliegen von Antikörpern nicht auf das Nichtvorliegen der Krankheit schließen; zum anderen können Ansteckungsvorgänge bei Entdeckung der Infektion sehr lange zurückliegen. Außerdem ist nach wie vor bedenkens wert, daß eine Meldepflicht - wenn sie nicht mit der Anordnung genereller Zwangsuntersuchungen einhergeht - die Bereitschaft zur Untersuchung deutlich senken kann, zumal der Infizierte nicht wie bei vielen anderen Erkrankungen alsbald nach der Infektion aufgrund akuter Krankheitssymptome zur Behandlung "gezwungen" ist. Eine Meldepflicht könnte daher gerade einen Rückgang freiwilliger Untersuchungen bewirken und an eine zwangsweise Untersuchung der gesamten Bevölkerung ist, nachdem die erste Hysterie über die Krankheit verfolgen ist, wohl heute nicht mehr ernsthaft zu denken. Immerhin ist das öffentliche Interesse an einer effektiven Eingrenzung gefahrlicher Infektionskrankheiten hoch zu veranschlagen. Nicht zuletzt infolge der angestiegenen internationalen Kontakte ist für die Zukunft eher mit der Zunahme rätselhafter Krankheiten zu rechnen. Die - bislang nur bei Tieren aufgetretene - Krankheit BSE, die ebenfalls weitgehend unerforscht ist und ebenfalls eine extrem lange Inkubationszeit haben könnte, zeigt, daß eine Offenbarungspflicht bei einer schweren Infektionskrankheit unabdingbar sein kann, wenn man zuverlässige Daten über die Ausbreitung der Krankheit erhalten will. Es ist wohl vor allem der Tatsache zuzuschreiben, daß AIDS eine Krankheit ist, deren Verbreitung sich weitgehend in gesellschaftlichen Tabubereichen vollzieht, daß in der rechtspolitischen Diskussion von einer Meldepflicht abgesehen wurde, um nicht eine Stigmatisierung der Erkrankten und die weiteren beschriebenen - möglichen - Folgen herbeizuführen. 51 Zur denkbaren Einführung einer Meldepflicht von AIDS unter gesundheitlichen Aspekten: Losehelder, NJW 1987, 1467 ff.
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Dieses Ergebnis der politischen Diskussion muß hingenommen werden, auch wenn es aus den den Juristen bekannten epidemiologischen Gesichtspunkten heraus letztlich nicht überzeugt. Jedoch ist davon auszugehen, daß die von der Bundesregierung, den Länderregierungen und vielen anderen Institutionen eingeleiteten umfassenden öffentlichen Aufklärungskampagnen gleichwohl ein ebenfalls geeignetes Mittel waren, die Bevölkerung über die Gefahren von AIDS aufzuklären und der Verbreitung der Krankheit auf diese Weise nachhaltig vorzubeugen. Vor allem aber ist durch Aufklärung eher als durch rechtliche Sanktionen der Einzelne in den Stand zu versetzen, seine eigenen Rechtsgüter Gesundheit und Leben zu schützen. Durch die Aufklärung haben es alle weitgehend selbst in der Hand, ihr Leben so zu gestalten, daß das Risiko einer Infektion deutlich verringert oder sogar ausgeschlossen werden kann.
IV. Die Verwertbarkeit von AIDS-Informationen, die unter Verletzung ärztlicher Schweigepflicht erlangt worden sind
Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob eine Zeugenaussage, die unter Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht aus § 203 StGB gemacht worden ist, in einem Strafverfahren verwendet werden kann. Dem schweigepflichtigen Arzt steht gern. § 53 Abs. 3 StPO das Recht zu, im Strafverfahren, als Zeuge befragt, die Aussage zu verweigern. Aus der Tatsache heraus, daß er sich nach dem Wortlaut der strafprozessualen Norm nicht auf dieses Recht berufen und die Aussage verweigern muß, darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß § 53 StPO im Umkehrschluß einen möglichen besonderen Rechtfertigungsgrund zum Bruch der Schweigepflicht enthalte. Einen derartigen Rechtfertigungsgrund gibt § 53 StPO gerade nicht52 • Vielmehr darf der Arzt nur dann aussagen, wenn er sich für seine Aussagebereitschaft auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen oder auf rechtfertigenden Notstand gern. § 34 StGB berufen kann - ansonsten muß er die Aussage verweigern, will er sich nicht nach § 203 StGB strafbar machen. Zu Recht wird die eigentliche Bedeutung des § 53 StPO daher darin gesehen, daß der Zeuge die Aussage verweigern darf, auch wenn er wegen eines ihm zur Seite stehenden Rechtfertigungsgrundes im Hinblick auf § 203 StGB aussagen dürfte53 • Kommt eine gegen § 203 StGB verstoßende Aussage dennoch zustande, weil der Arzt nicht pflichtgemäßt handelt und von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, keinen Gebrauch macht, so stellt sich die Frage der Verwertbarkeit dieser Zeugenaussage. Die wohl herrschende Meinung hat keine Bedenken, eine Verwertung des durch eine Straftat (gern. § 203 StGB) Offenbarten zuzulassen. Sie sieht keinen Anlaß für das Eingreifen eines Verwertungsverbotes54•
52 53
Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 41. Auflage 1993, § 53 Rn. 5. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 41. Auflage 1993, § 53 Rn. 5 mwN.
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In diesem Rahmen ist es unmöglich, den dogmatischen Grundlagen der Lehre von den Beweisverwertungsverboten nachzugehen 55 . Gleichwohl sprechen durchgreifende Bedenken gegen die vom BGH und einem Teil der Literatur für zulässig gehaltene Berücksichtigung einer solchen unter Verstoß gegen § 203 StGB erlangten Aussage56 , jedenfalls soweit sie Grundlage einer Verurteilung sein soll57. Der schlichte Grundgedanke der Lehre von den Beweisverboten besteht in nichts anderem als der Erkenntnis, daß in einem rechtsstaatlichen Verfahren der Beweis nicht mit allen denkbaren Mittel geführt, die Wahrheit "nicht um jeden Preis" ermittelt werden darf. Damit ist schon angesprochen, daß es im wesentlichen um eine Abwägung verschiedenster Gesichtspunkte geht, an deren Ende zur Bejahung eines Beweisverbotes das Ergebnis stehen muß, daß dieser Preis für die Erzielung eines Beweisergebnisses im Rechtsstaat und aufgrund unserer positiven Gesetze nicht gezahlt werden darf. Dies folgt daraus, daß der Staat durch die Verwendung einer unter Verstoß gegen § 203 StGB gemachten Aussage unzulässigerweise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also in ein Informationsbeherrschungsrecht des Verletzten, eingreift58 . Weiterhin ist geltend zu machen, daß ein Strafverfahren, das unter dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Rechts durchgeführt wird, kaum normstabilisierend wirken kann, wenn das Gericht im Verfahren der Verurteilung selbst einen Normbruch vollzieht und akzeptiert 59 . Vor allem aber stellt diese Beweisführung im Strafverfahren das materielle Strafrecht des Staates in Frage60 : § 203 StGB fordert von den Rechtsgenossen, daß der private Geheimbereich des Einzelnen respektiert wird; die staatliche Erwartung ist die, daß - sofern für den Arzt keine Rechtfertigungsgründe oder gar eine Pflicht zum Bruch des Schweigens vorliegen - das dem Arzt offenbarte Geheimnis ein solches bleiben soll. Wird aber nun dieses Geheimnis auf Veranlassung des Gerichtes im Strafprozeß offenbart und als zulässiges Beweismittel gegen den Angeklagten angesehen, so widerspricht dieses staatliche Verhalten der Norm, die der Staat über § 203 StGB an seine Bürger richtet. Der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung wird damit verlassen. Der auftretenden Widerspruch kann ohne Deformation des § 203 StGB dahin, daß die Schweigepflicht im Strafverfahren nicht gilt, nicht gelöst werden - diese Lösung steht aber im eindeutigen Gegensatz zur rechtlichen Wertung. Sie muß daher aufgegeben werden. 54 BGHSt 18, 146 (147); Dahs in:Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Auflage, § 53 Rn. 10 f.; Sch1üchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 489.2; Pau1us in KMR, StPO, § 53 Rn. 55; Alsberg/Nüse/Meyer, 5. Auflage, S. 498; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 53 Rn. 6 mwN. 55 Dazu Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, 1992; vgl. auch Freund GA 1993,49 (56 ff.). 56 Roxin, Strafverfahrensrecht, 23. Auflage 1993, § 26 Rn. 22 m.w.N.; Störmer a. a. 0. 227 f. 57 Zutreffend Freund, GA 1993,49 (52 m.w.N.) und 59 ff. 58 Störmer a. a. 0. S. 226 ff. 59 Freund, GA 1993,49 (59 ff.). 60 Zutreffend Freund, GA 1993,49 (63 f.).
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v. Schluß AIDS, so haben die Überlegungen gezeigt, wirft grundsätzlich hinsichtlich der Schweigepflicht des Arztes keine neuen Fragen auf. Allerdings müssen die Antworten an der einen und anderen Stelle aufgrund der Besonderheit der Krankheit anders akzentuiert werden. Ausgehend von der Grundentscheidung des Gesetzgebers, auf eine Meldepflicht der Krankheit zu verzichten, bleibt es nach wie vor bei den hohen Anforderungen, die für die Ausnahmefälle zu stellen sind, in denen der Arzt die Schweigepflicht brechen darf. Einmal kann er hierzu zur Wahrnehmung berechtigter Interessen oder aufgrund rechtfertigenden Notstandes aufgrund überwiegender Interessen berechtigt sein. In Ausnahmefällen kann den Arzt eine Mitteilungspflicht an Dritte treffen, die - im Extremfall, daß der Patient andere mit seiner Krankheit vorsätzlich infizieren will- über §§ 138, 139 StGB oder - im Fall eines besonders sorglosen Patienten - über § 323c StGB zu begründen ist und die ärztliche Schweigepflicht verdrängt.
Diskussionsbericht Von Witold Kulesza Herr Dionysios Spine/fis bemerkte zunächst, daß es in Griechenland einen Paragraphen über den rechtfertigenden Notstand, vergleichbar mit § 34 des deutschen StGB, gibt. Trotzdem enthält der Paragraph über die Schweigepflicht einen besonderen Rechtfertigungsgrund über die Wahrnehmung berechtigter Interessen, ähnlich wie bei den Delikten gegen die Ehre. Die Schweigepflicht darf durchbrochen werden zur Wahrnehmung berechtigter Interessen, die nicht anders wahrgenommen werden können - diese zwei Voraussetzungen müssen nach Herr Spinellis Auffassung vorliegen. Herr Meurer habe richtig gesagt: ein Arzt sei berechtigt seine Schweigepflicht zu brechen, wenn er das Ergebnis von HIV-Tests solchen Personen gegenüber offenbart. Aber - so Herr Spine/fis - es gibt einige Fälle, wo er sogar dazu verpflichtet ist. Nehmen wir zum Beispiel den Fall, in dem derselbe Arzt eine ganze Familie betreut, also einen Familienarzt. Dann ist er gegenüber dem Intimpartner, der Frau oder den Kindern, verpflichtet, den Befund preiszugeben, damit er auch ihn schützt. Tut er es nicht, ist er durch Unterlassung schuldig, wenn die andere Person angesteckt wird. Was die Behörden anbetrifft, so gibt es in Griechenland auch ein solches Gesetz aus den dreißiger Jahren, das dem Minister überläßt, die Liste der ansteckenden Krankheiten zu ergänzen. Das ist eine lange Liste, die etwa 40 Krankheiten verzeichnet. Aber AIDS steht nicht darauf. Neulich, im Jahre 1986, ging eine ministerielle Verfügung nur so weit, daß sie jeden Arzt verpflichtete, jeden Fall von AIDS-Erkrankung oder HIV-Infizierung dem entsprechenden Leiter der Abteilung des Gesundheitsministeriums zu melden. Dieser Leiter ist aber - wie Herr Spine/fis erklärte - selbst ein Arzt und ist seinerseits an die Schweigepflicht gebunden. Der Leiter der Abteilung kann trotz seiner Diskretion (wenn er glaubt, daß eine Epidemie zu einer Pandemie wird) sehr drastische Maßnahmen ergreifen. Sonst darf er nichts darüber sagen. Herr Frank Höp!e/ skizzierte rechtsvergleichend die Rechtslage in Österreich. Das österreichische StGB geht - in Höpfels Auffassung - etwas mehr ins Detail und enthält in § 121 über die Verletzung von Berufsgeheimnissen einen eigenen Abs. 5. Der Tater ist nicht zu bestrafen - im Sinne des Rechtfertigungsgrundes wenn die Offenbarung oder Verwertung nach Inhalt und Form durch ein öffentliches oder ein berechtigtes privates Interesse gerechtfertigt ist.
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Herr Hans-Georg Koch wandte sich in seinem Diskussionsbeitrag zum Referat von Herrn Meurer zunächst gegen die Diskussionsbemerkung von Herrn Spinellis, der unter gewissen Voraussetzungen nicht nur ein Offenbarungsrecht, sondern sogar eine Offenbarungspflicht des diagnostizierenden Arztes gegenüber Familienangehörigen bejahte. Demgegenüber wurde anhand des "Balkon-Falls" (Arzt erkennt Baufälligkeit des Balkons seines langjährigen Patienten, der dort regelmäßig Trimmübungen durchführt, warnt ihn aber nicht) die Auffassung entwickelt, daß auch den Lebensschutzgaranten keine unbegrenzte Pflicht trifft, die Integritätsinteressen des Schutzbefohlenen zu wahren. Vielmehr bedarf es im jeweiligen Einzelfall einer genaueren Bestimmung des Pflichtenkreises. Dieser ergibt sich - so Herr Koch - beim Arzt aus seinem Behandlungsauftrag; dementsprechend kann der Arzt nicht verpflichtet sein, den Patienten auf Gefahren hinzuweisen, die dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen sind, und zwar auch dann nicht, wenn ihre Feststellung medizinischen Sachverstand erfordern würde (Beispiel: X und Y sind beide psychiatrische Patienten des Dr. P; im psychotherapeutischen Gespräch ergibt sich, daß X Mordpläne gegen Y hegt). Für die Lösung des von Herrn Spinellis dargestellten Falls seien die Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht daher letztlich gar nicht entscheidend. Vielmehr fehle es schon an einer Rechtspflicht des Arztes, den Patienten auf Gesundheitsgefahren hinzuweisen, die nichts mit seiner Erkrankung und deren Behandlung zu tun haben. Oder soll der Hausarzt eines Motorradfahrers, Drachenfliegers bzw. Rauchers gehalten sein, seine Patienten permanent vor den Gefahren ihrer Hobbys zu warnen? Der Arzt ist eben - anders als etwa die Eltern gegenüber ihrem Kind - nicht ein uneingeschränkter, sondern ein durch seine konkrete professionelle Aufgabe beschränkter Lebensschutzgarant. Ihm gehe es nicht anders als etwa einem Bergführer, der auf der Tour während der Gipfelrast von seinem Schüler erfährt, daß dieser nach der Rückkehr noch einen weiteren Höhepunkt in einer Nachtbar anstrebt. Bringt er seinen Kunden wohlbehalten zu Tal, kann es ihm gleichgültig sein, auf welche Abenteuer des Nachtlebens sich dieser noch einlassen will, selbst wenn er als Ortskundiger weiß, daß da oder dort gewisse Infektionsrisiken bestehen ... Ergänzend zum Referat von Herrn Meurer wurde darauf hingewiesen, daß es zwischen uneingeschränkter Wahrung der Verschwiegenheit und offener Weitergabe heikler Informationen auch Zwischenlösungen gibt. So darf etwa nach deutschem Recht der Betriebsarzt dem Arbeitgeber das Ergebnis einer Einstellungsuntersuchung nur pauschal im Sinne von "geeignet" oder "nicht geeignet" mitteilen; die genaue Diagnose hat also unerwähnt zu bleiben. Schließlich wurde die Zivilrechtsprechung des BGH zu den privatärztlichen Verrechnungsstellen gegen die Kritik von Herrn Meurer verteidigt. Der Privatpatient kann ein durchaus schutzwürdiges Interesse daran haben, kontrollieren zu können, wer was über ihn weiß. Man denke etwa an den Fall, daß ein Nachbar des Patienten bei einer solchen Verrechnungsstelle als Sachbearbeiter tätig ist und so über dessen Krankengeschichte Kenntnis erlangen kann. Das Problem sollte allerdings
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auch nicht überbewertet werden: Im Zeitalter der Praxiscomputer gehen offenbar immer mehr Ärzte wieder dazu über, die Abrechnung selbst vorzunehmen. Herr Carlos Künsemüller teilte unter dem rechtsvergleichenden Gesichtspunkt einiges mit, was sich auf die Rechtslage in Chile bezieht. Im chilenischen Parlament wird jetzt ein Gesetzesentwurf über Geheimrecht von den HIV-Tests diskutiert. Jede Person, die sich zu einem HIV-Test meldet, hat das Recht auf Geheimhaltung ihrer Ergebnisse. Wenn sie ohne seine schriftliche Einwilligung bekanntgegeben werden, dann gibt es eine strafrechtliche Sanktion. Es gibt aber eine Ausnahme. Und die Ausnahme ist folgende: Gesundheitspersonal, das Personen in der Ferne über HIV-Tests berät, muß die Personen über die Ergebnisse vom HIV-Test informieren, und dann kommt keine strafrechtliche Sanktion in Frage. Das ist eben die Abweichung von dieser GeneralklauseI. Ein Delikt - so Herr Künsemüller begeht, wer die Ergebnisse ohne die schriftliche Einwilligung bekanntgibt. Herr Andrzej J. Szwarc äußerte sich zum Thema AIDS und Arztgeheimnis (Berufsgeheimnis). Da man hier die Problematik des mit AIDS verbundenen Arzt- (Berufs)geheimnisses auf dem Grund des polnischen Rechts nur andeuten könne, sei in erster Linie anzumerken, daß dieses Problem in strafrechtlicher Sicht unter zwei Aspekten zu behandeln ist. Diese Problematik sei erstens mit der Schweigepflicht und einer eventuellen Strafbarkeit wegen ihrer Verletzung verbunden. In diesem Zusammenhang stelle sich zweitens die Frage nach der unter bestimmten Umständen bestehenden Pflicht zur Enthüllung von Tatsachen, die ja geheim sind, und nach den strafrechtlichen Folgen der Nichterfüllung der Schweigepflicht. Laut Art. 14 Abs. 1 des zitierten Gesetzes vom 28. Oktober 1950 über den Arztberuf ist der Arzt verpflichtet, alles geheimzuhalten, was er im Zusammenhang mit der Ausübung seines Berufs erfährt. Die Pflicht des Arztgeheimnisses ergibt sich auch aus Art. 3 des Gesetzes vom 14. Dezember 1982 über den Schutz des Staatsund Dienstgeheimnisses (Gesetzblatt Nr. 40, Pos. 271). Laut diesem Artikel und anderen Rechtsvorschriften wird die Schweigepflicht auch auf andere Mitarbeiter des Gesundheitswesens übertragen. Es wäre natürlich durchaus wünschenswert, einmal genauer die Kategorien der zum Schweigen verpflichteten Personen festzustellen. Für Herrn Szwarc ist selbstverständlich, daß auch Ergebnisse der HIV-Tests sowie andere Fakten und Infonnationen über HlV-Infizierte bzw. AIDS-Kranke geheim sind. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Geheimhaltung erwähnter Fakten werde dadurch verstärkt, daß die HlV-Infizierung oder AIDS-Krankheit sich sehr benachteiligend auf die Situation der HIV-Infizierten oder AIDS-Kranken in ihrem Milieu auswirken kann, indem sie solche Personen stigmatisiert oder sogar diskriminiert. Die Enthüllung dieser Infonnationen bedeutet also die Verletzung der Schweigepflicht und kann gemäß Art. 264 des Strafgesetzbuches strafrechtliche Verantwortlichkeit bewirken.
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Diese Verantwortlichkeit ist - so Herr Szwarc - nur dann ausgeschlossen, wenn das Gesetz den Arzt von der Schweigepflicht entbindet. Es sind folgende, in Art. 14 Abs. 2 des zitierten Gesetzes vom 28. Oktober 1950 über den Arztberuf bestimmte Fälle: 1) wenn der Arzt aufgrund besonderer Vorschriften verpflichtet ist, die Behörden über gewisse Umstände zu benachrichtigen; 2) wenn die Person, die ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, oder ihr rechtlicher Vertreter in die Enthüllung des Geheimnisses einwilligt; 3) wenn die Geheimhaltung der Infonnationen eine wesentliche Bedrohung des Lebens und der Gesundheit der behandelten Person oder ihrer Umgebung darstellen kann; 4) wenn der Arzt die Pflicht hat, berechtigte Behörden, Ämter oder Institutionen des öffentlichen Rechts über Ergebnisse der in ihrem Auftrag durchgeführten ärztlichen Untersuchung zu informieren. Alle diese Umstände beziehen sich - nach dem Urteil von Herrn Szwarc - auch auf Fakten, die mit den HIV-Tests, der HIV-Infizierung und AIDS-Krankheit verbunden sind. Sie bedürfen also zweifelsohne einer eingehenden Analyse, damit man - im Hinblick auf AIDS - eine präzisere Trennung zwischen der strafbaren Verletzung des Arzt- (Berufs)geheimnisses und der straflosen Enthüllung der damit verbundenen Fakten vornehmen kann. Es ist hier allerdings hinzuzufügen, daß man neben den genannten Fällen manchmal die Straflosigkeit durch den Notstand (Art. 23 des Strafgesetzbuches) rechtfertigen kann. Auch das schon angesprochene Problem der unter manchen Umständen obligatorischen Enthüllung der Tatsachen, die durch das Arzt- (Berufs)geheimnis erfaßt sind - hier geht es um HIV-Infizierung und AIDS-Krankheit - bedürfte einer ausführlicheren Darstellung. In solchen Fällen taucht nicht nur das Problem des Ausschlusses der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Verletzung des Geheimnisses auf. Es stellt sich, im Gegenteil, die Frage nach einer eventuellen strafrechtlichen Verantworlichkeit für die Nichterfüllung dieser Pflicht. Es sei hier nur angemerkt, daß man eine solche Verantwortlichkeit u. a. in bezug auf die unmittelbare Lebensbedrohung, schwere Körperverletzung oder schwere GesundheitszeITÜttung (Art. 160 des Strafgesetzbuches) sowie auf die Straftat der Nichterfüllung der Pflicht von einem öffentlichen Funktionär und auf Übertretungen, die in den Art. 73 und 114 des Ordnungswidrigkeitengesetzbl!ches vorgesehen sind, überlegen kann. Herr Jacobus Roselt du Plessis berichtete über die Rechtslage in seinem Land. In Südafrika ist es kein Verbrechen, wenn ein Arzt über geheime Sachen seiner Patienten spricht. Die Medical Counsil wird aber disziplinarisch gegen ihn verfahren. Man kann ihm die Ausübung seines Berufs verbieten. Nur ein Rechtsanwalt hat das berufliche Recht, vor einem Gericht keine Aussagen über seine Klienten zu machen. Dieses Recht wurde schon im.Fall der "Soweto six" bejaht. Der Arzt hat - wie Herr du Plessis erklärte - kein solches Recht. Er kann vor einem Gericht gezwungen werden, zu sprechen. Keine Erlaubnis des Patienten, die seine persönlichen Geheimnisse betrifft, kann dazu führen, daß der Arzt von dem Patienten über seine Patienten vor dem Zivilgericht verklagt wird.
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Herr Dieter Meurer äußerte sich zunächst zum Diskussionsbeitrag von Herrn du Plessis. Wie auch alle andere Diskutanten habe Herr du Plessis wieder einmal die alte Regel bestätigt, daß die Rechtsvergleichung den Blick schärft. Daß der Anwalt in common law ein Zeugnisverweigerungsrecht hat, der Arzt aber nicht, müsse im Grunde erstaunen, weil ein Arzt jedenfalls nach kontinentaleuropäischem Recht, sozusagen der Prototyp des Schweigeverpflichteten ist. Herr Spinellis habe zum griechischen Recht nachgetragen, daß es auch in Griechenland eine spezielle gesetzliche Ausprägung, ähnlich wie in § 193, gibt. Damit gibt es tatsächlich eine enge Verbindung zwischen dem griechischen und dem deutschen Recht. Herr Höpfel habe die Besonderheiten der anonymen AIDS-Meldung im österreichischen Recht angesprochen. Das österreichische Recht zeichne sich gegenüber dem deutschen dadurch aus, daß die Bestimmungen viel ausführlicher und konkreter seien als die allgemeinen und abstrakten Bestimmungen des deutschen Rechts. Herr Meurer bedankte sich bei Herrn Koch für das schöne Beispiel mit dem Balkon. Sein Beispiel zeige, daß jede Verpflichtung zur Brechung der Schweigepflicht eine Pflicht voraussetzt. Das heißt, man müsse auf eine besondere Verpflichtung des Arztes abheben, die bei einem Privatbehandlungsvertrag nicht aus einer allgemeinen Gefährdung resultieren könne. Die Situation, daß der Familienarzt dieselben Familienangehörigen behandelt, muß - nach Meurers Auffassung - nicht unbedingt bedeuten, daß eine primäre Inforrnationspflicht bezüglich der nicht erkrankten Familienmitglieder besteht. Wo dagegen keine strafrechtliche, sondern lediglich eine allgemeinärztliche Pflicht existiere, sollte er die von den Patienten gefährdeten Personen informieren. Herr Meurer bemerkte zu den privatärztlichen Verrechnungs stellen, daß diese Personen ebenfalls der Schweigepflicht nach § 203 Abs. 3. unterliegen. Diese Verrechnungsstellen seien jedenfalls Geheimnisträger. Aus der Debatte ergibt sich folgendes Resümee: In allen Rechtsordnungen ist der Schutz der sensiblen Daten gewährleistet, allerdings nicht in einem solchen Umfang, wie etwa in der BRD. Das hängt nicht mit primär strafrechtlichen Kriterien zusammen, sondern mit der Bundes - und Landesdatenschutzgesetzgebung.
AIDS und strafrechtliche Aspekte der unterlassenen Hilfeleistung Referat Von Kazimierz Buchala
I. Die Wisssenschaft hat mehrfach die These bestätigt, daß seit der HIV-Infizierung bis zu den ersten Symptomen der AIDS- Erkrankung einige Monate vergehen, oder aber, daß sie manchmal erst nach mehreren Jahren, in Ausnahmefällen sogar nach mehr als 10 Jahren eintreten können. Bis heute ist es leider nicht gelungen, ein Mittel zu finden, mit dem die Entwicklung der AIDS-Erkrankung verhindert, geschweige denn, die normale Funktion des Immunsystems wiederhergestellt werden könnte. Noch im Februar informierte die polnische Presse, es sei ein AntiHIV-Mittel hergestellt worden, das die Entwicklung des HIV-Virus stoppen und dessen vernichtenden Einfluß auf das Immunsystem blockieren könne, wodurch eine Verlängerung des menschlichen Lebens um mindestens mehrere Monate möglich sei. Unter Berufung auf Informationen amerikanischer HIV-Forschungszentren berichtete die Presse aber bereits Mitte Mai über die Einstellung weiterer Forschungen auf dem Gebiet der HIV-Bekämpfung angesichts ihres offensichtlichen Fiaskos. Stattdessen wolle man sich auf die Mittel konzentrieren, mit denen die Entwicklung der AIDS-Erkrankung gehemmt, und somit das Leben des HIV-Infizierten verlängert werden kann. AIDS ist also nach wie vor eine tödliche Krankheit, und die HIV- Infizierung kommt der Körperverletzung mit Herbeiführung der Todesgefahr gleich, wobei der Zeitpunkt des Todes zwar unbestimmt ist, aber unweigerlich kommen muß. Dieses Wissen ruft bei dem HIV-Infizierten eine Reihe von psychischen Folgen hervor, nicht nur wegen der Gewißheit, jung sterben zu müssen, sondern auch angesichts der Angst, von der Umgebung verstoßen zu werden, die zum einen indirekt durch die Mitteilungen der Massenmedien über die AIDS-Gefährdung inspiriert ist, zum anderen aus der Kenntnis der sozialen Haltung den HIV- Infizierten gegenüber resultiert, ganz gleich, ob dieser Zustand verschuldet ist oder nicht. Diese Diskriminierung findet u.a. in der Verweigerung der Hilfeleistung seitens der Ärzte oder Zahnärzte ihren Niederschlag. Sie erstreckt sich auf die Kinder des HIV-Infizierten, läßt um den Arbeitsplatz und Unterhalt bangen l . Ein HIV-Infizierter muß nicht hospitalisiert werden, was nicht zu bedeuI
ehr. Ullmann, Ungelöste Probleme der AIDS Erster Hilfeleistung, AIDS-Forschung,
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ten hat, daß er nicht der Hilfe erfahrener Ärzte bedarf. Diese Hilfe kann aber im Rahmen der Ambulanzbehandlung vom Hausarzt realisiert werden, umso mehr, als sich die HIV-Infizierten leichter mit ihrem Zustand abfinden, wenn sie nicht aus der gewohnten Umgebung herausgerissen .werden. In diesem Stadium bedarf es vor allem der sozialen Hilfe und Pflege. Die HIV-Infizierten sollten ihre Arbeitsplätze behalten können, bestimmte Berufe (z. B. Chirurg) freilich ausgenommen, sie müssen das Gefühl haben, gebraucht, und von ihren nächsten Angehörigen und der Gesellschaft nicht weggestoßen zu werden 2 . Die Hospitalisierung wird vom medizinischen Standpunkt aus notwendig, wenn bei dem HIV-Infizierten Symptome von verschiedenen Krankheiten auftreten, die auf die Immunschwäche hinweisen können, deren Quelle das HIV-Virus ist, das heißt dann, wenn seine assoziierten Befunde festgestellt werden. Von diesem Moment an sind die Betroffenen als AIDS-Kranke zu betrachten 3 . Dann auch verlagert sich der Schwerpunkt des Umgangs mit ihnen von der Fürsorge auf die medizinische Behandlung. Die Immunschwäche verursacht nämlich verschiedene Infektionen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, nicht nur im Hinblick auf die Diagnose oder entsprechende Apparatur, vielmehr wegen der notwendigen Spezialtherapie, die von entsprechend ausgebildeten und im Umgang mit AIDS-Kranken erfahrenen Ärzten geführt werden muß.
11. Bei der Vorbeugung von Verhaltensweisen, die zum Tod oder zur schweren Gesundheitsschädigung führen können, wie auch sonst beim Schutz rechts geschützter Werte, kommt dem Strafrecht keineswegs die Hauptrolle zu. Im Bereich des Lebens- und Gesundheitsschutzes übt es eine Aushilfsfunktion aus, indem es vorsätzliche und fahrlässige, zu negativen Folgen (darunter auch Herbeiführung der unmittelbaren Gefahr für Leben und Gesundheit) führende Verhaltensweisen kriminalisiert. Die Vorschriften über die Strafbarkeit der Herbeiführung der Lebensgefahr sind in allen Strafgesetzbüchern Europas enthalten, in manchen auch die Vorschriften über die Ansteckungsgefahr mit einer Geschlechtskrankheit4 , oder auch Vorschriften über die übrigens milder zu betrachtenden Übertretungen im Bereich des Schutzes vor Ansteckungskrankheiten5 . Die Anwendbarkeit der Vorschriften des Strafgesetzbuches auf die HIV-Übertragung kann allerdings ernsthafte Bedenken erwecken, im Hinblick darauf, daß es in diesen Vorschriften für die Annahme der Strafbarkeit der Situation bedarf, in der die Lebensgefährdung 1989 H.4, S. 222ff., Zur Sache, Themen parlamentarischer Beratung, AIDS-Fakten und Konsequenzen 13/90, S. 147ff. 2 Op. cit., S. 158 ff., Zur Sache 3 Op. eit. S. 157, Zur Sache 4 In dem polnischen StGB ist es der Art. 162 mit der Sanktion des Freiheitsentzugs bis zu 3 Jahren. 5 In dem geltenden Übertretungskodex befaßt sich mit dieser Frage Kapitel XIII.
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den Charakter einer unmittelbaren Gefahr für das Leben hat. Daher wird auch unter Berücksichtigung des epidemischen Charakters der AIDS-Erkrankung gefordert, daß in das StGB u.a. auch eine besondere Strafvorschrift hinsichtlich der Situation eingeführt wird, in der eine Person der Gefahr der HIV-Infizierung ausgesetzt wird. Eine solche Vorschrift ist in dem Entwurf des StGB enthalten6 • Diese subsidiäre Funktion des Strafrechts ist ebenfalls von Vorschriften zu erwarten, die die Verweigerung der Hilfeleistung bei Gefahr für das Leben oder die Gesundheit kriminalisieren. Entsprechende Vorschriften sind in allen europäischen Strafgesetzbüchern enthalten, wenn auch ihre Voraussetzungen, ihr Umfang und die in ihnen vorgesehenen Sanktionen verschieden aufgefaßt worden sind. Den mit der AIDSErkrankung verbundenen Bedürfnissen vermögen sie aber kaum Rechnung zu tragen. In dem geltenden polnischen StGB lautet die im Kapitel "Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit" enthaltene Vorschrift (Art.l64) wie folgt: "Wer einem sich in unmittelbarer Lebensgefahr, der Gefahr einer schweren Körperverletzung oder einer schweren Gesundheitsbeeinträchtigung befindlichen Menschen keine Hilfe leistet, obwohl er sie leisten könnte, ohne dabei sich selbst oder eine andere Person einer Lebensgefahr oder einer Gefahr eines ernsthaften Gesundheitsnachteils auszusetzen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft". Laut § 2 dieses Artikels aber "unterliegt keiner Strafe, wer eine Hilfeleistung unterläßt, zu der es notwendig ist, sich einem ärztlichen Eingriff zu unterwerfen, oder bei der die sofortige Hilfe seitens einer dazu mehr berufenen Institution oder Person möglich ist". In den deutschsprachigen Strafgesetzbüchern sind ähnliche Vorschriften enthalten, die allerdings nicht nur im Vergleich zu dem polnischen StGB, sondern auch untereinander Unterschiede hinsichtlich der Hilfeleistung gegenüber den HIV-Infizierten oder gar AIDS- Kranken aufweisen. § 323c StGB BRD hat seinen Platz im Kapitel "Gemeingefährliche Straftaten" gefunden und betrifft die unterlassene Hilfeleistung "bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not", sofern eine solche Hilfe "erforderlich" und dem Tater ihm "den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist,,7. Mit diesen Vorschriften werden das menschliche Leben (Art.128 Schw.StGB), seine Gesundheit (Art.164 pol. StGB; § 95 Öst. StGB 8 ) oder auch seine anderen Güter geschützt, ohne daß dabei das Leben oder die Gesundheit besonders erwähnt werden (§ 323c StGB BRD), obwohl hinsichtlich der drohenden Folgen der unterlassenen Hilfeleistung Unterschiede auftreten, denn mit dem Art.l64 pol. StGB und § 95 6 In dieser Vorschrift heißt es: "Wer in Kenntnis darüber, daß er HIV-infiziert ist, eine andere Person der unmittelbaren Gefahr einer solchen Infizierung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft". 7 Für dieses Verbrechen ist die Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder die Geldstrafe in Höhe bis zu 360 Tagessätzen vorgesehen. 8 Diese Straftat wird mit der Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder mit der Geldstrafe in Höhe bis zu 360 Tagessätzen bestraft. Im Falle der Verursachung des Todes droht die Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder die Geldstrafe in Höhe bis zu 360 Tagessätzen.
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Öst. StGB werden auch die ernsthaften Folgen für die Gesundheit erfaßt. Diese Bedingung stellt § 323c StGB BRD nicht. In der polnischen Fachliteratur wird auch die Auffassung vertreten, daß das Schutzobjekt des Art.I64 die menschliche Solidarität ist9 , was zu einer Ausdehnung des mit dieser Vorschrift bestimmten Schutzumfangs auf Situationen vor der Entstehung der unmittelbaren Lebensgefahr führt. Verschieden sind auch in diesen Strafgesetzbüchern Umstände bestimmt worden, unter denen die Pflicht der Hilfeleistung entsteht. Und so ist in § 323c StGB BRD von Unglücksfällen, Gemeingefahr oder Gefahr schlechthin die Rede, ähnlich wird die zur Hilfeleistung verpflichtende Situation in § 95 Öst.StGB aufgefaßt (Unglücksfall, Gemeingefahr), das polnische StGB generalisiert die möglichen Situationen, gemeint sind aber solche, in denen eine unmittelbare Lebensgefahr oder Gefahr der schweren Körperverletzung bzw. Gesundheitsbeeinträchtigung besteht. In der Rechtsprechung des OG wird diese Gefahr als ein unerwartetes, das Opfer überraschendes Ereignis verstanden (z. B. Verkehrsunfall, Schlägerei, Brand, Überschwemmung u.ä.)lO. Diese Auslegung erschwert, wenn sie diese auch nicht ganz ausschließt, die Anwendung dieser Vorschrift auf Situationen, in denen diese Gefährdung allmählich wächst, infolge der sich entwickelnden, letztendlich lebensgefährlichen oder zumindest gesundheitsbeeinträchtigenden Krankheit. Über die Pflicht der Hilfeleistung entscheidet nämlich der Zustand einer unmittelbaren Gefahr für das Leben oder die Gesundheit, der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegt, ohne Rücksicht darauf, wieviel Zeit seit diesem Ereignis verlaufen ist, das zu Beginn dieser Gefahr lag. Mit anderen Worten ist die unmittelbare Gefahr für das Leben oder die Gesundheit, die eine strafrechtliche, sanktionierte Pflicht der Hilfeleistung nach sich zieht, von einem früheren, selbst verschuldeten Geschehen zu unterscheiden, z. B. Beinbruch beim Skifahren ohne entsprechende Erfahrung, oder HIV-Infizierung wegen Geschlechtsverkehrs. Unter der unmittelbaren Gefahr für das Leben und die Gesundheit (Eintritt einer anderen Folge) wird in dem polnischen Schrifttum und in der Rechtsprechung des OG solch eine Situation verstanden, in der der Eintritt einer bestimmten negativen Folge höchstwahrscheinlich ist". Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der "unmittelbaren, unvermeidlichen Todesgefahr" 12. Meines Erachtens wird mit dieser Bezeichnung des Merkmals "unmittelbare Gefahr", unter Verweis auf den unvermeidlich und höchstwahrscheinlich eintretenden Erfolg der Kontext der Tatbestandsmerkmale der unterlassenen Hilfeleistung nicht hinreichend bestimmt, 9 A. Zoll: Nieudzie1enie pomocy (Unterlassung der Hilfeleistung), in: System Prawa Karnego, Bd. IV, S. 477. 10 OSN 51/1956 (Rechtsprechung des po1n. Obersten Gerichtshofes). 11 A. J. Szwarc: Karnoprawne problemy AIDS (Strafrechtliche AIDS-Probleme), in: A. J. Szwarc (Hrsg.), Prawne problemy AIDS, 1990, S. 111 f.; K. Buchala: Prawo karne materialne (Materielles Strafrecht), 1980, S. 684; M. Cieslak: Indywidua1ne zagrozenie zycia (Individuelle Lebensgefahr), in: Nowe Prawo 1952, NR. 4. 12 A. Marek (Hrsg.): Prawo karne (Das Strafrecht), 1986, S. 126; A. Gubinski: Wyl{lczenie bezprawnosci czynu (Ausschluß der Rechtswidrigkeit der Tat), 1961, S. 32.
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denn damit liegt der Zeitpunkt der Verwirklichung der Merkmale der sanktionierenden Norm zu nahe an dem Erfolg, was wesentlich den Zeitraum verkürzen kann, in dem das bedrohte Leben oder die Gesundheit gerettet werden kann. Zum anderen aber darf nicht vergessen werden, daß der Tod für jeden Menschen etwas Unvermeidliches ist, auch wenn er nicht HIV-infiziert ist. Es sind daher zwei Elemente einzuführen, die für diejenigen Straftatenarten wesentlich sind, die an die unmittelbare Gefahr anknüpfen, die ihrerseits zur Hilfeleistung oder langandauernden Therapie zwecks Abwendung oder Verhinderung der Gefahr verpflichten. Zum einen ist es die hohe Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts oder einer schweren Gesundheitsbeeinträchtigung (bei mehr als 50% Verwirklichungschancen), das zweite Element ist die zeitliche Nähe der Verwirklichung der Gefahr. Ich bin aber der Meinung, daß der Wahrscheinlichkeitsgrad des Eintretens einer negativen Folge auf dessen Schweregrad bezogen werden muß, und zwar in dem Sinne, daß der eine Rettungsaktion auslösende Gefährdungsgrad um so niedriger sein sollte, je schwerer die drohenden Folgen sind. Zum anderen - auch wenn es um objektive, und nicht um subjektive Wahrscheinlichkeit geht - darf die zeitliche ,,Nähe der Verwirklichung des Drohenden" nicht abstrakt bestimmt werden, unter anderem auch, weil es um eine möglichst schnell vorzunehmende Rettungsaktion geht, damit die Chancen einer wirksamen Verringerung der Gefahr, und wenn möglich, seiner Neutralisierung größer werden. Der Wahrscheinlichkeitsgrad des Erfolgseintritts ist daher nach der Art der Gefahr zu bestimmen. Es wurde bereits festgestellt, daß das menschliche Leben und die Gesundheit mit den Vorschriften geschützt werden, die die unterlassene Hilfeleistung bei unmittelbarer Gefahr, oder bei einer Gefahr, die das Merkmal der Unmittelbarkeit noch nicht erfüllt, kriminalisieren. Daraus folgt aber nicht, daß die Hilfe nur dann zu leisten ist, wenn überhaupt eine Chance besteht, das gefährdete Gut zu retten, und daß folglich auf die Hilfeleistung verzichtet werden kann, wenn dem Bedrohten nicht mehr zu helfen ist. Hierzu nahm das polnische OG vor mehreren Jahren Stellung, selbstverständlich nicht in bezug auf die AIDS-Kranken, indem es feststellte, daß selbst in solchen, richtig diagnostizierten Situationen der Arzt nicht passiv bleiben darf, daß er wenigstens versuchen muß, die Leiden der Kranken zu lindem!3. Zweifelsohne kommt hier der Grundsatz der menschlichen Solidarität zum Ausdruck. Das Problem ist viel allgemeinerer Natur und betrifft nicht nur die AIDS-Kranken. Aus der Tatsache, daß das Leben und die Gesundheit geschützte Rechtsgüter sind, folgt nicht, daß es sich dabei nur um solches Leben (bzw. Gesundheit) handelt, das objektiv gerettet werden kann. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir alle sterblich sind, daß es im Grunde nur um die Verlängerung des Lebens gehen kann, wie es sich bei der Gesundheit um ihre Verbesserung handelt. Es kommt übrigens auch darauf an, daß dem Kranken menschenwürdige Lebensver13 W. Wolter, in: 1. Andrejew, W. Swida, W. Wolter: Kodeks karny z komentarzem (Das Strafgesetzbuch mit Kommentar), 1973, S. 476; aSN lKW, 1974, Pos. 193: aSPlKA 1973, Pos. 13.
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hältnisse geschaffen und entsprechende Hilfe gewährt wird, was sein Befinden verbessern und ihn in dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft bekräftigen kann. Daraus ergibt sich für mv- Virus-Träger und AIDS-Kranke folgendes: zur Hilfeleistung sind nach Feststellung der mv- Infizierung bzw. AIDS-Krankheit öffentliche Stellen des Gesundheitsdienstes, die dort angestellten Ärzte sowie Hausärzte verpflichtet. Dies ist eine Pflicht der Ärzte und des qualifizierten Personals, die aus dem Charakter des ausgeübten Berufs resultiert - sie sind nämlich dazu berufen, den Kranken Hilfe zu leisten. Die Unterlassung der Hilfe bildet jedoch keine Straftat im Sinne des Art.l64 pol. StGB, § 323c StGB BRD, § 95 Öst. StGB oder § 128 Schw. StGB, solange keine unmittelbare Lebensgefahr oder Gefahr einer schweren Gesundheitsbeeinträchtigung besteht. Es kann aber die Berufs- oder Disziplinarverantwortung wegen Eiduntreue in Frage kommen. Die Pflicht der sozialen Hilfe lastet auf den Familienangehörigen, es ist aber eine moralische Pflicht. Wird ärztliche Hilfe benötigt, so können sich die HIV-Infizierten an entsprechende Stätten des Gesundheitswesens wenden, wo sie ihnen wahrscheinlich gewährt wird. Es bedarf daher keiner Kriminalisierung der unterlassenen Hilfeleistung, solange die Krankheitssymptome nicht eingetreten sind oder solange kein Verdacht besteht, daß bestimmte Symptome mit der AIDS- Erkrankung zusammenhängen. Sind diese Anzeichen eingetreten, so liegen von diesem Moment an die Tatbestandsmerkmale der unterlassenen Hilfeleistung gegenüber einem Menschen vor, dessen Leben unmittelbar bedroht ist.
III.
Ein weiteres Problem ist auf die Frage zurückzuführen, wann sich der zur Hilfeleistung Verpflichtete eben dieser Hilfeleistung aus Angst, selbst infiziert zu werden, entziehen kann. In bezug auf eine Person, die kein Arzt ist, sowie eine nichtspezialisierte Stätte des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist dies mit der Leistung der sog. Ersten Hilfe verbunden. Sonst handelt es sich um eine Therapie, mit der der Fortschritt der Immunschwäche verlangsamt und ihre Folgen in Form von verschiedenen Infektionen behandelt wird; folglich verlängert man das menschliche Leben. Obige Probleme werden durch die Vorschriften des StGB geregelt, wenn auch nicht unter dem Blickwinkel der AIDS- Erkrankung. Generell kann die Erste Hilfe verweigern, wem durch diese Hilfeleistung die unmittelbare Gefahr für das Leben oder die Gesundheit droht. Wir haben hier mit einer doppelten Differenzierung zu tun: wenn der Hilfsbedürftige ein HIV-Vrrus-Träger ist, was dem Subjekt bekannt ist, und wenn diese unentbehrliche Hilfe mit hoher Wahrscheinlichkeit zur mv- Infizierung führen kann. Die Erste Hilfe kann aber auch darin bestehen, daß eine spezialisierte Heilstätte hiervon verständigt wird. Wenn aber durch die Hilfeleistung
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keine Infizierung droht, weil der HIV-Infizierte z. B. nicht blutet, oder jeglicher Kontakt mit seinem Speichel (Mund-zu-Mund- Beatmung) ausgeschlossen ist, so ist jede andere Hilfe unter Strafsanktion zu leisten. Dasselbe gilt für den Arzt, wenn mit der Untersuchung des Kranken keine Infizierungsgefahr verbunden ist. Am häufigsten kommt es zu Situationen, in denen der Beteiligte oder der Dritte angesichts eines blutenden Menschen auf Grund seines Aussehens irrtümlich annimmt, daß er HIV-infiziert sein kann, und nicht einmal versucht, das Blut zu stillen, aus Angst, mit ihm in Kontakt zu kommen, oder auch, wenn eine sichere Hilfe nicht möglich ist. Ein Nichtarzt wird in dieser Situation keiner Verantwortlichkeit unterliegen, da er sich eingebildet hat, daß der Teilnehmer am Geschehen ein HIV-Infizierter war, was die Verantwortlichkeit für vorsätzliche Straftaten (und die unterlassene Hilfeleistung ist eine vorsätzliche Tat) ausschließt. Damit die Unterlassung der Hilfeleistung in so einer Situation die Strafverantwortlichkeit begründen könnte, müßte der Gesetzgeber diese Strafverantwortlichkeit in das StGB einführen. Die Situation des Arztes ist insoweit anders, als auf ihm die besondere Pflicht der Hilfeleistung lastet und er über Fachwissen verfügt, auf Grund dessen er die nötige Hilfe leisten und sich selbst nach Möglichkeit vor HIV- Übertragung schützen kann, wenn eine solche Gefahr bestehen würde (z. B. indem er mangels anderer Handschuhe solche aus Leder benutzt, Wunden abbindet, um das Blut am Ausfließen zu hindern u.ä.). Die Situation des Krankenhauses, an das sich der vermeintlich HIV-Infizierte wendet, und somit die des Arztes und des qualifizierten Krankenhauspersonals ist grundsätzlich anders. Der Arzt darf sich nämlich nicht auf den entschuldigenden Notstand berufen, da er mit Rücksicht auf seinen Beruf zum Risiko auf persönliche Gefahr hin verpflichtet ist (Art. 23 § 3 pol. StGB; § 35 StGB BRD). Wenn der Arzt selbst und die gegebene Heilstätte um die HIV- Infizierung des Hilfsbedürftigen wissen und für die Hilfeleistung nicht ausreichend vorbereitet sind, und im gegebenen Ort oder in seiner Nähe sich die entsprechende Heilstätte befindet, so kann der Patient dorthin überwiesen werden, was die Vorschrift des Art. 164 § 2 ausdrücklich erlaubt. Ähnlich kann sich auch der Arzt in anderen Ländern verhalten, auch wenn keine, der polnischen Lösung entsprechende Vorschrift über die mögliche sofortige Hilfeleistung seitens der Person oder Institution, die zur Hilfeleistung im Falle der AIDS-Erkrankung verpflichtet ist, existiert. Es ist nämlich ein rationales Verhalten, denn sowohl das Diagnostizieren als auch die Behandlung der mit der Immunschwäche zusammenhängenden Erkrankungen verlangen nicht nur sehr hohe Qualifikationen, sondern auch spezialistische Apparatur und entsprechende Heilmittel. Das diagnostische und therapeutische Verfahren muß den unentbehrlichen Vorsichtsmaßnahmen entsprechen, damit eine Übertragung des HIV-Virus auf den Arzt oder das Personal verhindert werden kann. Die Unsicherheit, ob es sich um die AIDS-Erkrankung handelt, kann durch Testuntersuchungen beseitigt werden, die im Lichte des polnischen Rechts in rechtlich bestimmten Situationen in bezug auf Ansteckungskrankheiten, zu denen auch die AIDS-Erkrankung zugerechnet wurde, zulässig sind 14•
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IV. Zum Schluß muß noch die Situation erwogen werden, wenn nicht derjenige, der Hilfe braucht, sondern der zur Hilfeleistung Verpflichtete ein HIV-Virus-Träger ist. Die HIV- Infizierung befreit ihn von der Pflicht der Hilfeleistung nicht. In Ausnahmefällen kann das der Arzt sein, der sich im Zusammenhang mit der Ausübung seines Berufs infiziert hat und um diese Infizierung weiß. Er darf bei Lebensgefahr oder Gefahr einer schweren Körperverletzung nicht die Hilfe leisten, die bei dem Hilfsbedürftigen die Infizierung verursachen könnte. Sonstige Hilfeleistung kann sogar als eine rechtlich bestimmte Pflicht unter Androhung der für die Unterlassung der Hilfe vorgesehenen Sanktion betrachtet werden. Zu einer offensichtlichen Kollision kommt es aber, wenn der Arzt keine sichere Hilfe leisten kann, wenn die einzig mögliche Hilfe z. B. mit der Mund-zu-Mund-Beatmung geleistet werden kann, und ohne diese Hilfe der Eintritt des Todes sehr wahrscheinlich ist, und niemand mehr dies ausführen kann oder will. Die unter diesen Umständen vorgenommene Rettungsaktion, auch wenn durch sie das HIV-Virus vom Arzt auf den zu rettenden Teilnehmer eines Verkehrsunfalls übertragen werden sollte, wird noch durch den schuldausschließenden Notstand erfaßt. Der Verunglückte bleibt am Leben, und der Tod als Folge der möglichen AIDS-Erkrankung tritt erst in einigen Jahren ein, eine rationale Einschätzung der kollidierenden Güter also spricht für diese Verhaltensalternative. Wir haben versucht, einige mögliche Vorgehensweisen im Zusammenhang mit der Pflicht der Hilfeleistung bei Lebensgefahr oder Gefahr einer schweren Körperverletzung zu erwägen. Darüber hinaus haben wir eine Auslegung entsprechender Vorschriften zugunsten der Rettung des Lebens und der Gesundheit unter Androhung von Strafsanktionen vorgeschlagen, obwohl diese Auslegung nicht immer mit den Regeln der juristischen Auslegung zu vereinen war. Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, bedarf es einer entsprechenden Novellierung der Vorschriften über die Hilfeleistung und Behandlung von AIDS-Kranken.
14 Kraft der Verordnung des Ministerrates vom 21. 10. 1986 (zitiert nach J. Borkowski: Administracyjno-prawne srodki i problemy zapobiegania i zwalczania AIDS (Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Probleme der Vorbeugung und Bekämpfung von AIDS), in: A. J. Szwarc (Hrsg.), Prawne problemy AIDS, op.cit., S. 89.
Diskussionsbericht Von Santiago Mir Puig
I. Mündliche Diskussionsbeiträge
1. Herr Franz Höpfel bedankte sich zunächst bei Herrn Buchala dafür, daß er einen grundsätzlichen philosophischen Aspekt in die Tagung hineingebracht hat. Herr Höpfel sei dankbar und stolz, jetzt in Posen zu sein und zu sehen, daß die Teilnehmer vom Strafrecht her, von ihren Bestimmungen über die Hilfeleistungspflicht doch einen grundsätzlichen Ansatz finden: die Solidarität mit Personen, die von HIV betroffen sind, als Rechtspflicht zu begründen, als eine Rechtspflicht, die den Einzelnen wie auch die staatlichen Gesundheitsautoritäten anspricht. Es geht also um diese grundsätzliche Hilfeleistungspflicht, die eigentlich erst durch Bestimmungen in den Strafgesetzbüchern in Worte gefaßt worden sei. Man könnte dann auf eine Idee konkreter hinweisen als es andere Rechtsgebiete, als es vielleicht das unscharfe Verfassungsrecht oder die unscharfen und in Entwicklung begriffenen Menschenrechte zu tun vermögen. Das sei also ein allgemeiner Gedanke, der hier für Herrn Höpfel sichtbar geworden sei. Die einzelnen Probleme werden - so ist Höpfels Überzeugung - in der Konfrontation mit diesem Gedanken an Bedeutung verlieren. Herr Höpfel meint, daß man hier dann auch von den Ärzten erwarten kann, diese Hilfeleistung im konkreten Fall zu leisten. Aus verschiedenen Problemen, die mit dieser Krankheit verbunden sind, ergeben sich auch schwierige Detailfragen, so daß die Diskussion so Herr Höpfel - viel reicher geworden ist. 2. Herr Haruo Nishihara stellte fest, daß Herr Buchala in seinem Manuskript zum Referat geschrieben habe, die Pflicht der Hilfeleistung zur Unterstützung des HIV-Infizierten sollte nicht nur seiner Familie, sondern auch seinen Nachbarn auferlegt werden. Er habe zwar die Grenzen der Kriminalisierung solcher Unterlassung dargestellt, aber das Hauptgewicht seiner Grenzziehung scheint für Herrn Nishihara fast ausschließlich auf die Gefährlichkeit der Infektion gelegt zu sein. Das sei notwendig. Bei der Kriminalisierung der Unterlassung von Nachbarn des Infizierten müßte in erster Linie die Einschränkung der Garantenpflicht überlegt werden. Die Pflicht sollte - so Herr Nishihara - nur dann auferlegt werden, wenn ein Nachbar vor oder nach der Infektion der Infizierten die Betreuung, die für das Leben des Infizierten unentbehrlich ist, fast ausschließlich übernommen habe. Solche Fälle soll es aber sehr selten geben. Dann würde der Fall, in dem die dem
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Nachbarn auferlegte Garantenpflicht zur Hilfeleistung dem Infizierten nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich gewährt wird, so selten, daß darauf verzichtet werden soll, die Hilfeleistungspflicht dem Nachbarn aufzuerlegen. Sonst würde Herr Nishihara die Gefahr der Moralisierung des Strafrechts zugunsten der Unterstützung des HIV-Infizierten befürchten müssen. 3. Herr Gähner brachte sein Erstaunen und zugleich seine Befremdung wegen einer großen Unwissenheit über HIV und AIDS zum Ausdruck. Besonders erstaunlich sei für ihn die Meinung, daß bei einer Hilfeleistung einem Verletzten ein hohes Infektionsrisiko entestehe. Bis zum heutigen Tage hätten sich auf der ganzen Welt nicht mehr als 10 Personen bei Hilfeleistung und medizinischer Betreuung in den Krankenhäusern infiziert, und es gebe keinen einzigen Fall, in dem sich Ersthelfer, die sich entweder freiwillig oder beruflich mit der Erstversorgung von Verletzten bei Unfällen befassen, in irgendeiner Form infiziert hätten. Herr Gähner sei ein ausgebildeter Rettungssanitäter und er würde an keinem Fall vorbeigehen, ohne erste Hilfe zu leisten, obwohl er natürlich von den Gefahren von AIDS wisse. Im deutschen Strafgesetzbuch heiße es eindeutig: jeder, der es kann, ist dazu verpflichtet, Hilfe zu leisten. Und wenn man sich jetzt ausreden wollte, indem man sagt, "na ja, also, diese Person hat so ausgesehen, als ob sie ein Drogenkonsument wäre, von dem ich mich vielleicht hätte infizieren können. Deswegen habe ich keine Hilfe geleistet", dann hält das Herr Gähner für schrecklich. Um die ganze Situation zu verdeutlichen, hat Herr Gähner noch ein weiteres Beispiel genannt. In New York haben die Ärzte in den Krankenhäusern gesagt, für sie sei es sehr gefährlich, wenn sie Patienten behandeln und nicht wissen, ob sie infiziert sind oder nicht. Die Ärzte können sich bei Operationen schneiden, beim Spritzen stechen, sie möchten also gerne wissen, ob jemand infiziert ist oder nicht. In der Antwort darauf habe man einen Modell-Versuch durchgeführt. Zwei Krankenhäuser mit ähnlichem Patientenstamrn seien dazu gewählt worden. In einem Krankenhaus sei jeder neue Patient getestet worden, im anderen dagegen nicht. Dann habe man die Zahl der Verletzungen zusammengezählt. Das Ergebnis sei folgendes gewesen: Nach 6 Monaten hätten sich im Krankenhaus, in dem die Leute bei der Ankunft getestet wurden, 680 Verletzungs gefahren ergeben, und im anderen Krankenhaus habe es 210 Verletzungen gegeben. Das würde also bedeuten, daß, wenn man nicht weiß, ob jemand positiv ist oder nicht, man viel gelassener damit umgeht. Und die Gefahr, sich zu infizieren, sei für einen normalen Bürger äußerst gering. Herr Gähner war sehr erstaunt, als er hörte, daß man gestern - er konnte zu dieser Sitzung nicht kommen - gesagt habe, man sollte jedem, der im Bordell war, eine Vorladung geben, daß er sich testen läßt. Der Geschlechtsverkehr mit einer Frau sei für einen Mann mit einem geringen Infektionsrisiko verbunden, etwa 300 : 1, d. h. bei 300 Verkehrsmöglichkeiten des Mannes mit einer Frau bestehe ein Mal die Infizierungsgefahr. Für die Frau dagegen sei die Gefahr ungleich größer. Und bei Homosexuellen - so sagt man -liege das Infektionsrisiko bei 3 zu 1. Also, bei dreimaligem Geschlechtsverkehren infiziere man sich ein Mal.
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Man sollte - so Herr Gähner - auf jeden Fall beachten, daß man sich bei einer Beatmung von Mund zu Mund unter normalen Umständen nicht infizieren kannes sei denn, es sei jemandem gerade ein Zahn gezogen worden, und auf die dabei entstandene offene Wunde sei das Blut des Verletzten gekommen. Dann würde es eine Infizierungsgefahr geben, wie auch bei einer starken Form von Zahnfleischbluten. Aber ansonsten mache man ja eigentlich auch gar keine Beatmung von Mund zu Mund. Der Retter blase die Atemluft in die Nase und halte dabei dem Verletzten den Mund zu. Diese Beatmung heiße also zwar Mund zu Mund, aber in der Tat sei sie eine Beatmung von Mund zu Nase. Herr Gähner brachte abschließend seine Überzeugung zum Ausdruck, daß das Strafrecht vor der HIV-Infektion nicht schützt. 4. Das Gehörte habe Herrn Jacobus Roselt du Plessis überzeugt, daß man in Südafrika von AIDS noch fast nichts wisse. Er hat dabei das englische Wort ,,ignorance" gebraucht. Beim Anhören des Vorredners sei ihm ein Licht aufgegangen. Denn in Südafrika würde man, wenn man von AIDS etwas weiß, oder glaubt etwas zu wissen, einem Menschen, der verletzt ist und blutet, nicht helfen. Und im südafrikanischen Recht bestehe noch keine Hilfeleistungspflicht, was Herr du Plessis als primitiv bezeichnete. Gewohnheitsrecht bedeute, daß man eigentlich nicht wisse, was das Recht sei. Eine gewisse Aufklärung habe ein zivilrechtlicher Fall geleistet: ein gewisser Ingles vs. das lustizministerium. Ein Polizist sah, wie Ingles von einem Schläger geprügelt wurde. Und der Poli:z;ist hat sich das nur angesehen. Er war vielleicht ein Fan vom Boxen und glaubte, einen schönen Boxkampf gesehen zu haben. Ingles wurde körperlich verletzt und hat eine Zivilklage gegen das Ministerium eingereicht. Nach einer sehr langen Verhandlung hat der Hauptrichter gesagt, jetzt seien die Sachen in Südafrika so weit, daß in diesem Fall das lustizministerium verantwortlich sei, und es müsse dem Ingles viel Geld zahlen, denn der Polizist habe seine Pflicht nicht getan. Man müßte hier ergänzend sagen, daß der Polizist nicht in Uniform und nicht im Dienst war. Trotzdem hätte er Ingles helfen sollen. Ob das im Strafrecht gilt, sei unsicher. Da man aber jetzt in Südafrika allmählich vorwärts komme, sei es vielleicht schon an der Zeit, daß man in das südafrikanische Strafrecht eine Hilfeleistungspflicht einführe. Aber das müßte noch von den Richtern entschieden werden, denn es gäbe noch kein StGB. Das Gewohnheitsrecht müsse sich weiterentwickeln. Ein Richter sagte einmal Herrn du Plessis: vielleicht hänge es davon ab, was der Richter gefrühstückt habe. Herr du Plessis ist der Meinung, daß mit der Einführung einer Hilfeleistungspflicht in das südafrikanische Strafrecht sehr schwere Probleme verbunden seien, was auf den Einfluß des englischen Individualismus und Positivismus zurückgehe. Man glaube daher, jeder sollte für sich sorgen. Das sei nicht mehr vertretbar. Man könne in einer Lage sein, in der Hilfeleistung eine Pflicht sei. Z. B.kann kein Boxkampf in Südafrika ohne einen Arzt vom Boxverband stattfinden. Wenn der Boxer geschlagen wird und nicht aufstehen kann, ist der Arzt verpflichtet, ihm zu helfen,
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auch wenn der Boxer nicht blutet. Wenn er das nicht tut - erklärte Herr du Plessis -, dann darf er als Arzt nicht länger tätig sein und wird von der Boxkommission verfolgt. Es ist auch möglich, daß er wegen einer fahrlässigen Tötung bestraft wird. "Diese Tagung hat mir klar gemacht, wie wenig man in Südafrika über AIDS weiß" - sagte abschließend Herr du Plessis. 5. Herr Andrzej W{lsek konzentrierte sich auf die Frage, wie weit die Hilfeleistungspflicht in zwei Fällen geht. Das, was der Diskussionsteilnehmer aus Berlin gesagt hat, gibt Herrn W{lsek zu Bedenken Anlaß. Wenn ein Mann, von dem man weiß, daß er HIV-infiziert ist, im ganzen Gesicht blutet, dann stellt sich für Herrn W~sek die Frage, ob es nicht zu weit geht, strafrechtlich zu erwarten, daß jemand die Hilfeleistung durch eine Beatmung von Mund zu Mund vornimmt. Das gehe zu weit. Da müsse man zwischen moralischen und strafrechtlichen Pflichten unterscheiden, und Herr W~sek fragt sich, ob dabei auch die moralische Pflicht in Anspruch genommen werden kann. In diesem Fall wäre also das Strafrecht nicht das moralische Minimum, sondern das moralische Maximum. Da müsse man auch unterscheiden, ob sich der Retter einer bloßen Gefahr oder dem sicheren Tod aussetze, selbst wenn dieses eine spätere Folge sei. Auch kein Arzt sei dazu verpflichtet, sich einem sicheren Tod auszusetzen. W~seks These ist also, daß in solchen Fällen keine Hilfeleistungspflicht besteht. Herr W{lsek fügte dem Gesagten eine weitere Bemerkung hinzu, die sich auf andere Formen der Hilfeleistung bezog. Eine solche Form sei eine finanzielle Leistung. Man soll sich - so Herr W~sek - z. B. jemanden vorstellen, der auf den Straßen Warschaus bettelt und sagt, daß er AIDS-krank sei und unbedingt hunderte Millionen Zl. brauche, um die entsprechenden Medikamente zu kaufen, die ihn heilen könnten. Wo liegt dann die Grenze der strafrechtlichen Pflicht? - fragte Herr W~sek. Im polnischen Strafrecht (Art. 164) gibt es kein solches Zumutbarkeitsmerkmal. Herr W~sek wollte gern wissen, was die Tagungsteilnehmer dazu meinen, denn in Polen sei diese Frage noch nicht genug erörtert worden. 6. Herr Bemd Schünemann Siehe unten den schriftlichen Diskussionsbeitrag, den Herr Schünemann nachträglich zugeschickt hat. 7. Herr Dionysios D. Spinellis betonte in seiner Aussage, daß die Pflicht einer Person, aufgrund ihres Berufs Hilfe zu leisten, gewisse Grenzen hat. Herr Spinellis glaubt sich an die meisten Kommentare erinnert zu haben, die sich damit beschäftigen, und die nur auf Polizisten und Feuerwehrleute Bezug nehmen, sehr selten aber auf Ärzte, Sanitäter und ähnliche Leute. Herr Spinellis meint, man sollte auch das medizinische Personal berücksichtigen. Aber man könne es nicht so weit bringen, daß man ihnen zumutet, sich einer sehr großen Ansteckungsgefahr auszusetzen.
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Herr Spinellis hatte vor drei Jahren die Gelegenheit, sich mit einem Fall zu beschäftigen, von dem die griechische Presse berichtete. Er befaßte sich damit nicht als Anwalt, sondern weil er von der Presse gefragt wurde. Es ging um einen Mann, der in eine kleine Klinik zu eoiner dringenden Bauchoperation eingeliefert wurde. Da wurde festgestellt, daß er HIV-infiziert ist. Dann sagte man, es sei unmöglich ihn zu operieren, er sollte in ein größeres Krankenhaus überwiesen werden. In einem größerem Krankenhaus hat man die Infizierung auch festgestellt und gesagt, daß es vor Ort keine Sicherheitsrnaßnahmen gebe, um HIVLeute zu operieren. Der Patient müsse daher in eine spezielle Klinik eingeliefert werden, wo man solche Krankheiten behandeln könne. Der Patient ist auf dem Weg in diese Klinik gestorben. Und dann wurde gegen die Ärzte von den ersten zwei Krankenhäusern eine gerichtliche Anklage erhoben. Sie haben ausgesagt, sie hätten Angst gehabt, daß bei einer größeren Blutung während der Operation eine zu große Gefahr für den nächsten Patienten entstanden worden wäre. Und dafür hätten sie keine Verantwortung tragen können, denn man brauche für solche Operationen einen besonderen Operationsraum usw. Es war also angeblich eine Pflichtenkollision. Die Ärzte wurden vom Instanzgericht freigesprochen. Diese Entscheidung wurde - sofern Herr Spinellis weiß nicht angefochten. Herr Spinellis hat auf Anfrage eines Journalisten den beschriebenen Fall kurz kommentiert. Für Herr Spinellis lag in diesem Fall keine Pflichtenkollision vor. Aus einer Befragung von Ärzten habe sich ergeben, daß es Desinfektionsmethoden gäbe, die in Operationsräumen leicht anwendbar seien. Es bestehe also kein Risiko für die nächsten Patienten. Das kleine Risiko, das für das medizinische Personal besteht, dürfte man natürlich zumuten. Es gäbe aber auch andere Fälle. Ein bekannter von Herrn Spinellis, der Professor für Chirugie war, habe sich während einer Operation geschnitten, sei von Hepatitis B angesteckt worden und anschließend gestorben. Alle Patienten, nicht nur die HIV-Infizierten, weisen - so Herr Spinellis - einen bestimmten Risikograd auf. Diese Gefahr müsse gemindert werden, sofern es möglich ist, aber gleichzeitig müsse irgendwo eine Grenze gesetzt werden. Keine übertriebenen Gefahraussetzungen, aber auch nicht immer Hände hoch, der Mann ist HIV-infiziert - rekapitulierte Herr Spinellis seine Aussage. 8. Herr Klaus Geppert polemisierte mit Herrn Gähner. Wer zum Fußballspiel geht - so Geppert -, darf sich nicht beklagen, daß die Leute nicht schwimmen und Kopfstand machen. Wer zu einem Kongreß geht, in dem über AIDS und Strafrecht diskutiert wird, möge sich nicht beschweren, daß über strafrechtliche Aspekte dieses Themas gesprochen wird. Und wenn wir alle den Geist dieser Veranstaltung miterlebt haben - setzte Herr Geppert fort -, dann haben wir mitbekommen, wie wir im Grunde alle in der Erkenntnis, daß das Strafrecht sicherlich das letzte, aber nicht das wichtigste Mittel ist, darum ringen, die Möglichkeit des Strafrechts zurückzudrängen. Der Vortrag von Herrn Buchala war für Herrn Geppert der Haupt-
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vortrag, nicht weil er Noten verteilen wolle, sondern weil der Referent den allgemeinen Wunsch ausgedrückt habe, den AIDS-Kranken gegebenenfalls auch strafrechtliche Hilfe zukommen zu lassen. Herr Geppert warnte vor einem möglichen Mißverständnis, jeder von den Symposiumsteilnehmern meine, daß das Problem von AIDS durch das Strafrecht lösbar wäre. Zum Beitrag von Herrn Schünemann bemerkte Herr Geppert, daß er den Referenten verstehe und mit ihm in vielen Punkten auch übereinstimme. Aber in der Frage, ob man die Amtswalter mit Strafsanktionen unter Hinweis auf Paragraph 323 c StGB oder wie auch immer strafrechtlich unter Druck setzen und im Bereich der Prostitution hier Hilfen erwarten kann, möchte er ein Fragezeichen anmelden. Das gestrige Stichwort «diagnostisches Fenster» ist im Grunde oder war nach Gepperts Ermessen eine Pseudoaktivität. Eine Sicherheitsmeldepflicht bei den Prostituierten beiderlei Geschlechts sei nicht zu erreichen. Und wir könnten im Grunde auch im diesem Bereich nur durch Hilfe zur Selbstverantwortung wirken, d. h., es gehe im Grunde nicht darum, nur in diesem heiklem Milieu die weiblichen oder männlichen Prostituierten zur Vernunft zu bringen, sondern es gehe darum, von der Gesellschaft Selbstverantwortung zu erzwingen. Deswegen bat Herr Geppert, der generell vorsichtig mit dem Einsatz des strafrechtlichen Mittels sei, um Vorsicht auch in diesem Bereich. 9. Herr Hans-Georg Koch beteuerte zunächst, daß er nicht detjenige sei, der jetzt hier die Heizung anmachen möchte. Dennoch bat er Herrn Schünemann für seine Thesen um Ergänzung, weil das zugrunde liegende empirische Datenmaterial einfach zur Kenntnis gebracht werden müßte, sowie die Erfahrungen, die man mit präventiven Maßnahmen hat. Im Prinzip müßte man bei Schünemann zunächst einmal begrüßen, daß er Prävention nach vorne stelle. Die Untersagungsverfügungen gegenüber Prostituierten, oder das Gebot, sich nach Prostituiertenverkehr testen zu lassen, seien ja präventive und strafrechtlich repressive Maßnahmen. In Bayern habe man ein Testfeld, und Herrn Koch würde interessieren, welche Erfahrungen man in Bayern über die Jahren hinweg gemacht habe. Herr Koch erinnerte an Meldungen der Tagespresse über Ergebnisse der Prostituiertenüberwachung in München. Sie seien auffallend ernüchternd gewesen. Es seien kaum Fälle zum Vorschein gekommen, in denen Prostituierte HIV-positiv getestet worden sind. Das bedürfte natürlich der weiteren Interpretation, auch in Bezug auf das von Herrn Schünemann angesprochene Programm. Ein anderes Beispiel sei das anonyme Testen von Blutsubstanzen, die man aus anderen Gründen gewonnen habe. Eine lange Zeit war es in Deutschland ein umstrittenes Thema. Man habe schließlich eine Art Modellversuch durchgeführt, und dafür das Geld locker gemacht. Man habe noch so viel davon in den Medien gehört, daß das angelaufen sei; aber ausgerechnet unter denjenigen, die sehr stark daran interessiert waren, das Program zum Laufen zu bringen, gebe es jetzt wenig Initiative, Ergebnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln. Woran liegt das? - fragte abschließend Herr Koch.
