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German Pages 446 Year 2012
Schriften zum Strafrecht Heft 234
Gesetzlichkeit und Strafrecht Herausgegeben von
Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr
Duncker & Humblot · Berlin
HANS KUDLICH, JUAN PABLO MONTIEL und JAN C. SCHUHR (Hrsg.)
Gesetzlichkeit und Strafrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 234
Gesetzlichkeit und Strafrecht
Herausgegeben von
Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-13718-3 (Print) ISBN 978-3-428-53718-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83718-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge von neunzehn – überwiegend deutsch- und spanischsprachigen, aber auch einem englischsprachigen – Autoren, die sich aus den verschiedensten Blickwinkeln dem Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht widmen. Anstoß für diesen Band war ein vor Kurzem in spanischer Sprache erschienener, von Juan Pablo Montiel herausgegebener Sammelband zum gleichen Thema mit dem Titel „La crisis del principio de legalidad en el nuevo Derecho penal: ¿decadencia o evolución?“. Schon wegen der regen Beteiligung deutscher Autoren an diesem Band lag die Idee nicht fern, die Autoren auch für einen Band in deutscher Sprache zu gewinnen. Hinzukommt, dass das große Interesse der spanischsprachigen Strafrechtswissenschaft am deutschen Strafrecht gerade in Grundsatzfragen heute eine Erwiderung verdient, die das vorliegende Buch fördern soll. Es ist dennoch mehr als eine bloße Übersetzung, weil es nicht nur zu einer Erweiterung im deutschsprachigen Autorenkreis gekommen ist, sondern weil die Beiträge teilweise auch in überarbeiteter, aktualisierter und erweiterter Form vorliegen. Das Buch ist ein Produkt internationaler Kooperation zu strafrechtlichen Grundlagenfragen, in dem in drei Beiträgen auch die völkerstrafrechtliche Dimension aufgegriffen wird. Es lässt sich insoweit zugleich als erster deutschsprachiger „Output“ der von Juan Pablo Montiel angestoßenen internationalen Forschergruppe CRIMINT verstehen, die sich insbesondere Themen aus den Bereichen „Philosophie des Strafrechts, Wirtschaftsstrafrecht und Internationales Strafrecht“ widmen will und aus der u. a. die deutschen Mitglieder Hans Kudlich, Lothar Kuhlen und Helmut Satzger an diesem Band beteiligt sind. Die Realisierung dieses Projekts wäre nicht ohne die Unterstützung der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung und der Dr. German Schweiger-Stiftung möglich gewesen, welche sich jeweils mit namhaften Zuschüssen an den Kosten für die Übersetzungen der spanischen Texte und für den Druck beteiligt haben. Ihnen danken die Herausgeber ebenso wie Herrn Christian Härteis für die Durchführung der Formatierungsarbeiten sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die problemlose Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches. Erlangen, im Juli 2012
Hans Kudlich Juan Pablo Montiel Jan C. Schuhr
Inhaltsverzeichnis
Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Grundlagen und Grundprobleme des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht Eric Hilgendorf Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung – Zur Grundlegung des Gesetzlichkeitsprinzips in der französischen Aufklärungsphilosophie und bei Beccaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ralph Christensen Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion . . . .
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II. Allgemeine Anforderungen an die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Rechtsanwendung Jesús-María Silva Sánchez Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur . . . . . . . . . . . . . . . .
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Pablo Sánchez-Ostiz Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts . . . . .
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Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip – Ein Befehl an den Gesetzgeber ohne Bedeutung für die Gesetzesanwender? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Klatt Die Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
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Inhaltsverzeichnis
III. Das Gesetzlichkeitsprinzip in einzelnen Bereichen des materiellen Strafrechts José Juan Moreso Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ingeborg Puppe Rechtfertigung und Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Franz Streng Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung . . . . . 179 Raquel Montaner Fernández Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht – Probleme aus Sicht des Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 IV. Blick über die Grenzen (des Nationalstaats und des materiellen Strafrechts) Matthias Jahn Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht . 223 Hans Kudlich Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Jan C. Schuhr Der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Kenneth S. Gallant Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts – Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Juan Pablo Montiel Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen – Analyse und Prognose des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts . . . . . . . 321 Helmut Satzger Das Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Inhaltsverzeichnis
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V. Krise des Gesetzlichkeitsprinzips und Ansätze einer Neuausrichtung Enrique Bacigalupo Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Eugenio C. Sarrabayrouse Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip . . 403 Lothar Kuhlen Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Einleitung Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr I. Das Gesetzlichkeitsprinzip prägt das staatliche Handeln im modernen Verfassungsstaat in allen Bereichen. Für das Strafrecht wird es – zusammen mit den materiellen Garantien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Schuldprinzips – in seiner nicht nur in Deutschland bekannten Ausprägung „nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, stricta, praevia et certa“ geradezu als Grundvoraussetzung rechtsstaatlichen Strafens verstanden. So unstreitig das im Ausgangspunkt ist, so diffizil sind die daraus erwachsenden Konsequenzen im Detail. Die Schwierigkeiten beginnen ganz basal dort, wo ein naiv idealisierendes Verständnis von bestmöglicher „Bestimmtheit“ oder von rein syllogistischen, jedes Verstoßes gegen das Gebot der lex stricta unverdächtigen Subsumtionsvorgängen mit unvermeidbaren Unschärfen der natürlichen Sprache (wie sie in der Sprachwissenschaft schon seit Langem bekannt sind und untersucht werden) kollidiert. Sie gehen weiter, wo Regelungen auch noch jenseits der unvermeidbaren sprachlichen Unschärfen – z. B. aus rechtspolitischen Gründen vielleicht sogar bewusst – eine gewisse „sprachliche Flexibilität“ erhalten (oder sogar: erhalten müssen?), um in hochkomplexen Materien (man denke etwa an die Strafnormen des Kapitalmarktstrafrechts) bzw. für sich schnell wandelnde „Märkte“ (man denke etwa an das Betäubungsmittelstrafrecht) ein hinreichend effektives Reaktionspotential für den Rechtsanwender bereitzuhalten, ohne dass der Gesetzgeber im Monatstakt „nachregeln“ muss. Und die Probleme sprießen wie junge Triebe zusammen mit neuen tatsächlichen und (auch außerstraf-)rechtlichen Rahmenbedingungen sowie in Konstellationen, deren Regelung jedenfalls für den nationalstaatlichen Strafgesetzgeber sich verbietet und für die es lange an supranationalen Gesetzgebungsorganen gefehlt hat – eine Situation, wie sie sich auch über 60 Jahre nach Abschluss der Nürnberger Prozesse im Völkerstrafrecht darstellt oder jedenfalls bis in die allerjüngste Vergangenheit dargestellt hat. II. All die genannten – und noch diverse weitere – Fragen im Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip stellen sich in verschiedenen Strafrechtsordnungen, welche zumindest im Kern den Grundsatz „nulla poena sine lege“ berücksichtigen wollen, in ganz ähnlicher Weise. Das grundsätzliche Problem des nur beschränkten, unklaren und der Regelungsintention des Gesetzgebers bisweilen auch widerstreitenden normativen Gehalts von natürlicher Sprache ist von der Landessprache unabhängig, in der (Straf-)Gesetze verfasst sind. Ebenso selbstverständlich und geradezu
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„wesensnotwendig“ rechtssystemübergreifend sind die Fragen, die aus der Perspektive eines nulla-poena-Postulats an das Völkerstrafrecht gestellt werden. Und auch das in Deutschland mitunter beklagte Phänomen einer Aufweichung der formalen strafrechtlichen Garantien, um das Strafrecht als schneidiges und effektives Instrument eines „staatlichen Krisenmanagements“ einsetzen zu können, macht nicht an den Grenzen Halt. Indes: Trotz insoweit identischer Ausgangslagen ist eine Beschäftigung mit den daraus entstehenden Problemen aus der Tradition verschiedener Rechtssysteme heraus keine bloße „Doppelung“. Denn der Umgang mit den unvermeidlichen Spannungen zwischen möglichst strikter Einhaltung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und dem Bedürfnis nach Effizienz und damit auch im Einzelfall erforderlicher Flexibilisierung von Strafverfolgung und Strafrechtsanwendung, der Umgang mit dem aus sprachtheoretischer Sicht geradezu unvermeidbaren „Paradox der Gesetzesbindung“ – all das sind im Einzelfall und im Detail auch rechtspolitische Wertentscheidungen, die bestimmten Traditionen und speziellen Sensibilitäten innerhalb eines Rechtssystems folgen. Vor diesem Hintergrund ist es von nicht zu unterschätzendem Wert, dass sich an diesem Band Autoren aus verschiedenen lateinamerikanischen und europäischen Ländern beteiligen, deren rechtsstaatliche Strafrechtsstrukturen oft ganz bewusst in Reaktion auf Diktaturen ausgebildet wurden, die dabei aber auf unterschiedlich lange und unterschiedlich kontinuierliche Traditionen zurückblicken können, und dass ihre Stellungnahmen neben derjenigen eines angloamerikanischen Autors steht, in dessen Rechtskreis „Gesetzlichkeit“ unter den Prämissen des common law ein anderer Stellenwert zukommen muss und in dem sie vor ganz anderen historischen Erfahrungen steht. Dabei darf man in beide Richtungen weder der Versuchung erliegen, für die eigene Rechtsordnung von vornherein eine überlegene Stellung anzunehmen, noch umgekehrt leichtfertig die Errungenschaften einer ausgefeilten Dogmatik auch in diesem Bereich geringschätzen oder gefährden: So wird eine rechtsstaatliche Strafrechtstradition mit kürzerer Tradition z. B. oft noch stärker für drohende Erosionen sensibilisiert sein; und umgekehrt mag der common law-Blickwinkel zeigen, dass ein rechtsstaatliches Strafrecht auch möglich ist, wo „bloß auf die Form von Rechtstexten“ bezogene Garantien etwas weniger hoch gehängt werden. Insoweit kann man aus diesen Perspektiven für jede Rechtsordnung eigentlich nur lernen – manchmal aber vielleicht gerade auch die eigenen Errungenschaften in besonderer Weise schätzen lernen. III. Die Beiträge, die einen thematisch weit gesteckten Rahmen füllen, sind im Folgenden thematisch so angeordnet, dass der Bogen sich von allgemeinen Problemen des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und seinen historischen Wurzeln über grundsätzliche Fragen der Rechtsanwendung im Strafrecht unter der Herrschaft des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und seine Bedeutung in speziellen Bereichen bzw. für spezielle Fragestellungen bis hin zur Krise des Gesetzlichkeitsprinzips und Ansätzen für eine Neuausrichtung spannt.
Einleitung
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Im ersten Teil zu Grundlagen und Grundproblemen des Gesetzlichkeitsprinzips zeichnet Hilgendorf die historischen Wurzeln dieses Prinzips bei Beccaria und in der französischen Philosophie der Aufklärung nach, bevor Christensen sich dem Paradox von Gesetzesbindung und Gesetzesanwendung widmet, das sich seiner Auffassung nach daraus ergibt, dass die Bindung an etwas postuliert wird, das eigentlich erst durch die richterliche Rechtsanwendung entsteht. Im zweiten Teil über das Gesetzlichkeitsprinzip und seine Umsetzung bei der Rechtsanwendung im Allgemeinen beschreibt zunächst Silva Sánchez die Entwicklung der Auslegungskultur und ihren Zusammenhang zum Gesetzlichkeitsprinzip. Im Anschluss beleuchtet Sánchez-Ostiz die Frage, welche Bedeutung Legaldefinitionen für die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips zukommen kann. Ortiz de Urbina Gimeno untersucht sodann Grenzen der Auslegung, bevor Klatt diese Grenzen konkret am Topos der „Wortlautgrenze“ expliziert. Der dritte Teil ist dem Gesetzlichkeitsprinzip und seiner Bedeutung für verschiedene Bereich des materiellen Strafrechts gewidmet: Moreso und Puppe behandeln dabei in zwei Beiträgen die schwierige und den nulla-poena-Grundsatz gleich mehrfach in seinem Kern betreffende Frage nach Gesetzlichkeit und insbesondere Bestimmtheit im Bereich der Rechtfertigungsgründe, während Streng das seltener untersuchte, aber nicht weniger intrikate Problem der Gesetzlichkeit im Bereich von Entscheidungen zur Schuldfähigkeit aufgreift. Den Abschluss dieses Teils liefert Montaner Fernández mit einem Thema aus dem Besonderen Teil, das in weitem Umfang durch Blankett-Straftatbestände und Bezugnahmen auf außer-(straf-)rechtliche Regelwerke geprägt ist (Umweltstrafrecht). Der vierte Teil behandelt gleichsam Erweiterungen in territorialer wie in rechtsgebietsbezüglicher Sicht: Jahn und Kudlich untersuchen in zwei Beiträgen die Bedeutung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes für das Strafverfahrensrecht. Schuhr befasst sich mit der „Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen Union, bevor Gallant, Montiel und Satzger drei unterschiedliche Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips im Völkerstrafrecht behandeln. Den Abschluss bilden im fünften Teil drei Beiträge, in denen Bacigalupo, Sarrabayrouse und Kuhlen die (natürlich auch in anderen Teilen immer wieder aufscheinende) Krise des Gesetzlichkeitsprinzips deutlich machen und Impulse für ihre Überwindung – sei es unter Berücksichtigung der Gesetzgebungslehre, sei es durch „Neubestimmung des Bestimmtheitsgrundsatzes“ – geben.
I. Grundlagen und Grundprobleme des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung Zur Grundlegung des Gesetzlichkeitsprinzips in der französischen Aufklärungsphilosophie und bei Beccaria Eric Hilgendorf
I. Das Gesetzlichkeitsprinzip und die französische Aufklärung Das Gesetzlichkeitsprinzip soll der Willkür der Strafrichter und damit der Staatsmacht durch Bindung der Strafgewalt an das Gesetz Schranken setzen.1 Es gehört mithin zu den Maßnahmen, mittels derer der spezifisch europäische Sonderweg einer „Zähmung der Herrschaft“ gebahnt und gesichert wurde.2 Obwohl die Wurzeln des Gesetzlichkeitsprinzips bis weit in das Mittelalter zurückreichen,3 ist seine heutige Fassung doch ganz wesentlich eine Errungenschaft der Aufklärung, jener gesamteuropäischen Bewegung des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts, die den Menschen aus den Fesseln des überkommenen Feudalsystems und der Kirche befreite und sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse und Lehren einer kritischen Prüfung unterwarf.4 Das Individuum, seine Freiheit und Würde, sollte Angelpunkt und Maßstab aller menschlichen – und damit auch: aller rechtlichen – Regelungen sein. 1
Zur heutigen dogmatischen Diskussion um Begriff und Reichweite des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips mit seinen vier Ausprägungen Vorbehalt des Gesetzes, Bestimmtheitsgrundsatz, Analogieverbot und Rückwirkungsverbot eingehend Schmahl, Art. 103 Rn. 24 – 40, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/Hopfauf (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011; aus der Strafrechtswissenschaft Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 11. Aufl. 2003, § 9 Rn. 1 – 103; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 5. 2 Umfassend Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg zu einer offenen Gesellschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, 1986, S. 9 – 59 (Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze 109). 3 H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976; zusammenfassend Krey, Keine Strafe ohne Gesetz. Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1983. 4 Überblick bei Röd, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. 2, 1996, S. 80 – 136. Die Literatur zur Philosophie der Aufklärung ist längst unüberschaubar geworden. In Auswahl: Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 2. Aufl. 1932; Gay, The Enlightenment. An Interpretation, 2 Bände, 1967/1969; Kopper, Einführung in die Philosophie der Aufklärung. Die theoretischen Grundlagen, 3. Aufl. 1996; Schneiders, Das
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Vor allem in der deutschen Rechtsphilosophie wird die Aufklärung gerne mit Immanuel Kant und seiner berühmten Definition „Aufklärung ist der Aufstieg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“5 in Verbindung gebracht. Dabei wird leicht übersehen, dass die deutsche Aufklärung nur die späte Frucht einer europaweiten Bewegung war, die im Wesentlichen von England ausging und in Frankreich bei den Enzyklopädisten um Diderot, d’Alembert und den Baron d’Holbach ihre radikalste Ausprägung fand.6 Der Schwerpunkt der aufklärerischen Forderungen verlagerte sich in Frankreich auf die Umgestaltung der politischen Verhältnisse; seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dort das „Ancien Regime“ und das Bündnis von Monarchie und Kirche immer häufiger kritisiert, zunächst verdeckt, dann, etwa ab Mitte des Jahrhunderts, offen und in großer Schärfe. Von Frankreich aus verbreiteten sich die neuen politischen Forderungen über ganz Europa; ihre Träger waren französische Gelehrte, Intellektuelle und Schriftsteller, auch „philosophes“ genannt. Der berühmteste unter ihnen war Voltaire, dessen Ansehen und Einfluss so groß waren, dass man das 18. Jahrhundert das „Zeitalter Voltaires“ genannt hat.7 Die Propagandisten der Aufklärung bedienten sich einer Vielzahl literarischer Formen, vom Gedicht, dem Drama und der Komödie über den Roman und die Erzählung bis hin zu intellektuellen Traktaten und gelehrten Abhandlungen. Auch thematisch war die Aufklärungsphilosophie ungemein vielfältig. So überrascht es nicht, dass die Kritik des überkommenen irrationalen, willkürlichen und oft extrem grausamen Strafrechts8 ebenfalls auf ihrer Agenda stand. Eberhard Schmidt hat die Forderungen der Aufklärer an das Strafrecht treffend auf die Begriffe Säkularisierung, Rationalisierung, Liberalisierung und Humanisierung gebracht.9 Die Formulierung Zeitalter der Aufklärung, 4. Aufl. 2008; Schoeps (Hg.), Zeitgeist der Aufklärung, 1972; auch die politische Geschichte einbeziehend Borgstedt, Das Zeitalter der Aufklärung, 2004; Meyer, Die Epoche der Aufklärung, 2010 (beide mit eingehenden Hinweisen zu weiterführender Literatur). 5 Kant, Was ist Aufklärung?, in: ders., Werkausgabe, hg. von Weischedel, Bd. XI, S. 53 – 61 (53). Vgl. auch den Sammelband: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hg. von Hinske, 3. Aufl. 1981. 6 Ewald, Die Französische Aufklärungsphilosophie, 1924; Krauss, Literatur der Französischen Aufklärung, 1972 (Erträge der Forschung Bd. 9); ferner Schröder u. a., Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewusstseinsbildung, 1974. Speziell zum Kreis um d’Holbach siehe Blom, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, 2010. 7 So etwa Victor Hugo, Über Voltaire. Rede gehalten am 30. Mai 1878 bei der Jahrhundertfeier für Voltaire (Ausgabe Göttingen 1949), S. 16; ebenso z. B. A. und W. Durant, Das Zeitalter Voltaires, 1965/1982 (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 14). Die beiden bedeutendsten Voltairebiographien sind: Bestermann, Voltaire, 1971 und Orieux, Das Leben des Voltaire, 1968; Kurzbiographie von Holmsten, Voltaire, 14. Aufl. 2002. 8 Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1964, ND. 1983, S. 178 – 211. 9 Schmidt, Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Aufklärung für die Entwicklung der Strafjustiz aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 73 (1958), S. 341 – 360.
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dieses Programms, seine Propagierung und seine Durchsetzung sind zu großen Teilen den französischen Aufklärungsphilosophen zu verdanken. Beccarias Werk „Von den Verbrechen und von den Strafen“10 ist nicht mehr – aber auch nicht weniger – als eine geniale Zusammenfassung der strafrechtspolitischen Forderungen der radikalen französischen Aufklärer. Das Buch erschien 1764 und wurde innerhalb weniger Jahre in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt und in zahllosen Auflagen über ganz Europa und darüber hinaus verbreitet.11 Zu den Ursachen dieses enormen Erfolgs gehörten nicht nur die eklatanten Missstände im Strafrecht der Zeit, sondern auch die Kürze und eingängige Fassung des Werkes, das auf juristische Details weitgehend verzichtet und nach Art eines populär gefassten philosophischen Einführungswerkes die Begründung von Strafe, die strafrechtliche Gesetzgebung und die Strafrechtsanwendung für ein breiteres intellektuell interessiertes Publikum behandelt. Der Boden für die neuen Forderungen war aber schon längst bereitet. Beccaria, so lässt sich zusammenfassen, ist im Kern das strafrechtsphilosophische Sprachrohr der französischen Aufklärung. Beccaria selbst benennt in einem Brief an seinen französischen Übersetzer Morellet als seine geistigen Vorbilder die philosophischen Bücher der „philosophes“ und bezeichnet die „Enzyklopädie“ als ein „unsterbliches Werk“.12 D’Alembert, Diderot, Helvétius, Buffon und Hume sieht er als seine Lehrer. Sein philosophisches Erweckungserlebnis erblickt er in der Lektüre von Montesquieus 1721 erschienenen „Perserbriefen“13 und der Schrift „Über den Geist“ des Helvétius.14 Die enge Verknüpfung zwischen Beccarias Werk und der radikalen französischen Aufklärung zeigt sich des Weiteren daran, dass „Von den Verbrechen und von den Strafen“ nicht im italienischen Original, sondern in der schon 1765, also ein Jahr nach dem Erscheinen der Erstausgabe herausgebrachten französischen Übersetzung von Morellet, einem Mitglied des Kreises um d’Holbach und Freund von Diderot, in ganz Europa verbrei10 Sofern nicht anders vermerkt, wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert: Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Mit einer Einführung von Wolfgang Naucke, 2004 (Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik, Kleine Reihe, Band 6). 11 Zur Publikationsgeschichte Esselborn, Beccarias Leben und Werke, in: Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Ins Deutsche übersetzt, mit biographischer Einleitung und Anmerkungen versehen von Karl Esselborn, 1906, ND 1990, S. 1 – 58 (16 f., 20 f., 26 ff.). Die erste deutsche Übersetzung, verfasst von Joseph Ignaz Butschek, erschien bereits 1765. Besonders einflussreich wurde die von Hommel 1778 publizierte deutsche Übersetzung, 1966 unter dem Titel: Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von John Lekschas. 12 In englischer Übersetzung abgedruckt in: Bellamy (ed.), Beccaria. On Crimes and Punishments and Other Writings, 1995, S. 119 – 127 (119) (Cambridge Texts in the History of Political Thought). 13 Charles des Montesquieu, Perserbriefe. Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg. Mit Anmerkungen zum Text und einem Nachwort, 1988. Das 1748 erschienene, wesentlich „abgeklärtere“ Werk Montesquieus vom „Geist der Gesetze“ erwähnt Beccaria bemerkenswerterweise nicht. 14 Brief an Morellet (Fn. 12), S. 122.
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tet wurde. Beccaria war auf die überaus positive Resonanz, die sein Werk bei den französischen Aufklärern fand, sehr stolz; mit großer Begeisterung nahm er deshalb auch eine Einladung d’Holbachs nach Paris an (wenngleich er sich im Kreis der radikalen Pariser Intellektuellen nicht wohlgefühlt zu haben scheint und schon nach kurzer Zeit wieder abreiste).15 Voltaire unterstützte das Buch des jungen Mailänder Autors in seinem 1766 erschienenen „Kommentar zu dem Buch ,Über Verbrechen und Strafen‘. Von einem Anwalt aus der Provinz“.16 Auch in vielen weiteren Schriften der späten 60er und 70er Jahre nimmt er darauf Bezug, teils unter Nennung von Beccarias Namen, teils aber auch nur durch inhaltliche Rekurse. Seit den frühen 60er Jahren hatte Voltaire, schon weit im siebten Lebensjahrzehnt stehend, damit begonnen, sich öffentlich gegen strafrechtliche Willkür zu wenden und Fehlurteile der klerikal dominierten französischen Justiz scharf anzugreifen. Am berühmtesten wurde Voltaires Engagement im Fall Calas, einem im Jahr 1762 begangenen Justizmord an einem Toulouser Hugenotten.17 Der Fall erregte in ganz Europa erhebliches Aufsehen und ist mit Sicherheit auch Beccaria und seinem Mailänder Kreis junger Intellektueller18 nicht unbekannt geblieben. Es erscheint sogar wahrscheinlich, dass der Fall Calas für Beccaria und seine jugendlichen Freunde der eigentliche Anlass war, sich mit dem überkommenden Strafrecht zu beschäftigen19 und so den Grundstein für ein modernes, am Individuum und seiner Würde orientiertes Strafrecht zu legen.
II. Der „Fall Calas“ und Voltaire Im Jahr 1761 tötete sich in Toulouse ein Sohn der Hugenotten-Familie Calas. Grund für den Suizid waren persönliche und berufliche Schwierigkeiten. Die ganz überwiegend katholische Bevölkerung von Toulouse warf dem Vater Jean Calas jedoch vor, seinen Sohn ermordet zu haben, damit dieser nicht zum Katholizismus konvertiere. Unter dem Druck der Straße und der katholischen Kirche beugten sich die 15
Näher zu den Kontakten zwischen Beccaria und dem Kreis um d’Holbach Blom, Böse Philosophen (Fn. 6), S. 265 – 278. Als einen der Gründe für die Entfremdung nennt Blom die große Radikalität der französischen Denker, die Beccaria verschreckte (S. 269). Zum anderen scheinen vor allem Diderot und Melchior Grimm manche Thesen des Buches als simplizistisch und den jungen Mailänder als naiv empfunden zu haben, wie Blom, Böse Philosophen, S. 269 f. berichtet. 16 Abgedruckt in: Voltaire, Republikanische Ideen, hg. von Mensching, Bd. 2, 1979, S. 33 – 88. 17 Umfassend Hertz, Voltaire und die Französische Strafrechtspflege im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Aufklärungszeitalters, 1887, zum „Fall Calas“ ebenda S. 157 – 223; ferner Gay, Voltaire als Kämpfer für die Menschlichkeit (Der Fall Calas) (1959), in: Voltaire, hg. von Baader, 1980, S. 152 – 191 (Wege der Forschung, Band CCLXXXVI) sowie zuletzt Gilcher-Holtey (Hg.), Voltaire. Die Affaire Calas, 2010. 18 Esselborn, Beccarias Leben und Werke (Fn. 11), S. 8 ff. 19 Esselborn, Beccarias Leben und Werke (Fn. 11), S. 10, 15 f.
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Toulouser Richter diesem schon damals offenkundig zu Unrecht erhobenen Vorwurf und verurteilen Calas zu Folter und anschließendem Tod durch Rädern. Die Richterschaft wollte, so wird heute vermutet, mit diesem krassen Fehlurteil ein Exempel gegen die Hugenotten statuieren.20 Als Voltaire von dem Urteil hörte und sich durch weitere Recherchen von dessen Unrechtmäßigkeit überzeugt hatte, setzte er alle Hebel in Bewegung, um eine Rehabilitation des toten Calas und Schadensersatz für seine Familie zu erlangen. Er führte zahllose Gespräche, schrieb Briefe, Eingaben und Traktate und setzte auch in erheblichem Umfang eigenes Vermögen ein, um die Durchschlagskraft seiner Kampagne zu erhöhen. Voltaires Einsatz war von Erfolg gekrönt: 1765, drei Jahre nach dem Justizmord an Calas, wurde das Urteil aufgehoben.21 Das Engagement für Calas und andere Opfer von Willkürjustiz spiegelt sich seit den 60er Jahren zunehmend auch in Voltaires schriftstellerischer Tätigkeit wider, etwa in seinem Philosophischen Wörterbuch,22 vor allem aber in der „Abhandlung über die Toleranz“, die 2010 von Ingrid Dilcher-Holthey zusammen mit anderen wichtigen Texten Voltaires zum „Fall Calas“ neu herausgegeben wurde: „Das Menschenrecht kann auf nichts anderes als auf [das] Naturrecht gegründet werden, und der große Grundsatz beider über den ganzen Erdboden ist: Was du nicht willst, das man dir tun soll, das tue du auch nicht. Nach diesem Grundsatz ist’s aber nicht einzusehen, wie ein Mensch zum anderen sagen kann: Glaube, was ich glaube und was du nicht glauben kannst, oder du sollst des Todes sein. So spricht man indes in Portugal, Spanien und zu Goa. In verschiednen andern Ländern begnügt man sich itzt, den Satz so zu fassen: Glaube, oder ich verabscheue dich. Glaube, oder ich tue dir Böses, soviel ich nur kann. Ungeheuer, du hast nicht meine Religion; du hast also keine Religion. Du musst deinen Nachbarn, deiner Stadt, deiner Provinz ein Greuel sein.“23 Dieses „Recht der Intoleranz“ ist für Voltaire „ebenso unvernünftig als barbarisch.“24 Er setzt ihm seine Forderung nach Toleranz entgegen, die für ihn die „Menschlichkeit überhaupt“ darstellt. Staatliche Toleranz bedeutet nicht zuletzt die (Selbst-)Bindung staatlicher Macht. Damit steht das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht in unmittelbarem Zusammenhang, denn es bindet die Ausübung der staatlichen Strafgewalt an die Vorgaben der Gesetze und beugt richterlicher Willkür vor. Schon in einem Brief an den Grafen von Argental zum Fall Calas vom 5. Juli 1762 schreibt Voltaire: „Gibt es eine abscheulichere Tyrannei als jene, nach Gutdünken Blut zu vergießen, ohne dafür nur den ge20
Zum „Fall Calas“ vgl. die Nachweise oben Fn. 17. Hertz (Fn. 17), S. 215 f. 22 Eine vollständige deutsche Übersetzung fehlt. Die umfassendste Ausgabe stammt von Noack (Hg.), Voltaire. Abbé, Beichtkind, Cartesianer. Philosophisches Wörterbuch, 1963, hier benutzt die 3. Aufl. 1967. 23 Voltaire, Über die Toleranz. Veranlasst durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762, in: Gilcher-Holtey (Hg.), Voltaire (Fn. 17), S. 111 – 147 (142 f.). 24 Die Affaire Calas (Fn. 17), S. 143. 21
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ringsten Grund anzugeben? Das ist nicht üblich, sagen die Richter; ihr Ungeheuer, das muss üblich werden!“25 Äußerungen Voltaires zum Gesetzlichkeitsprinzip finden sich verstreut in vielen seiner Schriften. So heißt es etwa in der 1747 erschienenen Erzählung „Zadig oder das Schicksal“ von dem Protagonisten „Wenn er einen Fall zu entscheiden hatte, so war nicht sein eigenes Urteil maßgebend, sondern immer nur das Gesetz. Schienen ihm die Gesetze jedoch zu hart, so milderte er sie“.26 Diese Formulierung spiegelt prägnant die Schwierigkeit, in der sich viele Rechtsreformer der Aufklärung befanden: Einerseits forderten sie die Bindung der Strafgewalt an das Gesetz, um richterliche Willkür zu verhindern. Andererseits waren die meisten Strafgesetze der Zeit so grausam, dass ihre strikte Anwendung der Orientierung am Ideal der Humanität widerstreben musste.27 Ein wesentlicher Grund für die Unmenschlichkeit des frühneuzeitlichen Strafrechts war dessen theokratische Verankerung, die dazu führte, dass jeder Verstoß gegen das Strafgesetz auch als Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Willen gedeutet werden konnte.28 Ein derartiges Strafrecht war kaum zu reformieren. Der einzige konsequente Ausweg bestand darin, Strafrecht und Religion zu entkoppeln und neue Strafgesetze zu erlassen. Es war Zeit für einen Neuanfang.
III. Das Gesetzlichkeitsprinzip bei Beccaria Ausgangspunkt Beccarias ist die Loslösung des Strafrechts von der Religion. Als Jurist behandelt er Verbrechen, nicht Sünden. Um Verbrechen zu verhindern, bedarf es zweckmäßiger Vorkehrungen – damit beginnt die rationale Auseinandersetzung mit der Frage, welche Mittel am besten geeignet sind, um Verbrechen zu verhindern. Es ist offensichtlich, dass in einem derartigen Ansatz Prävention wichtiger wird als (stets nachträgliche) Strafe, und dass Strafen nur dann gerechtfertigt werden können, wenn sie tatsächlich dazu beitragen, Verbrechen zu verhindern. Das Gesetzlichkeitsprinzip nimmt in „Von den Verbrechen und von den Strafen“ eine zentrale Rolle ein. Ansatzpunkt Beccarias ist eine teils vertragstheoretische, teils utilitaristische Begründung von Strafe. Schon in der Einführung stellt Beccaria klar, dass „Gesetze Verträge unter freien Menschen sind oder es doch […] sein soll25 Die Affaire Calas (Fn. 17), S. 17. Vgl. auch das Philosophische Wörterbuch (Fn. 22), S. 219 ff. 26 Voltaire, Candide. Sämtliche Romane und Erzählungen, 1969, S. 24. 27 Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in Doktrin, Politik und Gesetzgebung und Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heutigen Reformversuchen, 1913, S. 3 ff.; differenzierend Schreiber, Gesetz und Richter (Fn. 3), S. 29 ff. 28 Schon Böhmer, Handbuch der Literatur des Criminalrechts, 1816, S. 513, spricht davon, dass „Hierarchie [d.h. religiöse Herrschaft, E.H.], der Auswuchs echter Religiösität, … dem Aufkeimen liberaler Grundsätze im Criminalrechte [nie] günstig war“.