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10. Herr Bemd Schünemann Siehe unten den schriftlichen Diskussionsbeitrag, den Herr Schünemann nachträglich zugeschickt hat. 11. Herr Hans-Georg Koch hat seine Stellung verdeutlicht, indem er feststellte, er habe überhaupt nichts gegen diese Testverfahren. Ihm gehe es um die politische Handhabung des Problems. Was ihn so skeptisch stimme, sei der Verdacht, daß hier politisch gearbeitet werde. Ein gewisser Aktivismus werde in Kochs Auffassung solange gefordert, als man damit mit mehr oder weniger emotionalen Argumenten etwas erwarten kann auch politisch erwarten kann. Da die Ergebnisse aber nicht so ausfallen werden, wie man sie sich zunächst vorgestellt habe, werden die Dinge offenbar politisch sehr schnell wieder in Vergessenheit geraten. Es gehe also genau um diese Leute, die dieses Testverfahren von Blutproben (anonymes testing) politisch durchgesetzt haben. Warum - fragt Herr Koch - haben sie in ihrem Engagement so stark nachgelassen, obwohl Ergebnisse der Anlage dieses Versuchs entsprechend längst vorliegen müßten. 12. Herr Christoph Sowada Siehe unten den schriftliche Diskussionsbeitrag, den Herr Sowada nachträglich zugeschickt hat. 13. Herr Gähner erklärte, es sei nicht seine Absicht gewesen, durch seine Bemerkung zum Strafrecht und Infektionsschutz die Wichtigkeit des Kongresses zu bestreiten. Im Gegenteil, seine Teilnahme am Kongreß sei auch ein Zeichen dafür, wie ernst er diese Problematik nehme. Die Referate hätten ihm bewiesen, wie wichtig solche Fragestellungen seien. Herr Gähner nannte einige Zahlen aus Bayern, die sich auf hiesige Testuntersuchungen beziehen. Der bayerische Strafvollzug habe bis zum Anfang des vorigen Jahres fast 100.000 HIV-Tests durchgeführt. Bei 100.000 Tests gab es 860 positive Ergebnisse. Wenn man es umrechnet (jeder Test kostet 60 DM), dann ensteht daraus bei fast 100.000 Tests eine hohe Summe. Damit könnte man alle Gefangenen in der BRD lebenslang mit Spritzen und Gummis versorgen. Und wenn hier immer davon die Rede sei, daß Prostituierte besonders gefährlich seien, dann müsse Gähner seinen Einspruch erheben. Die Prostituierten seien im Vergleich mit der ganzen Bevölkerung weniger infiziert. Das Bundesgesundheitsamt spricht von 50-60.000 Infizierten. Herr Gähner halte diese Zahl für weitaus fair, aber er denke auch, wenn man den Prostituierten einen Schein aushändigt, daß sie HIV-frei sind, dann wiegt es die Freier in Sicherheit. Herr Gähner versteht nicht, warum Männer, die zu Prostituierten gehen und um die Gefahr von AIDS wissen, ohne Gummi bumsen wollen. Wenn Herr Gähner sich die Drogenstriche in Berlin in der Kurfürstenstraße ansehe, da gebe es Frauen, wo man also wirklich, wenn man sie ansieht, sagen kann, sie warten jetzt wirklich auf die 50 oder 100 DM für den nächsten Schuß. Daß da überhaupt jemand daran geht, sei für ihn völlig unverständlich. Aber die Männer tun es - setzte Herr Gähner fort. Man möge sich die herumstehenden unzähligen Autos und Männer anschauen, die auf die Mädels warten. Herr Gähner vermutet, es muß doch bei den Leuten der
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Wunsch da sein, üble Wahnspiele zu betreiben. Und im Moment beobachtet er insbesondere bei Homosexuellen ein ihn erschreckendes Verhalten: daß sie gezielt ohne Gummi verkehren. Herr Gähner wollte es eigentlich nicht fragen, aber es würde ihn doch interessieren wieviele Leute, die hier sitzen, AIDS-Kranke kennen und mit ihnen einen persönlichen Kontakt haben? Herr Gähner arbeite seit 1987 bei der Deutschen AIDSHilfe. In dieser Zeit seien seine 14 Kollegen an AIDS gestorben, und in seinem näheren und weiteren Bekanntenkreis habe es bestimmt schon 1500 Leute gegeben, die an AIDS gestorben seien. Er wiederlegte die Feststellung von Herrn Schünemann, diese Politik wäre von einem Referenten von Frau Süßmuth bestimmt worden. Wie es in Gähners Formulierung heißt: "Derjenige, der damit gearbeitet hat, hat sich früh gehauen und hat gesagt: ,Der ist homosexuell und kennt sich in diesem Bereich aus'. Aber es waren mehrere Juristen, die an dieser Politik mitgearbeitet haben, und auch sehr vehement dafür eingetreten sind, daß es keine Meldepflicht gibt. Die Meldepflicht bringt ja auch nur Unterlagen über die Zahlen. Und die Vorstellung wie zu Anfang, daß man, wenn jemand positiv ist, eben auf dem Bauch tätowiert wäre: «er ist positiv}}, und man verkehrt dann vielleicht mit ihm nicht oder so, das sind ja Dinge, die die Menschenwürde in starker Weise bemängeln". Und wenn man heute überlege, daß der ungeschützte Geschlechtsverkehr von manchmal 100 Männem in einer Schwulensauna betrieben werde, und daß man davon ausgehen könne, daß 30 % bis 50 % dieser Männer positiv seien, wovon die anderen wissen, und trotzdem mit ihnen ohne Gummi verkehren, dann könne man sich sagen: «Gut, man kann die vielleicht im Interesse der Volks gesundheit belangen, weil sie bis zum Tode durschnittlich 400.000 DM kosteM. Aber, wenn sich jemand bewußt dieser Gefahr aussetzt, kann man - so Herr Gähner - nicht sagen, daß er dafür bestraft werden soll oder muß. Herr Gähner gab ein Beispiel, in dem sich jemand von der Brücke in suizidaler Absicht stürzt und den Fall überlebt. Anschließend kommt die Krankenkasse und sagt, er muß den Rettungsakt und die ganze Krankenbehandlung selber bezahlen. Herr Gähner, der so viele AIDS-Fälle kenne, würde mit einem fremden Partner nie ungeschützt einen Geschlechtsverkehr betreiben. Man müßte auch erwachsenen Menschen zuwider stehen, wenn sie dieses Risiko eingehen wollen. Es gebe natürlich Leute, die zu der Frau sagen, sie wären zwar nicht positiv, aber vorsichtshalber nähmen sie ein Kondom. Eine bewußte Täuschung des Partners mit dem Bewußtsein, daß er infiziert werden könnte, sollte in Gähners Sicht strafbar sein. Das sei besonderes Rechtsempfinden, weil er kein Jurist sei. Vielleicht sei das sein Glück, denn sonst würde er seine Arbeit nicht machen können. Derjenige, der sich bewußt dem Risiko der Infizierung aussetzt, müßte doch auch das Recht haben, dies zu tun. 14. Herr Buchala brachte seine Vermutung zum Ausdruck, daß sein Referat nur ein Anlaß zur Diskussion gewesen sei. Trotzdem wollte er zu manchen Behauptungen Stellung nehmen. Nach Buchalas Wissen bringt die Beatmung von Mund zu
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Mund doch ein Risiko, obwohl es nicht so groß ist wie eine Spritze. Dann überlegte Herr Buchala einen hypothetischen Fall, einen Verkehrsunfall, in dem eine Prostituierte verletzt worden ist, von der man weiß, daß sie HIV-positiv ist. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob man gezwungen ist, die Beatmung von Mund zu Mund durchzuführen, obwohl die Gefahr, in der sich die Frau befindet, nicht so groß ist. Herr Buchala meint, diese Pflicht besteht hier nicht, weil in diesem Fall keine vorsätzliche unterlassene Hilfe vorliegt, sondern eine fahrlässige, denn man hat angenommen, daß die Verletzte HIV-positiv sei. In diesem Fall dürfte man also mit den Sanktionen des Strafrechts nicht operieren. Das Strafrecht sei tatsächlich ultima ratio, es gebe doch andere Mittel zur Vorbeugung. Die Sache sehe ganz anders bei einem Arzt aus. Er sei doch verpflichtet, Hilfe zu leisten und gewissermaßen sich einer Gefahr auszusetzen, die für andere Menschen zu groß wäre. In diesem Fall kann sich der Arzt - so Buchala - auf Notstand nicht berufen. Das sei weder nach polnischem noch nach deutschem Strafrecht möglich. Herr Buchala ist gleichzeitig der Meinung, daß bei einem sehr hohen Infektionsrisiko (etwa 90 oder 95 %) der Arzt keine Pflicht der Hilfeleistung mehr hat. Dasselbe gelte auch für einen Polizisten. Herr Buchala nannte ein Beispiel aus der polnischen Rechtsprechung. Ein Polizist hat einen Dieb festgenommen, der erklärte, er sei HIV-positiv und werde den Polizisten beißen, wenn er ihn nicht loslasse. Der Polizist hat ihm nicht geglaubt, und der Dieb hat ihn gebissen. Gott sei Dank war der Dieb nicht HIV-positiv. Ein Polizist muß - so Herr Buchala - besondere Gefahren ertragen, aber nur solange das Risiko nicht so groß ist, daß es beinahe eine Gewißheit der HIV-Infektion gibt. Herr Buchala beantwortete dann die Frage von Herrn Wtlsek, ob die Strafe des Art. 164 anwendbar ist, wenn jemand um Geld für ein krankes Kind bittet, das sonst nach Aussage des Bittenden sterben werde. Herr Buchala würde hier die Verantwortlichkeit aufgrund Art. 164 ausschließen, auch wenn die Aussage des Bittenden wahr wäre. In diesem Fall bestehe kein unmittelbares Risiko, denn um das Geld zur Operation zu sammeln, braucht man Zeit. Es könnte aber auch passieren, daß der Bettler die Wahrheit nicht sagt, was auf den Straßen in Wahrschau sehr oft vorkomme. Der Irrtum schließe ja die Verantwortlichkeit aus. Für Herrn Buchala ist völlig klar, daß die Behörden doch etwas tun sollten, um die Gefahr zu vermindern, die mit Prostituierten und Homosexuellen verbunden ist. Dabei müsse man aber die Menschenrechte beachten.
11. Schriftliche Diskussionsbeiträge 1. Herr Bemd Schünemann 1. Nachdem Herr Buchala die Probleme der unterlassenen Hilfeleistung und der garantenpflichtwidrigen Unterlassung in bezug auf die Gefahren, die dem HIV-Infizierten drohen, ebenso subtil wie erschöpfend abgehandelt hat, möchte ich in 12 AIDS und Strafrecht
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meinem Diskussionsbeitrag kurz auf das "Komplementärthema" eingehen, das die Abwehr der vom HIV-Infizierten ausgehenden Infektionsgefahren für andere betrifft. Es geht hier vornehmlich um die Strafbarkeit von Amtsträgern wegen eines unechten Unterlassungsdelikts oder auch wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323 c StGB, wenn sie ein ihnen mögliches Einschreiten gegen eine weitere Ausbreitung von AIDS unterlassen. a) Die erste und vermutlich am wenigsten kontroverse Fallgruppe wird vom Nichteinschreiten der zuständigen Behörden gegen den Vertrieb HIV kontaminierter Blutkonserven, Blutbestandteile und Blutprodukte gebildet. Weil es sich hierbei nach deutschem Recht um zulassungsbedürftige Arzneimittel handelt, würde der Bundesgerichtshof den für die Zulassung und entsprechend für den Widerruf der Zulassung zuständigen Beamten vermutlich eine GarantensteIlung zuerkennen, nachdem er die GarantensteIlung von Amtsträgern in seiner Rechtsprechung namentlich zum Umweltstrafrecht in den letzten Jahren äußerst extensiv bestimmt hat. Ich selbst sehe darin nur eine spezielle polizeiliche Aufgabe und vermisse dementsprechend die Garantenvoraussetzung der "Herrschaft über den Grund des Erfolges", weshalb ich die Pflicht zum Widerruf der Zulassung und zum Einschreiten gegen den Vertrieb infektiöser Blutprodukte aus § 323 c StGB wegen unterlassener Hilfeleistung bei "gemeiner Gefahr" ableiten würde. Doch will ich auf diese Streitfrage hier nicht näher eingehen, weil sich der Dissens nicht auf die Existenz einer Gefahrabwendungspflicht, sondern nur auf deren Herleitung und strafrechtliches Gewicht bezieht und deshalb nicht das "Ob", sondern nur das "Wie" der Strafbarkeit betrifft. Außerdem würde bei einem fahrlässigen Verhalten wohl auch die Rechtsprechung über die Anwendung des § 323 c StGB nicht hinauskommen, weil sich die Kausalität des Nichteinschreitens für die einzelne Infektion häufig nicht exakt feststellen lassen wird und damit die fahrlässigen Erfolgsdelikte aus Beweisgründen nicht zur Anwendung kommen können. An dieser Möglichkeit des Kausalitätsnachweises wird es namentlich in der für Deutschland praktisch wichtigsten Fallgruppe fehlen, die jenen Zeitraum betrifft, als dem Bundesgesundheitsamt bereits alarmierende Nachrichten über die mögliche Infektiosität von Blutkonserven und Blutprodukten wegen Kontaminierung mit dem damals noch gar nicht näher bekannten Virus vorlagen, als diese Nachrichten aber andererseits noch nicht so eindeutig und wissenschaftlich abschließend interpretierbar waren, daß schon eine klare Marschroute formuliert werden und beispielsweise alle nicht wärmebehandelten Seren aus dem Verkehr gezogen werden konnten bzw. mußten. Hierbei lege ich wohlgemerkt zu Gunsten der Amtsträger des Bundesgesundheitsamtes die offizielle Version zugrunde, daß man von einem früheren Durchgreifen wegen Ungeklärtheit der medizinischen Fakten Abstand genommen habe und nicht etwa unter lobbyistischem Druck der Pharmaindustrie, wie eine durchaus ernstzunehmende andere Version lautet. Selbst nach der offiziellen Version kann nun aber kein Zweifel daran bestehen, daß die strafrechtlich geschuldete Hilfeleistung dann jedenfalls in der Aufklärung der Betroffenen über die Verdachtsituation bestanden hat, so daß der Tatbestand des § 323 c StGB beispielsweise dadurch erfüllt worden
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ist, daß das Bundesgesundheitsamt nicht sämtliche Bluter auf die wenn auch noch ungeklärten Risiken einer weiteren Fortsetzung der bis dato üblichen Therapie mit hochdosierten Faktor VIII Präparaten hingewiesen und ihnen dadurch eine eigene Entscheidung zwischen den auf dem Spiele stehenden Risiken ermöglicht hat. In der in Deutschland ziemlich heftig geführten öffentlichen Diskussion ist dieser Aspekt eigenartigerweise völlig übersehen worden, und die zuständigen Amtsträger des Bundesgesundheitsamtes haben sich deshalb einfach herausreden können. Daß sie aber wegen Nichtweitergabe der bei ihnen zusammenlaufenden Informationen an den gefährdeten Personenkreis auf jeden Fall eine strafbare unterlassene Hilfeleistung begangen haben, scheint mir evident zu sein. b) Während die Versäumnisse der deutschen Gesundheitsbehörden gegenüber der AIDS-Ausbreitung durch Blut und Blutprodukte der Vergangenheit angehören dürften, ist das Thema in bezug auf die quantitativ zweifellos noch viel bedeutendere AIDS-Ausbreitung im Prostitutionsmilieu unvermindert aktuell. Nach den in einem bestimmten Teil des Schrifttums vielgeschmähten, teilweise geradezu hysterisch kommentierten bayerischen Vollzugshinweisen von 1987, deren weitgehende Übereinstimmung mit dem unter einer sozialdemokratischen Regierung erlassenen österreichischen AIDS-Gesetz von 1986 in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, sollte grob gesagt die Verwaltungspraxis nach dem Geschlechtskrank heitengesetz auch zur Eindämmung der AIDS-Ausbreitung eingesetzt werden, indem Prostituierte zu regelmäßigen HIV-Antikörpertests angehalten und HIV-infizierte Prostituierte sozusagen aus dem Verkehr gezogen werden sollten. Aus der Fülle der hier schlummernden strafrechtlichen Probleme möchte ich nun den Fall herausgreifen, daß der zuständige Leiter eines Ordnungsamtes es unterläßt, gegen die Prostitutionsausübung einer amtsbekannt HIV-infizierten Prostituierten einzuschreiten eine Zurückhaltung übrigens, die in weiten Teilen Deutschlands der gegenwärtigen Behördenpraxis entsprechen dürfte. Der Bundesgerichtshof hat vor einiger Zeit den Leiter eines Ordnungsamtes wegen Beihilfe durch Unterlassen zur Förderung der Prostitution gemäß § 180 a StGB verurteilt, weil dieser gegen einen strafrechtlich verbotenen Bordellbetrieb nicht eingeschritten war. Was dem mit diesem Tatbestand verfolgten Schutz der Prostituierten gegen eigenes unvernünftiges Verhalten recht ist, sollte dem Schutz ihrer Kunden umso eher billig sein, als sich deren Verhalten anders als bei der Berufsentscheidung der Prostituierten nicht auf ihren eigenen Rechtsgüterkreis beschränkt sondern den Regeln der Epidemieausbreitung eine weitere Gefahrenquelle für die Gesundheit der Allgemeinheit eröffnet. Der Bundesgerichtshof müßte in dem von mir gebildeten Fall also erst recht eine Garantenstellung des Ordnungsamtsleiters für Leib und Leben der Kunden bejahen, und anders als bei § 180 a StGB, wo ein in der BGH-Entscheidung völlig übersehenes, weitreichendes Ermessen der Behörde zu respektieren ist, müßte man bei der Pflicht der Ordnungs- und Polizei behörden, eine weitere AIDSAusbreitung durch HIV-infizierte Prostituierte zu verhindern, unbedingt eine Ermessensreduzierung auf Null erwägen. Nach meiner eigenen Konzeption ist die Garantenstellung freilich schon im Ansatz zu verneine~, weil Polizeibeamte zwar 12*
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im öffentlichen Interesse polizeirechtlich zum Einschreiten verpflichtet sein mögen, aber keine Herrschaft über den Grund des Erfolges besitzen. Es bleibt also auch hier richtigerweise bei der "gemeinen Gefahr", die eine HIV-infizierte Prostituierte (nebenbei natürlich ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht) im Sinne des § 323 c StGB darstellt und deretwegen das unterlassene polizeiliche Einschreiten als eine stratbare unterlassene Hilfeleistung zu qualifizieren ist. 2. Wenn man sich fragt, warum das skandalöse Verhalten des Bundesgesundheitsamtes in puncto Sicherheit der Blutkonserven und Blutprodukte bisher in der strafrechtlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl eine Verjährung der (nach dem Standpunkt der Rechtsprechung in Betracht zu ziehenden) Tötungsdelikte durch Unterlassen wegen der späten Erfolgseintritte längst noch nicht droht; und warum die nach vorliegenden Berichten häufig notorische Duldung der Berufsausübung AIDS-kranker Prostituierter durch die Ordnungsbehörden bisher wenig unter strafrechtlichen Aspekten überprüft worden ist: wegen jener eigenartigen Melange aus Liberalismus und Verdrängung, Scheinrationalität, selektiver Larmoyanz und Kryptorücksichtslosigkeit, die den moralischen Kern der postmodernen Gesellschaft bildet und gerade bei ihrer Verarbeitung des AIDS-Komplexes gründlich demaskiert werden kann. Der Verzicht auf Intervention oder wenigstens öffentliche Information nach den ersten triftigen Verdachtsmomenten gegenüber der Sicherheit von Blutkonserven und Blutprodukten, die Ablehnung einer Meldepflicht wie überhaupt jeder gesetzlichen Regelung der AIDS-Problematik mit Ausnahme der Laborberichtsverordnung, die Nichteinführung eines epidemiologisch zuverlassigen Erfassungssystems und schließlich die Ersetzung der ursprünglich auch auf die Testempfehlung gegründeten amtlichen Anti-AIDS-Propaganda durch eine reine Kondomwerbung im Kielwasser der AIDS-Hilfegruppen (und von deren Reaktion auf das AIDS-Urteil BGHSt 36, I!) fügen sich zu jener "Süßmuth-Linie", die die im Ansatz berechtigte Zurückhaltung gegenüber jeder staatlichen Intervention durch die gezielte kollektive und individuelle Verdrängung der epidemiologischen Wirklichkeit in Wahrheit längst diskreditiert hat. Denn wenn der Staat gar nicht wissen will, welche konkrete Entwicklung die weitere AIDS-Ausbreitung nimmt, und wenn dem einzelnen nicht einmal mehr geraten wird, sich bei begründetem Anlaß über seinen eigenen HIV-Status und damit über seine eigenen Verhaltenspflichten gegenüber anderen zu vergewissern, dann läuft das kurzweg auf die Politik der drei Affen hinaus, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen wollen. Ausgerechnet dies als einen rationalen Umgang mit AIDS hinstellen zu wollen, stellt die Dinge genau auf den Kopf und führt sich durch die Verabsolutierung der Kondomwerbung völlig ad absurdum: Von der empirisch längst belegten, nur begrenzten Wirksamkeit dieses Konzepts ganz abgesehen (die natürlich nur die zusätzliche, nicht aber die alleinige Verfolgung dieser Strategie legitimiert), wird damit die primäre Botschaft der totalen Verdrängung mit der sekundären Botschaft des "so tun als ob" kombiniert und damit die permanente Beobachtung einer nur hypothetisch begründeten höchsten Sorgfalt ausgerechnet im Bereich der Sexualität erwartet, dessen anarchisch-irrationale, triebbestimmte Handlungsstruktur seit
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5000 Jahren Allgemeingut der menschlichen Selbsterkenntnis ist, von den Verfechtern der Süßmuth-Linie aber kramptbaft geleugnet wird, obwohl darüber ja in Wahrheit nirgendwo so viel aktuelles Erfahrungswissen vorliegt wie in der als spiritus rector fungierenden Homosexuellenkultur und den in ihr wurzelnden AIDSHilfegruppen. Während ein Rückzug von Staat und Recht aus der aktiven Gefahrenabwehr dort sachlich begründet werden kann, wo die Grenzen der Wirksamkeit des Staates erreicht sind wie in dem jeder Intervention unzugänglichen privaten Lebensraum, macht er seinen rein ideologischen Hintergrund offenbar, wenn er auf das Prostitutionsmilieu als dem wegen der enormen Partnerwechselfrequenz wichtigsten Scharnier für die sexuelle AIDS-Ausbreitung außerhalb bestimmter promiskuitiv organisierter Subkulturen ausgedehnt wird. Das gewöhnlich hinzukommende Argument von der fehlenden Schutzwürdigkeit der Kunden bedeutet eine eigenartige Umschaltung auf die an sich überwunden geglaubte Ebene der Sexualmoral und ist schon deshalb abwegig, weil dabei die typische Anschlußgefährdung der Lebenspartner der Kunden mit einer unerklärlichen Ignoranz übergangen wird. Summa summarum erweist sich damit die nicht als besonnene Abwägung im Einzelproblem, sondern als Ideologie ausnahmslos praktizierte anti-interventionistische Süßmuth-Linie, die die deutsche AIDS-Politik bis heute beherrscht, als eine Moral der in Wahrheit rücksichtslosen Verdrängung und Verheimlichung, deren Rezeptur des permanenten "So-tun-als-ob" weder durchführbar ist, noch einem fairen gesellschaftlichen Miteinander entspricht, weil sie an Stelle von Offenheit und Rücksichtnahme das permanente Mißtrauen und die Rücksichtslosigkeit propagiert. 2. Herr Christoph Sowada Ich möchte eine Anmerkung zu dem Diskussionsbeitrag von Herrn Schünemann machen, der flächendeckende, routinemäßig durchgeführte Zwangstests bei Prostituierten als eine durchaus sinnvolle Maßnahme ansieht, um eine professionelle und dies heißt: andere nicht schädigende Berufsausübung zu gewährleisten. Ich meine, man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, welch intensiver Aufklärungsarbeit es bedurfte, um im Prostitutionsgeschehen die Verwendung von Kondomen in einem stärkeren Maße auf den Weg zu bringen. Würde man jetzt dazu übergehen, das Risiko der Aids-Infektion auf die Prostituierte abzuwälzen und dem Freier durch eine - böse formuliert: dem "TÜV" vergleichbare - staatliche "Unbedenklichkeitsbescheinigung" das Gefühl zu vermitteln, es könne ihm nichts passieren, so wäre im Gegenzug zu Erwarten, daß das Drängen auf einen Vollzug des Geschlechtsverkehrs ohne Kondom wieder deutlich ansteigen würde. Die Erhöhung des gegen eine soziale Randgruppe ausgeübten Drucks würde aber schon allein im Hinblick auf das sog. "diagnostische Fenster" (überdies auch wegen der unzureichenden Kontrollmöglichkeiten) die geweckten Sicherheitserwartungen gar nicht erfüllen können, so daß unter dem Strich möglicherweise weniger Schutz vor Aids erzielt würde, als dies gegenwärtig der Fall ist. Ich danke Ihnen.
AIDS und Schwangerschaft - Strafrechtliche Probleme Referat Von Hans-Georg Koch
I. Einführung Gestatten Sie einleitend Worte des Dankes an Herrn Professor Szwarc, nicht nur für die bei ihm ja schon sprichwörtliche Perfektion in der Organisation des Symposiums, sondern auch dafür, daß er mir Gelegenheit gab, zu diesem Thema zu Thnen sprechen zu dürfen. Je länger ich an der mir zugedachten Aufgabe gearbeitet habe, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, daß unser spiritus rector mit der Bestimmung dieses Themas ein Gespür dafür hatte, im Gesamtkomplex der Tagungsthematik gebe es nicht nur bekannte Fragestellungen, deren überzeugende Lösung neuer Anläufe bedarf, sondern auch solche, denen bislang - was die juristische Durchdringung angeht, zu Unrecht - kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zunächst drei Bemerkungen, die Sie gerne auch als Exkulpationen verstehen dürfen: - Das Thema ist ein Beispiel dafür, wie einseitig die Konzentration auf ein einzelnes Rechtsgebiet sein kann, wenn ein medizinrechtlich einschlägiger Sachverhalt zur Diskussion gestellt werden soll. Denn man erkennt schnell, daß Entstehung und Beendigung einer Schwangerschaft bei einer zumindest HIV-positivVerdächtigen neben strafrechtlichen Problemen auch jedenfalls nicht minder gewichtige des Zivilrechts, ja auch des Seuchenrechts aufwirft. Ich werde mich hier auf strafrechtliche Fragestellungen konzentrieren, möchte Thnen jedoch auch meines Erachtens gelegentlich angebrachte Seitenblicke zumuten dürfen. - Der Bereich, um den es im folgenden gehen soll, ist in erheblichem Maß durch Ungewißheiten hinsichtlich einschlägiger medizinischer Faktoren gekennzeichnet. Wie groß oder gering beispielsweise die Gefahr ist, daß ein Kind einer HIVpositiven Schwangeren auch selbst HIV-positiv zur Welt kommen wird, ist eine medizinische, nicht eine rechtliche Frage. Der Jurist kann sie demnach nicht beantworten; er muß die - offenbar bislang nicht restlos geklärte - medizinische Datenlage zur Kenntnis nehmen und hieraus seine Folgerungen ziehen. Für die Behandlung einschlägiger Rechtsprobleme sind wir damit teilweise vor die Aufgabe einer Art Beurteilung unter Unsicherheit gestellt.
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- Rechtsprechung setzt traditionell Marksteine. Mag ihre Plazierung auch manchmal zu Kritik Anlaß geben, so werden dadurch doch immerhin Zeichen gesetzt. Auf derartige Hilfestellungen kann man als Jurist bei der Behandlung der mir aufgegebenen Thematik für das deutsche Recht derzeit nicht zurückgreifen. HIV-positive Schwangere kommen in der publizierten deutschen Rechtsprechung offenbar bislang nicht vor. Auch was die Frage einer für die Praxis gesicherten Rechtslage angeht, werden wir uns also im weiteren teilweise auf schwankendem Boden bewegen. Die folgenden Ausführungen werden sich zunächst mit Problemen befassen, die HIV im Zusammenhang mit der - natürlichen oder künstlichen - Herbeiführung einer Schwangerschaft aufwirft (11.). Dabei werde ich die Frage der Stratbarkeit eines solchen Verhaltens des "Schwangerschaftsverursachers" als gegenüber der Frau begangenes (versuchtes) Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt weitgehend ausklammern, da dieser Problemkreis thematisch eher zum Referat von Herrn Prof. Herzberg gehört. Hierzu an dieser Stelle nur soviel: Aufgeklärt-einverständlichen Geschlechtsverkehr halte ich mit der ganz herrschenden Auffassung für straflos, auch wenn einer der Beteiligten HIV-positiv ist. Das "Abstinenzgebot" in § 6 des deutschen l Geschlechtskrankheitengesetzes (GKG) - das gegen eine Einwilligung des Sexualpartners gewissermaßen immun wäre2 - ist nicht einschlägig, da sich dieses Gesetz nicht auf die HIV-Infektion anwenden läßt? Erhebliches Informationsgefälle stünde einem strafrechtlich beachtlichen Einverständnis entgegen; die Frage, welcher Straftatbestand richtigerweise als erfüllt anzusehen ist,4 erscheint aus der Sicht der mir aufgegebenen Thematik als randständiges Problem und soll deshalb hier nicht weiterverfolgt werden. Ein zweiter Schwerpunkt wird Fragen des Schwangerschaftsverlaufs bis zur Geburt gewidmet sein (I1I.-IV.); dabei werde ich auch kurz darauf eingehen, welche strafrechtsrelevanten Fragen der Umgang mit einem Neugeborenen aufwirft (V.). Schließlich seien einschlägige Fragen der präkonzeptionellen Beratung (VI.) und der vorzeitigen Beendigung einer Schwangerschaft durch deren Abbruch (VII.) angesprochen, bevor abschließend die Frage etwaiger strafrechtspolitischer Konsequenzen behandelt werden soll (VIII.).
1 Die folgenden Ausführungen werden sich - bei gelegentlichen Seitenblicken - schwerpunktmäßig mit der deutschen Rechtslage befassen. 2 Vgl. Pelchen, Georg, in: Erbs, Georg/Kohlhaas, Max, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand 1. 12. 1995, § 6 GKG Anm. 2 b) bb). 3 Allgemeine Ansicht, vgl. Bottke, Wilfried: AIDS und Recht, in: AIFO 1993, S. 419 ff., 427; Reuter-Krauß, Wiebke/Schmidt, Christoph: AIDS und Recht von A-Z. München 1988, S. 8 f. 4 Vgl. dazu etwa Schünemann, Bemd: Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung?, in: IR 1989, S. 89 ff. m.w.N.; Bottke, Wilfried: AIDS und Recht, in: AIFO 1993, S. 419 ff., 476 f.
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11. Herbeiführung einer Schwangerschaft
Darf eine HIV-positive Frau schwanger werden, darf ein HIV-Positiver Vater werden wollen? Gefühlsmäßig mag man geneigt sein, diese Fragen zu verneinen. Eine rechtliche Analyse wird jedoch zeigen, daß die Antwort nicht so ohne weiteres auf der Hand liegt. Medizinisch ist davon auszugehen, daß es zu einer diaplazentaren Übertragung der HIV-Infektion von der Mutter auf das ungeborene Kind kommen kann. In der einschlägigen Literatur wurden früher Ansteckungsrisiken für den Embryo von 40 bis über 50 %, später von 25-35 %5 genannt; neuere Erkenntnisse weisen auf eine vertikale Transmissionswahrscheinlichkeit von etwa 15 % hin. 6 Zur Übertragung des Virus auf das Kind kann es im Verlauf der Schwangerschaft, aber auch erst durch die Geburt kommen. Strafrechtlich könnte eine HIV-positive Frau, dadurch, daß sie schwanger wird, eine (versuchte) Körperverletzung (eine Giftbeibringung, oder gar ein Tötungsdelikt7 ) gegenüber dem von ihr empfangenen Kind begehen. Rechtlicher Anknüpfungspunkt könnte insoweit nur die Vornahme des zur Schwangerschaft führenden Geschlechtsverkehrs sein. Spätere Geschehensabläufe, die zu einem Übergang des Virus auf die Leibesfrucht führen, stellen keine Handlung der Schwangeren im strafrechtlichen Sinne dar: Es handelt sich insoweit nicht um ein willensgetragenes Verhalten, sondern um einen natürlichen Geschehensablauf. Damit haben wir es strafrechtlich mit einer Art actio libera in causa zu tun, deren Besonderheit darin besteht, daß die etwaige Verletzungshandlung das Tatobjekt, welches das verletzte Rechtsgut verkörpert, erst schafft. 8 Gerade dieser letztgenannte Aspekt ist es, der eine strafrechtliche Verantwortlichkeit in der skizzierten Fallgestaltung ausscheiden läßt. Um ein unverfängliches Beispiel zu nennen: Wer einen Computer baut, der von vornherein nicht richtig funktioniert, begeht - die in unserem Zusammenhang nicht interessierende Eigentumsfrage beiseitegelassen - keine Sachbeschädigung. Abstrakt formuliert: Der "Hersteller" eines rechtlich geschützten Objekts kann tauglicher Täter erst sein, wenn er den Herstellungsprozeß abgeschlossen hat. Wollte man anders entscheiden, so wäre etwa auch die bewußte Zeugung eines genetisch geschädigten Kindes als Körperverletzungs-, die eines extrauterin nur kurzfristig überlebensfähigen Kindes sogar als Tötungsdelikt strafbar - ein ethisch - und verfassungsrechtlich 9 5 Vgl. Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in: Jäger, Hans (Hrsg.): AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 2 m.w.N. 6 Vgl. Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 74 f. 7 Siehe oben bei Anm. 4. 8 Zur etwaigen Verantwortlichkeit wegen eines Unterlassungsdelikts, insbesondere hinsichtlich der Geburtsmodalitäten, vgl. unten IV.
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völlig unakzeptables Ergebnis. Schon aus diesen Gründen kann daher der Zeugungsakt HIV-Positiver nicht als Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt zum Nachteil des dadurch gezeugten Kindes angesehen werden. Entsprechendes muß dann aber auch beispielsweise für einen Arzt gelten, der sich als "Fortpflanzungshelfer" betätigt. Ein sicher nicht alltägliches, aber immerhin vorstellbares Beispiel wäre, daß eine HIV-positive Frau einen Arzt um medizinisch unterstützte Fortpflanzung - z. B. durch künstliche Insemination oder In-vitro-Fertilisation - bittet - oder daß eine bislang gesunde Frau eine künstliche Insemination mit dem Sperma eines HIV-positiven Spenders vornehmen lassen will. lO Dieses Resultat ll konvergiert übrigens mit der deutschen Zivilrechtsprechung zum Thema "wrongful life/birth", die großen Wert darauf legt, nicht das Kind selbst als Schaden zu begreifen, sondern die Unterhaltsbelastung der Eltern. 12 Es steht im übrigen nur scheinbar im Widerspruch zur berühmten Entscheidung des BGH im sog. Lues-Fall,13 in dem die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit eines Dritten für die Auswirkungen einer präkonzeptionell erfolgten Schädigungshandlung (Infektion der später schwangeren Frau mit Lues) bejaht wurde. Die hier als entscheidend angesehene Differenzierung zwischen am Zeugungsgeschehen (und am Austragen der Schwangerschaft) Beteiligten einerseits und anderen Schadensverursachern klingt sogar im Lues-Urteil selbst schon an. Strafrechtlich wäre natürlich durchaus denkbar, eine derartige Verhaltensweise de lege ferenda zu sanktionieren. Vom geschützten Rechtsgut her würde es sich aber kaum um ein Delikt zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit (des Kindes, dessen Entstehung verhindert werden soll) handeln, sondern vielmehr um die Manifestation gewisser Leitbilder eines möglichst gesunden Nachwuchses. Ob sich eine solche Kriminalisierung zweifellos atypischen und weitgehend als sozial uner9 Zu Art. 6 GG als Grundrecht auf Familiengründung vgl. Tiedemann, Inge Karin: Familienrechtliche Probleme im Zusammenhang mit AIDS, in: Schünemann, Bernd/Pfeiffer, Gerd (Hrsg.): Die Rechtsprobleme von AIDS. Baden-Baden 1988, S. 530; Dürig, Günter, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Kommentar. München 1993, Art. 1 Rdn. 65 und Art. 2 Abs. 2 Rdn. 31. 10 Die Medizin kennt zwar gewisse Methoden zur antiviralen Spermaaufbereitung; diesen scheint jedoch noch ein gewisses "Restrisiko" anzuhaften, vgl. Eberbach, Wolfram H.: Rechtsprobleme der HTLV-I1I-Infektion (AIDS). Berlin, Heidelberg, New-York 1986, S. 50 ff. und S. 59 f.; Block, Berthold (Hrsg.): HlV-Infektion und AIDS. Stuttgart, Jena, New-York 1993, S. 120. 11 Die im Anschluß an diesen Vortrag von Prof. Herzberg geübte Kritik an diesem Ergebnis hat mich bislang nicht umzustimmen vermocht. Im Gegensatz zu Herzberg halte ich das im Text genannte Kriterium aus den dort sowie unten VIII. angeführten Gründen für zwingend, und zwar auch für Fälle, in denen einer der am Zeugungsgeschehen Beteiligten den anderen über das von ihm ausgehende Risiko für Gesundheit und Lebenserwartung des Kindes täuscht. Ein solches Verhalten berührt Rechte des Partners, nicht aber des "dolos" gezeugten Kindes. Dies gilt auch für den Fall, daß sich das Zeugungsgeschehen mit ärztlicher Unterstützung abspielt. 12 Vgl. dazu BGH NJW 1994,788 ff. 13 BGHZ 8, 243 ff.
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wünscht empfundenen Fortpflanzungsverhaltens empfehlen würde, ist eine Frage, auf die ich am Ende noch einmal zurückkommen werde. 14
111. HIV-Kontakte einer Frau während ihrer Schwangerschaft
Wenden wir uns nun dem Fall zu, daß eine bei der (HIV-unverdächtigen) Befruchtung noch gesunde Schwangere erst während der Schwangerschaft (wissentlich und willentlich) mit dem HIV-Virus in Kontakt kommt und dadurch ihr Kind intrauterin zu infizieren droht. Kann dieses Geschehen ein (versuchtes) Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt an diesem Kind darstellen? Der Sache nach haben wir es mit einem längst vor AIDS bekannten Problem zu tun: Wie sind Einwirkungen auf die Leibesfrucht strafrechtlich zu bewerten, wenn das später geborene Kind als deren Folge körperlich geschädigt ist?15 Einhellig wird zwar die Auffassung vertreten, daß. Objekt einer Körperverletzung nur ein (geborener) Mensch sein könne - wobei als insoweit maßgebliche Zäsur der Beginn der Geburt im Sinne des Einsetzens der Eröffnungswehen bzw. vergleichbarer medizinischer Ersatzhandlungen gilt l6 ; umstritten ist aber, inwieweit gleichwohl auch pränatale Einwirkungen auf eine Leibesfrucht tatbestandsmäßig sind. Kommt es nach einer Einwirkung auf den Foetus zwar zur Geburt eines lebenden Kindes, das aber aufgrund dieses Geschehens krank ist oder stirbt, wird teilweise die Ansicht vertreten, entscheidend sei, daß jedenfalls die Folgen der Tat einen Menschen treffen. 17 Jedoch komme, so wird von manchen ergänzend differenziert, im Hinblick auf die Straflosigkeit fahrlässiger Abtreibung nur eine Haftung für vorsätzliche Körperverletzung in Betracht. 18 Die - herrschende - Gegenmeinung will auf die Rechtsgutsqualität des Tatobjekts im Zeitpunkt der Einwirkung abstellen. 19 Danach kann die intrauterine Verletzung eines Embryos nicht den Tatbestand einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung erfüllen. Vermittelnd meint Vgl. unten VIII. Das Problem hat in Deutschland durch das Arzneimittel Contergan traurige Berühmtheit erfahren. 16 Vgl. zuletzt BGH MedR 1983, S. 155 ff., 157 mit Problemstellung von Koch. I? Vgl. LG Aachen, JZ 1971, S. 507 ff.; Arzt, Gunther/Weber, Ulrich, Strafrecht, Besonderer Teil I, LH. 1. 3. Auf!. Bielefeld 1988, S. 103, 159 ff. 18 Vgl. Eser, Albin, in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar. 24. Auf!. München 1991, § 223 Rdn. 1 a. 19 Vgl. z. B. Hirsch, Hans-Joachim, in: Leipziger Kommentar, Bd. 5. 10. Auf!. Berlin, New York 1989, vor § 223 Rdn. 2; Horn, Eckhard, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch. Bd. 2. 5. Auf!. Neuwied, Krittel, Berlin 1995, § 223 Rdn. 2; Lüttger, Hans: Der Beginn der Geburt und das Strafrecht, in: JR 1971, S. 133 ff, 138; ders.: Geburtsbeginn und pränatale Einwirkungen mit postnatalen Folgen, in: NStZ 1983, S. 481 ff., 483; Maurach, Reinhart/Schroeder, Friedrich-Christian/Maiwald, Manfred, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 1. 7. Auf!. Heidelberg 1988, S. 82; Tepperwien, Ingeborg: Pränatale Einwirkungen als Tötung oder Körperverletzung? Diss. Tübingen 1973, S. 8 ff. 14 15
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schließlich Eser, es sei die Existenz des Rechtsgutträgers in dem Zeitpunkt entscheidend, in dem sich die Handlung auszuwirken beginne; sein zur Illustration gedachtes Beispiel betrifft jedoch den dafür keineswegs treffenden Fall einer erst nach der Geburt bewirkten Schädigung?O Der erstgenannten Auffassung ist insoweit zuzustimmen, als es nicht darauf ankommt, daß das Tatobjekt zum Zeitpunkt der Willensbetätigung bereits existiert. Andererseits wird man der herrschenden Auffassung beizupflichten haben, wonach das Tatobjekt eines Zustandsdelikts im Zeitpunkt der Einwirkung durch den Täter bereits vorhanden sein muß. 21 Neben diesem systematischen Argument wird von vielen Autoren auf qualitative Unterschiede zwischen der Strafbarkeit als Abtreibungs- bzw. als Tötungsdelikt verwiesen. 22 In der Tat erschiene es wenig einleuchtend, warum der Gesetzgeber zwar für die Abtötung der Leibesfrucht eine spezialtatbestandliche Regelung mit erheblichen Privilegierungen im Verhältnis zu den Delikten gegen das geborene Leben vorzusehen für erforderlich gehalten haben sollte, (bloße)23 Embryonenschädigungen aber unter die allgemeinen Körperverletzungsdelikte hätte subsumiert wissen wollen. Natürlich kann man in diesem Zusammenhang das Fehlen eines speziellen Tatbestandes der Embryonenschädigung beklagen: Der deutsche Gesetzgeber hat es bislang nicht vermocht, die damit verbundenen Probleme, insbesondere im Hinblick auf eine unangebrachte Kriminalisierung fahrlässiger Verhaltensweisen der werdenden Eltern, zu lösen. 24 Demgegenüber gibt es im polnischen Strafrecht seit 1993 einen speziellen Tatbestand der Embryonenschädigung, in dem allerdings die Schwangere selbst von Strafbarkeit ausgenommen iSt. 25 Inwieweit diese Bestimmung, insbesondere im Hinblick auf HIV-Infektionen, seit ihrem Inkrafttreten bereits praktische Bedeutung erhalten hat, ist mir nicht bekannt.
20 V g1. Eser, Albin, in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar. 24. Auf). München 1991, § 223 Rdn. 1 a. 21 Ebenso - mit eingehender Begründung - Roxin, Claus: Probleme beim strafrechtlichen Schutz des werdenden Lebens, in: JA 1981, S. 542 ff., 548 f., der auch auf Art. 103 GG hinweist. 22 Vg1. dazu Lüttger, Hans: Der Beginn der Geburt und das Strafrecht, in: JR 1971, S. 133 ff.; Tepperwien, Ingeborg: Pränatale Einwirkungen als Tötung oder Körperverletzung? Diss. Tübingen 1973, S. 12 ff. 23 Über die Bewertung läßt sich streiten, vg1. Arzt,Gunther/Weber, Ulrich, Strafrecht. Besonderer Teil I, LH 1. 3. Auf). Bielefeld 1988, S. 159 ff. einerseits, sowie Roxin, Claus: Probleme beim strafrechtlichen Schutz des werdenden Lebens, in: JA 1981, S. 542 ff., 548 f. andererseits. 24 Vg1. dazu aber auch den im Diskussionsentwurf eines Embryonenschutzgesetzes von 1986 vorgesehenen, später aber wieder zurückgezogenen Embryonenschutztatbestand (§ 1 DE-ESchG). 25 Vg1. Art. 156 a pStGB; siehe dazu auch Weigend, Ewa/Zielinska, Eleonora: Das neue polnische Recht des Schwangerschaftsabbruchs: politischer Kompromiß und juristisches Rätselspiel, in: ZStW 1994, S. 213 ff., 214.
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Für unsere Fallkonstellation ergibt sich - nach deutschem Recht - daraus: Wird das Kind bereits im Mutterleib HIV-positiv, ist der Tatbestand der Körperverletzung nicht erfüllt. Erfolgt die Konversion erst postnatal, scheiden aber entsprechende postnatale Einwirkungen als Ursache aus, so wird man zu keinem anderen Ergebnis kommen können: Auch wenn sich die Schädigung erst am geborenen Menschen diagnostisch feststellbar manifestiert hat, war doch offenbar die zum Schaden führende Kausalkette bereits während der Schwangerschaft auf den Embryo "übergesprungen".26 Würde hingegen das geborene Kind erst durch eine postnatale Handlung der Mutter HIV-positiv, wäre strafrechtlich auch an diese anzuknüpfen; die Verantwortlichkeit desjenigen, der die Mutter infiziert hat, wäre eine Frage des Zurechnungszusammenhangs. 27 Bleibt der Fall, daß die (präkonzeptionell bereits HIV-positive) Frau während der Schwangerschaft Handlungen vornimmt, die das Risiko für die Leibesfrucht steigern, ebenfalls HIV-positiv zu werden. Zu denken wäre etwa an sexuelle Kontakte mit einem HIV-positiven Partner oder an HIV-riskante Modalitäten VOn Drogenkonsum. Indes wird sich medizinisch der Nachweis eines entsprechenden Kausalverlaufs, ja selbst einer entsprechenden Risikoerhöhung kaum führen lassen, so daß allenfalls eine - vom jeweiligen subjektiven Tatbild abhängige - Versuchsstrafbarkeit in Betracht käme.
IV. Geburt Wie bereits erwähnt, kann die Geburt als physiologisch ablaufender Vorgang als solche keine strafrechtliche Verantwortlichkeit der HIV-positiven Frau für eine dadurch erfolgende Übertragung des Virus auf das Kind begründen. Denkbar erscheint jedoch ein Anknüpfen daran, daß die Frau es unterläßt, einen für das Kind weniger riskanten Weg zur Welt zu eröffnen, sprich, sich von ihrem Kind durch Kaiserschnitt entbinden zu lassen. Unterstellt, auf diesem Weg ließe sich tatsächlich das HIV-Risiko für das Kind verringern,28 wäre zu fragen, ob die Frau verpflichtet sein kann, im Interesse ihres Kindes einen solchen für sie selbst mit zumeist erheblich höheren Belastungen und Risiken verbundenen Weg einzuschlagen. Zurechnungsprobleme beiseitegelassen - Verantwortlichkeit wegen eines vollendeten Körperverletzungsde1ikts wäre nur auf der Basis der VOn Roxin begründeten und im Schrifttum zunehmend anerkannten, VOn der Rechtsprechung 26 Ebenso wohl Roxin, Claus: Probleme beim strafrechtlichen Schutz des werdenden Lebens, in: JA 1981, S. 542 ff., 548 f. 27 Stichwort: vorsätzliches Dazwischentreten Dritter, vgl. dazu Lenckner, Theodor, in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar. 24. Auf!. München 1991, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 77 und Rdn. 100. 28 Medizinisch erscheint es freilich nach derzeitigem Stand der Erkenntnis als fragwürdig, ob sich durch eine Schnittentbindung das Transmissionsrisiko verringern läßt, vgl. Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 76.
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bisher aber nicht adaptierten Risikoerhöhungslehre29 gegeben - geht es darum, welche Pflichten der Frau als Garantin für ihre Leibesfrucht auferlegt werden können. Das Problem hat in Deutschland bislang offenbar noch kaum Beachtung gefunden; es wird sich - ganz generell - mit der weiteren Entwicklung invasiver fetaltherapeutischer Verfahren in Zukunft aber wohl verstärkt stellen. Ohne auf diese Problematik hier näher eingehen zu können, wird man für die Pflichtenfrage immerhin folgende qualitative Korrelation zugrundelegen können: Je größer die Zumutung für die betroffene Frau, desto deutlicher müssen die Vorteile für den Nasciturus ausfallen. Für unser Problem ergibt sich daraus: Jedenfalls solange medizinisch nicht als gesichert gelten kann - und das kann es offenbar jedenfalls derzeit nicht -, daß eine Schnittentbindung das HlV-Übertragungsrisiko für den Nasciturus qualitativ entscheidend verringert, wird man der Gebärenden eine Verpflichtung, sich einem Kaiserschnitt zu unterziehen, nicht ansinnen können. V. Säuglingspflege, insbesondere Stillen Nehmen wir an, ein Neugeborenes hat trotz HIV-positivem Status seiner Mutter Schwangerschaft und Geburt uninfiziert überstanden. Es darf selbstverständlich erwarten, rechtlich gegenüber jedermann - auch gegenüber seiner leiblichen Mutter - davor geschützt zu werden, infiziert zu werden. Die Frage, welche Pflichten damit der jungen Mutter angesonnen sind, wird zwar von dem mir aufgegebenen Thema nicht mehr unmittelbar erfaßt. Dennoch liegt es nahe, das "Stillproblem" kurz anzureißen. In der Muttermilch HIV-positiver Frauen lassen sich HIV-Viren nachweisen; in Studien hat sich die Gefahr einer HIV-Transmission durch Stillen gezeigt. 30 Diese Erkenntnisse haben zu Empfehlungen geführt, infizierte Mütter sollten ihre Kinder nicht stillen; ein explizites Stillverbot besteht jedoch bislang nicht. 31 Für den Routinefall einer nicht weiter "HIV-verdächtigen" Wöchnerin wird jedoch kein medizinischer Anlaß bestehen, diagnostische Maßnahmen zur Feststellung einer etwaigen Still-Kontraindikation, sprich einen HIV-Test, anzuraten oder gar aufzugeben. Jedenfalls handelt, wer dies nicht tut, nicht sorgfaltswidrig gegenüber dem Kind und macht sich nicht wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar, wenn gleichwohl 29 Zum Streitstand vgl. Roxin, Claus, Strafrecht, Allgemeiner Teil. 2. Auf!. München 1994, S. 314 ff. 30 Vgl. Fröschl, Monika/Braun-FaIco, Otto: Frauen und Aids, in: Braun-FaIco, OttolDeinhardt, Friedrich/Goebel, Frank-Detlef (Hrsg.): AIDS, Leitlinien für die Praxis. München, Wiesbaden 1987, S. 78 ff., 84; Stück, Burghard/Röhrig, Bernd/Rudolph, Richard (Hrsg.): AIDS bei Frauen und Kindern. Stuttgart, New-York 1989, S. 36; Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 77. 31 Vgl. dazu den Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe AIDS, München 1986, S. 40; Kamps, Bernd Sebastian (Hrsg.): AIDS 1993. Wuppertal 1993, S. 174; Frankenberg, Günter (Hrsg.): AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat. Baden-Baden 1988, S. 119.
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bei der Frau eine HIV-Infektion vorlag und diese über die Muttermilch auf das Kind übertragen worden sein sollte. Im übrigen stehen wir wiederum vor einem Abwägungsproblem: Den Vorteilen einer Ernährung durch Muttermilch steht das Risiko gegenüber, dadurch langfristig tödlich zu erkranken. Diese Abwägung kann im jeweiligen Einzelfall unterschiedlich ausfallen; unter mitteleuropäischen Verhältnissen wird man regelmäßig davon ausgehen dürfen, daß auch ohne Stillen eine hinlänglich gesunde Ernährung des Kindes gesichert werden kann, während andernorts die lebens- und gesundheitsschützenden Effekte des Stillens wesentlich höher zu bewerten sein können. In diese Abwägung ging das Stillen als eine Art Mütterrecht nicht eigens ein. Ein solches Recht könnte auch nicht dazu legitimieren, das Kind vitalen Gefahrdungen auszusetzen. Insofern liegen die Dinge bei HIV anders als bei den durch das Geschlechtskrankheitengesetz (GKG) erfaßten Krankheiten, für die § 7 GKG nur ein ausdrückliches Verbot, fremde Kinder zu stillen, vorsieht. Es läge nahe, einem solchen typischen Gefahrdungssachverhalt wie dem des Stillens durch seuchenrechtliche Verbote zu begegnen. Teilweise wird denn auch versucht, aus § 34 des deutschen Bundesseuchengesetzes die Möglichkeit eines Stillverbotes abzuleitcn. 32 Straf- bzw. bußgeldrechtliche Konsequenzen könnten sich daraus indes erst mittelbar ergeben, nämlich wenn einem entsprechenden verwaltungsrechtlich im Einzelfall angeordneten Verbot zuwidergehandelt würde?3 Dies gilt auch für Muttermilchspenden durch ,,Ammen". Keine Frage, daß sich HIV-positive Muttermilchspenderinnen wegen (versuchter) Körperverletzung oder gar Tötung zum Nachteil durch sie versorgter Kinder strafbar machen können?4 Eine Vorfeldinkriminierung durch Schaffung eines entsprechenden Gefahrdungsdelikts hat der deutsche Gesetzgeber bislang aber nicht für geboten gehalten. Dies wohl zu Recht: Dem notwendigen Schutz von Säuglingen läßt sich in effektiver Weise dadurch nachkommen, daß als HIV-positiv erkannte Frauen als Muttermilchspenderinnen administrativ ausgeschlossen werden 35 ; von einer zusätzlichen Pönalisierung wäre kein weiterer Präventionseffekt zu erwarten. Die Notwendigkeit kontinuierlicher HIV-Überwachung von "Ammenmüttern" dürfte im übrigen als medizinischer Standard anerkannt sein. 36 Im übrigen könnten gegen leibliche 32 Für ein Stillverbot gern. § 34 BSeuchG, wonach Maßnahmen ergriffen werden können, um die Übertragung von ansteckenden Krankheiten zu verhindern, das Bayerische Staatsministerium des Inneren, vgl. Bottke, Wilfried: AIDS und Recht, in: AIFO 1993, S. 419 ff., 426 rn.N. 33 Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen nach § 34 Abs. 1 S. 1 BSeuchG sind gern. § 69 Abs. 1 Nr. 4 BSeuchG bußgeldbewehrt und können mit Geldbuße bis zu DM 50.000 geahndet werden. 34 Vgl. Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe AIDS. München 1986, S. 40; Bottke, Wilfried: AIDS und Recht, in: AIFO 1993, S. 419 ff., 426. 35 Gegenüber professionell tätigen Muttermilchspenderinnen könnten Untersagungsverfügungen gern. § 38 BSeuchG ausgesprochen werden. 36 Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe AIDS. München 1986, S. 40.
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Mütter, die trotz ihres HIV-positiven Status nicht bereit sind, dem Stillen zu entsagen, durch das Vormundschaftsgericht familienrechtliche Maßnahmen bis hin zum temporären Entzug des Personensorgerechts ergriffen werden.
VI. Präkonzeptionelle Beratung
Nach diesem Abstecher in Fragestellungen, die sich auf die Zeit nach der Schwangerschaft beziehen, sei noch ein etwaiges präkonzeptionelles Gegenstück angesprochen, nämlich die ärztlichen Pflichten im Zusammenhang mit der Beratung von Frauen bzw. Paaren mit Kinderwunsch. Zivilrechtlich schuldet der Arzt, auch auf Risiken für das angestrebte Kind bzw. die angestrebte Schwangerschaft hinzuweisen, soweit dafür, etwa durch Lebensalter oder Krankenvorgeschichte, konkrete Anhaltspunkte bestehen. 37 Solche Anhaltspunkte wären im Hinblick auf eine HIV-Infektion beispielsweise, wenn dem Arzt bekannt ist oder sich der Verdacht aufdrängt, daß die Frau intravenös drogenabhängig ist. Liegen keine sozialen oder gesundheitlichen Indikatoren für eine AIDS-Infektion vor, muß der Arzt jedoch weder einen AIDS-Test anbieten, noch sonstige Maßnahmen treffen. 38 Wird ein Paar, bei dem einer der Partner HIV-positiv ist, im Rahmen einer Beratung oder Behandlung vor der Schwangerschaft trotz Kenntnis oder Vermutung des Arztes, daß eine AIDS-Infektion besteht, von diesem nicht darüber aufgeklärt, daß durch eine HIV-Infektion der Frau für den Embryo eine Transmissionsgefahr besteht, oder daß sich - bei HIV-positivem Status der Frau - ihr Gesundheitszustand durch die Belastungen während der Schwangerschaft verschlechtern kann, so können sich zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz gegen den Arzt ergeben, auf die im Detail hier nicht weiter einzugehen ist. 39 Weitergehende Pflichten sollen den Arzt treffen, wenn er um Maßnahmen medizinisch unterstützter Fortpflanzung (z. B. In-vitro-Fertilisation, künstliche Insemination) angegangen wird. Hier soll der Arzt auf jeden Fall dazu verpflichtet sein, einen AIDS-Test anzuraten. Dies wird damit begründet, daß Entzündungen, die zur Eileitersterilität führen, durch häufig wechselnde Sexualpartner bedingt sein können und somit auch auf die Möglichkeit einer AIDS-Infektion hinweisen. Außerdem sollen sterile Männer nicht selten bisexuell veranlagt sein, was ebenfalls in verstärktem Maß eine HIV-Diagnostik angezeigt erscheinen lasse. Bei einem steri37 Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in: Jäger, Hans (Hrsg.): AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 1 mit Verweis auf die Rechtsprechung des BGH. 38 S. Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwanger- schaft, in: Jäger, Hans: AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 3. 39 S. Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in: Jäger, Hans: AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 10 ff.; ders.: Rechtsprobleme der HTLV-III-Infektion (AIDS). Berlin, Heidelberg, New-York 1986, S. 43 ff.
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len Paar bestünden somit im Gegensatz zu einem "unauffälligen" genügend medizinische Anhaltspunkte, die es angeraten erscheinen lassen, der Möglichkeit einer HIV-Infektion nachzugehen. Außerdem gehe es nicht allein um Beratung, sondern auch um eine Behandlung durch einen medizinischen Eingriff. Dies rechtfertige es, dem Arzt aufzugeben, die Frage etwaiger Kontraindikationen umfassender zu prüfen. 4o Die Rechtsprechung hatte freilich bislang offenbar noch keine Gelegenheit, diese Fragen speziell im Hinblick auf HIV-Risiken zu klären. Meines Erachtens kann ein Arzt insoweit allenfalls zu Befunderhebungen bei den Beteiligten verpflichtet sein, denen auch die biologische Elternrolle zufallen soll. Anders ausgedrückt: Bei einer heterologen Insemination auch etwaigen HIV-Risiken seitens des "sozialen" Vaters nachzugehen, wird man den Arzt nicht für verpflichtet ansehen können; der an die Frau gerichtete Rat, sexuelle Kontakte mit möglicherweise HIV-positiven Partnern zu vermeiden, muß insoweit genügen. Auch bei - gleich auf welche Weise - eingetretener Schwangerschaft stellt sich die Frage, inwieweit der Arzt verpflichtet ist, der Schwangeren einen HIV-Test anzuraten oder zumindest anzubieten. 41 Insoweit wird man dem Umstand Beachtung zu schenken haben, daß ein HIV-Antikörpertest im Rahmen der SchwangerschaftsVorsorgeuntersuchungen von den gesetzlichen Krankenkassen vergütet wird; in den Mutterschaftsrichtlinien wird jedoch auch betont, daß der Test erst nach vorheriger ärztlicher Beratung der Schwangeren erfolgen soll.42 Man wird daraus schließen können, daß der Arzt nicht gehalten ist, Schwangere zum Test zu drängen, daß er aber auf die Möglichkeit eines für die krankenversicherte Schwangere kostenlosen Tests hinzuweisen hat. Strafrechtliche Konsequenzen eines etwaigen Unterlassens sind indes nicht ersichtlich.
40 S. Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in: Jäger, Hans: AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 3 f. Die ärztlichen berufsständischen "Richtlinien zur Durchführung des intratubaren Gametentransfers, der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und anderer verwandter Methoden" behandeln das Erfordernis eines HlV-Tests nicht explizit, jedoch hat gemäß Ziff. 3.3 ,jeder Anwendung dieser Methode eine sorgfältige Diagnostik bei den Ehepartnern vorauszugehen, die alle Faktoren berücksichtigt, die sowohl für den unmittelbaren Therapieerfolg als auch für die Gesundheit des Kindes von Bedeutung sind" (Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), S. C43 ff., 44). Verstöße sind als berufsunwürdiges Verhalten standesrechtlich sanktioniert. 41 Für eine solche Verpflichtung bei entsprechendem HIV-Verdacht Eberbach, Wolfram H.: HlV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in: Jäger, Hans (Hrsg.): AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 3; Reuter-Krauß, Wiebke/Schrnidt, Christoph (Hrsg.): AIDS und Recht von A-Z. München 1988, S. 87. Gegen eine solche Verpflichtung wegen der Schwierigkeit für den Arzt, die Situation abzuschätzen und weil eine Verpflichtung "dem Selbstbestimmungsrecht der Frau mit Kinderwunsch nicht gerecht würde," dafür aber für eine umfassende generelle Aufklärung über durch Infektion drohende Gefahren die Deutsche AIDS-Hilfe e. V. (Hrsg.): AIDS und HIV im Recht, Ein Leitfaden. Bamberg 1991, S. 278. 42 Siehe Wolff, Jürgen/Mehlen, Sabine/Reiß, Stefan (Hrsg.): Rechtsratgeber AIDS. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 86.
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VII. Schwangerschaftsabbruch Bisher sind wir stillschweigend davon ausgegangen, daß die Schwangere trotz einer etwaigen HIV-Infektion ihr Kind zur Welt bringen möchte. Wie ist es demgegenüber um die rechtlichen Voraussetzungen eines Schwangerschaftsabbruchs bestellt? Von der hier nicht weiter zu verfolgenden Möglichkeit eines straflosen, beratenen Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen43 abgesehen, kommt sowohl eine medizinische (§ 218a Abs. 2 StGB n.F.) als auch eine embryopathische (§ 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB n.F.) Indikation in Betracht. 1. Medizinische Indikation
Eine medizinische Indikation setzt nach deutschem Strafrecht (§ 218a Abs. 2 StGB) voraus, daß "nach ärztlicher Erkenntnis der Abbruch notwendig ist, um eine Gefahr für das Leben der Schwangeren oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern diese Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann ...43a Medizinisch ging man bis vor kurzem davon aus, daß eine Schwangerschaft für eine infizierte Frau, deren Immunabwehr geschwächt ist, eine gesundheitliche Gefahr bedeuten würde, weil man meinte, daß eine Gravidität ein rascheres Fortschreiten der AIDS-Infektion begünstige. Mittlerweile konnten jedoch mehrere Forschungsgruppen nicht bestätigen, daß eine Schwangerschaft zu einem schnelleren Fortschreiten der HIV-Infektion der Mut.ter führt. 44 Ob eine Schwangerschaft die AIDS-Infektion ungünstig beeinflußt und damit zu einer Verschlechterung des Gesundheitsszustandes führt, kann folglich nicht generell bejaht werden, sondern ist bei jeder Schwangeren individuell zu prüfen. Somit kann nur im Einzelfall entschieden werden, ob ein Schwangerschaftsabbruch zum Schutz der Frau angezeigt ist. 45 In ähnlicher Weise sind auch mögliche Gefährdungen der VgI. § 218 a Abs. 1 StGB n.F. Die medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch ist durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. 8. 1995 (BGBI. I 1050 ff.) weiter gefaßt worden. Sie ist nunmehr gegeben, "wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann." 44 S. Block, Berthold (Hrsg.): HIV-Infektion und AIDS. Stuttgart, Jena, New York 1993, S. 119; Kamps, Bemd Sebastian (Hrsg.): AIDS 1993. Wuppertal 1993, S. 172; Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 75. 45 VgI. Eberbach, Wolfram H.: HIV-Diagnostik und Aufklärung bei Kinderwunsch und Schwangerschaft, in Jäger, Hans (Hrsg.): AIDS und HIV-Infektionen, Bd. 2, Stand 1992, S. 8; Reuter-Krauß, Wiebke/Schmidt, Christoph (Hrsg.): AIDS und Recht von A-Z. München 1988, S. 87; Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe AIDS. München 1986, S. 58. 43
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seelischen Gesundheit der Schwangeren eine Frage des Einzelfalls. Der HIV-positive Status einer Schwangeren begründet mithin nicht schon per se eine medizinische Indikation zum Abbruch der Schwangerschaft. 46
2. Embryopathische Indikation
Eine embryopathische Indikation setzt gemäß § 218a Abs. 3 StGB voraus, daß "nach ärztlicher Erkenntnis dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann,,46a. Die Erkrankung an AIDS ist eine schwerwiegende, nach heutigem Erkenntnisstand auf absehbare Zeit nicht behebbare Schädigung des Gesundheitszustandes. Jedoch wird sich während der Schwangerschaft oder gar bis zur 22. Schwangerschaftswoche eine Infektion des Kindes oft nicht nachweisen lassen;47 auch vermutet man, die Gefahr einer Transmission steige zum Ende der Schwangerschaft an. 48 Die Frage ist daher, unter welchen Voraussetzungen von "dringenden Gründen", d. h. von der Verdachtsdiagnose des § 218a Abs. 3 StGB, ausgegangen werden kann. Insoweit wird in der deutschen Literatur teilweise bezweifelt, ob ein vergleichsweise niedriges statistisches Transmissionsrisiko noch eine embryopathische Indikation begründen könne, da damit "die weit überwiegende Zahl der abgetriebenen Föten gesund geboren worden wäre. ,,49 Des weiteren wird in diesem Zusammenhang angeführt, daß eine beachtliche Zahl der betroffenen Kinder trotz HIV-Infektion viele Jahre ohne schwere Symptomatik überleben würde. Andererseits darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß die werdende Mutter selbst tödlich erkrankt ist. Meines Erachtens besteht zwischen den "dringenden Gründen" im Sinne von § 218a Abs. 3 StGB und der nachfolgenden Zumutbarkeitsklausel 46 Anders Fröschl, Monika/Braun-Fa1co, Otto: Frauen und AIDS, in: Braun-Fa1co, Otto/ Deinhardt, Friedrich/Goebel, Frank-Detlef (Hrsg.): AIDS, Leitlinien für die Praxis. München, Wiesbaden 1987, S. 78 ff., 80; Wolff, Jürgen/Mehlen, Sabine/Reiß, Stefan (Hrsg.): Rechtsratgeber AIDS. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 87, die allein die Tatsache, daß die Schwangere HIV-positiv ist, als ausreichend für das Bestehen einer Indikationslage ansehen. 46. In der Neufassung des § 218a StGB (siehe oben Fn. 43a) ist die enbryopathische Indikation nicht mehr explizit enthalten. Der Gesetzgeber geht jedoch davon aus, daß entsprechende'Fallkonstellationen durch die neue Formulierung der medizinischen Indikation aufgefangen werden können, vgl. BT-Drs. 13/1850, S. 26. 47 Kamps, Bemd Sebastian (Hrsg.): AIDS 1993. Wuppertal 1993, S. 173. 48 Vgl. Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 76. 49 Eberbach, Wolfram H.: Rechtsprobleme der HTLV-III-Infektion (AIDS). Berlin, Heidelberg, New-York 1986, S. 9; vgl. auch Dreher, Eduard/Tröndle, Herbert, Strafgesetzbuch und Nebengesetze. 47. Aufl. München 1995, § 218a Rdn.20.
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ein reflexiver Zusammenhang derart, daß eine deutlich reduzierte Belastbarkeit der Schwangeren leichter zur Bejahung der Indikationslage führt. 50 Bei gesichertem HIV-positivem Status der Schwangeren sollte daher der Annahme einer embryopathischen Indikation nichts im Wege stehen. Das bedeutet nicht, daß der Arzt der Schwangeren eine Interruptio empfehlen sollte - die Entscheidung kann nur die Frau selbst treffen. Er wird sie jedoch - schadensersatzrechtlich sanktioniert - auf die rechtliche Möglichkeit eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs hinzuweisen haben. Mediziner berichten übrigens von einer zunehmenden Neigung HIV-infizierter Schwangerer, ihr Kind austragen zu wollen. 51 Demgegenüber kann die diagnostisch nicht belegte Sorge einer Schwangeren, selbst HIV-positiv zu sein, von einem HIV-positiven Partner schwanger zu sein oder während der Schwangerschaft dem HIV-Virus ausgesetzt gewesen zu sein, eine embryopathische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch nicht begründen. In diesen Fällen fehlt es an den "dringenden Gründen" für eine AIDS-Infektion des Fötus. Im Einzelfall mag dies zu gewissen Härten führen, etwa wenn sich der HIV-Status des Kindsvaters nicht ermitteln läßt. Derartige diagnostische Unsicherheiten wird man indes der Schwangeren zumuten können; sie sind medizinisch im Einzelfall gegebenenfalls dadurch zu minimieren, daß neben dem relativ trägen Antikörpernachweis die Schwangere auf den HIV-Virus selbst getestet wird. Hingegen kann es im Hinblick auf eine embryopathische Indikation nicht darauf ankommen, ob sich die Frau als bereits HIV-Infizierte dem Schwangerschaftsrisiko oder als bereits Schwangere einem HIV-Risiko bewußt ausgesetzt hat. Der Gedanke einer etwaigen Verwirkung hat im Rahmen der Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch keinen Platz. Die Zumutbarkeitsfrage ist eine prognostische; sie eignet sich nicht dazu, der Frau gewisse Inkonsequenzen in ihrer Lebensführung vorzuwerfen.
VIII. Schlußbemerkung
Abschließend möchte ich kurz auf die schon wiederholt angetönte Frage zurückkommen, inwieweit unsere Fragestellung einen weiteren strafgesetzgeberischen Handlungsbedarf aufweist. Einerseits dürfte sich der Eindruck ergeben haben, daß das Bemühen um einen Spezialtatbestand der Embryonenschädigung wieder aufgegriffen werden sollte. In § 1 DE-ESchG war vorgesehen, die vorsätzliche oder zumindest leichtfertige Einwirkung auf einen Embryo oder Fötus, durch die eine Gesundheitsbeschädigung des aus ihm hervorgegangenen Menschen herbeigeführt 50 In diesem Sinne auch Eser, Albin, in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar. 24. Auf!. München 1991, § 218 a Rdn. 27. 51 Vgl. Friese, Klaus: HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung der Frau, in: AIFO 1993, S. 73 ff., 75.
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wird, unter Strafe zu stellen. Dem neuen polnischen Recht entsprechend würde ich freilich dafür plädieren, die Schwangere zumindest bis zur extrauterinen Lebensfahigkeit52 von der Strafbarkeit auszunehmen. Durch ein solches Delikt wären allerdings jene eingangs angesprochenen Fälle nicht erfaßt, in denen die Schädigung bereits im Zeugungsakt selbst begründet ist. Indes wird man diese Lücke unter übergeordneten Gesichtspunkten tolerieren können, ja begrüßen dürfen. Denn abgesehen davon, daß, wie oben ausgeführt, sich ein solches Delikt nicht als Embryonenschutztatbestand begreifen ließe, wären gravierende sozialpsychologische Folgen zu befürchten: Warum sollte nur die Zeugung eines (möglicherweise) HIV-positiven Kindes strafwürdig sein und nicht auch die (möglicherweise) anderweitig - psychisch oder physisch - geschädigter oder behinderter Nachkommen? Anders ausgedrückt: Die Prävention der Transmission des HIV-Virus auf die künftige Generation durch Fortpflanzung kann nicht Aufgabe von gegen die Eltern gerichteten Strafnormen sein. 53 Wenn und soweit Maßnahmen medizinisch unterstützter Fortpflanzung insoweit als unangemessen erscheinen - was hier nicht abschließend beurteilt werden soll -, dürfte das ärztlich-berufsständische Regelwerk als Steuerungsinstrument ausreichen. Im übrigen hat sich ein Bedarf für AIDS-spezifische Strafnormen in dem mir aufgegebenen Themenbereich nicht ergeben. Dies gilt sowohl im Hinblick auf das Ziel der allgemeinen AIDS-Prophylaxe als auch auf den Schutz HIV-positiver Mit52 Die Bedeutung dieses embryonalen Entwicklungsschrittes wird im deutschen Recht bislang noch sehr gering geachtet. Vgl. aber demgegenüber etwa Scholten, Hans-Joseph: Landesbericht Niederlande, in: Eser, Albin und Koch, Hans-Georg (Hrsg.): Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1: Europa. Baden-Baden 1988, S. 991 ff., 1019; zum Ganzen auch Koch, Hans-Georg: Hirntod und Schwangerschaft: Überlegungen aus rechtlicher Sicht, in: Bednarikova, Jarmila/Chapman, Frank C. (Hrsg.): Festschrift für Jan Stepan zum 80. Geburtstag. Zürich 1994, S. 187 ff., 200 sowie ders.: Wann beginnt das menschliche Leben? - Rechtliche Überlegungen, in: Zeitschrift für ärztl. Fortbildung 87 (1993), S. 797 ff., 798 f. 53 Dem Eherecht sind gesundheits- und familienpolitisch motivierte Ehehindernisse fremd. Ein Eheverbot, das dem Bestreben dient, die Zeugung lebensunfähiger oder behinderter Kinder zu verhindern, wäre verfassungswidrig, vgl. Pirson, Dietrich, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung, Heidelberg 1993, Art. 6 Abs. 1 Rdn. 103. Entsprechendes müßte jedenfalls für - im Gegensatz zu § 6 GKG - auf Dauer angelegte strafrechtliche ,,Zeugungs verbote" gelten. Dies folgt vor allem daraus, daß jedermann und somit auch Behinderte gern. Art. 6 Abs. 1 GG und gern. Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf Farniliengründung und Fortpflanzung haben, s. Pieroth, Bodo: Die Verfassungsmäßigkeit der Sterilisation Einwilligungsunfähiger gemäß dem Entwurf für ein Betreuungsgesetz, in: FamRZ 1990, S. 117 ff., 123 f.; Reis, Hans: Sterilisation einsichtsunflihiger Menschen aus verfassungsrechtlicher Sicht, in Neuer-Miebach, Therese/Krebs, Heinz (Hrsg.): Schwangerschaftsverhütung bei Menschen mit geistiger Behinderung - notwendig, möglich, erlaubt? Marburg/Lahn 1987, S. 150 ff. Auch Hirsch, GüntherlHiersche, Hans-Dieter, Sterilisation geistig Behinderter, in: MedR 1987, S. 135 ff., 137 f. wollen nur in Fällen schwerster geistiger Behinderung, wenn die Bedeutung der Fortpflanzung gar nicht erfaßt werden kann, die Fortpflanzungsfreiheit eingeschränkt wissen, und heben damit ausschließlich auf elterliche Kriterien ab, nicht auf (zu erwartende) Eigenschaften von ihnen etwa gezeugter Kinder.
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menschen. Mit den vorhandenen Regelungen insbesondere des Seuchen- und des Schadensersatzrechts stehen geeignete und flexible, ja der strafrechtlichen Repression als Verhaltensregulativ mutmaßlich überlegene Instrumentarien zur Verfügung.
Diskussionsbericht Von Andrzej W{lsek Herr R. D. Herzberg stellte fest, daß Herr Koch mit seinem Vortrag u. a. für ein restriktives Gesetzesverständnis plädiere. Er verneine eine strafrechtliche Verantwortung für Handlungen, die menschliches Leben erzeugen oder an seiner Zeugung mitwirken und dazu führen, daß ein geschädigtes Kind geboren wird, welches vielleicht sogar infolge seiner Krankheit alsbald verstirbt. Herr Herzberg unterstützte vollkommen die Bemühungen von Herrn Koch, ein scharfes Kriterium zu finden, mit dem sich alle Fälle, die straffrei bleiben sollen, zusammenfassen ließen. Höchst fragwürdig erscheint Herrn Herzberg jedoch, ob die als Kriterium angebotene Hypothese haltbar sei und ob Herr Koch in der schriftlichen Endfassung seines Referates daran festhalten werde. Der Referent habe versucht, das heikle Wertungsproblem gleichsam mit einem Handstreich zu lösen, indem er alle Taten für straflos erklärte, die zwar die Entstehung eines kranken Menschen verursachen, aber vor dessen Entstehung begangen worden sind; es müsse, nach Koch, das menschliche Wesen zumindest als Embryo zur Zeit der fraglichen Handlung schon existieren, um als Objekt und Opfer dieser Handlung tauglich zu sein. Nach Herrn Herzbergs Überzeugung ist das unhaltbar, weil es Taten strafrechtlich ausgrenzt, auf deren Strafbarkeit zu verzichten niemand bereit sein kann. Herr Herzberg gab ein Beispiel, das seine Bedenken veranschaulicht. Ein Arzt (A), will seinen Vater gern allein beerben. Nachdem ihm seine Schwester (S) eröffnet hat, daß sie und ihr Lebensgefährte sich ein Kind wünschen, schmiedet er einen teuflischen Plan. Er überzeugt seine Schwester, daß ihr im Hinblick auf die bevorstehende Schwangerschaft einige kräftigende Transfusionen guttäten, und überträgt ihr mit Absicht HIV-positives Blut. Bald darauf kommt es zur Zeugung. Wie von A erhofft, teilt sich das Virus dem Embryo mit. Ein paar Jahre später bricht die Krankheit aus, und Mutter und Kind sterben an Aids. Herr Herzberg sieht hier keinen Grund, weshalb A nicht auch wegen Ermordung des Kindes bestraft werden sollte. Die These von Herrn Koch jedenfalls liefere - so Herzberg - die Begründung nicht, weil sie nur eine Hypothese sei und noch auf dem Prüfstand stehe. Wolle Herr Koch aber der Fallösung zustimmen, dann müsse er sein Kriterium zurückziehen. In Betracht komme ein anderes Kriterium, das enger angepaßt sei an die Fälle, um deren Straflosigkeit es dem Referenten ersichtlich gehe. Herr Koch wolle - so Herzberg - die Straffreiheit in Wahrheit wohl nur für die Fortpflanzungsakte selbst, d. h. für die natürliche Zeugung und die künstliche Insemination. Herr Herzberg
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bezweifelte, ob nicht auch so noch eine Grenze gezogen werde, die zu fonnal sei und welche die Rechtswissenschaftler in denkbaren Fällen auf nicht überzeugende Entscheidungen festlege. Herr Herzberg gab ein Beispiel, in dem eine Frau, die sich ein Kind wünscht, auf künstliche Befruchtung angewiesen ist. Sie will diese aber unter keinen Umständen, weil sie HIV-positiv ist und somit die Gefahr besteht, die Leibesfrucht könne infiziert werden. Darum verlangt sie von dem Arzt, der die Befruchtung durchführen soll, vorher einen sorgfaltigen Test. Der Arzt stellt tatsächlich das Aids-Virus fest. Um das vereinbarte hohe Honorar nicht zu verlieren, täuscht er der Frau aber vor, sie sei negativ, und vollzieht die Befruchtung. Wie von ihm ernstlich befürchtet, kommt es zur Virusübertragung und nach einigen Jahren zum Tode von Mutter und Kind. - Auch in diesem Fall stimmte Herr Herzberg mit der Meinung nicht überein, daß die strafrechtliche Haftung des Arztes wegen einer Tötung des Kindes entfallen sollte. Dem im Kern berechtigten Anliegen von Herrn Koch könne man wohl nur dadurch angemessen Rechnung tragen, daß man auf scharfe Grenzen verzichte und auf die weichen Kriterien der "Sozialadäquanz" und des "erlaubten Risikos" zurückgreife. Es möge richtig sein - so Herr Herzberg -, unter diesen Gesichtspunkten das Risiko der Erzeugung eines erbkranken oder schon im Mutterleib durch HIV-Übertragung erkrankenden Menschen jedenfalls dann zu tolerieren, wenn beide Eltern das Risiko bewußt eingehen; ist das der Fall, dann möge es sogar zutreffen, daß auch die künstliche Insemination, trotz vom Arzt vorausgesehener Erkrankungs- und Todesfolge, kein Strafunrecht darstellt. Herr Herzberg mochte sich aber darauf nicht festlegen. Er sah hier ein heikles Wertungsproblem, das im Rahmen eines Diskussionsbeitrages zu lösen ihm unmöglich schien. Herr Herzberg brachte demgegenüber seine Überzeugung zum Ausdruck, daß ein fonnales Kriterium, welches Herr Koch soeben verfochten habe oder welches sich nach dem vorgetragenen Korrekturversuch ergebe, nicht sachgerecht und irreführend sei. Herr Bernd Schünemann eröffnete seine Äußerungen mit der Bemerkung, daß 1. das Referat von Herrn Koch in äußerst subtiler und geradezu spannender Fonn gezeigt habe, welche gewaltigen dogmatischen und kriminalpolitischen Probleme selbst noch in einer so speziellen Fragestellung wie "Aids und Schwangerschaft" schlummern oder - besser gesagt - geschlummert haben, denn Herr Koch habe sie ja nun ans Licht gebracht. 1987 etwa, auf dem von Herrn Schünemann veranstalteten Mannheimer AIDS-Kongreß, war das alles noch kein Thema gewesen. Herr Schünemann hat gegen die Antworten, die Herr Koch in seinem Referat gegeben hat, nicht unerhebliche Vorbehalte. Er ist zunächst auf die moralische Basis eingegangen, deren Analyse ihm für das Thema "Aids und Schwangerschaft" besonders wichtig erscheint, und dann auf die strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Fragen. 2. Die moralischen Fragen lauten in Herrn Schünemanns Fonnulierung wie folgt: Ist es zu verantworten, im Wissen um die HIV-Infektion eines Partners (oder
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deren naheliegende Möglichkeit) ein Kind zu zeugen und damit das hohe Risiko (möge es nun 25% oder mehr betragen) einer Übertragung des Virus auf das Kind in Kauf zu nehmen? Und bezüglich des Stillens: Darf die Mutter den Säugling der Infektionsgefahr aussetzen? Vom Standpunkt einer kantischen Moral, in deren Zentrum die Respektierung der Würde jedes einzelnen Menschen steht, ist es für Herrn Schünemann offensichtlich, daß der Embryo als Objekt behandelt und - mit den Worten Kants - unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt wird, wenn man ihm durch die Zeugung den Zwang zu einem von unerträglichen Leiden geplagten und zu frühem Tode verurteilten Leben oktroyiert. Herrn Kochs schlimmes Wort vom "Sozialdarwinismus" sei hier also völlig fehl am Platze. Und das gilt in Herrn Schünemanns Auffassung nicht nur aus der spezifischen Perspektive des Kategorischen Imperativs (in der Fassung aus der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten": "Handle so, daß du die Menschheit. .. [auch] in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. "), sondern eigentlich nach allen Elementarsätzen der abendländischen Moralsysteme, sei es der aristotelischen Gleichheit, der "Goldenen Regel", sei es einer vertragstheoretisch begründeten konsensualistischen Moral etwa im Sinne von Rawls, in denen überall der Grundsatz neminem laede, um den es hier ja letztlich geht, unbestritten ist. Wenn man sich die zutiefst elendiglichen Bedingungen vor Augen führe, unter denen im Mutterleib HIV-infizierte Kinder ihr kurzes und hoffnungsloses Leben fristen, so müsse die Maxime ihrer Zeugung als eine Art "Dackel syndrom" qualifiziert werden, d. h. als das von grenzenloser Egozentrik und Egoismus diktierte Bedürfnis, für die verbleibende eigene Lebensspanne noch ein vollständig abhängiges Zuwendungsobjekt zu besitzen. Und wenn man schließlich den von den Aidshilfegruppen an HIV-positive Schwangere meist gegebenen Rat, den Embryo auszutragen, mit der für die Abtreibung in Deutschland allgemein geltenden, von den - wie es in Schünemanns Formulierung heißt - Wortnebeln des Bundesverfassungsgerichts befreiten Fristenlösung konfrontiert, so verkörpert gerade dieser "mainstream" in Wahrheit einen reinrassigen Sozialdarwinismus, nämlich die inhaltlich völlig beliebige, schrankenlose Herrschaft des Individuums über die ihm ausgelieferten, wehrlosen Geschöpfe - als Ausdruck der Apotheose der Willkür der hic et nunc gerade lebenden Individuen, die die postmoderne Gesellschaft kennzeichnet und an deren Früchten sie im ökologischen Feld in Gestalt der sich hier abzeichnenden Katastrophe am deutlichsten zu erkennen ist. Daß die von Herrn Koch berichtete, aber - wie Herr Schünemann meint - mit Recht verworfene Idee eines "Mutterrechts auf Stillen" auch HIV-infizierter Wöchnerinnen in die gleiche Kategorie gehört und (wegen des absurden Mißverhältnisses von Nutzen und Risiko) eine besonders törichte feministische Forderung darstellt, verstehe sich hiernach von selbst. 3. Die Moralwidrigkeit eines bestimmten Verhaltens bedeutet - wie Herr Schünemann darlegte - noch nicht dessen Rechtswidrigkeit, geschweige denn dessen
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Stratbarkeit. Zu den von Herrn Koch diskutierten strafrechtsdogmatischen Fragen hat Herr Schünemann in aller Kürze folgendes bemerkt: a) Daß es sich beim Stillen durch eine HIV-infizierte Mutter oder Amme wegen der Viruskontarninierung der Muttermilch um eine Giftbeibringung gern. § 229 StGB handelt, scheint ihm evident zu sein. Das von Herrn Koch vermißte gesetzliche Stillverbot liege deshalb auch auf der Hand. b) Die Zeugung durch eine HIV-infizierte Person könnte nach dem in der Rechtsprechung vertretenen Standpunkt durchaus als ein Tötungsdelikt qualifiziert werden, weil das Argument aus der Contergan-Diskussion, die Schädigung müsse der Entstehung des tatbestandsmäßigen Objekts nachfolgen, für den immer erst nachträglich eintretenden Tod nicht durchgreift. Auch hier bewähre sich deshalb die von Herrn Schünemann vertretene Lösung, daß die Infizierung mit HIV ausschließlich unter den Körperverletzungstatbeständen subsumiert werden kann. c) Bei der Infizierung der Schwangeren während der Schwangerschaft stellen sich für Herrn Schünemann die gleichen Probleme wie im Contergan-Fall. Wegen des Risikos der Weiterübertragung des Virus während der Geburt, wenn aus dem Embryo im Rechtssinne schon ein Mensch geworden ist (arg. § 217 StGB!) und deshalb die §§ 223-229 StGB erfüllt werden können, ist - so Herr Schünemann jede Schwangere rechtlich verpflichtet, während der Schwangerschaft eine Infizierung mit HIV (auf welchem Wege auch immer!) zu vermeiden. Umgekehrt folge daraus auch das Verbot riskanten Geschlechtsverkehrs durch einen HIV-Infizierten mit einer Schwangeren, unabhängig von deren Einwilligung, weil jedenfalls eine versuchte Vergiftung des nasciturus für den Zeitpunkt der Geburt vorläge. d) Diese rechtlichen Verbote erzeugen entsprechende Sorgfaltspflichten zur Überprüfung des eigenen HIV-Status, sofern nur die Infizierung eines nasciturus oder Säuglings zufällig möglich ist. Entgegen der Auffassung von Herrn Koch bejahte Herr Schünemann deshalb im Umfeld der Schwangerschaft eine generelle Rechtspflicht der körperlich involvierten Personen zur Durchführung des sog. AIDS-Tests. e) Wegen der zahlreichen Kontroversen, mit denen praktisch alle hier einschlägigen Rechtsfragen belastet seien, hält Herr Schünemann eine legislatorische Klarstellung auch im Bereich der Embryonenschädigung für dringend angezeigt. Herr Hans-Georg Koch: neigt 1. zur Lösung, die Herr Herzberg für den Fall des Arztes, der seine schwangere Schwester mit einer Bluttransfusion zu infizieren trachtet, gefunden hat. Das ließe sich wohl und ganz mit der im Referat von Herrn Koch vertretenen Auffassung vereinbaren. Danach käme es nicht entscheidend darauf an, wann - im Verhältnis zur schädigenden Handlung - das Kind gezeugt wurde; generell könnten sogar Handlungen, die vor der Zeugung geschehen, tatbestandsmäßig sein. Insofern gelte für den HIV-Virus nichts anderes als etwa für eine auf ein Jahr im voraus programmierte Zeitbombe, die eine Mutter zusammen mit ihrem Neugeborenen tötet oder verletzt. Nur soweit jemand (Eltern oder fortpflan-
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zungsmedizinisch tätiger Arzt) an dem Werden eines Menschen mitwirkt, muß nach Herrn Kochs Auffassung aus den im Vortrag genannten Gründen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für durch dieses Handeln bewirkte, später zutagetretende "Mängel" dieses Menschen generell ausscheiden. Dies will Herr Koch - anders als Herr Herzberg ihn verstanden habe - nicht auf die eigentlichen Fortpflanzungsakte beschränkt sehen, sondern auch auf weitere, funktional auf das Entstehen des Kindes ausgerichtete Handlungen beziehen. Im Herzbergschen Bluttransfusion-Beispiel fehle es aber an einer derartigen Mitwirkung, denn für Herrn Koch sei unvorstellbar, daß das transfundierte Blut irgend wie für das Gelingen der familienplanerischen Vorstellungen der Wunscheltern von Belang sein könnte. Auch das (nachgeschobene) Beispiel des Arztes, der eine HIV-positive Frau - die er noch dazu über ihr Schicksal täuscht - künstlich inseminiert, vennag Herrn Koch von seiner dezidierten Haltung nicht abzubringen: Er scheue die Konsequenzen, die, würde man Herrn Herzberg folgen, durch bloße Fahrlässigkeit verursachte "Defekte" gezogen werden müßten. Man denke an den humangenetisch beratenden Arzt, der in seiner Anamnese eines Kinderwunschpaares ein die Lebenserwartung berührendes genetisches Risiko übersieht: Soll dieser, wenn die Wunscheltern aufgrund seines Befundes das "Abenteuer Kind" eingehen, später wegen fahrlässiger Tötung dieses Kindes strafbar sein? - fragt Herr Koch. Diese Erwägungen sprechen - so Herr Koch - nicht gegen eine Strafbarkeit von Handlungen, die außerhalb des eigentlichen Fortpflanzungsgeschehens liegen. De lege lata bleibe nach der herrschenden Auffassung im deutschen Recht die während der Schwangerschaft erfolgende Schädigung straflos. Ein Arzt, der bewirkt, daß eine Frau vor der Empfangnis durch diesen unbemerkt HIV-positiv wird, könnte also nicht wegen eines Delikts zum Nachteil des Kindes bestraft werden, wenn die Infektion schon während der Schwangerschaft auf das Kind übergeht. Insoweit sollten de lege ferenda - nicht auf die AIDS-Problematik beschränkt - die Bemühungen um die Fonnulierung eines eigenen Tatbestands der Embryonenschädigung weiterverfolgt bzw. wieder aufgegriffen werden. 2. Herr Koch bat zunächst Herrn Schünemann um Nachsicht, daß der Frage, ob die zugefügte HIV-Infektion nicht auch oder gar besser als Vergiftung im Sinne von § 229 StGB zu begreifen wäre, im Referat nicht weiter nachgegangen werden konnte. Herrn Koch ginge es nur um die Frage der Strafbarkeit und der Strafwürdigkeit der Übertragung des HIV-Virus auf Nachkommen als solcher; von diesem, für sein Referat zentralen Problem wollte er nicht ablenken, zumal die für sein Referat thematische Konstellation der Schwangerschaft keine Argumente für die eine oder andere Auffassung im Streit um den ,,richtigen" Tatbestand liefern dürfte. Wenn Schünemann in seinem Beitrag des weiteren die moralische Ebene anspricht und den HIV-Positiven, die Eltern werden wollen, menschenverachtenden Egoismus vorhalten möchte, so sei demgegenüber noch einmal daran erinnert, daß die Medizin in den letzten Jahren das prä- und perinatale Infektionsrisiko laufend nach unten korrigierte und daß sich weiterhin die Meldungen über langzeitüberle-
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bende HIV-Positive mehrten. Von daher hat Herr Koch Bedenken, ob man denjenigen, die sich als HIV-Positive ein Kind wünschen, von vornherein ein Verdikt auferlegen sollte. Im übrigen sei auch die Motivation keineswegs so einseitig zu sehen, wie dies in Herrn Schünemanns Beitrag angeklungen ist. Es mag den Fall geben - so Herzberg -, daß die HIV-positive Drogensüchtige im eigenen Kind ein Mittel gegen ihre Einsamkeit sieht; aber ist der Fall des durch eine Bluttransfusion HIV-positiv gewordenen Bauern, der seinen Hof vor dem Aussterben bewahren möchte, weniger realistisch? Herr Koch meint, daß man über Eltern HIV-positiver Kinder nicht vorschnell den moralischen Stab brechen sollte. Argumente des "Kindeswohls" seien in diesem Zusammenhang völlig ungeeignet; es wäre paradox, jemandem entgegenzuhalten, es wäre für ihn besser, gar nicht zu existieren. Im übrigen hat Herr Koch den Eindruck, daß sich Herr Schünemann gar nicht so sehr um das individuelle Schicksal des möglicherweise HIV-positiven Kindes kümmert, sondern sich vielmehr Sorgen um die sogenannte "Volksgesundheit" und um die sozialen Kosten der Versorgung besagter Kinder macht. Wer hieran rechtspolitisch anknüpfen möchte, möge dies aber bitte doch ehrlich zum Ausdruck bringen. Bezüglich der Strafbarkeit des Stillens durch HIV-positive Mütter habe Herr Schünemann zu Recht auf eine ungenaue Formulierung in den im Tagungsprogramm abgedruckten Thesen zu Herrn Kochs Referat hingewiesen: Selbstverständlich kann Stillen im Einzelfall als Körperverletzung etc. - und damit als Erfolgsdelikt - strafbar sein. Herr Koch hält jedoch ein speziell gegen das Stillen durch HIV-positive Mütter gerichtetes Tatigkeitsdelikt für unnötig. Herr Michael Gähner sprach über die Erfahrungen seines Verbandes in diesem Bereich. Er teilte mit, daß in der letzten Zeit die Zahl der HIV-infizierten schwangeren Frauen zugenommen habe, die ihr Kind austragen wollen. Diesbezüglich hat der deutsche AIDS-Hilfe-Verband ein Plakat entworfen, um diese Frauen zu unterstützen. Die Aufschrift lautet: "Wir wissen, daß wir positiv sind, und wir können unser Kind austragen, wenn wir es wollen". Das Bundesgesundheitsministerium kritisierte jedoch dieses Plakat als unverantwortlich und unmoralisch. Dennoch will der Deutsche AIDS-Hilfe-Verband dieses Plakat weiter verbreiten, obwohl dies finanzielle Einbußen für seine Tätigkeit zur Folge haben wird. Die Sendung ,,Report" berichtete bereits über diesen Vorfall. Seit 1988 empfiehlt die Bundesärztekammer ihren Mitgliedern, bei HIV-positiven Frauen im Falle einer Schwangerschaft vom Austragen der Frucht abzuraten. Herr Gähner berichtete hingegen über einen Fall, in dem er einer HIV-infizierten Frau nach langen Beratungen mit Fachärzten geraten habe, das Kind auszutragen. Diese Frau war sehr glücklich mit ihrem Mann verheiratet, der über ihren Zustand gut informiert war. Zudem kam das Kind gesund zur Welt. Wir wissen, daß bei HIV-infizierten Müttern ca. 5% der mit Kaiserschnitt geborenen Kinder HIV-infiziert sind. Bei einer normalen Geburt liegt die Prozentzahl bei 10-15%. Erst 2 Jahre nach der Geburt läßt sich feststellen, ob das Kind HIVinfiziert ist.
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Selbstverständlich wird jeder verantwortliche Arzt der HIV-infizierten Mutter empfehlen, nicht selbst das Kind zu stillen, da das Infektionsrisiko dabei zu groß ist. Amerikanische Untersuchungen haben gezeigt, daß die Milch solcher Mütter extrem gefährlich ist. Ist der Mann HIV-positiv, läßt sich sein Sperma behandeln, indem die HIV-Viren abgetrennt werden, so daß die Frau mit diesem Sperma künstlich befruchtet werden kann. Herr Carlos Künsemüller schilderte kurz die Rechtslage in Chile im Bereich der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs. Bis 1988 war es nach dem Gesundheitsgesetz zulässig, die Schwangerschaft aus therapeutischen Gründen abzubrechen. Diese Regelung wurde aber im Jahre 1988, also in der Zeit des Pinochet-Regimes, abgeschafft, und seitdem verbietet § 119 des Gesundheitsgesetzes audrücklich jede Handlung, die das Ziel hat, die Schwangerschaft abzubrechen. Es ist aber unklar, ob es nicht nach allgemeinen Regeln (z. B. des Notstandes) doch Fälle gibt, wo der Schwangerschaftsabbruch zulässig ist. Die rechtliche Lage in diesem Bereich ist um so komplizierter, als das chilenische Grundgesetz ausdrücklich das werdende Leben schützt. Herr Jacobus Roselt du Plessis informierte über die Rechtslage bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs in Südafrika. 1. Abtreibung war früher in Südafrika streng verboten. Seit etwa 15 Jahren gibt es aber ein Gesetz, nach welchem die Abtreibung zulässig ist, wenn sie von einem Arzt vorgenommen wird und wenn sie das Leben der Mutter retten kann oder wenn das werdende Leben (das künftige Kind) körperlich erheblich benachteiligt ist. 2. Wenn eine schwangere Frau HIV-infiziert ist, muß das aber nicht bedeuten, daß auch ihr Kind HIV-infiziert geboren wird. Deswegen kann das Gericht nicht bewilligen, daß eine Frau in dieser Lage ihre Schwangerschaft abbrechen läßt. 3. In vielen Schichten der Bevölkerung in Südafrika werden Kinder als ein Reichtum betrachtet. Deshalb ist es unvorstellbar, den HIV-infizierten Eltern zu verbieten, Kinder zu zeugen. Herr Christoph Sowada sagte, daß Herr Koch zu Recht viel Lob für sein Referat erhalten habe. Herr Sowadas Absicht war, noch einmal jene Gedanken zu unterstreichen, die Herr Koch in seinem Diskussionsbeitrag geäußert hat. Herr Sowada knüpfte an das von Herrn Herzberg gebildete Beispiel des Arztes an, der seine Schwester töten und hierbei zugleich deren Nachwuchs beseitigen möchte. Ungeachtet der Frage, ob hier eine Strafbarkeit des Arztes bezüglich des Kindes zu bejahen ist, will Herr Sowada eine derartige Beurteilung jedenfalls hinsichtlich infizierter Eltern verneinen, die ein Kind in Kenntnis ihrer Infektion und des hiermit für ihr Kind verbundenen Risikos zeugen. Denn durch den Zeugungsakt wird Leben geschenkt, und es erscheint Herrn Sowada widersinnig zu sagen, daß derjenige, der Leben schenkt, es durch dieselbe Handlung tötet. Wollte man es so sehen, dann müßte jede Zeugung eines (auch gesunden) Kindes dessen Tötung
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sein, weil das sich erst nachträglich realisierende Ereignis des Todeseintritts bereits im Zeitpunkt dieser Handlung unverrückbar feststeht. Herr Sowada meint daher, daß solche ambivalenten Verhaltensweisen, die zugleich lebenshervorbringend und lebensverkürzend wirken, nicht als strafrechtliche Tötung begriffen werden können. Herr Sowadas Ansicht müsse sich allerdings dem - insbesondere in der Argumentation von Herrn Schünemann anklingenden - Einwand stellen, Eltern hätten nicht das Recht, ein Kind zu zeugen, wenn sie erkennen, daß sie ihm damit ein von Leid geprägtes Leben aufzwingen, und wenn sie zudem wissen, daß sie möglicherweise aufgrund ihres eigenen nahen Todes gar nicht in der Lage sein werden, diesem Kind die Unterstützung zu geben, der es insbesondere in der Anfangsphase seines Lebens dringend bedarf. Hier wird - wie mehrfach in den vergangenen Tagen - auf einer sozialethischen Ebene argumentiert, die man zur Grundlage rechtlicher Konzeptionen und Interpretationen macht. Herr Sowada müsse gestehen, daß er gerade bei solch existenziellen Fragestellungen häufig sehr still und nachdenklich werde. Man hört Beispiele, bei denen man spontan sagt: "Das darf man nicht tun", doch andere Fälle, wie man sie hier auch (z. B. aus Südafrika) berichtet bekommen hat, seien einer derart eindeutigen Bewertung nicht zugänglich. Es gebe demnächst Bereiche, in denen eine strafrechtliche Pönalisierung wegen des Fehlens einer für alle in Betracht zu ziehenden Konstellationen gültigen Beurteilung nicht möglich sei. Dies müsse auch dann gelten, wenn damit zugleich Fälle sanktionslos bleiben könnten, bezüglich derer die moralische Mißbilligung relativ eindeutig ist. Herr Sowada meint, daß diese Fragestellung sich nicht auf Aids-Fälle beschränkt. Vor einiger Zeit berichtete eine Zeitung, daß Eltern, denen die besondere Gefahr bewußt war, ihr Kind könnte wegen einer Chromosomenanomalie mongoloid zur Welt kommen, auf eine klärende Fruchtwasseruntersuchung und damit auf die Möglichkeit eines auf eine embryopathische Indikation gegründeten Schwangerschaftsabbruchs verzichtet haben. Herr Sowada will diese Entscheidung nicht als moralisch "richtig" oder "falsch" beurteilen. Er hat aber einen großen Respekt vor dem Mut der Eltern, die sich in Kenntnis der besonderen Umstände dafür entscheiden, die. für sie möglicherweise entstehende besondere Belastung eines behinderten Kindes zu tragen. Sollte man etwa - fragte Herr Sowada anknüpfend an die Überlegung von Herrn Schünemann, Eltern seien auch rechtlich verpflichtet, ihren Kindern kein von Leid geprägtes Dasein zuzumuten - daran denken müssen, eine Garantenpflicht zur Vornahme embryopathisch zulässiger Schwangerschaftsabbrüche anzunehmen? Wir leben in einer Zeit, in der der Umgang mit Behinderten uns offensichtlich große Schwierigkeiten bereitet. Herr Sowada sieht die Gefahr, daß das Nachdenken über strafbewehrte Zeugungsverbote sozialdarwinistische Tendenzen begünstig und somit eine Sozialmoral befördert, die ganz gewiß auch Herr Schünemann nicht will. Herr Harro Otto äußerte sich zunächst zu dem von Herrn Herzberg gebildeten Fall der Infizierung der Schwester eines Arztes durch diesen Arzt, um die Schwe-
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ster und das von ihr erwartete Kind mit Hilfe des Aids-Virus aus Erbschaftsgründen zu beseitigen. Dieser Fall sei - wie die bisherige Diskussion gezeigt habe - in besonderer Weise geeignet, das Rechtsgefühl anzusprechen. Die Bestrafung des Arztes wegen Tötung des Kindes, wenn dieses nach der Geburt an der Aids-Krankheit stirbt, wird offenbar weithin als richtig empfunden. Hier seien jedoch Differenzierungen nötig. Sieht man die Ansteckung mit dem Aids-Virus lediglich als eine Gefährdung des Kindes an, so läßt sich - wie Herr Otto meint - die Auffassung halten, daß hier ein Tötungsakt an einem geborenen Kinde durchgeführt wird, wobei die Tötungshandlung bereits im zeitlichen Vorfeld erfolgte. Diesen Fall könnte man dann mit der Situation vergleichen, daß jemand an einen Ort gebracht wird, wo eine Bombe explodiert, die vor Jahr und Tag mit entsprechender Zündung deponiert wurde. Ganz anders liegt nach Herrn Dttos Sicht die Problematik, wenn man davon ausgeht, daß das ungeborene Kind in dem Moment, in dem es angesteckt wurde, den Schaden erlitten hat. Dann entsteht mit der Geburt bereits ein mangelhaftes Handlungsobjekt. Das geborene Kind ist mit Schäden behaftet, die das ungeborene Kind erlitten hat. In dieser Situation wäre ein strafrechtlicher Schutz allein über einen neu zu schaffenden Embryonenschutztatbestand möglich. Dieser Schutz dürfte gegen Schädigungen durch Dritte, z. B. durch den oben erwähnten Arzt, relativ unproblematisch sein. Anders verhält es sich jedoch - so Herr Otto -, wenn die Eltern des Kindes in den Blick genommen werden und der Fall erörtert wird, daß die Eltern in Kenntnis des Risikos einer Übertragung der Krankheit ein Kind zeugen, obwohl die Mutter aidskrank ist. Schon unter moralischen Aspekten sei dieser Fall mit Problemen behaftet, denn der von Herrn Schünemann in der Diskussion erwähnte Fall, daß die Eltern aus Lust dem Geschlechtsverkehr nachgehen und in Kenntnis der Folgen nicht davon absehen wollen, sich auch ein Kind zu leisten (von Herrn Schünemann als Verhaltenssteuerung nach dem "Dackelprinzip" gekennzeichnet), dürfte nur einen Teilbereich berühren. Zumindest den gleichen Bereich dürften Fälle einnehmen, in denen die Motive der Eltern moralisch durchaus akzeptabel sind. Herr Otto postuliert die Berücksichtigung des Umstands, daß durch die tödliche Krankheit die Lebenserwartung und Lebensplanung der Beteiligten brutal abgerissen sei. Ihre auf die Zukunft gerichteten Erwartungen und Hoffnungen seien vernichtet. Wenn sie in dieser Situation ihre Erwartungen in ein Kind setzen und bereit sind, die 15 -25%ige Chance einer Ansteckung zu vernachlässigen, so könne dies nicht als moralisch verdammenswert erscheinen. Auch der kategorische Imperativ verhilft - nach Ottos Urteil - als formales Prinzip zu keiner ethisch eindeutigen Entscheidung, denn hier ist letztlich entscheidend, wie man die verschiedenen Motive bewertet. Schon diese moralische Ambivalenz in den entsprechenden Fragen sollte zur Distanz gegenüber einer entsprechenden Strafvorschrift führen. In gleicher Weise problematisch sei eine Bestrafung der Schwangeren wegen einer Übertragung des Virus bei der Geburt. Sieht man nämlich den Zeugungsakt trotz der Krankheit der Mutter als ein rechtlich akzeptables Verhalten an, so müs-
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sen die mit der Geburt verbundenen Gefahren als Realisierung eines erlaubten Risikos beurteilt werden. Ein Fall des rechtlich relevanten Vorverschuldens liege nicht vor, denn die Situation sei keineswegs mit der Situation der actio libera in causa vergleichbar. Herr Frank Höpfel informierte nunmehr über die Rechtsprechung der österreichischen Gerichte, die HIV-positive Prostituierte nach den §§ 178, 179 (vorsätzliche bzw. fahrlässige Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten) verurteilen, sofern es zum Geschlechtsverkehr gekommen ist. Diese Verurteilung erfolgt dabei unabhängig davon, ob der Partner ein Kondom benutzt hat. In einem Fall wurde eine HIV-infizierte Frau verurteilt, obwohl ihr Partner in vollem Bewußtsein auf ein Kondom verzichtet hatte. Seine Einwilligung hatte das Gericht als unbeachtlich bewertet. Herr Alexander TIpold machte auf § 178 öStGB aufmerksam, der lange vor dem Aufkommen der AIDS-Problematik geschaffen wurde und durch das AIDS-Gesetz, das eine beschränkte Meldepflicht statuiert, auch auf AIDS anwendbar ist. Vielleicht - fragt sich Herr Tipold - ist der österreichische Gesetzgeber so moralisch wie Herr Schünemann, vielleicht sogar ein "Hardliner". § 178 öStGB lautet:
"Wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den - wenn auch nur beschränkt - anzeige- oder meldepflichtigen Krankheiten gehört." § 178 öStGB ist ein Vorsatzdelikt, § 179 enthält ein entsprechendes Fahrlässigkeitsdelikt.
Herr TIpold wollte mit diesem Hinweis die Wertung des österr. Gesetzgebers betonen, wonach - offenkundig im Gegensatz zum deutschen Recht und den überwiegend abgegebenen Stellungnahmen AIDS und seine Übertragung keine Privatsache zwischen den Beteiligten ist. § 178 ist ein Gemeingefährdungsdelikt, kein Individualdelikt; eine Einwilligung der Beteiligten ist daher bedeutungslos. Vielleicht - so vermutet Herr TIpold - geht die Bestimmung unter Umständen im Einzelfall zu weit, vielleicht auch nur deshalb, weil das AIDS-Problem in Österreich wie in Deutschland noch nicht die Tragweite hat, wie etwa in Kenia u. a. Herr H. G. Koch bedankte sich in seinem Schlußwort: 1. für die verschiedenen rechtsvergleichenden Beiträge, insbesondere die von Herrn Künsemüller und Herrn du Plessis. 2. Herr Gähners Bemerkungen zeigen - so Herr Koch -, wie wichtig es für eine rechtliche Beurteilung ist, die Entwicklungen im medizinischen Sektor im Auge zu behalten. - Was das Stillen angeht, so ging es Herrn Koch darum, in einer im wahrsten Sinne des Wortes globalen Betrachtungsweise zu zeigen, daß es sich um ein
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Abwägungsproblem handelt. Für unsere Breiten können die gesundheitlichen Vorteile des Stillens das HIV-Übertragungsrisiko für das Baby in keiner Weise aufwiegen; in Ländern der sog. Dritten Welt mögen die Präferenzen unter Umständen anders liegen. Daß die Übertragung des HIV-Virus durch Stillen eine Straftat zum Nachteil des Kinders darstellen kann, sollte im Vortrag deutlich genug zum Ausdruck gekommen sein. - Wenn Herr Gähner schließlich auf Möglichkeiten risikominimierender Spermabehandlung im Rahmen medizinisch unterstützter Fortpflanzung hinweist, so sei dazu angemerkt, daß nach den für Herrn Koch einsehbaren medizinischen Quellen auch durch solche Verfahren nach derzeitigem Stand der Dinge eine Übertragung des Virus nicht wirklich sicher ausgeschlossen werden kann. 3. Herr Koch dankte Herrn Sowada für die Unterstützung seiner Position. 4. Zu Herrn OUos Beitrag merkte Herr Koch an, daß § 1 des DE-ESchG nur Einwirkungen erfaßt hätte, die während der Schwangerschaft erfolgten. Für die im Zentrum des Referats von Herrn Koch stehende Problematik des Kinderwunsches HIV-Positiver und der darauf gerichterten Handlungen wäre diese Bestimmung nicht einschlägig. 5. Abschließend hat Herr Koch die Auffassung etlicher Diskussionsredner bekräftigt, daß die Thematik seines Referats war, einen Standpunkt möglichst klar herauszuarbeiten und zur Diskussion zu stellen. Allerdings konnte es sich nur um eine Momentaufnahme handeln. Insbesondere können Entwicklungen im medizinischen Sektor unter Umständen über Nacht zu einer veränderten rechtlichen Beurteilung Anlaß geben - sagte abschließend Herr Koch.
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AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen Referat* Von Comelius Nestler I. Einleitung
Mein Thema - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen -, aber auch der Verlauf der ersten Tage dieses Symposiums drängen dazu, mit zwei Vorbemerkungen zu beginnen, die auch als Kurzbeiträge zum Generalthema dieses Symposiums: "AIDS und Strafrecht" gelten können. So ist ja die spezifisch kriminalpolitische Fragestellung des Generalthemas: "Welche Funktion kann oder soll der Einsatz von strafrechtlichen Mitteln innerhalb einer AIDS-Gesundheitspolitik haben?", bislang allenfalls in Andeutungen zum Gegenstand dieses Symposiums gemacht worden. Meine Vorbemerkungen werden diese Fragestellung nur streifen, bevor auch ich mich mit meinem Beitrag der zweiten grundlegenden Fragestellung des Generalthemas "AIDS und Strafrecht" zuwende, die bislang auf diesem Symposium eindeutig im Vordergrund stand: "Was ist die richtige Auslegung jener Normen des Strafrechts, die (möglicherweise) auf Sachverhalte anwendbar sind, bei denen die Spezifika der Krankheit AIDS eine Rolle spielen?" Die 1. Vorbemerkung betrifft den Titel meines Referates: "AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen". Unter Sicherungsmaßnahmen gegenüber HIVinfizierten Menschen verstehe ich Maßnahmen, mit denen die Gesellschaft ihre Bürger vor der Gefahr einer Ansteckung, die von den Menschen ausgeht, die HIVinfiziert sind, schützen will. Bei der Strafzumessung geht es hingegen - abgesehen von den vereinzelten Fällen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für eine HIVInfizierung oder Gefahrdung, über die Rolf Dietrich Herzberg am ersten Tag dieses Symposiums gesprochen hat - um Sensibilität des Rechts für die besondere Belastung, der ein mit dem HI-Virus infizierter Mensch ausgesetzt ist. Mein Thema beinhaltet also zwei ganz entgegengesetzte Perspektiven: Einerseits den Schutz der Gesellschaft vor dem "AIDS-Täter", andererseits Sensibilität für den Beschuldigten, der ein AIDS-Opfer ist. Zu den "Sicherungsmaßnahmen" gibt es wenig zu berichten. Nach meinem Wissensstand gibt es keine einzige veröffentlichte Entscheidung zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung gern. §§ 61 ff. StGB mit spezifischem Bezug zu einer
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AIDS-Erkrankung. Und nach einer umfangreichen Diskussion Ende der 80er Jahre über die Funktion insbes. seuchenrechtlicher Maßnahmen bei der "AIDS-Bekämpfung'" scheinen die deutschen Behörden weitgehend auf Sicherungsmaßnahmen zu verzichten. Nicht einmal gegenüber den Frauen und Männern, die der Prostitution nachgehen, werden - so etwa die Praxis in Frankfurt am Main - von den zuständigen Ämtern besondere "Sicherungsmaßnahmen" angeordnet. Die städtischen Ämter geben auch hier der Vertrauensbildung und der Zusammenarbeit mit den Betroffenen den Vorzug vor Zwangs- und ggf. sogar Sicherungsmaßnahmen. So scheint die Praxis das Spanungsverhältnis von Prävention und Repression im "Kampf gegen AIDS" ganz eindeutig und ausschließlich zugunsten einer präventiven Gesundheitspolitik aufgelöst zu haben. Daß AIDS-Politik vor allem auf Aufklärung und Prävention setzen muß, war ja in der AIDS-Diskussion der späten achziger Jahre auch nie umstritten. Diskutiert wurde aber, ob neben und zusätzlich zur Präventionspolitik auch repressive Maßnahmen eingesetzt werden sollten. 2 Die deutsche Gesundheitspolitik hat sich eindeutig entschieden: Aufklärung und möglichst effektive Zusammenarbeit mit den von AIDS besonders betroffenen Personengruppen erfordern einen nahezu totalen Verzicht auf repressive Mittel der AIDS-Bekämpfung. Und offensichtlich ist diese Entscheidung der Praxis weniger den prinzipiellen Wertentscheidungen für oder gegen den Einsatz repressiver Maßnahmen geschuldet, 3 sondern das Ergebnis pragmatischer Gesundheitspolitik. 4 So gibt es aus Deutschland über Sicherungsmaßnahmen nichts zu berichten, und ich kann mich auf das Thema der Strafzumessung beschränken. Dieses Thema betrifft - und damit komme ich zu meiner zweiten Vorbemerkung - angesichts eines deutschen Gerichtsalltages, in dem die Verurteilung von HIV-infizierten Menschen zu Freiheitsstrafe mehr oder weniger zur Normalität geworden ist,5 denjenigen Bereich der Anwendung von Strafrecht, der in der Praxis mit Ab, Vgl. die Darstellung bei Wo1f-Rüdiger Schenke, Die Bekämpfung von AIDS als verfassungsrechtliches und polizeirechtliches Problem, in: Bemd Schünemann/Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 103 ff., S. 120 ff. zu Absonderungsmaßnahmen und Berufsverboten gern. §§ 36 ff BSeuchenG. 2 Zur Begründung und dem Entwurf eines Gesamtkonzepts einer AIDS-Politik, die präventive und repressive Maßnahmen miteinander kombiniert, vgl. Bemd Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: ders./Gerd Pfeiffer, aaO, S. 373 ff; auch in seinem Einleitungsbeitrag zu diesem Symposium und in einzelnen Diskussionsbeiträgen hat Bemd Schünemann diese Position weiterhin vertreten. Zur Gegenposition vgl. nur Günther Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat, Aufklärung, Zwang, Repression, 1988, passim. 3 So aber die Orientierung der juristischen Diskussion Ende der 80ger Jahre, vgl. beispielhaft die in Fn. 1 und 2 genannten Autoren. 4 So auch die Analyse von Günther Frankenberg, Germany: The Uneasy Triumph of Pragmatism, in: David Kirp/Ronald Bayer, Hrsg., AIDS in tlie Industrialized Democracies: Patience, Politics, Policies, 1992, S. 99 ff. 5 Ob zu Freiheitsstrafe verurteilte Menschen HIV-infiziert sind, wird statistisch nicht erfaßt. Aber die Zahl von geschätzten 1.500 Menschen, die sich derzeit in Deutschland in Strafhaft befinden und mit dem HI-Virus infiziert sind (so die Auskunft der Deutschen AIDS-
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stand am häufigsten vorkommt. Im Vergleich dazu hat das Thema, das die deutsche Strafrechts wissenschaft anläßlich der Krankheit AIDS am meisten beschäftigt hat, die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines HIV-Infizierten für Infektionen oder Gefährdungen von Kontaktpartnern, nahezu keinerlei praktische Relevanz. Freilich ist die Frage nach der Häufigkeit, mit der eine Fallkonstellation die Praxis beschäftigt, irrelevant, solange es ausschließlich um eine exakte Analyse der strafrechtlichen Zurechnung geht, d. h. um die Frage, was de lege lata das Recht ist - diese Frage muß selbstverständlich in jedem Fall, d. h. auch in einer Fallkonstellation, die nur selten oder sogar nur ein einziges Mal die Justiz beschäftigt, zutreffend beantwortet werden. Und in diesem Sinn habe ich den Vortrag von Rolf Dietrich Herzberg auf diesem Symposium als einen Beitrag zur Verbesserung der strafrechtlichen Zurechungslehre und Praxis in den von ihm genannten Fällen verstanden. 6 Hingegen steht die Frage, welche Relevanz die Stafbarkeit von HIV-Übertragungen für die AIDS-Politik hat, welchen Beitrag das Strafrecht mithin zur AIDS-Bekämpfung leistet, dann im Vordergrund des Interesses, wenn es vorrangig um die beste AIDS-Politik und nicht so sehr um die richtige Strafrechtsdogmatik geht. Meine Beobachtung ist nun, daß das Strafrecht nahezu keinerlei praktische Bedeutung für die Verhinderung von HIV-Infektionen hat, und mein Versuch einer knappen Analyse, warum das so ist, wird zeigen, daß die zu beobachtende Zurückhaltung des Strafrechts im Bereich von HIV-Übertragungen ein Produkt der AIDSGesundheitspolitik ist. Wer für die AIDS-Bekämpfung auch das Strafrecht mobilisieren will, der fordert daher inzident eine andere Gesundheitspolitik - auf diese Abhängigkeit des AIDS-Strafrechts von der AIDS-Gesundheitspolitik hinzuweisen scheint mir insbesondere deswegen wichtig zu sein, um die Konsequenzen der Position zu verdeutlichen, die Bemd Schünemann auch auf diesem Symposium vertritt, die Einbettung des Strafrechts in eine Gesamtstrategie präventiver und repressiver AIDS-Politik. Wenn ich richtig sehe, dann gibt es vor allem vier Wege, auf denen der HI-Virus übertragen werden kann. Infusionen mit verseuchten Blutkonserven, gemeinsamer Gebrauch von Spritzen bei der Injektion von illegalen Betäubungsmitteln, Geschlechtsverkehr und Angriffe auf andere Menschen mit infizierten Spritzen. Die ersten beiden der genannten Übertragungswege finden in der Diskussion über Strafrecht und AIDS, die sich auf die Übertragung des HIV-Virus durch individuelle Kontakte, auf eine leicht zu individualisierende Täter-Opfer-Konstellation eingependelt hat, wenig Interesse.? Die Angriffe mit Spritzen, auf die HIV-infiziertes Hilfe), läßt den Rückschluß zu, daß Verurteilungen von HIV-infizierten Menschen zu Strafhaft nicht gerade selten sind. 6 Obwohl auch im Beitrag von Rolf Dietrich Herzberg an mehreren Stellen, aber doch eher beiläufig, eine kriminalpolitische Relevanz seines Themas angedeutet wird. 7 Infizierte Blutkonserven können zwar die komplizierten Probleme der strafrechtlichen Produkthaftung aufwerfen, sind aber für eine Mobilisierung des ,,AIDS-Strafrechts" als Mittel der individuellen Verhaltenssteuerung (insbes. von Sexualkontakten) kein Gegenstand des Interesses.
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Blut aufgezogen ist,8 kommen zwar mitunter vor, haben aber für die AIDS-Politik keinerlei Relevanz. So findet die Mobilisierung von Strafrecht als Mittel der individuellen Verhaltens steuerung zur Verhinderung von HIV-Übertragungen ihr Anwendungsfeld bei Sexualkontakten. Spätestens mit der einschlägigen Entscheidung des BGH vom November 19889 kann die Botschaft des Strafrechts an die Bürger nicht eindeutiger sein: Wer HIV-infiziert ist, das auch weiß und einen Dritten dem Risiko einer Infektion aussetzt, ohne daß dieser seinerseits bewußt dieses Risiko eingeht, begeht Unrecht und wird dafür bestraft. Dennoch hat es im Verhältnis zu der zu vermutenden hohen Zahl der somit strafrechtlich relevanten SexIlalkontakte vergleichsweise wenige Strafverfahren gegeben - ich schätze ihre Zahl aufgrund der veröffentlichten Entscheidungen und den Mitteilungen der Tagespresse auf allenfalls 30 seit 1986. Diese geringe Zahl von Strafverfahren beruht - so vermute ich - vor allem auf zwei Umständen: In vielen Fällen kommt es zu keiner Infektion, und in diesen Fällen wird meist niemand außer dem "Tater" wissen, daß eine Straftat (nach der Rechtsprechung des BGH: Versuchte gefährliche Körperverletzung) begangen wurde. Und kommt es zu einer Infektion, wird sie in den meisten Fällen allein deswegen 10 nie zu einem Strafverfahren führen, weil dieses voraussetzen würde, daß es einen Dritten gibt, der bezeugen kann, daß der "Tater" zum Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs HIV-infiziert war und daß er das auch wußte. Da es derartiges Wissen eines privaten Dritten selten gibt, setzt die Einleitung eines Strafverfahrens regelmäßig voraus, daß die Behörden oder ein Arzt solche Kenntnisse haben. So ist etwa auch das Strafverfahren, das letztlich zu der genannten Grundsatzentscheidung des BGH geführt hat, 11 auf die Mitteilung des behandelnden Arztes an die Behörden in Gang gekommen, der spätere Verurteilte sei HIV-infiziert, übe aber weiterhin ungeschützten Geschlechtsverkehr aus. Solange also kein behördliches Wissen davon, daß eine bestimmte Person HIVinfiziert ist und dies auch weiß, den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung steht, solange also die ärztliche Schweigepflicht, der Verzicht auf eine behördliche RegiDie Wirkungslosigkeit des Einsatzes von Strafrecht als Mittel gegen gemeinsamen Spritzengebrauch von Betäubungsmittelkonsumenten ist offenkundig - zu diskutieren wäre allenfalls, ob nicht bestimmte Entkriminalisierungen im Betäubungsmittelstrafrecht zu einer Reduktion des gemeinsamen Gebrauchs von Spritzen beitragen würden. 8 Ein derartiger Fall war das Ausgangsbeispiel des Vortrages von Rolf Dietrich Herzberg. 9 BGHSt 36, 9 ff. 10 Weitere zu vermutende Gründe: Vom Zeitpunkt der Infektion bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Opfer feststellt, daß es infiziert ist, können Jahre vergehen. Häufig werden mehrere Sexualpartner als potentielle Verursacher in Betracht kommen, die u.U., jedenfalls regelmäßig bei Kontakten mit männlichen oder weiblichen Prostituierten, nicht einmal individualisierbar sind. Weiterhin würde eine Anzeige in jedem Fall auf die Mitteilung des Opfers u.U. gegenüber einer ganzen Anzahl von Sexualpartnern der letzten Jahre -, daß es selbst HIV-infiziert ist, hinauslaufen, was Grund genug sein mag, von einer Anzeige gegen potentielle "Täter" abzusehen. 11 BGHSt 36, 9 ff.
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strierung der Infizierten und anonyme Tests Eckpfeiler der AIDS-Gesundheitspolitk sind, solange wird das Strafrecht bei der Bekämpfung von HIV-Übertragungen oder Gefährdungen durch Geschlechtsverkehr die marginale Rolle einnehmen, die es schon in den letzten Jahren eingenommen hat. Dem Strafrecht, verstanden als Mittel der AIDS-Bekämpfung, ist es daher genauso ergangen wie allen anderen Mitte bis Ende der achziger Jahre diskutierten repressiven Maßnahmen: In Folge einer pragmatischen Gesundheitspolitik fand und findet es kaum Anwendung. Wer mehr vom Strafrecht erwartet, muß somit zunächst die AIDS- Gesundheitspolitik ändern. Ich sehe dafür überhaupt keinen Anlaß!
11. AIDS und Haft Die zentrale These meines Vortrages lautet, daß ein humanes Strafrecht möglichst weitgehend die Inhaftierung von Menschen vermeiden sollte, die mV-infiziert oder sogar schon an Aids erkrankt sind. Ich glaube, über den Ausgangspunkt dieser These wird es kaum Streit geben. Es geht um die Kombination von Gefängnis und AIDS, eine auf spezifische Weise für die davon betroffenen Menschen ganz besonders schlimme Kombination einer Lebenssituation und einer Krankheit. Der Freiheitsentzug ist der schwerwiegendste Eingriff in die Freiheit der Bürger und die schwerwiegendste Beeinträchtigung ihrer Rechte durch den Staat, die unsere Gesellschaft kennt. Die inhaftierten Menschen erleben und ertragen diesen Eingriff ganz unterschiedlich - je nach sozialem und kulturellem Hintergrund, je nach ihrer Persönlichkeitsstruktur. Ich glaube aber, daß die Haft für die meisten Menschen nur deswegen einigermaßen zu ertragen ist, weil es die Zeit danach gibt, die Hoffnung auf ein besseres Leben in Freiheit. Die schwerwiegendste Beeinträchtigung des Lebens durch die mV-Infektion ist nun gerade das Wissen, infiziert zu sein, das Wissen um die Begrenztheit der Lebensperspektive, die Angst vor den Verlusten an Lebensqualität, die Hoffnungslosigkeit. 12 So kann die HIV-Infektion über Jahre hin vollkommen symptomfrei verlaufen. Selbst die Krankheitsbilder von Aids können bei entsprechender Behandlung erträglicher sein als manche andere schwere Erkrankung. Einigermaßen erträglich scheint aber ein Leben mit dem Wissen, daß man HIV-infiziert ist, nur dann zu sein, wann man lernt, mit und für die Gegenwart zu leben und nicht - wie wir alle das mehr oder weniger tun - von den auf die Zukunft gerichteten kleinen und großen Hoffnungen. 12 Besonders instruktiv die Berichte aus jener kleinen und erst unlängst von der Wissenschaft wahrgenommenen Gruppe von HIV-Infizierten, die selbst nach vielen Jahren gesund weiterleben. Diese Menschen berichten, wie sehr sie in der ersten Zeit nach Bekanntwerden der Infektion allein unter diesem Wissen gelitten haben und wie schwer es ihnen gefallen ist, sich mit den Jahren darauf einzustellen, daß sich tatsächlich an ihrer gesundheitlichen Verfassung nichts geändert hatte, vgl. die Reportage von Jürgen Neffe in DER SPIEGEL, Nr. 23 aus 1993, S. 200 ff.
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Haft und AIDS - hier treffen aufeinander eine Krankheit, die latent alle Zukunft und alle Hoffnungen in Frage stellt, und eine Lebenssituation, deren Gegenwart nur erträglich ist, weil man auf eine bessere Zukunft hofft. Das ist die subjektive Seite. Dazu kommt die objektive Seite. Für einen gesunden Dreißigjährigen 13 hat eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren eine ganz andere Bedeutung als für einen Kranken mit einer Lebenserwartung von etwa 2 Jahren. Was für den Gesunden eine Episode in seinem Leben sein kann, heißt für den Kranken lebenslänglich. Und selbst dann, wenn der HIV-Infizierte noch 8 Jahre zu leben hat, ist das ihm verbleibende Leben von 3 Jahren Freiheitsentzung ganz anders betroffen als das Leben eines Gesunden. Darüberhinaus lassen die ersten Forschungsergebnisse der Psychoimmunologie vermuten, daß die Haftsituation insbesondere angesichts der unklaren Lebensperspektive depressivitätssteigernd und damit krankheits fördernd wirkt, zumal die soziale Unterstützung, die generell als wichtiger Faktor für die psychische Bewältigung des Wissens, HIV-infiziert zu sein, gilt, weitgehend auf Haftkontakte reduziert ist. 14 Über den Ausgangspunkt, daß die Haft HIV-infizierte und besonders AIDSkranke Menschen besonders hart trifft, dürfte es wie gesagt kaum Streit geben der Steit fängt an, wenn genauer diskutiert wird, ob das Recht der Strafzumessung eine möglichst weitgehende Vermeidung oder Verkürzung von Haft überhaupt zuläßt und wieweit sie gehen soll.
III. Strafmilderung wegen AIDS
Beim Thema Strafzumessung und AIDS stehen sich Rechtsprechung 15 und strafrechtswissenschaftliche Literatur weitgehend unversöhnlich in zwei Lagern gegenüber. Der Bundesgerichtshof geht von einer "besonders einschneidenden Bedeutung einer solchen lebensbedrohenden Krankheit für das künftige Leben" aus,16 rubriziert diesen Sachverhalt ganz unsystematisch mal gern. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB unter die "Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind",17 mal unter die sog. "Strafempfindlichkeit", 18 mal 13 Dieses Beispiel wie viele der folgenden Überlegungen entnehme ich dem für mein Thema grundlegenden Aufsatz von Friedrich Dencker, Strafrecht und Aids - Strafprozesse gegen Sterbende, StV 1992, 125 ff. 14 Zu den psychoimmunologischen Aspekten der HIV-Infektion ausführlich Cornelius Nestler-Tremel, AIDS und Strafzumessung, 1992, S. 70 ff. 15 Zur dogmatischen Begründung der insoweit unklaren und wenig aussagekräftigen Rechtsprechung vgl. aber Friedrich Dencker, StV 1992, 125 ff. sowie Cornelius Nestler-Tremel, aaO, passim. 16 StV 1991,205. 17 StV 1987,345 (346).
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auch unter beides, 19 und hält allein wegen einer AIDS-Erkrankung nicht nur eine Unterschreitung der "sonst schuldangemessenen Strafe" für möglich, sondern auch eine Strafrahmenverschiebung durch die Annahme eines minder schweren Falles. 2o Die Kritiker dieser Rechtsprechung wollen selbst den Verurteilten, der "nur noch kurze Zeit zu leben hat - etwa bei AIDS-Fällen" auf Gnadenerwägungen vertrösten: "Generell gilt, daß gesundheitliche Belastungen eines zu vollstreckbarer Freiheitsstrafe Verurteilten und seiner entsprechend gesteigerten Strafempfindlichkeit im Rahmen von Strafvollstreckungsentscheidungen Rechnung getragen werden kann.,,21 Die Kritik wendet sich generell 22 dagegen, daß Auswirkungen der Strafe, die nichts mit der Höhe des Unrechts und des Verschuldens zu tun haben, die Grenzen der schuldangemessenen Strafe verschieben können, und besonders heftig wird kritisiert, daß die Auswirkungen der Strafe sogar die Annahme eines minderschweren Falles begründen und damit zu einer Strafrahmenverschiebung führen können. Ich halte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht nur deswegen für richtig, weil sie humane Ergebnisse ermöglicht. Sie entspricht auch dem geltenden Recht. Zunächst werde ich das für die Strafzumessung "im engeren Sinn" gern. § 46 StGB begründen, in einem zweiten Schritt werde ich dann auf die Frage der Strafrahmenverschiebung eingehen. 1. Grundlage der Strafzumessung: Tatschuld oder gerechter Schuldausgleich ?
Grundlage der Strafzumessung ist gern. § 46 Abs. 1 StGB die Schuld. Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vertretene und wohl auch in der Literatur vorherrschende Spielraum- oder Schuldrahmentheorie setzt diesen Vorrang der Schuld bei der Strafzumessung bekanntermaßen in die Forderung um, daß innerhalb des weiten gesetzlichen Strafrahmens ein engerer Schuldrahmen (oder Spielraum) zu finden ist, innerhalb dessen dann jede Strafe schuldangemessen ist, der aber die Grenze für eine Berücksichtigung präventiver und auch schuldunabhängiger Belange der Strafzumessung setzt?3 StV 1990,259 (260); StV 1991,513. StV 1988, 296 (Ls); NStZ 1991, 527. Zur systematischen Einordnung der Rspr. des BGH in die Struktur des § 46 StGB vgl. Comelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 19 ff. 20 StV 1988 (Ls); LG Krefeld, StV 1989,439 (Ls); StV 1991,513. 21 So beispielhaft Franz Streng, Mittelbare Strafwirkungen und Strafzumessung, NStZ 1988,485 ff., Besprechung von BGH, NStZ 1988,494. 22 D.h. nicht nur bei der Fallgruppe der Berücksichtigung von lebensverkürzenden Erkrankungen, sondern (vor allem) auch bei der Fallgruppe der Berücksichtigung von beamtenrechtlichen Folgen der Verurteilung. 18
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Mit dem Argument, daß Strafe gerechter Schuldausgleich sein muß, hat der Bundesgerichtshof nun die Strafe, die schuldangemessen sein soll, partiell von der auf das Tat-Unrecht und die Tat-Schuld bezogenen Strafzumessungsschuld abgekoppelt. 24 Schuldangemessen, so der Bundesgerichtshof,25 sei die Strafe je nach der individuellen Strafempfindlichkeit des Angeklagten. In einfachen Worten: Den einen trifft die gleiche Strafe härter als den anderen - mit der Strafempfindlichkeit legt der BGH das Schwergewicht auf die subjektive Wahrnehmung der Strafschwere. Und aus der Perspektive des gerechten Schuldausgleichs werden die Wirkungen der Strafe, die gern. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB zu beachten sind, nicht mehr nur wie bisher spezialpräventiv verstanden,26 sondern beeinflussen auch die Höhe der schuldangemessenen Strafe: Hier geht es um die objektive Strafschwere, bei der HIV-Infektion um das Gewicht der Strafe im Verhältnis zu dem nach der Strafe verbleibenden Lebensrest. Der Begriff des gerechten Schuldausgleichs führt damit heraus aus einer Stafzumessungsdogamtik, bei der die Strafe dem Tat-Unrecht und der Tat-Schuld zu entsprechen hat. Beim gerechten Schuldausgleich soll die Strafe nicht Tat-Unrecht und Tat-Schuld abbilden, sondern ausgleichen. Damit kommt das jeweilige Gewicht der Strafe ins Spiel. Für Moribunde, für Menschen mit krankheitsbedingt verkürzter Lebenserwartung, heißt das, daß Freiheitsstrafe für sie schwerer wiegt als für andere Angeklagte, daß ein Ausgleich der Schuld durch weniger Strafe erfolgt als bei anderen Angeklagten, die wegen gleich schwerer Delikte verurteilt werden. Damit konkretisiert der BGH das Schuldprinzip in seiner Bedeutung für das Strafmaß: Gleiche Schuld rechtfertigt nicht gleich lange, sondern gleich schwere Strafe. 27 Diese Rechtsprechung des Bundesgerichthofs ist nicht nur - entgegen der Ansicht ihrer Kritiker - mit der Konzeption des deutschen Strafrechts als Schuldstrafrecht zu vereinbaren, sie ist auch die Konkretisierung des Verfassungsverbotes unangemessener, grausamer und übermäßig hoher Strafen und des Verfassungsprinzips der Schuldangemessenheit der Strafe. 28 So muß nach der Rechtsprechung des 23 Vgl. BGH, StV 1991, 513; da die Gerichte niemals dazu gezwungen werden, den Schuldrahmen zu benennen, dürfte die Schuldrahmentheorie für die Praxis aber eine Fiktion sein - niemand kann überprüfen, welches Gewicht welche Gesichtspunkte letztlich für die Strafhöhe gehabt haben, die Revisionsinstanz ist auf eine Argumentations- und Vertretbarkeitskontrolle beschränkt, vgl. dazu Comelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 23 ff. mwN.; vgl. weiterhin die harsche, aber zutreffende Kritik an der Schuldrahmentheorie bei Bemd Schünemann, Plädoyer für eine neue Theorie der Strafzumessung, in: Albin Eser/Karin Comils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Krirninalpolitik, 1987, S. 209 ff. 24 Vgl. dazu Gerhard Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 1990, S. 112 ff. 25 Nachweise o. Fn. 16-20. 26 Vgl. nur Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl. 1993, § 46 Rdnr. 5; Michael Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen bei der Strafzumessung, 1992, S. 81 mwN. 27 Vgl. hierzu und zum folgenden Friedrich Dencker, StV 1992, 125 ff. (127).
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Bundesverfassungsgerichts die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe auf die Fälle schwerster Schuld beschränkt sein, und es stellt einen Verstoß gegen die Würde des Menschen gern. Art. 1 GG dar, wenn nicht eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance existiert, nach der Strafe einer Freiheit wieder teilhaftig zu werden, die nicht "auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert ist".29 Was für die lebenslange Freiheitsstrafe bei Fällen schwerster Mordschuld gilt,30 muß erst recht für die zeitige Freiheitsstrafe gelten: "Die zeitige Freiheitsstrafe muß Episode im Leben des Verurteilten bleiben.,,31 Daß sie bereits so bemessen sein muß, ergibt sich schon aus der Rechtsprechung zur Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe,32 und der BGH hat dies ausdrücklich klargestellt mit dem Satz, daß "bereits die Strafe gerechter Schuldausgleich zu sein hat und deshalb bei der Stafzumessung nicht auf spätere, den Schuldausgleich herstellende Maßnahmen des Strafvollzugs verwiesen werden darf.,,33 Was heißt das nun konkret für die Strafzumessung: Wie sollen nach dieser Rspr. Strafdauer und Lebenserwartung zueinander in Verhältnis gesetzt werden, zumal bei Menschen, die "nur" HIV-infiziert sind, die Lebenserwartung häufig nur statistisch prognostiziert werden kann? Schematische Lösungen der Art: 4 Jahren bei normalem Lebensrest von 40 Jahren entspricht bei einer Lebenserwartung von noch 4 Jahren ein Zehntel, also 5 Monate, sind absurd. Man kann nur als Leitlinie angeben: Die Strafe muß den Charakter einer Zeitstrafe behalten, sie muß im Verhältnis zum Lebensrest, der dem Verurteilten verbleibt, "schuldangemesse Episode,,34 bleiben.