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ten“. Sie dürften nicht das „Werkzeug der Leidenschaften einiger weniger“ sein oder gar zufällig oder aus einem vorübergehenden Anlass entstehen. Für Beccaria geht eine sinnvolle Gesetzgebung vielmehr streng zweckrational vor: Die Gesetze werden „von einem kühlen Betrachter der menschlichen Natur erlassen, der die Handlungen einer Masse von Menschen auf einen einzigen Gesichtspunkt konzentriert und sie von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, nämlich von dem Gesichtspunkt: das größte Glück, verteilt auf die größte Zahl.“29 Und an einer anderen Stelle heißt es. „Es ist besser, Verbrechen zu verhüten, als sie zu bestrafen. Dies ist das vorrangige Ziel jeder guten Gesetzgebung, welche die Kunst ist, Menschen zu größtmöglicher Glückseligkeit oder doch zu geringstmöglichem Unglück zu führen.“30 Die Formel vom „größten Glück der größten Zahl“ ist aus der Diskussion um den klassischen Utilitarismus bekannt. Sie taucht im 18. Jahrhundert immer wieder auf, auch wenn die Formulierung vor allem mit Jeremy Bentham in Verbindung gebracht wird. Wegen ihres doppelten Optimierungsgebotes ist die Forderung nach Erreichung des größten Glücks der größten Zahl in ihrer gängigen Fassung allerdings unerfüllbar.31 Bei Beccaria wird deutlich, was damit gemeint ist: es soll das menschliche Wohlergehen soweit wie nur irgend möglich gefördert werden, und zwar nicht bloß das Wohlergehen einiger weniger Privilegierter, sondern das Wohlergehen möglichst vieler, vielleicht sogar aller: „Das Jahrhundert war der Verknüpfung des individuellen Glücks mit der Einrichtung des Staates endgültig gewiss geworden. Man konnte das Glück der vielen Menschen nicht mehr auf die Tugend nur des einzelnen, die Gottesgefälligkeit gründen. … Die Gesetzgebung erhielt nun ihr eigentliches Ziel: die Glücksgüter bis hin zur Naturgrenze selber zu fördern. Nichts anderes meint die Formel vom größten Glück der größten Zahl. Sie hat die Meinung überwunden, es gebe unaufhebbare gesellschaftliche Bedingungen, die einen Teil der Menschen, wenn auch eine Minderzahl, vom Glücke ausschlössen.“32 Nach Beccaria haben Strafgesetze die Aufgabe, das allgemeine Wohlergehen dadurch zu befördern, dass Verbrechen verhütet werden. Sie sollen mithin präventiv wirken, wobei Beccaria, wie einige seiner Formulierungen erkennen lassen, den Gedanken der (negativen) Generalprävention, also der Abschreckung, vertritt. Diese Zielsetzung wird mit vertragstheoretischen Vorstellungen von der Legitimation der Strafe verbunden:
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Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 6. Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 107. 31 Weitere Argumente gegen (und für) den Utilitarismus bei Hilgendorf, Der ethische Utilitarismus und das Grundgesetz, in: Brugger (Hg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 249 – 272. 32 Alff, Zur Einführung in Beccarias Leben und Denken, in: Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, 1988, S. 37 f. 30
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„Die Gesetze sind […] die Bedingungen, unter denen unabhängige und vereinzelte Menschen sich zur Gesellschaft zusammenschließen, da sie es müde sind, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine Freiheit zu genießen, die infolge der Ungewißheit, sie bewahren zu können, unnütz geworden ist. Sie opfern einen Teil von ihr, um den verbleibenden Teil in Sicherheit und Ruhe zu genießen. Die Summe aller dieser Freiheitsanteile, die jedermanns Wohl geopfert worden sind, bildet die Souveränität einer Nation, und der Herrscher ist ihr rechtmäßiger Bewahrer und Verwalter. Es genügte aber nicht, dieses Gut zu bilden; man musste es auch gegen die privaten Besitzanmaßungen einzelner Menschen verteidigen, denn diese versuchen stets, von dem in Verwahrung Gegebenen nicht nur den eigenen Anteil zurückzuziehen, sondern sich auch noch desjenigen der anderen zu bemächtigen. Man brauchte daher fühlbare Beweggründe, welche hinreichten, um den despotischen Geist aller Menschen daran zu hindern, die Gesetze der Gesellschaft wieder im alten Chaos untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Beweggründe sind die Strafen, welche gegen die Gesetzesbrecher verhängt werden.“33 In dieser Legitimationserzählung wird also die Fiktion eines ursprünglichen Vertrags mit der empirischen Einsicht in die Defizite der zum Normverstoß neigenden Menschennatur verknüpft und daraus das Institut der Strafe begründet. Indem Beccaria das Strafrecht dem Ziel der Beförderung menschlichen Wohlergehens unterstellt, wird sein Grundansatz zweckrational: Strafen müssen dem Ziel der Kriminalitätsprävention und letztlich der Beförderung des Wohlergehens aller dienen, insofern also nützlich sein. Wenn mit Strafe kein praktischer Nutzen erreicht wird, ist sie illegitim. Dieser Gedanke ist ein fester Topos in der Strafrechtskritik der Aufklärer. So schreibt etwa Voltaire noch in einer seiner letzten Publikationen: „Strafet – aber strafet nicht blindlings. Strafet so, dass die Strafe noch nützlich ist. Man hat die Gerechtigkeit mit verbundenen Augen gemalt, damit sie durch die Vernunft geleitet werde.“34 Immer wieder betont Beccaria, dass Strafen verhältnismäßig sein müssen: „Diejenigen Strafen, die über das hinausgehen, was zur Erhaltung des Gemeingutes des öffentlichen Wohls erforderlich ist, sind ihrer Natur nach ungerecht; und umso gerechter sind die Strafen, je heiliger und unverletzbarer die Sicherheit und je größer die Freiheit ist, die der Herrscher seinen Untertanen bewahrt.“35 Aus diesen Grundsätzen wird das Gesetzlichkeitsprinzip zweckrational begründet. Zunächst stellt Beccaria fest, dass „allein die Gesetze die Strafen für die Verbrecher bestimmen können, und diese Befugnis kann nur beim Gesetzgeber liegen, der die gesamte durch einen Gesellschaftsvertrag vereinte Gesellschaft vertritt“.36 Der Herrscher (Gesetzgeber) darf nur „allgemeine, für alle Mitglieder verbindliche Ge33
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 10. Preis der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, in: Republikanische Ideen, Bd. 2 (Fn. 16), S. 89 – 166 (95). Voltaires Text erschien 1777. 35 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 11. 36 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 12. 34
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setze erlassen“, nicht aber über den Einzelfall urteilen.37 Demgegenüber sind die Kriminalrichter nicht befugt, Strafgesetze auszulegen, „und zwar aus eben dem Grunde, dass sie nicht Gesetzgeber sind.“38 Beccaria verbindet diesen Gedanken mit folgenden Erwägungen: „Bei jedem Verbrechen muss vom Richter ein vollständiger Syllogismus vollzogen werden: der Obersatz muss das allgemeine Gesetz sein; der Untersatz muss die mit dem Gesetz übereinstimmende oder nicht übereinstimmende Handlung sein; der Schluss Freiheit oder Strafe. Stellt der Richter, gezwungen oder freiwillig, auch nur zwei Syllogismen auf, so öffnet sich die Pforte zur Unsicherheit.“39 Dahinter steht der Gedanke, der Strafrichter müsse sich, um nicht in die Versuchung der Willkür zu geraten,40 unbedingt auf eine strikte Anwendung des Gesetzes ohne Eigenwertung beschränken, eine (wie wir heute wissen: methodologisch naive) Vorstellung, die sich in der Strafrechtsliteratur der Aufklärung häufig findet.41 Allein der Gesetzeswortlaut soll die richterliche Entscheidung bestimmen. Beccaria sieht deutlich, dass in der strafrechtlichen Praxis meist ganz andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, oft verborgen unter weiten, bedeutsam klingenden Auslegungsregeln. Seine Ausführungen dazu klingen überaus aktuell: „Nichts ist gefährlicher als jenes verbreitete Axiom, dass man den Geist des Gesetzes zu Rate ziehen müsse. Dies ist der Damm, der vor dem Strom der Meinungen birst. … Jeder Mensch hat seinen Standpunkt; jeder Mensch hat zu verschiedenen Zeiten einen anderen Standpunkt. Der Geist des Gesetzes wäre somit das Ergebnis einer guten oder schlechten Logik eines Richters, seiner leichten oder ungesunden Verdauung, wäre abhängig von der Stärke seiner Leidenschaften, von der Gebrechlichkeit, unter der er leidet, von den Beziehungen des Richters zum Verletzten und von allen diesen kleinen Kräften, die das Erscheinungsbild aller Gegenstände im wandelbaren Gemüt des Menschen verändern. Daher sehen wir häufig, wie das Schicksal eines Bürgers bei seinem Gang, den es durch verschiedene Gerichte nimmt, sich wandelt, und wie das Leben der Unglücklichen zum Opfer falscher Schlüsse eines Richters wird, der das unklare Ergebnis dieser ganzen ungeordneten Reihe von Begriffen, die ihm durch den Kopf gehen, für rechtmäßige Auslegung hält.“42 37
Ebenda. Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 13. 39 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 14. 40 Es ist bemerkenswert, dass die willkürliche Sanktionspraxis der Strafgerichte in der Strafrechtslehre teilweise aus Präventionserwägungen heraus verteidigt wurde, dazu Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986, S. 41 f. 41 Locus classicus ist Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Buch XI Kap. 6 („Von der Verfassung Englands“). Hier verwendet die von Forsthoff übersetzte und herausgegebene Ausgabe, 1958, Bd. 1, S. 214 – 229. Vgl. im Übrigen Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilosophie (Fn. 27), S. 32, 74, 128, 183, 203 und passim. 42 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 14 f. 38
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Angesichts der Willkürjustiz seiner Zeit erscheint diese Mahnung Beccarias nur allzu verständlich.43 Die strenge Orientierung des Strafrichters am vernünftigen Gesetz und am Gesetz allein war für die Aufklärer das wichtigste Mittel, um richterliche Willkür einzuschränken, die Rechtsanwendung zu rationalisieren und übermäßig grausamen Strafen vorzubeugen. Das Gesetzlichkeitsprinzip ist somit geradezu ein Angelpunkt ihres Strafrechtsreformprogramms.44 Dass eine strenge Deduktion der richterlichen Entscheidung aus dem Gesetz ganz ohne Eigenwertung des Rechtsanwenders sehr häufig nur schwer zu erreichen ist, dürfte ihnen kaum entgangen sein;45 mit Rücksicht auf ihr Reformprogramm war es aber kaum opportun, auf diesen Umstand explizit hinzuweisen.46 Des Weiteren fordert Beccaria, dass Strafgesetze möglichst klar, einfach und verständlich formuliert werden sollen. Nur wenn der Rechtsunterworfene zu erkennen vermag, was ihm bei Strafe verboten ist, kann das Strafgesetz präventive Wirkung entfalten.47 Beccaria führt das Gesetzlichkeitsprinzip streng und mit großer Konsequenz durch; so verwirft er insbesondere die Möglichkeit, Begnadigungen auszusprechen – nicht der Herrscher, sondern das Gesetz soll alle Strafen und ebenso die Voraussetzungen besonderer Milde festlegen.48 Auch die Möglichkeit, innerhalb eines Landes dem Gesetz durch Asylnahme auszuweichen, lehnt er ab.49
43 Zu Recht weist Ogorek (Fn. 40), S. 40 f. darauf hin, dass Beccarias Forderungen nicht methodologisch, sondern politisch begründet waren. 44 Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilosophie (Fn. 27), S. 183, 210. 45 Gerade bei Voltaire finden sich Passagen, die eine methodologisch begründete Skepsis gegenüber dem Ideal einer absoluten Gesetzesbindung verraten. So heißt es in der Erzählung „Der Lauf der Welt. Eine Vision Babuks, von ihm selbst geschrieben“: „Am anderen Tag führte [der Gelehrte] Babuk zum Obersten Gerichtshof, wo ein wichtiges Urteil gesprochen werden sollte. Der Fall war allgemein bekannt. Alle älteren Anwälte, die sich dazu äußerten, schwankten in ihren Ansichten; sie führten hundert Gesetze an, von denen keines den Kern der Sache ganz traf; sie betrachteten die Angelegenheit von den verschiedensten Seiten, ohne sie richtig zu beleuchten. Die Richter entschieden rascher, als die Anwälte erwartet hatten. Ihr Urteil war nahezu einstimmig und der Richterspruch gut, weil sie sich von den Einsichten der Vernunft leiten ließen, während die anderen falsch urteilten, weil sie nur ihre Bücher befragten.“ (Sämtliche Romane und Erzählungen (Fn. 26), S. 102). 46 Die oben skizzierten Zusammenhänge werden in der heutigen Debatte um Sinn und Durchführbarkeit einer strengen Gesetzesbindung häufig nicht hinreichend berücksichtigt. Manchem Kritiker des Gesetzesbindungspostulats scheinen die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen das Postulat der Gesetzesbindung entstand, infolge einer Fixierung auf Problemfälle (deren Existenz niemand bestreitet) aus dem Blick geraten zu sein. 47 Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilosophie (Fn. 27), S. 101 und passim. 48 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 27), S. 64 f. 49 „Innerhalb der Grenzen eines Landes darf es keinen Ort geben, der von den Gesetzen unabhängig ist. Ihre Gewalt muss jedem Bürger folgen, so wie der Schatten seinem Körper folgt.“ (Von den Gesetzen und den Strafen (Fn. 10), S. 66).
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IV. Die Kritik an Beccaria 1. „Von den Verbrechen und von den Strafen“ und die christliche Religion Beccarias Buch passte, wie oben bereits ausgeführt wurde, in seine Zeit; es griff verbreitete Topoi der Kritik am überkommenen Strafrecht auf und formulierte Reformvorschläge, die gleichsam „in der Luft“ lagen.50 Es überrascht deshalb nicht, dass „Von den Verbrechen und von den Strafen“ ganz überwiegend auf Zustimmung stieß. Kritik kam zunächst vor allem von klerikaler Seite; dem Autor wurde vorgeworfen, nicht bloß das Strafrecht, sondern auch die christliche Religion anzugreifen, ein sehr gefährlicher Vorwurf, der nicht bloß die Verbreitung des Werks, sondern auch Freiheit und Leben seines Autors zu gefährden geeignet war. Beccaria war deshalb gezwungen, in die späteren Auflagen seines Werks eine neue Vorrede einzufügen, in der er die Trennung von Religion und Strafrecht betonte und hervorhob, mit der Kritik an strafrechtlichen Missständen keinesfalls auch das Christentum tadeln zu wollen.51 Jedem aufmerksamen Leser musste allerdings klar sein, dass viele kirchlich gebilligte oder sogar geforderte Strafpraktiken mit Beccarias Programm unvereinbar waren, obwohl sich Beccaria bei Themen, die die Religionswächter auf den Plan rufen konnten, sehr weit zurücknimmt. Nur an einer Stelle, an der er auf die Inquisition anspielt, wird der Mailänder deutlicher: „Der Leser dieser Schrift wird feststellen, dass ich eine Art von Verbrechen übergangen habe, welche Europa mit menschlichem Blut bedeckt und jene düsteren Scheiterhaufen aufgerichtet hat, wo lebende Menschenleiber den Flammen als Nahrung dienten, als es für die blinde Menge noch ein heiteres Schauspiel und ein angenehmer Klang war, zu hören, wie unter dem Prasseln der verkohlenden Gebeine und dem Brodeln der noch zuckenden Eingeweiden aus den Wirbeln des schwarzen Rauches – eines Rauches aus menschlichen Gliedern – unverständliche, dumpfe Klagelaute der Unglücklichen drangen.“52 Diese ungemein drastische, an die Religionskritik Voltaires erinnernde Schilderung ließ den Leser über Beccarias Haltung gegenüber der Inquisition nicht im Unklaren, und auch die deutliche Ironie, mit der er in diesem Zusammenhang das Ziel einer „vollkommene[n] Einheitlichkeit der Gedanken“ in einem Staat verteidigt,53 spricht Bände.
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Vgl. oben I. Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 1 – 5. 52 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 98. 53 Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 98 f.
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2. Deutsche Schwierigkeiten mit der Philosophie der Aufklärung Beccarias (und Voltaires) Kritik an einer inhumanen, religiös begründeten Strafrechtspraxis hat sich nicht bloß in der Rechtswirklichkeit, sondern auch im europäischen Christentum durchgesetzt.54 Wenn Beccaria und sein Buch „Von den Verbrechen und von den Strafen“ heute kritisiert werden, so richtet sich die Kritik weniger gegen einzelne Punkte seines Reformprogramms als vielmehr gegen die französische Aufklärung als solche, die vor allem in Deutschland gerne als „unsystematisch“ und oberflächlich abgetan wird. Hinter derartigen Wertungen verbergen sich oft noch alte, meist unreflektiert angenommene Vorstellungen von der Überlegenheit „deutscher Kultur“ (Kant!) über die angeblich „seichte“ westliche, vor allem französische „Zivilisation“ (Voltaire).55 Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wohin ein derartiger Dünkel führen kann. Der Vorwurf mangelnder Systematik übersieht, dass Autoren wie Voltaire oder Diderot gar nicht anstrebten, systematische fachphilosophische Werke zu verfassen. Weder Voltaire56 noch Diderot, immerhin der „Motor der Enzyklopädie“, dessen vielfältiges Werk erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts gewürdigt wurde,57 verstanden sich in erster Linie oder gar ausschließlich als Fachgelehrte. Andere französische Aufklärungsphilosophen, etwa Helvétius und d’Holbach, haben dagegen überaus systematisch angelegte philosophische Werke vorgelegt,58 die allerdings in Deutschland (anders als in Frankreich oder England) weitgehend ignoriert wurden. 54 Die durch Voltaire propagierten Ideale des Humanismus, des Liberalismus und des Säkularismus sind in Europa so sehr Allgemeingut geworden, dass sie bis heute das intellektuelle Leben prägen, auch wenn sie gar nicht mehr mit Voltaire oder der französischen Aufklärung in Verbindung gebracht werden. 55 Hamann/Hermand, Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 4, 1973, Taschenbuchausgabe 1977, S. 102 – 120. 56 Das Werk Voltaires ist so umfassend und vielfältig, dass sich sein Autor einer klaren Etikettierung entzieht. Man dürfte Voltaire jedoch nicht Unrecht tun, wenn man ihn in erster Linie als Schriftsteller und Intellektuellen versteht. Kennzeichnend für ihn ist sein nicht nachlassendes gesellschaftliches und politisches Engagement: Wie ein roter Faden zieht sich – über 6 Jahrzehnte hinweg! – der Kampf gegen die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit durch sein Werk. Dazu etwa Hempel, Zu Voltaires schriftstellerischer Strategie, in: Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, 1989, S. 243 – 260; vgl. auch Beeson/Cronk, Voltaire: philosopher or philosophe?, in: Cronk (Hg.), The Cambridge Companion to Voltaire, 2009, S. 47 – 64. 57 In der Gegenwart hat sich besonders Hans Magnus Enzensberger mit dem Multi-Talent Diderot auseinandergesetzt (Diderots Schatten, 1994; Voltaires Neffe. Eine Fälschung in Diderots Manier. 1996; Ein Philosophenstreit über die Erziehung und andere Gegenstände, aus Denis Diderots Widerlegung des Helvétius, 2004). 58 Helvétius, Vom Geist (1758), dt. in: Philosophische Schriften, hg. von Krauss, Bd. 1, 1973; d’Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt (1770), dt. Ausgabe 1978 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 259).
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Unzutreffend ist auch die bisweilen anzutreffende Behauptung, die französische Aufklärungsphilosophie erschöpfe sich in unfruchtbarer Kritik und Spötteleien. Wer so argumentiert, übersieht das leidenschaftliche Bekenntnis der französischen Aufklärer zu Humanität und universellen Werten. Gerade bei Voltaire kommen diese Tendenzen besonders deutlich zu Ausdruck. Als der alte Voltaire 1778 nach Jahrzehnten erzwungener Abwesenheit in einem Triumphzug – bisweilen spricht man gar von der „Apotheose“ Voltaires59 – nach Paris zurückkehrte, begrüßte ihn das Volk auf den Straßen nicht als Schriftsteller, sondern als „l’homme aux Calas“, als Kämpfer gegen staatliche und richterliche Willkür und Vorkämpfer eines humaneren Rechts.60 Voltaire war es auch, der in Romanen wie „Candide“ oder Erzählungen wie dem „Ehrlichen Huronen“ kulturbezogenen Vorurteilen und falschen Überlegenheitsgefühlen der Europäer entgegentrat.61 Er ist der wichtigste Vorkämpfer interkultureller Toleranz im 18. Jahrhundert.62 Kritisiert wird die französische Aufklärung schließlich auch wegen ihrer Orientierung am menschlichen Wohlergehen. In der Tat ist der Maßstab aller gesellschaftlichen und rechtlichen Reformen für die meisten französischen Aufklärungsphilosophen das menschliche Glück. Sie vertreten damit – vor Bentham und John Stuart Mill – einen am Humanitätsideal orientierten Utilitarismus. Rechtsnormen, die nichts zum menschlichen Wohlergehen beitragen, sind für die Aufklärer unnütz, u. U. sogar schädlich, und damit abzuschaffen. Das darin zum Ausdruck kommende instrumentelle Rechtsverständnis ist gerade in Deutschland lange Zeit auf erbitterte Kritik gestoßen. Ohne Übertreibung kann man von einem „anti-instrumentellen Affekt“ sprechen, der im Recht allerdings weniger bei Rechtspolitikern und dogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaftlern als vielmehr bei Rechtstheoretikern und Rechtsphilosophen auftritt. Besonders ausgeprägt ist der anti-instrumentelle Affekt in der deutschen Philosophie. Schon Kant spricht von den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre“.63 Adorno und Horkheimer haben diese Position in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ noch einmal erneuert und sind nicht davor zurückgeschreckt, das aufklärerische Denken mit den Verwüstungen des Dritten Reiches in Verbindung zu bringen.64 Jochen Schmidt spricht treffend von einem „in einer alten gegenaufklärerischen Tradition“ stehenden, spezifisch deutschen Vorurteil, „demzufolge Aufklärung wesentlich negativ und ,zersetzend‘ sei, weil sie sich angeblich auf die abstrakte Konsequenz eines 59
Bestermann (Fn. 7), S. 446. Dazu, neben dem oben Fn. 17 angeführten Werk von Hertz, auch Renwick, Voltaire and the politics of toleration, in: The Oxford Companion to Voltaire (Fn. 56), S. 179 – 191. 61 Abgedruckt in: Sämtliche Romane und Erzählungen (Fn. 26), S. 289 – 385. 62 Zum Kosmopolitismus der Aufklärung und seiner Entstehung Meyer, Epoche der Aufklärung (Fn. 4), S. 23 ff., 39 ff. 63 Metaphysik der Sitten (1797), Werkausgabe, hg. von Weischedel, Bd. VIII, S. 453; vgl. auch Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Werkausgabe Bd. VII, S. 133 ff. 64 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 1944/1947, Vorrede. 60
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wertfreien Zweckrationalismus reduziere.“65 Damit wird, wie auch Schmidt hervorhebt, die Orientierung der Aufklärung an Humanität und universellen Werten unterschlagen. 3. Die Kritik Wolfgang Nauckes an Beccarias strafrechtstheoretischem Ansatz In jüngerer Zeit hat vor allem Wolfgang Naucke die strafrechtspolitischen Forderungen Beccarias kritisiert.66 In der Einleitung zu seiner Neuausgabe des Textes weist er zunächst darauf hin, dass Beccarias Reformprogramm zwar in der Theorie höchst einflussreich wurde, sich praktisch aber bis heute nicht vollständig durchsetzen konnte. In den 250 Jahren seit der Publikation der Schrift „Von den Verbrechen und von den Strafen“ habe es immer wieder Strafrechtsexzesse gegeben – etwa das „Kolonialstrafrecht“67 und den Einsatz des Strafrechts in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts – die sich nicht einfach als Rückfälle in ein voraufklärerisches Strafrechtsdenken erklären ließen, sondern nach Nauckes Ansicht auf grundlegende Defizite in Beccarias Ansatz hindeuten. Beccaria habe keine wirklich tragfähige Begründung für sein Programm geliefert. Beccarias Appell an Humanität sei zwar in seiner Zeit überzeugend gewesen und habe Anhänger mobilisieren können. Heute jedoch wirke der Humanitätstopos im Rechtsdenken wie ein Fremdkörper.68 Naucke kritisiert des Weiteren Beccarias utilitaristische Orientierung am „Glück“ möglichst Vieler. Die darin zum Ausdruck kommende Zweckorientierung von Strafe – Naucke spricht von „Nützlichkeitsdenken“69 – hält er für von Grund auf verfehlt. Naucke erblickt darin die Basis einer Ausweitung des Strafrechts zu letztlich beliebigen Zwecken. Es fehle bei Beccaria eine „elementare Begründung“ des Strafrechts, von welcher Naucke offenbar nicht bloß eine Legitimation, sondern auch eine sichere Begrenzung des Strafrechts auf einen eindeutig bestimmten Kreis von Aufgaben erwartet.
65 Einleitung: Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, in: Schmidt (Hg.), Aufklärung (Fn. 56), S. 1 – 31 (3 f.). 66 Einführung (Fn. 10), S. XVI ff. Vgl. ergänzend ders., Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, in: Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, 2000, S. 13 – 28; Naucke folgend Vormbaum, Beccaria und die strafrechtliche Aufklärung in der gegenwärtigen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion, in: Jakobs (Hg.), Gegen Folter und Todesstrafe. Aufklärerischer Diskurs und europäische Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2007, S. 305 – 319; ders., Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 32 f. 67 Dazu Naucke, Deutsches Kolonialstrafrecht 1886 – 1918, in: Zerbrechlichkeit (Fn. 66), S. 265 – 285. 68 Einführung (Fn. 10), S. XIX. 69 Einführung (Fn. 10), S. XX, XXIV und passim.
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Auch Beccarias Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip lehnt Naucke ab. Das Gesetz werde dadurch „zum unwiderstehlich drohenden Herrschaftsinstrument“, zumal Beccaria keinerlei Ausnahmen von der Gesetzesgeltung zulasse.70 Für eine so große Macht des Gesetzes reiche der Verweis auf seine Nützlichkeit aber nicht aus.71 Naucke kritisiert das Fehlen weitergehender inhaltlicher Bindungen: „Die Gesetzesmacht, die Beccaria fördert, ist deswegen so unverständlich, weil Beccaria sich kaum darum kümmert, was man in die Gesetze schreiben darf, sich nicht überlegt, ob es einen Zusammenhang von Gesetz und Gesetzwürdigkeit geben muss.“72 Was ist von dieser Kritik zu halten? Naucke kommt das große Verdienst zu, die wissenschaftliche Debatte um Beccaria und das Strafrechtsdenken der Aufklärung neu belebt zu haben. Zutreffend ist auch, dass die Zweckorientierung des Strafrechts gegen Missbrauch nicht gefeit ist. Wenn man Strafrecht als Mittel konzipiert, um gesellschaftliche Sicherheit und damit letztlich menschliches Wohlergehen zu erreichen, bleiben dem jeweiligen Gesetzgeber in der Tat erhebliche Spielräume, in denen er bestimmen kann, was genau unter „gesellschaftlicher Sicherheit“ zu verstehen ist. Strafrechtsausweitungen – Naucke spricht auch von „Strafrechtsverstärkung“73 – lassen sich damit nicht ausschließen. Letztlich sind instrumentelle Konzepte immer abhängig von der genauen Festlegung der mit ihnen verfolgten Zwecke.74 Offen ist allerdings, was Naucke als Alternative zu einem instrumentellen Strafrechtsverständnis anzubieten hat. Dazu äußert er sich in seiner Beccaria-Kritik bemerkenswerterweise nicht. Nur en passant verweist er auf Kant und dessen Begründungsmodell.75 Das Kantianische Begründungsprogramm war allerdings von Anfang an umstritten und kann keineswegs als konsentiertes Allgemeingut der praktischen Philosophie gelten. Ob der Rekurs auf Kant eine „elementare Begründung“ von Strafrecht zu leisten vermag, müsste deshalb erst noch gezeigt werden. Man wird jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgehen können, dass Kants Ansatz dem der französischen Aufklärer und Beccarias überlegen ist. Zu bedenken ist darüber hinaus, dass es Beccaria kaum um eine akademisch-systematische Begründung seines Reformprogramms gegangen sein dürfte. Zu offenkundig waren die Missstände im Strafrecht seiner Zeit, zu dringend der praktische Reformbedarf. Neu war bei Beccaria vor allem die zusammenfassende Explikation des aufklärerischen Strafrechtsreformprogramms.76 Die meisten seiner Elemente waren aber schon von Montesquieu, Voltaire und anderen vorgedacht und vorformuliert worden. Eine systematische Begründung von Reformvorschlägen, die ange70
Einführung (Fn. 10), S. XXIX. Ebenda. 72 Einführung (Fn. 10), S. XXX. 73 Einführung (Fn. 10), S. XL. 74 Hilgendorf, Begründung in Recht und Ethik, in: Brand u. a. (Hg.), Wie funktioniert Bioethik? 2008, S. 233 – 254 (237). 75 Einführung (Fn. 10), S. XXVII. 76 Vgl. oben I. 71
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sichts drängender Unrechtserfahrungen77 jedem Intellektuellen unmittelbar einleuchteten, strebte Beccaria ebenso wenig an wie Voltaire oder die Autoren des d’Holbach-Kreises. Aber auch unabhängig von den konkreten Intentionen Beccarias erscheint die Kritik an seinem strafrechtstheoretischen Ansatz fragwürdig. Es trifft zwar zu, dass der instrumentelle Ansatz, also das „Nützlichkeitsdenken“ im Strafrecht, missbraucht werden kann. Andererseits kann man die Frage, ob eine bestimmte Strafe überhaupt geeignet sei, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, in hervorragender Weise dafür einsetzen, Kritik an überzogenen, ineffektiven und damit auch inhumanen Strafen zu üben. Die übertriebene Grausamkeit und Willkür der europäischen Strafpraxis in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die weder die Gesellschaft sicherer machte noch die Täter besserte, mithin zum gesellschaftlichen wie individuellen Wohlergehen nichts beitrug, musste jedem nachdenklichen Beobachter als unzweckmäßig und damit als verfehlt erscheinen. Die Überprüfung auf Zweckmäßigkeit spielt übrigens bis heute im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine wesentliche Rolle: Jedes Gesetz muss bestimmten Zwecken dienen, zu deren Erreichung es geeignet (also zweckmäßig) und erforderlich (das mildeste Mittel) sein muss.78 Die zu verfolgenden Zwecke sind allerdings nicht in das Belieben des Gesetzgebers gestellt, sondern müssen mit bindenden übergeordneten Werten, v. a. der Werteordnung des Grundgesetzes und ihrem Fundament, der Menschenwürde, vereinbar sein. Im Aufklärungszeitalter waren es die Ideale der Humanität und des gesellschaftlichen Wohlergehens, an denen die Gesetzgebung ausgerichtet werden sollte. Ein weiterer Gesichtspunkt tritt hinzu: Ob ein Mittel geeignet ist, bestimmte Ziele zu erreichen, ist eine Frage, die letztlich empirischer Natur ist. Daher ist auch die Frage nach der Tauglichkeit bestimmter Strafen und strafrechtlicher Einrichtungen zur Sicherung und womöglich Steigerung des gesellschaftlichen Wohlergehens letztlich empirisch zu entscheiden. Es handelt sich also nicht um ein Problem der Metaphysik oder der Theologie, zu dessen Lösung nur die jeweiligen Fachleute, also Philosophen und Theologen, beitragen können. Die Neukonzeption eines aufgeklärten, zweckmäßigen und das Wohlergehen aller Betroffenen befördernden Strafrechts wird durch Beccarias Art der Fragestellung vielmehr demokratisiert und einer kritischen Öffentlichkeit überantwortet. Auch darin liegt ein wesentliches Element eines aufgeklärten Strafrechts. Die Probe der Zweckrationalität, also das Messen der eingesetzten Mittel an den jeweils verfolgten Zwecken, ist deshalb ein durchaus überzeugendes Argument der Rechtskritik. Dass der zweckrationale Ansatz im Strafrecht sein kritisches Potential bis heute nicht verloren hat, zeigen die Diskussionen um neue Erscheinungsformen von Punitivität in der Strafgesetzgebung, Strafrechtsanwendung und im Strafvoll77
Zum Zusammenhang von Rechtsreformen und erfahrenem Unrecht Hilgendorf, Recht durch Unrecht? Interkulturelle Perspektiven, in: JuS 2008, S. 761 – 767. 78 Dreier, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, Rn. 146, 147, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung
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zug.79 Wer eine Tendenz zu „zu viel Strafrecht“ wirkungsvoll kritisieren möchte, erreicht dies vor allem dadurch, dass er aufzeigt, dass eine Strafrechtsvermehrung keineswegs zwingend zu mehr Sicherheit führt, bisweilen sogar den angestrebten Zielen abträglich ist. Beispielhafte Bereiche sind etwa das Jugendstrafrecht, das Insiderstrafrecht oder auch das Betäubungsmittelstrafrecht. Noch viel bedeutsamer ist der zweckrationale Ansatz der Strafrechtskritik in fremden Strafrechtsordnungen, in denen das Gedankengut der Aufklärung und seine strafrechtsphilosophischen Ausprägungen Säkularität, Rationalität, Liberalität und Humanität noch nicht Fuß fassen konnten. Wer etwa den Einsatz von Folter, die Todesstrafe oder das religiös begründete Totalverbot des Schwangerschaftsabbruchs kritisieren will, kann durch den Aufweis, dass diese Mittel ihre Ziele nicht oder jedenfalls kaum verwirklichen können, wesentlich mehr erreichen als durch den Versuch einer bislang letztlich doch meist in Beliebigkeit mündenden „absoluten“, etwa religiös oder metaphysisch argumentierenden Strafrechtsbegründung. Keiner dieser Versuche hat bisher der rationalen Prüfung auf Dauer standhalten können. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass es Rang und Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips keinerlei Abbruch tut, dass es in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung zweckrational – als Mittel zu Begrenzung der Staatsmacht – eingeführt wurde.
V. Zusammenfassung und Ausblick Beccarias epochemachendes Buch „Von den Verbrechen und von den Strafen“ kann nur vor dem Hintergrund der französischen Aufklärung um die Mitte des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Dies gilt auch und gerade für das Gesetzlichkeitsprinzip, dessen zentrale Funktion, die Beschränkung richterlicher Willkür und damit die Bändigung der Staatsmacht, für das rechtspolitische Programm der Aufklärung von grundlegender Bedeutung ist. Über Feuerbach prägt das Gesetzlichkeitsprinzip das deutsche Strafrecht bis heute, auch wenn seine politische Bedeutung als Instrument der Freiheitssicherung mangels konkreter Gefährdungen abgenommen hat. In vielen Staaten der Welt ist das Strafrecht dagegen immer noch von Richterwillkür und teilweise grausamen, nutzlosen Strafen geprägt. Das strafrechtspolitische Programm der Aufklärung und vor allem seine Kernforderung nach strenger Gesetzlichkeit sind deshalb nach wie vor hoch aktuell.
79 Hilgendorf, Punitivität und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie. In: Neue Kriminalpolitik, Bd. 22 (2010), S. 125 – 131.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion Ralph Christensen Das Gesetz macht noch keine Entscheidung. Dazu braucht es den Richter. Aber der Richter ist dabei nicht frei, sondern gebunden. Doch worin bestehen seine Bindungen, wenn er das Recht, an das er gebunden ist, selbst erzeugt? Meist wird diese Frage mit pathetischen Gesten beantwortet. Der Richter sei in einer kafkaesken Situation, weil er wisse, dass er gebunden sei, aber nicht wisse, woran. Soviel Nichtwissen kann sich ein Richter bei den heute vorgegebenen Erledigungszahlen aber nicht mehr erlauben. Er muss sich vielmehr mit den vorgetragenen Argumenten, Schriftsätzen und Vorentscheidungen in knapper Zeit auseinandersetzen. Als Alternative zu Kafka bietet sich Carl Schmitt an: die Situation des Richters wird dann aufgeladen mit der existenziellen Intensität der großen Entscheidung. Der Richter sei hineingehalten ins normative Nichts und stehe als einsames Subjekt vor der Notwendigkeit, zwischen Freund und Feind zu wählen. Der von Kommunikation überschwemmte Richter kennt das einsame Subjekt aber nur noch aus der Literatur; seine vielfältigen Äußerungspflichten lösen die große Entscheidung in eine Vielzahl von kleinen Entscheidungen auf. Daher sind weder Verzweiflung noch Dezisionismus angebracht, sondern eine nüchterne Analyse der Anschlusszwänge, der die Richter bei der Erzeugung von Recht ausgeliefert sind.