2. AIDS als Grundfür die Annahme eines minder schweren Falles Versucht man sich vorzustellen, was dieser Maßstab konkret bedeuten kann, so kommen Strafhöhen ins Blickfeld, die unter zwei Jahren liegen sollten und damit auch weitgehend eine Vermeidung der Haft gern. § 56 StGB oder § 35 BtMG ermöglichen. Diese verfassungsrechtlich gebotene weitgehende Reduktion von Freiheitsstrafen ist aber bei Delikten mit hohen Mindeststrafen nur möglich, wenn die Möglichkeit besteht, auch allein wegen der besonderen Schwere einer FreiheitsBVerfGE 45, 187 ff. (259 f. mwN.). BVerfG, StV 1986,485 (486 mN.); vgl. dazu auführlicher Cornelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 64 ff. 30 BVerfGE 45,187 ff.; BVerfG, NStZ 1992,484 f. 31 Friedrich Dencker, StV 1992, 125 (129). 32 Vgl. Friedrich Dencker, aaO. 33 BGH, StV 1990,259 f. (260). 34 Friedrich Dencker, aaO. 28
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strafe einen minder schweren Fall mit einer gegenüber dem Normalstrafrahmen nach unten verlagerten Strafrahmenuntergrenze anzunehmen. 35 Die Strafrechtswissenschaft lehnt diesen Weg nahezu einhellig 36 ab. Sie geht davon aus, daß die Schwereskala der Strafrahmen an Tatunrecht und Tatschuld ausgerichtet ist und demzufolge auch nur tatbezogene Gesichtspunkte eine Strafrahmenverschiebung begründen können. Hingegen verlangt der Bundesgerichtshof, daß im Hinblick auf den gerechten Schuldausgleich auch die Wirkungen der Strafe in die Prüfung des minder schweren Falles miteinzubeziehen sind. Das Gesetz und seine Entstehungsgeschichte geben keine eindeutige Antwort, welcher Auffassung zu folgen ist. Der Wortlaut des Gesetzes: "minder schwerer Fall" läßt beide Auslegungen zu. Die Entstehungsgeschichte zeigt einerseits, daß der Gesetzgeber des EGStGB von 1975 keine Verschärfung gegenüber dem geltenden Recht herbeiführen wollte. Demzufolge müßten von den minder schweren Fällen auch die mildernden Umstände nach altem Recht, d. h. auch Tat- und Schuldunabhängige Umstände erfaßt sein. 37 Andererseits ist, wie Michael Hettinger38 in einer gründlichen Studie zur Geschichte des minder schweren Falles darlegt, mit der Einführung der Einheitsstrafe und den heute gegebenen weitgehenden Überlappungen der Normalstrafrahmen und der Strafrahmen der minder schweren Fälle auch die ursprünglich klare systematische Abschichtung der minder schweren Fälle vom Normalstrafrahmen gänzlich verlorengegangen, so daß die Wirkungen der Strafe im Gewand der minder schweren Fälle die Schuld- und Tatbezogenheit der Strafe in einem Ausmaß aufweichen können, wie das nach altem Recht nie möglich und auch nie beabsichtigt war. So verstößt schon die Methode der Gesamtbetrachtung, mit der nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Vorliegen eines minder schweren Falles ermittelt werden soll,39 gegen die Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklar35 Vgl. etwa § 250 Abs. I StGB (schwerer Raub), der eine Mindesstrafe von fünf Jahren vorsieht, hingegen bei Annahme eines minder schweren Falles gern. Abs. 2 eine Mindesstrafe von einern Jahr. 36 Anders nur Comelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 41 ff. und Friedrich Dencker, StV 1992, 125 ff. mit genereller Begründung der Stafrnilderung wegen AIDS, aber ohne eine spezifische Diskussion der Strafrahmenverschiebung wegen eines minder schweren Falles. 37 So die Argumentation bei Gerhard Schäfer, Zur Individualisierung der Strafzumessung, in: Hans-Heinrich Jescheck/Theo Vogler (Hrsg.), Festschrift für Herbert Tröndle, 1989, S. 395 ff.; ders., Praxis der Strafzumessung, 1990, S. 162. 38 Über den Begriff der minder schweren Fälle - ein Beitrag zu ihrer Entstehungsgeschichte, in: Jürgen Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer's Archiv für Strafrecht, Heidelberg 1993, S. 77 ff. 39 BGHR, StGB vor § l/rninder schwerer Fall, Prüfungspflicht I: Entscheidend für die Annahme eines minder schweren Falles ist, "ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vorn Durchschnitt der erfahrungsgemäßg vorkommenden Fälle in einern Maße abweicht, daß die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Für die Prüfung dieser Frage ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des
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heit,40 denn das Gesetz macht keine Vorgaben, unter welchen Bedingungen der Normalstrafrahmen unangemessen ist, so daß der Richter auf ein unsicheres persönliches Angemessenheitsurteil verwiesen ist, und zudem überschneiden sich Regel- und Normalstrafrahmen in weiten Bereichen, so daß die Strafe des minder schweren Falles immer noch innerhalb des Normalstrafrahmens liegen kann, womit gänzlich unklar wird, warum der Normalstrafrahmen unangemessen sein soll. Noch schärfer ist die Kritik an der Hereinnahme aller für die Strafzumessung relevanter Umstände, also auch der besonderen Haftbelastung, in die Wertung, ob ein minder schwerer Fall vorliegt: 41 - Da die Normalstrafrahmen und die Regelstrafrahmen deutlich unterschiedliche SchwereskaIen der Bestrafung vorsehen, sollten auch nur die typischerweise über gravierende Schwereunterschiede entscheidenden Strafzumessungsfaktoren, d. h. Unrecht und Schuld herangezogen werden. Und es sei ungerecht und schlicht willkürlich, wenn dort, wo das Gesetz für minder schwere Fälle einen Sonderstrafrahmen vorsieht, auch tatunspezifische Umstände wie die besondere Strafempfindlichkeit einen niedrigeren Strafrahmen begründen können, während diese Umstände bei allen anderen Delikten ohne Sonderstrafrahmen nur innerhalb des Normalstrafrahmens verarbeitet werden können. Nach dieser Kritik verstößt auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Strafrahmenverschiebung, die eine sehr weitgehende Gewichtung einer HIVInfektion ermöglicht, erstens gegen die Konzeption des deutschen Strafrechts als Schuldstrafrecht und ist zweitens unsystematisch, produziert Rechtsunsicherheit und Willkür. Diese Kritik ist das Resultat des "Scherbenhaufens,,42 der derzeitigen gesetzlichen Regelung der minder schweren Fälle, aber die zutreffende Analyse der systematischen Friktionen der Rechtslage ist kein ausreichender Grund, die AIDSRechtsprechung zur Strafrahmenverschiebung aufzugeben. Denn begreift man die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum gerechten Schuldausgleich als Konkretisierung des Schuldprinzips in seiner Bedeutung für Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen," weitere Nachweise bei Dreher/Tröndle, 46. Auf!. 1993, § 46 Rdnr. 41 f. 40 Zu folgender Kritik vgl. Wolfgang Frisch/Matthias Bergmann, Zur Methode der Entscheidung über den Strafrahmen, JZ 1990, 944 ff.; Eckhard Horn, Gesamtwürdigung - Sinn und Unsinn eines Rechtsbegriffs, in: Gerhard Domseifer ua. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Annin Kaufmann, 1989, S. 573 ff. 41 Vgl. vor allem Franz Streng, NStZ 1988, 485 ff.; ders., Strafrechtliche Sanktionen, 1991, S. 209 ff. sowie die Nachweise in Fn. 40. 42 Michael Hettinger, o. Fn. 38, S. 112.
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das Strafmaß,43 dann wird es schwer zu begründen, warum nicht - jedenfalls ganz spezifische - Umstände, die eine erheblich niedrigere Strafe als schuldangemessen erscheinen lassen, auch bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt werden können. Ein Blick auf andere Fallgruppen, bei denen der Bundesgerichtshof ebenfalls eine Strafrahmenverschiebung für möglich hält,44 zeigt die qualitative Sonderstellung der Berücksichtigung verkürzter Lebensdauer: Strafrahmenverschiebungen wegen überlanger Verfahrensdauer oder wegen Lockspitzeleinsatzes lassen sich, soweit sie als schuldunabhängige Umstände bewertet werden, schon nicht als Konkretisierung des Schuldprinzips für das Strafmaß begründen. Auch die Fälle, in denen der bei einer Strafe ab einem Jahr automatisch eintretende Verlust des Beamtenstatus einen minder schweren Fall begründen kann, unterscheiden sich von der AIDS-Rechtsprechung in mehrfacher Hinsicht: Kommt am Ende eine Strafe heraus, bei der das Beamtenverhältnis gar nicht wegfallt, wird die erhöhte Strafempfindlichkeit als Voraussetzung einer Strafrahmenverschiebung behauptet, obwohl der Umstand, der die Strafe empfindlicher machen soll, gar nicht eintritt - das ist absurd und kann nicht richtig sein. Bei dem HIV-Infizierten hingegen soll die gemilderte vergleichsweise kürzere Strafe im Idealfall gerade genau der längeren Strafe des gesunden Durchschnittsverurteilten entsprechen. Im übrigen ist der Verlust der beruflichen Stellung eine erheblich weniger gravierende Wirkung der Strafe als der relative Verlust an Lebenszeit in Freiheit bei einem HIV-Infizierten: Auf die erheblich verkürzte Lebensperspektive zu reagieren ist verfassungsrechtliches Gebot des Schutzes der Menschenwürde, für den Verlust der Beamtenstellung läßt sich dies wohl kaum behaupten. Im Rahmen der wegen ihrer definitorischen Konturlosigkeit gebotenen ,,induktiv-kasuistischen ... Konkretisierung,,45 der Gesamtwürdigung bei der Strafrahmenfindung kommt der Fallgruppe schwerer, erheblich lebensverkürzender Krankheit ersichtlich eine Sonderstellung zu. Der generelle Einwand gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, eine individualisierende Schuld- und Strafzumessung widerspreche der Notwendigkeit einer "allgemeinverständlichen und konsensfähigen ... Gerechtigkeitswertung,,46 durch die Strafhöhe, trifft somit auf die Fälle eindeutig verminderter Lebenserwartung nicht zu, "massive Ungerechtigkeitsempfindungen,,47 sind hier - anders als etwa bei der "Beamtenrechtsprechung" - gerade nicht zu erwarten, eher schon das Gegenteil, wenn Zeitstrafe tatsächlich zur (nahezu) lebenslangen Freiheitsstrafe wird, ohne daß diese Wirkung der Strafe bei der Strafzumessung berücksichtigt werden darf.
Vgl. dazu o. den Text bei Fn. 24 ff. Vgl. dazu Cornelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 52 ff. 45 Albin Eser, "Scheinwaffe" und "Schwerer Raub" (§ 250 I Nr. 2, 11 StGB), JZ 1981, S. 821 ff. 46 Franz Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 1991, S. 211. 47 Franz Streng, aaO. 43
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Letztlich entscheidend aber für die Antwort auf die Frage, ob man auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine möglichst weitgehende Vermeidung von Strafhaft gegenüber HIV-Infizierten bei der Strafzumessung für zulässig hält oder ob man der besonderen Haftschwere erst in der Strafvollstreckung gerecht werden will, ist, ob man den Paradigmenwechsel von Tat-Unrecht und Tat-Schuld hin zum gerechten Schuldausgleich als Grundlage der Strafzumessung nachvollzieht und dann für bestimmte Fallgruppen konkretisiert. 48 Das scheint mir der zentrale Diskussionspunkt der Rechtsprechung zu AIDS und Strafzumessung zu sein. 49 Ich sehe aber noch einen weiteren Aspekt dieser Diskussion. Die Strafzumessungsdogmatik scheint in ihrer Fixierung auf Tat-Unrecht und Tat-Schuld als den zentralen Grundlagen der Strafzumessung den Kontakt zu den neueren Entwicklungen im Strafrecht verloren zu haben, einem Strafrecht, bei dem Unrecht und Schuld jedenfalls bereichsspezifisch nur noch Formelwerk sind, einem Strafrecht, das vor allem auf Prävention abzielt. So geht es gerade bei dem Thema AIDS und Strafzumessung vor allem um Beschuldigte, die Konsumenten illegaler Drogen sind, d. h. neben der Beschaffungskriminalität um Straftaten nach dem BtMG. Die generalpräventive Ausrichtung des Betäubungsmittelstrafrechts ist so stark, daß selbst die Strafbarkeit des Besitzes kleinster Mengen von Cannabis nicht gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstößt - so das BVerfG in seiner "Cannabis-Entscheidung."so Gerade im Betäubungsmittelstrafrecht werden geradezu systematisch einerseits schon für relativ geringfügige VerstößeS1 hohe Mindeststrafen angedroht, andererseits aber jeweils minder schwere Fälle bereitgehalten, um im Einzelfall nicht so hart reagieren zu müssen, wie es der Generallinie der flächendeckenden Abschreckung entspricht (§§ 29a, Abs. 2; 30, Abs. 2; 30a Abs. 2 BtMG). Das Betäubungsmittelstrafrecht ist ganz eindeutig ein Kind der Präven48 Der prinzipielle Einwand, daß nur eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der minder schweren Fälle auf Fälle minderen Tat-Unrechts und minderer Tat-Schuld im Gesamtkonzept der Strafzumessung systematisch überzeugend ist und verhindern kann, daß das Prinzip der Gesetzlichkeit durch eine das Gesetz konkretisierende Rechtsprechung zur Makelatur wird, ist wenig überzeugend angesichts einer ganz unsystematischen Gesetzeslage (vg!. dazu Michael Hettinger, o. Fn. 38, S. 100 ff.), die nur auf dem Weg der Konkretisierung Ergebnisse erlaubt, die verfassungsrechtlich und aus anderen systematischen Erwägungen -Zeitstrafe darf nicht zur faktisch lebenslangen Freiheitsstrafe werden - geboten sind. 49 Daß dem geltenden Sanktionenrecht die Individualisierung der Strafe nicht fremd ist, zeigt nicht nur die Regelung zur Geldstrafe gern. § 40 Abs. 2. So kennt das geltende Recht mit § 51 Abs. 4, S. 2 StGB, wonach bei der Anrechnung einer Freiheitsstrafe, die im Ausland verbüßt wurde, die jeweiligen Haftbedingungen zu berücksichtigen sind, auch im Bereich der Strafzumessung von Strafhaft eine Regelung, die eine Berücksichtigung der Haftschwere ganz unabhängig von der Höhe des Unrechts und der Tat-Schuld vorschreibt, vg!. nur Dreher/Tröndle, StGB, 46. Auf!. 1993, § 51 Rdnr. 18. 50 Besch!. vorn 9.3.1994-2 BvL 43/92 ua - StV 1994. 51 Schon der Besitz einer Menge von mehr als 1,5 g Heroin ist nach § 29a BtMG mit einer Mindeststrafe von 1 Jahr bedroht, die Einfuhr gern. § 30 BtMG sogar mit einer Mindeststrafe von 2 Jahren.
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tion. 52 An Tatschuld orientierte Strafzumessung wirkt im Betäubungsmittelstrafrecht wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Und wenn es richtig ist, daß auch im übrigen Stafrecht ein Wandel vom Schuldvergeltungsstrafrecht hin zum Präventionsstrafrecht stattfindet, wenn es richtig ist, daß sich die Praxis unter Hintanstellung des Schuldprinzips im Koordinatensystem von Symbolik, Prävention und Effizienz einrichtet, 53 dann wirft dieser Wandel die Frage auf, ob nicht auch die Orientierungseckwerte der Strafzumessung neu überdacht werden müssen. 54 Das sind grundsätzliche Fragen, die ich im Rahmen dieses Vortrages nicht behandeln kann. Aber ebenso, wie das Thema der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für eine HIV-Infektion Anlaß für eine intensivierte Diskussion des strafrechtlichen Vorsatzbegriffes oder der Berücksichtigung von Spätfolgen werden konnte, scheint mir das Thema AIDS und Strafzumessung Anlaß zu geben, die Grundprinzipien der Strafzumessungsdogmatik neu zu überdenken.
IV. Weitere Fragen des Sanktionenrechts55 Strafzumessung kann im modemen Strafrecht nicht mehr isoliert als Teil des materiellen Rechts diskutiert werden; sanktionenrechtliche Entscheidungen finden mit den Einstellungsmöglichkeiten des Verfahrensrechts und dem Recht der Strafvollstreckung auch vor und nach der eigentlichen Strafzumessung statt. Ich will Vgl. nur Winfried Hasserner, Prävention im Strafrecht, JuS 1987,257 ff. (258 ff.). Zur Kritik an einem Strafrecht, das vorrangig nach symbolischen Effekten heischt, vgl. Winfried Hasserner, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz, NStZ 1989,553 ff. Effizienz garantieren die Einstellungsvorschriften (vor allem §§ 153 ff. StPO) und die informellen Formen der Erledigung und Verkürzung von Strafverfahren, die verfahrensbeendenden Absprachen im Strafverfahren, vgl. zum neuesten Stand der Diskussion Bernd Schünemann, Wetterzeichen einer untergehenden Strafprozeßkultur? Wider die falsche Prophetie des Absprachenelysiums, StV 1993,657 ff. Zur Rekonstruktion und Kritik des modemen präventiven und symbolischen Strafrechts der Risikogesellschaft Cornelius Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1992, zusammenfassend S. 364 ff. 54 V gl. auch unter diesem Gesichtspunkt die vernichtende, aber m.E. zutreffende Kritik von Bernd Schünemann an der Spielraumtheorie und sein ,,Plädoyer für eine neue Theorie der Strafzumessung", in: Albin Eser/Karin Cornils (Hrsg.), o. Fn. 23, S. 209 ff. Generelle Überlegungen zum Stellenwert der individualisierenden Folgenorientierung für die Strafzumessung bei Heinz Müller-Dietz, Strafzumessung und Folgenorientierung, in: Manfred Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spende\, 1992, S. 413 ff. Zu einer Systematisierung einer am Straftatsystem (Unrecht und Schuld als zentrale Kategorien) orientierten Strafzumessung auf der Grundlage der Konzeption von Normstabilisierung durch Strafrecht vgl. Wolfgang Frisch, Straftatsystem und Strafzumessung. Zugleich ein Beitrag zur Struktur der Strafzumessungsentscheidung, in: Jürgen Wolter (Hrsg.), o. Fn. 38, S. 1 ff. 55 Zum folgenden vgl. auch die z.T. wesentlich ausführlicheren und auf weitere Gesichtspunkte eingehenden Überlegungen von Friedrich Dencker, StV 1992, 125 ff. (129 ff.). 52 53
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die m.E. wichtigsten Fragen wenigstens kurz andeuten. Zuvor ist aber noch eine prinzipielle Frage zu klären. Es gibt in der Diskussion über die Berücksichtigung der HIV-Infektion im Sanktionenrecht die Tendenz, erst die AIDS-Erkrankung für beachtlich zu erklären. 56 Auf der Grundlage der hier vorgestellten Strafzumessungsdogmatik ist aber der Unterschied zwischen einer HIV-Infektion und einer manifesten AIDS-Erkrankung nur graduell. Ausschlaggebend für die Strafmilderung ist in beiden Konstellationen die im Vergleich zu einem gesunden Angeklagten erheblich verminderte Lebensdauer, im Fall einer AIDS-Erkrankung wird die Prognose nur manifester und eindeutiger, das subjektive Haftleiden noch größer.
1. Zur Unterbrechung der Strafvollstreckung nach § 455 StPO
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Rest von Leben in Freiheit ohne Siechtum gibt, erfordert im Regelfall eine Unterbrechung der Vollstreckung, wenn nur so noch ein menschenwürdiger Rest von Leben in Freiheit garantiert werden kann. Ich gehe damit weiter als Klaus Geppert in der 12. These zu seinem Vortrag auf diesem Symposium, die nur verlangt, daß dem Gefangenen die "Gnade des Sterbens in Freiheit" zu gönnen ist. Das ist jedenfalls das Mindeste, was durch Verfassungsrecht gebotene Humanität verlangt. Die veröffentlichte Rspr. zu § 455 StPO geht offenbar davon aus, daß unter Vollzugsbedingungen bzw. mit den Behandlungsmöglichkeiten der Vollzugskrankenhäuser eine ausreichende medizinische Behandlung der AIDS-Kranken gewährleistet ist. 57 Ich bin da erheblich skeptischer angesichts der Spezialisierung etwa der AIDS-Abteilung in der Frankfurter Universitätsklinik im Vergleich zu den Standards ärztlicher Versorgung in der Haft, zumal der in der Rechtsprechung zu § 455 StPO zugrundegelegte medizinische Begriff der Behandlung auch nicht dem modemen Verständnis entspricht, das selbstverständlich psycho-soziale Komponenten miterfaßt, die bei der AIDS-Erkrankung besonders signifikant sind. Generell ist jedenfalls eine Vorschrift zu schaffen, die über die Möglichkeiten des § 455 StPO hinaus den Abbruch der Strafvollstreckung gegenüber Menschen vorschreibt, die an AIDS erkrankt sind. 58
56 Zur Lit. vgl. die zitierte Bemerkung von Franz Streng, o. bei Fn. 21.; diese Auffassung war auch unter den Teilnehmern des Symposiums verbreitet. 57 Zur Auslegung des § 455 StPO vgl. Cornelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 69 f. mN.; typisch für den Stellenwert, den eine AIDS-Erkrankung gern. § 455 haben soll, die Kommentierung bei KleinknechtiMeyer-Goßner, StPO, 41. Auf!. 1993, § 455, Rdnr. 10 und Karlsruher Kommentar-Fischer, StPO, 3. Auf!. 1993, § 455 Rdnr. 13: "in der Regel nicht." 58 V gl. etwa den Gesetzesentwurf der Fraktion der GRÜNEN im Bundestag, BT-Dr. 11/ 3243, S. 5 f.
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2. Zu den Einstellungvorschrijten 59
Bezugspunkt für die Möglichkeit einer Einstellung nach §§ 153, 153a StPO ist, daß die mögliche Schuld als gering anzusehen wäre. Bei richtiger Auslegung ist nicht gemeint, daß die Tatschuld gering wäre, sondern die Schuld wird als zentraler Indikator für die mögliche Strafe genannt. Gefragt werden muß daher, ob die Sanktion, auf deren mögliche Verhängung verzichtet wird, gering wäre. Bei einer Antizipation der Stafmilderung wegen AIDS gemäß der Konzeption des gerechten Schuldausgleichs erweitert sich damit zugleich der Anwendungsbereich der Einstellungvorschriften. 60
3. Zur Zurückstellung der Strafvollstreckung gern. § 35 BtMG
Zunächst einige kurze Bemerkungen zur tatsächlichen Ausgangslage. Das Thema AIDS und Strafhaft betrifft ganz überwiegend Menschen, die drogenabhängig sind. Wir haben nun auch in Deutschland eingesehen, verspätet im Vergleich zu vielen anderen Ländern, daß die abstinenzorientierten Therapien nicht für alle Drogenabhängige geeignet sind, daß für viele Menschen ohne eine Stabilisierung ihrer Gesundheit und ihrer Lebensbedingungen mit Hilfe einer Substitutionsbehandlung das Ziel eines drogenfreien Lebens nicht erreichbar ist. So gibt es mittlerweile in nahezu allen deutschen Großstädten Methadonprogramme, deren Klientenzahlen ständig wachsen, etwa in Frankfurt in zwei Jahren von 60 auf über 800 Klienten. So ist gerade auch für viele HIV-positive Verurteilte eine abstinenzorientierte Therapie eine Überforderung, sind Methadonprogramme für sie geeigneter. Damit stellt sich die rechtliche Frage, ob § 35 BtMG, der nach dem Konzept "Therapie statt Strafe" eine Zurückstellung der Strafvollstreckung erlaubt, wenn der Verurteilte eine "seiner Rehabilitation dienende Behandlung" antritt, auch anwendbar ist, wenn die Therapie aus der Teilnahme an einem Substitutionsprogramm besteht. Das wurde lange bestritten,61 aber spätestens seit der Änderung des § 13 BtMG im September 199262 ist die Rechtslage eindeutig. Der Behandlungsbegriff des § 35 BtMG ist weit auszulegen,63 und § 13 BtMG, der die spezifischen Voraussetzungen einer Substitionsbehandlung regelt, ist die speziellere Vorschrift, so daß der Behandlungsbegriff des § 35 BtMG nicht enger sein kann als der des § 13 BtMG. Der Gesetzgeber hat nun klargestellt, daß eine Substitution auch als "Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit" zulässig ist. Somit Zum folgenden und zur weiteren Begründung vgl. Friedrich Dencker, StV 1992, 131 ff. Zur Berücksichtigung von HIV-Infektionen bei der Anwendung von §§ 154 StPO, 37 BtMG vgl. Friedrich Dencker, aaO. 61 Vgl. dazu und zum folgenden Cornelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 107 ff. mN. 62 Gesetz vom 9.9. 1992 (BGBl.I, S. 1593). 63 Vgl. Cornelius Nestler-Tremel, o. Fn. 14, S. 110 f. 59
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kann die Vollstreckung der Strafe im Hinblick auf die Teilnahme an einem Substitionsprogramm zurückgestellt werden. Im übrigen kann die Teilnahme an Substitionsprogrammen erheblichen Einfluß auf die Anwendungsmöglichkeiten der Vorschriften über die Strafaussetzung zur Bewährung haben, weil im Hinblick auf die Teilnahme an einem Methadonprogramm auch einem mehrfach vorbestraften und rückfälligen Drogenabhängigen eine ausreichend gute Sozialprognose gestellt werden kann. Da die Rechtsprechung die Tatsache der HIV-Infektion weiterhin zu Recht als besonderen Umstand bewertet, der nach § 56 StGB die Strafaussetzung zur Bewährung von Strafen bis zu zwei Jahren und nach § 57 StGB schon eine Aussetzung der Reststrafe nach Verbüßung der Halbstrafe möglich macht,64 müßte eigentlich mit dem Zusammenspiel der drei Faktoren: 1) Gemilderte Strafe nach den Grundsätzen des gerechten Schuldausgleichs, 2) gute Sozialprognose wegen Teilnahme an Substitutionsprogrammen sowie 3) besondere Umstände gern. §§ 56, 57 StGB mit dem zunehmenden Ausbau der Methadonprogramme eine weitgehende Strafvermeidung bei HIVinfizierten Drogenabhängigen möglich sein.
v. Schlußbemerkungen Das hier vorgestellte Konzept einer möglichst weitgehenden Vermeidung von Haft für HIV-infizierte Menschen ist einem naheliegenden Einwand ausgesetzt. Soll etwa auch der gefährliche Verurteilte, von dem weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, entweder gar nicht in Haft genommen oder vorzeitig entlassen werden? Ist der Umstand einer HIV-Infektion nun eine Art Freibrief zur Begehung von Straftaten? Selbstverständlich nein: In der Strafzumessung geht es immer um eine Abwägung vieler und unterschiedlicher Gesichtspunkte, und auch die erheblich verkürzte Lebenserwartung des Verurteilten kann dabei keinen absoluten Vorrang haben. Aber die spezifische Situation von Menschen, die HIV-infiziert sind, muß im Sanktionenrecht in besonderem Maße strafmildernd und möglichst Haftstrafen vermeidend berücksichtigt werden. Und wenn man die Zahlen betrachtet, die Herr Gähner von der Deutschen Aidshilfe auf dem Symposium mit seiner Befragung von HIV-infizierten Gefangenen vorgelegt hat, wonach bei 64 % der Verurteilten das Gericht die HIV-Infektion kannte, dieser Umstand aber nur bei 16 % einen positiven Einfluß auf das Urteil hatte,65 dann wird überdeutlich, wie unterschiedlich die beiden Aspekte des Themas AIDS und Strafrecht gewichtet sind: Auf der einen Seite eine Dramatisierung von Einzelfällen oder Bedrohungspotentialen der HIV-Infektion; auf der anderen Seite die Praxis der verurteilenden Gerichte, für die der HIV-infizierte Mensch schon so zur Normalität geworden ist, daß die tödliche Krankheit gerade noch bei einem Viertel der Verurteilungen Berücksichtigung findet. 64 65
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Vgl. OLG Hamm, StV 1991,427 f. und BayObLG, StV 1992, 15. Deutsche AIDS-Hilfe (Hrsg.), AIDS im Strafvollzug, 1993, S. 12.
Diskussionsbericht Von Karl-Ludwig Kunz Der Diskussionsleiter spricht dem Referenten Dank aus für seinen konzentrierten und engagierten Vortrag. Das Referat ist über seine eigentliche Thematik hinaus für die Grundsatzfrage der Tagung bedeutsam, inwieweit das Strafrecht im Zusammenhang mit AIDS legitimerweise einzusetzen sei. Bisher wurde dazu im wesentlichen vertreten, daß dem Strafrecht hier eine zwar bescheidene, aber im Prinzip unverzichtbare Rolle zukomme. Der Referent stellt dem zugespitzt die These entgegen, daß das Strafrecht keinen nennenswerten Beitrag zur Verhinderung von HIV-Infektionen leiste. Der Versuch, das Strafrecht deutlich weiter als bisher, namentlich über Desperado-Fälle hinaus zu aktivieren, habe gesellschaftspolitische Rückwirkungen. Er begünstige einen sozialtechnokratischen, illiberalen Umgang mit gesellschaftlichen Problemen, im Extrem enthielte er Merkmale eines Polizeistaates. Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen können für die Diskussion der Thesen zur Strafzumessung zwei Fragen den Rahmen abstecken: Ist es wirklich angemessen, das Thema - wie es Herr Nestler tut - allein unter dem Gesichtspunkt der Schuldminderung infolge erhöhter Strafempfindlichkeit zu behandeln, oder müßte nicht auch eine - zwar nicht generell unterstellbare, aber im Einzelfall durchaus mögliche - gesteigerte Sicherungsbedürftigkeit infolge erhöhter Gefährlichkeit in Betracht gezogen werden? Die zweite Frage lautet: Verträgt sich eine so weitgehende Entlastung des HIV-infizierten Täters - wie Herr Nestler sie propagiert - mit dem Gebot des gerechten Schuldausgleichs und präventiven Bedürfnissen? Gähner unterstützt die Thesen des Referats grundsätzlich. Aus seiner Praxis ist ihm kein Fall bekannt, in dem die HIV-Infektion beziehungsweise die AIDS-Erkrankung eines Angeklagten von Gerichten mehr als nur verbal strafmildernd berücksichtigt wurde. Als ein in der Frage engagierter Bundesanwalt sich dafür einsetzte, eine im Endstadium der AIDS-Erkrankung befindliche Strafgefangene vorzeitig zu entlassen, habe die zuständige Behörde ihm mitgeteilt, es sei erstaunlich, daß ein Mensch seiner Bildung und Herkunft sich für eine solche Frau einsetze; eine vorzeitige Entlassung komme nicht in Betracht, weil die Gefahr bestünde, daß die Frau weiter als Prostituierte arbeite und andere infiziere. Dies zeigt, daß der Gesichtspunkt der Sicherung der Allgemeinheit grundsätzlich im Vordergrund steht. Zudem ist die angemessene Unterbringung von HIV-Infizierten nach der Haftentlassung ein großes Problem, dem ein Sozialstaat sich viel mehr als bisher annehmen muß. In Berlin wurden in Zusammenarbeit mit der AIDS-Hilfe 25
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Wohnplätze für infizierte Entlassene geschaffen, wohingegen etwa 400 Plätze benötigt werden. Auch deshalb werden faktisch so wenige Gefangene im Hinblick auf ihren Krankheitszustand entlassen. Trotzdem sollte dies kein Grund sein, diese Personen in Haft zu behalten. Die Broschüre der deutschen AIDS-Hilfe will bei Richtern um Verständnis dafür werben, wie HIV-infizierte und AIDS-erkrankte Menschen den Strafvollzug erleben. Höpfel bedankt sich beim Referenten für die grundsätzliche Besinnung auf die Rolle das Strafrechts im Kontext der AIDS-Bekämpfung. Leitlinie muß sein, daß nicht die HIV-Positiven, sondern das Virus zu bekämpfen sei. Dennoch ist gegenüber einer ausgefeilten Zumessungsdogmatik in AIDS-Fällen Skepsis angebracht. An sich ist es wohl berechtigt, den Gedanken der Strafempfindlichkeit dogmatisch weiterzuentwickeln, aber gerade bei der Freiheitsstrafe ist der Spielraum eher gering. Bei der Geldstrafe im TagesbuBensystem kann man ohne weiteres zwischen der Schuld und dem Opfer, das die Strafe für den Betroffenen bedeutet, unterscheiden. Hingegen bildet die Freiheitsstrafe sozusagen eine Einheitswährung. Die Lebenserwartung miteinzubeziehen, würde im Einzelfall eine genaue Diagnose der Gesundheit des Angeklagten verlangen. Dazu gibt es zweifellos Mittel wie die Genomanalyse. Die Erhebung der Lebenserwartung stellt jedoch einen Eingriff in die Persönlichkeit dar, der gerade im Strafrecht tunlichst vermieden werden sollte. Eine Erörterung des Krankheitszustandes auch als möglicher Milderungsgrund kann sich in der öffentlichen Hauptverhandlung gegen den HIV-Positiven auswirken. Gerade Laienrichter sind für das Argument empfänglich, eine solche Person werde ihre Krankheit als Freibrief für weitere Delikte benutzen. Wenn die Medienöffentlichkeit dies aufgreift, sind die Folgen unabsehbar. Von da her ist der Versuch von Prof. Streng vorzugswürdig, die HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung eines Delinquenten aus dem Bereich der Strafzumessung zu verlagern in das nichtöffentliche Gebiet der Strafvollstreckung, sozusagen auf einen Zeitpunkt, in dem die Journalisten den Saal verlassen haben. Schließlich ist gerade hier auch das Gnadenrecht gefragt. Eine andere Einschränkung: Der Strafvollzug ist nicht unbedingt immer der StreB, der den Ausbruch und die Entwicklung der Krankheit fördert. Besonders bei drogenabhängigen HIV-Positiven kann ein geordneter Strafvollzug eine gewisse Stabilisierung im Leben und eine gesündere Lebensführung bewirken. Auch eine Methadonbehandlung kann im Strafvollzug vielfach leichter eingeleitet oder fortgesetzt werden. Ohne den Strafvollzug zu verniedlichen, gebietet die wissenschaftliche Redlichkeit diese Feststellung, zumal hier von verschiedenen traumatischen Einflüssen und ihren Gefahren für den HIV-Infizierten die Rede war. Allerdings ist grundsätzlich bei Drogenabhängigkeit die Behandlung in Freiheit vorzugswürdig. Eine solche Behandlung ist auch in Österreich ein Grund für eine Strafaufschiebung. Freilich ist eine gut verlaufende Methadonbehandlung kein genügender Anlaß für eine nachträgliche Umwandlung der Freiheitsstrafe in eine bedingte. Hier gibt es noch Widersprüche. Obwohl die Methadonbehandlung als sinnvoll anerkannt ist, wird als Erfolg immer nur die absolute Drogenfreiheit gewertet.
Diskussionsbericht
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Schünemann verwahrt sich gegen den Popanz, der im Referat gegen die AIDSpräventionspolitische Konzeption von ihm und anderen aufgebaut worden sei. Es geht nicht darum, einen Polizeistaat zu proklamieren, sondern das dem Staat durch das öffentliche Recht und das Strafrecht zur Verfügung gestellte Interventionsinstrumentarium auf seine Tauglichkeit zur AIDS-Eindämmung zu überprüfen. Nestler verleugnet mit seiner These, das Strafrecht könne keinerlei Beitrag zur AIDSEindämmung leisten, eine Reihe von Wirkungsmechanismen. Die symbolische Kommunikation der Werte und Normen durch Strafrecht (nicht zu verwechseln mit einem gar nicht ernsthaft auf Durchsetzung bedachten "symbolischen" Strafrecht) ist im AIDS-Bereich besonders wichtig, weil hier normative Unsicherheit bis hin zur Normlosigkeit obwaltet und es also zunächst um den Aufbau entsprechender Verhaltensnormen geht. Die Botschaft des Strafrechts, daß es nicht allein Aufgabe des Opfers ist, sich in Acht zu nehmen, sondern daß eine HIV-infizierte Person von sich aus verpflichtet ist, andere nicht zu gefährden, wird allgemein nicht als selbstverständlich empfunden, wie die auf Umgehung dieser Botschaft zielende Zurücknahme der Testempfehlung durch die AIDS-Hilfegruppen nach dem Urteil BGH St 36, I belegt. Im weiteren darf die Wirkung des Strafrechts nicht allein im Hinblick auf die Infektionsform des Geschlechtsverkehrs ermittelt werden. Die inzwischen erzielte relative Sicherheit bei Blutkonserven und Blutprodukten ist nicht zuletzt eine solche Wirkung des Strafrechts. Zum im Referat zentral behandelten Bereich der Prostitution: Es ist unerfindlich, wieso die für eine Fleischverkäuferin selbstverständliche Sorgfaltsregel, keine über Fleisch und Blut verbreitbare ansteckende Krankheit zu besitzen, bei Prostituierten nicht gelten soll. Die im Referat behauptete vollständige Kondomisierung des Geschlechtsverkehrs trifft nicht zu. Auch ist die Gefahr des Untertauchens der sich der staatlichen Kontrolle entziehenden Prostituierten nicht in dem behaupteten Maße gegeben, da die Prostituierten für Kunden erreichbar bleiben müssen. Selbst die den Bayerischen Vollzugsrichtlinien entsprechende Praxis ist von einer polizeistaatlichen Kontrolle der Prostitution weit entfernt und bleibt bei weitem hinter der heute im Strassenverkehr praktizierten Kontrolldichte zurück. Das eigentliche Regelungsproblem besteht in der Ausgestaltung der Sanktionen, insbesondere der Fortentwicklung der für HIV-Infizierte besonders untauglichen Kriminalstrafe in eine sozialstabilisierende Maßnahme, und der Entwicklung eines Nachsorgekonzepts. Bis heute ist hier nichts geschehen. Die im Referat zutreffend aus reduzierter Lebenserwartung abgeleitete Strafmilderung rechtfertigt sich dogmatisch daraus, daß das Strafübel der Freiheitsstrafe aus dem Verlust an Lebenserwartung definiert werden kann; dementsprechend läßt sich die Dauer des Freiheitsentzuges nach einer geometrischen (nicht: arithmetrischen) Gleichheit definieren. Auch läßt sich bei einer Bestrafung nach dem Betäubungsmittelgesetz die über Betäubungsmittelgebrauch erworbene HIV-Infektion als poena naturalis in Anschlag bringen. Hingegen ist die HIV-Infektion als solche kein Schuldminderungsgrund, sondern nur die als Infektionsfolge auftretende Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems. Soweit der Verurteilte durch seine Infektiosität eine Gefahr für die Gesundheit anderer dar-
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stellt, muß die Sanktion die Sicherungsaufgabe erfüllen, was ohne ein System sowohl helfender als auch präventiver Nachsorge nicht vorstellbar ist. Die von der Süßmuth-Linie kultivierte Berührungsangst gegenüber effizienten Maßnahmen jedweder Art hat fatalerweise bis heute jegliche Anpassung der strafrechtlichen Sarnktionen an die besondere Situation der HIV-infizierten Verurteilten verhindert. Im AIDS-Bereich kann und darf es nicht darum gehen, die Schiene der Beratung, Hilfe und Anti-Diskriminierung gegenüber der Schiene der administrativ-strafrechtlichen Kontrolle auszuspielen. Gefragt ist die sinnvolle Kombination beider Wege im Interesse einer optimalen AIDS-Prävention. W(lsek fragt sich, ob der Referent in seinen Ausführungen zur Strafzumessung nicht zu wenig differenziert hat zwischen HIV-infizierten und AIDS-kranken Angeklagten. Nach polnischem Strafprozeßrecht ist die AIDS-Erkrankung ein Grund für eine obligatorische Aussetzung des Strafverfahrens. Falls Haft verhängt wird, sollte diese in einem entsprechenden Krankenhaus vollzogen werden. Im Zusammenhang mit der Strafzumessung bei HIV-Infizierten stellt sich die Frage, ob der Infektionszustand sich auf die Tatschuld oder die Strafempfänglichkeit auswirkt. Überhaupt ist die Frage, ob die HIV-Infektion des Angeklagten sich auf die Strafzumessung auswirken sollte. Die polnischen Gerichte haben - soweit bekannt bisher diesen Umstand als irrelevant betrachtet. Vor etwa drei Jahren haben Häftlinge sich bewußt angesteckt, indem sie infiziertes Blut kauften und sich spritzten, um dadurch Haftverschonung zu erhalten. Die Gerichte haben sodann die HIV-Infektion dieser Personen nicht mildernd berücksichtigt, woraufhin derartige Fälle nicht mehr vorkamen. Art. 3 des Entwurfs des polnischen Strafgesetzbuches besagt, daß die Strafen und Nebenstrafen mit Rücksicht auf das Humanitätsprinzip, besonders die Menschenwürde, zu verhängen sind. Eine solche offene Formel ist einer schematisch schuldmindernden Lösung vorzuziehen. Luzon erachtet die vom Referenten vertretene Strafzumessungslösung für weiterführend, da sie den Akzent auf die Funktion der Strafe als Ausgleich der Schuld legt. Die Frage ist freilich, ob der Referent in konsequenter Weiterführung dieses Gedankens die Strafempfindlichkeit generell als Maßstab anzuwenden bereit ist, also zum Beispiel einen sensiblen, kultivierten Tater gegenüber einem groben, wenig empfindlichen Tater privilegieren würde. Dies wäre womöglich ein Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip und gesellschaftlich nicht akzeptabel. Du Plessis weist darauf hin, daß ein auf Gewohnheitsrecht basierendes Strafrechtssystem wie das südafrikanische mehr Raum zu flexiblen, einzelfallgerechten Lösungen bietet. Bei einem Angeklagten, der wegen Vergewaltigung oder sexuellen Mißbrauchs eines Kindes verurteilt wird, ist seine HIV-Infektion womöglich straferschwerend zu berücksichtigen, denn er könnte das Opfer sehr schwer verletzen. Ob die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten - seine HIV-Infektiosität oder AIDS-Erkrankung - strafmildernd zu berücksichtigen sind, hängt im Einzelfall von der Schwere des Delikts ab.
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Spinellis schlägt vor, der Frage empirisch nachzugehen, welche Straftaten die im Strafvollzug einsitzenden HIV-Infizierten und AIDS-Kranken begangen haben, und welches Ausmaß an sozialer Gefährlichkeit von ihnen ausgeht.
Nach Schluß der Rednerliste bedankt sich Nestler für die anregenden Stellungnahmen. Er nimmt dazu in der Folge Stellung. Einige Diskussionsteilnehmer - etwa W{lsek - haben nach Reaktionen von potentiellen Beschuldigten auf die von mir vorgeschlagene Rechtsprechung gefragt. In Deutschland gibt es keinen mir bekannten Fall absichtlicher Se1bstinfektion. Vermutlich ergab sich solches Verhalten in polnischen Strafanstalten aus der besonderen Situation von Unaufgeklärtheit, wie sie für die Anfangsphase der AIDS-Diskussion kennzeichnend ist. Wenn in Einzelfällen wirklich Täter eine Strafverschonung wegen ihrer HIV-Infektion als Freibrief für weitere Delikte nutzen sollten, werden die Gerichte darauf reagieren, indem nunmehr überwiegende Sicherungsbedürfnisse der Allgemeinheit angenommen werden, die eine erneute Nachsicht ausschließen. Zur Fage von Luzon nach der Strafempfindlichkeit: In der Praxis der Strafzumessung bestehen weitgehende Beurteilungsspielräume bei nur geringen höchstrichterlich überprüfbaren Vorgaben. Die Schuldrahmen- oder Spielraumtheorie hat praktisch kaum Auswirkungen, einfach deshalb, weil die Gerichte nicht dazu gezwungen werden, den von ihnen angenommenen engeren Schuldrahmen näher zu explizieren. Infolgedessen gibt es nur so etwas wie eine höchstrichterliche Vertretbarkeitskontrolle. Wegen des weiten tatrichterlichen Zumessungsermessens kann man nur hoffen, daß die Gerichte die vorgetragenen Argumente zur Kenntnis nehmen. HIV-Infizierte und AIDSKranke befinden sich in einer ganz besonderen Situation, aus der eine besonders geartete Strafempfindlichkeit resultiert. Das Stichwort "Geometrie" von Schünemann weist hier grundSätzlich in die richtige Richtung. Im übrigen gebietet die Verfassung, verkürzte Lebenszeit als strafzumessungsrelevant zu erachten. Gegen die Bedenken von Höpjel zur Berücksichtigung der Strafempfindlichkeit bei der Freiheitsstrafe spricht etwa die Vorschrift des deutschen § 51 Abs. 4 StGB, wonach bei Anrechnung einer Strafverbüßung im Ausland das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen bestimmt. Dies zeigt, daß der Gesetzgeber Überlegungen zur Strafempfindlichkeit bei Freiheitsstrafen in anderem Zusammenhang bereits berücksichtigt. Der These von Höpjel, dem HIV-Infizierten könne durch die Abklärung seines Infektionszustandes Schaden zugefügt werden, ist zu entgegenen, daß solche Untersuchungen nur im Einverständnis des Beschuldigten stattfinden sollen, und es zudem nicht um eine präzise Bestimmung der Lebenserwartung, sondern um eine eher pauschalisierende Betrachtungsweise geht, die auf statistischen Lebenserwartungen von HIV-Infizierten beruht. Zur Frage von Spinellis nach dem Anteil gefährlicher HIV-Infizierter im Strafvollzug: Vermutlich sind HIV-infizierte Gefangene ganz überwiegend drogenabhängig. Solche Personen begehen Betäubungsmitteldelikte, für die relativ hohe Strafen vorgesehen sind, sowie Beschaffungskriminalität, und zum kleineren Teil Körperverletzungsdelikte und ähnliches. Die mehr oder weniger große Sozialgefährlichkeit solcher Delikte ist das eine Problem. Ein anderes besteht darin, daß Entlassene keine Wohnung und Unterstützung
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finden. Eine Lösung dessen ist in zwei Richtungen denkbar: Mehr sozialstaatliche Unterstützung, was an enge Grenzen der Finanzierbarkeit stößt, oder eine andere Drogenpolitik, etwa durch Ausbau der Methadonprogramme. Zu Schünemann: Sein Konzept, Prävention und dazu in Maßen Repression zu betreiben, geht nicht auf, weil in diesem Bereich bestimmte Formen von Repression die gewünschte Prävention vereiteln. Der Diskussionsleiter dankt für die lebhaften Voten. Eine Schlußbemerkung aus Schweizerischer Sicht: Das Problem einer angemessenen Bewältigung der Strafzumessung in Fällen der HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung resultiert in Deutschland zu einem guten Teil aus der Diskrepanz zwischen subtilen dogmatischen Zumessungsüberlegungen und einer Praxis, die dem kaum Beachtung schenkt. Infolgedessen ist es äußerst schwer, eine - wie immer begründete - Sonderbehandlung von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken bei der Strafzumessung in der Praxis durchzusetzen. In einer pragmatisch orientierten Rechtskultur wie der Schweiz fällt dies viel leichter. Dort kennt man - neben einschlägigen qualifizierten Körperverletzungs- und Tötungstatbeständen - einen mit geringerer Strafe bedrohten Gefährdungstatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten (Art. 231 StGB). Bei Straftaten im Zusammenhang mit der Übertragung von HIV-Viren wird in der Schweiz oftmals - an sich prinzipienwidrig - nur nach dem vergleichsweise milden Gefährdungstatbestand verurteilt, und auf diesem Wege faktisch die HlV-Infektion oder AIDS-Erkrankung des Täters mildernd in Rechnung gestellt.
AIDS und Strafvollzug Referae Von Klaus Geppert
I. Einführung
1. Die Begegnung mit AIDS fällt dem HIV-infizierten Menschen und seiner Umgebung in der Situation des Strafvollzuges noch schwerer, als wenn wir in Freiheit mit dieser in einem ganz hohen Prozentsatz über kurz oder lang zum Tod führenden Krankheit konfrontiert werden. So potenzieren sich die allseits bekannten Probleme von AIDS in einer totalen Situation, wie sie der Strafvollzug trotz aller rechtlicher Reglementierung noch immer darstellt, und es kommen zusätzliche rechtliche Komplikationen hinzu, die in der äußeren Unfreiheit ihren Grund haben2 • Gleichwohl dürfen wir erfreulicherweise konstatieren, daß die in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre beim Personal unserer Vollzugsanstalten und ihren Verantwortlichen ebenso wie bei den Insassen zu beobachtende hektische, gelegentlich geradezu irrationale Angst vor den Ansteckungsrisiken durch AIDS allmählich einer etwas besonneneren Einschätzung Platz zu machen scheint3 . Auch wenn im I Im Text geringfügig erweiterter und um Fußnoten ergänzter Vortrag, gehalten auf dem Internationalen Symposium zum Thema "Aids und Strafrecht" in Poznan/Polen (\. - 5. 6. 1994). 2 Speziell zum Thema "Aids im Strafvollzug" s. Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte von HIV-Infektion und Aids, in: Prittwitz, Aids, Recht und Gesundheitspolitik (\990), S. 151 ff; Bruns, Aids und Strafvollzug, StV 1987,504 ff; Dargei, Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener, NStZ 1989, 207 ff; Eberbach, Aids im Strafvollzug, in: Schünemann/Pfeiffer (Herausgeber), Die Rechtsprobleme von AIDS (1988), S. 249 ff; Jürgen Hartwig, Aids im Strafvollzug: Das Bremer Modell, ZfStrVO 1990,98 ff; Höflich, Aids und Vollzug, ZfStrVO 1991, 77 ff; Ingo Michels, Zur Situation von HIV-Infizierten und AIDSKranken im Strafvollzug, Kritische Justiz 1988,422 ff; Schmuck, Probleme mit HIV-Infizierten und an Aids erkrankten Personen im Vollzug der U-Haft und Strafhaft, ZfStrVO 1989, 165 ff; Sigel, Aids im Strafvollzug, ZfStrVO 1989, 156 ff, Stöver, HIV/AIDS-Prävention für DrogengebraucherInnen im Strafvollzug?, in: Kriminologisches Journal 1993, 184 ff; Strutz, Die Situation der HIV-Positiven und Aids-Kranken im Strafvollzug, in: Kriminalsoziologische Bibliographie 1989, Heft 63/64, S. 49 ff. - Nachzutragen sind in diesem Zusammenhang auch die "Richtlinien über HIV-Infektion und AIDS in Gefängnissen", die die WeItgesundheitsorganisation (WHO) in einer Tagung vom März 1993 in Genf erarbeitet hat: "WHO-Guidelines on HIV Infection and AIDS in prisons", Geneva march 1993. 3 Beispielhaft für diese Hysterie steht die - von den angerufenen Gerichten zu Recht zurückgewiesene - Forderung von Strafgefangenen, wegen AIDS-Ansteckungsgefahr nicht am
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Strafvollzug überrepräsentativ viele Menschen auf engem Raum nebeneinander leben müssen, die auf Grund ihrer Lebensführung und ihrer sexuellen Prägungen hinsichtlich einer HIV-Infizierung zu besonderen Risikogruppen gerechnet werden müssen, setzt sich offenbar vorsichtig die Einsicht durch, daß Häftlinge insgesamt gleichwohl nicht als "Risikogruppe eigener Art" begriffen und demzufolge auch keinen besonderen Untersuchungs- und Behandlungszwängen ausgesetzt werden dürfen. Immerhin zögernd scheinen die Verantwortlichen zu erkennen, daß ein möglichst schonender Umgang mit den AIDS-Betroffenen den besten Schutz vor ihnen darstellt. Einmal mehr sollte daher mit dem vom (deutschen) Gesetzgeber aus guten Gründen an den Anfang gestellten Grundsatz des § 3 StVollzG auch und gerade bei HIV-infizierten bzw. bereits aids-erkrankten Gefangenen ernst gemacht werden, nämlich: "das Leben im Vollzug ... den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich" anzugleichen. Denn die beste Hilfe im Kampf gegen AIDS ist auch im Strafvollzug Hilfe zur Selbstverantwortung 4 • Die Gesellschaft in dieser Weise zu sensibilisieren und die Verantwortlichen in diese Richtung hin zu ermutigen, ist auch Aufgabe einer wissenschaftlichen Begegnung wie der unsrigen, deren Initiator und Veranstalter - unser verehrter Kollege Professor Dr. Andrzej J. Szwarc von der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan - dafür unseren nachdrücklichen Dank verdient. 2. Zur Verdeutlichung der Größenordnungen, mit denen wir es in diesem Zusammenhang zu tun haben, mit aller Vorsicht vorweg einige wenige Zahlen der Statistik: (1) Nach dem Zwischenbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Kommission "Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" waren in der Bundesrepublik Deutschland ca. 74 % der damals (Stand: Sommer 1988) bekannten AIDS-Fälle bei Homosexuellen aufgetreten, 10 % bei intravenös Drogenabhängigen und weitere 8 % bei Personen, denen ärztlich indiziert Blut/Blutderivate übertragen wurden5 . Damals hat man die Zahl der Heroinfixer in der (alten) Bundesrepublik einschließlich des damaligen Berlin (West) auf 50.000 bis 100.000 geschätzt (damaliger Vergleich zu den USA: ca. 750.000); man schätzt, daß davon etwa 30 bis 60 % HIV-positiv sind6 .
Gemeinschaftsfernsehen teilnehmen zu müssen, sondern ein eigenes Fernsehgerät benutzen zu dürfen (LG Krefeld NStZ 1987, 140) oder in unterschiedlichster Weise (z. B. durch Zwangsuntersuchung aller Strafgefangener und des gesamten Anstaltspersonals auf eine mögliche HIV-Infektion oder durch Entfernung aller HIV-infizierter Personen aus der betreffenden JVA) gegen die Ansteckung mit Aids geschützt zu werden (LG Bonn NStZ 1987, 140 mit zust. Anm. Eberbach aaO S. 141 f). 4 Siehe dazu auch Bundestags-Drucksache 1112495, S. 9: "Das Ziel der Aufklärung muß die Befahigung zum realitätsgerechten Erkennen von Infektionsrisiken und zu autonomer Selbststeuerung in Risikosituationen sein." 5 Vgl. Bundestags-Drucksache 1112495, S. 68 und S. 125. 6 Siehe Bundestags-Drucksache 1112495, S. 69 und S. 101 sowie Kreuzer ZStW 100 (1988), 807, von Hippei ZRP 1989, 311 und Püschel AIFO 1988,452; zu Angaben speziell für Berlin vgl. Harms/Bienzle/Schneider/Bschor AIFO 1987, 392.
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(2) Man geht davon aus, daß etwa ein Fünftel aller Strafgefangenen intravenös drogenabhängig ist und davon wiederum ca. 20 bis 25 %, in großstädtischen Ballungsräumen sogar bis zu 40 % HIV-infiziert sind7 . In Relation dazu: Am 31. 3. 1993 waren in deutschen Justizvollzugsanstalten insgesamt 58.390 Personen verwahrt - und zwar 34.414 im Vollzug einer Freiheitsstrafe, 17.502 in Untersuchungshaft und 3.869 Personen im Jugendstrafvollzug 8 • (3) Ende der 80-er Jahre - neuere Zahlen sind mir leider nicht zugänglich - ging man auf Grund mehrerer epidemiologischer Studien von einer HIV-Prävalenz von etwa 20 % aus 9 • Überträgt man diese Zahl auf den Strafvollzug, kann man davon ausgehen, daß etwa jeder fünfte Drogengebraucher im Strafvollzug HIV-infiziert ist bzw. bereits AIDS-assoziierte Symptome aufweist. In absoluten Zahlen hieße das, daß mindestens 1.000 infizierte Gefangene in den Strafanstalten leben lO • Da man wohl wird sagen müssen, daß sich diese Zahlen seither eher in die ungünstige Richtung weitetentwickelt haben, muß man inzwischen wohl eher davon ausgehen, daß derzeit annähernd 1.500 HIV-infizierte Gefangene in deutschen Strafvollzugsanstalten leben.
11. Zur Problematik zwangsweise durchgeführter Tests 1. Zunächst ganz kurz zur tatsächlichen Ausgangslage: In letzter Zeit hat sich die Mitte der 80-er Jahre noch heftige Diskussion um die Frage, unter welchen Voraussetzungen bei Gefangenen gegebenenfalls zwangsweise HN- Tests durchgeführt werden dürfen 11, deutlich beruhigt. Dies liegt gewiß auch daran, a) daß die diagnostische Kraft solcher Antikörper-Tests, auch wenn ich deren Präventionspotential keineswegs schmälern möchte, nicht überschätzt werden darf. Denn sie versprechen gerade im Bereich des Strafvollzuges eine eher trügerische Sicherheit, weil Akut-Gefährdungen (z. B. durch "needle sharing", d. h. gemeinsames Benutzen von Spritzbestecken oder durch homosexuelle Intimkontakte) hier häufiger auftreten und für den Gefährdeten noch weniger kontrollierbar sind als in der Situation äußerer Freiheit. So besteht eine Schwäche des Antikörpertests be7 Vgl. Quensel in: Schuller/Stöver, Die Zugänglichkeit zu sterilem Spritzbesteck (2. Aufl. 1989), S. 11, Stöver Kriminol. Journal 1993, 185 und Eberbach, Aids im Strafvollzug (obige Fußnote 2), S. 265. 8 Ausweislich der (unveröffentlichten) Strafvollzugsstatistik des Bundesministers der Justiz. 9 Hierzu und zum folgenden - je mit weiteren Nachweisen - siehe Stöver Kriminol. Journal1993, 186. Vgl. auch Eberbach, Aids im Strafvollzug (Fn. 2), S. 265. 10 Stöver aaO (Fn. 9): dort mit weiteren Nachweisen. 11 Monographisch dazu vor allem Pfeffer, Durchführung von HIV-Tests ohne den Willen des Betroffenen (Berlin 1989), speziell zur Frage zwangsweiser HIV-Tests im Strafvollzug aaO S. 135 ff. Siehe ferner Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte von HIV-Infektion (o.Fn. 2), S. 154 ff, Dargel ZfStrVO 1988, 148 ff ("Ist eine rechtliche Grundlage für HIVReihentests bei Gefangenen zur Aids-Prophylaxe notwendig?") sowie denselben in NStZ 1989, 207 ff ("Die rechtliche Behandlung HIV-infizierter Gefangener"), Fluhr ZfStrVO 1988, 276 ff und Bruns StV 1987, 504 ff. Zur Frage heimlicher HIV-Tests außerhalb des Strafvollzuges vgl. vor allem Janker NJW 1987, 2897 ff, Laufs/Laufs NJW 1987, 2257 (2263) und Michel JuS 1988,8 ff.
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kanntlich darin, daß sowohl der Such- wie der Bestätigungstest die HIV-Infektion nur indirekt nachweist, reagiert er doch nicht auf das Virus selbst, sondern nur auf die vom Körper als Reaktion darauf gebildeten Antikörper. Da diese aber erst nach einer zeitlichen Verzögerung von zwei bis drei Monaten und gelegentlich sogar noch länger nachweisbar sind 12, kann ein (noch) "positiver" Testbefund in Wahrheit (schon) falsch sein. b) Ungeachtet dessen werden in allen deutschen lustizvollzugsanstalten nach einer allgemeinen Aufklärung über die Infektionskrankheit ,,AIDS", in der vor allem Informationen über Untersuchungsmöglichkeiten, Verlauf und Übertragungswege dieser Krankheit gegeben werden, HIV-Tests auf freiwilliger Basis angeboten 13. Wenn Gefangene den Test nicht durchführen lassen wollen, soll ihnen "die Einsicht in die Notwendigkeit der Untersuchung eindringlich" vermittelt werden l4 • Verweigert der Gefangene den Test gleichwohl, sind die Folgen unterschiedlich: In einigen Bundesländern (Hamburg, Saarland und Hessen) werden diese Gefangenen offenbar als HIV-positiv behandelt, was dann ihren Einsatz in bestimmten Arbeitsbereichen (Lebensmitte1versorgung, Friseur, Sanitärbereich o.ä.) ausschließt und gegebenenfalls Einzelunterbringung nach sich ziehen kann. Andere Bundesländer (so etwa Bayern und vor einiger Zeit wohl auch noch Nordrhein-Westfalen I5 ) schreiben bei Verweigerung eines "freiwilligen" Tests einen Zwangstest nur für Angehörige von Riskogruppen (Homo- und Bisexuelle, intravenös Drogenabhängige, Prostituierte beiderlei Geschlechts, Bluter und entsprechende Intimpartner) vor. Wieder andere Bundesländer (Berlin, Bremen und Niedersachsen) scheinen die Testverweigerung sanktionslos akzeptieren zu wollen. Die durchschnittliche Untersuchungsquote liegt bundesweit bei etwa 78 %16, nach neueren Ergebnissen bei Drogenabhängigen wohl noch höher l7 . 2. Die juristische Ausgangslage ist weitgehend klar. Als Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung l8 bedarf der HIV-Antikörpertest als solcher ebenso der Einwilligung des Betroffenen wie die dafür erforderliche Blutentnahme, stellen diese doch einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar; ohne eine Einwilligung ist die mit einer Venenpunktion verbundene Blutentnahme nach langjährig gefestigter deutscher Rechtspraxis sogar eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB). Wirksam ist die Einwilligung im übrigen nur bei umfassender Aufklärung, die sich nicht nur auf den Zweck des Tests und dessen Dazu BT-Drucksache 1112495, S. 84. Siehe insofern die einschlägigen Erlasse der Bundesländer Bayern, Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Saarland: abgedruckt in Goebel/Gauweiler, Aids aktuell Band II (unter 3.7.). 14 So in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Niedersachsen: nach Goebel/Gauweiler aaO (Fn. 13). IS Ein Symposiumsteilnehmer hat in der sich an diesen Vortrag anschließenden Diskussion mitgeteilt, daß solche Zwangstests in Nordrhein-Westfalen zwischenzeitlich nicht mehr vorgesehen seien. 16 Nach Sigel ZfStrVO 1989, 160. 17 Horn ZfStrVO 1991, 177 spricht für Hessen von einer Freiwilligenquote von etwa 94 %. 18 Dazu grundlegend BVerfGE 65, 1 ff (sog. "Volkszählungs"-Entscheidung). 12
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Aussagekraft, sondern auch auf die mit einem positiven oder negativen Ergebnis verbundenen Folgen eines Antikörpertests zu erstrecken hat. Die spätere Untersuchung einer zunächst für andere Zwecke vorgenommenen Blutprobe auf eine mögliche HIV-Infektion ist nach deutschem Recht zwar nicht strafbar l9 , wohl aber eine eindeutige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (im Sinne des erwähnten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung) und damit ebenfalls unzulässig2o • 3. Seit der grundlegenden Entscheidung des BVerfG vom 14. März 1972 (BVerfGE 33, 1 ff) ist anerkannt, daß Eingriffe in grundrechtliche Positionen auch von Gefangenen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen und nicht allein durch das "besondere Gewaltverhältnis" legitimiert sind. Demzufolge bedarf auch der HIV-Antikörpertest gegenüber einem Gefangenen, der damit nicht einverstanden ist, der gesetzlichen Grundlage. Eine solche existiert - um dies vorweg zu sagen - jedenfalls nach derzeitiger Gesetzeslage nicht: a) Nach § 56 Abs. 2 StVollzG hat der Gefangene zwar die "notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen", ist zur Duldung ärztlicher Behandlung oder diagnostischer Untersuchungen ausweislieh der abschließenden Regelung von § /01 Abs. I StVollzG jedoch "nur bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder - und darauf würde eine Duldungspflicht vorliegend hinauslaufen - bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen" verpflichtet21 . Einigkeit besteht zum andern dahin, daß § 101 Abs. 1 StVollzG eine konkrete Gefahr für die Gesundheit dieser Personen (gemeint: der Mitgefangenen ebenso wie der Anstaltsbediensteten, die durch den HIV-infizierten Insassen angesteckt werden könnten) voraussetzt, eine bloß abstrakte Gefahr insoweit aber nicht ausreicht. Demzufolge findet eine für alle Gefangene geltende zwangsweise Reihenuntersuchung - gleichgültig, ob bei Aufnahme in den Vollzug (§ 5 Abs. 3 StVollzG) oder in regelmäßigen Abständen oder unmittelbar vor der Entlassung durchgeführt - in § 101 StVollzG anerkanntermaßen keine gesetzliche Grundlage 22 • 19 Nebenbei: nach BT-Drucksache 11/2495, S. 87 erklärtermaßen auch nicht nach § 202a StGB (Ausspähen von Daten), weil hier nur computergestützte Informations- und Kommunikationsdaten angesprochen sind, die sich als Gegenstand/Mittel der Datenverarbeitung codieren lassen oder die das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs sind (dazu Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl., Rdn. 3 zu § 202a) . . 20 Siehe insofern vor allem die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft beim KG vom 25. 2. 1987 (NJW 1987, 1495); vgl. diesbezüglich auch Eberbach NJW 1987, 1470, Bruns MDR 1987,355 und Janker NJW 1987,2897. Gleiches gilt insoweit auch für eine einem Strafgefangenen entnommene Blutprobe (OLG Koblenz StV 1989, 163 f). 21 Ausweislich von § 178 StVollzG gelten die nachfolgenden Ausführungen auch fur den Vollzug der Untersuchungshaft und für den Jugendstrafvollzug. 22 Siehe dazu statt vieler: LG Bonn NStZ 1987, 140 f (mit zust. Anm. Eberbach aaO S. 142) und OLG Koblenz ZfStrVO 1989, 182 sowie Calliess/Müller-Dietz, StVollzG (5. Aufl. 1991) Rdn. 8 zu § 56, AK-Quensel, StGB (3. Aufl. 1990), Rdn. 31 vor § 56 und AK-Brühl Rdn. 28 zu § 101: je mit weiteren Nachweisen.
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Wann in diesen Fällen jedoch eine konkrete Infektionsgefahr besteht, wird nicht einheitlich beurteilt. Ohne weitere Anhaltspunkte nimmt die weitreichendste Ansicht23 dies bei allen Gefangenen an, die zu einer jener Riskogruppen gehören, wie sie im Merkblatt Nr. 43 des Bundesgesundheitsamtes 24 aufgeführt sind und zu denen besonders Homosexuelle mit wechselnden Intimpartnern, intravenös drogenabhängige Personen ("Heroin-Fixer") und heterosexuelle Intimpartner von Infizierten gehören; weil die HIV-Infizierung bei dieser Personengruppe prozentual deutlich höher sei als bei der übrigen Bevölkerung 25 , liege eine "Vertypung" der in § 101 StVollzG geforderten (konkreten) Gefahr VO?6. Nicht ganz so weit geht eine zweite Ansicht, die zusätzlich zur Zugehörigkeit zur jeweiligen Risikogruppe immerhin konkrete Anhaltspunkte fordert, die im Einzelfall für eine Gesundheitsgefährdung dritter Personen durch den betroffenen Gefangenen sprechen; dabei wird das Erfordernis hinreichend sicherer Anhaltspunkte für eine konkrete Drittgefährdung entweder auf vorhandene Krankheits- oder Infektionssymptome oder spezielle Gefahrdungssituationen in der Vergangenheit (z. B. spezifische Kontakte mit einem Virusträger)27 oder aber auf Umstände gestützt, die für ein künftiges Risikoverhalten dieses Gefangenen sprechen (z. B. Zusammentreffen von infizierten Homosexuellen mit entsprechend veranlagten oder besonders labilen Mitinsassen)28. Alle diese Vorschläge erscheinen mir wenig praktikabel, hängen sie in ihrer Zuverlässigkeit doch maßgeblich davon ab, ob der Betroffene zu entsprechenden Selbstauskünften bereit ist. Wenn dem aber so ist, sollte stattdessen besser sofort auf die Karte der ,,Freiwilligkeit" gesetzt werden. Ungeachtet dessen halte ich mit anderen im übrigen selbst diese vermittelnde Ansicht aus Gründen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es in § 96 StVollzG für die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Vollzug sogar spezialgesetzlich verankert ist, rechtlich kaum für tragfähig29 . Dabei will ich nicht so weit gehen, die Verhältnismäßigkeit des Zwangseingriffs etwa mit der Begründung verneinen zu wollen, angesichts möglicher Verteilung von Kondomen, der Ausgabe hinreichend sicherer chemischer Mittel zur Entseuchung von Spritzen oder gar der Aushändigung steriler Einweg-Spritzen gebe es mildere, d. h. den Betroffenen weniger belastende Mittel, um gleiche oder gar bessere Präventionserfolge erreichen zu können 3o . 23 So vor allem LG Bonn NStZ 1987, 140 (141); in dieser Richtung auch Eberbach NStZ 1987,142, Schenke DVBI 1988, 170 und Losehelder NJW 1987,1469. Dem entspricht die Erlaß-Regelung in Nordrhein-Westfalen und Bayern (zitiert nach GoebellGauweiler aaO Fn.13-). 24 Veröffentlicht in AIFO 1986, 163. 25 Dazu Maas, Gefährdung der Bevölkerung durch Aids, in: Schünemann/Pfeiffer, Rechtsprobleme von Aids (o.Fn. 2), S. 23 ff. 26 Eberbach NStZ 1987, 143. 27 In dieser Richtung etwa Dargel ZfStrVO 1988, 151. 28 In dieser Richtung Schlund AIFO 1986, 568 und Sigel ZfStrVO 1989, 159. 29 Ebenso Höflich ZfStrVO 1991,77 ff. 30 In dieser Richtung etwa AK-Brühl Rdn. 27 zu § 101 und Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (0. Fn. 2), S. 155.
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Denn ob diese Gegenmittel im Vollzug überhaupt zum Einsatz gebracht werden dürfen, ist heftig umstritten; darüber wird noch zu reden sein (unter IV.). Schon etwas nachdenklicher macht diesbezüglich jedoch der Einwand, der Zwangseingriff (hier: der gegen den Willen des Gefangenen durchgeführte HIV-Test) dürfe zu dem durch ihn zu erwartenden Schaden nicht erkennbar außer Verhältnis stehen; denn ein solches Mißverhältnis ist angesichts der unzulänglichen Aussagekraft negativer Testergebnisse einerseits und des durch ein positives Testergebnis hervorgerufenen ,,reaktiven Psychosyndroms" andererseits, das den Verlauf der AIDS-Infektion ungünstig beeinflussen kann und gerade im wenig therapiefreundlichen Umfeld des Strafvollzugs nicht geringgeschätzt werden darf, keineswegs völlig von der Hand zu weisen 31 . Damit aber ist der entscheidende Gesichtspunkt genannt. Angesichts der langen Latenzzeit, während der der Körper trotz bereits vorhandener Infizierung noch keine wahrnehmbaren/nachweisbaren Reaktionen zeigt ("diagnostisches Fenster"), gaukelt ein ggf. "negatives" Testergebnis eine in Wahrheit nur trügerische Sicherheit vor, kann es doch schon am Tag des Tests falsch sein oder alsbald falsch werden, wenn nämlich der Gefangene am Nachmittag oder Abend des gleichen Tages einer neuen Ansteckungssituation erliegt, deren es im Vollzug so viele gibt. Ist somit das beste Mittel gegen die Ansteckung mit AIDS auch im Strafvollzug eigenverantwortliches Handeln und individuelle Vorsicht jedes einzelnen, ist nur die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit das zur Prävention geeignete, ein ZwangsTest hingegen ein letztlich "ungeeignetes" und somit auch unverhältnismäßiges Mittel 32 . Demzufolge erscheint es rechtlich bedenklich, Gefangene, die sich einem "freiwilligen" Test verweigert haben, allein aus diesem Grund und ohne weitere konkrete Indizien wie HIV-"positiv" zu behandeln. b) Nach alledem scheidet auch § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) als Legitimation für die zwangsweise Durchführung von HIV-Tests aus. Ungeachtet dessen, ob diese Norm für den hier in Frage stehenden Grundrechtseingriff überhaupt anwendbar ist33 , sind auch seine tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt: So fehlt es bei Reihentests bereits am Vorliegen einer "gegenwärtigen Gefahr", geht es insoweit doch darum, mit Hilfe des Zwangseingriffs die Tatbestandsvoraussetzung der "Gefahr" überhaupt erst zu ermitteln 34 . Nichts anderes gilt im Ergebnis bezüglich möglicher
31 In dieser Richtung Böllinger aaO (0. Fn. 2) S. 156, AK-Brühl Rdn. 27 zu § 101 und Bruns StV 1987,506. 32 In der Soziologensprache der Enquete-Kommission (BT-Drucksache 1112495, S. 84 bzw. S. 95) liest sich dies wie folgt: "Der HIV-Antikörpertest als Mittel der Prävention kann nur in der dritten Ebene genutzt werden, also bei der Einzelbetreuung nach Risikoanamnese und individueller Präventionsberatung .... Menschen, die häufiger Risikosituationen durchleben und die es auch weiterhin tun werden, sollte nicht zum HIV-Antikörpertest geraten werden." 33 Dazu Dreher/Tröndle, StGB (46. Aufl.), Rdn. 24 und 24a und Schönke/Schröder/ Lenckner, StGB (24. Aufl.), Rdn. 7 -je zu § 34.
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Zwangstests gegenüber Angehörigen einer Risikogruppe; hier liegt weder eine "nicht anders abwendbare Gefahr" vor noch ist ein Zwangstest insoweit ein "angemessenes Mittel, die Gefahr abzuwenden" (§ 34 S. 2 StGB)35.
c) Zu fragen bleibt schließlich, ob seuchengesetzliche Spezialvorschriften außerhalb des Strafvollzuges als Eingriffsgrundlage für die zwangsweise Durchführung von HIV-Tests vorhanden sind. Auch dies ist (für das deutsche Recht) letztlich zu verneinen: (1) Das Geschlechtskrankenheitengesetz scheidet als Eingriffsermächtigung schon deshalb aus, weil es sich bei AIDS um keine der in § 1 abschließend aufgezählten Geschlechtskrankheiten handele6. (2) Nicht ganz so einfach liegt es hinsichtlich des Bundesseuchengesetzes. Zwar ist AIDS - da im Katalog des § 3 BSeuchG nicht genannt - nicht meldepflichtig; doch handelt es sich bei AIDS um eine "durch Krankheitserreger (nämlich: das HIV-Virus) verursachte Krankheit, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden kann" (§ 1 BSeuchG). Als Eingriffsgrundlage für die zwangsweise Durchführung von HIV-Tests scheint danach jedenfalls gegenüber ansteckungsverdächtigen Angehörigen von Risikogruppen § 32 Abs. 2 BSeuchG in Betracht zu kommen, wonach Personen unter den Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 (nämlich: durch Tatsachen belegter Verdacht der Ansteckungsgefahr) verpflichtet sind, bestimmte diagnostische Untersuchungen zu dulden, damit die nach §§ 34 ff BSeuchG erforderlichen Schutzmaßnahmen - etwa die Vornahme einer Venenpunktion zwecks Blutdiagnostik - durchgeführt werden können. Gleichwohl: Alles, was aus der Sicht des Übermaßverbotes gegenüber einem auf § 101 StVollzG gestützten Zwangstest gesagt wurde, gilt letztlich auch hinsichtlich diagnostischer Zwangseingriffe nach diesen für jedermann geltenden seuchenrechtlichen Vorschriften 37 . Im übrigen sind ausweislich von § 32 Abs. 2 BSeuchG nur die Beauftragten staatlicher Gesundheitsämter, nicht jedoch Justizvollzugsbedienstete zur Vornahme solcher Untersuchungen ermächtigt. Eine mögliche Delegierung dieser gesundheitsbehördlichen Befugnisse auf Bedienstete des Strafvollztuges, wie dies im Schrifttum gelegentlich befürwortet wird38 , verbietet sich, weil sonst die bewußt engeren tatbestandlichen Eingriffsvoraussetzungen des § 101 StVollzG in unstatthafter Weise umgangen würden 39 .
III. Zur ärztlichen Schweigepflicht im Strafvollzug
Der Frage nach der Zulässigkeit zwangsweiser HIV-Tests im Strafvollzug folgt verständlicherweise die weitere Frage, inwieweit der untersuchende Arzt anderen Vgl. Eberbach NStZ 1987, 142 und Dargel ZfStrVO 1988, 151. 35 Ebenso Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (o.Fn. 2), S. 157. 36 Dazu Schenke DVBl1988, 167 f. 37 Wie hier Bruns MDR 1987, 353 ff. 38 So vor allem von Pfeffer, Durchführung von HIV-Tests ohne Willen des Betroffenen (1989), S. 101 ff. 39 Im Ergebnis wie hier Eisenberg/Fischer JuS 1991,755. 34
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Personen - etwa der Anstaltsleitung, einzelnen Anstaltsbediensteten oder Mitgefangenen einerseits sowie außenstehenden Dritten (Besucher, Angehörige, Kontaktpersonen bei gelockerten Vollzugsformen) andererseits - ohne Einwilligung des betroffenen Gefangenen ein positives Testergebnis mitteilen darf. Die Rechtslage ist diesbezüglich schon im Grundsätzlichen unsicher, und uneinheitlich ist demzufolge auch die Praxis deutscher Justizvollzugsanstalten. In einigen Bundesländern sind die Anstaltsärzte Gedenfalls bei HIV-Befund eines Gefangenen) sogar zur Information des Anstaltsleiters verpflichtet40 , während ihnen in anderen Bundesländern lediglich ein entsprechendes Ermessen eingeräumt ist41 . 1. Wie in diesem Kreis allseits bekannt sein dürfte, darf der behandelnde Arzt Informationen, die ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden sind, gegenüber Dritten nicht offenbaren. Der schon im Hippokratischen Eid verankerte, standesrechtlich seit langem abgesicherte und nach deutschem Recht in § 203 Abs. I Nr. 1 StGB im übrigen sogar strafbewehrte Schutz des ärztlichen Geheimnisses ist Ausdruck des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten, wie es zur erfolgreichen Behandlung des einzelnen Patienten unerläßlich und von hier aus auch für die Gesellschaft insgesamt - diese begriffen als Vielheit vieler möglicher Patienten - letztlich unverzichtbar ist. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe42 , steht heute außer Streit, daß die Anwendung von § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht auf die Fälle frei gewählter Arzt-Patienten-Verhältnisse beschränkt ist43 . Nachdem der Bundesgerichtshof dies im Jahre 1963 für den Amtsarzt entschieden hat44 , wird dies heute auch für den beamteten/angestellten Arzt im Strafvollzug allenthalben anerkannt45 . Literarische Bemühungen, dieses strikte Gebot wegen der behördlich-hierarchischen Struktur der Institution "Strafvollzug" mittels teleologischer Reduzierung des Tatbestandes jedenfalls im Innenverhältnis, d. h. gegenüber der Anstaltsleitung und ggf. sogar gegenüber anderen Vollzugsbediensteten zu durchbrechen und demzufolge anstaltsinteme Weitergaben ärztlicher Geheimnisse nicht in den tatbestandlichen Anwendungsbereich des § 203 Abs. 1 StGB zu ziehen, dürfen als gescheitert angesehen werden46 . Der Anstaltsleiter ist eben nicht 40 So etwa in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Harnburg: zitiert nach GoebellGauweiler aaO (o.Fn. 13). In Hessen wird der Anstaltsleiter mündlich informiert, der dann jedoch seinerseits - offenbar in recht großem Umfang - jene Personen mündlich zu informieren hat, die mit dem Betroffenen unmittelbar in Kontakt kommen (nach Horn ZfStrVO 1991,178). 41 So etwa in Niedersachsen und im Saarland. 42 Vgl. Geppert, Die ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug (1983). 43 Dazu statt vieler: Dreher/Tröndle Rdn. 8 und Schönke/Schröder/Lenckner Rdn. 15 -je zu § 203 StGB. 44 BGHZ 40,288 (293). 45 So erst jüngst OLG Karlsruhe MDR 1993, 998. Siehe insofern ferner Geppert, Ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug (1983), S. 10 ff, Arloth, Arztgeheimnis und Auskunftspflicht bei Aids im Strafvollzug, MedR 1986,295 ff und Dargei, Die rechtliche Zulässigkeit der Bekanntgabe von HTLV III-Infektionen oder AIDS-Erkrankungen der Gefangenen durch die Vollzugsbehörde, ZfStrVO 1987, 156 ff; vgl. ferner Simitis AIFO 1986,213, Schlund AIFO 1987,401 ffund Eberbach AIFO 1987,281 (288 ff).
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"berufsmäßig tätiger Gehilfe" des Anstaltsarztes, der seinem angeblichen Erfüllungsgehilfen demgemäß auch nicht nach Absatz 3 dieser Norm in nicht stratbewehrter Weise ärztliche Geheimnisse anvertrauen darI'7, sondern umgekehrt. Ebensowenig darf aus dem Umstand, daß der Anstaltsarzt zugleich Amtsträger i.S. von § 203 Abs. 2 StGB ist, gefolgert werden, daß § 203 Abs. 1 StGB (also: die Verletzung ärztlicher Geheimnisse) subsidiär zurücktritt und nur die Verletzung von Amts- oder Arztgeheimnissen nach außen stratbewehrt bleibt48 .
2. Freilich stellt § 203 Abs. 1 StGB nur die "unbefugte" Offenbarung fremder Geheimnisse unter Strafe. Folglich gilt es - versteht sich: über die ausdrücklich oder konkludent erklärte Einwilligung des Patienten/Gefangenen hinaus - nach Rechtfertigungsgründen zu suchen, kraft derer die ärztliche Schweigepflicht im Vollzug ausnahmsweise durchbrochen werden darf: a) Spezialgesetzliche Ermächtigungen zur Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht sind weder im StVollzG noch in anderen Gesetzen zu finden. Für AIDS/HIV-Infektionen fehlt nämlich eine Meldepflicht, wie sie für andere übertragbare Krankheiten in §§ 12 und 13 des (deutschen) Geschlechtskrankheitengesetzes oder in § 3 des (deutschen) Bundesseuchengesetzes ausdrücklich vorgesehen ist49 . b) Auch beamten- oderdienstrechtliche Gehorsamspflichten geben dem Anstaltsarzt keine generelle Befugnis, der vorgesetzten Anstaltsleitung auf Weisung positive Testergebnisse mitzuteilen. Eine solche Dienstpflicht entfällt nämlich überall dort, wo die Befolgung ihrerseits einen Straftatbestand erfüllen würde50.
c) Der Streit geht heute im wesentlichen nur noch um die Frage, ob die Preisgabe ärztlicher Berufsgeheimnisse nur nach den Regeln des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) erlaubt ist, dessen Voraussetzungen vom Gesetz freilich erkennbar eng gesteckt sind, oder aber nach Maßgabe der weniger strengen Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB). Ersterenfalls muß es sich um eine "gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr" für Leib und Leben eines anderen handeln, das schutzwürdige Interesse das beeinträchtigte "wesentlich" überwiegen und die Tat insgesamt das "angemessene Mittel" zur Gefahrabwehr sein. Der Anstaltsarzt wird demzufolge nach dem Prinzip des geringstmöglichen Mittels in jedem einzelnen Fall zu prüfen haben, ob er nur die Anstaltsleitung51 oder auch andere Personen informieren darf52• Einzelne Stimmen im Schrifttum sehen das 46 Dazu ausführlich Geppert, Ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug, S. 20 ff. Weiterführend neuerdings Sibylle Wuerthwein, Innerorganisatorische Schweigepflicht im Rahmen des § 203 StGB, Diss. jur. Tübingen 1992. 47 So aber Middelhauve Med. Klinik 1977,776 (für den Bereich öffentlicher Gesundheitseinrichtungen) und Kleinewefers-Wilts NJW 1964,430; dagegen Geppert, Ärztliche Schweigepflicht, S. 20 ff. 48 In dieser Richtung Kierski Med. Klinik 1977, 773 f. Dagegen Geppert, Ärztliche Schweigepflicht, S. 20 ff und Arloth MedR 1986, 297; ebenso Lackner, StGB (20. Aufl.) Rdn. 20 und Schönke/Schröder/Lenckner Rdn. 45 -je zu § 203. 49 Dazu Dargel ZfStrVO 1987, 157. so Siehe dazu § 38 Abs. 2 S. 2 BRRG oder § 8 Abs. 2 S. 3 BAT. 51 So etwa Dargel ZfStrVO 1986, 159 und Arloth MedR 1986,298.
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Verhältnismäßigkeitserfordernis insoweit nur dann als gewahrt an, wenn der Anstaltsarzt vor einer Durchbrechung der Schweigepflicht zunächst an die Vernunft des infizierten Gefangenen appelliert; nur wenn sich dabei auf Grund hinreichend bestimmter Tatsachen herausstelle, daß sonstige Schutzmaßnahmen (Ausgabe von Kondomen u.ä.) zur Gefahrenabwehr nicht genügen, sei die Preisgabe eines positiven Testbefundes rechtens 53 . Kurz: Wer eine Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht nur in den Grenzen des § 34 StGB zu gestatten bereit ist, wird den Anstaltsarzt vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips kaum davon befreien können, in jeweils sorgfaltiger Einzelfallprüfung die von einem infizierten Gefangenen ausgehenden konkreten Ansteckungsrisiken individuell zu beurteilen und darauf abzustellen, ob dieser Gefangene sich wohl "unvernünftig" verhalten wird oder nicht54 . Damit sind natürlich viele Risiken möglicher Fehleinschätzung verbunden, um von der Schwierigkeit, ein "wesentliches" Überwiegen des zu schützenden gegenüber dem beeinträchtigten Interesse festzustellen, ganz zu schweigen. Um dem im Vollzugsalltag zu entgehen und nicht zuletzt, um den Arzt von einer Verantwortung zu befreien, die zu tragen an sich nicht in den Kreis ärztlicher Aufgaben fallt, habe ich an anderer Stelle - wenngleich damals allgemein für den Vollzug und nicht speziell für die AIDS-Problematik - dargelegt, daß die ärztliche Schweigepflicht jedenfalls vollzugsintern nach Maßgabe der weniger strengen Voraussetzungen der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) durchbrochen werden kann 55 . Andere Autoren 56 und neuerdings auch das OLG Karlsruhe 57 scheinen mir folgen zu wollen. Ist man somit bereit, den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) über die Beleidigungsdelikte hinaus auf Tatbestände mit besonders "gemeinschaftsbezogenen" Rechtsgütern und damit auch auf Indiskretionsdelikte wie § 203 StGB zu erweitern, kann als "berechtigt" in diesem Sinn auch das Informationsbedürfnis der Anstaltsleitung anerkannt werden. In diesem Zusarnrnenhang ist ein weiteres zu beachten: Der Staat schuldet dem Gefangenen die medizinische Versorgung, für die der Patient in Freiheit selbst verantwortlich ist; im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung (§ 156 Abs. 2 StVollzG) obliegt diese Fürsorge dem Anstaltsleiter, der diese Verantwortung grundsätzlich nicht auf 52 Hinsichtlich der Anstaltsbediensteten gehen die Ansichten auseinander: Nach einer Meinung dürfen alle Personen unterrichtet werden, die Kontakt zu dem infizierten Gefangenen haben (Dargel ZfStrVO 1986, 159); nach anderer Ansicht haben ein schutzwürdiges Informationsinteresse nur diejenigen Personen, die Tätigkeiten mit einem erhöhten Infektionsrisiko ausüben (Simitis AIFO 1986,213). 53 In dieser Richtung etwa Bruns StV 1987,506 und MDR 1987, 357 sowie AK/StVollzGQuensel Rdn. 32 vor § 56. 54 In dieser Richtung offenbar auch Eisenberg/Fischer JuS 1991,756. 55 Geppert, Ärztliche Schweigepflicht (Fn. 42), S. 26 ff. 56 So etwa Arloth MedR 1986,298, Eberbach NStZ 1987, 142, Schlund AIFO 1987,406, Sigel ZfStrVO 1989, 162 sowie neuerdings auch Lackner aaO Rdn. 20 zu § 203. 57 MDR 1993,998.
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Ärzte übertragen, wohl aber sie durch diese in fachkundiger Weise wahrnehmen lassen kann (§ 158 Abs. 1 StVollzG). Daraus folgt ein Doppeltes: (1) Wo Grundlage ärztlicher Tätigkeit eine gesetzliche Pflicht für den Gefangenen ist, die ärztliche Behandlung/Untersuchung zu dulden, ist im Innenverhältnis damit auch die Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht verbunden. Es wäre sinnwidrig, die auf Grund gesetzlicher Duldungspflichten gewonnenen Informationen gerade denjenigen Dienststellen vorzuenthalten, die diese ärztliche Tätigkeit zwecks Kenntniserlangung anordnen durften. Da nun aber § /01 ebenso wie im übrigen § 5 Abs. 3 StVollzG (Aufnahmeuntersuchung) als Ermächtigungsgrundlagen für die zwangsweise Durchsetzung eines HIV-Tests gerade nicht in Betracht kommen, kann hinsichtlich positiver Testbefunde daraus auch keine Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht hergeleitet werden.
(2) Mit Hilfe der Wahrnehmung berechtigter Interessen kann eine Befugnis des Anstaltsarztes, ärztliche Geheimnisse gegenüber der Anstaltsleitung (und nur dieser gegenüber!) preiszugeben, demzufolge nur dann bejaht werden, soweit der betreffende ärztliche Befund "in die Vollzugsgemeinschajt hineinwirkt"s8. Das ist verständlicherweise insbesondere dort der Fall, wo durch die Erkrankung des einzelnen Gefangenen andere Personen in Mitleidenschaft gezogen werden oder wo es um die Arbeitsfähigkeit des erkrankten Gefangenen gehtS9 . 3. Von solchen Überlegungen aus ergibt sich für die Preisgabe speziell eines positiven HIV-Befundes a) bezüglich des Anstaltsarztes, um mit diesem zu beginnen, folgendes 6o : Ich vermag mich diesbezüglich nicht jenen Stimmen im Schrifttum anzuschließen, die den Anstaltsarzt auch gegenüber der Anstaltsleitung zur Weitergabe eines ent-anonymisierten HIV-Befundes nur unter Beobachtung der strengen Voraussetzungen rechtfertigenden Notstandes für befugt ansehen 61 . Die "Befugnis" des Anstaltsarztes zur Durchbrechung der ärztlichen Verschwiegenheit folgt hier aus dem "berechtigten" Informationsinteresse der Anstaltsleitung, das diese aus ihrer GesamtGeppert, Ärztliche Schweigepflicht, S. 35. Insoweit deutliche Parallele zum Truppenarzt: Zu dessen ärztlichem Berufsgeheimnis hat der Bundesdisziplinarhof ausgeführt, daß "das ärztliche Berufsgeheimnis ... seine Grenze dort (findet), wo die Erhaltung der Dienstfähigkeit - sei es der behandelten Soldaten, sei es eines Kameraden - unmittelbar in Frage gestellt wird. Hier bedingt die dienstliche Funktion des Truppenarztes eine Offenbarungspflicht, die auch der behandelte Soldat aufgrund seiner Dienstpflicht als Eingriff in seinen Persönlichkeitsbereich hinzunehmen hat" (NJW 1963, 409). 60 Siehe dazu ausführlich, obgleich teilweise mit zu weitreichenden Schlußfolgerungen auch Dargei, -Die rechtliche Zulässigkeit der Bekanntgabe von HTLV III-Infektionen oder AIDS-Erkrankungen der Gefangenen durch die Vollzugsbehörde, ZfStrVO 1987, 156 ff. 61 So aber Bruns MDR 1987, 356 (nur, soweit "die Patienten uneinsichtig sind und die Ärzte befürchten müssen, daß sie andere anstecken") und Simitis AIFO 1986, 213. In diese Richtung geht offenbar auch die Forderung des Strafverteidigertages vom 22. bis 24. 4. 1988 in Heidelberg (nach StV 1988,275). 58 59
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verantwortung herleiten kann, die bekanntlich auch den ärztlichen Bereich erfaßt und demzufolge auch die Fürsorgepflicht anderen Personen gegenüber miteinschließt. Soweit die ärztliche Preisgabe des HIV-Befundes nach Maßgabe der Wahrnehmung berechtigter Interessen somit rechtens ist, wird die bloße Mitteilungs"befugnis" des Arztes bei entsprechender Weisung des Anstaltsleiters über die dienst- oder beamtenrechtliche Gehorsamspflicht zur Infonnations"pflicht". Somit ist Nr. 2 der Vollzugsvorschriften (zu § 56 StVollzG), wonach der Anstaltsarzt wie ,jeder Bedienstete, der eine Gefahr für die gesundheitlichen Verhältnisse zu erkennen glaubt, verpflichtet (ist), dieses unverzüglich zu melden", rechtlich nicht zu beanstanden. Freilich darf der Anstaltsarzt seine Kenntnisse insoweit nur an die Anstaltsleitung, nicht hingegen an sonstige Personen weitergeben; letzterenfalls bleibt es bei den strengen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes 62 . Es dürfte nur selten vorkommen, daß der behandelnde Arzt alleinverantwortlich und ohne Benehmen mit der (an sich zuständigen) Anstaltsleitung dritte Personen - besonders Mitgefangene oder andere Vollzugsbedienstete - über die AIDS-Infektion eines Gefangenen zu informieren gezwungen ist. b) Es ist dann Sache des Anstaltsleiters und liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen, den ihm zur Amtsverschwiegenheit (§ 203 Abs. 2 StGB) anvertrauten ärztlichen Befund nach Maßgabe der Erforderlichkeit - und möglichst im vertrauensvollen Benehmen mit dem Anstaltsarzt - gefährdeten Dritten mitzuteilen. Pauschalierende Reglementierungen sind möglichst zu venneiden; geboten ist sorgfältige Einzelfallprüfung unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. So geht es natürlich nicht an, alle Anstaltsbediensteten oder auch nur diejenigen über die HIV-Infektion eines Gefangenen zu unterrichten, die mit dessen Versorgung und Betreuung befaßt sind63 ; ein berechtigtes Aufklärungsinteresse hat selbstverständlich nur das Personal, das mit dem infizierten Patienten in anstekkungsgefährlicher Umgebung (z. B. Sanitäts-, Hygiene- oder Sportbereich) oder mit einem als besonders gewalttätig bekannten Gefangenen in unmittelbaren körperlichen Kontakt kommen kann64 • Vor Überreaktionen aus unangebrachter ÜberFürsorglichkeit ist zu warnen. Entschließt sich ein Anstaltsleiter jedoch, einen infizierten Gefangenen von vornherein nicht in verletzungsgefährlichen Arbeitsbereichen (Schreinerei u.ä.) oder im Hygiene-, Sanitäts- oder Lebensmittelbereich einzusetzen, vennag ich darin aber auch nicht unbedingt eine Diskriminierung zu sehen. Der Heidelberger Strafverteidigertag vom April 1988, der auch für infizierte Gefangene "gleichen Zugang für alle Arbeitsbereiche" fordert 65 , schießt wohl über Ebenso mit Nachdruck Eberbach AIFO 1987,290 und Dargel ZfStrVO 1987, 159. So aber der Erlaß des Hessischen lustizministers vom 8.80. 1985-4550-IV/5-1533/84 (zitiert nach Simitis AIFO 1986, 213), der auf Grund nachhaltiger Kritik aus vielen Richtungen durch Erlaß vom 5.120.1985-4450 SH 1-IV/5-1655/85 (zitiert nach Wellbrock StV 1987509) aber alsbald wieder korrigiert wurde. 64 Das ist inzwischen weithin ,,herrschende Meinung": vgl. Dargel ZfStrVO 1987, 160,Eberbach AIFO 1987, 290, Schlund AIFO 1986, 568 und Simitis AIFO 1986, 213; sicherlich zu weitgehend Sudhaus Vollzugsdienst 1987/Heft 3, S. 1 ff. 62
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das Ziel hinaus. Andererseits geht es jedoch eindeutig zu weit, etwa bei Transport eines infizierten Gefangenen - wie dies in einigen Bundesländern auf Grund ministerieller Vorgaben ganz offen praktiziert wird66 - selbst ohne besonderen Anlaß das Begleitpersonal über den Zustand des Gefangenen zu unterrichten oder die Begleitpapiere gar mit dem allen Augen offenen Vermerk "Achtung: Blutkontakte vermeiden!" zu versehen67 • Solche Vorsicht ist gegenüber jedem Gefangenen angebracht, Diskriminierungen dieser Art demzufolge unnötig und damit nicht rechtens. c) Umstritten ist die Frage, inwieweit die Anstaltsleitung die Mitgefangenen über den Zustand eines HIV-infizierten Gefangenen unterrichten darf. Wahrend man eine solche Aufklärung jedenfalls ,,in der Regel" überwiegend ablehnt68 , scheinen einige Justizverwaltungen den Kreis der aufklärungsberechtigten Mitgefangenen relativ weit ziehen zu wollen; denn nur wenn die Ansteckungsgefahr des Betroffenen bekannt (sei), könnten die Gesunden ihr Verhalten darauf einrichten, mit dem Infizierten in einer Weise umzugehen, daß sie sich nicht anstecken 69 . Dem kann jedoch nicht deutlich genug widersprochen werden, ist doch gerade das Gegenteil richtig. Eben weil ein Gefangener, der gestern noch "negativ" war, heute schon infiziert sein kann, plädiere ich - von insgesamt wohl eher seltenen Ausnahmen rechtfertigenden Notstandes einmal abgesehen (z. B. bei tatsächlich belegtem Verdacht homosexueller Vergewaltigung) - mit Nachdruck gegen eine diesbezügliche Unterrichtung der Gefangenen selbst dort, wo es sich um Zellennachbam, Angehörige der gleichen Wohngruppe oder Arbeitsnachbam handelt7o . Exkurs: In unseren Medien ist gelegentlich zu hören oder zu lesen, in deutschen Gefängnissen müßten HIV-infizierte Gefangene ihre Zeit "in Einzelhaft" verbringen und/oder würden während der Arbeit oder der Freizeit von anderen Gefangenen abgesondert71 . Dazu zur Klarstellung: (1) Die Einzel-Unterbringung während der nächtlichen Ruhezeit ist nach § 18 Abs. 1 S. 1 StVollzG die Regel, von der nach § 201 Nr. 3 an sich nur bei räumlichen Engpässen abgewichen werden darf. Für den Fall, daß ein HIV-infizierter Gefangener seinem psychischen ZuNach StV 1987,275. So etwa in Nordrhein-Westafeln (Rundschreiben vom 24.110.1986-4551-IV B.23), in Hamburg (Schreiben vom 17. 20. 1986-455113-4) und in Hessen (zitiert nach Horn ZfStrVO 1991,178). 67 Vorbildlich insoweit die ministeriellen Anweisungen in Niedersachsen (12. 30. 19874550 I -405.93) und im Saarland (11. 10. 1988-4551-9), wo ein solcher Vermerk ausdrücklich untersagt wird. 68 Vgl. Schlund AIFO 1986,568. 69 Dargel ZfStrVO 1987, 159. 70 Wie hier Sigel ZfStrVO 1988, 158. Bedenklich die Regelung in Bayern (Rundschreiben des Bayr. Staatsministers der Justiz vom 3. 4. 1987), wonach jedenfalls "in der Regel... die Mitgefangenen in dem Gemeinschaftsraum von der Infektion zu unterrichten" sind. Ich befürworte stattdessen die Umkehrung dieses Prinzips: In der Regel keine Unterrichtung der anderen Mitgefangenen! 71 Näher dazu Eberbach, Aids im Strafvollzug (0. Fn. 2), S. 263 ff. 65
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stand nach das Gefühl vennittelt bekommen muß, in der Nacht nicht allein(gelassen) zu sein, gestattet § 18 Abs. 1 S. 2 StVollzG (ausnahmsweise) auch eine gemeinsame nächtliche Unterbringung. Nun reicht meine Phantasie durchaus aus, mir vorzustellen, daß Gemeinschaftszellen im Einzelfall auch ansteckungsgefährliche Sexualkontakte ermöglichen und gelegentlich auch zu einer Vergewaltigung führen können, so daß die Anstaltsleitungen geneigt sein könnten, zur Verhinderung solcher Risiken nächtliche Einzelunterbringung anzuordnen72 . Rechtlich unzulässig ist dies selbstverständlich nicht, auch wenn man den Einsatz dieses prophylaktischen Mittels nur dort empfehlen wird, wo die Anordnung nächtlicher Einzelunterbringung nicht als diskriminierende Ausnahme ansonsten anstaltsüblicher Gemeinschaftsunterbringung erscheinen muß. Im übrigen einmal mehr: Der Appell an die Selbstverantwortlichkeit der gefährdeten Sexualpartner dürfte auch hier wirksamer sein als jeder Einsatz von Zwang, der solchermaßen unerwünschte Sexualkontakte auch im Vollzug ohnehin nie ganz verhindern kann. (2) Während der Arbeit und in der Freizeit sind die Gefangenen in aller Regel gemeinsam untergebracht (§ 17 StVollzG). Eine Einschränkung ist hier nur zulässig, soweit "es die Sicherheit oder Ordnung in der Anstalt erfordert" (§ 17 Abs. 3 Nr. 3 StVollzG). Generelle Einschränkungen gegenüber HIV-infizierten Gefangenen sind dadurch wohl nicht gedeckt, zumal - wie sich inzwischen herumgesprochen haben dürfte - alltägliche Kontakte und Berührungen auch im Vollzug nicht ansteckungsgefährdend sind. Besondere Isolierungsmaßnahmen hingegen sind nur bei hinreichend konkretisiertem Ansteckungsverdacht erlaubt. Ungeachtet dessen ist es natürlich zulässig, einen infizierten Gefangenen nach sorgfältiger Einzelfallprüfung etwa in bestimmten Arbeitsbereichen (z. B. Hygiene- oder Lebensmittelbereich; gefährliche Werkstätten) nicht einzusetzen oder von bestimmten Freizeitbeschäftigungen (z. B. Sport mit intensiven Körperkontakten) femzuhalten.
(3) Eine völlige Isolierung ist ohnehin nur nach den strengen Regeln der §§ 88 Abs. 2 Nr. 3 (Absonderung von anderen Gefangenen als "besondere Sicherungsmaßnahme"), 89 Abs. 1 ("Einzelhaft", d. h. unausgesetzte Absonderung von anderen Gefangenen 73 ) oder 103 Abs. 1 Nr. 5 StVollzG ("getrennte Unterbringung während der Freizeit bis zu vier Wochen" als Disziplinarmaßnahme gegen schuldhafte Nichtbefolgung rechtmäßiger Anordnungen) gestattet. Die bei den erstgenannten Maßnahmen sind als ultima ratio nur zulässig, wenn es für den betreffenden Gefangenen tatsächliche Anhaltspunkte für die - in bestimmten Medien immer wieder beschworene, im Vollzug nach allen unseren Erfahrungen aber so gut wie nie vorkommende - "Desperado-Mentalität" gibt, gemeint: daß ein infizierter Gefangener seinen Zustand bewußt zu Angriffen gegen Mitgefangene, Anstaltsbedienstete oder Dritte einzusetzen bereit ise4 .
d) Zu noch größerer Zurückhaltung möchte ich der Anstaltsleitung raten, soweit es um die Aufklärung außenstehender Dritter (Familienangehörige oder andere Besucher, Kontaktpersonen bei Vollzugslockerungen, externe Arbeitgeber bei Freigang u.ä.) geht. Die Parallele zur Situation in der Freiheit ist hier augenfällig, so daß Angehörige auch hier allenfalls nach den strengen Regeln rechtfertigenden Siehe dazu Dargel NStZ 1989, 209. In der Regel auf drei Monate befristet und als besondere Sicherungsmaßnahme nur zulässig, sofern "aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, unerläßlich". 74 Dazu auch Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (0. Fn. 2), S. 157 und Bruns StV 1987,504. 72
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Notstandes aufklärungsberechtigt sind. Den Einsatz eines infizierten Gefangenen im Freigang schließlich davon abhängig machen zu wollen, daß dieser sich zuvor "freiwillig" mit der Preisgabe seiner Erkrankung an den externen Arbeitgeber einverstanden erklärt, halte ich nicht für rechtens 75; es ist allein Sache des externen Arbeitgebers, sich ggf. selbst nach einer möglichen HIV-Infizierung des bei ihm zu beschäftigenden Gefangenen zu erkundigen76 . e) Eine Befugnis oder gar Pflicht der Anstaltsleitung, die HIV-Infizierung eines Gefangenen namentlich - aus epidemiologischen Gründen selbstverständlich zulässig: in anonymer Form! - an die jeweilige Aufsichtsbehörde weiterzugeben77 , halte ich nicht für gegeben78. 4. Soweit es um namentliche Kennzeichnung HIV-infizierter oder bereits aidserkrankter Gefangener im Schriftverkehr überhaupt oder bei Führung der Gesundheits- und der allgemeinen Personalakte des jeweiligen Gefangenen im speziellen geht79 , muß schließlich größere Rücksichtnahme auf datenschutzrechtliche Aspekte angemahnt werden. Die Rechtslage ist insoweit unklar, die diesbezüglichen Usancen deutscher Vollzugspraxis mehr als uneinheitlich und weithin unbefriedigend. Zwar handelt es sich bei den Eintragungen in der Personalakte des Gefangenen, für die allein der Anstaltsleiter verantwortlich ist, ebenso wie bei den Vermerken in der jeweiligen Krankenakte um "personenbezogene Daten" mit persönlichkeitsrechtlichem Einschlag i. S. des Bundesdatenschutzgesetzes (§ lAbs. 1 BDSG); da beide Arten von Akten jedoch nur Eintragungen interner Art enthalten und "nicht zur Übermittlung an Dritte bestimmt" sind, finden die Vorschriften des BDSG ausweislich seines § 1 Abs. 3 Nr. 2 nur partiell Anwendung. Anzuwenden sind jedoch die §§ 5 (Schutz des Datengeheimnisses), 9 (technisch-organisatorische Gewährleistung des Datenschutzes) und 39 BDSG (Zweckbindung bei personenbezogenen Daten, die einem Berufs- oder Amtsgeheimnis unterliegen), so daß von hier aus folgende datenschutzrechtliche Schlußfolgerungen möglich sind: a) Selbstverständlich gehört das Ergebnis eines HIV-Tests in die Krankenakte des betreffenden Gefangenen 8o • Die Führung dieser Akte obliegt allein dem AnWie hier Dargel ZfStrVO 1987, 161. Gegen eine solche Aufklärungspflicht zu Recht auch Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer aaO (o.Fn. 2) S. 238. 77 So aber Schlund AIFO 1987,406 und Arloth MedR 1986,299.' 78 Vorbildlich auch insofern die ministerielle Anweisung in Bremen (15. 10. 1986-4550/ 10): nur "anonymisierte" Mitteilung an die Aufsichtsbehörde. 79 Weiterführend dazu Wellbrock StV 1987, 507 ff und Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (o.Fn. 2), S. 165 f; vgl. auch Simitis AIFO 1987,210 (213 ff). 80 Zum Einsichtsrecht des Strafgefangenen in die anstaltsärztlichen Krankenunterlagen s. neben dem gleichlautenden Beitrag von Geppert in der Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (1984), S. 151 ff vor allem OLG Frankfurt NStZ 1989,198, OLG Celle NStZ 1986,284 (mit Anm. Müller-Dietz) und OLG Ramm NStZ 1986,47. Zur Vorlage von Gesundheitsakten im Verfahren nach dem StVollzG siehe neuerdings OLG Ramm JR 1993,476 (mit krit. Anm. Müller-Dietz S. 476 f). 75
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staltsarzt, was nicht nur aus Nr. 60 der Vollzugsgeschäftsordnung (VGO), sondern auch aus der Pflicht eines jeden Arztes zu ausreichender Dokumentation seiner Behandlung folgt 81 . Wenn der Inhalt der Krankenunterlagen - wie ausgeführt - auch behördenintern prinzipieller ärztlicher Schweigepflicht unterliegt, ist die Gesundheitsakte allein schon aus Gründen des Datenschutzes getrennt von der Gefangenenpersonalakte zu führen. Es ist daher nicht korrekt, wenn die Krankenakte teilweise als Teil der Personalakte verstanden und demzufolge von der Geschäftsstelle der jeweiligen Vollzugsanstalt geführt wird 82 . Weil die ärztliche Schweigepflicht jedenfalls im Prinzip auch gegenüber der Anstaltsleitung gilt, hat diese folgerichtig auch kein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht in die Krankenunterlagen eines Gefangenen. Noch bedenklicher ist es, wenn das Testergebnis ausdrücklich (auch) in der Personalakte vermerkt wird83 . Im übrigen ist es Sache des Arztes, die Krankenunterlagen gegen unbefugte Einsichtnahme zu schützen und der Anstaltsleitung nur insoweit EiQblick oder Kenntnis zu geben, wie er ihr gegenüber zur Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht befugt und verpflichtet ist. b) Die Anstaltsleitung ihrerseits darf die datenschutzrechtlich heiklen Mitteilungen nicht zum allgemein zugänglichen Bestandteil der - auch für viele unberufene Augen offenen - Gefangenenpersonalakte machen 84 und hat organisatorisch dafür zu sorgen, daß nur diejenigen Anstaltsbediensteten Kenntnis von der HIV-Infizierung eines Gefangenen erlangen können, die zulässigerweise darüber hätten unterrichtet werden dürfen. Ein Blick in unsere Gefängnisse vermittelt gelegentlich den Eindruck, daß es diesbezüglich recht sorglos zugeht. Nochmals: Man denke nur an jenen stigmatisierenden und weithin überflüssigen Hinweis auf den Transportpapieren "Vorsicht: Blutkontakte vermeiden!,,85, von dem schon die Rede war, und an die Gedankenlosigkeit, solche Transportpapiere wie selbstverständlich zur Personalakte des Gefangenen zu nehmen, die im Vollzugsalltag natürlich auch in unbefugte Hände gelangen kann 86 . 81 Insofern ist es datenschutzrechtlich nur konsequent, den Vermerk einer rechtswidrig erlangten medizinischen Information (hier: einer HIV-Blutuntersuchung ohne Zustimmung des Betroffenen) aus der Gesundheitsakte des Gefangenen zu löschen (OLG Koblenz StV 1989, 163). 82 Vgl. Nm. 58 f VGO. In dieser Richtung offenbar OLG München ZfStrVO 1980, 124 und OLG Celle NStZ 1986, 284 sowie Volckart StV 1984,385. Wie hier jedoch Müller-Dietz IR 1993,480; differenzierend Quensel in AK-StVollzG (3. Aufl.), Rdn. 5 vor § 56. 83 So etwa in Nordrhein-Westfalen (vgl. Runderlaß des Iustizministers vorn 24. 11. 1987Az. 4551-IV B.23). 84 Vorbildlich die ministerielle Anweisung in Bremen (Dienstanweisung vorn 15. 1. 1986 - Az. 4550110): "Der positive Befund ist nur in der Krankenakte und nicht in der Gefangenen-Personalakte zu notieren." 85 In Nordrhein-Westfalen (Nachweis in Fn. 87) und Harnburg (Erlaß der Iustizbehörde vorn 17. 2. 1986 - Az. 455113-4) leider noch immer üblich, in Niedersachsen (Erlaß vorn 12.3. 1987 - Az. 4550 I - 405.93) und im Saarland (Verfügung vorn 11. 1. 1988 - Az. 45519) ministeriell hingegen zu Recht untersagt. 86 Wie es offenbar nach wie vor in Hessen und Nordrhein-Westfalen der Fall zu sein scheint (zitiert nach Horn ZfStrVO 1991, 178).
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IV. Zur Aids-Prophylaxe im Strafvollzug
1. Niemand wird bezweifeln wollen, daß der wirksamste Schutz gegen AIDS darin besteht, möglichst viele Menschen über die Tücken der Krankheit und ihre Übertragungswege aufzuklären und mögliche Opfer kontinuierlich darin zu unterstützen, sich auf Dauer gegen eine Übertragung zu schützens7 . Aufklärung und Beratung sind und bleiben demnach das Gebot der Stunde, soweit es um AIDS-Prophylaxe geht; im Vollzug gilt insoweit nichts anderes als in der übrigen Gesellschaft. Zu Recht weisen denn auch alle deutschen Justizverwaltungen mit entsprechenden Dienstanweisungen auf die Notwendigkeit hin, alle Gefangenen, Bediensteten und sonstigen Mitarbeiter/Besucher in geeigneter Weise - und zwar möglichst unter Beteiligung des Anstaltsarztes und ggf. unter Hinzuziehung kompetenter Personen außerhalb des Vollzugs (Gesundheitsämter, Selbsthilfegruppen) - über AIDS zu unterrichten. Die Verantwortlichen haben dabei Sorge dafür zu tragen, daß sich diese Aufklärungsbemühungen nicht in der Übergabe von Merkblättern erschöpfen, die vom Leser entweder überhaupt nicht verstanden oder als ihn (angeblich) nichts angehend jedenfalls nicht verinnerlicht werden. Nachdrückliche Zustimmung verdient dabei der niedersächsische Minister der Justiz, der in seinen Runderlassen verstärkt gerade die Bediensteten anspricht und sie davon zu überzeugen sucht, daß im allgemeinen Dienstbetrieb für sie kaum ernsthafte Ansteckungsgefahren vorhanden sind. Da Merkblätter (allein) jedoch nicht geeignet sind, (meist unbegründete) Ängste und Unsicherheiten zu überwinden, werden in erster Linie die Anstaltsärzte angesprochen, in Einzel- und Gruppengesprächen, bei Dienstversammlungen und ggf. unter Hinzuziehung vollzugs fremder Institutionen/Personen individuelle Aufklärungsarbeit zu leisten. Von hier aus richtet sich unsere Bitte an die verantwortlichen Anstaltsleiter, die sich engagierenden Helfer aus überzogenem Sicherheitsdenken nicht bürokratisch zu gängeln. Jener Anstaltsleiter, der die von der deutschen AIDS-Hilfe herausgegebene Broschüre "Positiv: was nun?" hinsichtlich einzelner Passagen in der Rubrik "Ratgeber für Gefangene" wegen (angeblich) "vollzugsfeindlicher Tendenzen" nicht freigegeben und für diese Zensurmaßnahme vorn OLG Hamm auch noch rechtliche Unterstützung erhalten hat88 , möge insofern die seltene Ausnahme bleiben.
2. Es gibt freilich einen Punkt, an dem häufig jede noch so engagierte und individuell-einfühlsame Aufklärung scheitern kann. Die Rede ist vom Drogenproblem in unseren Vollzugsanstalten, wo - eben weil Drogensucht letztlich nur bedingt rationaler Steuerung unterliegt - unter den Bedingungen der Unfreiheit und in der Frustration des Vollzugs einschlägig Gefährdete noch weniger als sonst die Kraft aufbringen werden, von Drogen dauerhaft Abstand zu nehmen und auf die vielleicht tödliche Injektion mit einer unsterilen Spritze ("Stationspumpe") verzichten zu können. 87 Siehe Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Gefahren von Aids und Wege zu ihrer Bekämpfung": Bundestags-Drucksache 11/2495, S. 76. 88 Beschluß vorn 25. 90. 91-1 Vollz (Ws)41/91 = StV 1992,329: mit nachdrücklicher Kritik von J.Baumann StV 1992,331, Blau JR 1992,215 und Nix NStZ 1992,559.
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Bekanntlich werden in einigen Bundesländern außerhalb des Strafvollzuges unterschiedliche Modelle eines Spritzenaustauschprogrammes praktiziert und nach anfänglicher Rechtsunsicherheit nunmehr auch von den Strafverfolgungsbehörden nicht mehr als Verstoß gegen § 29 Abs. I Nr. 10 des Betäubungsmittelgesetzes (BtrnGes) verfolgt89 . Vor diesem Hintergrund kann niemand, der sich mit "AIDS und Strafvollzug" beschäftigt, der Frage ausweichen, ob er auch im Bereich des Strafvollzugs der Abgabe steriler Einwegspritzen das Wort reden will. Auch ich habe mich mit dieser Frage herumgequält; denn keiner wird bezweifeln wollen, "daß Neuinfektionen mit HIV seltene Ereignisse wären, wenn alle Menschen beim Geschlechtsverkehr außerhalb strikter beiderseitiger Treue das Kondom und bei intravenösem Drogengebrauch sterile Einmalspritzen benutzen würden" (so die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission)90. Zudem wissen wir alle, daß "needle sharing", d. h. das gemeinsame Benutzen nicht steriler Injektionsgeräte - im Strafvollzug gewiß weniger Drogenritual als unvermeidliche Folge einer verständlichen Mangelsituation - Hauptursache für die Übertragung der HIV-Infektion im Strafvollzug ist. Zur Dokumentation "AIDS im Strafvollzug" hat die Deutsche Aids-Hilfe e.V. im Jahre 1992 eine Befragung durchgeführt, an der sich bundesweit insgesamt 117 - entweder schon HIV-infizierte oder bereits am Vollbild erkrankte - Personen beteiligt haben. Aus den Befragungs-Ergebnissen immerhin so viel91 : (I) 95, 7 % (in Berlin: 100 %) der befragten Personen hatten Erfahrung mit Drogen. (2) Die Frage "Gibt es in der JVA, in der Sie Ihre Haftzeit verbüßen, Drogen?" beantworteten 86,3% mit JA und nur 2,6 % mit NEIN. Weitere 7,7 % wußten es (noch?) nicht; 4,3 % wollten sich dazu nicht äußern. (3) Die Frage "Hatten Sie sexuelle Kontakte während der Haftzeit?" beantworteten 23, I % mit JA und 68,4 % mit NEIN; weitere 8,5 % wollten sich dazu nicht äußern. (4) Bezüglich der Frage "Wie haben Sie sich Ihrer Meinung nach infiziert?" wiesen 23,9 % auf sexuelle Kontakte und 70, I % (in Berlin: 95, I %) auf gemeinsam benutztes Spritzbesteck hin. Ausweislich allerneuester Zahlen, die ich von der (Berliner) Senatsverwaltung für Justiz erhalten habe und für die ich danke, waren am 1. Dezember 1993 von insgesamt 3.939 in Berliner Justizvollzugsanstalten einsitzenden Gefangenen insgesamt 746 drogenabhängig (= 18,94 %). Für die JVA Tegel, wo die erwachsenen Männer einsitzen, sehen die Zahlen etwas schlechter aus; von 1.309 Gefangenen sind hier 278 (= 21, 24 %) drogenabhängig.
Bei diesem Befund faUt das Bekenntnis nicht leicht, sich gleichwohl nicht für die Ausgabe steriler Einmalspritzen im Vollzug aussprechen zu können, wie dies von der Deutschen AIDS-Hilfe und anderen Selbsthilfegruppen92 , auf dem 89 Die gegenteilige Entscheidung des LG Dortmund vorn 29. 10. 1990-14 (II) Qs 2/90 (veröffentlicht in JA 1990,211 ff) hat insoweit keine Nachahmung gefunden. 90 BT-Drucksache 11/2495, S. 77. 91 Siehe die von der Deutschen Aids-Hilfe e.V. herausgegebene Dokumentation "Aids im Strafvollzug: Ergebnisse der Befragung von Menschen mit HIV / AIDS in bundesdeutschen Strafvollzugsanstalten" (1. Auflage 2/93).
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12. Strafverteidigertag (Heidelberg 1988)93, aus Teilen der Wissenschaft94 und schließlich mehrheitlich sogar von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 95 gefordert wird, nachdem die Kommission bezüglich dieses Punktes in ihrem Zwischenbericht noch deutlich vorsichtiger gewesen war96 . Daß ich bei dieser meiner Ablehnung nicht nur die Justizminister/-senatoren aller deutschen Bundesländer, sondern auch die Deutsche HauptsteIle gegen Suchtgefahren (DHS)97 und eine Minderheit in der Enquete-Kommission98 auf meiner Seite habe, erleichtert mich dabei nur wenig. Gleichwohl: Ich kann als Wissenschaftler nicht fordern, was ich als verantwortlicher Justizminister oder Anstaltsleiter in die Tat umzusetzen nicht bereit wäre. Und ich sage hier unmißverständlich deutlich, daß ich als Justizminister die Ausgabe steriler Einwegspritzen im Strafvollzug - gleichgültig, ob anonym durch Automaten oder vertraulich-individuell durch den Anstaltsarzt oder justizunabhängige Personen, ob entgeltlich oder kostenlos, ob nur im Austauschprograrnm gegen eine bereits benutzte Spritze oder ohne ein solches Junktim - nicht gestatten würde. Ich würde diese Ablehnung freilich nicht damit begründen, daß der Strafvollzug drogenfrei sei. Selbstverständlich ist er dies nicht, kann es auch nicht sein; denn in einer Anstalt, die nach außen so abgeschottet ist und im 92 Siehe insofern vor allem das von der Deutschen Aids-Hilfe in Auftrag gegebene und als Band III des AIDS-Forums D.A.H. veröffentlichte Gutachten von Klaus Schuller und Heino Stöver: "Die Zugänglichkeit zu sterilem Spritzbesteck. Modelle der HIV-Prävention bei intravenösem Drogengebrauch im internationalen Vergleich"; zweite Auflage (November 1989). 93 Die entsprechenden Forderungen sind in StV 1988,275 veröffentlicht. 94 Vgl. Bruns StV 198,505, Lesting StV 1990, 225 ff, Michels KJ 1988,425 sowie AK/ StVollzG-Quensel Rdn. 30 vor § 56, AK/StVollzG-Brühl Rdn. 27 zu § 101 und Schünemann, Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer aaO (0. Fn. 2), S. 405. 95 Nachdem im Zwischenbericht zunächst nur eine Minderheit für völlige ,,Entkriminalisierung von Spritzen- und Drogenbesitz und Drogenkonsum" und von hier aus für die "Vergabe von sterilen Spritzen (und Kondomen)" auch im Strafvollzug plädiert hatte (BT-Drucksache 11/2495, S. 123), entschied sich im Endbericht dann auch die Kommission insgesamt für diese Lösung: vgl. Empfehlung Nr. 7 zu Unterabschnitt 5 ("Prävention in Justizvollzugsanstalten") des 5. Kapitels ("ZieIgruppenspezifische Prävention"): aaO S. 28 (Text der Empfehlung) und S. 279 ff (Begründung). 96 Während die Enquete-Kommission in ihrer deutlichen Mehrheit Spritzenaustauschprogramme jedenfalls außerhalb des Vollzuges von Anfang an "für dringend geboten" hält und der Ansicht ist, daß die damit "verbundenen Wirkungen und Mißverständnisse in Kauf genommen werden können, um weitere HIV-Infektionen zu vermeiden" (BT-Drucksache 11/ 2495, S. 105), hat sie für den Bereich des Strafvollzuges damals noch deutlich zurückhaltender formuliert (aaO): "Soweit im Strafvollzug der illegale Drogengebrauch nicht völlig unterbunden werden kann und man es auch nicht für vertretbar hält, den Gefangenen sterile Spritzen zu überlassen, wäre es für die Verhütung von Neuinfektionen mit HIV von Vorteil, wenn man den Gefangenen in geeigneter Weise Desinfektionsmnittel zugänglich machen würde." 97 Zitiert nach Schuller/Stöver, Die Zugänglichkeit zu sterilem Spritzbesteck: Modelle der HIV-Prävention bei intravenösem Drogengebrauch im internationalen Vergleich (2. Aufl. 1989), S. 40. 98 Eine Minderheit in der AIDS-Kommission lehnt Einmal-Spritzen im Strafvollzug nachdrücklich ab: s. Endbericht S. 682 ff.
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Innern so strengen Kontrollen unterliegt, daß das Einschleusen von harten Drogen (wenngleich selbst dann niemals völlig unterbunden, so doch) gegenüber heute üblichem Kontrollstandard weiter erschwert würde, wäre das therapeutische Klima für einen Behandlungsvollzug, wie er im StVollzG gesetzlich vorgeschrieben ist, so verdorben, daß an Resozialisierung nicht einmal in vorsichtigen Ansätzen zu denken wäre. Freilich hätte ich mich auch schon vor der letzten Neufassung des BtmGes nicht darauf berufen, daß die Abgabe von Einwegspritzen das "Verschaffen von Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch von Betäubungsmitteln" darstelle und demgemäß nach § 29 I Nr. /0 BtmGes strafbar sei, wie früher vereinzelt angenommen wurde99 . Um in diesem Punkt abschließende Rechtsklarheit zu schaffen, hat der Gesetzgeber im Herbst 1992 durch einen zusätzlichen Satz 2 zur einschlägigen Nr. 10 des § 29 Abs. I BtmGes klargestellt, daß "die Abgabe von sterilen Einmalspritzen an Betäubungsmittelabhängige ... kein Verschaffen von Gelegenheit zum Verbrauch i. S. von Satz I Nr. 10" darstellt 1OO •
Ungeachtet dessen: Stephan Quensel - sein Name steht insofern für viele andere - macht es sich in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Abgabe steriler Einmal-Spritzen auch im Vollzug wohl doch zu leicht, wenn er schreibt lO1 : "Worum geht es? Ganz einfach: wir wollen es Leuten, die sich Heroin spritzen, ermöglichen, dies ohne Lebensgefahr zu tun. Das ist so selbstverständlich, daß man eigentlich kein Buch darüber schreiben müßte."
... und wenige Zeilen weiter: "Diese Leute, die eine andere Droge bevorzugen als wir 'normalen: Raucher und Alkoholgenießer, schaden sich allenfalls selbst und blieben wahrscheinlich gesünder als wir, die wir die größeren Gesundheitsrisiken von Nikotin und Alkohol ungestraft in Kauf nehmen - gäbe es da nicht eine kriminalisierende Drogenpolitik, die sich mit ihren Verboten mehr und mehr zum Gesundheitsrisiko für diese Konsumenten entwickelt. Eine Politik, die schließlich dazu führt, daß diese harmlosen Junkies sogar zur Gefahr für Dritte werden, weil sie nämlich über den gemeinsamen Nadelgebrauch andere Junkies anstecken können."
Daher im Klartext: Hinter der Forderung nach Einmal-Spritzen steht - nicht für alle, doch - für viele Protagonisten die "Abkehr vom Abstinenzparadigma" und die unverhohlene Skepsis gegen die "zweifelhafte Prämisse, der Überwindung der Drogenfreiheit absolute Priorität einzuräumen", kurz: steht das rechtspolitische Credo, die derzeitige staatliche Drogenpolitik als "moralistisch", "naiv" und ,,realitätsfern" abzutun 102. Wer freilich so spricht, verniedlicht Heroinsucht als bloße 99 Zum früheren Streitstand s. vor allem Kreuzer NStZ 1987, 268 ff und ZStW 100 (1988),810 ff; weitere Nachweise bei Körner, BtrnGes (3. Auf!. 1990), Rdn. 715 zu § 29. 100 Vgl. Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des BtmGes vom 9. Sept. 1992 (BGBI. 11 1593 ff). 101 Vorwort zu dem von der Deutschen Aids-Hilfe e.V. in Auftrag gegebenen und die Zugänglickeit zu sterilem Spritzbesteck auch für den Vollzug nachdrücklich bejahenden Gutachten von Klaus Schuller und Heino Stöver aaO (0. Fn. 92) S. 10. 102 Alles Zitate aus dem genannten Gutachten (0. Fn. 92): S. 69, S. 41, S. 87 und S. 117.
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Selbstschädigung, die den Staat bzw. die Gesellschaft nichts angehe. Und wer sich mit einer solchen Begründung für die Freigabe von Einmalspritzen auch im Vollzug einsetzt, verkennt, daß letztlich auch die Drogensucht einen Menschen zu Siechtum und Tod führen wird. Demgegenüber bin ich aber nicht bereit, "den Teufel mit Beelzebub auszutreiben". Im übrigen bin ich fest davon überzeugt, daß die Ausgabe steriler Einmalspritzen im Vollzug - gleichgültig, ob durch den Staat selbst oder mit Duldung des Staates durch andere - in weiten Bereichen das resignative "Aus" im Kampf für drogenfreie Justizvollzugsanstalten bedeuten könnte. Ganz abgesehen von weiteren Risiken, die mit der Abgabe steriler Einmalspritzen verbunden wären: So wird die Gefahr nicht von der Hand zu weisen sein, daß saubere Spritzen - eben weil im Vollzug immer Mangelware bleibend - auf dem "schwarzen" Markt nur zu schnell dazu eingesetzt werden dürften, mit dem Erlös an illegale Drogen zu kommen. Zudem kann die Existenz (noch?) steriler EinwegSpritzen im Vollzug ein zusätzliches Risiko für "Erst-Fixer" bedeuten, die ohne ein solches Angebot selbst in der Frustration des Vollzuges dem "ersten Schuß" möglicherweise widerstanden hätten. 3. Bleibt zu fragen, ob die Anstalt angesichts der ihr obliegenden Fürsorgepflicht (dann wenigstens) von Amts wegen geeignete Desinjizierungsmittel zur Verfügung zu stellen hat, wie dies die AIDS-Kommission des Bundestages empfiehlt 103. Wenn auch ich mir diese Forderung zu eigen mache, fürchte ich weniger den Einwand halbherziger Inkonsequenz als vielmehr aus der Sicht der Vollzugsbediensteten die Schwierigkeiten "vor Ort", einerseits den Strafvollzug möglichst drogenfrei halten zu müssen, andererseits aber zugleich - wenn auch vielleicht nicht selbst die Desinfizierungsmittel bereitzustellen, so doch gegebenenfalls - geflissentlich wegschauen zu sollen, wenn gebrauchte Spritzen in siedend heißem Wasser steril gekocht werden (nebenbei: ·was Fachleute - wenn man sich dafür etwa 15 Minuten Zeit lassen kann - ohnehin für sicherer denn alle chemischen Techniken halten, die dem Gefangenen unter den Bedingungen des Vollzugs zur Verfügung gestellt werden könnten). Selbst die Ausgabe entsprechender Desinfizierungsmittel stellt jedoch noch keinen und wohl auch noch keinen halben Schritt zur Legalisierung des Drogenkonsums dar, wenn es bei dessen prinzipieller Ächtung und selbstverständlich dabei bleibt, daß jede entdeckte Spritze konfisziert wird. Da nicht Strafveifolgungsorgan und demzufolge nicht dem Legalitätsprinzip verpflichtet, ist die Anstaltsleitung bei Kenntniserlangung eines stratbaren Drogendelikts ohnehin nicht zur Weiterleitung des Vorfalls an Polizei/Staatsanwaltschaft gezwungen 104. Man wünscht den Vollzugsverantwortlichen in diesem Zusammenhang eine sensible BT-Drucksache 11/2495, S. 12 und S. 105. Insofern gilt anderes für die Polizei, die angesichts ihrer Verpflichtung aus § 163 Abs. 2 StPO auch nach neuer Gesetzeslage - Absehen von Strafe bei strafbarem Drogenerwerb/-besitz "zum Eigenverbrauch in geringer Menge" (§ 31a BtmGes)- nicht von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, d. h. zur Abgabe der Sache an die StA (die dann jedoch von den erweiterten Möglichkeiten des § 31a Gebrauch machen kann) entbunden ist: dazu Körner, BtmGes (3. Aufl.), Rdn. 813 zu § 29. 103
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Hand, was ihnen neuerdings vielleicht deshalb etwas leichter fallen wird, seit das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 9. März 1994 die Strafverfolgungsorgane der verschiedenen Bundesländer angesichts des verfassungsrechtlichen Verbotes überharten Strafens dazu aufgefordert hat, (wenngleich nicht bei Heroin u.ä., wohl aber) bei Eigenverbrauch von Haschisch ,,in kleinen Mengen" von den gesetzlichen Möglichkeiten des Absehens von Strafe oder der Verfahrenseinstellung in gleichmäßiger Weise verstärkten Gebrauch zu machen. 4. Zum Stichwort "AIDS-Prophylaxe im Strafvollzug" eine letzte Bemerkung: Auch gegenüber dem Sexualtrieb ist die Vernunft häufig genug machtlos. Umso wichtiger ist es, für den Bereich homosexueller Kontakte, die als Vollzugswirklichkeit wohl von niemandem ernsthaft bestritten werden, durch Ausgabe von Kondomen die im Einzelfall lebensrettende Praktizierung von "safer sex" zu ermöglichen. Alles andere wäre - nebenbei, doch wichtig genug: auch im lugendstrafvollzug! - unverantwortlicher Moralismus und durch nichts zu rechtfertigen. Erfreulicherweise ist zu berichten, daß in fast allen Iustizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Kondome mehr oder weniger frei erhältlich sind. Um möglichen Indiskretionen vorzubeugen, wird sich die Aufstellung von Automaten empfehlen.
v. Substitutionsbehandlung 1. Bekanntlich ist die Behandlung von intravenös Drogenabhängigen mit Ersatzsuchtmitteln wie Methadon, Polamidon, Ritalin, Methylphenidat u.ä. nicht nur unter Rechtspolitikern, sondern auch unter Ärzten (noch immer) umstritten 105. Eine derartige "Substituierung" unterdrückt zwar das Verlangen des Süchtigen nach Heroin, überbrückt dessen Entzugserscheinungen und hat gegenüber Heroin nicht nur den Vorteil einer längeren Wirkungszeit mit dauerhaft stabiler Gefühlslage, sondern auch den Vorzug des weitaus günstigeren Preises; andererseits kann nicht bestritten werden, daß Methadon und ähnliche Ersatzstoffe die durch den Heroingebrauch erworbene Opiatabhängigkeit durchaus aufrechterhalten. Ziel der Methadon-Behandlung ist demzufolge jedenfalls primär nicht die Drogenfreiheit, sondern die Verhinderung einer weiteren gesundheitlichen und sozialen Verwahrlosung des Drogenkranken, die Verhinderung von Beschaffungskriminalität durch legale Versorgung des Süchtigen mit einem Ersatzstoff und von hier aus die Hoffnung, den Süchtigen auf diesem Weg aus der kriminogenen Subkultur herauszuführen. "Hier treibt man den Teufel mit dem Beelzebub aus" sagen die einen (und 105 Weiterlührend aus neuerer Zeit: Eike von Hippel ZRP 1988,289 ff, Kühne ZRP 1989, 1 ff, Haffke in: Schneider/von Krager, Probleme medikamentengestützter Therapie Drogenabhängiger (1989), S. 56 ff sowie denselben MedR 1990, 245 ff und Gölz, Ersatzstoftbehandlung mit Polamidon, in: "Therapie, Forschung, Prophylaxe H, Aids-Forum Band VIII (Januar 1992), S. 31 ff; vgl. alleIjüngst auch R.Bienek, Entkriminalisierung von Drogenabhängigen durch Substitutionsbehandlung. Empirische und rechtliche Bedingungen (1993).
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sie sind noch in der Mehrheit) und lehnen die Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger jedenfalls im Grundsatz ab, während die Befürworter eines solchen Modells (zu denen ich mich zählen möchte) den Teufelskreis von Kriminalität, Verschlechterung der Gesundheit und sozialer Verelendung beschwören, aus dem der Drogensüchtige -wenngleich auch nur mit Hilfe von Ersatzdrogen und einem therapeutischen Begleitprogramm - herauszubrechen sei. 2. Vor diesem Hintergrund hat sich die AIDS-Kommission des Bundestages im Jahre 1987 noch deutliche Zurückhaltung auferlegt lO6 und angesichts ,,rechtlicher Bedenken" die Abgabe suchterhaltender Ersatzdrogen nur "im begründeten Einzelfall" und bei "medizinischer Indikation" empfohlen, doch im einzelnen an die Einhaltung strenger Regeln geknüpft 107. Mit seinem richtungweisenden Beschluß vom 17. Mai 1991 (BGHSt. 37, 383t1°8 ) hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes die strafrechtlichen Zügel zwischenzeitlich freilich etwas gelockert. Ausgangspunkt ist der Straftatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 6a BtmGes, wonach auch Ersatzdrogen von Ärzten nur dann verschrieben oder verabreicht werden dürfen, wenn "ihre Anwendung am oder im menschlichen ... Körper begründet ist"I09. Der Bundesgerichtshof begreift diese Voraussetzung zwar noch immer als "medizinische" Indikation, zieht deren Grenzen nunmehr aber deutlich weiter als bisher und befreit die zur Anwendung solcher (wohl noch immer: Außenseiter-)Methoden bereiten Ärzte im übrigen ausdrücklich von den Fesseln der "Schulmedizin" und der Gängelung durch die offiziellen Verlautbarungen der ärztlichen Standesvertretungen, die eine Substitutionsbehandlung nach wie vor nur in engen Grenzen zulassen wollen 11 0. Etwas weniger strenge Regeln gelten nach Ansicht des BundesgerichtsBT-Drucksache 11/2495, S. 14 f (Begründung S. 102ff). So sollte die Substitution "nur unter Aufsicht eines in der Drogentherapie erfahrenen Arztes" und nur nach "gründlicher Voruntersuchung" durchgeführt werden dürfen; dadurch sollte "sichergestellt (sein), daß tatsächlich eine schwere Opiatabhängigkeit vorliegt". Ferner mußte in jedem Einzelfall ärztlicherseits festgestellt werden, "daß weitere Versuche einer Abstinenzbehandlung aussichtslos sind", und im übrigen gewährleistet sein, daß im Rahmen der Substitution eine "adäquate Begleitbehandlung in Form von Sozialberatung und Betreuung, beruflichen Eingliederungshilfen und Psychotherapie stattfinden". \08 Ferner veröffentlicht in NJW 1991,2359 (mit Anm. Moll aaO S. 2334) = JZ 1992, 103 (mit Anm. Laufs/Reiling aaO S. 105) = JR 1992, 168 (mit Anm. Helgerth aaO S. 170) = NStZ 1991, 439 (mit Anm. Hellebrand NStZ 1992, 13). Dazu auch Geppert, JURA-Kartei Nr. 1 zu § 13 BtmG. 109 Im Anschluß an eine Grundsatzentscheidung schon des Reichsgerichts (RGSt. 62, 369 ff) und in Anlehnung an eine frühere Fassung des BtmGes, wo noch von "ärztlich begründet" die Rede war, hat der BGH die Klausel zunächst rein medizinisch verstanden und - wichtig und für den vorliegenden Zusammenhang folgenschwer - an den Erkenntnissen der sog. "Schulmedizin" ausgerichtet; von hier aus wurden "Außenseitermethoden" wie insbesondere der Einsatz von Ersatzdrogen betäubungsmittelstrafrechtlich in aller Regel nicht freigegeben (BGHSt. 29, 6 ff). \10 Die einschlägige neueste Stellungnahme des Vorstandes der Bundesärztekammer zur Frage der Ersatzdrogen bei der Behandlung von Drogenabhängigen ist veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt 1988, 192 f. 106 \07
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hofes zudem für (befristete) "ambulante Überbrückungstherapien", deren Ziel die Versorgung eines Drogenabhängigen bis zur stationären Aufnahme in ein therapeutisches Langzeitprogramm oder bis zur Aufnahme eben in den Strafvollzug ist lll . 3. Dieser Hinweis leitet über zur Frage, inwieweit derartige Substitutionsprogramme speziell im Vollzug (wo an sich keine zusätzlichen rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu beachten wären) in Betracht gezogen werden dürfen. Erfreulicherweise ist diesbezüglich zu berichten, daß die anfangliche Skepsis vieler Anstaltsärzte und noch mehr der verantwortlichen Justizverwaltungen gegen den Einsatz von Ersatzdrogen im Vollzug in den letzten Monaten offenbar geringer geworden ist. Dazu hat neben dem erwähnten Urteil des Bundesgerichtshofes und der drängenden Not intravenös drogenabhängiger Gefangener gewiß auch jener zunächst als ,,revolutionär,,1l2 eingeschätzte Modellversuch in Bremen geführt, bei dem intravenös drogenabhängige Gefangene unter psycho-sozialer Begleittherapie zur Entlassungsvorbereitung und über den Entlassungszeitpunkt hinaus auf Ersatzdrogen eingestellt werden 113. Zu diesem Bremer Modell: Nach einer eingehenden Beratung über Vor- und Nachteile des Substitutionsprogrammes wird die Einstellung des Patienten auf die Ersatzdroge über ca. zwei Wochen stationär vorgenommen. Die endgültige Entscheidung über die Substitution wird nach vier Monaten getroffen. Häftlinge, die nach ihrer Entlassung noch keinen Arzt gefunden haben, der sie weiterhin substituiert, erhalten auch dann noch ihr Methadon vom Anstaltsarzt. Bei Kurzhaftstrafen von substituierten Häftlingen wird die Substitution vom Anstaltsarzt fortgesetzt, ohne daß dieser die Indikationsstellung des niedergelassenen Kollegen hinterfragt.
Mir ist der Abschlußbericht dieses Modellversuchs bislang nicht bekannt. Wie im Anschluß an diesen Vortrag von Symposiumsteilnehmern in der Diskussion berichtet wurde, soll er gute Ergebnisse gezeitigt und im übrigen in anderen Bundesländern (genannt wurde Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin) dazu geführt haben, daß auch dort im Vollzug probeweise Substitutionsprograrnme eingeführt wurden. Festzuhalten bleibt somit ein Doppeltes: (1) Bereits aids-erkrankte Heroinabhängige bringen erfahrungsgemäß nicht mehr die Kraft zu einem Entziehungsverfahren einschließlich des unverzichtbaren therapeutischen Begleitprograrnmes auf; sie sind in aller Regel nicht mehr (drogen-)rehabilitierungsfähig und bedürfen der Substituierung. Davon geht nicht nur die AIDS-Kommission des Bundestages 1l4, sondern auch der Vorstand der Bundesärztekammer aus, der ausweislich seiner Richtlinien aus dem Jahre 1988 die Siehe dazu BGHSt. 37, 383 (387). Fritsch im Tagungs-Report HIV-Aktuell: Symposium "HIV und Strafvollzug" (Dortmund 28. November 1992), S. 19. 113 Siehe den Bericht des verantwortlichen Anstaltsarztes (Ltd. MedDir. Frisch) im Tagungs-Report HIV-Aktuell (0. Fn. 112), S. 18 ff. Vgl auch Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (o.Fn 2), S. 169. 114 BT-Drucksache 11/2495, S. 108. III
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Substituierung "drogenabhängiger AIDS-Kranker mit fortgeschrittener manifester Erkrankung" auch ohne therapeutisches Langzeitprogramm für medizinisch indiziert ansieht ll5 . Dem ist nichts hinzuzufügen als die Selbstverständlichkeit, daß im Vollzug Gleiches zu gelten hat. (2) Zweitens ist zu hoffen, daß der erwähnte Bremer Modellversuch (Stichwort: Substitution zur Entlassungsvorbereitung und über den Entlassungszeitpunkt hinaus) in möglichst vielen anderen Bundesländern mutige Nachfolger findet.
VI. Aspekte der Vollzugslockerung und Haftunterbrechung Abschließend sind noch zwei Punkte anzusprechen, von denen ich als früheres Mitglied eines Berliner Anstaltsbeirates aus vielen Gesprächen mit Gefangenen weiß, von welch großer Bedeutung sie für Gefangene und ihr Befinden sind. Die Rede ist von möglichen Nachteilen, die infizierte oder bereits aids-erkrankte Gefangnisinsassen im Hinblick auf Vollzugslockerungen und Haftunterbrechung befürchten müssen: 1. Zu nachhaltiger Beunruhigung hat insofern jener - soweit ich weiß: bis heute nicht widerrufene - Erlaß des Bayrischen Staatsministers für Justiz vom 3. April 1987 geführt, wonach Maßnahmen der Vollzugslockerung und die Gewährung von Hafturlaub "davon abhängig gemacht werden (können), daß der Gefangene die Unterrichtung besonders gefährdeter Personen (z. B. Intimpartner) über seine Infektion nachweist,,1l6. Ich halte eine solche Regelung nicht für rechtens und verweise stattdessen auf die Bundesländer Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Saarland, deren Justizminister auf dem Erlaßweg ausdrücklich klargestellt haben, daß besondere Einschränkungen der Vollzugslockerungen gegenüber HIV-Infizierten "grundsätzlich nicht notwendig sind" 117. Selbstverständlich dürfen Wiedereingliederungsmaßnahmen, auf die ein Gefangener nach §§ 11 ff StVollzG einen gesetzlichen Anspruch hat, nicht mit gesundheitspolitischen Maßnahmen verknüpft werden, für die es außerhalb des Vollzuges keine gesetzlichen Grundlagen gibt. Einschränkungen der Vollzugslockerungen sind nach alledem nur nötig, nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dann freilich auch zulässig, wo der Gefangene ausweislich konkret belegter Indiztatsachen keine Gewähr für ein verantwortungsbewußtes Sexualverhalten bietet; denn (nur) insoweit wäre von ihm "zu befürchten ... , daß (er) die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen wird" (§ 11 Abs. 2 StVollzG)1l8.
Zitiert nach BGHSt. 37, 383 (386). Nr. 4.2.5 des (an die Leiter der bayerischen Justizvollzugsanstalten gerichteten) Rundschreibens: zitiert nach GoebellGauweiier aaO (o.Fn. 14) 3.7. 117 Nachweise je bei GoebellGauweiier aaO. 118 Ebenso Schmuck ZfStrVO 1989. 171. 115
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2. Daß die HIV-Infizierung für sich allein nicht zur Haftuntauglichkeit führt, wird auch von denen nicht bestritten, die ansonsten zu Recht darauf hinweisen, daß die mit einer Infizierung zwangsläufig verbundenen Depressionen und psychosomatischen Störungen den Infektions- und Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen können und durch die Haft erfahrungsgemäß erheblich verstärkt werden 119. Schlechthin indiskutabel wäre es aber auch, wenn einzelne Strafvollstreckungsbehörden - wie immerhin durch die AIDS-Kommission des Bundestages behauptet, wenngleich auch nicht näher belegt 120 und meinerseits nicht verifizierbar - selbst bei desolatem körperlichem und psychischem Zustand des erkrankten Häftlings eine Haftunterbrechung unter Berufung auf § 455 Abs. 4 StPO ablehnen; nach dessen Satz 2 darf die Vollstreckung nämlich "nicht unterbrochen werden, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen". Zu weit gehen umgekehrt freilich auch jene Mitglieder der AIDS-Kommission, die Gefangenen, die am Vollbild von Aids erkrankt sind, offenbar ohne weitere Abstriche ein ,,Recht auf Entlassung" zusprechen wollen 121 • Hierzu in aller Kürze: Nach derzeitiger Gesetzeslage sind aids-bedingte Haftunterbrechungen zunächst einmal nur dann statthaft, wenn adäquate Behandlungsmöglichkeiten in einem Vollzugskrankenhaus nicht (mehr) gewährleistet sind (Umkehrschluß aus § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO). Angesichts des üblichen Standards auch unserer Vollzugskrankenanstalten wird dies wohl erst in einem späteren, wenngleich auch nicht unbedingt letzten Stadium der Krankheit der Fall sein; in weiten Bereichen dürften fachärztliche und pflegerische Kompetenz sowie intensiv-medizinische Technik unserer Vollzugskrankenanstalten in aller Regel jedoch nicht nur für akute temporäre Verschlechterungen des Gesundheitszustandes, sondern auch für AIDS in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium ausreichen. Maßgebliche Gesetzesgrundlage ist diesbezüglich im übrigen § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO; danach kann die zuständige Behörde die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe - bei AIDS im Endstadium dann wohl auf Dauer - unterbrechen, "wenn wegen einer Krankheit von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist". Angesichts der gesetzlichen Einschränkung auf eine "nahe" Lebensgefahr reicht es insoweit wohl nicht aus, wenn sich die unbestimmte Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Verschlechterung der Krankheit als Folge der Haftsituation lediglich nicht ausschließen läßt 122 • Ungeachtet dessen seien die Vollstreckungsgerichte insoweit freilich zu einem wohlwollenden Gebrauch der bedingten Entlassung (§ 57 Abs. 2 StGB) ermuntert. Und wo dieser Ausweg ver119 Dazu Bruns StV 1987,507, Böllinger, Strafvollzugsrechtliche Aspekte (o.Fn. 2) S. 162 und AKlStVollzG-Quensel Rdn. 8 zu § 65; ausführlich aus anstaltsärztlicher Sicht Beckerl Myczkowski u. a. in ZfStrVO 1988,217 ff. 120 BT-Drucksache 11/2495, S. 108. Berechtigter Widerspruch auf dem Strafverteidigertag vom 22. bis 24. 4. 1988 in Heidelberg (StV 1988, 275). 121 BT-Drucksache 11/2495, S. 123. 122 Ebenso OLG Stuttgart 25. 40. 1988-3 Ws 84/88) NStE Nr. 2 zu § 455 StPO sowie Vorinstanz (LG Ellwangen NStZ 1988, 330).