I. Die Entscheidung verschwindet im Recht Die traditionelle Auffassung von der richterlichen Bindung ging vom klassischen Positivismus aus: danach liefert der Gesetzgeber dem Richter vermittels der Sprache den Inhalt seiner Entscheidung. Mit diesem schlichten Modell von Gewaltenteilung wollte man sicherstellen, dass Gesetze und nicht Menschen herrschen. Das, was im Rechtsystem tagtäglich vorgeht, die gerichtlichen Verfahren, die dort vorgetragenen Argumente und die Begründungsarbeit der Richter kommen darin aber nicht vor. Das Verfahren dient allenfalls der didaktischen Vermittlung des vorher schon feststehenden Ergebnisses. Die Rechtslage kann man allein aus dem Gesetz ablesen. Der herkömmliche Ansatz konstruiert Rechtserkenntnis nach dem Modell einer Gegenstandserkenntnis: „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als ,Träger‘ des in ihm niedergelegten Sinnes, um dessen Verständnis es in der Auslegung geht. ,Auslegung‘ ist, wenn wir an die Wortbedeutung anknüpfen, ,Auseinanderlegung‘,
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Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber gleichsam verhüllten Sinnes.“1 Wenn man die Rechtslage aus dem Text des Gesetzes ablesen will, stößt man aber auf eine Schwierigkeit: die vorgeblich objektive Bedeutung ist nicht festzustellen. Das Gesetz existiert nur in einer Vielzahl von Lesarten; ohne Verfahren und die dort vorgetragenen Argumente weiß man nicht, welche Lesart die beste ist. Man will im Gesetz eine Regel finden und sie in der Entscheidung abbilden. Aber niemand hat eine versionslose Beschreibung. Es fehlt die Regel für die Anwendung der Regel. Die klassische Lehre reagiert auf diese Schwierigkeit mit einer Vermehrung der Rechtsquellen. Eine weitere Größe hinter der Rechtsquelle soll sicherstellen, dass die Regel nicht streitig wird und ihre Anwendung funktioniert: Es wird uns damit empfohlen, vom bloßen Text auf den Geist des Gesetzes zurückzugehen. Denn, so heißt es etwa in einer Methodik des europäischen Privatrechts: Auslegung ist „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“2 Es genüge daher, bei schwierigen Fällen von der Ebene des Textes zur Ebene der Gedanken oder Prinzipien übergehen. Wenn man sich von diesen Prinzipien leiten lasse, werde vorgezeichnet, was sozusagen „eigentlich“ hätte im Text stehen können. Als Gegenstand der Erkenntnis springen die Rechtsprinzipien dort in die Bresche, wo sich die Bedeutung des Normtextes einer umstandslosen Lektüre versagt. An der Vorstellung eines objektiv vorgegebenen Rechts ändert sich dadurch nichts; es wird lediglich der Gegenstandsbezug geändert. Hinter dem Gefüge gesetzlicher Anordnungen soll ein weiteres System liegen, zu dem man sich über den bloßen Text hinaus durcharbeiten muss. Es ist das System der Rechtsprinzipien, wie es schon Savigny entworfen hat: „Diese herauszufühlen, und von ihnen ausgehend den inneren Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehörte […] zu den schwierigsten Aufgaben unserer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt.“3 Dabei gingen weder historische Rechtsschule noch Wertungsjurisprudenz bzw. Diskurstheorie von einem unbeweglichen oder geschlossenen System aus.4 Vielmehr wird es beeinflusst vom Fortgang der Gesetzgebung und dem gesellschaftlichen Wer-
1 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin, 1979, S. 299. Zum Problem im Engeren auch Larenz, „Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem“, NJW 1965, S. 1 ff. Wie fest dieser Begriff immer noch etabliert ist, zeigt etwa Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt am Main, 1998, S. 29. 2 Pechstein/Drechsler, „Auslegung und Fortbildung des Primärrechts“, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, Berlin, S. 91 ff., S. 91. 3 von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Heidelberg, 1840, S. 66. 4 Vgl. dazu Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., Berlin, 1983; vgl. dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin, 1995, S. 314 ff.
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tewandel.5 Die geschilderte Offenheit führt aber nicht in eine kontextuell und praktisch gewendete Semantik des Rechts, vielmehr wird die fehlende Schließung zu einer epistemischen Aufgabe. Die Offenheit der Prinzipien muss dann als Mangel definiert werden: „Bei der Umschreibung des Bedeutungsgehalts der allgemeinen Rechtsgrundsätze gibt es allerdings manche Unsicherheit.“6 Man kann die Prinzipien7 folglich nicht einfach anwenden, sondern benötigt eine darüber hinausgehende Wertung.8 Dabei zeigen sich Konflikte zwischen verschiedenen Prinzipien:9 „Prinzipien sind normative Aussagen so hoher Generalitätsstufen, dass sie in der Regel nicht ohne Hinzunahme weiterer normativer Prämissen angewendet werden können und meistens durch andere Prinzipien Einschränkungen erfahren.“10 Die weiteren Wertungen entnimmt man dem Innersten des inneren Systems, der Rechtsidee, sei diese nun naturrechtlich, neuhegelianisch, wertungsbezogen11 oder diskurstheoretisch12 bestimmt. Mit dem Abschluss dieser Bewegung nach innen landet man wieder beim Hegelschen Begriff der Totalität und damit einem vertikalen Holismus: „Geht man ,von unten‘, d. h. von den positiven Einzelregeln auf die ihnen zugrunde liegenden Leitgedanken zurück, ,von oben‘, also von der Rechtsidee zu deren historischen Konkretisierungen in der gegebenen Rechtsgemeinschaft herunter, und lässt sich übereinstimmend aufgrund beider Gedankengänge ein Rechtsgedanke formulieren, so handelt es sich um ein rechtsethisches Prinzip.“13 Mit der Ausdehnung des Begriffs der Auslegung auf einen Fundus an Rechtsprinzipien, zusammengehalten von der Rechtsidee, hat sich die argumentative Bewegung der klassischen Lehre zur Totalität gerundet. Dabei ist diese Totalität strukturiert wie die stratifizierte Gesellschaft: über dem vom Adel der Prinzipien beherrschten Volk der Begriffe thront die Rechtsidee wie ein König – woran sich zeigt, dass die Bewusstseinsformen der vorangegangenen gesellschaftlichen Formation auch in der nachfolgenden zunächst noch dominant bleiben. 5 Vgl. Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Graz, 1951; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien/New York, 1991; Bydlinski u. a., Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, Wien/New York, 1986. 6 Vgl. dazu Kramer, Juristische Methodenlehre, Bern, 1998, S. 188. 7 Vgl. grundlegend zu diesem Begriff: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl., Tübingen, 1990, mit Klassifikation der Prinzipien S. 87 ff.; sowie Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main, 1984, S. 56 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt am Main, 1994, S. 254 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München, 1982, S. 97. 8 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main, 1996, S. 390; Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 188. 9 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden, 1985, S. 143 ff. 10 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl., 1996, S. 390. 11 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 131 f., S. 297 ff. 12 Vgl. dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl., Freiburg, 1994, S. 201 f. 13 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 133.
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II. Das Recht verschwindet in der Entscheidung Die Rechtsidee oder der Gedanke der Gerechtigkeit können aber den Konflikt der gegenläufigen Prinzipien nicht entscheiden. Die vom alteuropäischen Rechtsdenken vorausgesetzte objektive Erkenntnisgrundlage für die richterliche Entscheidung ist nicht verfügbar. Die Gerechtigkeit ist nämlich entweder formulierbar und damit nicht zentral, oder sie ist zentral, um den Preis, nicht formuliert zu werden. Ohne Zentrum kann das System der alteuropäischen Rechtsquellen aber nicht operieren. Wenn der Richter mit seinem Fall bei den Rechtsquellen zur Erkenntnis vorspricht, erhält er keine Antwort. Der gute Wille des Richters findet damit keinen Erkenntnispartner. Wird aber die ehrwürdige Hierarchie der Rechtsquellen als bloße Metapher behandelt,14 stellt sich die Frage, ob man damit nicht in die Position des Dezisionismus gedrängt wird: „Der Begriff der Positivität legt eine Erläuterung durch den Begriff der Entscheidung nahe. Positives Recht gelte qua Entscheidung. Das führt auf den Vorwurf des ,Dezisionismus‘ im Sinne einer willkürlichen, nur von Durchsetzungsmacht abhängigen Entscheidungsmöglichkeit. Das aber führt in eine Sackgasse, da schließlich jedermann weiß, dass im Recht nie und nimmer beliebig entschieden werden kann. Irgendetwas ist bei diesem Räsonnement also schiefgelaufen (…).“15 Es könnte sich also in dem Gegensatz von Rechtsquellenlehre und Dezisionismus ein grundlegendes Problem ankündigen. Dazu muss man das Zusammenspiel beider Positionen genauer betrachten. Die herkömmliche Lehre von den Rechtsquellen sieht den Richter als Diener des Rechts. In seinem Urteil spricht er nur aus, was in die Hierarchie der Rechtsquellen bereits vorgegeben ist. In jedem praktischen Fall muss natürlich der Richter die Rolle der Rechtsquelle als Quasi-Subjekt übernehmen. Der Diener souffliert den Herrn. Es ist eine Doppelrolle. Und vor allem in jedem wirklichen Verfahren muss sich der Richter zum Herren über den Inhalt des Rechts machen, um seine Verständnisweise des Gesetzestextes gegen andere durchzusetzen, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Unterworfenheit unter die Rechtsquelle ist damit nur die Fassade, hinter der sich der Übergang zur richterlichen Entscheidung ohne die Möglichkeit äußerer Kritik vollziehen kann. Die Rechtsquellenlehre ist damit eine verdeckte Herrschaftstechnik. Sie liefert die Selbstdarstellung nach außen gegenüber anderen sozialen Systemen und insbesondere die Rechtfertigung gegen Kritik. Aber mit dem Dezisionismus gibt es eine zweite Variante juristischer Selbstreflexion. Danach ist das Gesetz bedeutungslos. Allein der Richter entscheidet, was Recht ist. Es handelt sich um die zynische, eher nach innen zu den Fachkollegen als nach außen zu den Laien gewendete Form des juristischen Bewusstseins. Die beiden Positionen sind keine Gegensätze. Sie ergänzen 14 15
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1993, S. 100 und öfter. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 38 f.
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sich nach dem Muster einer klassischen Zweierbeziehung. Die Rechtsquellenlehre liefert nach außen hin die soziale Legitimation, während der Dezisionismus in aller Stille die Entscheidungen trifft. Der Dezisionismus liegt im Schatten der Rechtsquellenhierarchie und liefert alle Antworten, zu denen diese Instanzen gerade nicht in der Lage sind. Wenn zwei gegensätzliche Positionen wie die Rechtsquellenlehre und der Dezisionismus sich als zwei Seiten lediglich der einen Medaille erweisen, dann kann die Problematik nur diesseits der damit vorgezeichneten Alternative liegen. Das Auseinanderfallen des alteuropäischen Rechtsdenkens in Gegensätze verweist auf einen uneingestandenen Zwiespalt der Praxis und den Unwillen, diesen zu bearbeiten. Es ist Reflex der Situation des Rechts der Moderne, das in Anspruch und Wirklichkeit von einem Widerstreit zwischen Gesetzesbindung und Entscheidungsmacht durchzogen ist, den es immer wieder nur als Praxis abarbeiten kann und über dem es seinem Begriff nach nie zur Ruhe kommt.
III. Das Paradox der Entscheidung Wollte man die Entscheidung, die der Jurist zu treffen hat, schlicht als eine Wahl zwischen den im Verfahren vorgetragenen Rechtspositionen nach der Maßgabe einer Gesetzesnorm betrachten, so bliebe das bestenfalls nichtssagend. In Alternative können sich die im Verfahren vorgetragenen Rechtspositionen nur gegenüber stehen, wenn sie gleichermaßen als Recht betrachtet werden können. Ansonsten wären sie so weit gar nicht gekommen. Genau dieses Moment macht ja auch die Notwendigkeit aus, dass sich die beiden Positionen aneinander abarbeiten. Das heißt, die Prozessparteien versuchen, durch Argumente der Gegenpartei ihren Anspruch auf das Recht zu entziehen. Inwiefern ist aber dann noch Entscheidung notwendig? Offenbar deshalb, weil sie zum einen überhaupt als Recht zur Wahl stehen. Und zugleich deshalb, weil nur eine von ihnen den Anspruch auf Recht nicht nur erheben, sondern tatsächlich auch verkörpern kann. Das macht ihre Alternativität aus. Auf einen schlichten Nenner gebracht dreht sich also die Apostrophierung der Entscheidung als Wahl in dem Kreis sagen zu müssen, dass die widerstreitenden Positionen deshalb zur Wahl stehen, weil die Wahl nur auf eine von ihnen fallen kann, also weil sie zur Wahl stehen. Diese Tautologie deutet an, dass hier ein elementares Problem liegt. Etwas, was nicht so ohne weiteres aufgelöst werden kann, um der Entscheidung von vornherein ihre Spur zu weisen. Etwas, das daher nicht anderes sein kann, als die Entscheidung zu treffen, damit es sich um eine Entscheidung handelt. Es lauert hier ein Paradox, das sich mit Luhmann zunächst abstrakt anzeichnen lässt: „Manchmal wird die Mehrheit der Möglichkeiten als Alternative bezeichnet, manchmal nur jeweils eine Version aus der Menge der nicht gleichzeitig realisierbaren Möglichkeiten; und oft bleibt unklar, welche dieser beiden einander ausschließenden Bedeutungen gemeint ist. Diese Ambivalenz des Sprachgebrauchs scheint ein Indikator dafür zu sein, dass man es mit einer Paradoxie zu tun
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hat“.16 Für das Recht stellt sich dann die ernste Frage, ob es anders aufgelöst werden kann als durch schiere Dezision, wie bekanntlich Carl Schmitt meinte. „Die Paradoxie des Entscheidens“ lässt sich dabei mit Luhmann zunächst nach dem Vorbild derjenigen der Bobachtung modellieren.17 Analog des Bobachterparadoxes sind „Entscheidungsparadoxien (…) unentscheidbar, weil jede Entscheidung ihr Gegenteil enthält.“18 Die Entscheidung kann sich also nicht erfassen gerade aufgrund der Voraussetzung, getroffen werden zu können und zu müssen: „Die Form ,Alternative‘ ist also diejenige Form, die eine Beobachtung zu einer Entscheidung macht. Die Entscheidung bezeichnet diejenige Seite der Alternative, die sie präferiert.“19 So weit, so gut. Aber das Problem wird virulent mit der Frage, „wie denn die Entscheidung sich zu der Alternative verhält, innerhalb derer sie eine der Möglichkeiten zu bezeichnen hat.“20 Denn die Antwort kann nur lauten, „dass die Entscheidung selbst in der Alternative gar nicht vorkommt. Die Entscheidung ist nicht etwa eine der Möglichkeiten, die man wählen kann (…). Aber ohne Alternative gäbe es auch keine Entscheidung; nur die Alternative macht die Entscheidung zur Entscheidung. Also scheint die Entscheidung das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte zu sein; oder das Beobachten, das die Unterscheidung verwendet, sich aber bei diesem Vollzug nicht selber bezeichnen kann“.21 Mit anderen Worten, ganz so wie sich die Beobachtung nicht beobachten kann, kann die Entscheidung sich nicht entscheiden. Und hier droht sich nun jener Abgrund aufzutun, über den nach Carl Schmitt nur der dezisionistische Sprung helfen kann. Die Modellierung des Urteils als Rechtsanwendung vermag hier nicht zu helfen. Das war die vergebliche Mühe des Positivismus, die zugleich gegen ihren eigenen Willen gezeigt hat, warum sie scheitern musste. Denn der Jurist als Entscheider würde sich gern unsichtbar machen, damit sich die Entscheidung als Rechtsanwendung vollziehen kann. Das Urteil wird ihm zugerechnet. Es darf aber nicht seine Entscheidung sein. Er darf sie allenfalls vollziehen, weil sie sonst seine Entscheidung über Recht und nicht die Entscheidung des Rechts wäre. Allenfalls ist der Entscheider also, wie Luhmann mit Verweis auf Serres konstatiert, „der Parasit seines Entscheidens. Er profitiert davon, dass der Entscheidung eine Alternative zu Grunde liegt. Die Entscheidung vergeht, er bleibt. Die Entscheidung kann allenfalls noch Thema weiterer Kommunikation sein, den Entscheider kann man fragen (und damit anerkennen).“22
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Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, S. 124. Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 123 ff. 18 Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 131. 19 Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 131 f. 20 Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 133. 21 Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 134. 22 Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 134. 17
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Hier deutet sich nun auch der Weg nicht einer Auflösung des Entscheidungsparadoxes an, wohl aber seiner Bearbeitung im Sinne der Rationalität von Recht: „Die Entscheidung muss über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative informieren, also über das Paradox, dass die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).“23 Mit der Befragung des Entscheiders als „reentry“, mit einer Beobachtung, die ihn unterscheidet auf die Frage hin, ob seine Entscheidung von Recht zu Recht oder Unrecht besteht, kann der kommunikative Zug des Entscheidens zum Tragen gebracht werden. Und zwar in den beiden Richtungen des Vorher und Nachher. Zurückbefragen lässt sich die Entscheidung als Thematisierung ihrer Begründung. Voranbefragen lässt sie sich als Kritik. Denn „kommuniziert nicht jede Entscheidung auch die Kritik an sich selber, weil sie zugleich mitteilt, dass sie auch anders möglich gewesen wäre? Die Entscheidung muss, könnte man auch sagen, eine Meta-Information mitkommunizieren, die besagt, dass der Entscheider die Autorität oder gute Gründe hatte, so zu entscheiden, wie er entschieden hatte.“24 Hoffnungslos bleibt die Situation der Entscheidung also nur, wenn man sie aus der Zeit nimmt, wenn man sie also nur für sich nimmt, anstatt sie in der Zeit und damit als kontingent zu sich kommen zu lassen. Schneidet man sie von dem Vorangegangenen ab, mit dem sie natürlich in einen neuen Zustand bricht, so bliebe in der Tat nichts anderes übrig als mit Thomas Wirtz zu konstatieren, „Argumentation besitzt für die Entscheidung selbst keinerlei Bedeutung und deckelt nur nachträglich das Begründungsloch.“25 Demgegenüber macht aber Gunther Teubner zu Recht darauf aufmerksam, dass die „Aufdeckung des Irrationalen nicht etwa das dezisionistische Ende der Analyse (ist), sondern erst ihr Anfang“26 Daraus ergibt sich aber, dass „die Ansprüche an die Qualität der Begründungen im Angesichte ihrer Paradoxien“ gesteigert werden. „Oder anders: Das Irrationale der Entscheidung aufzudecken, bedeutet (…) nicht, die Gerechtigkeitsfrage zu suspendieren, sondern die Anforderungen an Gerechtigkeit zu intensivieren.“27 Genau dies eben geschieht, wenn man das Paradox nicht verdunkelt mit dem Verweis auf die Faktizität, sondern es erneut aufreißt mit der Frage, warum die Entscheidung nicht anders oder gar gegenteilig getroffen wurde.
23
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 140. Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 141. 25 Wirtz, „Entscheidung. Niklas Luhmann und Carl Schmitt“, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin, 1999, S. 175 ff., S. 183. 26 Teubner, „Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsuchungen von System und différance“, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin, 1999, S. 199 ff., S. 200. 27 Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 200. 24
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IV. Die dezisionistische Lesart des Paradoxes Aber ist diese Frage für das Recht überhaupt noch möglich? Die Systemtheorie liefert zu diesem Problem zwei Lesarten. Eine vor-dekonstruktive in Luhmanns Monographie „Das Recht der Gesellschaft“ und eine dekonstruktive in Luhmanns Aufsatz „Die Metamorphosen des Staates“ sowie den Arbeiten Teubners. Betrachten wir zunächst den vor-dekonstruktivistischen Lösungsvorschlag. Luhmanns Position in seiner Monographie „Das Recht der Gesellschaft“ ist von einer starken Affinität zum Dezisionismus geprägt: „Wie Schmitt seine Weimarer Gegenwart in der verspielten Romantik attackierte, so argumentiert auch Luhmann strikt gegenwartsbezogen. Die überfordernde, weil code-multiplizierende Romantik öffnet nur den Blick auf ein historisches Modell und seine Überwindung, um diesen Erfolg in der Jetztzeit zu wiederholen. Der unernste, aber keineswegs lächerliche Gegner heißt Dekonstruktion. Alle systemtheoretische Sympathie für ein differenzbeobachtendes Modell endet im Moment des geforderten Aufschubs, dem ein Luhmann’sches Pathos des Abbruchs entgegentritt: ,Die Daseinslage zwingt zu Verkürzungen, die an sich endlose Interpretation der Welt oder der Texte muss abgebrochen werden.‘ Luhmanns Recht der Gesellschaft ist durchzogen von einer Polemik gegen dekonstruktives Zögern, hinter der eine Schmitt-analoge Kritik an luxurierendem Egoismus und verhängnisvoller Neutralisierung steht.“28 Luhmann vertraut hier also auf die Kraft der Entscheidung zur Entparadoxierung des Rechts. Er gibt allerdings zu, dass die Entscheidung diese Kraft nicht alleine hat. Denn als Entscheidung macht sie ja deutlich, dass auch anders entschieden werden könnte. Deswegen braucht sie die Hilfe der Begründung. Diese stellt eine Hilfssemantik dar und ist als Supplemente der ideale Ansatzpunkt einer Dekonstruktion.29 Das sieht auch Luhmann, wenn er konzediert, „dass Gründe etwas verschweigen müssen, und zwar ihre Redundanz. Sie verwenden Unterscheidungen mit ihrer bezeichneten, nicht mit ihrer unbezeichneten Seite. Was nicht bezeichnet wird, kann auch nicht benutzt werden. Als Verschwiegenes kann es nicht die Funktion eines Kriteriums übernehmen. Oder doch? Das führt auf die Frage, ob und wie das Verschwiegene zur Kritik, wenn nicht gar zur ,Dekonstruktion‘ der juristischen Argumentation verwendet werden kann. Jedenfalls wohl nicht so, dass man sagt: ich weiß selbst nicht wie. Die Dekonstruktion führt nicht zur Rekonstruktion, sondern allenfalls nach der Regel ,hit the bottom‘ zu einem Therapiebedarf. Man kann die Belehrung verweigern, bis man selbst hinreichend ratlos ist. Aber wer soll das Rechtssystem therapieren? Und wer übernimmt zwischenzeitlich die Funktion?“30 Hier schreckt Luhmann vor dem Potential der Dekonstruktion zurück. Es bewegt ihn dabei der Schrecken, dass man „sehr gut ohne Religion und vielleicht 28 Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff., S. 179. Wirtz zitiert hier Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 312. 29 Vgl. zum Sprachgebrauch „Zusatzsemantik oder Supplemente“ Luhmann, „Metamorphosen des Staates“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, Frankfurt am Main, 1999, S. 101 ff., S. 107. 30 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 370 f.
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ohne Kunst leben“ kann, „aber nicht ohne Recht und ohne Geld“.31 Er fürchtet also um die Stabilität des Rechtssystems. Diese Furcht treibt Luhmann in die Arme des Schmitt’schen Dezisionismus. Er trennt die Rechtsanwendung vom Recht. An die Stelle von substantieller Gerechtigkeit tritt der Zeitdruck der Entscheidung: „Im Als-ob einer idealen Versöhnung finden individueller Fall und allgemeines Gesetz zusammen – während die Unberechenbarkeit auf diesem Wege im Gerichtsverfahren unsichtbar gemacht wird, tritt sie auf dem anderen ins grelle Licht der Zumutung. Denn wo erst gar keine Ordnung herrscht und die Norm nicht zur Normalität gefunden hat, muss eine Entscheidung beiden erst zur Existenz verhelfen. Die Entscheidung ist nicht abzuleiten, weil ihr überhaupt nichts vorausgeht. Sie ist dort, wo vorher Unordnung war.“32 Obwohl Luhmann Carl Schmitt für überschätzt hält33, übernimmt er hier dessen Denkweise: „Beiden Zugängen (Schmitt und Luhmann) in die Entscheidung ist das Moment inhaltlicher Gleichgültigkeit gemein. In ihm bricht die Vorgeschichte des Urteils abrupt ab, das selbst wiederum mit seiner nachfolgenden Begründung nur rhetorisch verknüpft werden kann. Die Systemgeschichte des Gerichtsverfahrens ist zentriert um eine Zäsur; Fall, Urteil und seine Begründung begegnen einander in einer Leerstelle (…) Luhmann präpariert den Spruch über Recht und Unrecht mit Schmitt’scher Entschiedenheit aus dem Verfahren heraus. Argumentation als Kompromiss einer rhetorisch vermittelten Logik besitzt für die Entscheidung selbst keinerlei Bedeutung und deckelt nur nachträglich das Begründungsloch.“34 Stabilität des Rechts wird hier also erreicht, indem man die Entscheidung von der Argumentation im Verfahren und auch ihrer Zusatzsemantik, dem Supplement der Begründung, radikal abtrennt. Aber lässt sich das Ziel der Stabilität überhaupt erreichen? Ist die richterliche Entscheidung überhaupt in der Lage, den Aufschub der Bedeutung durch die Kontexte und damit das Gleiten der Schrift ruhig zu stellen? „Interpretiert wird nicht zur Selbsterleuchtung, sondern zur Verwendung in kommunikativen Zusammenhängen, wie immer selektiv dann Ergebnisse, Gründe, Argumente vorgetragen werden und wie immer die Sicherheit, weitere Argumente nachschieben zu können, zur Inanspruchnahme und Anerkennung von Autorität beiträgt.“35 Das Ruhigstellen der Schrift geschieht also nicht allein durch die Entscheidung, sondern wird ergänzt durch Argumentation und gute Gründe. Allerdings kann Luhmann nicht verleugnen, dass Gründe Texte erzeugen und Texte die Möglichkeiten erhöhen, nein zu sagen. Im „Recht der Gesellschaft“ sieht Luhmann für dieses Problem eine Lösung in der Sti31 Luhmann, „Schwierigkeiten mit dem Aufhören“, in: ders., Archimedes und wir, Berlin, 1987, S. 74 ff., S. 79. 32 Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff., S. 183. 33 Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff., S. 176, Fn. 4, Nachweis eines Radiointerviews mit Luhmann. 34 Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff., S. 182 f. 35 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 364.
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lisierung der Begründung. In der kontinental-europäischen Tradition wird die Begründung als richtige Exegese eines Textes stilisiert und findet damit die Gestalt einer objektiven Erkenntnis. In der angelsächsischen Tradition werden Meinungsverschiedenheiten im Kollegium dagegen publiziert und damit offengelegt. Darin sieht Luhmann aber kein Problem: „Allerdings darf der Unterschied, vor allem für die neuere Zeit, nicht überschätzt werden; und außerdem ist zu bedenken, dass auch die festgehaltene Einzelfallkontroverse keineswegs den gesamten Ausschließungseffekt einer gut begründeten Regel sichtbar macht.“36
V. Die dekonstruktivistische Lesart des Paradoxes An dieser Stelle, wo Luhmann aus Furcht um die Stabilität des Rechts die Konsequenzen seiner eigenen Theorie abschneidet, wird seine dekonstruktive Selbstkorrektur ansetzen. Die Begründung und damit die Argumentation lässt die feste Regel des Rechts nicht unangetastet, sondern verschiebt sie: Danach markiert jede kollektiv bindende Entscheidung gleichzeitig die Möglichkeit anderer Entscheidungen: „Dies Dilemma des Einschlusses des Ausgeschlossenen, dies Problem des Systemgedächtnisses, das auch die nichtaktualisierten Möglichkeiten festhält, wird als Text verbreitet. Das multipliziert die Möglichkeiten, den Text anzunehmen oder abzulehnen, das heißt: die Entscheidung als Prämisse für weitere Entscheidungen zu verwenden – oder auch nicht. Die Information, also die konstative Komponente des Textes, die besagt, dass der Text kraft seines Ursprungs verbindlich ist, besagt noch nicht, dass er im weiteren Verlauf als verbindlich behandelt wird. Dazwischen vergeht Zeit, und Zeit heißt unabwendbar: Offenheit für Einflüsse aus dem unmarkierten Bereich des Ausgeschlossenen. Von der Texttheorie her gesehen, bedeutet dieser Befund, dass die im Text vorgesehenen Unterscheidungen dekonstruierbar sind und dass der Text selbst dazu den Schlüssel liefert.“37 Ab hier hat sich die Rolle der Dekonstruktion in der Systemtheorie geändert. Sie ist nicht länger eine äußere Kritik des Rechts, welche von romantischen Individuen aus geht.38 Sie wird jetzt nicht nur innerer, sondern auch konstitutiver Moment des Rechts. Jetzt nimmt Luhmann die Differenz zwischen der Entscheidung als Behauptung von Recht und ihrer Kommunikation als Entscheidung, die auch anders sein könnte, wirklich ernst. Das performative Element der Entscheidung lässt sich vom konstativen Element der behaupteten Rechtserkenntnis nicht festbinden. Darin liegt für Luhmann jetzt eine Stärke des Rechts. Es kann sich damit über Irritationen an gesellschaftlichen Strukturwandel anpassen. Die Begründungstexte der Gerichte speichern nicht einfach Vergangen36
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 370. Luhmann, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1999, S. 101 ff., S. 106 f. 38 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 172: „Überhaupt darf man die romantische Bewegung als die vorläufig letzte gezielte Opposition gegen die Dominanz des binären Codes Recht/Unrecht einschätzen.“ 37
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heit, um sie der Gegenwart als mit sich identischen Sinn zur Verfügung zu stellen, sondern sie halten nicht aktualisierte Möglichkeiten fest und stellen sich neuen Kontexten zur Sinnverschiebung durch Lektüre bereit. Sie öffnen damit das Recht für „den unmarkierten Bereich des Ausgeschlossenen.“39 Die Regel bleibt also durch ihre beständige Begründung gerade nicht fest und unangetastet, sondern sie verschiebt sich und macht Metamorphosen durch. Das Recht beendet nicht den Streit der Bürger in der Stabilität der Entscheidung. Sondern die für das Recht kontingenten Streitigkeiten der Bürger verschieben ständig das Recht und zwingen es in Metamorphosen.40 Aber kann darin eine Stärke liegen, dass das Recht den Bürgern nicht aufgezwungen wird, sondern von diesen beständig verschoben? Die funktional differenzierte Gesellschaft hat nach Luhmann, evolutionstheoretisch betrachtet, die Schwierigkeit, Varietät von Restabilisierung abzugrenzen. Anders formuliert, sie hat ihre Restabilisierung dynamisiert, so dass Veränderung zur Konstante wird. Genau an dieser Stelle könnte systemtheoretisch die Rolle der Dekonstruktion liegen. Sie hebt in der Begründung neben dem Moment der Reduktion das der Varietät heraus und öffnet damit das Recht für Außeneinflüsse und sein jeweils Unbeobachtbares. Hier lag der blinde Fleck der vordekonstruktiven Systemtheorie. Die unbestreitbare Leistung, die Autonomie des Sozialen zu begründen und gleichzeitig mit der System/Umwelt-Unterscheidung seine Auskernung in verschiedenen Sprachspielen zu belegen, macht diese Theorie „notwendig blind für Sinn-Zusammenhänge, die in Kommunikation und Bewusstsein oder die Gesellschaft und Individuen übergreifen.“41 Das heißt also, dass die Beobachtung von Sprachspielen, die sich zu Institutionen ausgekernt haben, mit dem Risiko behaftet ist, diese Systeme zu isolieren. Beziehungen zwischen diesen Sprachspielen muss die Systemtheorie dann mit Hilfe der Kategorie struktureller Kopplung und Interpenetration ins Innere des jeweiligen Sprachspiels verlegen. Die Situation der Überdeterminierung eines Ereignisses durch mehrere Systeme kommt damit nicht in den Blick. Die Systemtheorie beobachtet nur die Irritationen in einem der beteiligten Systeme, nicht aber ihren Streit: „Die notwendige Blindheit der System/Umwelt-Unterscheidung wirkt sich dann massiv im systemtheoretischen Begriff der Gerechtigkeit aus. Entgegen verbreiteten Vorurteilen verabschiedet Luhmann nicht etwa Gerechtigkeit als abgestandenes alteuropäisches Gedankengut, sondern platziert sie an zentraler Stelle seiner Rechtstheorie, nun aber nicht mehr als internen Maßstab für die Entscheidung von Einzelfällen, auch nicht mehr als höchste innere Norm des Rechts, auch nicht mehr als externen politischen oder moralischen Wert, an dem sich das Recht ausrichten sollte, sondern als Kontingenzformel des Rechts, also als Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt. Nach Luh39
Luhmann, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1999, S. 101 ff., S. 107. Vgl. dazu auch Werber, „Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht“, in: Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, 2002, S. 366 ff., S. 381 f. 41 Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 209. 40
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mann ist Gerechtigkeit adäquate Komplexität des Rechtssystems, höchstmögliche innere Konsistenz angesichts extrem divergierender Umweltanforderungen. Aber auch hier offenbart sich der Mangel, dass die Umweltrelation zwar angezielt, aber nicht, als solche ,systemtheoretisch‘ erfasst werden kann, sondern nur asymmetrisch, entweder aus der Innenperspektive des Rechtssystems oder aus einer externen Beobachterperspektive. Das Verhältnis von Recht und Gesellschaft selbst, die Übersetzung von einem System in das andere, verschwindet im blinden Fleck der System/Umwelt-Unterscheidung. Diese Art von Gerechtigkeit wird daher allenfalls dem Rechtssystem selbst gerecht.“42 Es bedarf also der Supplemente, damit das Recht umweltsensibel wird und neben der Herstellung von Redundanzen, seine zweite Aufgabe der Varietät, erfüllen kann. Gerechtigkeit bleibt damit als Aufgabe. Die Kontingenzformel muss ergänzt werden durch die Beobachtung der Art, wie die Entscheidung die Argumente im Verfahren berücksichtigt. Erst nach dieser dekonstruktiven Wendung der Systemtheorie gibt es tatsächlich die von Teubner konstatierte „enge strukturelle Kopplung von Entscheidungsnetzen und Argumentationsnetzen, die entscheidungsstrukturierende Kraft von Argumenten und die Steuerung von Redundanz und Varietät der Entscheidung durch Argumentation.“43 Der Schritt über den Dezisionismus hinaus führt also nicht in Sprachfassaden, welche nur die Funktion haben, die Brutalität der Entscheidung zu verdecken, sondern er führt in eine neue Problemstellung. Wie kann das Recht einen Ausgleich zwischen Redundanz und Varietät über die Streitigkeiten und Argumente der Bürger herstellen? Wenn die Begründung als Supplement der Entscheidung die Argumente der Verfahrensbeteiligten aufnimmt, relativiert sie damit den gewaltsamen Charakter der Entscheidung. Die zu Grunde gelegte Regel wird damit nicht einfach aus dem normativen Nichts den Beteiligten oktroyiert. Damit wären wir bei Carl Schmitt. Vielmehr wird über die Argumentation und die Darstellungszwänge des Richters in der Begründung die Erfindung der Regel für die Mitgestaltung durch die Beteiligten geöffnet. Die Entscheidung ist dadurch mit dem vorangegangenen Verfahren und den betroffenen Subjekten verknüpft. Wenn der Bürger eines Rechtsstaats einen Prozess verliert, trifft ihn nicht das Beil aus dem normativen Nichts. Er hat vielmehr in der Regel die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen und diese sind nur sinnvoll, wenn es Maßstäbe gibt, an denen überprüft werden kann, ob es sich nur um eine Entscheidung oder um eine Rechtsentscheidung handelt. Die Möglichkeit, dies zu beurteilen, wird durch das Supplement der Begründung geschaffen. Die Entscheidung sagt nur, dass auch anders hätte entschieden werden können. Aber trotzdem muss der Betroffene sie hinnehmen, wenn in der Begründung seine Argumente integriert oder widerlegt sind. Das Recht ist damit trotz seines Entscheidungscharakters mehr als reine Gewalt.
42
Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 210. 43 Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 200.