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sagt, möchte man den verantwortlichen Entscheidungsträgern Sensibilität, Mitgefühl und Mut wünschen, einem todgeweihten Kranken vielleicht doch nicht erst im allerletzten Stadium seines Siechtums die Gnade des Sterbens in Freiheit zu gönnen. Rechtsgründe stehen dem jedenfalls nicht entgegen. VII. Anhang: Empfehlungen der AIDS-Kommission
Nach mehrjähriger Arbeit hat die vom 11. Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission "Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" im Sommer 1990 ihren Endbericht vorge1egt 123 • Die abschließenden Empfehlungen speziell zur "Prävention in lustizvollzugsanstalten und Strafvollzugsrecht" gehen teilweise deutlich über das hinaus, auf was sich die Kommission in ihrem Zwischenbericht 124 einigen konnte. So empfiehlt die Kommission dem Deutschen Bundestag, die Bundesregierung zu ersuchen sowie bei den Ländern anzuregen, 1. "im Hinblick auf die gewandelte Rechtsauffassung über das informationelle Selbstbestimmungsrecht auch der Gefangenen die bisherige Handhabung der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes in den Justizvollzugsanstalten zu überprüfen und entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen; 2. in geeigneter Weise sicherzustellen, daß Homosexuelle insbesondere bei Entscheidungen über Bildung und Auflösung von Zellengemeinschaften, bei Entscheidungen über die Unterbringung während der Freizeit sowie beim Bezug von Informationsmaterialen homosexuellen Inhalts nicht aufgrund ihrer Homosexualität benachteiligt werden dürfen; 3. überzeugende Konzepte für kontinuierliche Beratungs- und Gesprächsangebote zu entwickeln; 4. mit der Beratung und Betreuung von HIV-infizierten und AIDS-kranken Häftlingen nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Psychologen mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung zu betrauen, eventuell ergänzt durch freie Mitarbeiter nach § 155 Abs. I Strafvollzugsgesetz, die folgende Aufgaben haben sollten... ; 5. die Betreuung HIV-infizierter und AIDS-kranker Häftlinge durch Mitarbeiter von externen AIDS- und Drogenhilfen weiter zu fördern, wobei es den Betroffenen, soweit es vertretbar ist, gestattet werden sollte, die externen AIDS- und Drogenhilfen zwecks Beratung und Teilnahme an Selbsthilfegruppen aufzusuchen; 6. im Hinblick auf die durch Sprachbarrieren bedingten Defizite bei der Betreuung ausländischer Häftlinge eine zentrale Stelle mit der Aufgabe zu betrauen, die schon vorhandenen Merkblätter in ausländischen Sprachen zu erfassen und die Bezugsquellen nachzuweisen. Dabei wäre es wichtig, einen Überblick festzuhalten, wo es für infizierte und kranke ausländische Häftlinge mit weniger geläufigen Sprachen ausreichende Betreuungsmöglichkeiten gibt, damit die Betroffenen gegebenenfalls in diese Anstalten verlegt werden könne; 123 Er ist veröffentlicht als Band 13/90 ("AIDS: Fakten und Konsequenzen") der vom Deutschen Bundestag (Referat Öffentlichkeitsarbeit) herausgegebenen Reihe ,,zur Sache: Themen parlamentarischer Beratung". 124 Bundestags-Drucksache 11/2495.
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7. im Hinblick auf ein realitisches Präventionskonzept - in jeder Anstalt Möglichkeiten zum körperlichen Entzug unter ärztlicher und psychotherapeutischer Begleitung anzubieten, wobei das Angebot wegen der besseren Akzeptanz auch die Möglichkeit zu medikamentengestütztem "weichem" Entzug unter ärztlicher Kontrolle mitumfassen müßte; - den Gefangenen die Möglichkeit zu eröffnen, sich sterile Einwegspritzen zu beschaffen; - den Gefangenen Natriumhypochlorit als Desinfektionsmittel frei zugänglich zu machen; - drogenabhängigen Gefangenen, bei denen herkömmliche Entwöhnungstherapien keinen Erfolg versprechen, aufgrund ärztlicher Entscheidung im Einzelfall Substitutionsbehandlungen anzubieten und sie im Rahmen der Entlassungsvorbereitungen über den Entlassungszeitpunkt hinaus auf Methadon einzustellen. Es sollte auch sichergestellt werden, daß Neuinhaftierte, die bereits in einer Substtutionsbehandlung sind, die Behandlung fortführen können; - eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 des Betäubungsmittelgesetzes auch zuzulassen, wenn sich Verurteilte wegen ihrer Abhängigkeit in einer Substitutionsbehandlung befinden oder zusagen, sich einer solchen zu unterziehen, sofern deren Beginn gewährleistet ist; 8. Kondome und wasserlösliche Gleitmittel in den Haftanstalten so zugänglich zu machen, daß sich Gefangene damit unbemerkt versorgen können;
9. die bisherige Praxis aufzugeben, HIV-infizierte Gefangene aus "psychologischen Gründen" von Küchen- und Hausarbeiten auszuschließen; 10. bei Arbeitgebern darauf hinzuwirken, daß sie die Beschäftigung von Gefangenen nicht von einer Infonnation über deren HIV-Status abhängig machen und entsprechendem Druck von Arbeitgebern entgegenwirken; 11. von der teilweise üblichen Praxis abzugehen, Urlaub und Vollzugslockerung bei HIVinfizierten Gefangenen generell davon abhängig zu machen, daß die Gefangenen ihre Intimpartner von der Infektion unterrichten; 12. Schwerkranken zu ennöglichen, in Freiheit zu sterben, sowie bei der Prüfung der Vollzugstauglichkeit von HIV-infizierten und AIDS-kranken Häftlingen auch ihre psychische Verfassung und deren mögliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung der Betroffenen in die Abwägung mit einzubeziehen; 13. Häftlingen in regelmässigen Abständen auf freiwilliger Basis die Möglichkeit einer Beratung und eines anonymen HN-Antikörpertests anzubieten; 14. geeignete Untersuchungsdesigns unter Wahrung der Anonymität und Freiwilligkeit zu entwickeln, um verläßlichere Infonnationen zu erhalten".
Diskussionsbericht Von Dionysios D. Spinellis I. Einleitung
Mit dem Thema "AIDS und Strafvollzug" beschäftigte sich das Symposium in der Nachmittagssitzung vom 4. 6. 94. Der Sitzungsleiter eröffnete die Sitzung mit einem besonderen Gruß und Dank an Herrn Andrzej J. Szwarc für die Einladung zu diesem Kolloquium und gratulierte ihm zugleich für seine ausgezeichnete Organisation. Dann erteilte er dem Referenten Herrn Geppert das Wort, der die besonderen Themen der Sitzung erörterte und seine Thesen in Bezug auf jede wichtige Frage darstellte. Im Anschluß an das Referat von Herrn Geppert fand eine lebhafte Diskussion statt. Über diese soll hier nicht chronologisch, entsprechend der Reihenfolge der Beiträge, sondern anhand der sachlichen Schwerpunkte und im Hinblick auf die hierzu vertretetenen Standpunkte berichtet werden. In der Diskussion wurden folgende Fragen besonders erörtert: 1) Zwangstests und die damit zusammenhängende Frage von Vergewaltigungen im Strafvollzug, 2) Isolierung und Einzelhaft, 3) Freigabe von sterilen Einwegspritzen, 4) ärztliche Schweigepflicht, 5) Substitution im Strafvollzug und 6) Haftentlassung. 11. Zwangstests - Vergewaltigungen im Strafvollzug
Die These von Herrn Geppert war, daß auch gegenüber Gefangenen HIV- Antikörpertests nur auf freiwilliger Basis gestattet seien. Zu diesem Punkt bemerkte Herr Spinellis, daß der Ansicht von Herrn Geppert zwar u. a. auch die Empfehlung des Europarats (Recommendation) No R (93) entspricht, wo es in Abs. 3 heißt, daß "beim gegenwärtigen Stand des Wissens Zwangstests bei Gefangenen verboten sein sollen, da sie unwirksam, diskriminierend und deshalb unmoralisch sind". Trotzdem sei er ein bißehen skeptisch in bezug auf die Richtigkeit dieses Verbots in allen Fällen, und zwar aus folgenden Gründen: Es sei richtig, daß, wie Herr Geppert argumentiert habe, ein Test von heute morgen überholt sein könne. Zwar wisse er nicht, ob und inwieweit es in Deutschland oder in Polen in der Tat möglich sei, alle Gefangene in Einzelhaft un-
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terzubringen. In seinem Lande, und er glaube auch in anderen Ländern, sei das leider nicht möglich. Die Gefängnisse seien überfüllt, so daß oft in jeder Zelle drei oder mehrere Insassen untergebracht werden. Unter diesen kommen oft Vergewaltigungen vor. Angesichts dieser Tatsache wäre es unverantwortlich, erst abzuwarten, bis jemand vergewaltigt wird, um erst dann Maßnahmen zu ergreifen, wie z. B. die Isolierung des Angreifers; denn dann wäre es zu spät, da das Opfer bereits angesteckt worden sein könnte. Darum glaube er, daß es sinnvoll sein könne, alle Gefangenen bei der Aufnahme und danach von Zeit zu Zeit, auch zwangsweise zu testen und dann die HIV-Positiven in Einzelhaft unterzubringen, um die übrigen Insassen zu schützen. Das könne wenigstens einem großen Teil von Vorfällen vorbeugen. Dies sei eine Konsequenz aus der Schutzpflicht des Staates den nicht infizierten Insassen gegenüber. Die Erwähnung von Vergewaltigungen forderte Widerspruch von Herrn Gähner. Er denke, daß es als Mann schwer sei, einen anderen Mann zu vergewaltigen. Es gebe zwar Fälle von Vergewaltigungen in bundesdeutschen Strafanstalten, z. B. sei 1984 in Berlin jemand dafür bestraft worden, aber das sei der einzige Fall, den er kenne. Er fügte noch zur Erklärung hinzu, daß er von 1982-1989, fast sieben Jahre, in Strafhaft gewesen sei, und so sei er dazu gekommen, sich mit dem Bereich HIV und AIDS besonders zu befassen. Er habe auch die Ehre gehabt, 1988 - gegen den Widerstand der CSU - Sachverständiger von der AIDS-Enquete Kommission des deutschen Bundestages zu sein. Wie Herr Tobis in seinem Bericht über die Verfahren mit Gefangenen im Zusammenhang mit der Vorbeugung von HIV-Infizierungen im polnischen Strafvollzug ausführte, seien die Zwangstests allerdings im polnischen Strafvollzug vorgeschrieben, obwohl sie nicht immer konsequent benutzt werden. 1989 habe die Zentrale Verwaltung für Strafanstalten (ZVStA) in einer Spezialanweisung an die Strafanstalten u. a. verordnet, im Gange ärztlicher Anfangsuntersuchungen festzustellen, ob der Gefangene einen Kontakt zu HIV-Virusträgern hatte und ob er auf HIV-Vtrusträgerschaft untersucht worden ist. Notfalls, wenn der Verurteilte selbst diese Angaben nicht macht, seien entsprechende Auskünfte darüber bei zuständigen Anstalten einzuholen. Bei der Aufnahme in die Strafanstalt sei die Blutentnahme zwecks Testuntersuchungen von den Drogenabhängigen und denjenigen, bei denen begründeter Verdacht auf HIV-Ansteckung besteht, obligatorisch. Falls Symptome von AIDS festgestellt werden, solle die Behandlung in einem Krankenhaus beantragt werden. Falls ein Vtrusträger aus der Strafanstalt entlassen wird, so solle darüber eine im Wohnort des Entlassenen zuständige Anstalt verständigt werden. 1990 habe die ZVStA in einem Schreiben an die Strafanstalten diese aufgefordert, die HIV-Infizierten in von der übrigen Anstalt isolierten Räumen unterzubringen, wenigstens bis zum Zeitpunkt, wo die HIV-Trägerschaft verifiziert wird. Die Anstaltsleiter hätten die Staatsanwälte von Straftaten benachrichtigen sollen, die das Leben, die Körperintegrität oder die Gesundheit anderer Menschen gefährden. In Bezug auf Virusträger, die sich aggressiv benehmen, könnten besondere Sicher-
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heitsmaßnahmen getroffen werden. Man sollte auch entprechend aufHIV-Infizierte reagieren, die gewisse Zugeständnisse zu erzwingen versuchen. Während einer wissenschaftlichen Tagung der Gefängnisdienste im Februar 1993 in Kalisz sei festgestellt worden, daß das Niveau der HIV-infizierten Personen in polnischen Strafanstalten unverändert bei 300 geblieben war, obwohl die Vermutung geäußert worden sei, daß ihre tatsächliche Anzahl zweimal so hoch sein möge. Das sei u. a. auf den Mangel an Finanzmitteln für die Pflichtuntersuchungen bei der Aufnahme der Gefangenen zurückzuführen, da aus diesem Grunde solche Untersuchungen nicht immer oder nicht regelmäßig stattfänden. 1993, vier Jahre nach der Anwendung der Richtlinien, sei u. a. der Verzicht auf Antikörpertests bei Verweigerung des Betroffenen zugelassen worden, nachdem aber vorher diese Personen über etwaige Folgen unterrichet worden sind. In seinem Diskussionsbeitrag erwähnte Herr Matikkala, daß es im Bereich des Strafvollzugs im Zeitalter von AIDS um Behauptungen, Risiken und Ängste gehe, die u. a. das Übertragungsrisiko betreffen. Diese seien empirisch nur zum Teil rational oder irrational zu erklären. In den meisten Fällen gehe es um eine Abwägung der Interessen der HIV-positiven Insassen einerseits gegen die der HIV-negativen Insassen andererseits. Ferner betonte er, daß der Begriff der "Rationalität", jedenfalls im Kontext von drogensüchtigen Insassen (und auch die Wirkung von Aufklärung auf sie) etwas zweifelhaft sei. Er überlegte auch die Frage, ob der Inhalt der Freiheitsstrafe im AIDS-Zeitalter verändert worden sei und ob sogar die HIV-negativen Insassen deswegen gewissermaßen erhöht strafempfindlich geworden sein könnten. Schließlich sagte er, daß der Staat seine Verantwortung für die Gesundheit der von ihm eingesperrten Insassen - sowohl HIV-positiven als auch HIV-negativen - allenfalls tragen solle. In seinem Schlußwort sagte Herr Geppert, daß nach den Bestimmungen des deutschen Strafvollzugs gesetzes die nächtliche Einzelunterbringung die Regel sei und sie nur aufgrund von Raummangel und Überbelegung nicht zustande kommen könne. Er hat im übrigen nochmal seine Überlegung bekräftigt, daß Paragraph 101 Strafvollzugs gesetz nicht verfassungswidrig sei. Ferner wiederholte er seine These, daß in aller Regel die Zwangstestung ungeeignet und damit nicht sinnvoll sei und daß die Ausführungen zu den Zahlen der freiwilligen Untersuchungsquoten eher zu Optimismus Anlaß gäben. Er stimme zu, daß im Einzelfalle Sondermaßnahmen, Absonderung, Einzelquartier - er meine damit nicht Ghettos - getroffen werden müssen, aber nur aufgrund konkreter Indiztatsachen, als Einzelmaßnahmen und nicht pauschal, wegen Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe. In bezug auf das Problem der Vergewaltigungen im Strafvollzug sagte er, daß Herr Gähner es eher verniedlicht oder heruntergespielt habe und daß dieses Problem etwas gravierender sei, als er das dargestellt habe. Wie ihm (Herrn Geppert) von der Kollegin aus der Sozialarbeit, Frau Schultz, in der Pause bestätigt worden sei, seien im Jugendvollzug durchaus Probleme dieser Art vorhanden.
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III. Isolierung - Einzelhaft
Die Isolierungsmaßnahmen und die Einzelhaft wurden mit gemischten Gefühlen beurteilt. Obwohl Herr Spinellis diese Maßnahme als eine unter Umständen notwendige betrachte, wies er auf die Gefahr hin, daß aus der Isolierung Ghetto-Situationen entstehen können, die man aber manchmal vielleicht als notwendiges Übel hinzunehmen gezwungen sei. Insbesondere das Streben, die HIV-infizierten Insassen vor Diskriminierung zu schützen, indem man dem Anstaltsleiter die Schweigepflicht auferlegt, und zugleich Maßnahmen zum Schutz von anderen Insassen zu treffen, sei nach Spinellis illusorisch. Denn sobald ein Insasse z. B. von einer gemeinsamen Zelle in eine Einzelzelle verlegt wird, werde die ganze Anstalt vermuten, daß er HIV-infiziert ist. Durch Einzelhaft und Isolierung werden im allgemeinen unvermeidlich Ghettos von Infizierten geschaffen. Zu diesem Problem habe er keine Lösung vorzuschlagen; er möge nur darauf hinweisen, daß es durch die Überfüllung von Gefängnissen oft unmöglich werde, beide Ziele zu erreichen, nämlich einerseits die nicht infizierten Insassen zu schützen und andererseits die Infizierten vor Isolierung und Benachteiligung zu bewahren. Herr Gähner dagegen betrachtete die Isolierung nicht unbedingt als eine unerwünschte Situation. Er sagte, daß nach seinen Erfahrungen in Polen die HIV-infizierten Gefangenen in der Regel in Einzelzellen in der Krankenabteilung untergebracht worden seien. Er sei erstaunt von ihnen selbst zu hören, daß sie das wunderbar finden. Sie führen ein besseres Leben als im normalen Strafvollzug, z. B. in der Posener Haftanstalt leben sie weitaus luxuriöser als die anderen Insassen und hätten sogar einen Fernsehapparat in der Zelle. Herr Tobis bestätigte diese Information. Er erwähnte in seinem Bericht, daß, nachdem bis 1992 die HlV-Infizierten in polnischen Strafanstalten die Zahl von 300 erreicht hatten, in manchen Anstalten spezielle" Wohnungsblöcke" (d. h. Hafträume) ausgesondert worden seien. Die HIV-Infizierten hätten dort bessere Bedingungen als die übrigen Gefangenen, z. B. seien sie in Hafträumen von 6 qm pro Person untergebracht (während die internationale Norm bei 3 qm liegt), hätten Zugang zu den mit Kalt- und Warmwasser ausgestatteten Bädern und Toiletten und dürfen Fernseher und Video-Geräte in den Hafträumen haben. Trotzdem sei während der wissenschaftlichen Tagung der Gefangnisdienste im Februar 1993 in Kalisz vorgeschlagen worden, daß man nicht mehr separate Abteilungen für HIV-Infizierte gründe, da sie zu Ghettos werden, in die manche verzweifelte Gefangene mit Hilfe von Selbstinfizierungen zu gelangen versuchen, um sich in besseren Haftbedingungen zu befinden. Andererseits sei auch festgestellt worden, daß es in vielen Strafanstalten gelungen sei, gute gegenseitige Beziehungen unter den HIV-Infizierten und den übrigen Gefangenen zu schaffen, ohne Verlegung der Infizierten in spezielle Abteilungen. Herr Geppert sagte in seinem Schlußwort, daß niemand für die Isolierung spreche, was auch der Vortrag von Herrn Tobis bestätigt habe.
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IV. Sterile Einwegspritzen Der Referent hat die These vertreten, daß trotz der Gefahren des gemeinsamen Benutzens von nicht sterilen Injektionsgeräten ("needle sharing") die Ausgabe steriler Einwegspritzen, und zwar gleichgültig, ob anonym oder durch den Anstaltsarzt bzw. justiz-unabhängige Personen, nicht befürwortet werden könne. Diese würde in weiten Bereichen das resignative Aus im Kampf um (möglichst) drogenfreie Gefängnisse bedeuten. Herr Gähner sagte zunächst, daß die Erwähnung im Referat, hätte es ein Minderheitenvotum gegen die Vergabe von sterilen Spritzbestecken im Vollzug gegeben, nicht korrekt sei; denn die CSU habe zwar ein Minderheitenvotum dagegen gestartet, aber alle anderen Mitglieder der AIDS-Enquete Kommission hätten keine Einwände gehabt. Er sagte ferner, daß die Vergabe von sterilem Spritzbesteck sicherlich eine schwierige Sache sei. Früher sei er auch nicht dafür gewesen, weil er geglaubt habe, daß bei der Vergabe der Hemmung zum Drogengebrauch nicht genug Einhalt geboten würde; nun aber wisse er, daß Gefangene Drogen mit Kugelschreibern und anderen Werkzeugen, die man sich nicht vorstellen kann, injizieren. Jetzt meine er, daß im Strafvollzug die sinnvollste AIDS-Prophylaxe die Verteilung von sterilen Einwegspritzen sei, egal ob man sich dann mitschuldig am Drogenkonsum fühle. Über 50% aller Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Tegel in Berlin konsumieren harte Drogen, mindestens gelegentlich. Er und seine Mitarbeiter hätten 1992 1000 Spritzen in diese Anstalt eingeliefert. Diese Spritzen seien von den Gefangenen-Mitverantwortungsvertretern an drogenabhängige Gefangene ausgetauscht worden, d. h. für jede benutzte Spritze habe es eine saubere gegeben. Die Sache sei aufgefallen, und der Anstaltsleiter sei verständigt worden. Es habe eine blitzschnelle Sitzung mit Vertretern des Senats gegeben. Die Gefangenen seien aufgefordert worden, die Spritzen zurückzugeben, aber die meisten seien inzwischen verteilt und benutzt worden; die meisten seien benutzt zurückgegeben worden. Bei einer Umfrage haben seine Mitarbeiter und er die Gefangenen gefragt, wo sie sich nach ihrer Meinung infiziert haben; von 117 bundesweit Befragten habe jeder sechste geantwortet, daß er sich in der Strafanstalt infiziert habe. Von 21 Gefangenen in Berliner Anstalten hätten 7 gesagt, sie hätten sich durch gemeinsame Spritzenbenutzung infiziert. Inzwischen habe sogar ein Gefangener den Berliner Senat auf Schadensersatz verklagt, weil er trotz Antrag keine sterilen Spritzen bekommen und sich inzwischen im Laufe von fünf Haftjahren infiziert habe. Herr Nestler erklärte zunächst seine Absicht, in Sachen Abgabe von Einwegspritzen juristisch zu argumentieren. Er sagte, daß Herr Geppert dagegen in dieser Frage nicht juristisch, sondern drogenpolitisch argumentiert habe, indem er behauptete, daß die Spritzenabgabe ein halber Schritt zur Legalisierung des Drogenkonsums sei. Nach ihm (Nestler) sei die in Paragraph 29 Nr. 10 BtMG erwähnte Beihilfe zum straflosen Drogenkonsum ein erstaunliches Delikt, da man die Beihilfe zu straflosen Haupttaten im deutschen Strafrecht nicht kenne. Eine Bundesre-
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gierung mit einer Mehrheit, die frei gewesen sei von jeglichem Verdacht, die Legalisierung illegaler Drogen anzustreben, habe im Herbst 1992 eine Ausnahmeregelung an die Vorschrift angehängt, wonach der Tatbestand des Verschaffens von Gelegenheiten zum Konsum durch die Abgabe von Einwegspritzen nicht erfüllt sei. Der Hintergrund sei nicht nur technisch, nämlich die Absicht, die Diskussion über Einwegspritzen in den Bundesländern damit zu beenden, sondern auch auf folgende inhaltliche Überlegung gestützt: Wenn Drogenkonsumenten Gelegenheiten gegeben werden, die die Chance des Drogenkonsums erhöhen, dann ist dies ein strafbares Verschaffen von Gelegenheiten. Wenn dagegen nur dafür gesorgt wird, daß ein ohnehin stattfindender Drogenkonsum unter anderen Bedingungen stattfindet, dann solle dies nicht strafbar sein. Und in diese Überlegung kommen dann die gesundheitspolitischen Argumente, daß die Vergabe von Spritzen ein resignatives Aus im Kampf um drogenfreie Gefängnisse bedeute. Aber auch in der bundesdeutschen Drogenpolitik sei die Idee, daß die Vergabe von Einwegspritzen ein resignatives Aus in diesem Kampf bedeuten würde, spätestens durch die Entscheidung des Gesetzgebers im Herbst 1992 verabschiedet worden, und das, obwohl man durch das Betäubungsmittelstrafrecht einen Kampf um eine drogenfreie Gesellschaft führt. Dieses Argument könne man genauso auf die Gefängnisse übertragen. Die einzigen Argumente, die er (Nestler) zulassen würde, um im Gefängnis zu einem anderen Ergebnis zu ~ommen, wären spezifische Vollzugsargumente. Über die technischen Einzelheiten der Vergabe von Einwegspritzen müßte man andere Leute fragen. Herr du Plessis berichtete, daß in Südafrika ein schönes Gesetz, "the Prisons' Act", existiere, das in aller Einzelheit vorschreibe, wie die Gefangenen human behandelt werden sollen. Das aber sei bloße Scheinwissenschaft; denn im Gesetz stehe u. a., daß über das, was in Gefängnissen passiert, nichts ohne Genehmigung des lustizministeriums veröffentlicht werden dürfe. Eine solche Genehmigung werde nicht leicht gegeben. Aber von Freunden, die in Gefängnissen arbeiten, erfahre er, was da passiert, nämlich, daß z. B. während der Nacht dort das Gesetz des Dschungels herrsche. Diese Sachen kommen nur dann ans Licht, wenn schwere Kriminalfälle vor Gericht verhandelt werden. Deshalb wisse er nicht genau, was in den südafrikanischen Gefängnissen in Bezug auf HIV-Infizierte und AIDS-Kranke passiert. Er könne nur sagen, daß zum Glück in seinem Land der Drogenmißbrauch mit Einwegspritzen noch nicht sehr verbreitet sei. Es werde meist nur Marihuana gebraucht, das geraucht werde. Deshalb sei die Gefahr der Infektion mit dem HIVVirus nicht so groß. Nach Herrn Höpfel spielen im Begriff der Strafvollzugstauglichkeit alle Antworten, die man auf die HIV-Infektion gibt, wohl mit hinein. Denn nur wenn die Strafe human vollzogen werde - dazu gehören die Fragen der Bereitstellung von Kondomen und Spritzbesteck -, könne sie noch einen Sinn entfalten und sich auf den Gefangenen auswirken. Unter dem Begriff der Strafvollzugstauglichkeit sei etwas anderes als der reine Begriff der Haftfähigkeit zu verstehen. Insofern gehe es
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auch mit diesen Detailfragen, die heute nachmittag diskutiert wurden, um eine Einheit der Strafe und des Strafvollzugs, die man hier mitbestimme. Zu diesem Punkt sagte Herr Matikkala, daß Herr Geppert in der schwierigen Frage der Einwegspritzen in seinem äußerst interessanten Referat eine Lösung vertreten habe, die einigermaßen außerhalb der Kollision zwischen den Interessen der HIV-positiven Insassen einerseits und der HIV-negativen Insassen andererseits liege. Diese Lösung ziele nämlich auf eine drogenfreie Gefängnispolitik. Damit aber laufe sie gegen das Gesundheitsinteresse der HIV-negativen Insassen, was als etwas fraglich erscheinen könne; doch gebe es hier natürlich ein Dilemma. In seinen Schlußbemerkungen antwortete Herr Geppert auf die Bemerkung von Herrn Gähner über die Meinung der Enquete-Komission, daß er zwar ein bißehen Recht habe, aber daß er selbst (Herr Geppert) ein bißehen mehr Recht habe. Er verweise Herrn Gähner auf die Fußnote 96 seines Referats, wo er die Meinung der Mehrheit genauer zitiere und obwohl er seine Formulierung etwas zurücknehmen würde, bleibe es dabei, daß die Mehrheitsmeinung die Spritzen im Vollzug nicht freigegeben habe. Hinsichtlich des Vorwurfs von Herrn Nestler, daß er (Herr Geppert) nicht rechtlich, sondern drogenpolitisch argumentiert habe, gab er gerne zu, daß er dies getan habe. Im Gegenzug erzählte er, was ihm passierte, als er in eine Kommission zur Frage von Einwegspritzen berufen worden sei, die in einem Bundesland vom dortigen Justizsenator eingerichtet worden sei. In der allerersten Sitzung habe er offen auch danach gefragt, in der Kenntnis des existenziellen Problems, welche Auswirkungen die Freigabe von Einwegspritzen für die Drogenpolitik im Hause und außerhalb habe. Man habe ihm gesagt, daß sie in der Kommission diese Frage aussparen wollten; dafür hätte es eine eigene Kommission über die Drogenpolitik gegeben. Und dann sei er aus der Kommission ausgetreten. Genau das sei das Problem und die Schwierigkeit, die allgemeine Drogenpolitik mit der speziellen Vollzugsgesundheitspolitik in Einklang zu bringen. Er besuche gelegentlich Gefängnisse und rede mit beteiligten Menschen, aber er sei gewiß nicht so nah dran wie Frau Schultz oder Herr Gähner oder möglicherweise auch Herr Nestler. Aber solange er nicht näher dran sei, könne er über diesen Schatten nicht springen.
V. Ärztliche Schweigepflicht Nach Ansicht des Referenten Herrn Geppert gelte die ärztliche Schweigepflicht grundsätzlich auch für Gefangene. Auf Grund vollzugsspezifischer Besonderheiten sei der Anstaltsarzt jedoch nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet, einen positiven HIV-Befund an die für die Gesundheitsfürsorge der gesamten Anstalt verantwortliche Anstaltsleitung - doch nur an diese - weiterzumeiden. Es liege dann in deren pflichtgemäßem Ermessen, den ihr zur Amtsverschwiegenheit anvertrauten ärztlichen Befund nach strengen Maßstäben der Erforderlichkeit gefährdeten ande-
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ren Personen (Anstaltsbediensteten ebenso wie Mitgefangenen) zur Kenntnis zu bringen. Größte Zurückhaltung sei geboten, sofern es um die Aufklärung außenstehender Dritter (Familienangehörige, Intimpartner, Kontaktpersonen bei Vollzugslockerungen, externer Arbeitgeber u.ä.) gehe. Herr Gähner sagte, daß man sich bekanntlich bei ungeschütztem Gechlechtsverkehr und beim Spritzentausch infizieren kann. Deswegen sei ihm unverständlich, warum der Anstaltsleiter wissen sollte, welcher Gefangene positiv sei. Ferner erwähnte er das sogenannte Verkehrsverbot, das sich nicht auf den Geschlechtsverkehr beziehe. Er berichtete dann von einem Vorfall aus dem Jahre 1989, bei dem während eines Streits zwischen einem Gefangenen und einem Bediensteten der Gefangene, der sich als AIDS-krank ausgab, dem Bediensteten angedroht habe, ihn zu beißen, wenn er ihn nicht in Ruhe lassen würde. Weil er ihn nicht in Ruhe ließ, habe er ihn gebissen. Der arme Beamte habe danach am ganzen Körper gezittert. Seine Ehefrau erkundigte sich bei ihm (Herrn Gähner) über Möglichkeiten der Ansteckung. Er habe ihr gesagt, daß in der Medizin bis heute nur ein Fall bekannt sei (ein Kind soll ein anderes Kind gebissen haben), wo sich ein Mensch durch den Biß eines anderen Menschen mit dem HIV-Virus infiziert habe. Er stelle sich schlecht vor, daß so etwas passieren kann, da die im Speichel vorhandenen Viren in so geringer Menge vorkämen, daß sie für eine Infizierung nach menschlichem Ermessen nicht ausreichen. Er erwähnte übrigens, daß die neue Auflage der Broschüre "Positiv, was nun?" in Nordrhein-Westfalen nicht mehr verboten sei; die frühere sei verboten worden, wegen der Bezeichnung für Gefängnis: "Knast", die nach Meinung der Behörden das geordnete Zusammenleben in der Anstalt gefährde. Man habe deshalb in der neuen Auflage alles vermieden, was von den Anstalten als Boshaftigkeit bezeichnet werden könne. Herr Tobis berichtete in seinem Vortrag, daß im polnischen Strafvollzug seit 1991 verboten worden sei, Bemerkungen über die HIV-Infizierung in die Personalakten der Gefangenen einzutragen - außer in den ausschließlich individuellen ärztlichen Unterlagen. Ferner sagte er, daß es in den Verfahrensnormen des Generaldirektors der ZVStA in Bezug auf die (festgestellten oder verdächtigen) Virusträger u. a. empfohlen worden sei, Bedingungen für die Einhaltung des ärztlichen Geheimnisses bezüglich der HIV-Infizierung aufzunehmen. Ausnahmen gelten nur für Personen, die andere mit absichtlicher Infektion bedrohen, sowie für diejenigen, die selbst kundtun, daß sie HIV-Virusträger sind. In seinen Schlußbemerkungen zur ärztlichen Schweigepflicht antwortete Herr Geppert zunächst auf die Frage von Herrn Gähner, nämlich weshalb der Anstaltsleiter wissen soll, ob der einzelne Gefangene positiv ist oder nicht. Herr Geppert meinte, daß der Anstaltsleiter, der die Gesamtverantwortung für den Vollzugsapparat nach innen und nach außen trage, das wissen müsse, denn er sei derjenige, der auch den Kopf hinhalten müsse, wenn irgend etwas schief geht. Diese seine Mei-
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nung diene auch gleichzeitig der Entlastung des Anstaltsarztes von Aufgaben, für die er nicht ausgebildet und für die er nicht vorgesehen sei. Der Anstaltsarzt habe diese Informationen der Anstaltsleitung zu geben, und diese habe im Zusanlmenwirken mit dem Anstaltsarzt dann dafür zu sorgen, daß das nach dem Maßstab der Erforderlichkeit weitergegeben wird; und hier habe er (Herr Geppert) auf Zurückhaltung gedrängt. VI. Substitution im Strafvollzug Der Referent hatte die These vertreten, daß auch im Vollzug von den Möglichkeiten der Substitutionsbehandlung, d. h. der intravenösen Behandlung von Heroinabhängigen mit (suchterhaltenden) Ersatzdrogen wie Methadon, Polamidon, Ritalin u.ä., Gebrauch zu machen sei. Dies solle insbesondere bei bereits an AIDSerkrankten Gefangenen der Fall sein, die meist nicht mehr die Kraft zu einem Entziehungsverfahren einschließlich des notwendigen therapeutischen Begleitprogramms aufbringen können, sowie gegebenenfalls auch zur Entlastungsvorbereitung und über den Entlastungszeitpunkt hinaus. Herr Gähner berichtete, daß wegen der Substitution bis 1988 schon einige Verurteilungen erfolgt wären; deswegen habe sich die AIDS-Enquete Kommission nicht dazu bereit finden können, sich genauer zu erklären. Er selbst sei um Ergänzung gebeten worden und habe dabei festgestellt, daß 95 % der HIV-positiven Gefangenen in bundesdeutschen Vollzugsanstalten durch Drogengebrauch infiziert worden seien. In seiner Haftzeit seien in der Teilanstalt, wo er inhaftiert war, von 230 Gefangenen ungefähr 140 drogenabhängig gewesen. Von diesen 140, die auch im Strafvollzug weiter Drogen gebraucht hätten, lebten heute ungefähr noch vielleicht 60. Nicht alle übrigen seien an AIDS gestorben, aber alle diese 80 Personen seien positiv gewesen und haben zum Teil durch eine Überdosis ihr Leben beendet. Er berichtete ferner, daß die Substitution im Strafvollzug inzwischen glücklicherweise in vielen Bundesländern üblich sei. Der Modellversuch in Bremen sei äußerst erfolgreich beendet worden und zeitweise seien in Bremen von 600 Gefangenen 60 mit Methadon substituiert worden. Es gebe Erlasse in Hessen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin, wo die Methadon-Behandlung im Vollzug gebraucht werde. Die Bremer sagen, es sei ihnen egal, was für Richtlinien von der Bundesärztekammer erstellt worden sind, bei ihnen könne jeder Arzt behandeln, wie er wolle. In Berlin und Hamburg können Gefangene, die substituiert werden sollen, den sog. Ethikkomrnissionen vorgestellt werden, und die stimmen dann zu. Dazu müßte eine gefährliche Infektion vorliegen, die nicht unbedingt eine HIV-Infektion zu sein brauche. Es genüge z. B. Hepatitis, die übrigens viel leichter übertragen werde als der HIV-Virus. Die neue Senatorin von Berlin habe neulich gesagt, sie hätte keine Schwierigkeit, probeweise in einigen Bereichen sterile Spritzenbestekke zu verteilen. 18 AIDS und Strafrecht
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Herr Nestler stimmte Herrn Geppert im allgemeinen zu, er sagte aber, daß er seine Ansicht noch stärker begründen würde: Er meinte, daß derselbe Gesetzgeber, der um eine drogenfreie Gesellschaft kämpfe und frei von dem Verdacht irgendwelcher Legalisierungsforderungen sei, im Herbst 1992, in der gleichen Änderung des Paragraphen 13 des Betäubungsmittelgesetzes, der die Substitutionsprogramme regelt, klargestellt habe, daß auch diese Programme, neben anderen Therapien, Behandlungen der Drogenabhängigkeit gemäß Paragraph 13 seien. Daher sei die Rechtslage auch für die Strafvollzugssituation ganz eindeutig. Er erwähnte noch zwei tatsächliche Argumente. Das erste war, daß man sich den Entzug von Heroin, der bei Gefangenen regelmäßig in der V-Haft stattfindet, normalerweise sehr viel dramatischer vorstelle als er ist. Die Gefangenen bekommen nämlich ein Paar Medikamente vom Arzt, dann gehe es ihnen zwei Tage lang ziemlich schlecht, dann aber gehe es ihnen immer besser, und nach 14 Tagen VHaft sei der physische Entzug vorbei. Dann fühle man sich gesundheitlich ziemlich normal und sei wenigstens nicht mehr heroinabhängig. Das Problem sei dann die psychische Abhängigkeit. Der Methadonentzug aber sei sehr viel beschwerlicher und auch medizinisch komplizierter. Außerdem begehen diese Menschen weiterhin - wenn auch in kleinerem Maße - Delikte und kommen auch in Haft. Wenn die Strafvollzugsanstalten sich dann, wie etwa in Frankfurt, nicht darauf einstellen, daß man diesen Menschen sofort dort weiter Methadon geben muß, dann würde ihre Situation unter medizinischen Gesichtspunkten höchst problematisch. Als zweites tatsächliches Argument erwähnte er, daß viele von diesen Menschen aus der Haft entlassen würden und in eine Lebenssituation kämen, die noch schlechter sei, als die vor der Haft, als sie Drogen genommen hatten. Dann folgen sie demselben Muster und versuchen ihre Lebenskonflikte erneut durch Drogeneinnahme zu lösen. Sie seien aber nicht mehr auf die Höhe der Dosierung eingestellt, auf die ein Drogenabhängiger normalerweise eingestellt sei. Darum sei die Gefahr der Überdosierung riesig. Experten sagen, daß ein beträchtlicher Teil der Todesfälle unter Drogenabhängigen Menschen betreffe, die aus dem Gefängnis oder aus Therapien entlassen worden sind und die an die richtige Heroindosis noch nicht gewöhnt und deshalb der Gefahr der Überdosierung ausgesetzt seien. Es gebe also - sowohl bei der Aufnahme in die Haft als auch im Hinblick auf die Entlassung - große Gefahren. Zum Schluß sagte Herr Geppert, daß die Frage der Substitutionsprogramme sehr wichtig sei. Er freue sich, daß von Herrn Gähner bestätigt wurde, daß es inzwischen auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen Substitutionsprogramme gibt.
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VII. Haftentlassung
Zur Frage der Haftunterbrechung war Herr Geppert der Ansicht, daß eine HIVInfizierung für sich allein nicht zur Haftuntauglichkeit führe. Ferner, daß AIDS-bedingte Haftunterbrechungen nur dann statthaft seien, wenn adäquate Behandlungsmöglichkeiten in einem Vollzugshaus nicht gewährleistet sind. Herr Künsemüller hat von einem Fall aus seiner eigenen Erfahrung berichtet: Er erzählte, daß vor einem Gericht in Santiago/Chile, wo er als Richter tätig ist, folgender Fall gelaufen sei: Ein Gewalttäter, der wegen vier oder fünf Raubfallen beschuldigt werde, befinde sich seit drei Jahren in U-Haft, während der Prozeß im Gange sei. Er sei, ebenso wie seine Frau und sogar sein kleines Kind, HIV-infiziert. Die Frau befinde sich auch im Gefangnis, weil sie ebenfalls eine Straftat begangen habe. Der Antrag auf Entlassung des Mannes aus der U-Haft gegen Bürgschaft sei aber vom Gericht abgewiesen worden, weil das Gericht, wie es im chilenischen Recht vorgesehen sei, befunden habe, daß er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Das Gericht habe also eine sehr schwere Entscheidung zu treffen gehabt: Was hätten die Richter mit diesem Mann machen sollen? Hätte man ihn befreien oder für unabsehbare Zeit in der U-Haft lassen sollen? Herr Künsemüller selbst habe dafür gestimmt, daß der Mann entlassen werden soll. Diese Meinung habe er auch schriftlich vorgelegt; die anderen Richter seien aber einer anderen Meinung gewesen. Sie alle hätten dabei vor einer Interessenkollision gestanden und hätten zu einer schwierigen Entscheidung gelangen müssen. Und das seien Probleme, die man als Richter habe. Herr Höpfel berichtete, daß das österreichische Strafvollzugsgesetz seit dem 1. Januar 1994 die Regelung kenne, daß das Strafvollzugsgericht jemanden, der während der Haft schwer erkrankt, zu entlassen habe. Bisher habe man in Österreich einige Schwierigkeiten mit der Regelung der nachträglichen Feststellung der Strafvollzugsuntauglichkeit gehabt, da nach ihr verlangt wurde, daß etwas hervorkam, was schon zu Beginn des Vollzuges vorlag. Das könne man aber bei der dynamischen Entwicklung von AIDS oft nicht behaupten. Bis dahin wäre die Lage unsicher, andererseits habe sie auch dazu geführt, daß einzelne, bloß infizierte, aber noch nicht erkrankte Gefangene, ebenfalls die Strafvollzugsuntauglichkeit bescheinigt bekommen hätten. Das habe aber wohl verschiedene Ungerechtigkeiten und Ungleichmäßigkeiten enthalten. Herr Spinellis teilte mit, daß neulich auch in Griechenland durch Gesetz 2172/ 1993 eine neue Vorschrift ins StGB eingeführt worden sei, wonach AIDS-Kranke aus der Haft entlassen werden sollen. Herr Tobis hat in seinem Bericht erwähnt, daß im polnischen Strafvollzug die ZVStA mit ihrem Schreiben vom 24. 06. 90 erklärt habe, daß die Ärztekommission Befunde über die Notwendigkeit der Unterbrechung einer Freiheitsstrafe oder der Entlassung aus der U-Haft nur dann abgeben solle, falls AIDS-Symptome festgestellt werden. Im allgemeinen werde den ärztlichen Ausschüssen empfohlen, die 18*
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eventuelle Unmöglichkeit der Behandlung der HIV-Infizierten in den Gefängniskrankenhäusem in ihren Befunden über den Gesundheitszustand der sich um die Unterbrechung der Haft bemühenden Gefangenen zu berücksichtigen. Zum Schluß sagte der Referent Herr Geppert, daß es auch in der Bundesrepublik eine derartige Vorschrift über die Haftunterbrechung gebe. In diesem Bezug wäre es in den Kreisen der Gefangenen eine große Sorge, daß von der Möglichkeit der Vollstreckungsunterbrechung oder des Abbruchs im Hinblick darauf nicht Gebrauch gemacht werde, wenn der Betreffende HIV-positiv ist. In seinem Referat sei auch davon die Rede. Er habe aber in der Rechtsprechung derartiges nicht entdecken können. Er sei selbstverständlich völlig damit einverstanden, daß die Frage der Hafttauglichkeit so entschieden werden müßte, wie sie eines Rechtsstaates würdig und unverzichtbar sei; auf sie müßte Rücksicht genommen werden.
Sinn oder Unsinn kriminalrechtlicher AIDS-Prävention? Zugleich Versuch eines vorläufigen Resümees! Von Wilfried Bottke Erbeten ist ein Schlußwort. Ein solches Wort schlösse ab, was angegangen wurde; vielleicht schlichtete oder begütigte es gar, was vorher in Streit geriet. Jedoch, solange AIDS incurabel ist und Menschen in der Gefahr und in der Not sind, HIVinfiziert zu werden und todbringend an AIDS zu erkranken, wird es ihnen kein gutes Ende geben. Auch die rechtswissenschaftliche Debatte hat im Streben nach richtigen Aussagen keinen Schluß. Sie dauert als kollektive Anstrengung fort. Sie ist nicht durch den ,Wahrspruch' eines einzelnen beendbar. Sie ist durch einen einzelnen allenfalls beförderbar, indem dieser von ihm oder von anderen in diskursiver Argumentation prüfbare Hypothesen aufstellt. Wer an oder nach dem Ende eines Symposiums Schlußworte spricht, sei nicht Schiedsrichter oder Besserwisser, auch wenn und soweit er im Besitze der Arbeiten anderer war. Geäußert seien im Mut zur etwaigen Selbstkorrektur nur einige, durchaus auch selbstkritische2, Gedanken. Diese mögen das reflektieren, was mir den Streit der Meinungen auf dem Symposium charakterisierte. Dabei sei es angesichts seiner internationalen Ausrichtung gestattet, vornehmlich der symposial kontroversen Gesamtkonzeption und der umstrittenen Definiton erlaubten/unerlaubten Risikos bei HIV-transmissiven Sexualkontakten nachzugehen. Fragen der nationalrechtlichen Straftatdefinition HIV-transmissiver Kontakte seien vorrangig im Hinblick auf anläßlich des Symposiums neuentwickelte Thesen bedacht. Probleme der Strafzumessung gegenüber HIV-Infizierten, des Strafvollzuges an HIV-Infizierten, der Testung und der InforI Ich danke auch an dieser Stelle herzlich Herrn Kollegen Professor Dr. Szwarc sowie allen seinen Mitarbeitern für die mir in Posen erwiesene Gastfreundschaft. Mein besonderer Dank für die Mitarbeit bei der Erstellung dieses Beitrages gilt Herrn stud. jur. Jörg Streißle. 2 Meine Stellungnahmen zur HIV/ AIDS-Problematik sind enthalten in: Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff.; Bottke, Die Immission infektiösen Ejakulats bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr zwischen HIV-Infizierten und mindeIjährigen Jugendlichen, in: AIFO 1988, S. 628 ff.; Bottke, Transmission of the AIDS VIrus as a Criminal Law Problem - Übertragung des AIDS-VIrus als Strafrechtsproblem, in: AIFO 1989, S. 152 ff.; Bottke, Rechtsfragen beim ungeschützten Geschlechtsverkehr eines HlV-Infizierten, in: AIFO 1989, S. 468 ff.; Bottke, Criminal Law and AIDS, in: Loimer/Schmid/Springer, Hrsg., Drug Addiction and AIDS, 1991, S. 340 ff.; Bottke, AIDS und Recht, in: AIFO, 1993, S. 419 ff., 471 ff.; Bottke, Sida Et Droit En Republique Federale D'Allemagne, in: Foyer/ Khaiat, Hrsg., Droit et Sida. Comparaison internationale, 1994, S. 21 ff.
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mationsweitergabe, der Begründung und des Abbruchs von Schwangerschaft und der unterlassenen Hilfeleistung sind, namentlich bei rechtsvergleichender Betrachtung, allzu komplex, um in dem mir zur Verfügung stehenden Raum über das durch die vorstehenden Beiträge hinaus Geschehene beleuchtet werden zu können.
A. Fremdrisikohütung und/oder Eigenvorsorge, Repression und/oder Aufklärung? I. Weltweit sollen gegen Ende 1994 mehr als vier Millionen Menschen am ,vollbild AIDS ,3 erkrankt sein; ca. 17 Millionen sollen, Angaben der WHO zufolge, HIV-Träger sein 4 . Die Chancen, einen Impfstoff zu finden, der Gesunde vor der Infektion mit dem Virus in transmissiven Kontakten bewahrte und das beste ,medizintechnische' Mittel eigensorglichen Schutzes gegen Infektion wäre, werden skeptisch beurteilt5 • Der Übergang von einer HIV-Trägerschaft zum ,AIDS Related Complex' (ARC)6 ist derzeit medizintechnisch nicht verhinderbar, sei die Latenzperiode auch lang und helfe ein sorgsamer Lebenswandel7 sie verlängern. Der Schritt vom ARC zu AIDS kann durch Heilbehandlung ebenfalls nicht vermieden werden, mag sein Zeitpunkt auch ungewiß 8 und hinausschiebbar sein. Erkrankt der HIV-Tager und am ARC Leidende an AIDS, ist sein Sterben bislang nur aufschieb3 Anstelle des englischsprachigen Akronyms ,AIDS' (Acquired Immune Deficiency Syndrome) gebrauchen romanische Sprachen das Akronym" ,SIDA' (z. B.: Sfndrome d'immunodeficiencia adquirida). 4 Nach Angaben der WHO waren Mitte 1994 ca. 17 Mio. Menschen mit HIV infiziert. Täglich infizieren sich 6000 Menschen mit dem Virus, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 1. 12. 1994, S. 16. Weitere Statistiken siehe AIDS-Zentrum im Bundesgesundheitsministerium, Bericht zur epidemiologischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland zum 31. 12. 1993. 5 Zu den Chancen der Erarbeitung eines Impfstoffes vgl. Haynes, Scientific and Social Issues of Human Immunodeficiency Virus Vaccine Development, in: Science, vol. 260, 1993, S. 1279 ff.; J. SalklBretscherlR. SalklClericilShearer, A Strategy for Prophylactic Vaccination Against HIV, in: Science, vol. 260, 1993, S. 1270 ff. 6 Das ARC benennt einen im Vergleich zum Vollbild AIDS weniger ernsthaften Schwächezustand des menschlichen Immunsystems. Dieses Vorstadium ist durch klinische Symptome, wie gröBeren Gewichtsverlust, wiederholtes Fieber und Durchfalle, gekennzeichnet. Vgl. Sicklick/Rubinstein, A Medical Review of AIDS, Hofstra Law Review, 14, 1985, S.5 f. m.w.Nachw. des medizinischen Schrifttums. 7 Zu den Möglichkeiten das Immunsystem zu stärken, vgl. SchlumbergerlRuoff/Schrinner, AIDS - Überblick und derzeitiger Stand der aktiven Chemotherapie, in: notabene medici 6, 1992, S. 274 ff. Auch von daher wäre das Wissen um erfolgte Infektiosität zu wünschen. 8 Die Inkubationszeit bis zum Ausbruch von AIDS beträgt bis zu 12 Jahre, vielleicht auch darüber hinaus, vgl. Hehlmann, HIV-Infektion: Verlaufsformen und Definitionen, in: AIFO 1988, S. 41 ff, 42; Kurth, Das humane Immundeffizienzvirus HIV: Struktur und Pathogenese, in: Fischer/Schlote, Hrsg., AIDS und Nervensystem, 1987, S. 9 ff., 21; Weiss, How Does HIV cause AIDS, Science, vol. 260, 1993, S. 1279 ff.
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bar. Ob AIDS je geheilt werden kann, ist offen9 . Die Epidemie macht nicht vor den Grenzen eines Staates halt. Keine AIDS-Präventions strategie, die nicht in entsprechende Bemühungen anderer Staaten eingebettet ist, kann die Verbreitung der Virusträgerschaft stoppen lO • Mittel- und langfristig werden die Kosten der Betreuung von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken ansteigen. 11. Das Fehlen eines Impfstoffes, eines Hemmungsmittels, das eine erfolgte HIV-Infektion am Umschlagen in AIDS hinderte, und eines Heilmittels, das der Krankeit AIDS ihr letales Ende nähme, machen der AIDS-Politik 11 die Eindämmung weiterer Verbreitung von Virusträgerschaft durch Akte nicht medizintechnischer Art 12 dringlich. 1. Als solche Akte kommen solche der Aufklärung und Beratung in Betracht, die die gesunden Kontaktpartner von Infizierten zur Eigenvorsorge veranlassen. Solche Eigenvorsorge 13 potentiell Neugefährdeter kann sein die Meidung möglicherweise virustransmissiver Kontakte 14 . Sie kann geschehen durch eigenvorsorgliche Paralysierung oder signifikante Minderung etwaigen Infektionsrisikos in etwaig oder realiter virustransmissiven Kontakten, etwa durch den Gebrauch von 9 Zu den Aussichten ein Heilmittel gegen den Ausbruch von AIDS bei erfolgter HIV-Trägerschaft oder gegen das letale Ende von ausgebrochener AIDS-Erkrankung zu finden, vgl. Johnston, Hoth, Present Status and Future Prospects for HIV Therapies, in: Science, vol. 260, 1993, S. 1286 ff.; SchlumbergerlRuoff/Schrimmer, AIDS - Überblick und derzeitiger Stand der antiviralen Chemotherapie, in: notabene medici 6, 1992, S. 274 ff. 10 Schon deshalb wäre der Einsatz strafrechtlicher Repressionsmittel in einem Staatsgebiet wenig nützlich, wenn er nicht auf den Beistand entsprechender Bemühungen in anderen Jurisdiktionen rechnen könnte; ohne ein international abgestimmtes Gesamtkonzept ist ein nationalstaatlicher Alleingang kaum von AIDS-prophylaktischem Wert. 11 Vgl. zur AIDS-Politik in der Bundesrepublik Deutschland den Endbericht der EnqueteKommission des 11. Deutschen Bundestages, AIDS. Fakten und Konsequenzen, 1990, BTDrucks. 11/7200; vgl. dazu Bottke, AIDS und Recht, in: AIFO, 1993, S. 419 ff., 471 ff. Vgl. allgemein Böllinger, Sexualität und Politik. Soziale Kontrolle im Zeitalter ,befreiter' Sexualität - Das Beispiel AIDS, in: KritJ 1988, S. 51 ff.; (Kritik am Bayerischen Maßnahmekatalog übend) Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat. Aufklärung, Zwang, Prävention, 1988 (mit Rezension von Bruns, KritJ 1988, S. 469 ff.); Kirp/Bayer, Hrsg., AIDS in the Industrialized Democracies. Passions, Politics, and Policies, 1992; Prittwitz, Hrsg., Aids, Recht und Gesundheitspolitik, 1990, insb. Einleitung, S. 76 ff.; Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff. 12 Die Vorsorge dagegen, daß Blutprodukte oder Organimplantate viruskontaminiert sind, ist medizintechnisch zu leisten. Vgl. dazu Richtlinien zur Blutgruppenbestimmung und Bluttransfusion, in: Bundesgesundheitsblatt 2/92, S. 96 ff. 13 Vgl. zu den Möglichkeiten der Eigenvorsorge Niki de Saint Phalle/Barandun, AIDS, vom Händchenhalten kriegt man's nicht, rororo 1290. 14 Nach hinreichender Erfahrung sind solche Kontakte durch die Einbringung von virusinfizierten Körperflüssigkeiten in den Körper eines anderen gekennzeichnet, vgl. Jipp, Ätiopathogenese und Klinik des erworbenen Immundefektsyndroms (AIDS), in: MedR 1987, S. 257 ff., 257; Laufs/Laufs, AIDS und Arztrecht, in: NJW 1987, S. 2257 ff., 2259; Petermann/Curran, Sexual Transmission of Human Immunodeficiency Virus, in: JAMA 1986, S. 2222 ff., 2222.
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Einwegspritzen, erhöhte Achtsamkeit bei der Versorgung von Virusinfizierten oder durch ,safer sex'. 2. Als solche Akte kommen solche der Aufklärung und Beratung in Betracht, die möglicherweise Infizierte zur Testung und bestätigt Injizierte zur Fremdrisikohütung, zur Hütung des von ihrem Infektionsstatus ausgehenden Fremdrisikos, auffordern; sie können durch die Betreuung erkannt Infizierter und Erkrankter ergänzt werden. 3. Und als Akte der AIDS-Politik kommen Inpflichtnahmen und Repression pflichtwidrigen Verhaltens von Injizierten und Nichtinjizierten in Frage. Diesen Charakter trügen z. B. 15 schon Zwangstestungen oder Austestungen vorhandener Körperflüssigkeiten ohne Zustimmung des auf seinen Infektionsstatus Erforschten. Repressionsnah wäre die Behandlung von Testunwilligen (etwa im Strafvollzug), als seien sie infiziert. Repression wäre (im deutschen Strafrecht de lege lata) die Bejahung von Strafbarkeitsrisiken aufgrund von Normen der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte l6 , die Individualrechtsgüter schützen. Diese Bejahung ginge zu Lasten von Virusträgern oder Nichtinfizierten 17, die anderen (Risikoblinden oder relevant Schlechterwissenden) in pflichtwidriger Ausübung von Herrschaft über HIV-infizierte Körperflüssigkeit das tatbestandsmäßige Risiko einer Neuinfektion zufügen. Repression wäre (im deutschen Strafrecht l8 de lege ferenda) die Schaffung einer Deliktsvorschrift, die als lex specialis ohne Rücksicht auf Wissen oder Nichtwissen und etwaige Vermeidemacht des gefährdeten Partners eines virustransmissiven Kontaktes die Volksgesundheit durch einen Gefährdungstatbestand schützte l9 . IH. Umstritten war und ist, auf welche Weisen der erwünschte Dämmeffekt erreicht werden kann und soll. Denn ein Gesamtkonzept, das die Wahl zwischen oder 15 Repressiv ist auch die Ausgrenzung von HIV-Infizierten oder Personen ohne negatives Testergebnis aus dem Kreis Einreisebefugter. Die USA verweigern angeblich HIV-Infizierten die Einreise; vgl. Süddeutsche Zeitung, Magazin vom 25. 11. 1994, S. 34. Rußland verlangt angeblich von allen einreisenden Ausländern die Vorlage eines negativen Testergebnisses, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 1994, S. I. 16 Vgl. zur Diskussion der Anwendung der §§ 223 ff., 211 ff. StGB zuletzt Scherf, AIDS und Strafrecht. Schaffung eines Gefährdungstatbestandes zur Bestrafung ungeschützten Geschlechtsverkehrs, 1992, S. 46 ff.; Scheuerl, AIDS und Strafrecht. Die Strafbarkeit HIV-infizierter Personen beim Vollziehen sexueller Kontakte, 1992, m.w.Nachw. 17 Wer HIV-kontarninierte Blutprodukte in den Güter- oder Dienstleistungsverkehr bringt, übt über den virustransrnissiven Gebrauch solcher Produkte bei Nichtwissen des Produktkontakters über den Infektionsstatus Herrschaft aus. 18 Anders läge es, wenn die HIV-Trägerschaft gesetzlich als Geschlechtskrankheit definiert (worden) wäre, vgl. § 6 GeschLKrankG (Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Fassung vom 2. März 1974, BGBI. 1974 I S. 469). In Österreich ist die HIV-Trägerschaft durch §§ 178 f. öStGB erfaßt. 19 Ein entsprechender abstrakt-konkreter Gefährdungstatbestand ist für das spanische Strafrecht durch Mir PuiglLuzon-PeiiaJSilva Sanchez formuliert und vorgeschlagen worden, vgl. Mir Puig, Hrsg., Problemas juridicos penales dei sida, 1993.
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die Bündelung von mehreren, u.U. gegeneffektiven Strategien steuerte, ist nicht konsentiert. Ist allein oder (ver)mehr(t) auf repressionsfreie oder repressionsarme Maßnahmen zu setzen, die die risikowehrende Eigenvorsorge virtuell Infektionsgefährdeter stimulieren? Sind retributive Kostenproduktionen gegen den Imitationsreiz straftatlicher Normbrüche durch tatschuldentgeltende Strafen jenseits aggressiver Handiungen 20 allein oder vornehmlich noch gegenüber Personen legitim und appellativ sinnvoll, die HIV-kontaminierte Produkte 21 oder Organteile nutzen/kostenkalkulierend vertreiben? Sind derartige Retributionsakte illegitim und/oder abrätlieh in der seuchenpolitisch ganz überwiegenden Menge an Sachverhalten, in denen HIV-Träger mit anderen Personen in einen an sich aggressionsfreien oder gar liebenden Kontakt treten? Oder sind auch repressive Eindämmungsmittel geboten und anrätlieh, die jeden Infektionsträger (nicht nur als hilfsbedürftigen Vorerkrankten, sondern auch) als eigenkörperlichen Grund weiterer Fremdinfektionen sehen und in eine sanktionsbewehrte Pflicht der Fremdrisikohütung nehmen? Ist der ubiquitäre (weil auch ,normale' soziale Kontakte treffende) Einsatz punitiver Pflichtbewehrungen mit den Erfordernissen einer effektiven AIDS-Prophylaxe und mit den Belangen einer humanen, grundwerteadäquaten Betreuung Erkrankter vereinbar oder unvereinbar? Sind allseitige Straftatannahmen und Straftatschaffungen realitätsferner Ausdruck strafrechtshaberischer, weil ,dogmatischer' Omnipotenzgelüste, per saldo aber für den erwünschten Eindämmungseffekt eher kontraproduktiv? Schwächen strafrechtliche Sanktionen unterlassener Fremdrisikohütung die gemeine Bereitschaft, als Nichtinfizierter selbst eigenvorsorglich zu handeln, zu Schaden effektiver AIDS-Prophylaxe ab? Veranlassen Kriminalisierungen und Straftatverfolgungen Virusträger dazu, zwar nicht fremdinfektiöse Sozialkontakte zu meiden, wohl aber eigene Strafrisiken dadurch zu minimieren, daß sie sich, solange es bei beängstigter HIV-Trägerschaft nur irgend geht, kein Wissen über ihre HIV-Trägerschaft, eigene Infektiosität und etwaige Fremdgefährlichkeit verschaffen? Erschweren Strafbarkeiten unzumutbar die notwendige Betreuung von HIVInfizierten und AIDS-Erkrankten? Drängen sie diejenigen, auf denen ohnehin eine grausame ,poena naturalis' lastet, in die Heimlichkeit und von einer Betreuung ab, die ihnen repressionsfrei Verantwortungsbewußtsein und den fremdrisikohütenden Umgang mit ihrem Infektionsstatus nahebringt? 1. Die politische Sorge, der Einsatz strafrechtlicher Mittel sei einer effizienten und verfassungskonformen AIDS-Gesundheitspolitik eher ab- als zuträglich, war der Diskussion der Rechtsprobleme von AIDS von Anfang an eingestiftet22 . Sie
20 Vgl. in diesem Band den Duisburger Fall bei Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, I. Ausgangsfall und Überblick. 21 Vgl. zur Verseuchung von Blutprodukten auf Grund ungenügender Vorsorge und der strafrechtlichen Haftung der für ungenügende Kontrolle oder den Vertrieb Verantwortlichen, Richtlinien zur Blutgruppenbestimmung und Bluttransfusion, in: Bundesgesundheitsblatt 1992, S. 96 ff.
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begleitete, unbeschadet des Reizes und der Intensität strafrechtswissenschaftlicher Feinarbeit, leitmotivisch auch das Posener Internationale Symposium "Aids und Strafrecht" und die dort geführten Diskussionen. a) Zugegeben, Konsens bestand noch darüber, daß fremdrisikoschaffende Kontakte zwischen HIV-Trägem und Kontaktpartnern nicht in einem rechte- und rechtspflichtenfreien Raum siedeln. Denn es gibt kein Sonder(meta)recht für HIV-Träger, das diese von stratbewehrten Jedermannspflichten freistellte. Dies hat auch seinen guten Grund. HIV-Infizierte sind de constitutione lata, de lege gentium23 et de pacto associationis weder negativ noch positiv zu diskriminieren. Sie sind und bleiben Bürger. Sie werden weder durch ihren Infektionsstatus noch durch etwaig von ihnen ausgehende Gefahren oder Zweitinfektionen Feinde der Gesellschaft. Sie sind, weil sie von Erkrankung und Tod bedroht sind, von Leid gefangen. Sie sind vorrechtlieh schwach. Vornehmste Aufgabe sozialstaatlichen Rechtes ist, den vorrechtlieh Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen. HIV-Infizierte und erst recht AIDS-Erkrankte haben Anspruch auf jede mögliche Hilfe und jeden leistbaren Schutz. Sie haben die jedermann zustehenden Rechte. HIV-Träger unterliegen, soweit ihnen erfüllbar, den jedermann obliegenden Pflichten. Sie haben die Dignität, wie Nichtinfizierte gleichbegabte und gleichbeaufgabte Gebots- und Verbotsadressaten zu sein. Zu den Jedermannspflichten zählt auch das Gebot, den Rechtsgütern (will sagen: den strafverfassungsrechtlich 24 anerkannten Dispositionshoheiten über Rechtsgutsobjekte, hier: Gesundheit und Leben 25 ) anderer (durch dispositionswidrige Organi22 Vgl. Bruns, Nochmals: AIDS und Strafrecht, in: NJW 1987, S. 2281 ff.; Bruns, AIDS, Alltag und Recht, in: MDR 1987, S. 353 ff.; Bruns, Ein Rückschlag für die AIDS-Prävention, in: MDR 1989, S. 199 ff.; Herzog/Nestler-Tremel, AIDS und Strafrecht - Schreckensverbreitung oder Normstabilisierung?, in: StrV 1987, S. 360 ff.; von Hippel, AIDS als rechtspolitische Herausforderung, in: ZRP 1987, S. 123 ff. (dazu Bruns, ZRP 1987, S. 217 ff. mit Replik von von Hippei, ZRP 1987, S. 258); Kreuzer, Strafrecht als Hindernis sinnvoller AIDS-Prophylaxe?, in: NStZ 1987, S. 268 ff.; Kreuzer, AIDS und Strafrecht, in: ZStW 100, 1988, S. 786 ff.; Prittwitz, Aidsbekämpfung - Aufgabe oder Selbstaufgabe des Strafrechts, in: KritJ 1988, S. 304 ff.; Prittwitz, Die Ansteckungsgefahr bei AIDS, in: JA 1988, S. 427 ff., 486 ff.; Prittwitz, Strafbarkeit des HIV-Virusträgers trotz Aufklärung des Sexualpartners, in: NJW 1988, S. 2942 ff.; Prittwitz, Das ,AIDS-Urteil' des Bundesgerichtshofes, in: StrV 1989, S. 123 ff. 23 Nach Art. 26 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte sind Statusdiskriminationen schlechterdings verboten. Statuszugehörigkeit ist damit auch kein dem allgemeinen Gleichheitssatz und Willkürverbot zugängliches Differenzierungsverbot oder -gebot. Status ist nach Art. 26 IPbpR z. B. das Geschlecht oder die Rasse. Status ist (in der englischsprachigen Urfassung des "International Covenant on Civil and Political Rights" von 1966, ratifiziert von nahezu allen Staaten der Erde, nicht dagegen von den USA) auch "another status". Anderer Status ist jede nicht vom einzelnen abänderbare personale Gegebenheit. Dies ist auch das Befallensein von incurabler Krankheit. Vgl. zu Art. 26 IPbpR Bottke, Rule of Law or Due Process as a common feature of criminal process in western democratic societies, in: University ofPittsburgh Law Review, vol. 51,1990, S. 419 ff. 24 Strafverfassung meine den Inbegriff deIjenigen Rechtsnormen, die den nationalstaatlichen Kriminalgesetzgeber binden und ihm werthafte Zustände oder Funktionsbedingungen solcher Zustände als strafschutzfähige Rechts-Güter vorzeichnen.
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sationen sozialer, hier: infektiöser, Kontakte) keine straftatbestandlieh relevanten Gefahren zuzufügen. Wer in einer Gesellschaft, die die reale Erlebbarkeit gleicher Freiheiten für alle will, zu seinem Vorteil die ihm verbürgte Freiheit zur Organisation sozialer Kontakte in Anspruch nimmt, hat im Interesse der realen Freiheit seiner Kontaktpartner fairerweise auch die Last der Fremdrisikohütung zu tragen. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Gefährdung der Kontaktbetroffenen gegen deren Disposition erfolgt. Der Infektionsstatus von Infizierten ist schlimmes Leid. HIV-Träger bleiben dennoch in der Dignität normativ ansprechbarer, gleichbegabter, gleichberechtigter und gleichverpflichteter Bürger. Es widerspräche ihrer Gleichheit mit anderen Normadressaten, sie von der Erfüllung allgemeiner, auch strafbewehrter Verhaltensregeln freizustellen. Ihnen sind weder die Bürde noch die Würde raubbar, normativ ansprechbare Gesellschaftsmitglieder mit gleichen Rechten und Pflichten zu sein. Unter dem Schleier der Unwissenheit eigenen Betroffenseins würden sich alle den Gesellschaftsvertrag Abschließenden verständigerweise darauf einigen, dem Infektionsstatus nicht den Rang eines Rechtsgrundes zur positiven oder negativen Diskrimination zuzumessen, sondern im Interesse gleicher erlebbarer Freiheiten für alle (Nichtinfizierte und Infizierte) jedweder Diskrimination zu wehren. An der Gültigkeit gleichen Strafbegründungsrechtes bei der Bewertung der Organisation infektiöser Kontakte durch Infizierte oder Nichtinfizierte ist im Interesse gleicher erlebbarer Freiheiten für alle nicht zu zweifeln. Es gibt weder für den Vertrieb kontarninierter Blutprodukte oder Organteile noch für die Vornahme anderer infektiöser Kontakte durch Infizierte oder durch Nichtinfizierte einen rechts- oder strafrechtsfreien Raum. b) Indessen, die Gültigkeit der Normen des (jeweiligen26 nationalstaatlichen27 ) Strafrechts für und gegen alle normativ ansprechbaren Normadressaten trägt (unterstellt, die Rechtsnormen würden rechtshermeneutisch korrekt gedeutet und appliziert) die Weisheit der de lege lata zwingenden Normanwendung und etwaigen Straftatverfolgung nicht in sich. Diese Akte kommunizieren allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft vorderhand nur, daß HIV und AIDS keine den Geltungsanspruch des Rechts derogierende Kraft haben. Sie belegen die Existenz von Pflichten zur Achtung der Rechte auf Gesundheit und Leben anderer durch Wissensvermittlung oder durch Hütung der vom eigenen Körper und seiner Befindlichkeit in 25 Ein nicht auf das Individualrechtsgut Leben abstellender Gefährdungstatbestand, der die Volksgesundheit schützte, setzte die schlechthinnige Unstatthaftigkeit der Begründung von Neuinfektionsgefahren durch infektiöse Kontakte voraus. 26 Angesichts der Mobilität breiter Bevölkerungsschichten ist jede rein nationalstaatliehe AIDS-Politik zum Scheitern verurteilt, vgl. RiebeI, AIDS und internationales Recht, in: Gallwas/RiedeIlSchenke, Hrsg, AIDS und Recht, 1992, S. 215 ff. Zur einheitlichen AIDS-Bekämpfungsstrategie der BRD, EU und WHO vgl. Steinbach, Politische Strategien der AIDSBekämfung, in: Gallwas/RiedeIlSchenke, Hrsg., aaO., S. 63 ff., 65. 27 Spezialtatbestände gegen HIV-transmissive Kontakte kennt angeblich im westeuropäischen Ausland nur Österreich; vgl. Horn, Die Behandlung von AIDS in ausgewählten Mitgliedsstaaten des Europarates, in: Gallwas/RiedeIlSchenke, Hrsg., AIDS und Recht, 1992, S. 197 ff., 208 f.; Merl, 2 Jahre österreichisches AIDS-Gesetz, in: MedR 1988, S. 217 ff.