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VI. Das Recht als Enthymem Die Entscheidung als Paradoxie zu begreifen, ist ein Risiko. Denn es macht ein Stück der vom Gesetz nicht kontrollierbaren richterlichen Macht sichtbar und bringt damit eine politische Dimension ins Recht. Die Frage ist, ob damit nicht das Recht seine Einheit verliert und nicht mehr zu unterscheiden ist von der Politik. Auf den ersten Blick ist die Abgrenzung zwischen Recht und Politik in der Systemtheorie klar. Es handelt sich um verschiedene soziale Systeme. Aber auf den zweiten Blick wird diese Abgrenzung schwierig. Der Rechtsordnung fehlt ja ein stabilisierender Zentralsinn, ein letzter Obersatz, welcher der richterlichen Erkenntnis Halt geben könnte. Nach der Verabschiedung der alteuropäischen Rechtsquellenlehre wird die Rechtsordnung damit zum Enthymem. Trotzdem scheint Luhmann die von ihm immer wieder betonte Geschlossenheit des Rechtssystems44 dadurch nicht für gefährdet zu halten. Zur Stabilisierung dient dabei die Unterscheidung von Code und Programmen. Codierung ist im Recht die Unterscheidung von Recht und Unrecht. Programme sind Regeln, die über die Zuteilung dieser Werte in einem konkreten Fall entscheiden. In komplexen Gesellschaften können diese Programme sehr viel an Offenheit für wechselnde Umweltbedingungen aufweisen. Dies „führt jedoch niemals zur Auflösung der Einheit des Rechts, solange diese im System durch einen (und nur einen) Code präsentiert wird, der nirgendwo sonst in der Gesellschaft benutzt werden kann.“45 Das Wörtchen „solange“ hat es in sich. Die Geschlossenheit des Rechts hängt daran, dass die Codierung stabil bleibt. Denn mit Hilfe der Codierung bewältigt das System die Kontingenz und die Vielzahl wechselnder Beobachter. Die Codierung schafft dies, indem sie die Kontingenz auf die Programmebene abschiebt. Aber damit stellen sich für die Codierung dieselben Probleme, die wir schon bei der Idee der Gerechtigkeit beobachtet haben. Der Zentralsinn oder die Codierung kann nur herrschen, wenn er leer bleibt. Sobald man ihn bestimmt, wird er zu einer bestreitbaren Aussage neben anderen. Man müsste die Codierung also semantisch gegen die Ebene der Programme abdichten können. „Wie aber lässt sich die Grenze zwischen einer Codebestimmung und einer semantischen oder einer semiotischen Unterscheidung ziehen? Ist der Code wahr/unwahr, nur eine funktionale und referenzlose Diskriminierung oder bereits eine semantisch induzierte Beobachtung? Und lässt sich eine semantisch leere Beobachtung überhaupt durchführen?“46 Natürlich braucht man zur Beobachtung eine Unterscheidung und insoweit ist sie leer nicht möglich. Damit ist das „solange“ der Geschlossenheit des Rechtssystems eine praktische Frage, die sich in jedem Verfahren stellen kann. Die Geschlossenheit des Rechtssystems ist nicht einfach vorhanden, sondern sie
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Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, Kap. 2, S. 38 ff. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 93. 46 Vgl. dazu Binczek, Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, München, 1994, S. 260. 45
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steht auf dem Spiel.47 Sonst unterliegt das Recht dem Risiko der Zweitcodierung durch andere Unterscheidungen. Eine solche Zweitcodierung läge vor, wenn die Unterscheidung Recht/Unrecht inhaltlich besetzt wird und der Begriff des Rechts fixiert wird. Diese Besetzung muss nicht explizit erfolgen. Sie kann sich vielmehr stillschweigend vollziehen im Schatten der enthymematischen Struktur der Rechtsordnung. Das Enthymem beruht also auf der Ableitung des Falls aus dem Allgemeinen, ohne dies ausdrücklich zu machen. Der Schluss des Enthymems lässt die entscheidenden Prämissen unerwähnt, indem er offen lässt, was jeder weiß. Seine durchschlagene Kraft gewinnt es aus der Glaubhaftigkeit eines Systems von Überzeugungen. Es beruht auf Plausibilität. Schon Aristoteles hatte daher das Enthymem als Umgang mit Wahrscheinlichkeit verhandelt. Man äußert gewisse Prämissen nicht, da sie sich ohnehin verstehen und daher als unnötig, langweilig und quälend empfunden würden. Brisanter wird dies, wenn diese Figur der Aufrechterhaltung zweifelhafter Prämissen dient. Das Recht könnte auch Unrecht sein. Vor dieser Frage bewahrt allein der bleibende Stand der Überzeugung. Und den erreicht man am besten, indem man sie nicht ausspricht und so dem Angriff der möglichen Negation aussetzt. Das Enthymem zielt auf Vereinnahmung. Selbstverständliche Prämissen bleiben unausgesprochen und zur geflissentlichen Komplettierung anheimgestellt. Es erscheint formal als unmittelbarer Schluss von a auf b und belässt es beim Stillschweigen über das „aufgrund c“, das c so scheinbar unangetastet belässt. Im Schweigen des Obersatzes überhört man das Dröhnen der Hegemonie. So vollzieht sich die Usurpierung des Obersatzes durch die Macht. Das gelingt umso besser, je stärker eben diese Macht zur Bemächtigung ist. Denn damit wird sie in ihrer schlichten Wirkungsfaktizität unbefragbar. Und das ermöglicht es, das Paradox durch Verschweigen zum Verschwinden zu bringen. Mit der Vereinnahmung des letzten Obersatzes von Recht kann die hegemoniale Macht als die Kraft der Deparadoxierung auftreten. Die Frage nach dem Recht von Recht wird damit ersetzt durch die Frage, was unter den gesellschaftlichen Verhältnissen plausibel ist. Nach einer Antwort braucht in der azentrisch ausdifferenzierten Gesellschaft nicht lange gesucht zu werden. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie, Mediensystem, Sozialwesen, Moral und andere stehen bereit, das Recht durch Zweitcodierung für sich einzunehmen. Auf diesem Wege soll es gelingen, aus partieller Macht das normative Kapital universaler Rationalität zu schlagen. Recht droht so vom Austragungsort von Konflikten zum Vehikel von Durchsetzung von Macht zu werden. Das gilt für das Kosten-Nutzen-Denken ebenso wie etwa für den militärischen Kalkül der Bedrohung und Abwehr. Macht, Effizienz, Wahrheit, Machbarkeit, oder Sicherheit treten an die Stelle der Gerechtigkeit. Das hat dann zur Konsequenz, dass die demokratisch legitimierte
47 Vgl. zu diesem Begriff Laclau, „Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?“, in: ders., Emanzipation und Differenz, Wien, 2002, S. 65 ff.
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Ordnungsleistung des Rechts in den Imperialismus der jeweiligen Rationalitäten umschlägt. Wie ist eine solche Zweitcodierung des Rechts zu erklären? Dazu muss man die Beobachtungsweisen von Systemtheorie und Dekonstruktion kombinieren.48 Wenn man vor-dekonstruktiv allein von der Unterscheidung System/Umwelt ausgeht, kann mein eine Zweitcodierung des Rechts nicht erfassen, weil Politik nur Politik machen kann und Recht nur Recht. Man muss dann annehmen, dass eine außerrechtliche Beeinflussung des Rechts unmöglich ist, weil das Recht entweder seine Autonomie behauptet, oder untergeht. Aber schon Luhmann selbst räumt die Möglichkeit von Grenzverletzungen ein: „Damit sind tiefgreifende Umgestaltungen des Rechts etwa als Folge politischer Umwälzungen natürlich nicht ausgeschlossen (…). Es ist bezeichnend genug, dass die nationalsozialistische Umfärbung des deutschen Rechts nicht primär über Gesetze geleitet wurde, sondern sich drastischer personalpolitischer Mittel bedient. Nur durch außerrechtliche Beeinflussung der richterlichen Entscheidungspraxis war zu erreichen, dass das gesamte Recht innerhalb kurzer Frist nach Maßgabe einer neuen ,Gesinnung‘ uminterpretiert wurde.“49 Diese Konzession ist auch folgerichtig. Denn die grundlegende Codierung eines Sozialsystems ist eine Unterscheidung und eine solche kann man immer nur semantisch treffen. Eine Semantik lässt sich aber gegen Kontexte nie abdichten und ist deswegen beständig davon bedroht, Teil des Spiels zu werden. Es stehen sich in einem Rechtsstreit nicht einfach zwei Sozialsysteme gegenüber, an die dann das Recht verteilt wird, sondern es stehen sich zwei Rechtsauffassungen gegenüber, zwei unvereinbare Vorstellungen von Recht und Unrecht. Hier bewährt sich die von Teubner vorgeschlagene perverse Konstellation Systemtheorie und Dekonstruktion wechselseitig auf ihren blinden Fleck aufsitzen zu lassen. Die Grundunterscheidung der Dekonstruktion ist die von Signifikant/Signifikat, wobei wir auf der Seite des Signifikats immer nur weitere Signifikanten finden. Dadurch hat sie Schwierigkeiten, Stabilität zu erklären. Hier hilft die Ersetzung durch die Unterscheidung von System und Umwelt. Umgekehrt hat die Systemtheorie Schwierigkeiten, die Beziehung Recht/Gesellschaft zu präzisieren. Hier kann ihr die Unterscheidung von Text/Kontext anstelle der Unterscheidung von System und Umwelt helfen. Die Vorstellung, dass jede Wiederholung zu einer Verschiebung der Regel führen kann, macht aus der Form etwas Gespenstisches und Unscharfes. Dieser Nachteil bei der Beschreibung von Stabilität hat aber den Vorteil, Veränderungen besser erklären zu können. Es wird damit deutlich, dass die Codierung nicht so unberührt über den Programmen schwebt, wie es die Systemtheorie meist nahe legt. Sie ist vielmehr über Semantisierung ständig von imperialistischen Übernahmen bedroht.
48 Vgl. zu dieser Forderung Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 204 f. 49 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Frankfurt am Main, 1975, S. 149.
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Daraus ergibt sich die Aufgabe des gerichtlichen Zentrums, die imperialistische Besetzung des Codes durch die Peripherie abzuwehren. Der von dort vorgeschlagene Begriff des Rechts muss einem re-entry unterzogen werden: Ist der im Rahmen der fremden Codierung entwickelte Begriff des Rechts Recht oder Unrecht? Nur durch diese Arbeit der Reparadoxierung kann man den Zustand, den Luhmann als vorhanden beschreibt, erreichen. Indem das Recht als leerer Signifikant erhalten bleibt, werden die kollidierenden Sozialsysteme gezwungen, in der sozialen Interaktion des Verfahrens herauszufinden, wo die Grenzen der Universalisierung ihrer Logik liegen. Das Recht kann also als „gentle civilizer“50 funktionieren, wenn die Gerichte das wahrnehmen, was Teubner mittels eines Wiethölter Zitats als Hauptaufgabe der Juristen bezeichnet: „Rechtspflege als Pflege der Rechtsparadoxien selbst, ihre Erhaltung und Behandlung zugleich.“51 Worin liegt der Unterschied zwischen der Performanz des Rechts und der Performanz der Macht? Der Macht geht es um Dezision, die mit Verfahren und Argumentation nichts zu tun hat. Nur das Ergebnis zählt. Aber der Traum des Dezisionismus von der Aufhebung des Konflikts in der Entscheidung ist nicht einlösbar. Der Konflikt bleibt. Denn es hätte ja auch anders entschieden werden können. Deswegen braucht man die Begründung. Aber natürlich reicht auch das nicht. Denn die Entscheidung hat etwas entschieden, was durch Erkenntnis nicht entschieden werden kann. Deswegen gibt es das Verfahren und die Argumentation. Sie ziehen die Streitparteien in die Entscheidung hinein. Auch dadurch wird der Konflikt nicht gelöst. Aber er hat im Durchlauf durch die Kühlsysteme des Verfahrens seine Temperatur geändert. Die abgegebene Hitze verändert natürlich auch das Kühlsystem. Es muss durch Rückkopplung neu justiert werden. Aber nur durch Änderung bleibt es stabil. Dem Recht geht es um Aufschub durch Supplemente. Nur dadurch gerät es in Metamorphosen und bleibt lernfähig. Recht wäre damit die Verzögerung und Erschwerung des Machtspruchs durch Verfahren, Argumentation und Begründung. Der Entzug des Rechts aus dem Gesetz in das Verfahren, von dort in die Entscheidung, ihre Begründung und die daran anschließende Kritik kann negativ begriffen werden als Ausliefern des Rechts an die Macht. Aber es kann auch positiv begriffen werden als von Regeln der Kunst geordneter Versuch, die Verdinglichung der Gerechtigkeit zu verhindern. Recht ist aus dem Streit der Parteien erst zu erzeugen. Erzeugen heißt aber nicht etwas zu machen, das gerade fehlt, etwas, das abwesend ist, anwesend zu machen. Das wäre nur eine Verlängerung der Präsenzmetaphysik. Recht ist weder im Geset50
Vgl. dazu Fischer-Lescano/Teubner, „Regime-Collision“, in: Michigan Journal of International Law (25), 2004, S. 999 ff., S. 1008 unter Bezug auf Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nation, Cambridge, 2002. 51 Wiethölter zur Argumentation im Recht: „Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe?“, in: Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, Frankfurt/Main, 1994, S. 89 ff., S. 113.
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zestext anwesend, noch im Sprechen der Parteien, noch in der richterlichen Begründung. Recht existiert als Aufschub. Weil wir es im Text nicht finden können, deswegen sprechen wir. Und weil wir uns im Sprechen nicht einigen können, deswegen muss entschieden werden. Aber weil auch anders entschieden werden könnte, braucht man eine Begründung. Aber weil auch diese zur Überzeugung nicht ausreicht, braucht man dazu noch Rechtsmittel. Der Aufschub des Rechts endet auch nicht mit der Rechtskraft. Denn auch jetzt kann zwischen den Parteien und in der Literatur weiter gestritten werden. Trotzdem: Auch wenn das Recht nie endgültig gefunden wird, ist mit seinem Aufschub im medialen Verbund des Verfahrens etwas erreicht. Das Gefühl des Unrechts ist ein Stück weit artikuliert. Der semantische Kampf ist ein Stück weit zur Argumentation kultiviert und das Ergebnis liefert weiteren Streitfällen bessere Gründe.
II. Allgemeine Anforderungen an die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Rechtsanwendung
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur Jesús-María Silva Sánchez
I. Tradition und Legalismus 1. Bis zum Mittelalter und auch während diesem beschränkte sich das Recht im Allgemeinen allein auf die Tätigkeit der Richter und der Juristen.1 Das ius commune gründete seine Wurzeln im Wesentlichen auf gerichtliche Entscheidungen und juristische Gutachten. Dies hatte zur Folge, dass das Recht als geschichtliches Erzeugnis, als eine Art überlieferte Tradition verstanden wurde. Vorherrschend war folglich ein Verständnis des Rechts als dynamische, einem ständigen Prozess der Suche und „Ent-Deckung“ unterworfene Realität. Ihr Ende fand diese Sichtweise erst mit dem Beginn des Absolutismus. Der Souverän trat in diesem namentlich als Schöpfer autoritär fundierter Gesetze in Erscheinung,2 das Recht unterlag unabhängig von konkreter Form oder Inhalt seiner Ausgestaltung. Schlussendlich entstand damit eine enge Verknüpfung zwischen Recht und Macht,3 dies je nach Prägung des Willens eines Einzelnen. 2. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich schließlich die ersten Züge des Positivismus. Der Richter des Ancien Régime fungierte als jemand, der anhand der klugen (also prudenten) Entscheidung der Justiz für den Einzelfall (juris-prudentia) die Machtbefugnisse des Gesetzgebers (und damit des absoluten Monarchen) begrenzte. Zugestanden wurde ihm dafür, den Richterspruch auf eine freie Auslegung des Gesetzes, darüber hinaus allerdings auch auf Analogieschlüsse oder Quellen des ungeschriebenen Rechts zu stützen.4 Letzten Endes führte das Ausarten dieser Vorgehens1 García Pascual, Notas sobre creación e interpretación del Derecho. Jueces, profesores y legisladores, AFD 1996 – 1997, 603 ff. 2 Während des Mittelalters oblag es dem Fürsten oder dem Kaiser, den Frieden durch seine Rechtsprechung zu gewährleisten, vgl. Roellecke, Kann Rechtsprechung Politik ersetzen?, DriZ 1996, 174 ff., 176. 3 Über die Entwicklung von einem eng mit der Gesellschaftsform verknüpften Recht zu einem Gesetz als Ausdruck der Macht des Souveräns, vgl. Grossi, Mitología jurídica de la modernidad (spanische Übersetzung: Martínez Neira), 2003, passim, S. 29 ff. 4 Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, Hamburg 1934, S. 12. Insbesondere zu den Naturrechtsverbrechen (mala per se) Renzikowski, Mala per se et delicta mere prohibita – rechtsphilosophische Bemerkungen zum Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK), Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag, 2010, S. 407 ff., 411 ff.
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weise allerdings zunehmend dazu, die Tätigkeit der Justiz mit dem Anstrich der Willkür einzufärben, was letztlich sogar als deren grundlegendster Wesenszug erschien und damit den Umstieg auf ein neues Modell notwendig werden ließ. 3. Parallel dazu war es namentlich die bahnbrechende Entwicklung in der Philosophie, die den Weg für ein Rechtsverständnis bereitete, das sich sowohl von einer rein historischen Orientierung als auch von der willkürlichen Prägung des Absolutismus unterschied und stattdessen die Vernunft in den Mittelpunkt der rechtlichen Bewertung rückte. Entgegengesetzt zum individuellen Willen des Souveräns sah das politische Verständnis der Aufklärung den Staat insbesondere dem Gemeinwohl, der volonté générale, verpflichtet. Dem dergestalt auf der Grundlage eines Sozialvertrages konstruierten Staat kam in diesem Zusammenhang die Funktion zu, die Freiheit des Einzelnen anzuerkennen und tatsächlich zu gewährleisten; übertragen wurde dieser Gedanke entsprechend auch auf die grundsätzliche Ausrichtung der Rechtsordnung. 4. Im Rahmen dieses neuen Grundverständnisses war daher das Recht das Gesetz und das Gesetz das Recht.5 Frei zu sein bedeutete in diesem Rahmen, von nichts anderem abzuhängen als von der Gültigkeit der Gesetze, lag doch deren innerstem Wesen per se die Anerkenntnis der bürgerlichen Freiheit zugrunde. Im Strafrecht fand diese Entwicklung hin zur Freiheit des Individuums mit dem Grundsatz nulla poena sine lege ihren deutlichsten Ausdruck. Im Gegenzug dazu wirkte wiederum die Freiheit des Richters wie ein Risiko für die Freiheit des Bürgers. Der aus dem strengen Befolgen der Gesetze entstehende Schaden (so groß dieser auch ausfallen mochte) schien in diesem Zusammenhang in den Augen der Aufklärung immer noch geringer als jener, der aus der freien Verfügbarkeit des Rechts in den Händen des Richters drohte. Es galt für den Richter daher, das Recht lediglich „auszusprechen“, indem ein konkreter Sachverhalt im Rahmen eines quasi-logischen Vorgehens unter die Anforderungen des Gesetzestextes subsumiert wurde. 5. In diesen Zusammenhang sind Aussagen wie jene von Montesquieu einzuordnen, dass ein Urteil „immer mit dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes übereinstimmen“ müsse, da die Richter der Nation nicht mehr als der Mund seien, „der den Wortlaut des Gesetzes ausspricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder seine Stärke noch seine Strenge zu mäßigen vermögen“.6 In diesen Rahmen lässt sich auch Bec-
5
Vgl. Henkel (Fn. 4) S. 15. Montesquieu, De l’Esprit des lois (1748), Livre XI, Kapitel VI (Oeuvres complètes), 1838, S. 268: „les juges de la nation ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi, des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur“. Vgl. auch Art. 47 des Allgemeinen Landrechts für die Preussischen Staaten vom 5. Februar 1794: „Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muss er, ohne die prozeßführenden Parteien zu benennen, seine Zweifel der Gesetzescomission anzeigen und auf deren Beurtheilung antragen“. Außerdem Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem Peinlichen Gesetzbuch für die Chur-Pfalz-Bayerischen Staaten, Giessen 1804, II, S. 20: Die Aufgabe des Richters könne keine andere sein als „den Einzelfall am Buchstaben des Gesetzes 6
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caria fassen, der veranschaulicht, dass die Auslegung der Strafgesetze den Richtern eben deshalb, weil sie keine Gesetzgeber sind, nicht zukommen kann7. Er geht weiter: „Daher kommt es, daß des öfteren das Schicksal eines Bürgers durch den bloßen Übergang seines Prozesses aus einem Gerichtshofe zu einem anderen verändert wird. Daher kommt es, daß öfters Unschuldige ein Schlachtopfer falscher Begriffe, oder leider! wohl gar aufbrausender Leidenschaften werden, nach welchen öfters die Obrigkeit eine Reihe verworrener Schlüsse für eine rechtmäßige Auslegung des Gesetzes hält. Daher kommt es, daß einerlei Verbrechen, vor einerlei Gerichten in verschieden Zeiten auf verschiedene Weise bestraft werden. Der schwankende Unbestand willkürlicher Auslegungen übertäubt alsdann die sich immer gleiche und reine Stimme des Gesetzes“8. Aus diesem Grund gelte, dass die „Bedrängung von kleinen Despoten weit unseliger ist, als die Oberherrschaft eines Einzigen“.9 6. Trotz dieser deutlichen Worte kann es praktisch als gesichert gelten, dass es zu keiner Zeit einen daraus eigentlich schlüssig zu verlangenden automatisierten Richter gab.10 Selbst wenn aber doch einmal angenommen werden soll, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gewesen sein könnte, stünde fest, dass sich die Funktion des Richters nur wenig später zunehmend zu einer nicht nur auf die Erkenntnis, sondern auch verstärkt auf die Wertung des Einzelfalles ausgerichteten Tätigkeit wandelte.11 Ausgehend davon hat sich das Verständnis einer interpretativen Anwendung des – nicht schlechterdings vollständig im Buchstaben des Gesetzes enthaltenen – Rechts
zu prüfen und, ohne nach dessen Sinn oder Geist zu fragen, zu bestrafen wenn der Klang des Wortes Bestrafung verlangt, freizusprechen, wenn freizusprechen verlangt wird.“ 7 Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1764, § IV Interpretazione delle leggi:„Nemmeno l’autorità d’interpretare le leggi penali può risedere presso i giudici criminali per la stessa ragione che non sono legislatori“. 8 Vgl. Lekschas/Griebe (Hrsg.), Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen (Breslau, 1778), 1966, § 4. Im italienischen Original: „Quindi veggiamo la sorte di un cittadino cambiarse spesse volte nel passaggio che fa a diversi tribunal, e le vite de’ miserabili essere la vittima dei falsi raziocini o dell’ attuale fermento degli umori d’un giudice, che prende per legittima interpretazione il vago risultato di tutta quella confuse serie di nozioni che gli muove la mente. Quindi veggiamo gli stessi delitti dallo stesso tribunale puniti diversamente i diversi tempi, per aver consultato non la constante e fissa voce della legge, ma l’errante instabilità delle interpretazioni“. 9 „… il dispotismo di molti non è corregibile che dal dispotismo di uno solo“. 10 Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986, S. 3, wo zwei gegensätzliche Modelle beschrieben werden, jenes der strengen Bindung an das Gesetz und jenes des richterlichen Ermessensspielraumes. Ersteres gehe auf die Verfassung zurück, während das zweite auf einen methodischen Illusionismus verweise. Vgl. auch S. 48 f., wo die Entscheidung für einen Legalismus als Reaktion auf die richterliche Willkür der Strafrechtssprechung zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert charakterisiert wird. 11 Vgl. H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 222, bei dem dieser Umstand als althergebrachter Gemeinplatz beschrieben wird.
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als Prozess der Rechtsfindung zweifelsohne zum Schwerpunkt der juristischen Evolution der letzten eineinhalb Jahrhunderte entwickelt.12 7. Während des 19. Jahrhunderts verschwand zunehmend die Vorstellung davon, den Rechtsstaat in seinem Gehalt allein auf das Prinzip des Ausdrucks individueller Freiheit gründen zu können. Zur Folge hatte dies, dass sich die Rechtswirklichkeit von dem politischen Ideal der Aufklärung entfernte.13 Oder, um es anders zu fassen: Das gesetzlich festgehaltene Recht entwickelte sich auf der Grundlage eines neuen politischen Programms.14 Das Gesetzlichkeitsprinzip hatte nicht länger allein die Aufgabe, ein bestimmtes rechtliches Idealbild (nämlich die Freiheit des Bürgers) zum Ausdruck zu bringen, sondern erschien als politisches Prinzip formeller Selbstbeschränkung (und damit juristischer Sicherheit), das von einem Gesetzgeber auf den Weg gebracht wurde, der Freiheit und Ordnung verwaltete. Bei dieser neuen politischen Ausrichtung handelte es sich dabei im Wesentlichen darum, im Rahmen eines freiheitlich-autoritären Staates größtmögliche Rechtssicherheit und Stabilität zu garantieren.15 8. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich Denkmodelle im Vormarsch, welche die Rolle des Rechts auf eine individualisierende Annäherung an die Umstände des Einzelfalles relativierten. Insbesondere geschah dies in der sogenannten Freirechtsschule. Im Strafrecht standen die ersten Einflüsse der als solche bezeichneten jungdeutschen Kriminalistenschule der Strenge und Abstraktheit des Gesetzes entgegen, da sie sich unmittelbar an der Persönlichkeit des Täters orientierten. Zur Folge hatte dies, dass ein bedeutender Vertreter der Klassischen Schule, Karl von Birkmeyer, den Vorwurf erhob, die ursprüngliche Idee des nulla poena sine lege drohte aufgehoben zu werden.16 Es sollte dem verhältnismäßig radikalen Maßstab der Modernen Richtung allerdings nur eine kurze Blütezeit beschieden sein. Bereits im von Liszt’schen Werk war eine Kompromissposition festzustellen, in deren Rahmen die Gesetzlichkeit als Grenze der spezialpräventiven Orientierung des Richters erschien. Es zeigte sich das Strafrecht (d. h. das Gesetz) in diesem Zusammenhang als unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik (d. h. einer auf die Gefährlichkeit des 12
219.
Zaccaria, Límites y libertad de la interpretación, Persona y Derecho 47 (2002), 217 ff.,
13 Interessant ist das vor dem Hintergrund, dass nach der Systemtheorie der Gesetzgeber und sein Erzeugnis, die Gesetze, nicht dem juristischen, sondern dem politischen System angehören. Vgl. Grasnick, Methodologisches – oder: Aus gegebenem Anlaß –, GA 2000, 153 ff., 156. 14 Im Strafrecht führte dies zu einer Umstellung vom Schutz subjektiver Rechte hin zu einem (auch rein formalen) Rechtsgüterschutz. 15 Aus diesem Grund stellte sich im Strafrecht fortan die Frage nach der Legitimität der Rechtsfigur einer Analogie in bonam partem, die im vorhergehenden juristisch-politischen Modell nicht denkbar gewesen wäre. Die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Analogie begünstigte dabei zu einem gewissen Grad die Wiederherstellung der bei dem Wechsel der juristisch-politischen Modelle verlorengegangenen Freiheit. 16 Was lässt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht, 1907.
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Täters abstellenden Strafrechtsidee). Zur Verfügung gestellt wurde dem Straftäter damit schlussendlich eine Art Magna Charta, die ihn gegenüber den freiheitsbeschneidenden Tendenzen einer der Spezialprävention verpflichteten Kriminalpolitik in Schutz nehmen sollte.17
II. Der Durchbruch der Auslegung 1. Zum Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Polarität zwischen gesetzlicher Norm und richterlichem Urteil immer deutlicher zu Tage.18 Als theoretisches Postulat war zu jener Zeit noch immer die „Ideologie der Subsumtion“ als herrschend einzustufen. Nichtsdestotrotz bestand auch das Bewusstsein, dass sich der Wert der Rechtssicherheit aus der Epoche der Aufklärung nicht nur mit der Klarheit der Form des Gesetzes, sondern auch – und vor allem – mit der Einigkeit über dessen Inhalte (geprägt durch die naturrechtlich-rationale Tradition ebenso wie durch bürgerliche Werte) erklären ließ. Als sich schließlich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wertewandel abzuzeichnen begann (einerseits durch einen autoritären Liberalismus, andererseits durch den Einfluss der Werte des Proletariats) konnte das Festhalten am klassischen rechtlichen Formalismus den Verlust des allgemeinen Konsenses über das Wesen des Rechts nicht verhindern. Daraus ergab sich eine dritte Phase, von welcher wohl am ehesten als von einer „neuen Gesetzlichkeit“ gesprochen werden kann. Geprägt wurde sie nicht nur durch die Einbuße eines inhaltlichen Konsenses, sondern auch durch das Zurückbleiben der klassischen formalen Klarheit. Das alles führte endgültig dazu, dass die Gesetzesauslegung in den Mittelpunkt der juristischen Evolution rückte.19 2. Gehen wir davon aus, dass dies unser Ausgangspunkt ist, kann zugleich festgestellt werden, dass auch der Endpunkt bereits bekannt ist, der in den charakteristischen Ausprägungen des 20. Jahrhunderts liegt. Es handelt sich dabei um das Phänomen der „Pulverisierung des Gesetzes“, das sich aus dem Bankrott des klassischen Verständnisses des Gesetzlichkeitsgrundsatzes ergibt, der unserem zeitgenössischen Recht zugrunde zu liegen scheint.20 Dieser „Bankrott des Gesetzlichkeitsprinzips“, mit dem wir uns heute noch ebenso wie in den zurückliegenden Jahrzehnten zu befassen haben, geht zweifelsohne auf eine Vielzahl verschiedener Faktoren zurück. Als sicher darf gelten, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts das Phänomen der Globalisierung in seiner juristischen Ausprägung einen entscheidenden Anteil 17 Henkel (Fn. 4), S. 32; Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip. Zugleich ein Beitrag wider die Gleichstellung von Magna-charta-Formel und Nullum-crimen-Satz, 1996, S. 103 ff. 18 Vgl. dazu die Nachweise bei Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1981, S. 79 ff. 19 Zaccaria (Fn. 12), 219. 20 Zagrebelsky, El Derecho dúctil (spanische Übersetzung: Gascón Abellán), 1995, passim.
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beitrug. Mit sich bringt diese neue Entwicklung eine enorme Pluralität und stete Dezentralisierung der Quellen gesetzlicher Texte. Konkret zur Folge hat dies, dass der Grundriss des Rechts zunehmend geprägt wird durch die Verknüpfung staatlicher Gesetze, internationaler Verträge, Verfügungen supranationaler Gebilde, technische Richtlinien usw. Für den Durchschnittsbürger sind die normativen Verflechtungen, die sich aus der Integration all dieser unübersichtlichen Rechtskörper in den rechtlichen Alltag ergeben, längst nicht mehr durchschaubar, dies zumal die kommunikative Erklärung strafrechtlicher Anforderungen ohnehin auch zuvor schon durch eine eher komplexe und indirekte Vermittlung geprägt wurde. In der heutigen Zeit nun erweist sich eine solche Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Bürger zunehmend als nahezu unmöglich, fehlt es doch an einer vermittelnden Größe, die nicht nur in der Lage dazu ist, die sich aus dem normativen Geflecht ergebenden Wirrnisse zu sammeln und auszuwerten, sondern vor allem auch dazu, die dabei gewonnen Erkenntnisse dem ganz normalen Menschen einfach und verständlich nahezubringen. Daraus ergibt sich, dass der Rechtsprechung immer mehr die Funktion zukommt, gegenüber dem andauernden (und unumkehrbaren?) Rückgang der Bedeutung sowohl des politischen Gesetzgebers als auch der Ausrichtung an einem aufgeklärt-liberalen Ideal kraft der Fähigkeit zur verständlichen Gesetzesauslegung im Zentrum der Rechtsordnung einen Ruhepol darzustellen.21
III. Das zeitgenössische Recht 1. Trotz des Vorstehenden erschiene es allerdings übertrieben, etwa mit Roellecke darauf abzustellen, dass die Rechtsprechung Herrin und Herr des positiven Rechts ist bis zu dem Punkt, dass weder die Verfassung noch das Gesetz selbst als etwas anderes wirken als das, was die Rechtsprechung selbst daraus macht.22 Zugestanden werden muss allerdings, dass das Strafrechtsverständnis unserer Zeit sich ganz erheblich von jenem des 19. Jahrhunderts unterscheidet.23 Der gesetzliche Positivismus trat dazu an, sein Ziel der Rechtssicherheit dadurch zu verwirklichen, dass „das Recht auf das Gesetz reduziert werde, was ein geschriebenes Gesetz meint, das einem jeden vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an als bekannt unterstellt werden darf“.24 Es fehlte daher nicht an Maximem wie jener, dass es nicht der Richter sei, der das 21
Grasnick (Fn. 13), 155: „Wir haben nur Richterrecht“. In diesem Zusammenhang sollte allerdings auch nicht vergessen werden, dass die Justizverwaltung (also die das Gesetz anwendende Stelle) sich auf unabhängige und professionelle Richter verlässt. 22 Roellecke (Fn. 2), 175. 23 Vgl. zum Folgenden Silva Sánchez, Constitución europea, legalidad y Derecho penal económico, in: Bajo Fernández (Dir.), Constitución europea y Derecho penal económico, 2006, S. 253 ff; ders., Vorwort zu Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arreche, Los acuerdos de la Sala Penal del Tribunal Supremo, naturaleza jurídica y contenido, 2007, S. 13 ff. 24 García-Huidobro/Herrera, El hombre y el derecho viven en la tradición, in: Persona y Derecho 47, 2002, 361 ff., 374: „reduciendo el Derecho a la ley, una ley escrita y que se presumía conocida por todos desde el momento de su publicación“.
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Recht auslege, sondern der Bürger selbst, da er es schließlich auch sei, der sich nach dem Wortlaut des Gesetzes ausrichten müsse („ce n’est pas le juge qui interprète, c’est le citoyen lui-même, puisque c’est sur le texte de la loi qu’il doit régler ses actions“). 2. Um der Wahrheit gerecht zu werden, muss allerdings eingeräumt werden, dass die Zahl der Bürger, die jene Gesetzesblätter lesen, in welchen täglich neue Gesetze veröffentlicht werden, doch eher überschaubar ist.25 Die Wirkung der Strafgesetze tritt damit eher auf eine indirekte Art und Weise ein, in deren Zusammenhang sich allerdings die Feinheiten der detailliert und durchdacht erlassenen Normen nahezu zwangsläufig zu verlieren drohen.26 Nach dem Erhalt der Rechtssicherheit und dem tieferen Sinn des Gesetzlichkeitsprinzips wird daher auf eine andere Weise zu suchen sein, die sich eher aus den indirekten Folgen der Beziehung zwischen Gesetz und Richter und wiederum deren Auswirkung und Vermittlung für den Bürger ergibt als über eine hypothetische – in Wirklichkeit nicht existierende – direkte Beziehung zwischen dem Wortlaut des Gesetzes und dem Rechtsunterworfenen selbst. Von ganz entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allerdings die Garantie einer verlässlichen Handhabung rechtlicher Grundsätze durch die Rechtsprechung und – daraus folgend – in ihrem Umfang vorhersehbarer Urteile. Daneben ist eine intensive und klarstellende Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Richter als weiterer zentraler Aspekt einer Rechtssicherheit gewährleistenden Gesetzesauslegung hervorzuheben.27 Es handelt sich dabei dem Wesen nach um einen rein juristischen Dialog, der sich dementsprechend auch auf die juristische Fachsprache und deren ganz besondere Grammatik beschränkt. Alles in allem ist ein solcher kommunikativer Vorgang jedenfalls von grundlegend anderer Art, als dies eine rein formal am Endprodukt des Gesetzestextes orientierte „Ideologie der Subsumtion“ im Sinn hatte.28
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García-Huidobro/Herrera (Fn. 24), 374. Anerkannt wird das auch von Kuhlen, Zum Verhältnis vom Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot, in: Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag, 2007, S. 89 ff., 94 f., wenn auch aus einer anderen Perspektive. 27 Der Richter erscheint in diesem Zusammenhang als der „lebendige Vertreter“ des Gesetzgebers. Vgl. Binding, Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft in normalem Verhältnis zu einander, ZStW 1 (1881), 4 ff., 15. 28 Daraus folgt, dass die Lehre, wie bereits angedeutet, die Entscheidung des Gerichts als Ausdruck eines „praktischen Syllogismus“ aufnimmt, dessen Kern das rechtliche Problem darstellt und in dessen Randbereich die Umstände des Einzelfalles eine Rolle spielen können. Intensiv durchdacht zeigt sich dies bei Beccaria (Fn. 7): „Bei der Untersuchung eines jeglichen Verbrechens muß der Richter einen förmlichen Vernunftschluß machen. […] Macht der Richter in einer peinlichen Frage mehr als einen Schluß, entweder freiwillig oder aus Not, weil er hierzu durch die Untauglichkeit elender Gesetze gezwungen ist, so wird der Ungewißheit Fenster und Türe geöffnet“ („In ogni delitto si deve fare dal giudice un sillogismo perfetto (…)“ „Quando il giudice sia costretto, o voglia fare anche soli due sillogismi, si apre la porta all’incertezza“). Vgl. dazu auch Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 1952, S. 23 ff., 26 ff. 26
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3. Es ergibt sich damit, dass das moderne Rechtsverständnis nicht davon ausgeht, bereits aus dem wörtlichen Inhalt der Gesetze selbst unmittelbaren Einfluss auf das Verhalten des Bürgers zu nehmen. Angesichts der Detailgenauigkeit der gesetzlich festgehaltenen Tatbestände erschiene ein solches Ziel schlussendlich unter einem realistischen Blickwinkel auch nahezu unmöglich. Der Anspruch des Strafrechts sollte daher grundsätzlich sein, zumindest eine Interaktion zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt dahingehend zu bewirken, dass sich daraus eine legitime und verlässliche richterliche Auslegung ergibt, sprich: eine vorhersehbare Interpretation des Rechts. 4. Vor diesem Hintergrund fordert das Strafrecht vom Gesetzgeber zunächst ein gewisses Legitimitätsmoment: das der demokratischen Fundierung. In Ergänzung dazu ist ein weiterer Beitrag zu verlangen, der die Verlässlichkeit der Auslegung begünstigt, namentlich die größtmögliche Verständlichkeit und Eindeutigkeit der anzuwendenden Norm. Die demokratische Legitimationsgrundlage bringt dabei zwei wesentliche Aspekte mit sich: Zum einen den öffentlichen Diskurs, der zur Bildung jener Mehrheiten führt, die der Erlass neuer Gesetze erfordert (diskursorientierte Demokratie), zum anderen eine Anpassung an grundlegende Prinzipien und an Grundrechte (verfassungsorientierte Demokratie).29 5. Von dem einzelnen Richter fordert das Strafrecht in diesem Zusammenhang zunächst eine Orientierung am Gesetzestext, darüber hinaus aber auch die Achtung verfassungsrechtlicher Grundsätze als Grundstein der demokratischen Legitimation des Urteils. Zudem sollte der Richter auch der Berücksichtigung der Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft verpflichtet sein, die ebenfalls einen großen Anteil zur Verlässlichkeit der Rechtsanwendung beizutragen im Stande sind.30 Diese Grundausrichtung des Rechtsprechenden, die glücklicherweise zunehmend erfüllt und berücksichtigt wird, umfasst damit schlussendlich ein ganzes Bündel zu beachtender Faktoren.31
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Nachdem dieses Thema jahrzehntelang relativ wenig bearbeitet wurde, waren in den letzten zwanzig Jahren intensive monographische Bearbeitungen zu verzeichnen. Unter anderen stechen dabei heraus: Lewisch, Verfassung und Strafrecht. Verfassungsrechtliche Schranken der Strafgesetzgebung, 1993; Lagodny, Strafrecht vor dem Schranken der Grundrechte, 1995; Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998. 30 Anschaulich Remmers, Der politisch indifferente Richter: Leitbild der Dritten Gewalt?, in: Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag, 1985, S. 165 ff. 31 Vgl. in diesem Sinn Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 71 ff., S. 86.
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IV. Die – in der Strafrechtsdogmatik fundierte – Gesetzesrekonstruktion durch den Richter 1. In der Praxis läuft all das darauf hinaus, dem Strafrichter eine (durch das Kriterium der methodischen sowie axiologischen Vernunft gekennzeichnete) Kompetenz zur Rekonstruktion der Gesetze zuzuerkennen.32 Es handelt sich dabei um ein Rekonstruktionsansinnen, für welches nicht zuletzt der Beitrag der Strafrechtsdogmatik von fundamentaler Bedeutung ist. 2. Wie auch bisher wird der Ausgangspunkt eines solchen Vorgehens sicherlich bei der Interpretation der Gesetze liegen, dort namentlich bei der sogenannten teleologischen Auslegung, die seit jeher den größten Teil der konstruktiven Tätigkeit des Richters und seines Kommunikationsprozesses mit dem Gesetz darstellt.33 Nichtsdestoweniger ist darauf hinzuweisen, dass dieses Vorgehen durch die Vertreter einer strengen Subsumtionsideologie zu Beginn mit harten Worten verworfen wurde.34 So besteht etwa Beccaria darauf, dass „es ein ebenso gefährlicher wie gemeiner Grundsatz (ist), daß man gleichsam in die Seele und die Absichten des Gesetzes dringen und den Sinn desselben zu Rate ziehen müsse. Das heißt, den Damm, welcher dem Strom der Meinungen vorgebaut ist, durchstechen und ihnen freien Lauf lassen“35. Denn „jeder Mensch hat seinen eigenen Standpunkt. Ein und eben derselbe Mensch sieht einerlei Gegenstände zu verschiedenen Zeiten auf ganz unterschiedliche Art. Also würden der Geist und die Absicht eines Gesetzes das Ergebnis einer guten oder schlechten Logik des Richters sein. Dessen gesunde oder verdorbene Säfte, ein aufwallender Sturm seiner Leidenschaften, die Schwäche und Dürftigkeit des Angeklagten, des Richters Verbindungen mit dem beleidigten Teile und die übrigen gering scheinenden Ursachen, welche das veränderte Gemüt des Menschen wie Wellen herumtreiben, würden auf dieses wichtige Geschäft des Richters widrige Einflüsse verbreiten.“ Und dann mit den oben bereits zitierten Worten: „Daher kommt es, daß des öfteren das Schicksal eines Bürgers durch den bloßen Übergang seines Prozesses von einem Gerichtshofe zu einem anderen verändert wird. Daher kommt es, daß öfters Unschuldige ein Schlachtopfer falscher Begriffe, oder leider! wohl gar aufbrausender Leidenschaften werden, nach welchen öfters die Obrigkeit eine Reihe verworrener Schlüsse für eine rechtmäßige Auslegung des Gesetzes hält. Daher kommt es, daß einerlei Verbrechen, vor einerlei Gerichten in verschiedenen 32
Vgl. dazu auch den programmatisch wirkenden Satz von Binding (Fn. 27), 29: „Die Praxis aber darf über dem einzelnen Paragraphen das Gesetz als Ganzes und über dem Gesetz das Recht nicht übersehen.“ 33 Vgl. Silva Sánchez, Zur sogenannten teleologischen Auslegung, in: Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag, 2007, S. 645 ff. Dargestellt wird dabei die enge Verknüpfung dieser Auslegungsfigur mit dem dogmatischen System. 34 Für diese ging es schlussendlich darum, jede Form der Interpretation zu verbieten. Beispielsweise enthielt das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 das ausdrückliche Verbot einer Gesetzesauslegung jenseits der Grenzen des ausdrücklich Vorgegebenen. 35 „Non v’è cosa piú pericolosa di quell’assioma comune che bisogna consultare lo spirito della legge. Questo è un argine rotto al torrente delle opinion“.
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Zeiten auf verschiedene Weise bestraft werden. Der schwankende Unbestand willkürlicher Auslegungen übertäubt alsdann die sich immer gleiche und reine Stimme des Gesetzes“.36 3. Auch heutzutage sieht sich ein der teleologischen Interpretation verbundenes Auslegungsverständnis der Skepsis jener ausgesetzt, die dafür eintreten, dem Text und der Grammatik des Gesetzes streng verhaftet zu bleiben, da sich nur ein solches Vorgehen mit der Garantie der Rechtssicherheit und damit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit vereinbaren lasse37. 4. Zuzugestehen ist sicherlich, dass Gesetze „in der Vorstellung vieler Menschen einen göttlichen Ursprung“ haben. Haft bemerkt dazu: „Sie sind die älteste juristische Erfindung und werden mit Ehrfurcht behandelt“.38 Dem aber steht entgegen, dass die Gesetze letztlich „nur vom Menschen geschaffene Hilfsmittel“ sind, „die durchaus profanen Aufgaben dienen und die auch mängelbehaftet sind.“ Es gilt daher, dass „ein erheblicher Teil der Arbeit der Strafrechtswissenschaft“ schlicht darin besteht, „diese Mängel zu reparieren.“ Es gilt daher für Haft abschließend die zustimmungswürdige Erkenntnis: „Gesetze müssen darum zwar selbstverständlich mit Respekt, aber auch mit kritischen Augen gelesen werden.“39 5. Teilweise wird in diesem Zusammenhang vertreten, die Tätigkeit des Gesetzesinterpreten – sei es ein Richter oder ein Rechtswissenschaftler – solle ausschließlich darin bestehen, Vorschläge de lege ferenda zu erarbeiten, anhand derer der Gesetzgeber seiner Verantwortung nachkommen könne, die „Fehler“ der Gesetze zu „reparieren“. Allerdings lässt sich eine solche Herangehensweise nicht mit dem Anspruch 36 Vgl. Beccaria (Fn. 7): „Ciascun uomo a il suo punto di vista, ciascun uomo in differenti tempi ne ha un diverso. Lo spirito della legge sarebbe dunque il risultato di uno buona o cattiva lógica di un giudice, di una facile o malsana digestione, dipenderebbe dalla violenza delle sue passioni, dalla deboleza di chi soffre, dalle relazioni del giudice coll’offeso e da tutte quelle minime forze cha cangiano le apparenze di ogni oggetto nell’animo fluttuante dell’uomo (…) Quindi veggiamo gli stessi delitti dallo stello tribunale puniti diversamente in diversi tempi, per aver consultato non la constante e fissa voce della legge, ma l’errante instabilità delle interpretazioni.“ 37 Vgl. die Darstellung von Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 231 ff., zurückhaltend S. 246 f. 38 Vgl. Haft, Kritische Anmerkungen zur „Auslegung“ von Straftatbeständen, Festschrift für Th. Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998, S. 81 ff., 93. Die Überschätzung der Strafgesetzgebung „in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihren Leistungen“ war seinerzeit nach Binding schlichtweg als „das bedeutendste der Grundübel unseres Rechtszustandes“ anzusehen. Denn: „Von ihm erscheint nicht nur das Laientum befallen, welches diesem seinen Irrtum in den Parlamenten und auf der Richterbank praktische Folge giebt, sondern ebenso das gelehrte Richtertum, die Gesetzgebung selbst und die in Ehrfurcht vor deren Ansprüchen das Haupt beugende Wissenschaft“: (Fn. 27), S. 7. 39 Vgl. Haft (Fn. 38), S. 93. Für Binding (Fn. 27), S. 18 steht fest, dass „die Theorie sowohl als Auslegerin wie als Beurteilerin der beständigen Fühlung mit der lebendigen Rechtsanwendung gar nicht entbehren kann: daß die echte Rechtswissenschaft stets eine Wissenschaft des positiven praktischen Rechtes sein muß.“
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einer verfassungsrechtlichen Demokratie, bei der es den Richtern schlussendlich in Wirklichkeit nicht nur obliegt, den Wortlaut der Gesetze wiederzugeben, sondern das Recht auch bewusst hinsichtlich der Ziele und Wertungen der Rechtsordnung zu konkretisieren40. Tatsächlich sieht das Grundgesetz eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht vor (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Entscheidung im Einzelfall über das „Ob“ und „Wie“ der Strafbarkeit muss der Gesetzgeber den dazu berufenen – an Gesetz und Recht gebundenen – Strafgerichten überlassen.41 6. Was wiederum das Betätigungsfeld der Wissenschaft anbelangt, kann festgestellt werden, dass sowohl deren Selbstverständnis als auch und vor allem deren Praxis ziemlich weit von einer der wortgenauen Wiedergabe des Gesetzes verpflichteten Auslegung entfernt sind. Vermehrt wird in diesem Rahmen insbesondere die Wiederherstellung und Korrektur des Gesetzestextes angestrebt. Die teleologische Rekonstruktion des Gesetzes ist daher in diesem Umfeld – ob bewusst oder unbewusst – omnipräsent42. Wie Freund es sehr schön formuliert hat: „Zwischen dem Gesetz und dem Sachverhalt des konkreten Falles steht die Straftatlehre, die nicht zuletzt verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen muss. Nur dann sichert sie die Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Sie entlastet den Gesetzgeber von Programmierungsaufgaben, die er selbst gar nicht angemessen erfüllen kann. Vor richterlicher Willkür schützt sie besser, als es der Gesetzgeber je tun kann. Sie ermöglicht es ihm überhaupt erst, seiner eigentlichen Regelungsaufgabe gerecht zu werden, nämlich der gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit i. S. einer (doppelten) Festlegung durch den Wortlaut und den daraus ersichtlichen Zweck der Vorschrift“.43
V. Wortlaut und Tradition 1. So scheint der Wortlaut des Gesetzes trotz seiner theoretisch enormen Bedeutung tatsächlich nicht immer eine feste Grenze der Auslegung darstellen zu können. Denn er bringt zahlreiche Probleme mit sich, die offenbar werden, sobald es um die konkrete Anwendung der Gesetzessätze geht. Spätestens dann werden z. B. Druck-
40 Deswegen kann der Richter als „Gesetzgeber zweiter Stufe“ charakterisiert werden: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, S. 5. 41 So auch Freund, Die Definitionen von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Zur Funktion gesetzlicher Begriffe und ihrer Definition bei der Rechtskonkretisierung, in: Festschrift für W. Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 63 ff., 64. 42 Kritisch Lagodny, Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsdidaktik auf der Suche nach dem Wortlaut des Gesetzes, in: Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts, Festschrift für K. Amelung zum 70. Geburtstag, 2009, S. 51 ff., 52: „Die Unterschätzung des Wortlauts in der Lehre wird durch eine Überschätzung der Dogmatik verstärkt: Deren Erkenntnisse scheinen für uns derart im Mittelpunkt zu stehen, dass wir darüber eben den Gesetzestext vergessen oder ihn als „quantité négligeable“ betrachten“. 43 Freund (Fn. 41), S. 64; auch Hassemer (Fn. 37), S. 255: „Vermittlungsfunktion“. Außerdem Silva Sánchez (Fn. 33), S. 645 ff.
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fehler, Redaktionsversehen und inhaltliche Irrtümer des Gesetzgebers für die ganz konkrete Gesetzesanwendung relevant44. 2. Geht es etwa um Druckfehler (Rechtschreibfehler oder Fehler bei der Veröffentlichung), können Divergenzen zwischen dem veröffentlichten Text aus dem Gesetzblatt und der eigentlichen Entscheidung des Parlaments zum Vorschein kommen. In diesem Fall aber sollte unzweifelhaft sein, dass ein Richter ausschließlich dem ursprünglich gewollten, originalen Text und nicht etwa der publizierten Fassung verpflichtet ist. Von sogar noch größerem Interesse ist der Umgang mit redaktionellen Versehen,45 obwohl es zuweilen schwerfällt, den „Redaktionsirrtum“ des Gesetzgebers genau zu bestimmen46 und ihn insbesondere von anderen Irrtümern abzugrenzen (etwa einem Inhaltsirrtum, oder aber einem Irrtum über rechtliche Grundkonzepte, in deren Rahmen wiederum ein Redaktionsversehen auftreten kann). Bei diesen Fehlern geht es darum, dass der Gesetzgeber etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollte, sich aber schlecht ausdrückte und daher tatsächlich etwas grundlegend anderes erklärte. Bei einem Inhaltsirrtum handelt es sich dagegen darum, dass der Gesetzgeber etwas anderes hätte ausdrücken müssen, um das erstrebte Ziel zu erreichen, dies aber aus irgendeinem Grund nicht wollte oder nicht zu formulieren verstand. 3. Als entscheidende Frage bleibt damit offensichtlich, ob der Wortsinn des Gesetzes tatsächlich als Grenze für die juristische Auslegung gelten kann, wenn Redaktionsversehen oder inhaltliche Irrtümer in Rede stehen. Für Jahr stellt es sich im Rahmen seiner Bearbeitung des Problems als entscheidend dar, ob generell einer objektiven oder einer subjektiven Auslegungstheorie gefolgt wird. Da letztere den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers umfasse, solle die Grenze der Interpretationsmöglichkeit des Gesetzes nicht bei dessen Wortlaut liegen, sondern es zulässig sein, diesen im Nachhinein zu berichtigen.47 4. Das Problem reicht insgesamt gesehen sogar noch weiter, dies dahingehend, dass selbst der eigentliche Begriff des „Wortlautes“ mehrdeutig verstanden werden kann. Auf der einen Seite könnte er so aufgefasst werden, dass sich jede Interpretationsmöglichkeit eines Begriffes im Rahmen dessen zu bewegen hat, was durch den alltäglichen Sprachgebrauch vorgegeben wird (also durch die Regeln der Umgangssprache). Andererseits könnte in diesem Zusammenhang aber auch – alternativ oder
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Vagheit und Porosität der Sprache können hier beiseitegelassen werden. Zum Thema neuerdings Schünemann, Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion. Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 243 ff. 45 Behandelt wird dieses Thema bereits umfänglich bei Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Band, 1885, S. 450 ff., der zunächst zwischen „Redaktionsversehen“ und einfachen Schreib- oder Druckfehlern unterscheidet und sich darüber hinaus gegen Auslegungsmanipulationen verwehrt, die dem Text zuwiderlaufen. 46 Jahr, Redaktionsversehen, in: Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 141 ff. 47 Vgl. Jahr (Fn. 46), S. 156 ff.
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kumulativ – der mögliche Sinngehalt der Gesetzeswörter im Rahmen eines grammatisch-normativen Verständnisses festgestellt werden. 5. Fraglich bleibt auch, ob die Wortlautgrenze sich im Rahmen des allgemeinen Sprachgebrauches erschöpft48 oder ob in diesem Zusammenhang etwa ein wissenschaftliches Fachverständnis zu berücksichtigen sein sollte49. Unter anderen wissenschaftlichen Fachverständnissen kommt die juristische Fachsprache besonders in Frage. Eine solche juristische Begriffsverständnisvorgabe könnte dabei etwa durch eine Legaldefinition (aus dem Strafgesetzbuch selbst) vorgegeben werden oder sich auch aus dem außerstrafrechtlichen Zusammenhang ergeben, in welchen die zu beurteilende Angelegenheit fällt. Auch in diesem Bereich gehen die vertretenen Meinungen letztlich weit auseinander. Namentlich Hassemer tritt für eine Orientierung am allgemeinen Sprachgebrauch ein, erweitert durch die Frage nach dem „möglichen“ Sinn.50 Im Gegenzug dazu verfechten wiederum andere Autoren den Vorrang einer Orientierung an der juristischen Fachsprache51, sogar am Begriffsverständnis des strafrechtlichen Normativismus.52 6. Zu beachten ist schließlich auch, dass der Rückgriff auf den Wortlaut eines Strafgesetzes spätestens dann praktisch an Bedeutung verliert, wenn es um die Auslegung normativer Tatbestandselemente oder sogar von Blankettstrafgesetzen geht, die allein anhand einer systematischen Herangehensweise erschlossen werden können. Fraglich ist, ob vor diesem Hintergrund die These der generellen Begrenzung der Auslegung durch den Gesetzeswortlaut nicht grundsätzlich abwegig erscheint. Ob man vorzugsweise von einer grammatischen oder etwa von einer systematischen Auslegung zu sprechen neigt, hängt in diesem Zusammenhang letztendlich bis zu einem gewissen Grad von der grundsätzlichen Ausrichtung ab, die man aufnimmt. Zunehmend entfernt sich das generelle Auslegungsverständnis von der Vorstellung des Gesetzeswortlautes als genau umrissenem Ganzen und scheint sich stattdessen vielmehr an einem eher fragmentarischen Verständnis des Gesetzestextes unter
48 Schon J. L. Austin, A Plea for Excuses (1956 – 1957), in: White (ed.), The Philosophy of Action, 1968, S. 19 ff., 27 betonte: „Ordinary language is not the last word: in principle it can everywhere be supplemented and improved upon and superseded. Only remember, it is the first word“ (kursiv im Original). 49 Zur Problematik Montiel/Ramírez, Von Biologie-Studenten als Kellner bis zu Richtern als Biologen. Zur Entscheidung des BGH über halluzinogene Pilze und der Verweis auf die Experten im Strafrecht, ZIS 10/2010, S. 618 ff.; anders Scheffler, Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind. Zu biologischer Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion. Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 217 ff. 50 Hassemer, Crítica al Derecho penal de hoy, (spanische Übersetzung: Ziffer), 1998, S. 34 f. 51 So auch schon Binding (Fn. 45), S. 452 f. 52 Kritisch F.-Ch. Schroeder, Die normative Auslegung, JZ 2011, S. 187 ff. m.w.N.
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dem Einfluss der zu beurteilenden Konfliktkonstellation, insbesondere der Gegebenheiten des Einzelfalles, zu orientieren.53 7. In diesem Zusammenhang ist eine skeptische Einstellung gegenüber der Leistungsfähigkeit des Wortlauts als Grenze der Gesetzesauslegung vollauf verständlich54. Auf der Suche nach Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit scheint ein komplementärer Blick auf die Auslegungskultur der Juristen angezeigt, was bei uns bedeutet: auf das Instrumentarium der strafrechtlichen Dogmatik55. Dies entspricht auch unserer wissenschaftlichen Selbstvorstellung und -darstellung. Wie Hruschka ausgeführt hat: „Eine Strafrechtslehre, die sich als Wissenschaft versteht, ist danach nicht von den Zufälligkeiten positiver Gesetzgebung abhängig, sondern untersucht einen in der Geschichte gewachsenen, überlieferten Corpus von Begriffen“.56 Dieser überlieferte Corpus von Begriffen, der einem ständigen Prozess der Suche und „EntDeckung“ unterworfen ist und unser echtes ius commune darstellt, heißt ja Strafrechtsdogmatik und prägt unsere Interpretationskultur. Sich dieser dogmatisch mediatisierten Auslegungskultur verpflichtet zu fühlen, schließt dabei Veränderungen keinesfalls aus, erfordert aber andererseits auch, sollten solche tatsächlich angestrebt werden, eine Rechtfertigung durch dogmatisch fundierte Argumente. Wie Jakobs es unterstrichen hat: „Das Problem des Generalisierungsverbots lässt sich nur lösen, wenn anerkannt wird, dass es eine zwingende Grenze bei der Interpretation nicht gibt, dass sich die Grenze vielmehr nach der praktizierten Interpretationskultur richtet. Damit ist gemeint, dass die Grenze der Auslegung nicht der Sinn ist, den die Begriffe des Rechts haben, sondern der ihnen beigelegt werden kann“.57 Es folgt daraus, dass der Gesetzestext ebenso wie eine umgangssprachliche Herangehensweise hinsichtlich seines Wortlauts in unserer juristischen Tradition weiterhin auch eine wichtige Rolle spielen werden. Entscheidend für die Auslegung eines Strafgesetzes sollte letztendlich aber die strafrechtliche (d. h. strafrechtsdogmatische) Tradition sein.
53 Kudlich, Die strafrahmenorientierte Auslegung im System der strafrechtlichen Rechtsfindung, ZStW 115 (2003), S. 4 f., Fn. 19. Detaillierter ders., „Regeln der Grammatik“, grammatische Auslegung und Wortlautgrenze, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion. Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 123 ff. 54 Lapidar Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 216: „Der Rechtsstaat kann eine Grenze im Normtext nicht objektiv vorgeben. Aber er fordert von den Gerichten eine Praxis der Grenzziehung“. Dieser rechtstheoretische Ausgangspunkt wird hier jedoch nicht aufgenommen. 55 Hassemer (Fn. 37), S. 256. 56 Hruschka, Der Einfluß des Aristoteles und der Aristoteles-Rezeptionen auf die Bildung heutiger Rechtsbegriffe am Beispiel der „actio libera in causa“, in: Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, 2003, S. 687. 57 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, 4/37, kursiv im Original.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts Pablo Sánchez-Ostiz*
I. Einleitung und Fragestellung 1. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, zu untersuchen, ob die in den Strafgesetzen enthaltenen Legaldefinitionen Einfluss auf die richterliche Rechtsanwendung haben (d. h., ob sie die Gerichte binden können und wenn ja, in welchem Umfang).1 Es soll dabei weder eine Definitionstheorie aufgestellt oder deren besonderer Bezug zum Inhalt der Gesetze herausgearbeitet werden, noch soll es um eine Analyse der juristischen Hermeneutik zur Kenntniserlangung und Entscheidung als Vorgang der Ermittlung des Rechts durch den Richter gehen2. Diese Arbeit beschränkt sich vielmehr auf eine Beschäftigung mit der Frage nach dem möglicherweise verpflichtenden Charakter von Legaldefinitonen und liegt dabei auf halbem Weg zwischen den obengenannten Ansätzen. Die Fragestellung ist aber eine Einfachere: In welchem Maß beeinflussen die in den Strafgesetzen verwendeten Definitionen den Rechtsanwender? 2. Soweit man in die strafrechtliche – oder, im Allgemeinen, juristische, d. h. nicht philosophische3 – Literatur blickt, existieren zu Legaldefinitionen im Wesentlichen * Oft verwendete Abkürzungen: CP, código penal, d. h. Strafgesetzbuch; GS, Gedächtnisschrift; JZ, Juristenzeitung; STS, Urteil des spanischen Tribunal Supremo; ZStW, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Übersetzung: Diana Rodriguez. 1 Grds. zu Definitionen vgl. Bochenski, Los métodos actuales del pensamiento (1957, Übers. Drudis Baldrich), Madrid, 1988, S. 165 – 176; Klug, Juristische Logik, 2. Aufl., Berlin u. a., 1958, S. 89 – 100; Engisch, „Logische Überlegungen zur Verbrechensdefinition“ (1974), in: Beiträge zur Rechtstheorie, Frankfurt a.M., 1984, S. 158 – 169; Herberger/D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt a.M., 1980, S. 303 – 340; Atienza, El sentido del Derecho, 2. Aufl., Barcelona, 2003, S. 42 – 56 und 104; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., Köln/München, 2008, § 4, S. 37 – 43. 2 Vgl. Hassemer, „Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz“, in: Arth. Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg, 2004, S. 254 – 255. Über die Bedeutung von Definitionen im angloamerikanischen Raum, vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law, Portland, 2004, passim, speziell auf S. 187 – 196. 3 Ich beziehe mich v. a. auf das Gemeinschaftswerk Omnis definitio in iure periculosa? Il problema delle definizioni legali nel diritto penale, koordiniert von Alberto Cadoppi, Padova, 1996, passim, hier zitiert mit dem Namen des Autors, gefolgt von Omnis definitio.
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zwei Grundansichten. Auf der einen Seite werden Definitionen als Hindernis für eine wirksame und sachgerechte strafrechtliche Gesetzgebung empfunden (was für gewöhnlich dem Prisco Javoleno zugerechneten Grundsatz „Omnis definitio in iure civile periculosa est“ entnommen wird4). Auf der anderen Seite sollen sie, soweit sie den Gesetzesinhalt präzisieren, ein gutes Mittel zur Beschränkung des ius puniendi sein (entsprechend dem Bestimmtheitsgebot, als Charakteristikum des Gesetzlichkeitsprinzips und Korollar der Aufklärung: Nullum crimen sine lege)5. Beide Ansätze scheinen sich auszuschließen. So versteht es sich, dass sich ein Strafrecht als umso rechtsstaatlicher darstellt, je größer die erreichte begriffliche Präzision ist; gleichzeitig und in gleichem Maße wird es aber auch ineffizienter, sodass es früher oder später obsolet werden muss. Mit anderen Worten: Je mehr im Strafrecht die praktische Rechtsanwendung reguliert und beschränkt wird, desto eher steigt die Gefahr ihrer Obsoleszenz. Daraus ergibt sich, dass Bestimmtheit und Nutzbarkeit von gesetzlichen Bestimmungen im Widerspruch zueinander stehen können6. 4 Omnis definitio in iure civile periculosa est: parum est enim ut non subverti possit, Digesto, 50.17.202 (Javoleno Prisco, ca. 49 – ca. 140 d. C). „En Derecho civil, toda definición es peligrosa, pues es difícil que no tenga que ser alterada“, entsprechend der spanischen Version von D’Ors/Hernández-Tejero/Fuenteseca/García-Garrido/Burillo, Pamplona, 1975, in loco. 5 Genauer: nullum crimen sine poena legali und nulla poena legali sine crimine, formuliert von P. J. A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, I. Teil, Erfurt, 1799 (Neudruck, Aalen, 1966), S. 148: „Es [sc. das Strafgesetz] bezieht sich: 1) auf die Staatsbeamten, welche die richterliche Gewalt des Staats ausüben. Diesen legt es die vollkommene Verbindlichkeit auf, die Verbrechen nach ihm zu bestrafen und läßt sich in so ferne in zwei Propositionen auflösen: a) kein Verbrechen soll ohne die gesetzliche Strafe seyn; oder das Strafübel ist die Bedingung des Verbrechens (nullum crimen sine poena legali). b) Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legali sine crimine). […]“ (im Text hervorgehoben); genauer zu diesem Gedanken, wenn auch mit anderem Wortlaut in Revision, I, p. 63; II. Teil, Chemnitz, 1800, S. 14. Über das Strafgesetz, wie es die Bürger lenkt, vgl. ibidem, I, S. 149. Zwei Jahre später in der 1. Aufl. des Handbuchs (Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1. Aufl., Gießen, 1801, § 24, auf S. 20; 4. Aufl., Gießen, 1808, § 20, auf S. 21 – 22; und folgende Aufl.) formuliert: „I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege). Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe. II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine). Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an das Factum als eine rechtliche nothwendige Voraussetzung geknüpft. III. Das gesetzlich bedrohte Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali). Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft.“ (Im Text hervorgehoben.) Trotz allem, die Zurechnung der Ursprünge des Gesetzlichkeitsprinzips zu Feuerbach seit dem Beitrag von Hruschka, „Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts“, in: Paeffgen/ Böse/Kindhäuser/Stübinger/Verrel/Zaczyk, Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin, 2011, S. 17 – 37, 18 – 23, verlangt eine Präzisierung der üblichen Doktrin, die man heranzuziehen pflegt. 6 Vgl. Cadoppi, „Il problema delle definizioni legali dell diritto penale. Presentazione“, in: Omnis definitio, S. 13 – 14. Vgl. auch die Fragestellung in Melchionda, „Definizioni norma-
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Ungeachtet dessen, dass Bestimmtheit mit Beschränkungen des Strafrechts einhergehe (ein Terminus kann mit größter linguistischer Sorgfalt, aber dennoch so weit wie möglich definiert sein!), wird nicht selten angenommen, dass Definitionen ein Mittel seien, den Rückgriff auf das ius puniendi zu beschränken und einzudämmen. Der vorliegende Beitrag will diese Behauptung in Frage stellen. 3. Diese Arbeit soll auf der einen Seite bewerten, inwieweit Definitionen im aktuellen Strafrecht geeignet sind, dem Gesetz Präzision und Zweckmäßigkeit zu verleihen (II.). Auf der anderen Seite soll analysiert werden, ob das aufgezeigte Ideal von der Beschränkung des staatlichen ius puniendi bei der richterlichen Rechtsanwendung gelingen kann (III.). Diesem folgen schließlich abschließende Überlegungen zur vernünftigen Nutzbarmachung von Definitionen im Prozess der Rechtssetzung (IV.).
II. Juristische Präzision durch Definitionen? 1. Zumindest was das spanische Strafgesetzbuch (código penal) betrifft, kann man feststellen, dass in diesem in großem Maße auf Definitionen zurückgegriffen wird, so etwa für „Amtsträger“ (Art. 24.1), „unfähig“ (Art. 25) oder „Urkunde“ (Art. 26)7. Das ist aber kein Einzelfall. Beispiele von Legaldefinitionen finden tive e reforma del codice penale (spunti per una reflessione sul tema)“, ibidem, S. 396 – 400; Morales Prats, „Omnis definitio periculosa est? El problema de las definiciones legales en el código penal español y en el proyecto de código penal de 1992“, ibidem, S. 282 – 283. Für Palazzo, „Sulle funzioni delle norme definitorie“, ibidem, S. 383 – 385, handelt es sich nicht um einen Konflikt, sondern um zwei Ziele: (1) Sicherheit und technische Präzision zu erlangen und (2) Verstöße gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz zu verhindern; ähnlich, Bricola, „Le definizioni normative nell’esperienza dei codici penali contemporanei e nel progetto di legge delega italiano“, ibidem, S. 177; Jori, „Definizioni legislative e pragmatica giuridica“, ibidem, S. 89; da Passano, „Le definizioni nella storia del diritto penale italiano contemporaneo“, ibidem, S. 96; Atienza, El sentido del Derecho, S. 42 (auch wenn er die Gefahr, auf die sich Javaleno bezieht, in der Begrenzung der Auslegungsmacht des Anwenders und nicht in der Obsoleszenz der Definition sieht). 7 Ohne Anspruch auch Vollständigkeit kann man für das spanische Strafgesetzbuch Folgende nennen: „schwere Straftaten“ (Art. 13.1); „weniger schwere Straftaten“ (Art. 13.2); „Übertretung“ (Art. 13.3); „Versuch“ (Art. 16.1); „Verabredung“ (Art. 17.1); „Vorschlag“ (Art. 17.2); „Aufforderung“ (Art. 18.1); „Verteidigung“ (Art. 18.1.II); „rechtswidriger Angriff“ (Art. 20.4.8.1.8); „Heimtücke“ (Art. 21.1.a); „Rückfall“ (Art. 21.8.a); „Verwandtschaft“ (Art. 23); „Amtsträger und Beamte“ (Art. 24); „unfähig“ (Art. 25); „Urkunde“ (Art. 26); „Täter“ (Art. 28.I); „Teilnehmer“ (Art. 29); die Strafen (Art. 34 ff.); „Gewohnheitstäter“ (Art. 94); „zivilrechtliche Haftung“ (Art. 110); „Rückgabe“ (Art. 111.1); „Wiedergutmachung“ (Art. 112); „Entschädigung“ (Art. 113); „Prozesskosten“ (Art. 124); „medizinische Behandlung“ einer Körperverletzung (Art. 147.1); „Gewohnheit“ bei gewohnheitsmäßigen Misshandlungen (Art. 173.3, Fassung LO 11/2003); „falscher Schlüssel“ (Art. 239); „bewohntes Haus“ beim Raub (Art. 241.2); „Nebenräume eines bewohnten Hauses“ (Art. 241.3); „Gesellschaft“ (Art. 297); „ärztliches Personal“ bei der Geldwäsche (Art. 303.II); „kriminelle Organisation“ (Art. 570 bis.1); „kriminelle Vereinigung“ (Art. 570 ter.1); „geschützte Personen“ bei Straftaten bei einem bewaffneten Konflikt (Art. 608). Darüber hinaus in negativer
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sich auch im kolumbianischen Strafgesetzbuch, das festschreibt, was man unter „öffentlicher Server“ (Art. 20) oder „Behandlung und Diagnose“ (Art. 132.II) zu verstehen hat; wie auch im Model Penal Code unter dem Titel „Allgemeine Definitionen“ (Section 1.13); im deutschen StGB für „Verwandte“, „Amtsträger“, „rechtswidrige Tat“, etc. (§ 11 Abs.1); im Portugiesischen u. a. für „Urkunde“ (Art. 255); im Peruanischen für „Versuch“ (Art. 16) oder im Französischen für den Vorsatz (Art. 132 – 72). An Beispielen von Strafgesetzen, die diese Gesetzgebungstechnik nutzen, mangelt es aus jüngerer Zeit nicht, es ist sogar eine steigende Verbreitung erkennbar. Sie scheint zur Regel zu werden8. Dennoch kann nicht von einer einmütigen Nutzung von Definitionen gesprochen werden. Der Gesetzgeber nutzt Definitionen, um einen Terminus begrifflich auf seine Bedeutung im konkreten Zusammenhang zu begrenzen9. Tatsächlich ist eine Definition die Verallgemeinerung eines Begriffs in seiner Bedeutung für das Gesetzeswerk oder Teile desselben10. Die Definition ist also eine Form der Rechtssetzung, eine Rechtssetzungstechnik. Darüber hinaus könnte es auch eine Form der sachgerechten Rechtssetzung sein, dann nämlich, wenn sie geeignet wäre, den richterlichen Entscheidungsprozess bei Anwendung der entsprechenden Regelungen zu lenken11. Diese Definitionstechnik wäre so geeignet, ein begrenztes, rechtsstaatliches Strafrecht zu erreichen. Nichtdestotrotz ist dieser Schluss nicht haltbar. 2. Unter einer Definition versteht man einen Vorschlag, der Unbekanntes oder Unklares über bekannte Elemente er- bzw. aufklärt, getreu der Regel genus proximum et differentia specifica. Sie beantwortet also die Frage was ist x?, wobei x beliebig ist. Es sind aber nominale und reale Definitionen zu unterscheiden. Eine Realdefinition nimmt Bezug auf die Sache selbst, auf die Beschaffenheit des definiendum, unabhängig davon, ob diese aus äußerlichen (entsprechend ihres sachgerechten und/oder abForm „nicht als Strafe angesehen …“ (Art. 34); und implizit für „Grausamkeit“ (Art. 22.5.a und 139.3.a). 8 So neigt die spanische Gesetzgebung dazu, wohlbekannten Vorschriften den Vorrang einzuräumen: z. B. L 19/1993, vom 28. Dezember, welches bestimmte präventive Maßnahmen hinsichtlich der Geldwäsche festlegt (Art. 1.2); LO 12/1995, vom 12. Dezember, die Bekämpfung von Schmuggel betreffend (Art. 1); L 3/2003, vom 14. März, auf europäische Vorgaben hin die Festnahme und Auslieferung betreffend (Art. 1); RD 515/2005, vom 6. Mai, über die Vollstreckung von Bestrafung durch gemeinnützige Arbeit (Art. 2). 9 Vgl. Robles Morchón, Las reglas del Derecho y las reglas de los juegos, Palma de Mallorca, 1984, S. 220 – 223. 10 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin/Heidelberg u. a., 1991, S. 440. 11 Definitionen sind aber kein Allheilmittel (De Faria Costa, „Le definizioni legali del dolo e della colpa quali esemplificationi delle norme definitorie nel diritto penale“, in: Omnis definitio, S. 273) um eine defizitäre Gesetzgebungstechnik zu korrigieren; ähnlich: Cadoppi, ibidem, S. 28 – 29. Letztlich ist eine „gute“ Definition nicht das Gleiche wie eine weite oder Beschreibung. Darüber hinaus zur Bedeutung von doktrinellen, richterlichen und gesetzlichen Definitionen im angloamerikanischen Raum, vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law, S. 187 – 196, der die Zweckmäßigkeit von Definitionen immer dann hervorhebt, wenn sie adäquat seien (vgl. seinen Korrekturvorschlag ibidem, S. 188 – 189).