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sozialen Kontakten ausgehenden Fremdrisiken. Sie sind gegen vermuteten oder erwiesenen Normbruch gegenkommunikativ. Sie betonen den Wert normgerechten Verhaltens gegen Unrecht. Sie demonstrieren, daß strafrechtlich bewehrte Jedermannspflichten (etwa das Verbot, keinen anderen an seiner Gesundheit ungestattet zu schädigen) von keinem Normadressaten gebrochen werden dürfen. Sie zeigen, daß anfangsverdachtliche Normbrüche im Rahmen des Möglichen/Zulässigen aufgeklärt und einem Normbruchszuständigen zugeordnet werden sowie daß ausermittelten Straftatschuldigen Kosten in Gestalt aversiver Tatzuordnungsannexe auferlegt werden. Indem sie normbrecherische Organisationen infektiöser Kontakte Individuen als Normbruchszuständigen in publiken Strafverfahren zuordnen, machen sie gemeindeutlich, daß Gefährdung und eventuelles Leid nicht schicksalhaftes Verhängnis sind, das keinen Namen hat, sondern.Werk eines identifizierbaren Veranwortlichen. Indem sie dem Verantwortlichen in Gestalt von tatschuldbedingten Strafen retributive Kosten produzieren, demonstrieren sie, daß der Vorteil der Organisation virustransmissiver Kontakte nicht ohne das Risiko vorteilsübersteigender Kosten zu haben ist28 . Sie wollen so gegen den Imitationseffekt kostenfreier Rechtsuntreue zu communer Normbefolgungsbereitschaft und zur Hemmung von Infektiosität beitragen. Ob dieser Wille nur gesinnungsethisch, nicht aber verantwortungsethisch lobenswerte Tat ist, blieb während des Symposiums und bleibt nach dem Symposium offen. Zwar haben Normbruchsmarkierung, Tatzuordnung und Auferlegung aversiver Zuordnungsannexe gegen die nichtinfizierten Organisatoren HIV-transmissiver Kontakte außerhalb sexuellen Verkehrs und gemeinsamen Gebrauchs von Spritzbesteck beim intravenösen Fixen (id est: gegen die Vertreiber kontaminierter Blutprodukte und Organteile) an der generalpräventiven Plausibilität von tatvorteilsentziehender und tatkostenproduktiver Straftatverfolgung hinreichender Häufigkeit und zureichender Schwere teil. Denn diese Organisatoren sind gewöhnt, ihr Verhalten kosten/nutzenkalkulierend zu organisieren. Hingegen, Sexualkontakte und Fixen werden typischerweise jedoch nicht ,ökonomisch denkend' organisiert. Der Effekt von Straftatverfolgung könnte in diesem Bereich nur in der schädlichen Routine reaktiver Rechtssymbolik bestehen, ohne von überwiegendem, AIDS-prophylaktischem Nutzen zu sein. aa) Wohl setzt eine generalpräventive Strafzwecklehre gemeinhin voraus, gesetzliche Deliktsbeschreibungen und Straf- sowie Maßnahmenandrohungen könnten abschreckenden Effekt haben. Tatverfolgungen hinreichender Häufigkeit gegen gegebene und erfolgreich durch Tatzuordnungen aufgeklärte Anfangsverdachte erschweren bei zureichender Sanktionsschwere Beobachtung und Imitation tatvorteilsbringender Tatbegehung. Sie konservieren so gemeine Normtreue29 • Aber daß 28 Namentlich in Fällen, in denen kontaminierte Blutprodukte oder kontaminierte Organteile auch profitvermittelnd in den Verkehr gebracht werden, wäre auch an eine Tatvorteilskondiktion (durch Verfall) zu denken. Tatkostenproduktive Strafen demonstrieren: ,crime is expensive'; tatvorteilskondiktive Maßnahmen (§§ 11 I Nr. 8, 73 ff. StGB) demonstrieren: ,crime does not pay'. Vgl. zum ganzen Bottke, Assoziationsprävention, 1995.
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speziell auch Ausermittlungen gegebener Anfangsverdachte eines Nonnbruchs und retributive Strafakte nach z. B. ungeschütztem Kontakt seitens eines risikowissenden Infizierten mit einem Risikoblinden re vera einen general- und seuchenpräventiven Effekt haben, der Negativeffekte überwiegt, wird nur erhofft. Solche Hoffnung ist immerhin und doch nur relativ plausibel. Denn: Fixer entsprechen kaum dem Leitbild eines homo oeconomicus, der an mögliche ,Tat'vorteile denkt und diese gegen drohende Verlust- und Kostenrisiken abwägt. Ungeschützten Sexualkontakten ist ab einer gemeinhin erstrebten Intensitätsschwelle die Chance oder das Risiko eigen, Körperflüssigkeit im Partner abzusondern. Solche Kontakte an sich einverständlich durchzuführen, ist (für viele Nichtinfizierte und wohl auch für Infizierte) ein menschliches Grundbedürfnis. Ob die strafrechtliche Bewehrung der Pflicht, keinem anderen ungestattete oder unstattbare Risiken zuzufügen, bedürfniswehrenden Effekt hat, ist zweifelhaft. Nützlicher und humaner könnte sein, vorstrafrechtlich Sexualität nicht als auf diesen Kontakt verkargt und geschützte Sexualität repressionsfrei als erlebenswert zu lehren. Ob der zur Fremdrisikohütung auffordernde Kommunikationsgehalt straftatverfolgender Akte gegen HIV-Infizierte mit insgesamt seuchenpräventiv kontraproduktiven Einbußen an notwendiger Eigenvorsorge durch Gefährdete und an Kooperation bezahlt werden muß, ist ungewiß. Es ist, weil und solange sozialwissenschaftliche Befunde hinreichender Qualität über die positiven und negativen Effekte von Akten der Straftatverfolgung gegen etwaige Nonnbrüche durch Infizierte fehlen, auch nicht wissbar. bb) Das Wort Gustav Radbruchs, der gute Strafrichter habe ein schlechtes Gewissen, trifft auch denjenigen, der in der Situation des Unwissens strafrechtlich gegen HIV-Infizierte agiert. Es geht auch den Strafrechtler an, der solches Agieren für de lege lata geboten erklärt, die Wissensdefizite als Entscheidungslage unter Ungewißheit begreift und wegen des (in Deutschland verfassungsrechtlichen) Schutzgebotes (Art. 2 11 S. 2 GG) den Einsatz aller eventuell partiellen Erfolg versprechenden Mittel für unumgänglich erklärt. Es trifft insonderheit den, der gegen verneinende Stimmen30 in Fällen virustransmissiven, an sich einverständlichen Sexualkontaktes zwischen fremdrisikowissendem HIV-Infizierten und risikoblindem Kontaktpartner bei täterschaftlicher vorsätzlicher Tatrisikozufügung ,harsche' Strafbarkeiten 31 bis hin zu denen der (re29 Zur generalpräventiven Effizienz vgl. Roxin, Strafrecht AT I, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage, 1994, § 3 I Rdnr. 31; Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, in: Festschrift für Jescheck, 2. Bd., 1985, S. 1081 ff. 30 Strafbarkeit des ungeschützten virustransmissiven Sexualkontaktes zwischen risikowissendem Infizierten und risikoblindem Kontaktpartner verneinen z. B. Frisch, Selbstgefährdung im Strafrecht?, in: NStZ 1992, S. 1 ff., 66 f.; Roxin, Strafrecht AT I, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage, 1994, § 11 BI Rdnr. 101. 31 Strafbarkeit des ungeschützten virustransmissiven Sexualkontaktes zwischen risikowissendem Infizierten und risikoblindem Kontaktpartner als Körperverletzungsdelikt bejaht Herzberg, Die Strafandrohung als Waffe gegen Aids? in: NJW 1987, S. 1461 ff., 1462 ff.;
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gelmäßig nur versuchten) Tötungsdelikte32 bejaht. Er memoriert, auf den Erhalt von Gesundheit und Leben sinnend, in dogmatischer Sprache im Extremfall die hochappellative Kraft des jedem bekannten Verbotes: ,Du sollst nicht töten' als stratbewehrten Befehl, keinem anderen, der relevant schlechter als der Infizierte von der Infektiösität des Kontaktes weiß, die Risiken der Virus transmission, der Erkrankung und des Todes zuzufügen 33 • Ihn mag dabei das Wissen leiten, daß vieles, auch eine falsche dogmatische Aussage, allzeit kuriert werden kann, nicht jedoch (derzeit) ein HIV-Infizierter virusfrei, ein AIDS-Erkrankter gesund und ein Toter zum Leben wiedererweckt werden kann. Bereits ein ,bewahrtes Leben' ist ihm in einer dem Lebensschutz verpflichteten Gesellschaft aller Mühe wert. Jedoch, er wird durch jenes Wort an die eventuelle (i.e. vielleicht schließliehe) Verders., Zur Strafbarkeit des Aids-Infizierten bei unabgeschinntem Geschlechtsverkehr, in: NJW 1987, S. 2283 f. Strafbarkeit nach § 229 StGB als lex specialis nehmen an: Schünemann, Die Rechtsproblematik als AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff., 485; Schünemann, Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung, in: JR 1989, S. 98 ff., 92; BGHSt 36, S. 262 ff., 266, wobei jedoch regelmäßig die Absicht der Gesundheitsbeschädigung zu verneinen sei. 32 Bejaht von Arloth, Anmerkungen zu LG München I, Urteil vom 20.7. 1987, in: MedR 1987, S. 290 ff., 291; ders., Anmerkungen zu AG München, Urteil vom 6. 5. 1987, in: NStZ 1987, S. 408 ff., 408; Bottke, Die Immission infiziösen Ejakulats bei ungechützem Geschlechtsverkehr zwischen HIV-Infizierten und minderjährigen Jugendlichen, in: AIFO 1988, S. 628 ff, 637; ders., Strafrechtliche Probleme von AIDS und AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff., 179; Bruns, AIDS, Alltag und Recht, in: MDR 1987, S. 353 ff., 356; ders., AIDS, Prostitution und Strafrecht, in: NJW 1987, S. 693 ff., 693 f.; ders., Nochmals: AIDS und Strafrecht, in: NJW 1987, S. 2281 ff., 2281; Eberbach, Aktuelle Rechtsprobleme der AIDS-Infektion, in: AIFO 1988, S. 307 ff., 308; ders., AIDS und Strafrecht, in: MedR 1987, S. 267 ff., 269; ders., Anmerkungen zu LG Bonn, Beschluß von 15. 5. 1986, in: NStZ 1987, S. 141 ff., 142; ders., Juristische Probleme der HTLV-I1I-Infektion (AIDS), in: JR 1986, S. 230 ff., 232; ders., Rechtsprobleme der HTLV-I1I-Infektion (AIDS), 1986, S. 9; Lang, Strafrechtliche und prozessuale Aspekte des AIDS-Problems, in: AIFO 1986, S. 148 f., 149; Schlund, Juristische Aspekte beim erworbenen Immun-Defekt-Syndrom (AIDS), in: AIFO 1986, S. 564 ff., 564; Spann, Gerichtsmedizinische Aspekte der HIV-Infektion, in: AIFO 1987, S. 669 ff., 700; Zuck, AIDS, in: MDR 1987, S. 460 ff., 462. 33 Gegen Wiederholungen möchte ich mich dagegen verwahren, mir den Satz, ein HIV-Infizierter sei eine "Mordmaschine", zu unterstellen (so zuletzt Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, AIFO 1994, S. 463 ff., 476, Fn. 142 unter Zitierung von Kreuzer, AIDS und Strafrecht, in: ZStW 100, 1988, S. 786 ff., 788. Kreuzer hat diese Wortzuschreibung korrigiert, ZStW 101, 1989, S. 672: ,Jn meinem Beitrag ,Aids und Strafrecht', ZStW 100 [1988], S. 786, wird auf S. 788 in Anm. 9 u. a. das von Bottke auf der Mannheimer Tagung ,Aids und Recht' 1987 gehaltene Referat angeführt. Dies sollte ein Quellennachweis für die gelegentliche Einordnung von HIV-Infektionsverhalten in den Bereich der Tötungsdelikte sein. Soweit - zu meinem Bedauern - der Eindruck entstanden sein könnte, Bottke habe den Ausdruck ,Mordmaschine' benutzt, wäre dies unzutreffend, jener Ausdruck ist von einem anderen Autor gebraucht worden." Ich danke Herrn Kreuzer auch an dieser Stelle herzlich für seine überaus faire Richtigstellung).
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geblichkeit oder gar Schädlichkeit seiner Rede erinnert: Das AIDS-prophylaktisch fatale Gegenteil des Guten kann ihm und seiner strafrechtlichen Bewertung HIVtransmissiver Kontakte das nur Gutgemeinte sein. Dabei macht es letztlich, bei sachgerechter Entwicklung der Strafzumessung gegenüber HIV-Infizierten34 , nur einen strafgraduellen, nicht jedoch qualitativen Unterschied, welche Strafbarkeit bereits bei nur virustransmissivem Kontakt (nach deutschem Strafbegründungsrecht) angenommen wird: Wer ihn als ,Mißhandeln' und vollendete Körperverletzung (nach § 223 I 1. Alt. StGB) wertet, ihn als versuchte (und bei erfolgter Infektion als vollendete) gefahrliche Körperverletzung begreift, oder dem Tatbestand der (versuchten bzw. vollendeten) Vergiftung (nach § 229 StGB) unterstellt, ist genauso der kriminal- und seuchenpolitischen ,Erfolgsfrage' gestellt, wie derjenige, der die gefahrwissende Immission infektiöser Körperflüssigkeit in den Körper eines von der Virustransmissivität nichts oder relevant schlechter Wissenden als Tötungsversuch qualifiziert und sich gegenüber Ansprechbaren gerade von solcher gemeinverständlicher35 ,Krassheit' eine zur Fremdrisikohütung aufrüttelnde Wirkung erhofft. 2. Wenn überhaupt, dann ist dauerhafter Konsens nur bei einer gesamtkonzeptionellen Bündelung repressiver, Eigenvorsorge befördernder und fürsorgerischer Maßnahmen erzielbar, die Infizierten jeden möglichen Schutz gegen negative Diskriminierung und jede leistbare Hilfe angedeihen läßt. Zudem lehrt der bisherige Diskussionsverlauf um die Rechtsprobleme HIV-infektiöser Sozialkontakte, daß die tradierte ,Volksgesundheitspolitik' mit der ,Bekämpfung' von Seuchen und Geschlechtskrankheiten 36 eine Redefigur bemüht, deren Verwendung im AIDS-politischen und -strafrechtlichen Diskurs Kritiker an Krieg und kontinuierliche Aufoder Nachrüstung denken läße 7 . Sie insinuiert ihnen die HIV-Infizierten als Feinde. HIV-Infizierte sind jedoch Leidende. Sie bleiben auch als etwaige Tatzuständige Erstopfer38 • Sie sind nicht zu bekämpfende Gegner. Sie dürfen es, nicht nur aus Vgl. Nestler-Treme1, AIDS und Strafzumessung, 1992, S. 6 ff. Nach Prittwitz, Die Ansteckungsgefahr bei AIDS, in: JA 1988 S. 427 ff., 428 Fußnote 3 hat eine Allensbach-Umfrage ergeben, daß 61 % der Bevölkerung die bewußte HIV-Infizierung, die zum Tod führt, als Mord oder Totschlag bewertet. 36 Vgl. GschlKrG (s. Fußnote 17); BSeuchG (Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen, Fassung vom 18. 12. 1971, BGBI. 1980 I S. 151, in Kraft getreten am 1. 1. 1980, abgedruckt in Sartorius I, Nr. 293). 37 Der Ausdruck AIDS-Bekämpfung ist durch den der AIDS-Eindämmung zu ersetzen, vgl. Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung. Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff. 38 Von Anfang an habe ich für den Einsatz des Strafrechtes betont: ,,Freilich ist sein bitterer, individuelle Tatschuld zuschreibender Einsatz in Situationen kollektiver Not und Mitverantwortlichkeit nur dann akzeptabel, wenn und soweit unsere Gesellschaft potentiell oder realiter AIDS-infizierende Täter nicht nur als Rechtsbrecher wahrnimmt und behandelt, sondern ihnen als AIDS-Infizierte und Opfer über Lippenbekenntnisse hinaus in gemeinsamer gesellschaftlicher Anstrengung jedwede nur mögliche Solidarität zollt - etwa durch finanzielle Hilfen, optimale medizinische Betreuung und Arbeitsplatzsicherung. Allein wenn solcher Bei34 35
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Gründen der ,political correctness' auch nicht sein oder werden. Eine ,civile', sozialstaatliche AIDS-Politik will nicht den (ohnehin ineffizienten) Konflikt, sondern die freiheits sichernde Kooperation aller. Einem ,civilen', bürgerrechtlichen Strafrecht sind derartige Ausdrücke in ihren Konnotationen verfassungsbedenklich, kontraproduktiv und verzichtbar. Jedem, dem es nicht um Worte, sondern um die Sache geht, sind ausdrucksbedingte Miß-Verständnisse mißlich, auch in dem Sinne, daß ihr (anfänglich aufrüttelnder und dauerhaft ungewollt provokativer) Gebrauch zugunsten einer Sachverständigung aufzugeben ist. Andererseits sind weder die Applikation geltenden Strafrechts noch der Entwurf eines speziellen, gegen die Vornahme HIV-infektiöser Kontakte gerichteten Gefährdungstatbestandes 39 als Frucht martialischen, aufrüstenden Denkens zu diskreditieren. Denn jede Entscheidung für oder gegen den Einsatz des Strafrechtes ist eine solche in Unsicherheit und unter Gestaltungsrisiko. Infektiöses Verhalten muß im Interesse real erfahrbarer gleicher Freiheiten für alle rechtlich organisiert sein. Solange AIDS medizintechnisch weder kurabel noch vaccinabel eindämmbar ist und wir nicht wissen, daß repressionsfreie oder -arme Strategien hinreichen, um den Schutz erlebbarer Freiheit von vermeidbarer Krankheit, vermeidbarem Siechtum und vermeidbarem Tod sicherzustellen, ist zur Durchsetzung rechtlicher Verhaltensgebote auch (nicht nur!) kriminalrechtliche Bewehrung notwendig und legitim. Andernfalls wäre bei angenommener Applikabilität gültigen Stratbegründungsrechts (in der Bundesrepublik Deutschland) der (verfassungsrechtliche) Schutzauftrag des Staates (Art. 211 S. 2 GG) verletzt40 • Mithin: Die AIDS-Präventionspolitik darf und muß sich der binären Alternative ,repressionsfreie Aufklärung und Beratung' oder ,Inpflichtnahme zur Fremdrisikohütung und Einsatz des Strafrechts' verweigern. Aufklärung, Beratung, Fürsorge und Repression sind, soweit bereits de lege lata geboten, behutsam zu leisten. Sie sind, auch de lege ferenda, in ein angemessenes Miteinander zu bringen. stand gelingt, ist es statthaft, der AIDS-Prophylaxe willen strafrechtlich zu reden, will sagen: einzelne krimineller Taten zu zeihen und sozialethisehe Unwerturteile zu fällen", Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff., 176 f. Dies gilt unverändert fort. Den von ,,AIDS-Bekämpfung" redenden Referatstitel würde ich wegen seiner negativen Konnotationen nicht mehr gebrauchen. 39 Vgl. ,,Propuesta De Un Persepto Contra La Transmission Dei SIDA", erarbeitet von BottkelLuzon-PefialMir PuiglSilva Sanchez und Schünemann, in: Mir Puig, Hrsg., Problemas Juridico Penales Dei Sida, 1993, S. 175 ff. 40 Das BVerfG hat auch in seiner Kammerentscheidung vom 28. Juli 1987 "aus den Grundrechten zu entnehmende Schutzgebote" prinzipiell bejaht. Es hat zwar verneint, "daß der Gesetzgeber oder Bundesregierung etwaige ... Schutzgebote verletzt hätten, wenn sie nach dem derzeitigen - auch internationalen - Stand der Diskussion vorrangig die Aufklärung der Bevölkerung über die Möglichkeit betreiben wollen, die Ansteckung mit AIDS zu vermeiden" (BVerfG, AIFO 1987, S. 521 ff. m.Anm. von Gallwas; krit. insoweit insbsd. Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: PfeifferlSchünemann, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff., 381 ff.). Es hat aber nicht den Verzicht auf Anwendung geltenden Strafrechts gefordert.
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B. Stratbegründungsrecht und virustransmissive Kontakte I. Angehörige kodifizierter Rechtsordnungen, die über eine ausgefeilte Dogmatik des Strafbegründungsrechts verfügen, sind es gewohnt, Fragen des ,Ob' einer Strafbarkeit mit dem Anspruch der ,einzig richtigen' Lösung auszudiskutieren. De lege lata ist dieses Zielverständnis u. a. durch revisionsrechtliche Normen geprägt, die zwischen richtiger und unrichtiger Gesetzesanwendung unterscheiden lassen41 • Wer sich z. B. als deutscher Strafrechtler an der Debatte um die strafrechtliche Evaluation virustransmissiver Kontakte beteiligt, unterstellt, daß in dem System hypothetisch-deduktiver Sätze, das die Strafrechtsdogmatik in Entfaltung allgemeiner Prinzipien und der Regeln positiven Strafrechtes bereitstellt, auch die Antwort auf die Frage nach der strafbegründungsrechtlichen Erfassung HIV-transmissiver Kontakte enthalten ist. Dem Denken im System entspricht es, angenommene Bedürfnisse nach kriminalrechtlicher Tatunrechtsmarkierung und Gegenkommunikation bereits de lege lata, soweit möglich, zu stillen.
Ländern, die dem Denken im ,common law' verpflichtet sind, ist die Vorstellung von ,law that is not settled yet' kein Greuel; Juristen angelsächsischer Rechtstradition ,reden', common sense und professionelles Judiz sowie careful distinction und policy consideration an Hand bisheriger Gerichtsentscheide übend, darüber, wie neuartige Lebenssachverhalte sinnvoll und in harmonischer Fortentwicklung gewordenen Rechtes gelöst werden können. Sie taten dies auch auf dem Symposium. Sie holten damit die Frage nach dem Sinn oder Unsinn strafrechtlicher AIDS-Prophylaxe kontinuierlich in die Diskussionen ein. Die dogmatische, und das hieß ihnen auch rechthaberische, Schärfe, die der strafrechts 'wissenschaftlichen' Debatte in kodifizierten Rechtsordnungen eigen ist, war und blieb ihnen suspekt. 11. Gleichwohl sei es gestattet, mit dem Ziel richtiger Rechtsanwendung ,systemimmanent' erneut über die korrekte Deutung des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Strafbegründungsrechts nachzusinnen. Dabei seien vornehmlich neu auf dem Symposium vorgetragene Thesen zur Erfassung HIV-transmissiver Sexualkontakte ohne erfolgte oder zurechenbare HIV-Transmission bedacht. Um Wiederholungen zu vermeiden, sei hinsichtlich auf dem Symposium vorgetragener Argumente auf die obigen Beiträge (samt den dort eingearbeiteten Diskussionseinwürfen) und für überkommene Thesen42 auf frühere Stellungnahmen pauschal verwiesen.
Vgl. z. B. § 337 StPO. Die Thesen von Schünemann zu § 229 StGB finden sich in: Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung, in: Schünemann/Peiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff., 476 ff., sowie in diesem Band in der ,,Einführung in die Symposiumsproblematik" 1. 6. Vgl. dazu Bottke, Die Immission infektiösen Ejakulats bei ungeschützem Gechlechtsverkehr zwischen HIV-Inizierten und minderjährigen Jugendlichen, in: AIFO 1988, S. 628 ff., 634 ff. Die Thesen von Geppert zur Bewertung HIV-transmissiver Kontakte finden sich in: Strafbares Verhalten durch - mögliche - AIDS-Übertragung, in: JURA 1987, S. 668 ff. 41
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1. Um mit der ,Vollendungslösung' zu beginnen: Gemeint ist die These von Herzberg, jeder über ein erlaubtes Risiko hinausgehende (weil nicht durch Kondomgebrauch abgeschirmte) virustransmissive (Sexual)Kontakt sei bei fehlender Kenntnis des Kontaktpartners wegen dessen rechtsgutsbezogenen Irrtums eine ,Mißhandlung' LS. des § 223 I 1. Alt. StGB. Anzuerkennen ist, daß sie nicht nur ,neu', sondern auch von verblüffender Ergebniseinfachheit ist. Sie erleichterte, träfe sie zu, die Bewertung jeglichen virustransmissiven Kontaktes als vollendete Körperverletzung Uedenfalls) dann, wenn sie sich im Kontakt mit dem Körper des Gefährdeten (und im eigenkörperlichen Kontakt durch den Gefährdenden) vollzöge. Denn hiernach ist Uedenfalls) jeder (eigenkörperliche) Kontakt mit dem Körper des Kontaktpartners wegen der vom Kontaktpartner verkannten Virustransmissivität als ,körperliche, üble und unangemessene Behandlung' deutbar. a) Ich möchte dem, soweit es um den Wortlaut der in § 223 I 1. Alt. StGB enthaltenen Verhaltensbeschreibung, die gemeinsprachliche Statthaftigkeit der Subsumption HIV-transmissiver Sexualkontakte und die Rechtsgutsbeeinträchtigung geht, zustimrnen43 . Denn jeder, der gesundheitsgefährdenden Körperkontakt mit einem Risikoblinden eigenkörperlich vollzieht, handelt körperlich. Wer einen Nichtgefahrwissenden über das von ihm gewußte Risiko für die körperliche Integrität des Nichtwissenden nicht aufklärt, mißachtet dessen Dispositionsbefugnis. Wer fremde Dispositionsbefugnis mißachtet, handelt dem Verhaltensunwert nach schon so, daß er den anderen ,körperlich miß-handelt'. Sieht man den ärztlichen, kunstgerecht und erfolgreich durchgeführten Heileingriff ohne Einverständnis des Patienten unbeschadet eines saldierenden, Körpers,chaden ausgleichenden ,Ergebnisüberwertes ' wegen des Eingriffes in die Dispositionshoheit des Behandelten als tatbestandsmäßige Körperverletzung im Sinne der Mißhandlungsalternative an44 , so liegt es nahe, erst recht jede einverständnislose Verbringung in eine die Gesundheit und das Leben gefährdende Risikosituation (hier: die Infektionslage) ohne ,Heilwert' (trotz des konsentierten Sexualaktes) dem § 223 I 1. Alt. StGB zu unterordnen. Wird als Rechtsgut des § 223 StGB die Hoheit der Verfügung über die eigene körperliche Integrität gesehen, ist ein Rechtsgutseingriff wegen der Verletzung der Befugnis des risikoblinden Kontaktpartners, das Infektions-, ErkranDie Thesen von Herzberg zur Bewertung HIV-transrnissiver Kontakte finden sich in: Die AIDS-Infizierung als Straftat gegen AIDS, in: NIW 1987, S. 1461 ff.; Die AIDS-Infizierung als Straftat, in: AIFO 1987, S. 52 ff.; Bedingter Vorsatz und objektive Zurechnung beim Geschlechtsverkehr des AIDS-Infizierten, in: JuS 1987, S. 777 ff.; Zur Strafbarkeit des AIDSInfizierten bei unabgeschirmtem Geschlechtsverkehr, in: NIW 1987,2283 ff.; AIDS: Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, in: JZ 1989, 470 ff. Die Thesen von Nestler-Tremel zur Bewertung HIV-transrnissiver Kontakte finden sich in: Herzog/Nestler-Tremel, Aids und Strafrecht, Schreckensverbreitung und Normstabilisierung, in: StV 1987, S. 693 ff. 43 Der Zustimmungsvorbehalt bewahrt die Zustimmung davor, wegen der Regel, "in den Ergebnissen" habe "fast immer ... nicht Bottke recht", zu abträglichem Beifall zu werden. 44 Vgl. BGHSt 11, S. 111 ff.; Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 82 ff. m.w.Nachw.
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kungs- und LebensverkÜIzungsrisiko wissend einzugehen, zu meiden oder zu dämpfen, bejahbar. Darüber hinaus entspricht es einer rechtsgutsorientierten Interpretation des § 223 I 1. Alt. StGB, das Merkmal ,körperlich' nicht als Umschreibung einet Handlungsmodalität, sondern als Benennung des Angriffsobjektes zu verstehen. Jede Verbringung eines Risikoblinden in eine HIV-transmissive Gefährdungssituation, gleichviel ob durch (seil. mutuell körperlichen) Sexualkontakt oder durch ,eigenkörperlosen ' Kontakt45 asexueller Art, verletzt die Dispositionshoheit des Gefährdeten. b) Indessen, es gibt Monita, die nicht die teleologische, vom Rechtsgut vermittelte, Stimmigkeit, wohl aber die dogmatische Ergebnisrichtigkeit bestreitbar werden lassen. § 223 I 1. Alt. StGB fordert mehr als eine üble, weil rechtsgutsmißachtende und außerhalb erlaubten Risikos siedelnde, Mißhandlung durch Verbringung eines Risikoblinden in eine unerlaubte Gefährdungssituation. Es genügt nicht, daß die Einwilligung in den Geschlechtsverkehr durch die Vorstellung der Virusfreiheit des (realiter infektiösen) Kontaktpartners bedingt war oder gar explizit von diesem garantiert wurde46 . -Die Mißhandlung muß ,körperlich' auch in dem Sinne sein, daß sie als Erfolgsunwert einen auf den Körper des Kontaktpartners und dessen körperliche Gesundheit tatsächlich einwirkenden Negativeffekt hat47 • Dies ist etwa bei medizinischen Untersuchungs- oder Heileingriffen wegen ihrer negativen Nebeneffekte (z. B. einzelne Körperzellen verwundenden oder Nebenfolgen habenden Wirkung) typischerweise noch der Fall. Es muß jedoch nicht typischerweise der Fall sein bei Sexualkontakten (beid- oder) einseitig unbekannt virustransmissiver Art. Wird etwa der Sexualkontakt unter Liebenden konsentiert durchgeführt, ohne daß der Kontaktpartner von der Virustransmissivität unmittelbar nach Kontaktvollzug erfährt, ist das körperliche Wohlbefinden des Partners durch die Verbringung in eine infektiöse Lage und über diese hinaus nicht beeinträchtigt worden. Eine nachträgliche Aufklärung über die bloße Virustransmissivität kann zwar Empörung, Unlustgefühle und Beklemmung bis zum Wissen über die fehlende Infektion zeitigen. Die Aufklärung (und nicht schon der Kontakt als 45 Zu denken ist z. B. an die Bedrohung eines Opfers mit einer kontaminierten Blutspritze sowie an die Gefährdung von Blutern, Organtransplantatempfängern oder Spermaempfängerinnen künstlicher Befruchtung durch kontaminierte Blutprodukte, Organteile oder Spermata. 46 Vgl. das Herzbergsehe Beispiel des Schülers, der erst dann in den Geschlechtsverkehr mit einer HIV-positiven Nymphomanin einwilligt, als diese "ihm hoch und heilig versichert, ,clean' zu sein" (Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, in diesem Bande, C 11 1 a.E.). Sicher: "Das Mißliche, Üble und Unangemessene der Einwirkung auf den Körper des Gesunden liegt eben darin, daß" die Kontaktpartnerin "eine infizierte Person ist, von der er (seil. der Schüler) die Einwirkung nicht will". Und es trifft auch zu, daß die Täuschung des Schülers "einen ,rechtsgutsbezogenen' Irrtum" bewirkt (Herzberg, a. a. 0.). Aber, zu solch ,mißlicher' Einwirkung auf den Körper muß - herkömmlichem Verständnis nach - noch ein Negativeffekt hinzukommen. 47 Vgl. zum ,Erfolgsunwert' einer körperlichen Mißhandlung BGHSt 25, S. 277 ff.; Fallaufzählungen sind zu finden bei Wesseis, Strafrecht, Besonderer Teil 1, 18. Aufl., 1994, S.53 f.; Hirsch/LK, StGB, 10. Aufl., 5. Bd., 1989, § 223 Rdnr. 7 f.
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solcher) ist dann aber Ursache einer etwaigen (sei es auch vorübergehenden) Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Da es für HIV kein Sonderrecht der Körperverletzung gibt (und das ,Körperliche' der Mißhandlung nicht auf die Handlung, sondern auf den Negativeffekt des Mißhandeins bezogen ist), müßte jede nicht im Rahmen erlaubter Risikozufügung siedelnde Verbringung eines Risikoblinden in eine unerlaubte Risikolage, deren etwaige Realisierung die körperliche Gesundheit gravierend oder nicht unerheblich beeinträchtigen würde, eine ,körperliche Mißhandlung' i. S. d. § 223 11. Alt. StGB sein. Sie müßte es sein, gleichviel, ob die der körperlichen Integrität des anderen zugefügte Gefahr im Körper des Organisators der Verbringung siedelt oder nicht. Konsequenterweise müßten auch Sexualkontakte, die dem Partner das von diesem ungewußte Risiko einer Geschlechtskrankheit zufügen, der Mißhandlungsalternative unterfallen. Vollendete Körperverletzungen wären auch ,sexualkontaktfreie' und ,körpergefahrherdlose' Verbringungen in andere gravierende Erkrankungsund/oder Sterberisiken (etwa durch Tötungsversuche). Die bisherige Nichtannahme einer vollendeten Körperverletzung nach § 223 I 1. Alt. StGB in Fällen der Verbringung eines risikoblinden Kontaktpartners in eine gravierende, jedoch letztlich nicht erfolgsrealisierte Risikolage für dessen Gesundheit und/oder Leben ist durch die legislatorische Fassung des § 223 StGB als Erfolgsdelikt, als ,Körperverletzung', bedingt. Kontakte, die die (letztlich nicht virustransmittierende ) Verbringung in eine infektiöse Situation beinhalten und mit beidseitig gewolltem Luststreben vollzogen werden, haben nicht aufgrund des mutuell körperlichen Kontaktes den Negativeffekt einer nichtunerheblichen Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens. Sie sind dem Erfolgsunwert nach keine ,Realinjurie'. Die bloße (nicht infizierende) Verbringung in die infektiöse Situation konsensuellen Geschlechtsverkehrs ist trotz der Zufügung eines Gesundheits- und/oder Sterberisikos gegenüber einem Risikounwissenden auch bei den ,klassischen' Geschlechtskrankheiten oder Seuchen trotz Risikoblindheit weithin nicht als vollendete Körperverletzung angesehen worden48 . Ebensowenig sind etwa ,sexualkontaktfreie' oder ,körpergefahrherdlose' Tötungsversuche (etwa ein heimtückischer Beilhieb ohne Realfolgen) stets schon wegen der Zufügung eines nicht realisierten und vom Gefährdeten nicht gesehenen Erkrankungs- und Sterberisikos vollendete Körperverletzungen. All dies harmoniert mit dem gemeinen Verständnis von einer Körperverletzung, das mehr als Gefährdung, nämlich körperlichen Harm, erfolgs-sinnfällig sehen will. c) Abschwächbar ist auch das gesetzessystematische Argument, § 229 StGB sei in den 17. Abschnitt des StGB als qualifizierte vollendete Körperverletzung eingeordnet und setze die Bewertung der Verbringung eines Risikoblinden in eine die Gesundheit oder gar das Leben gefährdende Lage als ,körperliche Mißhandlung' (durch Beibringung des Giftes oder giftähnlichen Stoffes) voraus 49 . Denn der GeSo wohl Becke, Das neue Geschlechtskrankheitengesetz, in: JR 1954, S. 49 ff., 50. Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, in diesem Bande, C 11 2. 48 49
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setzestext verlangt seinem Wortlaut nach keine vorsätzlich vollendete Körperverletzung als Grunddelikt. § 229 I StGB sagt z. B. nicht, die ,Körperverletzung' werde mit Freiheitsstrafe bestraft, wenn sie durch Beibringung eines gesundheitszerstörerischen Stoffes bewirkt werde und in der Absicht erfolge, die Gesundheit zu beschädigen. § 229 11 spricht nur davon, daß durch die "Handlung" eine schwere Körperverletzung oder der Tod verursacht worden sei. Er legt nicht fest, daß es sich dabei um eine ,vollendete' Körperverletzung handele. Vom Standpunkt herkömmlicher Körperverletzungsdogmatik aus macht § 229 StGB auch bereits "den Versuch einer Körperverletzung zum selbständigen Verbrechen,,5o. Dies ist in der Versuchsannahme richtig, wenn man für vollendete Körperverletzungsdelikte neben dem Handlungsunwert eines rechtsgutsverletzenden (weil insoweit nicht wirksam konsentierten) Gefährdungsaktes auch den Erfolgsunwert eines körperlichen Harm beinhaltenden Negativeffektes fordert. Verlangt man dies, ist die bloße Verbringung in eine nicht realisierte Gefahrdungslage wegen fehlenden Verletzungserfolges keine Körperverletzung. d) Was die Erlaubtheit der Zufügung eines bei Kondomgebrauch geminderten Infektions-, Erkrankungs- und Sterberisikos angeht, so ist Herzberg einerseits der Ansicht, "daß der Infizierte dem irrenden Partner dieses Restrisiko nicht aufbürden" dürfe; wisse der Infizierte, daß der andere nur auf Grund seines Irrtums mit der Einwirkung auf seinen Körper einverstanden sei, dann mache er sich wegen einfacher Körperverletzung strafbar. Andererseits sieht Herzberg die "Anwendung des § 223 a StGB" wohl auch in diesem Wissensfall als "gesperrt" an. Denn "im Hinblick auf die Infizierung und Lebensgefährdung" sei "das Risiko ein erlaubtes": "Welche Risisikosetzungen hinzunehmen" seien, richte "sich, wo rechtliche Normen fehlen, nach den in der Gesellschaft vorherrschenden Wertungen und Belehrungen. In Deutschland" sei "die Entwicklung dahin gegangen, daß staatlich eingerichtete oder geförderte Stellen" im Sinne des Kondomgebrauches "warnen, verbieten und beraten: Die zuständigen Personen fordern ... nicht, künftig den Partner vor jedem Sexualkontakt aufzuklären, sondern sie fordern dessen vollständige und sorgfältige Abschirmung und stellen damit das Restrisiko tödlicher Ansteckung als vernachlässigenswert und tolerabel hin,,51. Im Ergebnis ist damit jeder, sei es ein kondomloser, sei es ein kondomabgeschirmter 52 , HIV-transmissive 50 Lackner, StGB, 20 Aufl., 1993 § 229 Rdnr. 1. Kritisch hierzu: Stree, in: Anmerkungen zu BGH vom 21. 10. 1983, in: IR 1984, S. 335 ff. m.weit.Nachw. 51 Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, in diesem Bande, C I 2. 52 Vgl. Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, C I 2 letzter Abs.: Herzberg stimmt im Hinblick auf kondomgeschützten Geschlechtsverkehr der Ansicht zu, "daß der Infizierte dem irrenden Partner dieses Restrisiko nicht aufbürden darf. Weiß der Infizierte, daß der andere nur aufgrund seines Irrtums mit der Einwirkung auf seinen Körper einverstanden ist, dann macht er sich wegen einfacher Körperverletzung (§ 223 StGB) strafbar. Die Begründung hat größere Relevanz für die praktisch wichtigste Konstellation, d. h. den Fall des ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit getäuschtem Partner". Dies heißt mit anderen Worten: Auch der kondomgeschützte Sexualkontakt eines
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Sexualkontakt bei und wegen rechts guts bezogenem Irrtum des Kontaktpartners über die Infektiösität des Kontaktes als körperliche Mißhandlung nach § 223 I 1. Alt. StGB strafbar; ist der Kontakt nicht kondomabgeschirmt, ist (erhöht kostenproduktive) Strafbarkeit nach § 223 a StGB gegeben. aa) Obschon diese These zu abgestufter Strafbarkeitsschwere führt, ist sie selbst bei einer grundsätzlichen Übernahme der ,Vollendungslösung' anfechtbar. Zum einen: Es ist zu verneinen, daß sich das Ausmaß, in dem Risiken von risikoblinden Gefährdeten hinzunehmen sind, nach den in einer Sozietät vorherrschenden Belehrungen richten. Zum anderen: Die ,Vollendungslösung' und die ,These erlaubten Restrisikos' sind AIDS-prophylaktisch widersprüchlich. aaa) Ob und welche Gefahren hinzunehmen sind, bemißt sich allein nach Regeln und Prinzipien des geltenden Rechtes. Diese können deutungsoffen und unter Zuhilfenahme allgemeiner Wertungsstandards konkretisierungsbedürftig sein, ohne deshalb an ausschließlicher Validität zu verlieren 53 • Weder AIDS-Beratungsstellen und die hinter ihnen stehende ,regierungsoffiziöse AIDS-Politik' noch die in ihnen tätigen Personen sind dazu "zuständig", geltendes Recht zu derogieren. Sie sind auch nicht dazu beaufgabt, mit verbindlicher Geltung Rechtsregeln oder -maximen zu interpretieren. Sie sind keine Rechtsgeber. Allenfalls eine vom faktischen Konsens der Rechtsüberzeugung getragene Übung kann gegen die rechtsgrundsätzliche Intolerabilität von Lebensrisiken, die Risikoblinden zugefügt werden, die Annahme eines ,erlaubten Risikos' tragen. Ein solcher Konsens ist nicht gegeben. Vielmehr liegt Dissens darüber vor, ob der kondomabgeschirmte Sexualkontakt mit virustransmissivem Restrisiko der Infektion und der letalen Erkrankung innerhalb 54 oder außerhalb 55 erlaubten Risikos siedelt. Dies ist nicht verwunderlich. Infizierten mit einem Risikoblinden ist wegen des Restrisikos nach § 223 I 1. Alt. StGB strafbar. Herzberg selber spricht in seiner Zusammenfassung allerdings nur den kondomlosen Sexualkontakt an. 53 Es ist falsch, wenn man die generelle Erlaubtheit eines an sich tatbestandlieh relevanten Risikos unter unmittelbarem Rückgriff auf "nicht ... rechtliche Regeln" bejaht (so aber z. B. Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO, 1994, S. 463 ff., 468 f.). Der von Knauer angestrengte Vergleich der von der offiziösen AIDS-Politik propagierten Regel "Kondome schützen" mit den Wettkampfregeln sportlicher Begegnungen hinkt. Denn Geschlechtsverkehr ist keine sportive Begegnung. Er wird nicht durchgeführt von Partnern, die vor Beginn des Wettkampfes explizit oder implizit Wettkampfregeln und deren Beachtung vereinbaren und so sich wechselseitig mit Risiken einverstanden erklären, die konsentiert regelgerecht zugefügt werden. Auch die von privaten Institutionen erlassenen ,Verkehrsnormen' (etwa DIN-Normen oder VDE-Vorschriften) sind nicht von unmittelbar rechtsetzendem Regelungsgehalt. Sie sind nur von heuristischem Wert für die Feststellung dessen, was als rechtliche Verkehrspflicht gilt, ohne diese zu definieren (vgl. BGH NStZ 1991, S. 30 f.). Erst recht ist die von Knauer bemühte "differenzierte Maßfigur" nur ein heuristisches Hilfsmittel zur Bestimmung unerlaubter Gefahren (vgl. Roxin, Strafrecht, AT, Band I, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Aufl., 1994, § 24 Rdnr. 32). S4 Die Erlaubtheit des Restrisikos kondomgeschützten Verkehrs eines HIV-Infizierten bejahen: Enquete-Kommission des 11. Dt. Bundestages, AIDS: Fakten und Konsequenzen,
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Denn dort, wo verbindlich formulierte Verhaltensmaßstäbe für die Organisation sozialer Kontakte und Gewißheiten fehlen, fließen dezisionistische Elemente in die Gebots- bzw. Verbotsbestimmung ein. Gleichwohl gibt es auch für die Vornahme ungewiß risikobehafteter Kontakte, wie des coitus condomatus, konkretisierungsfähige Rechtsregeln. Eine solche Rechtsregel ist das nerninem-Iaede-Gebot. Eine andere ist: ,Wer etwas möglicherweise Rechtsgütergefährdendes unternehmen will, hat demjenigen, den das Risiko trifft, die Entscheidung über die Risikowahl zu lassen. Er hat den anderen zu informieren'. Der Satz ,Füge einem Risikoblinden keine wesentlichen Lebensrisiken zu', ist trotz der Kondomgebrauch Gesunden und Kranken anratenden AIDS-Politik noch rechtsgültig. Welche Risiken - vor und jenseits etwaiger Tatbestandsrelevanz - wesentlich sind, bernißt sich nicht nach der (nur erspekulierbaren) Quantität des Restrisikos 56 oder den Ratschlägen der AIDS-Hilfe. Es bernißt sich nach der EntscheiEndbericht, Gefahren von AIDS und wirksame Eindämmung, Bonn 1990, S. 371; (weitergehend) Böllinger, Sexualität und Politik, in: KritJ 1988, S. 51 ff., 60 ff.; Bruns, AIDS, Prostitution und das Strafrecht, in: NJW 1987, S. 693 ff., 689; ders., Nochmals: AIDS und Strafrecht, in: NJW 1987, S. 2281 ff., 2282; ders., Ein Rückschlag für die AIDS-Prävention, in: MDR 1989, S. 199 ff.; Günther, Die Strafbarkeit des AIDS-Infizierten beim sexuellen Verkehr, Jur. Diss. Kiel, 1988, S. 96; Herzberg, Die Strafandrohung als Waffe im Kampf gegen AIDS, in: NJW 1987, S. 1461 ff., 1462; (Sozialadäquanz bejahend) ders., AIDS, Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, in: JZ 1989, S. 470 ff., 475; Herzog/Nestler-Tremel, AIDS und Strafrecht - Schreckensverbreitung oder Normstabilisierung?, in: StV 1987, S. 360 ff., 366; (Sozialadäquanz bejahend) B.-D. Meier, Strafrechtliche Aspekte der AIDS-Übertragung, in: GA 1989, S. 207 ff., 230; Prittwitz, Die Ansteckungsgefahr bei AIDS, in: JA 1988, S. 427 ff., 437; ders., Das ,,AIDS-Urteil" des Bundesgerichtshofes, in: StV 1989, S. 123 ff., 127; Scherf, AIDS und Strafrecht. Schaffung eines Geflihrdungstatbestandes zur Bestrafung ungeschützten Geschlechtsverkehrs, 1992, S. 97 ff. 55 Die generelle Unerlaubtheit des Restrisikos kondomgeschützten Verkehrs eines HIV-Infizierten bejahen: (Sozialadäquanz verneinend) Frisch, Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Straftat - BGHSt 36, 1, in: JuS 1990, S. 362 ff., 364; H.-W. Mayer, Forum: Die ungeschützte geschlechtliche Betätigung eines AIDS-Infizierten unter dem Aspekt der Tötungsdelikte - ein Tabu?, in: JuS 1990, S. 784 ff., 786; Rengier, AIDS und Strafrecht, in: Jura 1989, S. 225 ff., 231; Scheuerl, AIDS und Strafrecht. Die Strafbarkeit HIV-infizierter Personen beim Vollziehen sexueller Kontakte, 1992, S. 157 , 161 ff.; Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung. Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff., 415: "Safer-Sex-Methoden so unzulänglich, daß man sie mit den im Recht anerkannten Fällen des erlaubten Risikos nicht auf eine Stufe stellen kann"; (abschwächend: nicht neo ipso") ders., Die strafrechtlichen Probleme von AIDS, in: Busch/Heckmann/Marks, Hrsg., HIV/AIDS und Straffalligkeit, 1991, S. 93 ff., 109, 121; (nur noch den coitus interruptus unter den § 229 StGB fassend) ders., Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Tötung, Körperverletzung oder Vergiftung, in: JR 1989, S. 89 ff., 92, 95; Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl., 1993, vor § 32 Rdnr. 13, § 222 Rdnr. 8; WokaleklKöster, AIDS und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, in: MedR 1989, S. 286 ff., 287 f. (in widersprüchlicher Anratung der Kondombenutzung bei Personen, die aufgrund von Symptomen des ARe annehmen, sie seien möglicherweise infiziert). 56 ,,Eine konkrete Wahrscheinlichkeitsrate einer HIV-Infektion pro geschütztem Kontakt kann ... der ... juristischen Untersuchung nicht zugrunde gelegt werden, da diese Frage in der medizinischen Wissenschaft noch sehr umstritten ist" (Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-
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dungsrelevanz, die das Restrisiko für einen verständigen Gefährdeten hat. Es bestimmt sich auch nach etwaig gegebenen Deliktsbeschreibungen und der etwaigen (fremdbestimmenden) Gestattung durch befugte Rechtssetzungsorgane. Das Restrisiko einer. Virustransmission bei kondomabgeschirmtem Sexualkontakt wird unterschiedlich geschätzt. Die Schutzqualität eines coitus condomatus hängt von Variablen ab, die der Kontaktpartner in der Kontaktsituation nicht alle beurteilen und sichern kann 57 . Unsicherheit der generellen Restrisikoeinschätzung und Unsicherheit des situativen Gebrauchs öffnen den subjektiven Einschätzungsattitüden der Kontaktpartner Raum. Sie machen die Annahme eines Restrisikos durch die Kontaktpartner verständlich. Sie machen sie auch objektiv verständig. Zwar kann in und außerhalb einer auf Vertrauen gegründeten Dauerbeziehung die Bereitschaft bestehen, Sexualkontakte geschützter Art fortzusetzen, wenn ein Partner (etwa nach Unfall durch kontaminierte Blutprodukte) HIV-infiziert wurde. Dies ändert aber nichts daran, daß das Restrisiko eines coitus condomatus für einen Gesunden verständlicherweise entscheidungsrelevant ist. Er hat es zu tragen. Er hat es bei Realisierung allein zu erleiden. Er ist ohne die Hilfe möglicher Heilung. Er ist vorstrafrechtlich befugt zu entscheiden, ob er das Restrisiko eingehen, durch weitere Schutzmaßnahmen (etwa durch zusätzlich verlangten coitus interruptus weiter) minimieren oder durch Kontaktverweigerung oder -beendigung vermeiden will. Er kann solche Entscheidung nur treffen, wenn er von einem restrisikowissenden HIV-Träger aufgeklärt wird. Die Aufklärungspflicht des Infizierten ist vorstrafrechtlich dann zu bejahen, wenn er den Kontakt (mit)organisiert. Sie korreliert mit seiner gesellschaftsverfassungsmäßig verbürgten Freiheit, Sexualkontakte auch sekretzuführender Art vorzunehmen (Art. 2 I GG). Wer seines Vorteils willen solche Freiheit gebraucht58 , hat auch die Last der Achtung der Rechte anderer zu traInfizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO, 1994, S. 463 ff., 464.). Zum Teil wird behauptet, das Infektionsrisiko verringere sich nur um 30 bis höchstens 70 %, z.T. wird ein Restrisiko von 13 bis 27 % genannt. Andere behaupten eine Sicherheit von 97 bis 99 % pro Kontakt, vorausgesetzt, das Präservativ werde richtig angewandt (Nachweise bei Knauer, a. a. 0.; Scherf, AIDS und Strafrecht. Schaffung eines Gefahrdungstatbestandes zur Bestrafung ungeschützten Geschlechtsverkehrs, S. 17). Eberbach gibt eine Ansteckungswahrscheinlichkeit bei kondomgeschütztem Geschlechtsverkehr von 1 : 5 Mrd. an, in: AIFO, 1988, S. 307 ff., 315 Fn. 14. Das einzige, was nach alledem feststeht, ist, daß das Ansteckungsrisiko bei kondomgeschütztem Geschlechtsverkehr von Variablen abhängt (etwa seinem sachkundigen Gebrauch, der Zuverlässigkeit des Produktes, etc.), die der Kontaktpartner nicht alle steuern kann, und daß es bei gebrauchskundiger Verwendung und Materialfehlerfreiheit deutlich geringer ist, als das Ansteckungsrisiko bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Rechtsfrage ist, ob diese ,Deutlichkeit' derart ,bedeutsam' ist, daß das verbleibende Risiko generell erlaubt ist. 57 Hierzu zählt neben der Befähigung des Infizierten zu sachkundigem Kondomgebrauch auch die Kondomgüte. Angeblich wurden z. B. vom Gesundheitsamt Nürnberg im Rahmen der Anti-AIDS-Kampagne Kondome verteilt, die sich im nachhinein als schadhaft erwiesen, Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AlFO 1994, S. 463 ff., 469 Fn. 70. 58 Etwas anderes gilt in den Fällen, in denen der Kontakt nicht vom Infizierten (mit)organisiert wird, sondern ihm rechtswidrig (etwa durch eine Vergewaltigung) zugefügt wird. Für
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gen. Er hat seinen Partner aufzuklären. Er wäre verständigerweise unter dem Schleier der Unwissenheit eigener Betroffenheit auch hierzu bereit59 • Erfolgt eine Information, die dem Partner die Risikowahl ermöglicht, nicht, ist und bleibt die Zufügung des Restrisikos vorstrafrechtlich unerlaubt6o . Diese These gilt ohne Rücksicht darauf, ob das Restrisiko für tatrelevant erachtet wird oder nicht. Das Restrisiko ist nicht, wie etwa das von Atomkraftwerken oder der Teilnahme am regelgerechten Straßenverkehr, durch den Entscheid des Gesetzgebers oder durch hierzu gesetzlich legitimierte Organe gestattet worden. Es wird durch Verschweigen in Beratungen nur verdunkelt, nicht jedoch kompetent zur Zufügung eines erlaubten Risikos freigegeben. § 223 a I StGB erfaßt nach der Judikatur auch nur abstrakt das Leben gefährdende Behandlungen61 . Zwar ist die Eignung kondomgeschützten Sexualkontaktes, virustransmissive Kontakte nichtsexueller Art sei ergänzt, daß auch dann, wenn der HIV-Träger nichts tut, sondern lediglich die (z. B. in Unglücksfallen) rechtmäßige Kontaktaufnahme durch einen Gefährdeten in Anspruch nimmt, er zur Aufklärung verpflichtet ist. 59 Dieses Zusatzargument ist notwendig, weil die Frage, ob jemand ein unerlaubtes Risiko zufügt, nicht nur aus der Perspektive des Opfers, sondern auch aus der Perspektive des potentiellen Täters zu beantworten ist. Denn bei der Bestimmung generell unerlaubten/erlaubten Risikos geht es im Interesse der Erlebbarkeit gleicher Freiheiten für alle um die Definition der Freiheitsspielräume desjenigen, der den sozialen Kontakt organisiert, und desjenigen, der von dem Kontakt betroffen ist. Eben deshalb stellt die Maßfigur des besonnenen Menschen (innerhalb der Fahrlässigkeitslehre, vgl. Roxin, Strafrecht, AT, Band I, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Aufl., 1994, § 24 Rdnr. 14 ff.) die ,täterorientierte' Frage, wie ein gewissenhafter Mensch, der dem Verkehrskreis des Risikozufügers angehörte (und mit dem Wissen und den Fähigkeiten des Risikozufügers ausgestattet wäre), sich in der konkreten Situation verhalten hätte. 60 Daß ich in meiner ersten Stellungnahme zu den strafrechtlichen Problemen HIV-transmissiver Kontakte ohne Einschränkung explizit vertreten habe, der coitus condomatus des Infizierten sei unerlaubtes Risiko (so Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO 1994, S. 463 ff., 467 Fn. 43 unter Hinweis auf Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff., 195 ff.), ist nicht richtig. Ich habe dort die Unerlaubtheit ungeschützter HIV-transmissiver Sexualkontakte fokussiert. Die Apostrophierung des Kondomgebrauchs als ..Anwendung von risiko-tolerablen safe-sex-Praktiken" (S. 198) ließ die Frage offen, ob es sich um risikotolerierte Praktiken handelte. Die Formulierung, ..die Vorhabe des kundigen Gebrauchs risikodämpfender Schutzmaßnahmen, wie etwa die sachgerechte Benützung von Kondomen oder des coitus interruptus, drücke das vorgestellte Risiko unter die Schwelle des intolerabel Rechtswidrigen" (S. 200 f.), war vorsatzorientiert. Die Wendung, wer gefahrhemmende Gegenmaßnahmen treffe, (zuletzt Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO 1994, S. 463 ff., 476, Fn. 142 m.Nachw.) ..drücke das Risiko regelmäßig unter die Schwelle des ... strafrechtswidrig Intolerablen oder ... des für ihn entscheidungsrelevanten Risikos" (S. 201), ließ die vorstrafrechtliche Erlaubtheitsfrage offen. Entsprechendes gilt für meine Ausführungen zum Kondomgebrauch in: Bottke, Rechtsfragen beim ungeschützten Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten, in: AIFO 1989, S. 468 ff., 475. Selbstverständlich gehen alle Mißverständnisse wegen solcher Unklarheit zu meinen Lasten.
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über nieder- oder niedrigstwahrscheinliche Infektion, dann höherwahrscheinliche Erkrankung und eventuell hochwahrscheinliche Letalität am Leben zu gefährden, situativ und generell ungewiß. Sie ist aber gleichwohl von solcher Qualität, daß sie verständigerweise ein berechtigtes Informationsbedürfnis untergründet. bbb) Die gleichzeitige Bejahung von ,belehrungs'erlaubter Lebensgefährdung (i. S. d. § 223 a StGB) und Mißhandlung (i. S. d. § 223 11. Alt. StGB) bei kondomgeschütztem Sexualkontakt mit einem Infektions- und Restrisikoblinden kann fachdogmatisch Geschulten in ihrer Tatbestandsorientiertheit einleuchten. Sie dürfte Laien, die auf eine gemeinsprachlich klare Abgrenzung erlaubten und unerlaubten Verhaltens angewiesen sind und erlaubtes Verhalten mit gänzlich strafrisikolosem gleichsetzen, wenig vermitte1bar sein. bb) Richtigerweise ist auf den Kommunikationsgehalt abzustellen, den Kondomgebrauch unter den gegebenen Bedingungen in nicht näher oder in lang bekannten Kontaktpartnerschaften hat. Entweder ist man der Ansicht, daß der erkannte Kondomgebrauch keinen zur Risikopräfenzenwahl hinreichenden Informationsgehalt haben kann. Dann ist das (generell unerlaubte) Restrisiko auch vom Kondomkontaktpartner unerkennbar und unübernehmbar. Oder man ist der Einsicht, erkannter Kondomgebrauch könne auch über das Restrisiko informieren. Dann ist dieses Risiko vom Kondomkontaktpartner vorstell- und übernehmbar. Die zweite Alternative ist zu bejahen. Der Kommunikationsgehalt sozialer Kontakte, wie des kondomabgeschirmten Sexualkontaktes, wird von sozialen Faktoren rechtlicher und nichtrechtlicher Art gesteuert. Die Bedeutung sozialer Kontakte ist nicht rechtlich fixiert. Sie ist durch soziale Sinngebungsfaktoren faktischer Art dynamisiert. Zu ihnen zählen, auch ohne rechtssetzende Kraft, die "Belehrungen" offiziöser AIDS-Politik. Wer heute, etwa in einer flüchtigen Augenblicksbeziehung, kondomgeschützten Sexualkon61 BGHSt. 2, S. 160 ff., 163. Weitere Nachweise bei Lackner, StGB, 20. Auf!. 1993, § 223a Rdnr. 8. Zur HIV-Infektion siehe BGHSt 36, S. 262 ff., 268 f. mit krit. Anmerkungen Lüderssen, Die im strafrechtlichen Umgang mit AIDS verborgenen Motive - Hypermoral oder Gesinnungsethik?, in: StV 1990, S. 83 ff. Auch nach der Gegenmeinung, die die Eignung zur Lebensgefährdung bejaht und die Erhebung aller Umstände des konkreten Einzelfalles fordert (vgl. Horn, SK, StGB, BT, 5. Auf!., Stand Mai i993, § 223 a Rdnr. 26 m.Nachw.), ist die Übertragung des Virus auf einen Menschen eine das Leben gefahrdende Behandlung (Horn, a. a. 0., § 223 Rdnr. 22 a; ScheuerI, AIDS und Strafrecht, Jur. Diss. Hamburg, 1992, S. 82 ff. m.w.Nachw.; anderer Ansicht z. B. Heinrich, Die gefährliche Körperverletzung. Bestandsaufnahme und Versuch einer Neuorientierung, 1993, S. 755). Wer meinte, es sei lebensfremd, den virustransmissiven oder gar virustransmittierenden Geschlechtsakt als versuchte oder vollendete gefahrliche Behandlung i. S. d. § 223 al 4. Alt. StGB anzusehen (so Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO 1994, S. 463 ff., 474), spaltet den virustransmissiven Kontakt zwischen dem Geschlechtsakt an sich und seiner Gefahrlichkeit oder seinem Erfolg auf. Zumindest der ungeschützte Sexualkontakt eines HIV-Infizierten ist aber stets gefahrlich. Hiervon zu abstrahieren, wird durch den Wortlaut nicht gefordert. Dies ist entscheidend, gleichviel, ob die Aufspaltung oder die Gesamtbetrachtung als ,lebensnah' gewertet wird.
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takt will, tut dies in der Sinnprägung gemeinverbreiteter AIDS-Aufklärung. Sein Kondomgebrauch kommuniziert gerade wegen der Infizierten und Gesunden massenmedial unterstützt angeratenen Kondombenützung dem gemeinen Erklärungswert nach, daß er ein für möglich erachtetes Risiko der HIV-Transmission zum Restrisiko dämpfen will, sei es, daß er sicher oder möglicherweise selbst infektiös ist, sei es, daß er Infektiösität seines Partners für nicht ausgeschlossen hält. Der Kondomgebrauch seitens eines Kontaktpartners kommuniziert daher implizit auch: "Ich bin oder könnte HIV-Träger sein. Ich dämpfe etwaig von mir ausgehende HIV-Transmissivität. Bist Du mit dem etwaig risiko gedämpften Kontakt trotz etwaigen Restrisikos einverstanden?". aaa) Erkennt der Partner diesen objektiven Informationsgehalt, wird er restrisikosehend; er übernimmt, stimmt er dem Kontakt dennoch zu, unrechtsausschließend das Restrisiko. Erreicht der Kommunikationswert den Partner (etwa bei unbemerktem Kondomgebrauch) nicht oder wird er wegen situationsbedingter Kognitionsdefizite (etwa Alkohol, Geistesschwäche, Unreife) verkannt, so übernimmt der Partner das Restrisiko nicht. Meint der Infizierte realitätsgerecht oder irrig, der Partner habe das Restrisiko erkannt, so handelt er im Hinblick auf eine etwaig tatrelevante Risikozufügung jedenfalls ohne Vorsatz. Meint der Infizierte irrig, der Kontaktpartner verkenne den hier entscheidenden Kommunikationsteil des Kondomgebrauchs, so läge allenfalls der untaugliche Versuch (einer etwaig tatrelevanten Restrisikozufügung) vor; daß gerade dieser Fall die Statthaftigkeit der etwaigen Kriminalisierung untauglicher Versuche in einem dem Rechtsgüterschutz 62 (und dies heißt: dem Schutz von Dispositionshoheiten) verpflichteten Strafrecht bezweifeln läßt, sei betont. bbb) Die auf den sozial (nicht ausschließlich rechtlich!) vermittelten Kommunikationsgehalt des Kondomgebrauchs 63 abstellende Bewertung restrisikoträchtiger Sexualkontakte im Hinblick auf eine etwaige Restrisikoübernahme ist dann überzeugend, wenn der Infizierte seine Infektiösität nur für möglich, nicht aber seropositiv-testbestätigt weiß. Denn dann sind die Wissensstände oder Vorstellungsbilder der Kontaktpartner kaum asymmetrisch. Sie ist aber auch dann möglich und gegenüber einer der offiziösen AIDS-Beratungspolitik den Rang von Rechtsregeln des erlaubten Risikos setzenden Lösung präferibel, wenn (seil.: allein) der HIV-Träger testbestätigt von seiner Virusträgerschaft und aufgeklärt von seiner Infektiösität weiß. Zugegeben: Der Infizierte weiß dann mehr als der nicht von der Seropositivität wissende Kondominformierte. Jener hat eine sichere Datenbasis, dieser rechnet 62 Die Kriminalisierung untauglicher Versuche ist ohne Friktion mit dem Grundsatz, Straftatschaffungen seien nur dort legtimierbar, wo sie zur Abwehr von Rechtsgutsverletzungen oder Rechtsgutsgefährdungen notwendig sind, nicht möglich. 63 Vgl. bereits zum Symbolgehalt des Kondomgebrauchs im Zeitalter vor AIDS und im Zeitalter von AIDS Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung. Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 373 ff., 419.