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schließenden Rechtsgrunds) oder der Sache innewohnenden Gegebenheiten (entsprechend ihrer Wesenseigentümlichkeit, Beschaffenheit und Gestalt, oder Beschreibung des Gegenstandes12) erwachsen. Im Gegensatz dazu wird bei einer Nominaldefinition einem Wort eine Bedeutung zugeschrieben13. Letztere erlauben es durch schon bekannte Elemente (Definiens) ein Unbekanntes (Definiendum) zu erklären; sie können dabei analytisch (lexikalisch) oder künstlich (schöpferisch) sein14. Die analytische Definition erklärt und erhellt die präexistente Bedeutung des zu definierenden Terminus, sie beschreibt sie; die künstliche erschafft die Wortbedeutung dagegen erst, sie führt sie ein15. Die Polarität von künstlichen und analytischen Definitionen ist aber alles andere als klar16 ; oft zeigen Definitionen beiderlei Charakteristika17. Dies ist insbesondere in Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip von Bedeutung18. Nach alledem sind die in den Gesetzen anzutreffenden Definitionen auf den ersten Blick analytische Nominaldefinitionen.
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Die Bestätigung, dass ein menschliches Wesen ein „rationales Tier“ ist, stellt eine wesensnotwendige Definition dar, während, dass es „zweibeinig und federlos“ ist, rein deskriptiv ist. 13 Vgl. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl., Berlin/New York, 1988, S. 407. 14 Dazu vgl. Bochenski, Los métodos, S. 165 – 176. 15 Bei dieser Vorgehensweise ist derjenige, der definiert, nicht frei davon, auf den Gebrauch von Sprache und Bedeutungen zu verzichten, die die Begriffe bereits besitzen. Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 410; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39. 16 Weil es sich um synthetische Definitionen handelt, haben sie außerdem analytischen Charakter (soweit man von einer analytischen Wirkung der juristischen Sprache sprechen kann). Sie haben, wie gesagt, häufig nominalen, synthetischen Charakter, d. h. die Bedeutung wird in demselben Gesetz festgeschrieben, wobei es nicht verwundert, dass diese sich verbreitet und in den Wörterbüchern „wiederkehrt“, weil sie ihren Bedeutungsumfang erweitert hat. Konkret wird in dem spanischen „Duden“, der Real Academia Española de la Lengua, die Bedeutung von strafrechtlichen Begriffen aufgenommen, die nicht immer mit derjenigen des Gesetzes übereinstimmt. So erscheint etwa im Diccionario eine Bedeutung des Terminus „Vorsatz“, der sich als juristisch geriert („der absichtliche Wille, mit Wissen von ihrer Rechtswidrigkeit eine Straftat zu begehen“), aber nur mit einer teilweise vertretenen Ansicht übereinstimmt und sogar mit dem Gesetzestext nur schwer zusammenpasst (vgl. Art. 14 span. CP). So erhält das, was als synthetische Definition beginnt, gewissermaßen einen analytischen Charakter, die vom Gesetzgeber „gegebene“ Definition formt also das Objekt, welches sie definieren will. Mit anderen Worten: die synthetische Definition legt eine Bedeutung fest, die Teile der Sprache und genannte Begriffe formt. Wer z. B. außerhalb des Strafrechts den Terminus „Versuch“ definieren will, muss gleichzeitig dessen strafgesetzliche Bedeutung beachten (Art. 16.1 span. CP). 17 Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 408, wo er hervorhebt, dass die Unterscheidung von nominalen semantischen Definitionen in analytisch und synthetisch nicht ausschließt, dass eine Definition sowohl analytische als auch synthetische Elemente haben kann (vgl. ibidem, S. 410). 18 Vgl. als Bsp. den geschilderten Fall infra, Fn. 57. Nach meiner Sicht der Dinge kann das Analytische einer Definition als Begrenzung einer synthetischen Definition dienen.
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3. Legaldefinitionen weisen üblicherweise nominalen Charakter auf19, soweit sie einem Terminus (das Definiendum) über bestimmte Elemente (das Definiens) eine Bedeutung verleihen20. So beispielsweise Art. 26 des spanischen Strafgesetzbuchs für „Urkunde“, „materieller Träger, der Daten, Tatsachen oder Schilderungen ausdrückt oder enthält, die Beweiswert oder irgendeine andere Art von rechtlicher Bedeutung haben“. Das Definiendum bekommt im Gesetz eine eigene Bedeutung, die mehr oder weniger der „laiensprachlichen“ entspricht. Manchmal handelt es sich aber weniger um Definitionen (da sie die Regel des genus proximum et differentia specifica verlassen)21, als vielmehr um Beschreibungen oder Aufzählungen, die einen Begriff eingrenzen – dabei kann man nur noch von Definieren im weiteren Sinne sprechen. Bei noch weiter reichendem Verständnis könnte jede gesetzgeberische Festlegung einer Straftat als Definition angesehen werden, da sie begrifflich die Bedeutung des Definiendum eingrenzt; dies wäre gleichzeitig die Bezeichnung des in Frage kommenden Tatbestandes22. So sind „Totschlag“, „Mord“, „Hausfriedensbruch“, „Raub“ … Termini, die der Gesetzgeber anhand einer Reihe von Elementen, die diese nomina iuris begründen, definieren würde. Im Sinne des Gesetzlichkeitsprinzips legen Strafgesetze ein strafrelevantes Verhalten fest (sie haben damit nominalen Charakter), welches Einfluss auf das allgemeine Verständnis, sowie auf die Begriffsbedeutung in anderen Abschnitten des Gesetzes23 oder gar in anderen Gesetzen ausüben kann (soweit haben sie teils analy19 So Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39. Larenz, Methodenlehre, S. 226, der Bezug nimmt auf „ein[en] großen Teil der Begriffe, mit denen ein Jurist arbeitet“; vgl. auch ibidem, S. 440 – 441. In diesem Sinne legt die Definition einen Sinn fest (vgl. Nino, Introducción al análisis del Derecho, 6. Aufl., Barcelona, 1995, S. 254; Atienza, El sentido del Derecho, S. 42). Vgl. über Definitionen, Atienza, ibidem, S. 42 – 56 und 104. 20 Als nominale Definitionen kann es passieren, dass sie eine exklusive Bedeutung erhalten, soweit das definiendum einen technischen Terminus in einem abgesteckten Feld darstellt (so etwa „unmündig“ oder „Urkunde“, der Art. 25 und 26 span. CP diesbzgl.). Es kann aber auch sein, dass der Gesetzgeber die technische Bedeutung des Terminus, welche er schon in einem anderen Rahmen besitzt, zu Hilfe nimmt („Gebrauchsmuster“, z. B. im Art. 273.1 span. CP). 21 Es handelt sich also eigentlich nicht um Definitionen, sondern um „Beschreibungen einer Sache“ (vgl. Klug, Juristische Logik, S. 97 – 98). Für Puppe, „Vom Umgang mit Definitionen in der Jurisprudenz. Kreative Definitionen oder warum sich Juristen über Begriffe streiten“, in: Dornseifer/Horn/Schilling/Schöne/Struensee/Zielinski, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln u. a., 1989, S. 19 und 33, gehen die im Gesetz verwendeten Definitionen dagegen weiter als diese logische Anforderung; vgl. auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.1, S. 37. 22 Ähnlich Palazzo, in: Omnis definitio, S. 381. Es ist aber anzuerkennen, dass die fraglichen Tatbestände sich zweifellos vom Gehalt der Definitionen entfernen (nächste Gattung und aufgezeigte Differenz), da sie sich eher auf Beschreibungen, als auf Definitionen im engeren Sinne beziehen (Klug, Juristische Logik, S. 97 – 98), oder aber in bestimmten Fällen alternative Formulierungen verwenden, um eine bestmögliche Bedeutung festzulegen. 23 Jedweder Versuch über Termini, die eine Vielzahl von Bedeutungen zulassen, zu definieren, muss letztlich daran scheitern, dass das Ziel, den Begriff einzugrenzen, nicht erreicht wird. (vgl. Noll, „Zur Gesetzestechnik des Entwurfes eines Strafgesetzbuches“, JZ 1963,
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tischen, teils künstlichen Charakter größeren oder geringeren Maßes24). Ohne Zweifel definiert der Tatbestand eigentlich nicht, sondern konkretisiert einige Elemente des begrifflichen Dunstkreises25, ohne jedoch dessen vollkommene Erschöpfung anzustreben26. Definitionen beabsichtigen damit durch die Abgrenzung i.R. einer Gattung einen begrifflichen Bereich einzugrenzen27. Aus diesem Grunde muss man feststellen, dass genannte Legaldefinitionen in Wahrheit lediglich Beschreibungen und noch nicht einmal Definitionen im weitesten Sinne sind, weil die Bestandteile sich oft nicht in die sie beinhaltende Begriffswelt einfügen und die Gesetzesentwicklung und ihre Konkurrenzen zueinander selbst immer wieder neue weitergehende Beschreibungen zulässt. 4. Legaldefinitionen sind im strengen Sinne, abgesehen von nominal, oft künstlich: Anders als einen Begriff zu bestimmen, schaffen sie ihn erst28. Und sie pflegen dabei nicht restriktiv, sondern gerade extensiv zu sein, verglichen mit der Bedeutung des Definiendum in der Laiensprache oder in anderen Bereichen, so etwa die zitierten Definitionen von „Urkunde“29, „Amtsträger“ oder „Amtsgewalt“ (Art. 24 span. CP), deren Bedeutung erheblich erweitert ist30. S. 299; Stratenwerth, „Die Definitionen im Allgemeinen Teil des Entwurfs 1962“, ZStW 76 [1964], S. 673 – 695 und 704). 24 Vgl. supra, Fn. 17. Es ist zu beachten, dass auch die Begriffe des Definiens ihrerseits definiert werden müssen (Atienza, El sentido del Derecho, S. 45), was das Problem von Legaldefinitionen erhöht (vgl. Orrù, „La definizioni del legislatore e le ridefinizioni della giurisprudenza“, in: Omnis definitio, S. 156). 25 „Der Typus wird nicht definiert, sondern beschrieben“: Larenz, Methodenlehre, S. 221. 26 In diesem Sinne, Belvedere, „Note in tema di definizioni legislative penalistiche“, in: Omnis definitio, S. 115; von verdeckten, oder Definitionen in Klammern spricht Frisch, „Le definizioni legali nel diritto penale tedesco“, ibidem, S. 196, um sich auf die verbreitete Gesetzgebungstechnik im deutschen Strafrecht, ein konkretes nomen iuris der Beschreibung einer typischen Verhaltensweise folgen zu lassen, zu beziehen; Stratenwerth, ZStW 76 (1964), S. 669 – 670, jedenfalls für die Anstiftung (auch andere auf S. 696 – 704); vgl. auch Herberger/ D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 337. Demgegenüber ist für Puppe, in: Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 25 – 28, der Typus deshalb definierbar, weil man ein weiteren Begriff für die Definition wählt. 27 Definitionen wollen „nicht erhellen, sondern begrenzen“ (Noll, JZ 1963, S. 299). 28 Was aber nicht ausschließt, dass sie analytische Inhalte nicht zuließen: vgl. supra, Fn. 17. 29 Es scheint nicht so, dass der durch das Wörterbuch festgelegte Sinn ein Kriterium für eine juristische Definition sei (vgl. supra, Fn. 16). Die eigentliche Bedeutung jedes Begriffs im fraglichen Kontext ist entscheidend. Vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law, S. 190. 30 So wird z. B. „Amtsträger“ im spanischen CP sehr viel weiter definiert als im nichttechnischen Zusammenhang oder in anderen Gesetzen (wie es auch mit dem Begriff der „Amtsgewalt“ geschieht). Auf der anderen Seite kommen die Definitionen aus verschiedenen Quellen: in concreto aus dem technischen, wie juristischem Bereich, anderen Gesetzen oder der Wissenschaft, der Rechtsprechung und technischen Behörden. Es ist aber gleichermaßen festzustellen, dass weder der Strafgesetzgeber noch die Gerichte an die Definitionen aus anderen Bereichen gebunden sind (was sich mit dem Begriff der beweglichen Sachen im Zivilrecht bestätigt, bei dem die spanische Jurisprudenz keine Hemmungen hatte, i.R.d. Vermögensdelikte davon abzuweichen).
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Sind Nominaldefinitionen dagegen analytisch, stellt sich die Frage nach richtig oder falsch unabhängig vom Definierten, das Definiens ist mithin immer am präexistenten Sinn zu messen. Künstliche Definitionen hingegen werden selbst zum Bewertungsmaßstab (die Frage nach richtig oder falsch kann nicht beantwortet werden).31 So schafft die Definition von „Urkunde“, als künstliche Nominaldefinition, einen Begriff der Urkunde i.S.d. código penal, der eines Bezugspunktes oder einer Wahrheit außerhalb des Gesetzbuches ermangelt: Eine Urkunde ist das, was der código als solche verstehen will. Diese Definition muss sich aber wiederum decken mit dem, was dasselbe Gesetzbuch und das gesamte Strafrecht für die Wirkungskraft von Urkunden vorsieht. Mit anderen Worten: Die künstlichen Definitionen haben nicht denselben Wahrheitsanspruch wie die analytischen, eine Übereinstimmung mit Gegebenem kann nicht festgestellt werden. Als Korrektiv muss daher wenigstens eine innere Kohärenz zwischen der eigentlichen Definition und dem sprachlichen Zusammenhang, in dem sie gebraucht wird, bestehen (die Gesetze der Logik respektierend)32. Es fehlt mithin nicht an einer möglichen Wirksamkeitskontrolle, die sich nämlich an der inneren Kohärenz und Logik bemisst und dem Ziel der Vermeidung von Unbeständigkeiten in Hinblick auf andere Definitionen desselben Bereichs genügen muss33. 5. Der nominale und künstliche Charakter bringt den Vorteil mit sich, dass Legaldefinitionen eine „doppelt schaffende Kraft“ haben. Das heißt: Sie legen nicht nur eine Bedeutung fest, sondern deren Sinn wird Teil einer strafrechtlichen Norm, um dieser zu dienen. So besitzt die Festlegung eines Bedeutungsgehalts legislative Kraft im doppelten Sinne34. Auf der einen Seite wird eine Bedeutung normativ festgelegt, auf der anderen Seite wird diese im Gesetz festgeschrieben35. In diesem Sinne 31 Vgl. Klug, Juristische Logik, S. 94; Engisch, in: Beiträge zur Rechtstheorie, S. 161; Hruschka, Strafrecht, S. 409. Radikaler die Meinung von Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39, für die die juristischen Definitionen (die Nominalen) weder wahr noch falsch sind, sondern nützlich oder überflüssig, entsprechend der Gründe, weswegen sie geschaffen wurden (ähnlich Nino, Introducción, S. 255, für die „Klauseldefinitionen“). Um diese Ziele zu erreichen, ist es zweifelsohne hilfreich, sprachlichen Vorgaben zu folgen. 32 So Klug, Juristische Logik, S. 95; Nino, Introducción, S. 255 (für die Definitionen mit „Klauselcharakter“). 33 Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 409 – 410; Klug, Juristische Logik, S. 94 – 95; Belvedere, in: Omnis definitio, S. 115. Mit den Worten von Zippelius, Juristische Methodenlehre, 1971, 8. Aufl., München, 2003, 9.I, genießt der Gesetzgeber Definierfreiheit, ohne sich einem vorbestimmten technischen Vokabular gegenüberzusehen, aber – aus meiner Sicht – verpflichten ihn die innere Kohärenz und die Gesetze der Logik. 34 Definition und Gesetzgebung hätten dann eine Gemeinsamkeit: ihre normative Kraft und Macht. Vgl. Klug, Juristische Logik, S. 94 (für Nominaldefinitionen). Mit den Worten von Zippelius, Juristische Methodenlehre, 1971, 8. Aufl., München, 2003, 9.I, genießt der Gesetzgeber Definierfreiheit, ohne sich einem vorbestimmten technischen Vokabular gegenüberzusehen. 35 Die legislativen Definitionen sind „Definitionsnormen“. Vgl. die Bezeichnung in Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, vol IV, Tübingen, 1977, S. 246.
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kann ein Begriff seine Anwendung im fraglichen Teil des Gesetzes „festlegen“ und „-schreiben“. Soweit Legaldefinitionen nicht beanspruchen, das Wesen des Definierten zu erklären, sondern die Handhabung von sprachlichen Regelungen im gesetzlichen Bereich zu steuern, kann man sie als teleologisch bezeichnen36. Letztendlich kann man sie für Teleologische halten, sobald sie eine konkrete Rolle für die Gesetzesanwendung, genauer die Anwendung des Strafrechts, spielen. Aus diesem Grunde besteht der Zweck der Definition in der „Verpflichtung“, die Tatbestände zu konkretisieren, auf die sie sich bezieht, um deren einheitliche Handhabung auch in Bezug auf die Rechtfolge sicherzustellen37. Das verdeutlicht sich gerade in solchen Formulierungen wie „im Sinne des Gesetzes“, „im Sinne dieses Gesetzes“ oder „im Sinne dieses Gesetzbuches“. Entsprechend könnte man deren Definitionscharakter im engen Sinne bezweifeln und erwägen, ob es sich nicht um Fiktionen handelt38, die sich in dem Fall vom Sprachgebrauch entfernen. 6. Die soeben gemachten Bemerkungen lassen erkennen, dass Definitionen dazu dienen können, einen begrifflichen Bereich ein- und abzugrenzen. Dennoch ist begrenzteres und restriktiveres Strafrecht mit dieser Technik kaum zu erreichen. Was die Legaldefinitionen betrifft, die oft nominalen und künstlichen Charakter aufweisen, werden sie eingesetzt, um die Rechtskraft der Strafgesetze zu sichern, wenn nicht auch, um den Sinn des Definierten im Vergleich zur allgemeinen sprachlichen Bedeutung zu erweitern. Tatsächlich zählen sie mit ihrem künstlichen Charakter, d. h. eine Bedeutung dem eingeführten Terminus zuschreibend, auf die interne Widerspruchsfreiheit im Gefüge als Kontrolle der „Richtigkeit“ und eben nicht auf den Vergleich mit einem Begriff. Und dieses Kontrollkriterium scheint nicht sehr effektiv. Soweit es um die Sicherung des Gefüges geht, zielen diese vielmehr darauf ab, sich einen Anwendungsbereich zu geben und schließlich gar Begriffe neu zu definieren, um sich vor zeitlicher Überholung zu schützen. Dementsprechend können die Definitionen, die sich bisher als Garant eines rechtsstaatlichen Strafrechts dargestellt haben, leicht zu einem Mittel werden, dieses abhängig von den Umständen auszudehnen39. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass eine Definition in den Strafgesetzen nicht aus sich heraus die Bestimmtheit garantiert, die ein rechtsstaatliches
36 Legaldefinitionen haben so ihre eigenen Zwecke. d. h. man könnte sie für teleologisch halten, soweit sie eine bestimmte Rolle und Aufgabe in der Anwendung der Regelung spielen und wahrnehmen: so Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39: „,teleologische Begriffsbildung‘ ist die Methode der Juristen“; vgl. auch Noll, JZ 1963, S. 299; Klug, Juristische Logik, S. 94; Manzin, „Il problema della ,definitio‘ nel razionalismo scolastico e le prime critiche dell’umanesimo giuridico“, in: Omnis definitio, S. 170 – 171, zur doppelten Etymologie von „de-finieren“ als Limitierung und Absichtserklärung (spanisch: fin). 37 So, Puppe, in: Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 20. 38 Dazu vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2003, 6.c). 39 Gewiss haben klare und eindeutige Vorschriften die Frage nach dem Inhalt des Definierten nicht geklärt, sondern eine große wissenschaftliche Diskussion entfacht: vgl. Frisch, in: Omnis definitio, S. 220 (vgl. ibidem, S. 231 – 232).
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Strafrecht anstrebt40. Es stellt sich daher als falsch heraus, die Frage nach der Bedeutung von Definitionen als Mittel der Darstellung des Bestimmtheitsgebots als Forderung des Gesetzlichkeitsprinzips zu betrachten41. Dasjenige, was eingegrenzt sein soll, kann sich selbst schwerlich eingrenzen. Es wird sich zeigen, ob die richterliche Rechtsanwendung dies vermag (III.).
III. Beschränkung des ius puniendi durch die richterliche Anwendung der Definitionen? 1. Obwohl die Definitionen im Rahmen der Rechtssetzung kein erhöhtes Maß an Bestimmtheit bringen, muss man sich fragen, ob sie wenigstens geeignet sind, das ius puniendi in seiner Anwendung zu begrenzen42, d. h., ob und in welcher Weise sie eine Restriktion des Strafrechts ermöglichen43. Auf den ersten Blick und unter idealen Umständen würde eine Legaldefinition helfen, den Auslegungsvorgang zu lenken und so zu einer einheitlichen Rechtsanwendung führen44. Wenn die genannten Definitionen aber weit sind, dann ermöglichen sie auch eine weite Anwendung des Gesetzes. Dementsprechend ist der Rückgriff auf Definitionen nicht aus sich heraus schon die Garantie für eine einheitliche Rechtsanwendung45. Das heißt, wenn die richterliche Tätigkeit allein darin besteht, ein Gesetz anzuwenden, und dieses jedenfalls in seinen Definitionen weit ist, dann sind die Richter Anwender eines weiten Gesetzes. Es scheint mithin nicht die beste Methode zu sein das Strafrecht zu limi40 Dies ist vielmehr auch erreichbar über Beispielsfälle, eine bessere Gesetzgebungstechnik, den Gebrauch von einheitlichem Vokabular oder auf anderen Wegen: vgl. den Vorschlag von Orrù, in: Omnis definitio, S. 158; Frisch, ibidem, S. 226 – 238. Danach sind Definitionen kein Allheilmittel: so De Faria Costa, ibidem, S. 273, um eine defizitäre Gesetzgebungstechnik zu korrigieren; ähnlich: Cadoppi, ibidem, S. 28 – 29. 41 Vgl. die Gegenauffassung von Palazzo, in: Omnis definitio, S. 389, dazu eine Verfassungskontrolle über die Bindung der Rechtsprechung an Legaldefinitionen erreichen zu wollen (so Bricola, ibidem, S. 189, wenn auch mit Einschränkungen). 42 Andere Autoren betonen in realistischer Weise, dass das Legalitätsprinzip heutzutage das Ziel hat, weniger den Büger vor dem Staat zu schützen, als die Effektivität der Richter zu erhöhen: vgl. Jack, „Le definizioni nel nuovo codice penale francese“, in: Omnis definitio, S. 351, Giudicelli-Delage zitierend; eine ähnlich realistische Vision findet sich bei Dennis, „Funzioni ed ambito delle definizioni nel progetto di codice penale inglese“, ibidem, S. 373 – 374 (etwas was mit den Legislativplänen in England – CP-Projekt von 1989 – zu tun hat, auch ein Strafgesetzbuch zu erlassen, welches mehr die Funktion hätte, den anwendenden Juristen Klarheit und Uniformität zu bringen, als Garantien für die Bürger festzusetzen: vgl. ibidem, S. 369 – 371; ähnlich Halpin, Definition in the Criminal Law, S. 188, der, aus der angloamerikanischen Sicht, hervorhebt, wie Definitionen Rationalität im Strafrecht schaffen). 43 Für einige Autoren – vgl. Bricola, in: Omnis definitio, S. 189 – müssten Definitionen bindend sein, es sei denn, es handelt sich um solche, die einzig eine konkrete dogmatische Orientierung darstellen (S. 180). 44 Diese Forderung deutet sich in der italienischen Erfahrung an, die Gegenstand des bereits zitierten Werks ist: Cadoppi, in: Omnis definitio, S. 1. 45 Vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, Berlin, 2005, S. 45.
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tieren. Auf der anderen Seite können Legaldefinitionen als Ausdruck des Sinns und Zwecks einer Norm dem Richter einen Fakt an die Hand geben, auf den er eine teleologische Reduktion stützen kann. Da diese Definitionen für gewöhnlich aber weit sind, scheint auch der Gesetzeszweck seinerseits weit. 2. Deshalb mutet die dargestellte Forderung, den Richter durch das Gesetz zu binden und sein Wirken auf eine einfache Anwendung desselben zu beschränken, idealistisch an. Darüber hinaus bedeuten Legaldefinitionen noch nicht einmal notwendigerweise eine eindeutige Anwendung des Rechts46, weil man sich im Rahmen dieser einem Gegenstand, dem Gesetz, gegenüber sieht, dessen Inhalt selten eindeutig und dessen Legaldefinitionen oft weit sind. Aus diesem Grund muss die Forderung nach Bestimmtheit durch Definitionen an der praktischen Rechtsanwendung durch den Richter scheitern. Soweit das Gesetz selbst sein Verständnis nicht präzisiert, scheint es auch nicht einfacher, die juristische Arbeit am Gesetz durch Definitionen zu lenken47. Abgesehen davon darf man nicht vergessen, dass in dieser Aufgabe eine wesentliche Schwierigkeit liegt: Die Gesetzessprache ist eine eigene, nicht die einer Gemeinschaft von Muttersprachlern, sondern eine spezielle, nämlich die des fraglichen juristischen Bereichs48. Dass die Rechtssprache, und damit deren Definitionen, oft vom allgemeinen Wortsinn abweicht, scheint verbreitet. 46 Zweifelsohne, bewirken für Larenz, Methodenlehre, S. 226, vom Gesetzgeber geschaffene (Nominal-)Definitionen in gesetzlichen Vorschriften „niemals mehr, als das, was die Definition selbst enthält“. 47 Die Meinung Beccarias ist bekannt, soweit er im Kapitel IV seines Werks „De los delitos y las penas“ (1764), den Rückgriff auf den „perfekten Syllogismus“ bei der Anwendung des Gesetzes postuliert, ohne die Möglichkeit der „Auslegung“: „Auch die Macht der Gesetzesauslegung dürfen Strafrichtern aus demselben Grund nicht haben, weshalb sie keine Gesetzgeber sind […] Bei jedem Delikt muss der Richter einen perfekten Syllogismus finden. Zu prüfen ist primär das allgemeine Gesetz, sekundär das fraglich mit dem Gesetz vereinbare Verhalten, aus dem die Konsequenz Freiheit oder Strafe folgt. Will der Richter gezwungenermaßen oder freiwillig mehr als einen Syllogismus, öffnet sich die Tür zur Unsicherheit. Es gibt nichts Gefährlicheres als dieses kommune Axiom, welches es als nötig ansieht, den Geist des Gesetzes zu konsultieren. Es ist ein gebrochener Damm gegenüber den Strömen von Meinungen […] Der Geist des ernsten Gesetzes, also die Folge der guten oder schlechten Logik eines Richters, seiner guten oder schlechten Verdauung; es würde von der Heftigkeit seiner Leidenschaften abhängen, von der Schwäche des Leidenden, von den Beziehungen zum Geschädigten, und von all jenen kleinen Kräfte, die die Erscheinung der Dinge im wechselbaren Geist des Menschen ändern […] Eine Unordnung, die aus der rigorosen und wörtlichen Einhaltung des Strafgesetzes erwächst, kann nicht verglichen werden mit der Unordnung, die durch die Auslegung entsteht […] Ein fester gesetzlicher Kodex, der buchstäblich einzuhalten ist, gibt dem Richter nicht mehr Befugnisse, als die, zu entscheiden, ob das Verhalten eines Bürgers vereinbar mit dem geschriebenen Recht ist.“: Beccaria, De los delitos y las penas (1764, Übers. De las Casas, verschiedene Aufl.), Kapitel IV. 48 Vgl. Jori, in: Omnis definitio, S. 91. Auch wenn es nicht wenige sind, die es als angebracht sehen, die Bedeutung der juristischen Termini an die natürliche Wortbedeutung anzunähern, soweit dem Recht die Aufgabe zukommt, das Verhalten zu leiten: vgl. Atienza, El sentido del Derecho, S. 56.
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3. Es scheint angesichts des Charakters juristischer Gesetzesarbeit, welche weit entfernt davon ist nach Automatismen zu funktionieren, aber auch nicht erreichbar zu sein, Beccarias Idealvorstellung umzusetzen. Die angestrebte kompromisslose und eindeutige Anwendung des Gesetzes ist nicht machbar, soweit es einen Gegenstand verwendet, den es anhand von Vorbedeutungen und Vorurteilen interpretiert und wertet. Selbst bei der genausten Definition bedarf es einer Behandlung des Gesetzes, die vom Abstrakt-Generellen der Norm zum Konkret-Individuellen der Tatsachen kommt. Dabei ist die Bestimmung der Bedeutung des Gesetzestextes auch mit Definitionen schon ein schwieriger Schritt; daneben muss man den Sachverhalt bewerten und beides zusammenbringen49. Und das alles wegen eines Individuums, des Interpreten, der sich nicht frei machen kann von seinen gefestigten Ansichten, bzw. diese allenfalls erkennen und bewerten kann. Weil die Definition Teil des Gesetzes ist, hat sie auch Normenqualität und muss deshalb anhand einer Auslegung auf den konkreten Fall angewandt werden. Im juristischen Alltag kommt es auch vor, dass Richter definieren50, weil dies erlaubt, Begriffe zur Argumentation festzulegen, d. h. zur Verteidigung einer konkreten Position. Es handelt sich dabei, auch in diesem Sinne, um „teleologische“ Definitionen, soweit sie der Gesetzesanwendung im Einzelfall dienen51. Tatsächlich greift die juristische Praxis auf die Definitionen zurück, die in der Argumentation und Entscheidungsfindung weiterzuhelfen scheinen52 Dabei fehlt es nicht an kritischen Stim49
Vgl. die Beiträge von Arth. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl., Heidelberg, 1982; ders., Rechtsphilosophie, S. 75 – 93 (spanische Übersetzung Montoya/Villar: Filosofía del Derecho, Bogotá, 1999); ders., Das Verfahren der Rechtsgewinnung: eine rationale Analyse. Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, München, 1999; ders, Filosofia del diritto ed ermeneutica, Sammelband (1972 – 1996) unter Verantwortung von Marino (Übers.), Milano, 2003; ders., Hermenéutica y Derecho (herausgegeben von Ollero/Santos), Granada, 2007. Vgl. auch über seinen Beitrag, Santos, Arthur Kaufmann en la encrucijada de la filosofía jurídica alemana de la posguerra, Granada, 2008. 50 Vgl. die sehr bildliche Beschreibung von Ferrajoli, Derecho y razón. Teoría del garantismo penal, 5. Aufl., Madrid, 2001, aptdo. 9.4, auf S. 127 (Übers. Ruiz Miguel), über die Rechtsprechungsarbeit in Bezug auf die Gesetzgebung: diese definiert, die andere re-definiert. 51 So bestätigt sich in ihrer gerichtlichen Anwendung der synthetische Charakter der Definitionen. So z. B. mit der Definition von Heimtücke (Art. 22.1.a span. CP): Auf eine scheinbar klare Legaldefinition folgt eine eigene Definition in ihrer richterlichen Anwendung. So ist zu beobachten, dass normalerweise drei Arten von Heimtücke unterschieden werden (hinterlistig oder verräterisch, die Überraschende durch plötzlichen oder unerwarteten Angriff und die, die die Hilflosigkeit des Opfers ausnutzt), um damit zu schließen, dass der Sachverhalt unter eine der drei subsumiert werden kann (vgl. STS 25. Nov. 2003: „Entsprechend der Art und Weise, Situation oder Mittel, der sich der Täter bedient, um den Erfolg durch Ausschluss von Gegenwehr, und folglich Minimierung des eigenen Risikos, zu sichern, unterscheidet dieser Senat die drei bekannten Fälle von heimtückischen Mord: Die hinterlistige oder verräterische Heimtücke, die Überraschende durch plötzlichen oder unerwarteten Angriff und die Heimtücke aus Hilflosigkeit, bei der der Täter die Situation besonderer Schutzlosigkeit des Opfers ausnutzt, die jede Gegenwehr ausschließt, wie etwa im zu entscheidenden Fall“, mit Zitat der STS vom 22. Juni 1993, 9. Juni 1999 und 13 Juni 2000). 52 Vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 41.
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men bzgl. des Rückgriffs auf solche Definitionen, die nicht aus dem Gesetz folgen53, sondern selbstständig formuliert werden und als Instrument von größter Überzeugungskraft gebraucht werden54, ohne als solches zwingend zu sein. Im Übrigen legen die Gerichte aus und bestimmen im gleichen Zug Definitionen oder nehmen sogar eine Auslegung vor, die dann als „authentisch“ qualifiziert wird55, wie es etwa mit der interpretativen Rechtskraft der Beschlüsse des spanischen Verfassungsgerichts56 oder den nichtrichtenden Entscheidungen („acuerdo“) der Sala II des Tribunal Supremo über ein bestimmtes Auslegungskriterium geschieht57. Manche dieser Entscheidungen finden sich später in den Gesetzbüchern wieder, indem sie deren Auslegungen oder Definitionen vervollständigen oder nuancieren. Damit wird ein Prozess abgeschlossen, der beim Gesetz beginnt, welches sich selbst definiert und dessen Definitionen dann durch die Rechtsprechung weiterentwickelt werden, indem letztere ihrerseits definiert58. 4. In Anbetracht des bereits Gesagten, scheint es angebracht, die These Beccarias (1764) zu relativieren, was die Bestimmtheit und die Arbeit der Richter betrifft. Auch wenn sein Ansatz sich als gemeinsamer Nenner aufklärerischer Denkströme darstellt59, würde der Hinweis auf den „perfekten“ juristischen Syllogismus noch 53
Vgl. Herberger/D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 326 – 327. So auch für die von der Rechtsprechung geschaffenen Definitionen (vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 172), auf die die Argumentation auch gestützt wird. Für die von der Lehre Geschaffenen, vgl. Klug, Juristische Logik, S. 98 – 99. 55 So Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 224. 56 Über die Urteile des spanischen Verfassungsgerichts mit interpretativen Charakter, vgl. Art. 40.2 LO 2/1979, vom 3. Oktober, des Verfassungsgerichts, und 5.1 LO 6/1985, vom 1. Juli, von der Judikative. 57 Über solche Entscheidungen nicht richtender Art der Sala II des spanischen Tribunal Supremo, vgl. Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos de la Sala Penal del Tribunal Supremo: naturaleza jurídica y contenido (1991 – 2007), Barcelona, 2007, passim. Gelegentlich erhält die Auslegung eines gesetzlichen Terminus durch die Jurisprudenz den Charakter einer (synthetischen) Definition und für diese gilt dann das weiter oben über die Wahrheitskriterien bei solchen Gesagte. So würde etwa die Bedeutung des Begriffs „einwilligen“, „bewilligen“ eingeschlossen, keine analytische, sondern synthetische Behauptung (Definition?) darstellen, deren Gültigkeit an dem Vergleich vom definens, nicht mit dem definiendum des natürlichen Sprachgebrauchs, sondern den Gesetzen der Logik (neben der inneren Kohärenz) gemessen werden könnte. Dabei ist zu beachten, dass man in einem solchen Fall kritisieren könnte, dass noch nicht einmal die sprachliche Logik beachtet wurde (die passive Stimme gegenüber der aktiven). Über den nichtrichtenden Beschluss der Sala II des spanischen Tribunal Supremo, der diese Auslegung verallgemeinert hat, vgl. Íñigo Corroza/ Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 370 – 374. 58 Vgl. supra, Fn. 50. Besonders deutlich am spanischen Bsp. des Falschgeldbegriffs von 1995 (Art. 386 span. CP) und erweitert 2010 (Art. 299 span. CP), ausgehend von der nichtrichtenden Entscheidung der Sala II des Tribunal Supremo, die diese Auslegung hervorgebracht hat: vgl. Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 320 – 324. 59 Vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, aptdo. 9.2, auf S. 122 (Übers. Ruiz Miguel), mit Verweisen (auf S. 179 – 180). Wie Ferrajoli, ibidem, u. a. feststellt, ist dieses Ideal von Klarheit und Präzision „niemals ganz erreichbar“. 54
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nicht einmal bei naiver Betrachtung standhalten. So kämen auch andere Verfechter des Gesetzlichkeitsprinzips der Aufklärung nicht auf die Idee zu glauben, dass ein Gesetz jeden möglichen Fall mit Präzision definieren kann; in ihren Darstellungen kann man vielmehr einen gewissen „Realismus“ beobachten. So etwa bei Feuerbach, der der Idee von Gesetzlichkeit die eines mögliches Rückgriffs auf eine analogia legis durch den Richter hinzufügt. Eine der Absichten Feuerbachs, als er die Revision (1799 – 1800) verfasste, war es, die Willkür der juristischen Praxis (Sonderstrafen) dieser Zeit einzudämmen;60er setzt sich aber nicht gegen eine Auslegung des Gesetzes ein, sondern dafür, dass es auslegend angewandt wird61. Eigentlich distanziert sich Feuerbach ausdrücklich von der Meinung Beccarias, wonach richterliche Auslegung nicht möglich sei62. Aus diesem Grund erkennt er auch die Möglichkeit der Analogie (legis) und Teleologie an63. 60 Tatsächlich sind Straffestsetzungen nach des Richters Gnaden nicht möglich: vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 109 ff.; 125; diese letztgenannte Idee bildet den roten Faden der Argumentation in der Revision: vgl. S. 203 ff.: „Er [sc. der Richter] ist weiter nichts als Diener und Executor des Gesetzes“, Revision, I, S. 212; „gegen den Willen des Gesetzgebers ist keine Willkühr des Richters gerecht“, Revision, I, S. 218; „Richter […] ist nur der, der Gesetze auf vorkommende Fälle anwendet, der einzelne Thatsachen unter dieselben subsumirt, der die rechtlichen Wirkungen des Gesetzes mit den rechtlichen Voraussetzungen desselben in concreto verknüpft“, Revision, I, S. 243 (im Text hervorgehoben); „Der Richter steht also blos unter dem Gesetze, ist Diener und Interpret desselben.“, Revision, I, S. 243 (im Text hervorgehoben). 61 Er hält seinen Gegnern vor, dass das Gesetz das genaueste Mittel für die Subsumtion sei (vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 121 – 124). In diesem Kontext des Strafgesetzes nicht nur den Bürger, sondern auch den anwendenden Amtsträger bindend, taucht die lateinische Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Revision das erste Mal auf. 62 Vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 259, Fn. *, wo er schreibt: „Diese Behauptung [von Beccaria] … ist doch nur italiänischer Witz.“; auch Revision, II, S. XLI-XLII. Aber diese Befugnis des Richters setzt in keiner Weise die Fähigkeit, vom Gesetz, welchem er verpflichtet ist und welches er ohne Strafmilderung oder -schärfung anwenden muss, abzuweichen, voraus: „die Aufgabe des Richters besteht nur in der Ermittlung des Sachverhaltes und dessen Subsumtion unter das Gesetz“, Revision, I, S. 386; II, S. 3. Es ist festzustellen, dass Feuerbach nach alledem etwas anderes unter Subsumtion versteht als Beccaria. 63 Tatsächlich vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 193 – 196, 264 – 265. Feuerbach akzeptiert die analogia legis; zeigt Zweifel gegenüber der analogia iuris (vgl. ibidem, S. 196); und lehnt ab, was er „Aehnlichkeit“ nennt (nicht eigentlich eine Analogie im juristischen Sinne – geäußert in Revision, II, S. 17: so ist jemanden betrunken machen, vergiften ähnlich). Der gleiche Feuerbach fasst seine Position wie folgt zusammen: „Aus allen diesen [sc. Argumente gegen eine analogische Extension, wie sie Grolmann und Kleinschrod angesichts einer Karolinger Vorschrift vertraten] folgt denn, glaube ich, zur Genüge, daß Handlungen, welche in den Gesetzen nicht ausdrücklich gennant sind, nur dann gestraft werden können, wenn sie stillschweigend in dem Gesetze selbst enthalten sind; mithin wenn 1) der bennante Fall als Art oder species unter der Gatung oder Art des bennanten Falls enthalten, und 2) die ratio legis auf denselben anwendbar ist“, Revision, II, S. 32 – 33 (im Text hervorgehoben). Man kann also festhalten, dass Feuerbach die Auslegung verteidigt (der Fall 1) und auch die analogia legis (Fall 2). Über die Ungenauigkeit von Feuerbach im Bezug auf die Analogie, vgl. Langhein, Das Prinzip der Analogie als juristische Methode. Ein Beitrag zur Geschichte der methodologischen Grundlagenforschung vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin, 1992, S. 81 – 84.
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Und Feuerbach ist nicht der Einzige, der anerkennt, dass die Arbeit des Richters, obwohl eine Beschränkung nötig, sich nicht auf automatisierte Gesetzesanwendung reduzieren lässt64. So sieht das etwa auch Marat (1790), der einen gewissen Entscheidungsspielraum des Richters verteidigt65. Bei Lardizábal (1782) tritt die Frage einer ernstlichen Gesetzlichkeit hinter derjenigen nach Qualität und Art und Weise der Verhängung von Strafen zurück66. Die These Beccarias bzgl. des Automatismus’ des juristischen Subsumtionsvorgangs bleibt eine nicht sehr realistische Idee, die die Zeit und die Beiträge der Hermeneutik widerlegt haben. Was den hier zitierten Autoren wiederum gemeinsam ist, ist der Wunsch, die richterliche Rechtsanwendung auf die im Gesetz gesetzten Spielräume zu begrenzen und damit Willkür zu vermeiden. Das ist die rechtsstaatliche Beschreibung des Gesetzlichkeitsprinzips der Aufklärung, die man als „realistischer“ bezeichnen kann. Damit ist die aufgezeigte richterliche Arbeitsweise weit entfernt davon, sich der Forderung Beccarias anzunähern, Richter sollten „Strafgesetze aus dem gleichen Grund nicht auslegen, aus dem sie keine Gesetzgeber sind“67. Die Definitionen, wie weiter oben bereits festgestellt wurde, sind einerseits tatsächlich Faktoren, die als Auslegungshilfe den Anwendungsbereich der sie enthaltenden Gesetze erweitern, andererseits versteht man sie als Instrumente der Beschränkung des ius puniendi. Es handelt sich also, anders als gedacht, um keine sehr effektiven Instrumente.
IV. Was nützen Definitionen in der Auslegung des Rechts? 1. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die Verwendung von Definitionen nicht gleichbedeutend mit einem rechtsstaatlichen Strafrecht ist. Weder im legislativen Bereich noch in seiner Anwendung durch die Gerichte findet das Strafrecht Grenzen durch Definitionen. Eine Beschränkung kommt allenfalls durch andere Faktoren zustande. Definitionen beschränken nicht per se das ius puniendi, reicht es doch bereits, ihren Anwendungsbereich oder ihre Bedeutung auszudehnen. Die Bestre64 Binding, positivistischer Autor, dessen Inhalt und Ausgangspunkt seiner Forschung die Normen – und nicht so sehr das Gesetz – waren, lässt die analogische Konstruktion zu: vgl. Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, Barcelona, 1992, S. 51 – 52. Darüber auch Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen, 1965, § 273 (S. 307). 65 Vgl. Marat, Plan de législation criminelle (1790), S. 27 – 28, zit. durch Jacq, in: Omnis definitio, S. 337. Marat verteidigt in diesem Werk die Präzision des Gesetzes (vgl. span. Übers., in Verantw. v. A.E.L.: Principios de legislación penal, Madrid, 1891, reimpr., Pamplona, 2004, S. 27 – 29), aber auch, dass den Richtern ein gewisser Entscheidungsspielraum zukommen muss (vgl. ibidem, S. 38 – 39 der span. Übers.). 66 Im Discurso sobre las penas (1782), hrsg. v. Moreno Mengíbar, Cádiz, 2002, wird als Ziel die Bekämpfung von Willkür als neuer Gesichtspunkt genannt. Das Maß der Strafe zu begrenzen (insb. durch ihren Nutzen) dominiert gegenüber der Formalität der gesetzlichen Beschreibung, obwohl dieser Aspekt auch nicht fehlt (cap. II, Nr. 37). 67 Vgl. supra, Fn. 47.
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bungen, die Reichweite des Strafgesetzes mit demselben Strafgesetz zu begrenzen, erscheinen illusorisch. Und dies durch die Gerichte zu leisten, ist ebenso unrealistisch. Die „Rolle“ der Definitionen ist, bildlich gesprochen, deshalb eine „kleinere“, wie im Folgenden dargelegt werden soll. 2. Weil Legaldefinitionen Teil des Gesetzes sind, müssen sie als das ausgelegt werden, was sie sind: Teil des Textes. Die Definition ist mithin selbst Auslegungsgegenstand68: Sie gehört zum Gesetz und wird in diesem Sinne ausgelegt. Definitionen sind aber auch mehr als das: Mit ihrem teleologischen Charakter69 sind sie „Text für den Text“, d. h. Gesetzesteile, die eine bestimmte Funktion im Gesetz erfüllen70. Konkret heißt das, dass sie sich, einmal ausgelegt, dazu eignen, andere Passagen der Norm nicht nur sprachlich zu konkretisieren. So können sie etwa das „normative Programm“, wie es im Gesetz enthalten ist, identifizieren71. Deshalb ist es nötig, nicht nur die Begriffe der Definition auszulegen72, sondern dies auch in Hinblick auf deren Sinn im Zusammenhang und deren Zweck zu tun73. 68 Wie an verschiedenen Stellen in der Wissenschaft genannt, verliert sich der Satz „in claris non fit interpretatio“ in logischer Zirkelhaftigkeit. Es wäre zuerst nötig, zu präzisieren, was „klar“ ist, und dies erfordert, den Begriff zunächst daraufhin zu untersuchen, ob er einheitlich ist und keine anderen Bedeutungen zulässt. 69 Vgl. supra, in II. 5. und in III. 3. 70 Vgl. Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 221. Daher tragen Definitionen zur systematischen Einordnung des Gesetzes bei (vgl. Belvedere, in: Omnis definitio, S. 112 – 113) und stellen „Hilfselement zum Verständnis der Grundaussagen des Rechts“ dar (Atienza, El sentido del Derecho, S. 44). 71 Im Konzept der Gesetzesauslegung, wie es von Müller/Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl.: vol. I: Grundlagen; Öffentliches Recht, Berlin, 2002, passim, beschrieben wird, ist der Normtext der Ausgangspunkt und besitzt Geltung, ermangelt aber aus sich heraus der Bedeutung, die er erst im Prozess der Auslegung erhält (vgl. ibidem, Rn. 185 und 226). Vgl. auch Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin, 2001. Die von Müller genannte „strukturierende Theorie des Rechts“ hat dazu beigetragen, den Ansatz, der das Gesetz mit dem Recht gleichsetzt und von der Existenz der lex ante casum und deren syllogistischen Anwendung ausgeht, zu zerstören: vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl.: vol. I: Grundlagen; Öffentliches Recht, Berlin, 2002, passim, Nr. 471 (1. Aufl., 1971; ab der 7. Aufl., 1997, Müller/Christensen). Entsprechend dem genannten Ansatz muss nicht der Normentext determiniert werden, sondern die Norm selbst, eine Entscheidungsnorm (Rn. 225 – 229). „Die Rechtsnorm entsteht nicht ,aus‘ dem Normentext, sondern misst sich an dessen Regelung und muss sich in Relation zu diesem bestätigen“ (Rn. 479). Der Text der Norm „schafft einen Rahmen, in dem die Bestimmung einer Rechtsvorschrift gelingen kann“ (Rn. 177, 305); vom Text (als primär „linguistische Daten“) und Fall aus (als „reale Daten“) wird das Normenprogramm festgelegt (Auslegungsergebnis); von diesem, bezogen auf den vorgestellten Fall, wird der genannte Normenkreis abgesteckt (Komplex dieser Daten des Falls, die Teil der Norm sein müssten). Programm und Kreis der Norm führen zur Rechtsnorm, die als Entscheidungsnorm verstanden wird, wie es sich in dem Urteil darstellt (Rn. 14 – 16; 230 ff.). Das ist der Zeitpunkt, in dem die juristische Aussage „Normativität“ erhält. 72 Vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 263 – 264 (der die „Asymmetrie“ des portugiesischen CP – was aber auf andere Rechtsordnungen übertragbar ist – zwischen den Definitionen des allgemeinen und besonderen Teils hervorhebt).
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3. Für die Auslegung ist ein Fakt von gewissem Wert, nämlich, dass der Gesetzgeber selbst erklärt hat, was ein Begriff bedeuten soll („authentische“ Auslegung74). So ermöglicht im legislativen Bereich der Rückgriff auf Definitionen dem Gesetzgeber einem Terminus einen bestimmten Sinn zu geben. Insoweit heißt definieren, eine authentische Auslegung eines Begriffs, des Definiendum, zu realisieren. So wird es möglich, die voluntas legislatoris zu erfahren. Und in diesem Sinne legt eine gesetzgeberische Definition relativ sichere Kriterien für die Rechtsanwendung fest75, soweit dabei einige Auslegungsvarianten, die extrem vom ursprünglich legislativ Gewollten abweichen, ausgeschlossen werden76. Aus dieser Sicht können Definitionen besser sein, als ihr Fehlen. Man könnte also von einem negativen Effekt sprechen77, wenn Definitionen mit gewisser Bindungswirkung Ergebnisse möglicher Auslegung ausnehmen. Insoweit stellt die Definition sich als Regel dar, die wesentlich die Auslegung lenkt78. Die Auslegung muss aber weiter gehen als das. Letztlich ist sie daher kein End-, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für weiterführende Präzisierungen des Gesetzestextes79. 4. Darüber hinaus präzisieren Definitionen, soweit sie eine deutliche Erklärung des Gesetzestextes vornehmen, nicht schon das Ziel des Gesetzgebers, sondern auch des Gesetzes selbst80. Sie können daher als Ausdruck der voluntas legis dienen. Letztlich ist es bei der Anwendung des Gesetzes der Richter, der eine Auslegung in Hinblick darauf vornimmt, welches Verhalten im Zeitpunkt seiner Anwendung das 73
Vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.II, S. 42. Vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 273. Im Allgemeinen über die Auslegung der authentischen Auslegung (oder explicatio) vgl. Hruschka, La comprensione dei testi giuridici (1972, trad. Perlingieri), Camerino, 1983, S. 91. 75 Darüber hinaus: der Rückgriff auf die voluntas legislatoris (subjektive Auslegung) verschafft dem Richter fundierte Gründe für seine Entscheidung, um „wie ein Gesetzgeber“ vorzugehen. Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg, 1999, Rn. 481. Natürlich muss man sich fragen, ob diese Bindung des Gerichts an die Legaldefinition als Ausdruck der voluntas legislatoris eine ausreichende Grundlage besitzt, da um diese zu präzisieren, im Ursprung des Gesetzes selbst gesucht werden muss (vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 46), quam erat interpretandam! 76 Vgl. Melchionda, in: Omnis definitio, S. 403; De Faria Costa, ibidem, S. 274. 77 Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2003, 9.I, wo er aufzeigt, wie das in seinem Kontext ausgelegte Gesetz die linguistische Grundlage bildet, um Ausgangspunkt der juristischen Auslegung zu sein. In diesem Sinne könnte man von einer negativen Funktion oder einer Limitierung durch Definitionen sprechen: vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 266 und 274. 78 Vgl. so Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 219, der die Legaldefinitionen für Auslegungsregeln hält. 79 Über die Relativierung des Gesetzgeberwillens als Gegenstand der Auslegung vgl. Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 31; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 79.I, S. 627 – 628. 80 Mit den Worten von Vogel, Juristische Methodik, Berlin/New York, 1998, S. 113, sind die gesetzlichen Definitionen Auslegungsergebnisse, aber auch „Gebrauchs- und Verwendungsregeln“ für eine fortwährende Auslegung des Gesetzestextes. 74
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Gesetz verlangt81. Nun gibt der Gesetzgeber vor dem Gesetz gerade dem nach, was von Rechtsprechung und Lehre entwickelt wurde. Die subjektive Auslegung gibt der objektiven den Vortritt, aber nicht einer solchen freien Auslegung ohne jede Regel, sondern einer, die von Grundsätzen geleitet ist. Bei dieser Auslegungsarbeit können Legaldefinitionen Kriterien bilden, um besonders abwegige Auslegungen zu verhindern82. In diesem Sinne könnte man auch von einem positiven Effekt der Legaldefinitionen sprechen. 5. Zusammenfassend lässt sich mithin feststellen, dass Legaldefinitionen nicht in der Lage sind, die Erwartungen an sie als Mittel der Beschränkung des Strafrechts zu erfüllen. Definitionen können dazu dienen einen Begriff zu präzisieren, ist dieser Begriff aber weit gefasst, dienen sie dazu das Strafrecht auszuweiten. Mit anderen Worten: Was durch die Beschränkung des ius puniendi nicht erreicht wird, wird durch dessen Ausweitung bewirkt. Letztendlich ist die Beschränkung des ius puniendi eine dem Rechtsstaatsprinzip eigene Aufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn der Wille eines rechtsstaatlichen Strafrechts gegeben ist und nicht eine bloße Anwendung sprachlicher Regeln stattfindet: Das Strafrecht beschränkt sich nicht nur durch dessen Terminologie, sondern auch durch die Nutzer dieser. Ebenjene sind es, die mit dem Willen, den Anwendungsbereich des Gesetzes zu begrenzen, von einer Terminologie Gebrauch machen, die die Rechtsstaatlichkeit ermöglicht, die proklamiert wird. Daraus ergibt sich, dass das Rechtsverständnis und die Auslegung mehr und etwas anderes sind, als die bloße Anwendung: eine Argumentation anhand von Grundsätzen83. Abschließend bleibt festzustellen, dass Definitionen nicht das beste Mittel sind, das ius puniendi einzugrenzen. Ihre Effektivität ist eingeschränkt und konzentriert sich darauf, herauszustellen, was die voluntas legislatoris und die voluntas legis sind. Es wäre illusorisch in den Definitionen den Schlüssel zu einer rechtsstaatlichen Gesetzgebung zu sehen, aber auch töricht ihnen eine gewisse Brauchbarkeit in der Auslegung absprechen zu wollen.
81 Es ist zweifelsohne notwendig, die bindende Kraft von Definitionen zu relativieren: sie sind i. d. R. weit und es gibt Stimmen, die zur Auslegung auf die soziale Realität des Anwendungszeitpunktes abstellen wollen. Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 4a und 368. Zum Konflikt zwischen objektiver und subjektiver Auslegung vgl. die Darstellung von Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., Stuttgart u. a., 1997, S. 106 ff. 82 Dort haben „Re-Definitionen“ eine wichtige Funktion: den Umfang des Willens abzustecken. Sie eignen sich dazu die Intentionen der vagen Begriffe zu präzisieren, so dass deren Sinn klarer abgegrenzt wird: vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, 2001, aptdo. 9.1, auf S. 120 (Übers. Ruiz Miguel). Vgl. auch Morales Prats, in: Omnis definitio, S. 328. 83 Ich habe einige Vorschläge in diesem Sinne vorgestellt in „Principios y reglas de las decisiones de la Política criminal“, Persona y Derecho 56 (2007), S. 59 – 102; „Política criminal sobre la base de principios“, Revista Peruana de Ciencias Penales 20 (2008), S. 387 – 397; „Principios constitucionales de la Política criminal. Una aproximación“, Revista Peruana de Ciencias Penales, 21 (2009), S. 289 – 327.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip Ein Befehl an den Gesetzgeber ohne Bedeutung für die Gesetzesanwender? Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno*
I. Das Gesetzlichkeitsprinzip und die Auslegung des Strafrechts Muss der Gesetzgeber im Bereich des Strafrechts exakt bestimmte Gesetze erlassen? Garantiert die Bestimmtheit dieser Gesetze die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung? Gilt das Gesetzlichkeitsprinzip auch für diejenigen, die die Gesetze auslegen? Die Strafrechtslehre gibt auf diese drei Fragen üblicherweise die folgenden Antworten: „ja“, „nein“ und „es kommt drauf an“. In diesem Beitrag werde ich aufzeigen, dass die Antworten auf die ersten beiden Fragen zwar richtig sind, dass die dritte Antwort allerdings „ja“ heißen muss. Dies ergibt sich genau aus denselben Gründen wie die Antworten auf die beiden ersten Fragen: Die durch das Gesetzlichkeitsprinzip (nicht nur, aber auch im Strafrecht) geschützten Rechtsgüter und alles, was wir heutzutage über die Gesetzesauslegung im Strafrecht wissen, erwecken den Anschein, im Strafrecht sei eine spezielle Auslegungsmethode notwendig, genauer gesagt, eine Beschränkung des Handlungsspielraums des Auslegenden. Dem ist jedoch nicht so. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der (zu Recht) an den Gesetzgeber gerichteten Forderung nach Bestimmtheit bei der straftatbestandlichen Beschreibung von Verhaltensweisen und der Freiheit, die dem Auslegenden zugestanden wird. In diesem Beitrag werde ich die Probleme dieser widersprüchlichen Haltung aufzeigen. Hierfür werde ich im zweiten Teil die Antwort auf jede der zu Beginn aufgeworfenen Fragen näher erläutern. Im dritten Teil werde ich den tieferen Grund des Problems ansprechen, nämlich das große Misstrauen, das gegenüber dem Gesetzgeber besteht und das große Vertrauen, das dem Auslegenden entgegengebracht wird. Im vierten Teil werde ich die Grundzüge einer Auslegungstheorie für strafrechtliche Vorschriften darlegen, die, in Verbindung mit einer Theorie des Bestimmtheitsgrundsatzes, den Wirkungsgrad des (strafrechtlichen und allgemeinen) Gesetzlichkeitsprinzips auf ein Höchstmaß bringt. * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter.
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II. Drei Fragen, drei Antworten 1. Muss der Gesetzgeber im Strafrecht eindeutig bestimmte Gesetze erlassen? Aber selbstverständlich. Jeder Jurastudent weiß, dass das Gesetzlichkeitsprinzip genau dies fordert, was von der Lehre und der Allgemeinheit der Rechtsanwender auch ganz einhellig anerkannt wird. Die Bestimmtheit des Gesetzeswortlautes (lex certa) ist ein Grundelement des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, das aus gutem Grund die tragende Säule des modernen Strafrechts ist. Der Respekt vor der Würde des Menschen und seiner Fähigkeit zu entscheiden, wie er handeln will (Handlungsfreiheit), erfordert, dass die Bürger ihr Leben frei gestalten können, wofür sie die rechtlichen Folgen ihres Handelns erkennen können müssen. In dieser Garantie der ex-ante-Vorhersehbarkeit besteht das Gesetzlichkeitsprinzip für staatliche Eingriffe. Hiervon ist das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip nur eine Konkretisierung1, deren Besonderheit einem offensichtlichen Grund geschuldet ist: Strafen sind die einschneidendsten staatlichen Reaktionen, die das Verhalten eines Staatsbürgers nach sich ziehen kann, weswegen die Anforderungen an das Gesetzlichkeitsprinzip in dem Rechtszweig, der ihre Androhung und Auferlegung regelt, d. h. dem Strafrecht, besonders hoch sein müssen. Die Vorhersehbarkeit der rechtlichen Folgen ist eine Garantie, die in verschiedenen Ausprägungen des – nicht nur demokratischen – Rechtsstaats gilt. Es ist aber dennoch gerade dem Letztgenannten wesenseigen, dass das Leben der Bürger von den Entscheidungen desjenigen Organs mit der größten Legitimität und öffentlichen Vertretungsbefugnis, des Parlaments, bestimmt werden muss (Demokratieprinzip).2 Wenn die durch das Parlament verabschiedeten Regelungen nicht genau umgrenzt wären, würden am Ende die Gerichte (die mit einer bestenfalls indirekten demokratischen Legitimation ausgestattet sind) entscheiden, welche Verhaltensweisen zur Annahme einer Straftat führen und welche nicht. Aus der größeren demokratischen Legitimität des Parlaments und aus der Tatsache, dass dieses sich durch Gesetze äußert, leitet man auch die Notwendigkeit ab, die Typisierung strafrechtlichen Verhaltens durch diese Art von geschriebenen Regelungen zu vollziehen und strafbarkeitsbegründendes Gewohnheitsrecht auszuschließen3. 1 In diesem Sinne, Krey/Weber-Linn, „Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt“, in: Schwind/Berz/Geilen/Herzberg/Warda (Hrsg.), Festschrift für Günter Blau, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1985, S. 123 – 150, die eine ausgezeichnete Analyse der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprinzip und dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip ausgearbeitet haben. 2 Die Trennbarkeit der beiden Fragen (Vorhersehbarkeitsgarantie und Demokratieprinzip) ist schon unter einem historischen Gesichtspunkt offensichtlich: Die ersten Fassungen des Legalitätsprinzips in der Aufklärung erforderten nicht die demokratische Qualität der bestimmten Gesetzgebung (vgl. Prieto Sanchís, La filosofía penal de la Ilustración, Palestra, 2007, S. 65). 3 Gelegentlich wird vertreten, dass das Gewohnheitsrecht aufgrund seiner Unbestimmtheit nicht strafbarkeitsbegründend wirken dürfe. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Ge-
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Schließlich fördern die Bestimmtheit einer Norm und ihre Allgemeingültigkeit den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und bei der Gesetzesanwendung, da eine unpräzisere Regelung die Gefahr unterschiedlicher Auslegungen vergrößert4. Zusätzlich zu den Begriffen der Vorhersehbarkeit, der demokratischen Legitimität und des Gleichheitserfordernisses wurde in der Strafrechtslehre auch auf den Zusammenhang zwischen der Bestimmtheit und den general-präventiven Erfordernissen hingewiesen. Eine Ansicht, die nach der vorherrschenden Meinung durch die Arbeit von Feuerbach5 in die Diskussion eingeführt wurde und in neuerer Zeit von Schünemann und Roxin6 vertreten wird, geht davon aus, dass eine Norm nur dann ihre präventive Wirkung entfalten kann, wenn die gesetzliche Anordnung klar verständlich ist. Hiergegen werden viele unterschiedliche Einwände erhoben. Einige sind unberechtigt, andere sind dagegen kaum zu widerlegen. Zu den unzutreffenden Einwänden gehört die Ansicht einiger Autoren, die bezweifeln, dass Menschen sich wirklich aus Furcht vor Strafe legal verhalten, so dass die großen und kleinen Bestimmtheitsprobleme letztlich irrelevant seien. Diese Kritik ist insoweit berechtigt, wie sie behauptet, dass die Menschen teilweise und vielleicht sogar hauptsächlich aus anderen Gründen als der Angst vor Strafe das Gesetz befolgen7. Aber diese Feststellung, die die meiste Zeit für die Mehrheit der Bürger gilt, beeinträchtigt nicht die Richtigkeit der weniger weitreichenden Aussage, dass die Strafandrohungen manchmal Personen motivieren, für die andere Anreize nicht ausreichend waren. Wie die meisten empirischen Fragen, mit denen sich die Sozialwissenschaften befassen, kann die Frage, ob die Strafandrohung präventiv wirkt oder nicht, nicht mit einem „alles oder nichts“ wohnheitsrecht, genauso wie mündlich überlieferte Regelungen, Bestimmtheitsprobleme aufwirft. Dennoch gibt es auch gewohnheitsrechtliche Regelungen, die – insbesondere auf regionaler Ebene – eine hohe Bestimmtheit aufweisen. Ohne noch weiter auszuholen: Das britische Common Law arbeitete seit seiner sehr umfassenden Kodifikation im 19. Jahrhundert mit dem Gewohnheitsrecht, das auch Straftatbestände enthielt, und auch noch heute erkennen in den USA einige Bundesländer (nicht aber das Bundesrecht) die „Common Law Crimes“ an. 4 Eine ausgezeichnete Analyse dieser Grenzen des Gesetzlichkeitsprinzips, die außerdem zwischen objektiven und subjektiven Deutungen bezüglich der juristischen Sicherheit differenziert, enthält Navarro Frías, Mandato de determinación y tipicidad penal, 2010, S. 23 – 61. 5 Jedoch lässt sich diese Auffassung, wie Montiel, Analogía favorable al reo. Fundamentos y límites de la analogía ,in bonam partem‘ en el Derecho penal, 2009, S. 68, Rn. 144 zeigt, schon in der Arbeit von Beccaria aus dem Jahre 1764 finden. 6 Schünemann, Nulla poena sine lege? Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, passim, insbes. S. 11 – 15; Roxin, Strafrecht, AT, Bd. I, 4. Aufl., 2006, S. 147 – 148. Für Roxin ist die Bestimmtheit eines Gesetzes eine Voraussetzung sowohl der negativen als auch der positiven Generalprävention. 7 Eine auf der Psychologie der Legitimation (besonders der der Wahrnehmung der Legitimität) basierende Argumentation in diesem Sinne findet sich bei Tyler, Why People Obey the Law, Princeton 1990, Neudruck 2006), passim.
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beantwortet werden. Es geht vielmehr darum, ob die drohende strafrechtliche Reaktion einen Anreiz dafür liefert, sich rechtmäßig zu verhalten. Nachdem die Exzesse einiger kriminologischer Orientierungen in den siebziger und achtziger Jahren überwunden wurden, haben wir heutzutage genügend empirische Erkenntnisse gesammelt, um diese Frage bejahen zu können: Strafen, und besonders das Bestehen eines Strafrechtssystems, das eine erhebliche Verurteilungswahrscheinlichkeit sicherstellt, haben eine präventive Wirkung8 (wenngleich diese weniger stark ist, als das die klassische Theorie der Abschreckung behauptete)9. Wenn die Androhung von Strafe präventive Auswirkungen auf sonst unzureichend zur Normtreue motivierte Bürger haben kann, wird der vorgebrachte Einwand beseitigt. Die These, das Gesetzlichkeits- und das Bestimmtheitsprinzip hingen mit der Generalprävention zusammen, wirft in Wirklichkeit ein anderes Problem auf: Diese Behauptung ist falsch, da die Generalprävention auch sehr gut ohne klar bestimmte Normen funktioniert und sie de facto sogar wirksamer ist, wenn das Gesetz unklar ist (auch wenn sie dann weniger Legitimität besitzt): Wenn der Rahmen eines strafbaren Verhaltens nicht klar umrissen ist, die Sanktion für einen Normverstoß aber hinreichend streng ist, dann werden die Bürger dazu neigen, nicht nur diejenigen Handlungen zu unterlassen, von denen sie denken, dass sie strafbar sind, sondern auch solche, bei denen sie dies nur für möglich halten. Ebenso könnten die Strafverfolgungsbehörden Verhaltensweisen verfolgen und sanktionieren, deren Bestrafung der Gesetzgeber beim Normerlass gar nicht im Sinn hatte, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass eine solche Verfolgung oder Sanktionierung nützlich ist, „um ein Exempel zu statuieren“. Die These, dass die Klarheit der gesetzlichen Regelung für die Generalprävention von Bedeutung ist, basiert auf dem nicht verwirklichbaren aufklärerischen Traum von Bürgern, die die gesetzlichen Verfügungen lesen, um daran ihr Verhalten auszurichten. Jedoch hat die Mehrheit der Bürger zumindest in den Rechtsordnungen der komplexen Gesellschaften einen über die sozialen Normen gehenden Zugang zur Gesetzmäßigkeit, wobei auf völlig rationale Weise eher ein besonderes Augenmerk 8
Dies wird auch von den Kritikern der Abschreckungstheorie anerkannt, vgl. z. B. Robinson/Darley, „Does Criminal Law Deter? A Behavioral Science Investigation“, in: Oxford Journal of Legal Studies 24:2, 2004, S. 173 – 205. Gelegentlich wird kritisch behauptet, dass die Wahrscheinlichkeit einer Sanktion wichtiger sei als ihre Ernsthaftigkeit. Das ist sicher wahr (vgl. nur Doob/Webster, „Sentence Severity and Crime: Accepting the Null Hypothesis“, in: Tonry (Hrsg.), Crime and Justice Bd. 30, 2003, S. 143 – 195), aber es ist nicht leicht, diesen Einwand zu berücksichtigen: Die Wahrscheinlichkeit ist wichtiger als die Schärfe der Sanktion, aber damit sie eine präventive Wirkung hat, muss die Sanktion ausreichend scharf sein. Eine Wahrscheinlichkeit von 95 %, dass eine Geldstrafe verhängt wird, die 0,005 % des Einkommens des Rechtssubjekts darstellt, wird wohl nicht abschreckend wirken. 9 Die klassische Abschreckungstheorie ist der Vorschlag einiger Autoren wie Beccaria oder Bentham, die durch die gesetzliche Androhung ausgezeichnete abschreckende Ergebnisse prophezeiten. Die moderne Abschreckungstheorie erkennt an, dass die präventiven Wirkungen gleichzeitig wesentlich moderater und schwerer zu erreichen sind. Zu dieser Frage vgl. Apel/Nagin, General deterrence: a review of recent evidence, in: Wilson/Petersilia (Hrsg.), Crime and Public Policy, 2011, S. 411 – 436.