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nur mit etwaiger Infiziertheit. Wissen ist Macht, Mehrwissen ist Mehrmacht. Wer in Situationen venneidbaren Rest-Risikos mehr weiß, hat mehr Venneidemacht. Die wissentliche (und, je nach Vorsatzdefinition, auch willentliche) Zufügung nicht übernommener, unerlaubter Risiken tatrelevanter Art gegenüber einem Schlechterwissenden kann täterschaftskonstitutiv sein 64 • Indessen, schon bei Infizierten, die kraft hochindizieller Daten für sich von der Möglichkeit erfolgter Eigeninfektion ausgehen (etwa Kombination von ARe-Symptomen, promiskuitivem Vorleben, gelebte Bi-Sexualität mit Analverkehrspraktiken, früherem needle sharing, etc.), können sich die vom kondomgebrauchenden Infizierten und die vom ,kondominformierten ' Kontaktpartner gewußten Momente unterscheiden. Entscheidend ist, daß der Kondomgebrauch heute auch den Infonnationsgehalt einer möglicherweise erfolgten HIV-Vorinfektion des Kondomgebrauchers hat. Bereits diese Infonnation vermittelt dem so deutenden Kontaktpartner eine Möglichkeitsvorstellung. Das Wissen um das mögliche Versagen kondomgeschützten Geschlechtsverkehrs war schon vor AIDS allgemein bekannt; es umfaßt nunmehr auch das Restrisiko. Information und Allgemeinwissen bemächtigen den Kondomkontaktpartner dazu, die Vorstellung von Vorinfektion und Restrisiko zu gewinnen. Sie ennöglichen ihm Risikopräferenzenwahl (Restrisikoakzeptanz, Restrisikodämpfung [etwa durch Verlangen von coitus interruptus] oder Restrisikomeidung). Das etwaige oder reale Restrisiko ist vom kondominformierten und hierdurch restrisikowissend gewordenen Kontaktpartner rechtswirksam übernommen 65 . cc) Angemerkt sei zweierlei. Zum einen: Geht der entsprechend (korrekt oder fälschlich so allein) informierte Infizierte davon aus, daß das Infektionsrisiko ohnehin, etwa wegen sicher sachgemäßen Gebrauches, gegen Null tendiert (etwa 1:5 Milliarden beträgt)66, so hat er bereits (gleichviel, wie hoch das Restrisiko realiter ist) keine tatrelevante Risikovorstellung; Strafbarkeiten wegen eines Vorsatzdeliktes scheiden aus. Denn eine ,Nullrisiko-oder Nahezu-Nullrisiko-Vorstellung' ist Nichtwissen von der Zufügung eines unerlaubten oder gar tatrelevanten Risikos. Die nachträgliche Einsicht in Kondomfehlerhaftigkeit oder unsachgemäßen Gebrauch wäre allenfalls unbeachtlicher dolus subsequens. Zum anderen: Bei nachvollziehbaren (,konkreten') Zweifeln in einer forensischen ,non-liquet-Situation' nach durchgeführter Beweisaufnahme, ob der Infizierte trotz ,sinnfälligen' Kondomgebrauches in der Vorstellung eines verständigerweise zu berücksichtigenden Restrisikos und einer fehlenden Restrisikosicht des Opfers handelte, gilt der Satz ,in dubio pro reo'. Dem praktischen Ergebnis nach ist damit so gut wie immer Straflosigkeit eines coitus condomatus ohne infizierende Wirkung erreicht. Dennoch ist die Kritik an Vgl. Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 61 f. Zur Rolle des § 226 a StGB bei der Einwilligung in eine HIV-transmissive Gefährdungslage vgl. Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung. Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, S. 375 ff., 481 ff. 66 Eberbach, Aktuelle Rechtsprobleme und HIV-Infektion, in: AIFO, 1988, S. 307 ff., 315, Fn.14. 64 65
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der ,herrschenden Lehre' von der generellen Erlaubtheit kondomgeschützten Geschlechtsverkehrs mit einem Risikoblinden nicht müßig. Denn diese Kritik erhält die Dispositionshoheit des Gefährdeten. Sie zwingt, sei es auch erst durch entsprechende Einlassungen verteidigerlich Instruierter, auch die Risikozufüger zur Vergegenwärtigung ihrer Aufklärungspflicht. Sie kommuniziert durchgängig Dispositionshoheit des Gefährdeten und Aufklärungspflicht der Gefährdenden. e) Ob jegliche kondomgeschützte Penetration sicherer ist als kondomungeschützte Penetration mit coitus interruptus ist zweifelhaft; angeblich ist "Analverkehr mit den üblichen dünnwandigen Kondomen wegen der Gefahr des Platzens risikoreicher ... als Analverkehr ohne Kondom, wenn dieser vor der Ejakulation abgebrochen wird,,67. Die ,offiziöse' AIDS-Beratung nennt wohl allermeist den coitus interruptus nicht als Methode des ,safer sex', obschon es Broschüren gab, die coitus interruptus als Technik des safer sex ausgeben 68 . Rechtsprechung 69 und Literatur70 gehen meist von einem unerlaubten Risiko bei coitus interruptus aus. Dem ist schon wegen der auch ohne Ejakulation möglicherweise stattfindenden Absonderung etwaig viruskontaminierter Begleitsekrete zuzustimmen. Darüber hinaus: Daß coitus interruptus das ,Restrisiko' gegen Null tendieren läßt oder geringer werden läßt als Kondomgebrauch, ist zumindest ungewiß. Coitus interruptus ist risikomindernd nur durch den Infizierten übbar, ohne sichere Einflußmöglichkeit des Penetrierten. Begleitsekret, Erfolgsungewißheit und mangelnde Einflußchance machen das Restrisiko eines (im Sexualakt intendierten) coitus interruptus generell unerlaubt. Es ist von der Gestattung des Kontaktpartners abhängig. aa) Objektiv ist insoweit bedeutsam, daß coitus interruptus weder wie der vorsexualaktliche Kondomüberzug ,augenscheinlich' ist noch allgemein empfohlenes safer-sex-Mittel geworden ist. Coitus interruptus kommuniziert nicht implizit und dennoch ,sinnfällig' die Botschaft: "Ich möchte HIV-Transmissivität durch coitus interruptus vermeiden. Ich könnte HIV-infiziert sein. Bist Du mit dem etwaigen Restrisiko einverstanden?". Zur Risikopräferenzenwahl (durch risikoeliminierende Meidung des Kontaktes, risikodämpfenden Gebrauch eines Kondoms, oder Risikoübernahme) bemächtigt Bruns, Ein Rückschlag für die AIDS-Prävention, in: MDR 1989, S. 199 ff., 201. Vgl. LG Nümberg-Fürth, NJW 1988, S. 2312. 69 Vgl. LG Hechingen, AIFO 1987, S. 220; BGHSt 36, S. 1 ff., 16. 70 Vgl. Bottke, Rechtsfragen beim ungeschützten Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten, in: AIFO 1989, S. 468 ff.; Frisch, Riskanter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten als Straftat - BGHSt 36, I, in: JuS 1990, S. 362 ff.; Helgerth, Anmerkung zu BGH-Urteil vom 4. 11. 1988, in: NStZ 1989, S. 117 ff., 118; Herzberg, AIDS. Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, in: JZ 1989, S. 470 ff., 475; Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO 1994, S. 463 ff., 469 f.; Kreuzer, AIDS und Strafrecht, in: ZStW 100, 1988, S. 786 ff., 800; Prittwitz, Das AIDS-Urteil des Bundesgerichtshofes, in: StV 1989, S. 123 ff., 127; Rengier, AIDS und Strafrecht, in: JURA 1989, S. 225 ff., 226 ff.; Schlehofer, Risikovorsatz und zeitliche Reichweite der Zurechnung beim ungeschützten Geschlechtsverkehr des HIV-Infizierten, in: NJW 1989, S. 2017 ff., 2021. 67
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der Infizierte seinen Kontaktpartner nur, wenn der Infizierte vor dem Sexualakt ausdrücklich auf coitus interruptus zum Zwecke der Minderung oder des Ausschlusses von HIV-Transmissivität besteht und dies explizit erklärt. bb) Subjektiv kann der Infizierte als Risikoschaffer der Ansicht sein, er sei (dank eigener Erfahrung) zur Praktizierung des coitus interruptus imstande. Nimmt der Infizierte etwa auf Grund fehlerhafter Beratung oder sonstiger Vorinformation an, sein sicher praktizierter coitus interruptus schließe ein Eindringen viruskontaminierter Sekrete in den Körper des Partners aus, so fehlt es am Vorsatz; eine etwaige Infektion ist im Rahmen von Fahrlässigkeit zu prüfen. Rechnet der Partner dagegen damit, beim Versuch des coitus interruptus zu versagen, oder kennt er die Infektiösität von Begleitsekreten trotz coitus interruptus, so ist das Wissen um die etwaig tatrelevante Zufügung eines generell unerlaubten, nicht vom Gefahrdeten übernommenen Risikos (je nach Deliktsbeschreibung und Vorsatzdefinition vorsatzkonstitutiv) gegeben. 2. Folgt man der ,Vollendungslösung' über § 223 I 1. Alt. StGB nicht, so sind de lege lata wegen Fehlens einer (etwaig auch einverständliche HIV-transmissive Kontakte erfassenden) lex specialis nur Versuchstrafbarkeiten denkbar. a) Diese beginnen im deutschen Strafrecht bei der Erfassung ungeschützter HIVtransmissiver Kontakte mit dem Versuch einer gefährlichen Körperverletzung. Sie setzen sich fort mit dem Versuch der Vergiftung. Und sie enden mit dem Versuch des Totschlages oder gar des Mordes. Die Versuchsstrafbarkeiten wären wegen ihres überschießenden Unwertes auch zu prüfen, wenn und soweit Strafbarkeit wegen vollendeter einfacher Körperverletzung oder wegen eines Gefahrdungstatbestandes (in Deutschland de lege ferenda) bejaht würde, ohne daß diese Strafbarkeit den Charakter einer lex-specialis-Regelung hätte 71 • Dies wäre dann der Fall, wenn der Gefährdungstatbestand nicht die Individualrechtsgüter des Gefährdeten oder gar Neuinfizierten, sondern allein die Volksgesundheit schützte. Denn die Opfer HIV-transmittierender Kontakte haben ein Recht darauf, daß das Strafrecht ihrem individuell zugefügten Leid seine gegenkommunikative Stimme leiht und es korrekt benennt72. Hier ist nicht der Raum, alle insoweit zu behandelnden Probleme erneut zu diskutieren 73. Für die als applikabel erwogenen Tatbestände sei nur folgendes bemerkt: 71 Die bloße Schaffung von Gefährdungstatbeständen, die die allgemeine Volksgesundheit schützen würden, sperrt nicht notwendig die Bejahung von Strafbarkeiten nach den §§ 211 ff., 223 a ff., 22 StGB. Denn die genannten Paragraphen umschreiben Delikte, die gegen Individualrechtsgüter gerichtet sind. Das individuelle Opfer virustransmissiver Kontakte hat ein Recht darauf, daß das, was ihm angetan wurde, korrekt kommuniziert wird. 72 Dies ist der Grund für die strafprozessuale Institution des K1ageerzwingungsverfahrens. Unter dem Schleier der Unwissenheit eigener Betroffenheit würde der Verzicht auf eigene Maßnahmen der Leidbenennung und Leidverfolgung nur gesellschaftsvertraglieh vereinbart werden, wenn zureichende ,Leidnotierung' durch den Staat erfolgte. 73 Dies gilt namentlich für die hochdiffizile Vorsatzdefinition (vgl. insoweit Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die
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a) Im Hinblick auf die Annahme eines Vergiftungsversuchs bei ungeschütztem virustransmissivem Kontakt gegenüber einem Risikoblinden meine ich nach wie vor, daß von einem ,Stoff' umgangssprachlich bei sinnbewußter Verwendung dieses Ausdrucks nur dann gesprochen werden kann, wenn der Virus sich in Blutoder Körperteilprodukten befindet, die einem fremden Verwendungszweck dienen. Denn der Mensch heißt und ist weder sich noch anderen zur Gänze oder in seinen nicht kommerzialisierten körperlichen Teilen oder Sekreten Zeug74 oder Stoff75 . Erst dann, wenn Blut, Körperteile oder Sekrete vom Körper separiert und fremdnützliche Produkte geworden sind, sperrt sich die menschliche Dignität achtende Umgangssprache nicht dagegen, das viruskontaminierte Produkt ,Stoff' zu nennen. aa) Im Ergebnis könnte die Einbringung kontaminierter Blut-, Sekret- oder Körperteilprodukte in den Körper eines anderen, bei Erfülltsein der bedeutungsstrittigen Stratbarkeitsvoraussetzungen im übrigen 76, Vergiftung sein. bb) Lex specialis des Verbringens eines anderen in eine HIV-transmissive Risikolage durch Einbringen viruskontaminierter Produkte in den Körper des Gefährdeten ist § 229 StGB gegenüber den Tötungsdelikten nicht77. Eine lex -specialisAnnahme würde auf die Verkürzung der Funktion von Tatsprüchen hinauslaufen, als Verdikte den vollen straftatbegründenden Unwert eines Geschehens wiederzugeben; ist man der Ansicht, daß dieser Unwert auch tötungsdeliktlicher Art ist, muß auch dieser durch Tatwahrspruch benannt werden. Andernfalls wäre sowohl das Opferbelang, erlittenen Gefährdungen oder Verletzungen strafrechtliche Stimme zu geben, als auch das generalpräventive Bedürfnis nach tatunwertwahrer Gegenkommunikation unerfüllt. Rechtsproblematik von AIDS, 1988, S. 171 ff.; Bottke, in: AIFO 1988, S. 628 ff.; Bottke, in: AIFO 1989, S. 152 ff. und 468 ff.) und die Bestimmung der täterkonstitutiven Elemente bei der Organisation virustransmissiver Kontakte (vgl. auch Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft. Struktur der Täterschaft bei aktiver Begehung und Unterlassung als Baustein eines gemeineuropäischen Strafrechtssystems, 1992). Dies gilt auch für die Festlegung der Bedeutungsmerkmale der jeweils prüfungsrelevanten Straftatbestände. 74 Vgl. zu der fehlenden Werkzeug-Qualität eigener körperlicher Bestandteile (etwa der Faust) Horn, SK, StGB, BT, 5. Aufl., Stand Mai 1993, § 223 a Rdnr. 9. 75 Schief ist es dagegen, den Charakter des ,Stoffes' mit der Begründung zu verneinen, der Virus sei eine biochemische Struktur, die einem Lebewesen gleichkomme, so aber Knauer, Die Strafbarkeit des HIV-Infizierten beim Vollziehen sexueller Kontakte mit getroffenen Schutzmaßnahmen, in: AIFO 1994, S. 463 ff., 474 f. Wäre dies richtig, könnten Gifte oder Stoffe nur Substanzen sein, die kein biochemisch vermitteltes eigenes Leben haben. Die Umgangssprache, der der Gesetzgeber die Ausdrücke des § 229 StGB sinnzuweisend entlehnt hat, gönnt Viren nicht die Dignität der ,Stoff-Freiheit'. 76 Für die Wortfolge "um dessen Gesundheit zu beschädigen" fordern nur dolus eventualis Schünemann, Die Rechtsproble der AIDS-Eindämmung. Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsproblematik von AIDS, 1988, S. 375 ff., 469 ff.; Herzberg, AIDS, Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, in: JZ 1989, S. 470 ff., 480 ff. Anders die h.M. (BGHSt 32, S. 130 ff.) und h.L., Lackner, StGB, 20. Aufl., 1993, § 229, Rdnr. 4; Hirsch/LK, StGB, 10. Aufl., 5. Band, 1989, § 229, Rdnr. 18 f. 77 Lackner, StGB, 20. Aufl., 1993,229 Rdnr. 7.
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b) Was die Annahme eines versuchten Totschlages bei ungeschütztem virustransrnissivem Kontakt gegenüber einem Risikoblinden angeht78 , so waren und sind ihr ,leichtere' und ,schwerere Einwände' entgegengestellt. aa) Der Charakter des Todeseintritts als Spätfolge (war79 und) ist dem Schutzzweck der vorsätzlichen Delikte gegen das Leben nach kein taugliches Argument, um in HIV-transrnissiven Kontakten sexueller oder asexueller Art Tötungsversuch zu verneinen 80. Denn eine erfolgte Infektion führt kontinuierlich belastungssteigernd, hochwahrscheinlich und für den Infizierenden oder Dritte (nach derzeitiger Heilbefähigung) unabwendbar zum letalen Ende. Daß die Realisierung eines solchen Risikos im Tod, unterstellt das Infektionsrisiko sei überhaupt straftatrelevant, außerhalb des Schutzzweckes der gegen vorsätzliche Tötungen gerichteten Nonnen liegt, ist entgegen Schünemann 81 nicht einzusehen82 . 78 Vertreten u. a. von Arloth, Anmerkungen zu AG München, Urteil vom 6. 5. 1987, in: NStZ 1987, S. 408 f.; Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Hrsg., Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 179; ders., Rechtsfragen beim ungeschützten Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten - Zugleich eine Beurteilung des Urteils des Bundesgerichtshofes vom 4. 11. 1988, BGH - 1 StR 262/88, in: AIFO, 1989, S. 468 ff., 637; Bruns, AIDS, Prostitution und Strafrecht, in: NJW 1987, S. 693 ff.; Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl., 1993, § 223 Rdnr. 6 b; Eberbach, AIDS und Strafrecht, in: MedR 1987, 267 ff., 269; Geppert, Strafbares Verhalten durch - mögliche AIDS-Übertragung, in: Jura 1987, S. 668 ff., 672; B.-D. Meier, Strafrechtliche Aspekte der AIDS-Übertragung, in: GA 1989, S. 207 ff., 226; Rengier, AIDS und Strafrecht, in: Jura 1989, S. 225 ff., 229; ScheuerI, AIDS und Strafrecht, Jur. Diss. Hamburg, 1991, S. 131 ff. Der BGH schließt die Möglichkeit versuchten Totschlages nicht aus, vgl. BGHSt 16, S. 1 ff., 15 f. 79 Vgl. Le. Bottke, AIFO 1988, S. 628 ff., 632, 634 ff.; Bottke, AIFO 1989, S. 468 ff., 474 ff. 80 Vgl. o. Herzberg, Die strafrechtliche Haftung für die Infizierung oder Gefährdung durch HIV, B I 2. Ob die Verjährungsanalogie Beifall verdient, erscheint mir trotz der Replik Herzbergs auf die vorgetragenen Monita zweifelhaft. Denn: Die Regeln der Verfolgungsverjährung sind von allgemeinen Überlegungen zur kriminalpolitischen Weisheit und zum zeitbedingten Verlust an Beweismittelqualität gesteuert, die sich in ihrem Gehalt und ihrer Teleologie strukturell von straftatbegründenden Zurechnungserwägungen unterscheiden. Besagte Regeln setzen die straftatbegründende Zurechnung von Risiko (hier: des Tötungsrisikos) voraus. Gegebene Straftatverfolgungsverjährung läßt dem Opfer einer verfolgungsverjährten Straftat das Recht, das ihm Angetane straftatlichen Normbruch zu nennen. Verjährungsanalogie würde, wäre sie rechtstechnisch als Rechtsnormanalogie zu begreifen, die Rechtsfolge der Verfolgungsverjährung aus Gründen des Gleichheitssatzes auf einen Sachverhalt übertragen, der der Norm ihrem Wortlaut nicht unterzuordnen wäre. Die Verjährungsanalogie Herzbergs nimmt dem Opfer aber mit dem Ausschluß der Zurechnung des Tötungsrisikos das Recht, sich als tötungstatlich gefährdet zu bezeichnen. 81 Schünemann, Die Rechtsprobleme der AIDS-Eindämmung - Eine Zwischenbilanz, in: Schünemann/Pfeiffer, 1988, S. 373 ff., 483 ff. Ebenso noch Herzberg, AIDS: Herausforderung und Prüfstein des Strafrechts, in: JZ 1989, S. 470 ff., 488 ff.; Schlehofer, Risikovorsatz und zeitliche Reichweite der Zurechnung beim ungeschützten Geschlechtsverkehr des HIVInfizierten, in: NJW 1989, S. 2071 ff.; für § 229 StGB früher Lang, Strafrechtliche und Strafprozessuale Aspekte des AIDS-Problems, in: AIFO 1986, S. 148 ff., 149.
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Etwas anderes wäre in der Zukunft dann der Fall, wenn der Neuinfizierte sich risikoverbösemd neuentdeckten medizinischen Möglichkeiten der Abwehr gegen den Ausbruch der Krankheit oder der Heilung einer ausgebrochenen AIDS-Erkrankung verweigerte. Erst recht wäre derzeit und zukünftig die tragische Flucht vor der Krankheit in den Tod, die ein Neuinfizierter nach rechtlichen Maßstäben eigenverantwortlich 83 vor dem etwaigem Urteil gegen den Organisator virustransmittierenden Kontaktes vollzöge, nicht diesem zurechenbar. Und auch die bewußte Mehrung von weiteren Ausbruchsrisiken (etwa das Eingehen weiterer HIV-infektiöser Kontakte) mag die Zurechnung des (hierdurch u.U. beschleunigten) Todeseintritts verunmöglichen. Solange aber der Neuinfizierte keine Chance hat, dem Ausbruch der Krankheit allein durch sorgsamen Lebenswandel zu entgehen, weil AIDS-Ausbruch und AIDS-Erkrankung medizintechnisch unverhütbar und incurabel sind, siedelt die Realisierung des durch den HIV-transmissiven Kontakt zugefügten Sterberisikos innerhalb des Schutzzweckes der Norm. bb) Abzulehnen ist auch die Herzbergsche These, "absichtliche HIV-Injizierungen" seien "zwar Tötungsversuchshandlungen, aber sie erfüllen den Versuchstatbestand ... nicht vollständig und dürfen deshalb als Mord- oder Totschlagsversuch nicht angeklagt werden,,84. Dabei ist der ,Folgeteil ' der These im Sinne Herzbergs (?) wohl und erst recht auf alle, auch nur vorsätzlichen, asexualaktlichen oder sexualaktlichen Einbringungen HIV-haltiger Körpersekrete, Blut- oder Körperteilsprodukte in den Körper eines anderen zu erstrecken. aaa) Es sei allerdings die Möglichkeit eingeräumt, "zwischen Ansetzungshandlung und Ansatzerfolg" zu differenzieren. Ja, das Verlangen nach einem nennenswerten Ansatzerfolg ist in einem dem Rechtsgüterschutz strikt verpflichteten Strafrecht auch notwendig. Denn dieses setzt(e) allüberall für Strafbarkeiten, auch die des Versuches, den Unrechtserfolg der Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsgutes voraus. Ohne Rechtsgutsgefährdung straftatrelevanter Art ist kein versuchsstrafnotwendiger ,Ansatzerfolg' gegeben. Dies gälte nur dann nicht, wenn man für den strafbaren Versuch wegen der erfolgten Kriminalisierung auch des untauglichen Versuches systemwidrig insoweit keinerlei Rechtsgutsgefährdung forderte oder sie ,vergeistigte' und unter Verzicht auf einen realen, gutsobjektbezogenen Gefahrsachverhalt allein in der subjektiven Mißachtung der Dispositionshoheit des Rechtsgutsträgers und in tatvorgestellter Risikozufügung erblickte 85 . Ein Ansetzer82 Zur Ablehnung des ,Rücktrittsarguments' und des Arguments der ,Nachböserung' vgl. Bottke, AIFO 1988, S. 628 ff., 634 ff.; Bottke, AIFO 1989, S. 468 ff., 474. 83 Es sei wiederholt: Die HIV-Infizierung macht den Infizierten nicht normativ unansprechbar. Er hat die Würde der Eigenverantwortlichkeit wie jeder andere Bürger auch. Zur Definition des Freitodes als nach §§ 19,20,35 StGB, 3 JGG eigenverantwortlich vollzogenen Suizid vgl. Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 100 f.; ders., Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 75; ders., Recht und Suizidprävention, in: Recht und Psychiatrie 1993, S. 174 ff., 181, mit Nachw. 84 Herzberg, in diesem Bande, Skript S. 21, B. II 3. 85 Daß das deutsche Recht mit der Strafbarkeit wohl jeden untauglichen Versuchs in einen nur mühsam aushaltbaren Konflikt zu dem axiomatischen Ausgangspostulat einer verfas-
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folg oder, allgemeiner und jegliche Versuchsstratbarkeit über die Versuchshandlung hinaus kumulativ an eine ,Erfolgsgefahr' bindend, ein Versuchserfolg ist für eine rationale, ohne Abstrich verfassungskonforme Versuchsstratbarkeitslehre notwendig. bbb) Aber, wegen (gesetzlicher Wertung nach schon an sich stratbar gegebenen) Versuchs wird de lege lata domestica in Deutschland nicht bestraft, wer freiwillig entweder die Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert (§ 24 I S. I StGB). Wenn das Gesetz das freiwillige Aufgeben weiterer Gefahrsetzungsakte, deren Vornahme für den Erfolgseintritt notwendig wäre, für die Versuchsstratbefreiung genügen läßt, so macht es deutlich, daß Versuch bei Vornahme einer Ansetzungshandlung (hier nach Herzberg die Tötungsversuchshandlung) bereits dann in strafbarer Weise vorliegen kann, wenn in der Vorstellung des Handelnden noch keine vollständige, ,tatvollendungsfähige' Erfolgsgefahr, wohl aber schon eine Erfolgserwirkungsgefahr gegeben ist. Eine Erfolgserwirkungsgefahr muß beim sog. unbeendeten (bereits tauglichen und stratbaren) Versuch noch durch weitere Risikozufügungsakte des Taters komplettiert werden. Stratbarer Versuch ist gesetzlicher Wertung spätestens und erst recht dann gegeben, wenn die versuchshandlungsbewerkte Erfolgsgefahr über eine noch tatvollendungsunfahige Erfolgserwirkungsgefahr hinausgeht. aa aa) Die nach einer Ansetzhandlung vor Tatvollendung gegebenen Erfolgsgefahrstadien seien benannt als Erfolgserwirkungsgefahr, Erfolgsbewerkungsgefahr, Erfolgsrealisierungsgefahr, Erfolgseintrittsgefahr, Erfolgszustandsgefahr und Erfolgsvollendungsgefahr. Alle Erfolgsgefahren reichen bei Versuchshandlung zur Begründung von Versuchsstratbarkeit hin. Erfolgserwirkungsgefahr heiße diejenige Risikolage, die (auch oder, bei Kriminalisierung auch des untauglichen Versuches, nur aus der Sicht des Risikozufügers) zu ihrer tatvollendungsnotwendigen Komplettierung weitere Gefahrzufügungsakte fordert. Erfolgserwirkungsgefahr ist durch schlichten Verzicht auf weitere Gefahrkomplettierungsakte für den Versuchstäter und Gefahrzufüger beseitigbar (§ 24 I S. 1 1. Alt. StGB). Verkennt der hinsichtlich einer Erfolgserwirkungsgefahr vorsätzlich handelnde Gefahrzufüger, daß er versuchsansetzend bereits Gefahrmomente setzt, die für den Erfolgseintritt hinreichen und tritt der Erfolg ein, irrt er (wesentlich oder) unwesentlich über den Gefahrverwirklichungsablauf. Im Falle vermeintlich gefahrparalysierenden freiwilligen Verzichts auf weitere Erwirkungshandlungen ist sein Rücktritt (zumindest) versuchsstraferzwingend mißlungen 86 . sungskonfonnen Stratbarkeitslehre, nur Rechtsgutsverletzungen oder -gefährdungen seien kriminalisierbar, gerät, sei wiederholt. Rechtsordnungen, in denen der untaugliche Versuch nicht krimminalisiert ist, sind dem Axion der straftatnotwendigen Rechtsgutsverletzung oder Rechtsgutsgefährdung getreuer. 86 Vgl. zum mißlungenen Rücktritt Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 538 ff.
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Denn er entkräftet mit der bestehen bleibenden, ja, sich im Erfolg niederschlagenden Erfolgsgefahr nicht alle Momente, die Versuchsstrafe begründen; ob der freiwillige Verzicht an der Zurechnung des Erfolges als vorsätzlich vollendete Tat hindert, ist eine Frage der subjektiven Zurechnung. Erfolgsbewerkungsgefahr heiße eine (auch oder, vgl. oben, nur aus der Sicht des Gefahrzufügers) möglicherweise bereits hinreichend begründete Erfolgsgefahr, die für den Gefahrzufüger noch aktiv beseitigbar ist (§ 24 I S. 1 2. Alt StGB). Bemüht sich der Risikozufüger ernsthaft und freiwillig bei bestehender Erfolgsbewerkungsgefahr vergeblich, diese zu verhindern, bleibt zumindest sein (beendeter) Versuch strafbar; ob Strafe wegen vorsätzlicher Tat ausgeworfen werden kann, ist wiederum eine Frage der subjektiven Zurechnung. Erfolgsrealisierungsgefahr sei genannt eine Risikolage, die (auch oder, vgl. oben, nur aus der Sicht des Gefahrzufügers) sicher hinreichend begründet und für ihn durch eigene aktive Akte noch paralysierbar ist (§ 24 I S. 1 2. Alt. StGB). Mißlungene, freiwillige und ernsthafte Bemühungen der Gefahrparalysierung sind erneut als Problem der subjektiven Zurechnung zu verorten. Als Erfolgseintrittsgefahr sei eingemerkt eine Erfolgsgefahr, die (auch oder, vgl. oben, nur aus der Sicht des Gefahrzufügers) lediglich oder allenfalls noch durch Dritte, nicht aber mehr für den Gefahrzufüger durch sein alleiniges Handeln beseitigbar ist. Rücktritt ist nur noch durch freiwillige Einschaltung dieser Dritten durch den Risikozufüger denkbar. Als Erfolgszustandsgefahr sei betont eine Erfolgsgefahr, die· (auch oder, vgl. oben, aus der Sicht des Gefahrzufügers) für niemanden mehr abwendbar ist, sondern nur noch bei glücklichem Zufall sich nicht in dem Erfolg niederschlagen muß. Der Versuch ist (auch oder, vgl. oben, nur aus der Sicht des Gefahrzufügers) rücktritts unfähig. Erfolgsvollendungsgefahr ist eine Erfolgsgefahr, die (auch oder, vgl. oben, nur aus der Sicht des Gefahrzufügers) für niemanden mehr abwendbar ist und sich zufallsausschließend sicher in dem bevorstehenden Erfolg vollenden wird. Der Versuch ist rücktrittsunfähig. bb bb) Bereits die Erfolgserwirkungsgefahr ist ein für einen strafbaren Versuch hinreichender Ansetzerfolg. Erst recht sind hinreichende Erfolge der Versuchshandlung Erfolgseintrittsgefahr und Erfolgszustandsgefahr. Denn die von der Versuchshandlung begründete Gefahr muß gesetzlicher Wertung nach nicht durch Setzung aller für eine tatvollendungsfähige Erfolgseintrittsgefahr notwendigen Faktoren ,komplettiert' sein. Der von Herzberg geforderte ,Ansetzerfolg' ist in strafbegründungshinreichender Weise jedenfalls dann dargetan, wenn der Tater irrtumsfrei alles aus seiner Sicht Notwendige getan hat, um eine Erfolgseintrittsgefahr zu setzen. Ist dies geschehen, so ist der Versuch, um mit Herzberg zu sprechen, ,komplettiert', mag 20'
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auch die Realisierung dieser, im Moment der Risikosetzung unabwendbaren Gefahr naturgegeben noch lange hinausgeschoben sein. cc cc) So liegt es, unterstellt, die infektiöse Handlung sei überhaupt der zugefügten Gefahr nach, dem Herrschaftsanteil nach und dem Vorsatz nach eine taugliche Tötungsversuchshandlung, bei "HIV-Injektionen" oder sonstigen HIV-transmissiven Kontakten tötungshandlicher Art. Wenn Herzberg insoweit Tötungsversuchshandlungen bejaht und dennoch einen ,Ansetzerfolg' bestreitet, so übersieht er oder läßt contra legern bewertungslos, daß mit dem Einbringen des HIV-kontaminierten Sekretes, Blutes, Produktes oder Gegenstandes in den Körper des Gefährdeten alles getan wurde, was notwendig war, um den Erfolg zu erzielen. Angesichts der Wahrscheinlichkeit einer Erkankung nach etwaiger Infektion sowie der derzeitigen und wohl mittelfristig andauernden Incurabilität von AIDS ist bei Kenntnis hiervon (auch aus der Sicht des Risikozufügers) für nicht auf dem Gebiete der AIDS- und AIDS-Heilmittelforschung tätige Risikozufüger mindestens eine Erfolgseintritts- und vielleicht auch eine Erfolgszustandsgefahr gegeben. Die Einbringung infektiöser Substanzen in den Körper eines Risikoblinden ist, wenn (mit Herzberg) die Qualität einer Tötungsversuchshandlung (zu Recht) bejaht wird, beendeter Versuch mit (Versuchshandlung und) strukturell entsprechender, versuchsstrafhinreichender Gefahrenlage. Der Umstand, daß sich der Tötungshandlungserfolg erst später nach Erkrankung realisieren wird, hindert nicht an der Annahme beendeten Tötungsversuchs. Auf die Gefahr hin, dogmatomanischer Beispielfindungssucht geziehen zu werden, und mit der Bitte, die Unziemlichkeit eines lebens- und leidblinden Vergleiches, der die Not der infektiösen Erstopfer ausblendet, aus Gründen der Sachstruktureinsicht nachzusehen 87 : Auch der Chirurg, der im Körper eines anderen eine nach derzeitigem Befähigungsstand nicht explantierbare Bombe mit einer dem Infektionsrisiko vergleichbaren Wahrscheinlichkeit der letalen Explosion nach Jahren einbringt, hat hic et nunc einen beendeten Tötungsversuch mit einer für Versuchsstrafe hinreichenden Erfolgsgefahr (mindestens Erfolgsbewerkungsgefahr) begangen. Er hat hierfür hier und heute einzustehen. Andernfalls wäre der präventiven Schutzfunktion kriminalrechtlicher Tatmarkierung durch Kommunikation des geschehenen, rechtsgutsgefährdenden Nonnbruchs Abbruch getan. Es liegt nicht im Sinne einer der realen Erlebbarkeit gleicher Freiheiten und dem Schutze des Lebens verpflichteten Gesellschaft, derartige Zufügungen von Sterberisiken hic et nunc ohne kriminalrechtliche Gegenkommunikation zu lassen. ccc) Um es für realere Sachverhalte gegen die These fehlender tötungsdeliktischer Ansetzgefahr und gegen die These unstatthafter Spätfolgenzurechnung zuzuspitzen: Derjenige, der in den Körper eines Risikoblinden wissentlich HIV-kontaminierte Blutprodukte, Organexplantate oder andere Substanzen virustransmissiv selbst (d.h. eigenkörperlich, sei es auch durch Zuhilfenahme technischen Werk87 Nicht gesagt ist damit, daß HlV-Infizierte mit solchen Chirurgen und die Einbringung infektiöser Sekrete mit der Implantation wertmäßig vergleichbar wären!
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zeugs) einbringt, fügt diesem in täterschaftskonstitutiver Gefahrbewerkungshoheit eine versuchstötungstatrelevante Erfolgsgefahr zu. Auch er hat hierfür hier und heute einzustehen. Die zeitliche Spanne zwischen Gefahrsetzung und Gefahrverwirklichung ist zwar ungewöhnlich. Ein präventiv sinnvolles Strafrecht wartet aber nicht ab, bis schwerste Erfolge eintreten. Es entgeltet dem Tatschuldigen durch retributive Kostenproduktion nicht (nur) den Verletzungserfolg. Es will Verhalten tatrisikorelevanter Art steuern. Es nimmt und bringt normbrecherische Versuchshandlungen und ihre Gefahrerfolge leidnotierend in gegenkommunikativen Straftatsprüchen zur Ke~ntnis. Mithin: Immer dann, wenn selbst wissentlich viruskontarninierte Substanzen in den Körper eines Risikoblinden eingebracht werden, sind bei Annahme einer Tötungshandlung unmittelbar täterschaftliehe Versuchstatbegehung und eine Erfolgsgefahr gegeben, die für die Strafbarkeit eines versuchten Tötungsdelikts hinreicht. Dabei spielt es de lege lata für die Strafbegründung nach §§ 22, 212, 25 I 1. Alt. StGB keine Rolle, ob der Selbsthandelnde den HIV-transmissiven Kontakt sexualaktlieh bewerkt oder nicht, ob er eigene Körpersubstanzen einbringt oder von anderen starnrnende, die als Blutprodukte, Organimplantanda oder sonstig vermeintlich fremdnützliche Substanzen (etwa Spermen bei künstlicher Befruchtung) fungieren. Auch die von Blutern durch Blutransfusionen erlittenen Infektionen sind keine ,quantite negligeable'. Namentlich sie lassen diesen Ausgangspunkt setzen. ddd) Ergebnisbedeutsam könnte der Gedanke des ,Splittings' und der ,Kumulation' von Versuchsakt und Versuchsgefahr in Fällen werden, in denen die HIVtransmissive Einbringung viruskontaminierter Substanzen in den Körper des Gefährdeten nicht selbst (eigenkörperlich oder durch Zuhilfenahme technischer Mittel) erfolgt. Denn Organisationsakt des mittelbaren Täters ist nicht das Handeln des Tatmittlers, sondern sein eigenes Handeln oder Unterlassen. Eine Erfolgsgefahr ist erst augenscheinlich, wenn der Tatmittler zu seiner Tat ansetzt und eine Erwirkungsgefahr begründet. Von daher ist es, wenn mittelbare Täterschaft zur Prüfung steht, denkbar, zu differenzierenden Bewertungen zu gelangen. aa aa) Derjenige, der wissentlich HIV-kontarninierte Blutprodukte in den Verkehr bringt und die Verwender und Empfänger derartiger Produkte im Unwissen läßt, handelt pflichtwidrig. Er fügt den unwissenden Empfängern kraft täterschaftskonstitutiven Gebrauchs überlegener Gestaltungsherrschaft als mittelbarer Täter eines versuchten Begehungsde1iktes durch positves Tun jedenfalls dann versuchstötungstatrelevante Erfolgsgefahr zu, wenn das Produkt in den Körper des Empfängers eingebracht wird. Daß objektiv HIV-transmissive Einbringungen erfolgten, steht nach den ,Blutproduktskandalen ' in Frankreich, aber auch in Deutschland, fest. Die Realisierung der damit wirklichkeitsbelegten Erfolgsgefahr ist den Betroffenen Leid; sie würden den Euphemismus vom Restrisiko nicht gebrauchen. Ob Versuchsstrafbarkeit 88 der 88 Nach der Judikatur wäre zumindest der Versuch einer gefährlichen Körperverletzung zu bejahen. Nach Schünemann wäre, bei der von ihm vertretenen Interpretation der Absicht LS.
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Blutproduktvertreiber zu bejahen ist, hängt von ihrer Sorgfaltswidrigkeit und ihrem Wissensstand im Zeitpunkt der Vertreibung ab; daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist ohne Sachstandskenntnis nur auf Zeitungsberichte hin nicht sagbar. bb bb) Angesichts der Fälle, in denen das Produkt in HIV-transmissivem Kontakt verwandt wird, ist die Frage, welche Gefahrqualität schon früher gegeben ist, wohl nur von akademischem Interesse. Solange der HIV-transmissive Kontakt zu der Sphäre des Opfers nicht hergestellt ist, ist das Verhalten des Produktvertreibers, stellt man auf das einzelne Produkt und dessen einmalige Verwendung ab, ,infektionsrisikoverarmt'. Es ist damit auch ,taterfolgsgefahrverrnindert'. Einerseits, der bloße Produktvertrieb ist, bei einseitigem Wissen um straftatrelevante Gefahrlichkeit, schon nach allgemeinen Grundsätzen Versuchshandlung 89 • Der Versuch des mittelbaren Täters ist, anders als der Versuch des Gehilfen, strafbar; verlangte man stets für den strafbaren Versuch der Tat eines mittelbaren Täters die objektive Ansetzungshandlung des Tatrnittlers, näherte man die Strafbarkeitsvoraussetzungen versuchter mittelbarer Täterschaft denen der Beihilfe an, die zumindest den Versuch der Hauptat fordert. Andererseits, es bleibt umstreitbar, ob der noch nicht hergestellte Kontakt zum Opfer als sinnfälliges Moment des gefahrbegründenden Sachverhalts durch die Blindheit der Nachhandelnden, durch die zu erwartende Benützung des Produkts und durch die Erschwerung eigener (seitens des Produktvertreibers erfolgender) Risikoparalysierung ausgeglichen wird. Die Grenze dessen, was versuchte gefährliche Körperverletzung 90 , versuchte Vergiftung oder gar versuchter Totschlag umgangs- und rechts sprachlich heißen kann, ist hier zumindest erreicht. Die ungelöste Frage ist: Versucht erfolgsgefährlich an der Gesundheit bei lebensgefährdender Behandlung zu schädigen, zu vergiften oder durch Totschlag zu töten, wer (sei es auch nur bedingt) vorsätzlich ein oder mehrere HIV-kontarninierte Produkte in den Verkehr bringt, bevor es zur HIV-transmissiven Produktverwendung kommt und ohne daß es zu solcher Produkteinbringung kommt? Ist die HIV-transmissive Benützung des Produkts noch nicht erfolgt und bleibt sie aus, inkriminierte die Bejahung strafbaren Versuchs allein den verwerflichen Vertrieb eines oder mehrerer etwaig HIV-kontarninierter, fehlerhafter Produkte. Bestraft würde nicht ein Verhalten, das mindestens das versuchs typische Momenturn des durch ein unmittelbares Ansetzen zur eigentlichen Deliktshandlung hergestellten Kontaktes mit der Sphäre des Opfers aufwies und diesem nachweisbar auf Grund solchen Kontaktes erfolgsgefahrlich war. Die Annahme strafbaren Versudes § 229 StGB als Vorsatz, der Versuch der Vergiftung ausschließlich anzunehmen. Bei Bejahung der Versuchstötungsgefahr wäre nach hier vertretener Ansicht versuchter Totschlag, und, etwa bei Profitgier, u.U. Habgier und versuchter Mord anzunehmen. 89 Vgl. zum Versuchsbeginn des mittelbaren Täters statt aller Vogler/LK StGB, 10. Aufl. I. Band, 1985, § 22 Rdm. 102 ff. 90 Im französischen Strafrecht wäre ein ,coup de blessure' zu prüfen, Art. 309 ff. Code penale.
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ches schon im Moment der wissentlichen Vertreibung etwaig viruskontaminierter, nicht durch mögliche Maßnahmen der Risikoüberwachung gefahrkontrollierter Produkte91 ist, was die versuchstrafnotwendige Erfolgsgefahr (nicht die Versuchshandlung!) angeht, allenfalls stützbar auf zwei Realmomente, die der Gefahrbejahung über das Faktum der beendeten Versuchshandlung hinaus Substratgehalt verleihen: Das erste Moment ist, sofern bei Vertrieb eines Produktes isoliert gegeben, die (einseitig gewußte) Kontamination des einzelnen, nach Vertrieb sicher oder hochwahrscheinlich HIV-transmissiv gebraucht werdenden Produktes. Bleibt die HIVtransmissive Produkteinbringung dank eines glücklichen Zufalls nach Kontakt mit der Sphäre des Produktverbrauchers aus (das Glasbehältnis der viruskontaminierten Flüssigkeit zerbricht am Gebrauchsort nach Vertrieb), ist strafbarer Versuch gegeben. Das zweite Moment ist, sofern gegeben, eine solche (einseitig gewußte) Kumulation von Kontaminationsmöglichkeiten und Infektionsrisiken, die praktisch gewiß oder hochwahrscheinlich Ansteckung des Produktkontakters ergibt. Eine versuchsstrafnotwendige Erfolgsgefahr könnte gegenüber den jeweils einzelnen Blutern in der sozialen Realität nur gerade durch den massenhaften Vertrieb etwaig (!) kontaminierter Produkte und die Prognostizierung sicher kontinuierlicher Verwendungen92 hinreichend risikointensivierender Art durch risikoblinde Produktbenützer und Bluterpatienten gegeben sein. Die etwaige Versuchsstrafbarkeit des Vertriebes als Versuchshandlung des allein risikowissenden Produktvertreibers wäre im Interesse erlebbarer Freiheit von vermeidbaren Gefährdungen. Ob dieses Interesse durch die Applikation der gegen die (nachzuweisende) Gefährdung von Individualrechtsgütern de lege lata befriedigbar ist, bleibt (wie die Annahme hinreichend intensivierter Erfolgsgefahr) bezweifelbar. cc cc) Derjenige, der HIV-kontaminierte Blutprodukte in den Verkehr bringt und anschließend von ihrer Kontamination erfährt, hat Wissensherrschaft93 über das kontaminierte Produkt und dessen risikozufügende Verwendung durch Nichtwissende. Teilt er sein erlangtes Wissen über die Gefährlichkeit des Produkts nicht den Verwendern und Empfängern mit, so unterläßt er pflichtwidrig94 • Er fügt den 91 Einzuräumen ist, daß die Austestung gespendeten Blutes ein ,diagnostisches Fenster' läßt. Bei Organspenden steht der Risikokontrolle der Zeitdruck entgegen. 92 Wer mehrfach etwaig oder sicher HIV-kontaminierte Blutprodukte zugeführt bekommt, läuft praktischer Gewißheit nach ein höheres Risiko, als derjenige, der nur in einem Einzelfall eine etwaig oder sicher HIV-kontaminierte Bluttransfusion erhält. 93 Wer für Unterlassungstäterschaft in Fällen des Vertriebs gefährlicher Produkte Sachherrschaft über das gefährliche Produkt verlangte (so Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 95 f.), muß hier jegliche (auch eine nach § 229 StGB erfolgende) Haftung des Produktvertreibers verneinen. Vgl. aber BGHSt 37, S. 106 ff. (Ledersprayfall). Vgl. zum ganzen Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 143 f.; ders., Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsunternehmen de lege lata, 1994, S. 25 ff., 36, 43 ff.
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Empfängern kraft Gebrauchs übernommener und überlegener Gestaltungsherrschaft als mittelbarer Täter eines Begehungsdeliktes durch Unterlassen spätestens (vgl. oben) dann versuchstötungstatrelevante Erfolgsgefahr zu, wenn es zur Einbringung des HIV-kontaminierten Produktes in den Körper eines Risikoblinden durch einen risikounwissenden Produkteinbringer kommt. Unterließ der Wissensherr die gebotene Aufkärung oder, wo diese nicht sicher den Betroffenen eigenverantwortliche Risikopräferenzenwahl ermöglichend, den gefahrparalysierenden Rückruf aus Gründen des Profiterhalts oder der Profitmaximierung, so kann ,Habgier' gegeben sein. Dies kann ,Mordversuch', begangen als mittelbarer Unterlassungstäter (durch pflichtwidriges Unterlassen kraft übernommener Herrschaft über gefährliche Sachen und nach § 16 StGB analog relevant überlegener Gestaltungsherrschaft), bedeuten. cc) Selbstkritisch sei eingeräumt, daß die Qualifizierung der Gesamtrisikokette (geringes Infektionsrisiko, hohes Risiko des Ausbruches der AIDS-Erkrankung bei erfolgter Infektion, hohes Risiko des Sterbens an ausgebrochener AIDS-Krankheit) als tatrelevantes Tötungsrisiko mit den legislatorischen Abstufungen von abstrakten Gefährdungs-, konkreten Gefährdungs- und Verletzungsdelikten etwa im Bereich des Verkehrsstrafrechtes zumindest zu konfligieren scheint. Es ginge nicht an, wegen des (dem Gesetzgeber anzulastenden) Fehlens eines abstrakten Gefährdungstatbestandes und des Bedürfnisses nach appellativer Gemeinverständlichkeit HIV-transmissive Kontakte zu versuchten Verletzungsdelikten aufzustufen, wenn ihr Gefährdungspotential nicht re vera et de lege lata, gemeinsprachlichem Verständnis und deliktstatbestandlicher Wertung nach, das versuchter Verletzungsdelikte ist. Dies ist mit beachtenswerten Gründen bestreitbar. Gleichwohl sei versucht, die These eines straftatbestandlichen Tötungsrisikos für das deutsche Strafrecht zu verteidigen. aaa) Was die straftatliche Risikoqualität der Gesamtrisikokette angeht, so verbietet sich in der heutigen Realität fehlender Mittel, ihre einzelnen Glieder nach erfolgter Infektion gefahrvernichtend zu zerreißen, und wegen der Unwahrscheinlichkeit oder Ungewißheit, medizintechnische Folgenheilung irgendwann zu ermöglichen, ihre Aufspaltung. Es gilt bei einer notwendigen Gesamtbetrachtung mit Sicht auf die Tatbestandlichkeit der Delikte gegen die Individualgesundheit und das Individualleben entweder die Erstalternative: Ein HIV-transmissiver Kontakt (das Einbringen viruskontaminierter Substanzen in den Körper eines anderen) fügt trotz der geringen Infektionsgefahr nicht nur ein unerlaubtes Gesamtrisiko zu (; das ist ihre Zufügung gegenüber Risikoblinden allemal vortatbestandlich). Die zugefügte Gefahr ist wegen der heute und mittelfristig gegebenen Incurabilität sowie wegen der Hochwahrscheinlichkeit einer letalen Erkrankung bei erfolgter Infektion auch nicht nur ein Risiko der Körperverletzungsdelikte. Die zugefügte Gefahr ist ein tötungsdeliktliches Risiko. Oder es gilt die Zweitalternative: Die hohe 94 Vgl. zur Begründung Bottke, Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsuntemehmen de lege 1ata, 1994, S. 25 ff.
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Wahrscheinlichkeit einer letalen Erkrankung nach Infektion stuft die (vortatbestandlieh generell unerlaubte) Zufügung des Infektionsrisikos wegen dessen Geringheit nicht zu der Zufügung einer für die §§ 223 ff. StGB tatbestandlich relevanten Gefahr auf. Sie stuft das Infektionsrisiko auch nicht zu einer tötungsdeliktisch relevanten Gefahr auf. bbb) Für die erste Alternative spricht: Angehörigen von Rechtsordnungen, die für versuchte Tötungsdelikte der Maxime: ,We want to see the bleeding body' folgen, muß jenseits von Aggressionsakten die Annahme von versuchter Tötung suspekt und unverständlich sein95 . Sie war es ihnen auch auf dem Symposium. ,Manslaughter' heißt gemeinsprachlich "a killing in a bloody or barbarous manner,,96. Dies ist bei virustransrnissiven Sexualkontakten an sich einverständlicher Art nicht versucht; es wäre den Mitgliedern einer ,Grand Jury' auch nicht verrnittelbar. Was dem Volke nicht in seiner Sprache als ,slaughtering' oder ,slaying of man' vermittelbar ist, das ist ihm re vera et de lege civium auch nicht ,manslaughter'. Ebensowenig ist von einem versuchten ,Menschschlachten' oder einem ,Totschlagen' in der deutschen Sprache redbar, wenn aggressionsfrei Liebe gesucht und unter Gefahrdung einer HIV-Infektion gegeben wird. Eine erfolgte HIV-Infektion ist ein Schicksalsschlag. Der virustransrnissive Liebesakt ,schlägt' aber nicht; er setzt allenfalls den Ausgangspunkt dafür, daß sich bei erfolgter Infektion eine letale Krankheit vorbereiten und zum Tod entwickeln kann. Da gemeinsprachlich wohl die Tötungshandlung, nicht aber das Totschlagen ,vom Munde des Volkes geht', läge es einer demokratischen Strafrechtspflege nahe, wohl die Tatbestandsseite des § 212 StGB, nicht aber seine Betitelung und die Rechts/olge fachsprachlich zu bejahen. Dies ist der halbgeheime Legitimationsgrund dafür, daß dogmatische Wege gesucht wurden und werden, trotz (versuchter) Tötungshandlung ihre Bestrafung als (versuchten) Totschlag in ,expertolektischer' Argumentation (etwa der Ausklammerung von Folgeschäden oder der Verneinung von tötungsdeliktischer Erfolgsgefahr) zu vermeiden. ccc) Für die zweite Alternative spricht, daß die Wahrheit des drohenden Todes jedem irrtumsfrei bewußt ist, der von einer HIV-Infektion erfahrt. Für sie ist ferner geltend zu machen, daß die Gefahrdungssituation der Vornahme HIV-transrnissiver Kontakte sich ,qualitativ' von der ,gefahrquantitativ' erspekulierbar ähnlichen oder gar größeren Gefahrdungssituation bei Straßenverkehrsdelikten nach den §§ 316, 315 c StGB unterscheidet. Wer z. B. alkoholisiert ist und Auto fahrt (§ 316 StGB), gefahrdet keine ihm konkret Gegenübertretenden. Der HIV-transrnissive Tötungsversuchsakt hat einen Kontaktpartner. Wer bei Nebel rast und hierdurch andere konkret gefahrdet, nimmt nicht notwendig diesen jegliche Vermeidemacht; er kann 95 Vgl. Bottke, CriminaI and AIDS, in: LoimerlSchmid/Springer, Drug Addiction and AIDS, 1991, S. 340 ff. 96 Websters, Third New International Dictionary Of The English Language, Unabridged, and Britannica World Language Dictionary, Volume III, 1971, "slaughter".
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auch auf eigene Venneidemacht bauen. Sind HIV-transmissive Substanzen ungeschützt in den Körper des Kontaktpartners eingebracht, gibt es (derzeit) keine Vermeidemacht mehr. Es gibt allenfalls die Hoffnung, es möge gutgehen oder wieder gut werden. Und schließlich ist die Vemeinung der Rechtsfolge einer Nonn (hier der §§ 22, 23 11, 212 StGB) trotz Bejahung ihrer Tatbestandsseite der konditionalen Nonnprogrammierung konträr und der Rechtssicherheit abträglich97 • ddd) Diesen Preis einer ,Strafrahmen- und Strafzumessungslösung' zu zahlen, gestattet auch nicht der Nonntitel ,Totschlag'. Zwar ist es denkbar, die Tathandlung ,tötet' (oder versucht zu töten) nonntiteltreu als ,totschlägt' (oder ,versucht totzuschlagen') zu lesen. Aus der Gesamtschau der gegen vorsätzliche und fahrlässige Tötungen (!) gerichteten Deliktsbeschreibungen ergibt sich aber zweifelsfrei, daß der Gesetzgeber als Totschlag nicht nur ,schlagende' oder phänotypisch vergleichbare Aggressionsakte als Totschlag erfassen wollte. Das Gesetz kriminalisiert im Interesse umfassenden Schutzes alle generell rechtswidrigen Fremdtötungen lebender geborener Menschen. Er kriminalisiert auch die Versuche aller vorsätzlichen Fremdtötungsfonnen.
C. Straftatverfolgung und Strafzumessung Die hier verteidigte Subsumption des HIV-transmissiven Einbringens HIV-kontaminierter Substanzen in den Körper von Risikoblinden ist harsch. Dem Ja zum ,Ob' von Strafbarkeitsrisiken ist die Ausgestaltung des ,Wie' von Straftatverfolgung, Strafzumessung und Strafvollzug beizugesellen. I. Was die Straftatverfolgung angeht, so versteht es sich von selbst, daß ein fairer Strafprozeß auch HlV-Infizierten garantiert ist (Art. 6 EuMRK, 14 IPbpR, 2 I, 20 GG). Unfaire Strafprozesse gegen HIV-Infizierte wären, wenn strafrechtliches Agieren ihnen gegenüber überhaupt einen präventiven Sinn hat, kontraproduktiv. Sie lösten oder verstärkten verständliche Solidarisierungen zu Lasten der erwünschten Kommunikation des Satzes ,Sorgt für FremdrisiRohütung' aus. 1. Ein faires Strafverfahren will nicht die Ausermiulung und Verfolgung aller Straftaten. Ein faires Strafverfahren setzt voraus, daß bereits ein substantieller Anfangsverdacht gegeben ist. Es produziert seine Anfangsverdachte nicht selber. Dies wäre einem Stasi-Spitzelstaat adäquat. HIV-Infizierte sind nicht wegen ihres Infektionsstatus tatverdächtig. Unveranlaßte Ermittlungen, die nicht durch einen in Ge-
97 Vgl. die Kritik an der ,Rechtsfolgenkorrektur', die der große Senat des BGH (BGHSt 30, S. 105 ff., 120) bei Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit nach § 211 StGB zur Lösung von Grenzfällen bemüht, vgl. Bruns, Gesetzesänderung durch Richterspruch, in: Festschrift für Kleinknecht, S. 49 ff.; Fromme!, Die Rechtsfolgenlösung des BGH bei Mord, in: StV 1982, S. 533 ff.; Günther, Lebenslang für "heimtückischen Mord", in: NJW 1982, S. 353 ff.; Lackner, Anmerkungen zu BGH GSSt, Urteil vom 19.5. 1981, in: NStZ 1981, S. 348 ff.
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stalt zureichender Tatsachen vermittelten, substantiellen Anfangsverdacht bedingt sind, wären rechtswidrig (§§ 152 TI, 160 I, 163 StPO) und mit Strafe bedroht (§ 340 StGB). Zugehörigkeit zu sog. ,Risikogruppen' ist keine tatverdachtskonstitutive Tatsache. Erst recht sind unveranlaßte Verdachtszuweisungen gegen HIV-Infizlerte fairneßwidrig und ein Verstoß gegen das Statusdiskriminationsverbot (Art. 26 IPbpR). Schon von hierher erklärt sich, daß die strafrechtsdogmatische Debatte der Strafbarkeitsrisiken HIV-transmissiver Sexualkontakte geringe praktische Relevanz hat. Strafrechtsdogmatische Rede über HIV-transmissive Kontakte setzt mehr auf die Kraft ihres auch zur Fremdrisikohütung stimulierenden Wortes, als auf tatsächliche Strafverfahren. Ihre Bedeutsamkeit ist in einer freien Gesellschaft nicht dadurch zu steigern, daß vorstrafverfahrensrechtliche Befugnisse zur Wissensverschaffung geschaffen werden. Private haben grundsätzlich nicht die Pflicht, Anzeigen zu erstatten und durch solche Wissensvermittlung die Verfolgung etwaiger Straftaten zu ermöglichen. Die Schweigepflicht von Ärzten und ihren Berufshelfern ist garantiert. Das Schweigerecht und die Schweigepflicht derjenigen, die in AIDS-Beratungsstellen Betreuung und Hilfe leisten, ist für eine effiziente Tätigkeit unverzichtbar (und de lege ferenda anzuerkennen). Anonyme Tests sind für Besorgte attraktiver als identifizierende. Die Defizite an vorstrafprozessualem Wissen sind gesellschaftsstrukturell bedingt. Die Defizite an strafprozessualem ,Anfangsverdachtswissen ' sind nicht durch eine extensive Interpretation der Voraussetzungen für die Einleitung von Ermittlungsverfahren und der Ergreifung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen (vgl. dazu C I 3) zu unterlaufen. Keine noch so ,wortkräftige' Bejahung von Strafbarkeitsrisiken HIV-transmissiver Sexualkontakte kann etwas daran ändern, daß das Strafrecht aus strukturellen Gründen "nahezu keinerlei praktische Bedeutung für die Verhinderung von HIV-Infektionen hat,,98. Dogmatik spricht, sofern sie von appellativem Sinngehalt und von mehr als binnendogmatischem Interesse sein will, zwar ,nach außen hin'. Verfassungskonforme Dogmatik kann und will aber nicht die Gesellschaftsstruktur und deren Rechtsordnung zugunsten verfolgungsermöglichender Wissensvermehrung ändern. 2. Gegen Straftatverfolgungsunfähige ist kein faires subjektives Strafverfahren zu machen. Tritt Verhandlungsunfähigkeit ein oder gefährdete das Verfahren das Leben oder die Gesundheit des Infizierten ist das Verfahren einzustellen 99 . Anders als die bloße HIV-Infektion bietet die manifest ausgebrochene AIDS-Erkrankung genügend Grund, das Verfahren zumindest auszusetzen. Das Vollbild AIDS läßt ohnehin jede Straftatverfolgung zum inhumanen Bestreben, der poena naturalis weitere Belastungen beizugesellen, denaturieren. Angesichts des unsäglichen Leides, das der AIDS-Erkrankte tragen muß, verhallte das strafrechtliche Sagen von der Gefahr, die er vielleicht straftatlieh zufügte. Nestler, AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen, Einleitung. Vgl. allg. zur Rolle der Verhandlungs- und Verfolgungsfähigkeit BerlVerfGH, NJW 1993, S. 515 ff. 98 99
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3. Eine Austestung von Untersuchungshäftlingen auf HIV-Infiziertheit ist nicht durch § 119 III StPO gerechtfertigt 100. Eine Austestung von Personen, die beschuldigt werden, auf Grund ihr~s körperlichen Zustandes und deshalb HIV-transmissiven Kontaktes eine Straftat begangen zu haben, und von etwaigen Opfern ist zwar nach §§ 81 a, 81 c StPO denkbar lO1 • Das etwaige Testergebnis sagt aber nichts Zwingendes über den Infektionsstatus im Zeitpunkt der anfangsverdachtlichen Tat aus. Die Testung ist daher in der Regel kein geeignetes Mittel, verfahrensbedeutsame Umstände festzustellen. 4. Auf berechtigte Anonymitätsinteressen ist Bedacht zu nehmen. Gesundheitszustand und Sexualsphäre gehörten ,vor AIDS "02 zu den Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich, die den Ausschluß der Öffentlichkeit (§ 171 b GVG) im Einverständnis des verhandlungsfähigen Angeklagten gestatteten. Sie sind gegen gemeine Neugier erst recht bei von letaler Krankheit Bedrohten zu schützen. Identifizierende Pressemitteilungen, die Infizierte bemakeln und der belastungsmehrenden Gefahr sozialer Statusdiskrimination aussetzen, sind zu unterlassen.
11. Was die Strafzumessung angeht, so verdienen die Ausführungen von Nestler103 differenzierende Antwort. Tatschuldmaßprinzip und Gleichheitsgebot verlangen grundsätzlich, vergleichbare Tatschuld mit vergleichbaren Strafübeln zu entgelten. Strafen sind, weil straftatschuldbedingt, ihrem Primäreffekt nach retributive Kostenproduktion. Sie wirken sekundäreffektiv allenfalls dann generalpräventiv, wenn ihre Kosten innerhalb eines mehr oder minder großen Spielraums als ,gerecht' erlebt werden: ,Crime should not pay. Crime should be equally expensive. Punitive costs have to be fair and just'. Zugleich ist es Gebot des Gleichheitssatzes, die Kosten, die den Straftatschuldigen in Gestalt von Grundrechtseinbuße(n) treffen, unter Berücksichtigung seiner ,Kostensensitivität' zu bestimmen. Das, was dem einen an Kosten teuer ist, kann dem anderen billig sein. Das geltende deutsche Strafrecht trägt dem Gebot ,gleicher Kostenqualität' bei (ver)gleich(bar)er Tatschuld im Bereich der Geldstrafen durch das Tagessatzsystem Rechnung (§ 40 StGB). Das Postulat ,gleiche Kostenqualität bei gleicher Straftatschuld ' hat aber als Gebot der Differenzierung nach Kostensensitivität weiterreichende, grundsätzliche Bedeutung. Denn es ist Dedukturn des rechtsstaatlichen Gleichheitssatzes, gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte ungleich zu behandeln. Es will auch bei der Bemessung der Quanten an Freiheitsstrafe beachtet sein. 100 Vgl. Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff., 231. 101 Vgl. dazu Mayer, Die Entnahme einer Blutprobe nach §§ 81 a, 81 c StPO zum Zwecke der Feststellung einer AIDS-Infizierung, in: JR 1990, S. 358 ff. 102 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO mit GVG und Nebengesetzen, 41. Aufl., 1993, § 171 b GVG Rdm. 3. 103 Vgl. bereits Nestler-Tremel, AIDS und Strafzumessung, 1992; Nestler, AIDS - Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen, unter III.
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1. Das gerechte Strafübel ist als zuzumessendes Quantum retributiver Kostenproduktion in Beziehung zum schuldhaft bewirkten Tatunrecht zu setzen. Daher kann die das Opfer treffende HIV-Transmissivität eines straftatlichen Kontaktes in Fällen eigenkörperlich infektiöser Kontakte (nicht per se: die HIV-Infektion des Täters!) tatschuldsteigernd sein. Solche Fälle sind dann denkbar, wenn die HIV-Transmissivität keine straftatbegründende Funktion hat, sondern nur ein unrechts steigerndes Moment ist. Dies gilt etwa bei singulärer Vornahme eines Aggressionsdeliktes (etwa einer Vergewaltigung). Dieses Delikt ist nicht wegen der HIV-Transmissivität strafbar. Es ist wegen des mutuell körperlichen Kontaktes zusätzlich (unrechtsmehrend) HIV-transmissiv. Ist dies der Fall und weiß der Täter auch hiervon, so mehrt die von ihm zusätzlich zugefügte HIV-Transmissivität das vom Opfer erlittene Unrecht und die Strafzumessungsschuld. Entsprechendes gilt, soweit Tatbestände das Unwert- und Schuldmoment nicht eigens erfassen, das in der Zufügung des Risikos steckt, in Siechtum zu verfallen und an einer incurablen letalen Krankheit zu sterben. Unterfallen der Deliktsbeschreibung und dem Strafrahmen undifferenziert nach sowohl die Übertragung der Erreger heilbarer Krankheiten als auch die Transmission der Erreger incurabler Krankheiten 104 , so steigert die Zufügung des Risikos der Übertragung des Erregers einer letalen incurablen Erkrankung, also die HIV-Transmissivität, die Strafzumessungsschuld. Solche Fälle der Straftatschuldsteigerung sind jedoch zu verneinen, wenn die HIV-Transmissivität des zugefügten Kontaktes bereits zur Gänze straftatbegründend verwandt wurde. Dies ist bei der Bewertung eines HIV-transmissiven Kontaktes als versuchte Tötung im Sinne der Delikte gegen das Leben zu bejahen. Eine solche straftatbegründende Bewertung von HIV-Transmissivität stellt entscheidend auf die (derzeitige) Incurabilität und Letalität von AIDS ab. Sie verbraucht damit deren Strafrelevanz für die Strafzumessung. Denn bereits die so ermöglichte Applikation des Strafrahmens reagiert unwert- und tatschulderschöpfend auf die zugefügte HIV-Transmissivität 105 . 2. Das gerechte Strafübel ist, dem Grundsatz ,qualitativ gleicher Kostenproduktion in Fällen vergleichbarer Straftatschuld' zufolge, als zuzumessendes Quantum retributiver Kostenproduktion in Beziehung zur Übelssensitivität des Straftatschuldigen zu setzen. Daher kann die den Täter belastende HIV-Eigeninfektion bei allen 106 Delikten stets nur strafmildernd 107 sein. Dabei wirkt, wie Nestler überzeu104 Vgl. Art. 231 SchwStGB. Vgl. dazu Kunz, Aids und Strafrecht: Strafbarkeit der HIVInfektion nach schweizerischem Recht, in: SchwZStR 107, 1990, S. 39 ff., 45 f. 105 Etwas anderes wäre dann zu erwägen, wenn mit Herzberg lediglich einfache Körperverletzung bejaht würde. Vgl. zum Rechtsgedanken vollständiger Unwerterschöpfung durch Straftatbegründung § 46 III StGB; BGHSt 37, S. 153 ff.; Bruns, Zum Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen oder strafrahmenbildenden Umständen (Strafbemessungsgründen), in: Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 353 ff.; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen, 1982.
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gend dargetan hat, die HIV-Infektion innerhalb der allgemeinen Strafzumessung (§ 46 StGB) strafmildernd. a) Die Zeitspanne, die dem HIV-Infizierten an freiem Leben bleibt, ist mutmaßlich gegenüber der eines gleichaltrigen Nichtinfizierten wesentlich verkürzt. Das, was dem an freier Lebenszeit verarmten Infizierten bleibt, macht seine Freiheitseinbuße gegenüber derjenigen besonders schwer, die ein nichtinfizierter Straftäter bei vergleichbarer Straftatschuld zu ertragen hätte. Wenn ein an Geld und sonstigem Vermögen Armer bei vergleichbarer Straftatschuld de lege lata nicht quantitativ so viel zahlen muß wie ein Reicher, sondern Anspruch auf qualitative Gleichsetzung der Strafübel (in Gestalt der Einbußen an Netto-Tages-Einkommen) hat, so muß ein an freier Restlebenszeit Verarmter bei vergleichbarer Straftatschuld auch nicht so viel zahlen wie ein an freier Restlebenszeit Reicher. Das Strafquantum ist nach der mutmaßlich zur Verfügung stehenden Restlebenszeit zu bestimmen. Die Regel, daß Lebenszeit nicht abwägbar ist, steht dem nicht entgegen. Sie soll an Lebenszeit Arme gegen Aufopferungen zugunsten von an Lebenszeit Reichen in Bedrohungssituationen schützen. Sie ist nicht dysfunktional zu Lasten des HIV-Infizierten zu verwenden. b) Richtiger Ansicht nach ist auch eine Unterschreitung der ,schon tatschuldangemessenen Strafe' aus präventiven Gründen bis hin zur Grenze des generalpräventiv Erforderlichen zulässig 108 • Erstens ist das, was für vergleichbare Taten, unabhängig von der Strafempfänglichkeit des Täters, als ,schon und noch' tatschuldangemessen gilt, mangels empirischen Wissens weithin nur erspekulierbar; der BGH hat die Tatgerichte nicht dazu verpflichtet, diese Eckdaten der ,Spielraumtheorie .I09 zu benennen. Zweitens ist der Wortlaut des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB vieldeutig; da Indizkonstruktionen bei strafmildernder Berücksichtigung eines Nachtatverhaltens i. S. d. § 46 11 S. 2 StGB versagen, ist entweder das, was Tat i.S. des Postulats einer ,schon und noch tatschuldangemessenen Strafe' meint, zugunsten einer Strafzumessungstat zu erweitern oder das Gebot einer ,schon tatschuldange106 Zwar steht in der strafrechtsdogmatischen Stratbegründungsdiskussion die Bewertung des HIV-transmissiven Sexualkontaktes im Vordergrund. Die zumindest gänzlich überwiegende Zahl von HIV-infizierten Straftatverurteilten sind jedoch ,nicht-HIV-virustransmissiver' Straftaten schuldig. 107 Selbst dann, wenn die HIV-Transmissivität unwert- und schulderhöhend wirkt, sind diesem Effekt die eigene HIV-Infektion, die damit abzusehende Verkürzung von Lebenszeit und die hierdurch größere Übelsqualität etwaiger Freiheitsentziehung entgegenzusetzen. Organisiert der selbst HIV-infizierte Täter den HIV-transmissiven Kontakt typischerweise sexualaktlich zur Stillung eines menschlichen Grundbedüfnisses mit einern in diese Stillung an sich Einverstandenem, ist sein Akt - verglichen mit dem Organisationsakt eines Nichtinfizierten - straftatschuldgemindert. 108 Vgl. Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vorn stratbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 596 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Grundlagen, Der Autbau der Verbrechenslehre, Band I, 2. Aufl., 1994, § 3 Rdnr. 48 m.w.Nachw. 109 Vgl. dazu in knapper Darstellung Lackner, StGB, 20. Aufl., 1993, § 46 Rdnr. 24.
Sinn oder Unsinn kriminalrechtlicher AIDS-Prävention?
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messenen Strafe' preiszugeben 110. Und drittens ist der Gerechtigkeitsidee auch durch eine Strafzumessungsrechtslehre Rechnung getragen, die in besonders gelagerten Fällen eine Strafmilderung aus spezialpräventiven Gründen bis hin zur Grenze des ,generalpräventiv Unerläßlichen' erlaubt. Ein solcher Fall kann bei AIDS-Erkrankten, sofern diese krankheitsunwissend überhaupt einer Strafverfolgung unterzogen werden, sowie von AIDS-Erkrankung bedrohten HIV-Infizierten angesichts ihrer qualitativ gesteigerten Strafempfänglichkeit gegeben sein. c) Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung lll eine HIV-Infektion und erst recht eine im Verfahren manifest werdende AIDS-Erkrankung die Annahme eines minderschweren Falles und dessen Strafrahmenverschiebung nach unten hin begründen. Eine solche Annahme ist nicht ohne den Preis von zusätzlichen Friktionen mit einer grundsätzlich ,tatschuldorientierten: Strafzumessung zu haben. Obschon ich Sympathie für das Plädoyer von Nestler zugunsten einer Bejahung minderschwerer Fälle bei einer HIV-Infektion oder AIDS-Erkrankung hege, ist mir nicht zu übersehen, daß die dogmatische Begründung für das Moment an ,Privilegierung' aussteht; Skeptiker, die auf gerechten Tatschuldausgleich aus sind, werden eine ,positive Diskrimination' von HIV-Infizierten und Ungehorsam gegenüber dem Gesetz besorgen. III. Auch im Strafvollzug gilt das Verbot der Statusdiskrimination (Art. 26 IPbpR). Darüber hinaus soll gern. § 3 I StVollzG das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. In den allgemeinen Lebensverhältnissen ist eine Testung von Personen gegen deren Willen auf HIV-Infektion Privaten nur unter den engen Voraussetzungen eines Defensivnotstandes erlaubt. Hoheitliche Organe sind dort wegen Nichtgegebenseins eines speziellen Eingriffstatbestandes nicht zur Testung befugt. Eine vorsorgliche Zwangstestung von Strafgefangenen ist daher nur in Konkretisierung der ihnen auferlegten Pflicht diskutabel, gesundheitsfürsorgerische Maßnahmen zu unterstützen, gleichviel, ob es sich um die Vorsorge gegen eigengefährliche Krankheiten oder um die gegen fremdgefährliche Krankheiten handelt (§ 56 11 StVollzG)112. § 101 I StVollzG erlaubt jedoch Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der nach § 5611 StVollzG auch bei ,eigengefährlichen Krankheiten' bestehenden Pflicht "nur bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen". Die insoweit notwendige konkrete Gefahr forderte für eine Zwangstestung aller Strafgefangenen die Annahme, daß von jedem einzelnen Strafgefangenen HIV-transmissive 110 Vgl. zum Verhalten nach der Tat und seinen strafzumessungsrechtlichen Implikationen Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Tl,iterverhaiten, 1979, S. 662 ff. m.Nachw. 111 Vgl. die Nachweise bei Nestler-Treme1, AIDS-Strafzumessung und Sicherungsmaßnahmen, 1992, S. 21, Fn. 20. 112 Vgl. Bottke, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der AIDS-Bekämpfung, in: Schünemann/Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, 1988, S. 171 ff., 233 f.
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Wilfried Bottke
Kontakte zu erwarten sind. Jedenfalls sind die Vollzugs behörden aus den von Geppert dargestellten Gründen 1\3 nicht als verpflichtet anzusehen, Zwangstestungen generell durchzuführen. Die Monopolisierung etwaig erlangten Wissens bei Anstaltsarzt und Anstaltsleitung bewahrt den Gefangenen vor übermäßiger Bloßstellung. Zur Weitergabe erlangter Information über den Infektionsstatus des Gefangenen ist der Anstaltsleiter nur dann berechtigt und verpflichtet, wenn dies zur Abwehr konkreter Ansteckungsgefahr notwendig ist 114 •
D. Ausblick Die hier angestrengten Überlegungen sind einseitig. Sie fokussierten vornehmlich die strafbegründungsrechtliche Bewertung HIV-transmissiver Kontakte. Sie beleuchteten nicht alle rechtlichen Aspekte einer HIV-Infektion und des Umgangs mit HIV-Infizierten. Die gesellschaftspolitischen Dimensionen ließen sie nur ahnen. Auch hierüber und über den Schutz für HIV-Infizierte zu handeln, war und ist aller Mühe wert. Daß solche Anstrengung im Interesse erfahrbarer Freiheit geschehen möge, sei erhofft 11 5 •
Vgl. Geppert, AIDS und Strafvollzug, 11, S. 2 ff. Vgl. Geppert, AIDS und Strafvollzug, III 3 b, S. 18 ff. 115 Die hier abgdruckte Arbeit wurde, dem Wunsche des Herausgebers folgend, im Dezember 1994 abgeschlossen. Spätere Publikationen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 113
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Autoren Prof. Dr. Wilfried Bottke Universität Augsburg Deutschland Prof. Dr. Kazimierz Buchala Jagiellonen-Universität Krak:ow / Polen Prof. Dr. Klaus Geppert Freie Universität Berlin Deutschland Prof. Dr. Rolf-Dietrich Herzberg Ruhr-Universität Bochurn Deutschland Prof. Dr. Frank Höpfel Universität Wien Österreich Dr. Hans-Georg Koch Max -Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg i. Br. Deutschland Prof. Dr. Witold Kulesza Universität Lodi Polen Prof. Dr. Karl-Ludwig Kunz Universität Bern Schweiz Prof. Dr. Rairno Lahti Universität Helsinki Finnland
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Prof. Dr. Diego-Manuel Luzon-Pefia Universität Alcahi Madrid Spanien Prof. Dr. Dieter Meurer Philipps-Universität Marburg Deutschland Prof. Dr. Santiago Mir Puig Universität Barcelona Spanien Dr. Cornelius Nestler Universität Frankfurt/M. Deutschland Prof. Dr. Bernd Schünernann Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland Prof. Dr. Dionysios D. Spinellis Panteion-Universität Athen Griechenland Prof. Dr. Andrzej J. Szwarc Adarn-Mickiewicz-Universität Poznan Polen Prof. Dr. Andrzej [email protected] Maria-Curie Sklowska Lublin Polen
Teilnehmer Internationales Symposium AIDS und Strafrecht Poznan (Posen) -- Polen 1. - 5. 6. 1994 Chile Prof. Dr.
Carlos
Künsemüller
Santiago
Wolfram Wilfried Franz. J. Michael Claudius Klaus Rolf-Dietrich Helmut Hans-Georg Dieter Cornelius Bernd Brigitte Rainer Christoph Klaus
Bornemann Bottke Clessienne Gähner Geisler Geppert Herzberg Janker Koch Meurer Nestler Schünemann Schultz Sieg Sowada Zacharias
Berlin Augsburg Diez/Lahn Berlin Berlin Berlin Bochum Berlin Freiburg i.Br. Marburg Frankfurt/M. München Duisburg Kirchheim Berlin Bayreuth
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Deutschland Prof. Dr.
Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Dr. Prof. Dr. Dr. Prof. Dr. Dr. Dr.
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Finnland Prof. Dr. Mag.
Griechenland Prof. Dr.
Italien Dr.
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Teilnehmer
Japan Prof.Dr.
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Flora Höpfel Pemfuss Tipold
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Madeleine
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Österreich Mag. Prof.Dr. Mag. Dr. Polen Mag. Prof. Dr. Dr. Mag. Dr. Dr. Prof.Dr. Prof.Dr. Prof.Dr. Dr. Prof. Dr. Mag. Prof. Dr. Prof.Dr. Prof. Dr. Mag. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof.Dr. Rumänien
Schweiz Prof.Dr. Dr. Schweden Prof.Dr. Slowenien
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Teilnehmer
Spanien Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr.
Miguel Diego-Manuel Santiago
Diaz y Garcia Conlledo Luzon-Pefia MirPuig
Parnplona Madrid Barcelona
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Südafrika Prof. Dr.