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auf die Verfolgungsrichtlinien gelegt wird, welche faktisch in der fraglichen Rechtsordnung bestehen, als auf die anscheinend in den Gesetzestexten enthaltene Botschaft und deren Bestimmtheitsgrad. Man stelle sich eine Diktatur vor, die folgende Anordnung erlässt: „Derjenige, der entgegen der öffentlichen Ordnung handelt, wird mit Freiheitsstrafe bestraft“. Man wird kaum annehmen können, dass die diesem Regime unterworfenen Bürger geneigt sind, ihr Glück auf die Probe zu stellen, nur weil der Rahmen des verbotenen Verhaltens und die Sanktion nicht klar umrissen sind. Nein, sie werden das zumindest nicht tun, ohne vorher abgewartet zu haben, wie die Strafverfolgungsbehörden und die Richter dieses Systems sich verhalten und welche Verhaltensweisen sie als „Handlungen gegen die öffentliche Ordnung“ ansehen. Selbstverständlich ist eine kriminalpolitische Struktur, die auf dem Fehlen der Bestimmtheit des strafrechtlichen Systems basiert, gänzlich illegitim. Dennoch sind die Legitimität der Abschreckung und ihre faktische Wahrscheinlichkeit verschiedene Fragen. Zur Widerlegung der These, die Bestimmtheit sei als Voraussetzung der Abschreckung erforderlich, muss einzig und allein gezeigt werden, dass die Bestimmtheit als tatsächliche Frage keine Voraussetzung der Abschreckung ist, sondern sie diese vielmehr sogar behindern kann (und, wenn man vom empirischen auf das normative Gebiet übergeht, dass wir gerade dies wollen). Letztendlich zeigt sich, dass es genügend Gründe dafür gibt, die zu Beginn gestellte Frage, ob der Gesetzgeber in der strafrechtlichen Materie exakt bestimmte Gesetze zu erlassen hat, mit „ja“ zu beantworten. Dennoch lassen sich diese Gründe mit keinem spezifischen Charakteristikum des Strafrechts erklären, außer mit seiner Eigenschaft als schärfstes Schwert des Staates: Das spezielle Erfordernis der Bestimmtheit im Strafrecht ist die Konsequenz der enormen Schwere der Folgen auf diesem Gebiet. Dies ist vollständig kompatibel mit der Berücksichtigung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips als einer besonderen Ausprägung des allgemeineren Gesetzlichkeitsprinzips für staatliche Eingriffe. 2. Garantiert die Bestimmtheit einer gesetzlichen Anordnung die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung? Ganz offensichtlich nicht. In unserer post-formalistischen Zeit weiß jeder Jurist, der etwas auf sich hält, dass die Anwendung gesetzlicher Normen kein „logisch-deduktiver“ Prozess ist, durch den – ohne Wertung – aus dem Wortlaut der Norm der Sinn hinter den Wörtern abgeleitet wird, damit diese auf den Fall angewendet werden kann. Das einzige Problem bei der vorherigen Antwort ist die bemühte Abgrenzung zu früheren Auffassungen. Natürlich ist die Anwendung gesetzlicher Normen kein algorithmischer Subsumtionsvorgang – das wissen und wussten aber auch die Vertreter einer „formalistischen“ Lehre (wer auch immer als solcher angesehen
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wird)10. Ansonsten ließe sich nicht erklären, dass über die Auslegungsvorschriften und -gegenstände diskutiert wurde. Außerdem ist es evident, dass alle Autoren, die sich irgendwann einmal Formalisten genannt haben, solche Diskussionen auch häufig geführt haben. Heute, wie auch schon damals, sind wir Juristen uns sehr wohl bewusst, dass dieselbe Regelung sehr unterschiedliche Auslegungen und Anwendungen ermöglicht, je nachdem, welche Auslegungsregeln angewandt werden und was als Auslegungsgegenstand angesehen wird (historisch gesehen wurden hauptsächlich zwei Auslegungsgegenstände vertreten: den Zweck der Regelung oder die Bedeutung ihres Wortlautes zu ergründen). Somit ist auch in diesem Fall folgende Antwort richtig: Die Bestimmtheit einer gesetzlichen Anordnung garantiert nicht die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung. Die erste Antwort hat aufgezeigt, wie wichtig die Vorhersehbarkeit der rechtlichen Folgen für die Bürger bezüglich der Ausübung der Handlungsfreiheit ist. Gleichzeitig hat sie gezeigt, wie die Regierungsweise einer Gesellschaft Auswirkungen auf die Legitimität der demokratischen Systeme hat (Demokratieprinzip) und wie die Gleichheit vor dem Gesetz gefördert werden muss (Gleichheitsgrundsatz). Die zweite Antwort zeigt uns, dass die Gesetzesauslegung nicht nur die Vorhersehbarkeit und die Gleichheit bei der Gesetzesanwendung beeinträchtigen kann, son10
In den letzten Jahren häuften sich Untersuchungen, die bewiesen haben, dass die furchteinflößendsten „Formalisten“ – ernsthaft betrachtet – gar nicht so furchteinflößend und formalistisch sind, wie man denkt: Grey rettet Langdell (Grey, „Langdell’s Orthodoxy“, in: University of Pittsburgh Law Review, Herbst 1983, S. 1 – 53; ebenso, „Modern American Legal Thought“ (Rezension von „Patterns of American Thought“, von Neil Duxbury), in: Yale Law Journal, November 1996, S. 495 – 497); Haferkamp resozialisiert Puchta (Haferkamp, Hans-Peter: Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004); Ogorek und Montiel humanisieren den „Subsumtionsautomaten“ von Montesquieu (Ogorek, „Die erstaunliche Karriere des ,Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?“, in: Prittwitz et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag, S. 127 – 140; Montiel, Analogía favorable al reo, 2009, S. 63 – 66); Ortiz de Urbina zeigt, dass die Gesetzgeber der Aufklärung doch nicht so naiv waren und dass der berühmteste strafrechtliche Vertreter des Formalismus, Karl Binding, keiner der üblichen Definitionen des Formalismus entspricht (Ortiz de Urbina, La excusa del positivismo. La presunta superación del „positivismo“ y el „formalismo“ por la dogmática penal contemporánea, besonders Kapitel IV). Im Werk von Tamanaha (Beyond the Formalist-Realist Divide: The Role of Politics in Judging, 2010, besonders die Kapitel 2, 3 und 4) „findet sich eine große Anzahl von Belegen, die beweisen, dass während der sogenannten formalistischen Ära viele der wichtigsten Juristen vollkommen realistische Standpunkte bezüglich des Rechts und der Arbeit des Richters vertraten“ (Tamanaha, „Unsupported Assertions about the Formalist Age: A Response to Leiter“, in: Balkinization, 9. September 2010. Abrufbar unter http://balkin.blogspot.com/2010/09/un supported-assertions-about-formalist.html). Wie Montiel gezeigt hat (Analogía favorable al reo, 2009, S. 63), scheint gerade Beccaria der einzige Autor zu sein, der vor diesem „mechanistischen Formalismus“-Vorwurf nicht gerettet werden kann (siehe auch Prieto, La filosofía penal de la Ilustración, 2007, S. 107 – 108: „Beccaria hat uns die entschiedenste Formel von dem, was man als mechanistische Konzeption der Interpretation kennt, hinterlassen“). Die exzessive Aussage dieses Autors ist nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, dass er sein Werk mit kaum 25 Jahren geschrieben hat und dass seine Zielsetzung eher philosophischpolitischer als strafrechtlicher Art war (und in der Tat hat Beccaria, worauf Prieto, a.a.O., S. 99, hinweist, niemals wieder eine strafrechtliche Abhandlung geschrieben).
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dern auch die Vorstellung zu Fall bringen kann, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit von Verhaltensweisen zu entscheiden hat. Somit sind die Auslegungsmethoden gerade für das Verständnis und die Wirkkraft des Gesetzlichkeitsprinzips von größter Bedeutung. Dies bringt uns zur nächsten und letzten Frage: 3. Gilt das Gesetzlichkeitsprinzip auch für diejenigen, die die gesetzlichen Anordnungen auslegen? Die Stellungnahmen in der Lehre und von Seiten der Rechtsanwender geben auf diese Frage eine sehr viel weniger eindeutige Antwort als wir sie auf die Frage nach der Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips für die Aufgaben des Gesetzgebers erhalten haben. Im Bereich der Auslegung ist die Antwort kein eindeutiges „Ja“, sondern vielmehr ein „Jein“. „Ja“, weil – abstrakt gesehen – gefordert wird, dass der Auslegende keine unvorhersehbaren Auslegungen vollziehen und noch viel weniger Vorschriften analog anwenden darf11. „Nein“, weil die Kriterien, mit denen man über die Extravaganz einer Auslegung oder die Grenzen einer Analogie12 und andere Formen der Interpretation entscheidet, sehr lax ausgestaltet sind und daher einen niedrigen Anforderungsgehalt haben, der nichts mit der entschiedenen Haltung zu tun hat, mit der man die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots fordert. Das strikte Verbot einer Analogie zum Nachteil des Beschuldigten geht in erster Linie mit einem deutlichen Mangel an konzeptueller Bestimmtheit bei der Festlegung der Umrisse dieser Art der Rechtsfortbildung und seiner Unterscheidung von anderen Auslegungs- und Rechtsfortbildungstechniken einher. Mit den Worten von Montiel: „Das Fehlen eines kohärenten methodologischen Modells hat das Analogieverbot ständig der Lächerlichkeit und dem Etikettenschwindel ausgesetzt (…). 11 Für die Festlegung des strafbaren Verhaltens und der verhängbaren Strafen ist der unbestimmte Begriff des „Analogieverbots“ zusammen mit dem Bestimmtheitsgebot, dem Rückwirkungsverbot und dem Verbot des Gewohnheitsrechts in unseren Rechtsordnungen eines der Korollare des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (s. hierzu Roxin, AT, Bd. I, 4. Aufl., 2006, S. 148 – 158, und dort S. 148: „Das Analogieverbot stellt die Aufgabe, die zulässige gesetzestreue Auslegung von der verbotenen rechtsschöpferischen Analogie abzugrenzen.“). Nach der herrschenden Meinung richten sich das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot an den Gesetzgeber, während sich das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts und das Analogieverbot an den Richter richten. Genau genommen wurde vertreten, dass das Analogieverbot das Bestimmtheitsgebot auf die Rechtsanwendung „erstreckt“. In jedem Fall handelt es sich um eine sehr nuancierte „Erstreckung“ (hierzu Kuhlen, „Zum Verhältnis von Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot“, in: Dannecker/Langer/ Ranft/Schmitz/Brammsen (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, Carl Heymann, Berlin/New York 2007, S. 89). 12 Obwohl die hier untersuchte Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips für gewöhnlich „Analogieverbot“ genannt wird, handelt es sich dabei um einen unzureichenden Ausdruck, da man allgemein davon ausgeht, dass das Korollarium nicht nur das Analogieverbot im engeren Sinne enthält, sondern auch andere Methoden der Rechtsauslegung und -fortbildung zu Lasten des Beschuldigten umfasst (z. B. die teleologische Reduktion eines Rechtfertigungsgrundes). Vgl. dazu Kuhlen, Otto-FS, 2007, S. 96 – 97.
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Ein klares Beispiel findet sich darin, dass in bestimmten Fällen weite Auslegungen akzeptiert werden, Analogien aber strikt abgelehnt werden, wobei gleich darauf die weite Auslegung jedoch sehr ähnlich definiert wird wie die Analogie, womit eine als weite Auslegung getarnte Analogie vorliegt“.13 Letzteres ist immer dann der Fall, wenn man als weite Auslegung „jede mögliche Auslegung“ begreift, „die den strafrechtlichen Vorwurf auf Verhaltensweisen ausdehnt, die außerhalb des möglichen Wortlautsinnes stehen“ und fordert, dass dies zu vermeiden ist14, man aber später darlegt, dass die weite Auslegung genau diejenige ist, bei der der Auslegende „über den Normtext hinausgeht und seine Reichweite ausdehnt, um dessen wahren Sinn herauszufinden. Ihre Grenze findet sich in der analogen Auslegung, die im Strafrecht verboten ist“15. In diesem letzten Punkt scheinen die analoge und die weite Auslegung nicht das Gleiche zu sein, und nur die Analogie scheint eine verbotene Auslegungsart zu sein. Vorher wurde jedoch gesagt, die analoge Auslegung bedeute, über den Wortlaut des Strafgesetzes hinauszugehen16, was auch über die weite Auslegung gesagt wurde.17 Demnach werden wir nicht genau herausfinden, wie der Autor die eine oder die andere Auslegungsmethode begreift (selbst wenn man aus dialektischen Gründen annimmt, dass die Analogie eine Art Auslegung und keine Rechtsfortbildung ist). Daher können wir weder zwischen den beiden Auslegungsmethoden differenzieren, noch wissen wir, ob die Auslegung, die den Gesetzeswortlaut überschreitet, um den wahren Sinn der Norm herauszufinden, akzeptabel ist oder nicht. Auf die gleiche Weise wird gelegentlich der Wert des Wortsinns gegenüber der teleologischen Auslegung betont, indem man behauptet, Letztere werde durch ihn begrenzt,18 dann aber später einräumt, dass die weite Auslegung sehr wohl weiter gehen kann als der Wortlaut. Hierzu wird die weite Auslegung unter Berufung auf den Wortlaut und den Geist des Gesetzes definiert, womit sie von der teleologischen Auslegung praktisch nicht unterschieden werden kann.19 Zweitens besteht eine große Diskrepanz zwischen der Berücksichtigung des Wortlautes einer Norm, wie sie von einer Vielzahl von Autoren zunächst gefordert wird, und seiner Vernachlässigung, wenn nicht gar seines Verschwindens wenige Abschnitte später durch die Zulassung einer Auslegung „gemäß dem Geist des Gesetzes“, die das Ergebnis „korrigiert“, zu dem man zuvor aufgrund der Wortlautauslegung gekommen ist. Diese Frage wird seit vielen Jahren als „Problem der Rangfolge 13
Montiel, Analogía favorable al reo, 2009, S. 130. Berdugo Gómez de la Torre et al., Curso de Derecho Penal, Parte General, 2004, S. 54. 15 Ebd., S. 56. 16 Ebd., S. 55. 17 Ebd., S. 54. 18 s. z. B. Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español. 5. Aufl., 2000, S. 99, der aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips und vor allem als Grenze der teleologischen Auslegung auf der Wichtigkeit der grammatikalischen Auslegung besteht. 19 Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español, 5. Aufl., 2000, S. 101. 14
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der Auslegungsmethoden“ (grammatikalische, systematische, historische und teleologische Auslegung) diskutiert und war Gegenstand einer empirischen Untersuchung von Joachim Rahlf. Hierbei wurden die diesbezüglichen Standpunkte in elf strafrechtlichen Lehrbüchern und Kommentaren sowie in vier rechtsphilosophischen Abhandlungen untersucht. Neun Strafrechtler sprachen sich für eine Rangfolge aus und wiesen innerhalb dieser Auslegungsmethoden der teleologischen Auslegung die Vorrangstellung zu, das heißt der Auslegung, die dem Sinn und Zweck der Norm entspricht.20 Die wichtigste Feststellung hat jedoch einen negativen Charakter: Keines der untersuchten Lehrbücher oder Kommentare stellte den Wortlaut an die Spitze, obwohl an anderer Stelle in dem Werk beteuert wurde, „dass zumindest im strafrechtlichen Bereich ,der mögliche Wortsinn‘ die Grenze der Auslegung darstellt, den Kernbereich der juristischen Methodik ausmacht, welche den Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung verpflichtet ist“21. Wie die klare und deutlich mehrheitliche Akzeptanz einer Analogie zugunsten des Angeklagten beweist, fühlen sich die Strafrechtswissenschaftler aber in Wahrheit nicht dem Rechtsstaatsprinzip und der Gewaltenteilung verpflichtet, sondern der Begrenzung der Strafgewalt des Staates22. Nun ist die Begrenzung der Strafgewalt des 20
Rahlf, „Die Rangfolge der klassischen juristischen Interpretationsmittel in der strafrechtswissenschaftlichen Auslegungslehre“, in: Neumann/Rahlf/Savigny: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 17 – 24. Zwei weitere strafrechtliche Autoren werden unter der Überschrift „Unklare Stellungnahmen“ eingeordnet. Bezüglich der rechtsphilosophischen Texte galt Larenz zusammen mit der Mehrheit der Strafrechtler als Befürworter einer Rangfolge (an deren Spitze auch er die teleologische Auslegung stellte), während Eike v. Savigny, Esser, Kriele und Kelsen zu denjenigen gehörten, die eine solche ablehnten. 21 Neumann, „Der ,mögliche Wortsinn‘ als Auslegungsgrenze in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH“, in: Neumann/Rahlf/Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 42. Neumann geht von der Theorie auf die Strafrechtspraxis über und weist nach, dass, obwohl der BGH methodologische Aussagen im eben genannten Sinn macht, er diese oft durch eine Auslegungspraxis widerlegt, die den möglichen Wortsinn überschreitet. Konkret zeigt Neumann, dass der BGH in den zahlreichen in seine Untersuchung eingeflossenen Entscheidungen nie ausdrücklich anerkennt, dass er gegen den möglichen Wortsinn entscheidet, nicht einmal in den Fällen, in denen dies offensichtlich erscheint. Außerdem weist Neumann nach, dass es keine Fälle gibt, in denen eine Auslegung nur deswegen abgelehnt wird, weil sie über den möglichen Wortsinn hinausgeht (op. cit., S. 43 – 46 und 49 – 50). Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch der Beitrag von Eike von Savigny in demselben Band. Darin werden 168 Entscheidungen untersucht, wobei bei 165 von ihnen die Billigkeitsargumente „gewinnen“. Hierbei wird unter „gewinnen“ verstanden, dass sie – nicht immer ausschließlich – in der Urteilsbegründung benutzt werden. Auch wenn nicht viele Fälle vorliegen, bei denen ein Konflikt mit dem Wortlaut (oder das Eingeständnis eines solchen) vorliegen, „fühlt sich [der BGH in diesen Fällen] bei der Abweichung vom Wortlaut völlig gerechtfertigt“ (Savigny, „Konflikte zwischen Wortlaut und Billigkeit in der Rechtsprechung des BGH“, in: Neumann/Rahlf/Savigny (Hrsg.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 76). 22 Diesbezüglich erscheint es signifikant, dass der Vordenker des modernen Strafrechts, Claus Roxin, der Behandlung des Analogieverbotes 12 Seiten widmet (AT, Bd. I, 4. Aufl., 2006, S. 48 – 159), aber (buchstäblich) nur 5 Zeilen auf die Analogie zugunsten des Angeklagten verwendet. Dies erklärt sich durch die Idee des Autors, dass, im Gegensatz zur Ana-
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Staates ohne Zweifel eine anerkennenswerte Zielsetzung. Doch besteht dabei unvermeidlich das Risiko, dadurch andere, auch sehr wichtige Interessen zu vernachlässigen, wie z. B. die für einen Rechtsstaat typische Forderung, dass die Leitlinien der sozialen Koordinierung durch den Gesetzgeber und nicht durch den Rechtsanwender gesetzt werden müssen. Ohne Zweifel hat der Gesetzgeber diese Grenzen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu schaffen, was einen Perspektivenwechsel des Rechtsanwenders erfordert (gelegentlich wird sogar hochtrabend von einem „epistemologischen Wechsel“ gesprochen), der bei seiner Arbeit das einfache Gesetzesrecht im gleichen Maße wie die Verfassung beachten muss. Trotz der vorhergehenden Aussage, die in Staaten, welche die Verfassung an die Spitze ihrer Rechtsordnung stellen, eine Binsenweisheit ist, bedeutet dies nicht, dass jedwede Abweichung (wer stellt überhaupt fest, dass es sich um eine Abweichung handelt?) von der materiellen Gerechtigkeit eine verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Auch heißt es nicht, dass der Richter automatisch befugt ist, den Gesetzgeber durch eine Rechtsauslegung oder -fortbildung zu korrigieren, wenn Letzterer die verfassungsrechtlichen Grenzen nicht beachtet. Die rechtlichen Normen können den Auslegenden zwingen, gewisse Umstände zu berücksichtigen, die nicht zu einer gerechten Lösung beitragen, und dabei andere Umstände, die zu einer solchen gerechten Lösung beitragen, außer Acht zu lassen. Anders ausgedrückt lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Normen, die mittels der Auslegung erarbeitet werden, sowohl zu viel als auch zu wenig einschließen können23. Ebenso kann man mit klassischeren Worten sagen, dass die Formulierung der gesetzlichen und selbstverständlich auch der strafrechtlichen Regelungen viel weiter reichen kann als der Gesetzgeber es gewollt hatte oder es ratsam wäre (je nachdem, ob die voluntas legislatoris oder die voluntas legis als Maßstab genommen wird). Dass es auch ungerechte rechtliche Lösungen gibt, muss jeder anerkennen, der kein Anhänger des extremen ethischen Legalismus24, des Naturrechts25 oder der logie zum Nachteil des Angeklagten, „die Analogie zugunsten des Angeklagten unbeschränkt zulässig ist“ (S. 159). In Spanien ergibt sich eine andere Situation, weil das positive Recht deutlich auf den Ausschluss einer Analogie, auch zugunsten des Angeklagten, hinweist (Art. 4 Abs. I-III des Strafgesetzbuches). Dennoch ist für eine Vielzahl von Autoren eine Analogie zugunsten des Angeklagten grundsätzlich zulässig, obwohl das positive Recht sie eigentlich ausschließt (s. Cerezo, Curso de Derecho Penal español, Parte general I, Introducción, 6. Aufl. 2004, S. 213 – 214; Rodríguez Mourullo, „Artículos 1, 2, 3 y 4“, in Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código Penal, Bd. I, Art. 1 bis 18, 1999, S. 138 und 160). Im Gegensatz dazu spricht sich eine Minderheit aufgrund der Gewaltenteilung deutlich für einen Ausschluss der Analogie zugunsten des Angeklagten aus (so Álvarez García, Introducción a la teoría jurídica del delito, Tirant lo blanch, S. 28). 23 Diesbezüglich vgl. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of RuleBased Decision-Making in Law and in Life, 1991, passim, insbes. S. 31 – 34; ebenso: Thinking Like a Lawyer, 2009, S. 26 – 29. 24 Aus Sicht dieser letzten Ansicht bringt die rechtliche Regelung eines Verhaltens oder eines Zustandes seine ethische Angemessenheit mit sich, d. h. wenn sich aus dem Gesetz eine Folge ergibt, dann muss diese (zumindest prima facie) als ethisch korrekt angesehen werden. In zu vielen Fällen wird diese Sichtweise mit der für den Positivismus charakteristischen
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Skepsis in ethischen Fragen26 ist. Zum Glück werden all diese Ansätze heutzutage nur selten vertreten, so dass es nicht nötig ist, die Existenz dieses Problems zu verneinen: Es gibt ungerechte rechtliche Entscheidungen, was die Frage aufwirft, was in einem solchen Fall zu tun ist. Historisch wurde vertreten, dass die Ungerechtigkeit der Entscheidungen, zu denen man mithilfe des Gesetzestexts gelangt, dazu berechtigt, sich über den Wortlaut hinwegzusetzen. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens lässt sich mit dem „Geist der Gesetze“ oder dem Willen des Gesetzgebers rechtfertigen, indem man die unglückliche Abfassung der in Frage stehenden Norm korrigiert27. Namentlich im Strafrecht stellt sich eine andere Frage, da das Analogieverbot und die Berufung auf den Wortlaut die Auslegung unbestreitbar begrenzen. Dennoch haben wir gesehen, dass diese Grenze in Wirklichkeit nur für die Analogie zum Nachteil des Angeklagten gilt und dass heutzutage gelegentlich vertreten wird, die Wahrung des Geistes des Gesetzes oder des Gesetzgeberwillens würden eine „weite“ oder „restriktive“ Korrektur der Textauslegung auferlegen, die durchgeführt werden könne, ohne auf eine analoge Anwendung zurückgreifen zu müssen28. begrifflichen Trennung zwischen Recht und Moral verwechselt. Bezüglich dieses groben Fehlers s. Ortiz de Urbina, La excusa del positivismo, 2007. 25 Das Naturrecht würde das Problem leugnen und behaupten, dass bestimmte Möglichkeiten, rechtliche Normen auszulegen (normalerweise die sehr ungerechten, nicht die nur ungerechten) nicht als „Recht“ angesehen werden könnten. Sicherlich wird das Naturrecht gewöhnlich durch weitere Begriffe definiert, wobei die Ungerechtigkeit des „Gesetzes“ und nicht die der „Möglichkeiten, das Gesetz auszulegen“ vertreten wird. Jedoch ermöglicht (und verpflichtet) die gegenwärtig übliche Unterscheidung zwischen dem Gesetzestext und der ihm entnehmbaren Norm, sich eher auf die Auslegungsmöglichkeiten der Gesetzestexte zu beziehen als auf die Gesetzestexte selbst. 26 Der Skeptiker in ethischen Fragen kann entweder einwenden, dass es keine verbindlichen Gerechtigkeitskriterien gibt und dass es deshalb keinen Sinn ergibt zu sagen, etwas wäre ungerecht, oder dass diese Kriterien nicht mit den Mitmenschen diskutiert werden können, so dass eine Person höchstens behaupten kann, ihr persönlich erscheine eine Situation ungerecht. 27 Beide Bezugspunkte können einander sehr nah oder sehr fern sein, je nachdem, wie man den Ausdruck „Gesetzgeberwillen“ interpretiert. Wenn er faktisch ausgelegt wird (was wollte der Gesetzgeber wirklich?), dann kann das Ergebnis sehr weit entfernt und sogar völlig entgegengesetzt zu dem Ergebnis sein, das „der Geist des Gesetzes“ bestimmt. Wenn der „Gesetzgeberwille“ hingegen in einem normativen Sinne ausgelegt wird, also als „der Wille, den ein ehrenhafter Gesetzgeber hätte“, dann gibt es kaum Unterschiede zum Begriff des „Geistes des Gesetzes“ (hierzu s. López Medina, La letra y el espíritu de la ley, Reflexiones prágmáticas sobre el lenguaje del Derecho y sus métodos de interpretación, Universidad de los Andes/ Temis, Bogotá 2008, S. 155 – 156). 28 Entsprechend der bekannten Ansicht von Alchourrón/Bulygin, Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales, 1975, S. 100 – 102, gehe ich davon aus, dass die Analogie keine Form der Auslegung, sondern der Rechtsfortbildung ist, die nur angewendet wird, wenn sich keine Lösung findet (Gesetzeslücke) oder die Lösung völlig unpassend wäre (axiologische Lücke). In diesem Sinne auch Rodríguez Mourullo, „Art. 1, 2, 3 und 4“, in: Comentarios al Código Penal, Bd. I, 1999, S. 159, und Montiel, Analogía favorable al reo, 2009, passim, insbes. S. 140 – 146, dem wir die wichtigste Untersuchung über die Bedeutung dieser Unterscheidung für das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip verdanken.
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Gegenwärtig erleichtern die größere Präzision der juristischen Methodik und die Existenz von Verfassungen mit einem weiten normativen Inhalt auch die Möglichkeit (vergrößern aber auch das Risiko), den Wortlaut einer Regelung zu überschreiten, da man hierzu nur von einem normtextnahen Verständnis zu einer die Verfassung einschließenden „Rechtsauslegung“ übergehen muss29. Dieses Vorgehen könnte nicht einfacher sein: Da sich sehr wenige Verfassungen nicht auf die Gerechtigkeit berufen, widersprechen Lösungen, die als ungerecht angesehen werden, der Verfassung selbst. Daher stellen sie Hindernisse dar, die mithilfe der Auslegung überwunden werden müssen, welche, wenn es keine Gesetzesauslegung sein kann, eben eine Auslegung der gesamten Rechtsordnung („Rechtsauslegung“) sein muss. Auf diese Weise ist die Überschreitung der Auslegungsmöglichkeiten des Wortlautes als „verfassungskonforme Auslegung“ gerechtfertigt. Es ist möglich, dass der Leser ebenso wie ich zu der Ansicht kommt, dass eine solche Praxis übertrieben und beinahe grotesk erscheint. Auch ist es möglich, dass er auf den Gedanken kommt, hier würde ein gewissermaßen fiktives Feindbild konstruiert. Leider ist dem aber nicht so.
III. Was macht man mit ungerechten gesetzlichen Entscheidungen? Ein Beispiel des spanischen Tribunal Supremo Die unbegrenzten Möglichkeiten einer „korrigierenden“ Auslegung und Rechtsfortbildung und die Gefahr, dass man diese nicht nur zur Vermeidung massiver, sondern auch weniger gravierender Ungerechtigkeit verwendet, zeigt sich in einer Begründung eines jüngeren Urteils des spanischen Tribunal Supremo (oberster spanischer Gerichtshof, entspricht dem BGH, im Folgenden TS) zu Artikel 65.3 des Strafgesetzbuches. Gemäß dieser Vorschrift kann das Gericht in den Fällen, in denen ein Außenstehender an einem Sonderdelikt beteiligt ist, „eine geringere Strafe aussprechen als dies in dem verletzten Gesetz angeordnet wird“30. Der Gesetzgeber benutzt das Wort „können“, das sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch aus juristischer Sicht generell auf eine Befugnis hindeutet (und nicht auf eine Pflicht oder ein Verbot). Dementsprechend verstehen sowohl der allgemeine als auch der juristische 29 Vgl. Lifante Vidal, La interpretación jurídica en la teoría del Derecho contemporánea, 1999, S. 40 – 43. 30 Diese Regelung ist einer harten und gerechtfertigten Kritik ausgesetzt: Die Bearbeitung des Gesetzesentwurfes, unter Beachtung der Mitwirkungen des Consejo General del Poder Judicial (Generalrat der rechtsprechenden Gewalt, das leitende Organ der spanischen Judikative), weist darauf hin, dass der Gesetzgeber höchstwahrscheinlich keine klare Vorstellung von der Ausgangssituation hatte (was ein unzureichendes Verständnis von der Rechtsvergleichung mit einschloss) und dass irrtümlicherweise bei der Gesetzesabfassung Entscheidungen getroffen wurden, die dem ausdrücklichen normativen Ziel widersprachen (hierzu Robles Planas, Garantes y cómplices, La intervención por omisión y en los delitos especiales, 2007, S. 105 – 155). Es handelt sich hierbei um wichtige Fragen der Normanpassung, welche jedoch die folgende Analyse nicht beeinträchtigen.
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Sprachgebrauch die Klausel dahingehend, dass die Richter frei entscheiden können, ob sie die Strafe mildern oder nicht31. Dies ist jedoch nicht die Auslegung des TS, der Folgendes erklärt hat: „Obwohl Art. 65.3 Código Penal (span. Strafgesetzbuch, im Folgenden CP) nur einen fakultativen Strafmilderungsgrund enthält, ist unsere Rechtsprechung, die sich auf Art. 1 Constitución Española (span. Verfassung, im Folgenden CE) stützt, zu dem Entschluss gekommen, dass die Strafe für einen Außenstehenden bei Sonderdelikten notwendigerweise immer geringer sein muss als die des Täters, weil er nicht die Pflicht verletzt hat, deren Verletzung die Tätereigenschaft bestimmt, weswegen der Schuldvorwurf geringer ist“ (STS, 13. Juli 2007, Berichterstatter Bacigalupo).32
Wie man sehen kann, wird unzweifelhaft anerkannt, dass der Gesetzeswortlaut darauf schließen lässt, dass der Gesetzgeber eine Möglichkeit bestimmt hat („Obwohl Art. 65.3 CP nur einen fakultativen Strafmilderungsgrund enthält …“). Dennoch wird unmittelbar danach erklärt, dass die Rechtsprechung des TS auf eine dem Gesetzeswortlaut widersprechende Art und Weise argumentiert. Der Grund dafür ist, dass der Teilnehmer eines Sonderdelikts „nicht die Pflicht verletzt hat, deren Verletzung die Tätereigenschaft bestimmt“. Der normative Anknüpfungspunkt, der es hier erlauben soll, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, wird in Art. 1 CE gesehen („unsere Rechtsprechung, gestützt auf Art. 1 CE“). Ungeachtet des materiellen Grundes, der den TS zu seiner Rechtsprechung motiviert, erscheint es verwunderlich, dass der Anknüpfungspunkt für ein Absehen vom Gesetzeswortlaut Art. 1 der Verfassung sein soll. Im ersten der drei Absätze dieses Artikels, dem einzigen, bei dem man einen Bezug zu der Frage vermuten kann, wird bestimmt, dass „Spanien einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat bildet, der die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und den politischen Pluralismus als die hohen Werte seiner juristischen Ordnung verteidigt“33. Angesichts der Weite der Klausel „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ erscheint es nicht unlogisch, dass der TS sich auf die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und den politi31 Das Fehlen von Kriterien, die dem Richter bei der Entscheidung über die Strafminderung (oder Nichtminderung der Strafe) als Richtschnur dienen, ist ein weiterer kritisierbarer Aspekt, der hier aber nicht behandelt wird. Zu diesem Phänomen, mit zahlreichen Beispielen aus dem spanischen Strafgesetzbuch, vgl. Navarro Frías, Mandato de determinación y tipicidad penal, 2010, S. 56 – 59. 32 Diese Argumentationsweise wiederholt sich in der STS vom 23. 12. 2009, Berichterstatter Varela. Dort wird erneut auf den verpflichtenden Charakter der Strafmilderung hingewiesen: „Obwohl Art. 65.3 CP nur einen fakultativen Strafmilderungsgrund enthält, ist unsere Rechtsprechung, gestützt auf Art. 1 CE, der Ansicht, dass die Strafe eines Außenstehenden bei Sonderdelikten notwendigerweise (…) gegenüber derjenigen des Täters gemindert werden muss“. Im Gegensatz dazu bestätigte die STS vom 25. 01. 2010, Berichterstatter Marchena, kaum einen Monat später den fakultativen Charakter der Strafmilderung. Die Auswirkungen, die die unterschiedlichen Auslegungen bzgl. derselben Regelung für den Gleichheitsgrundsatz bei der Gesetzesauslegung haben, werden infra behandelt. 33 Die anderen zwei Absätze bestimmen Folgendes: „2. Die nationale Souveränität liegt bei dem spanischen Volk, von dem die Staatsmacht ausgeht“ und „3. Die politische Form des spanischen Staates ist die parlamentarische Monarchie“.
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schen Pluralismus bezieht, die zu den höchsten Werten der Rechtsordnung erklärt werden. Auch erscheint die Ansicht nicht unvernünftig, dass von diesen vier Werten nur die Gerechtigkeit und die Gleichheit von der Entscheidung des Gesetzgebers, eine Strafmilderung für die Teilnehmer an einem Sonderdelikt zuzulassen (und nicht verbindlich anzuordnen, so wie es der TS möchte), betroffen sein können. Dagegen erscheint die Meinung sehr wohl unverständlich, dass man lediglich aufgrund des Hinweises auf die Gerechtigkeit und die Gleichheit als höchste Werte des juristischen Systems eine Ermächtigung der Gerichte ableiten könne, die gesetzliche Wertung außer Acht zu lassen (außerdem muss beachtet werden, dass der TS anerkennt, dass der Gesetzgeber sich hier sehr wohl klar ausdrückt, auch wenn dies nicht immer der Fall ist). Die Lösung des TS widerspricht nicht nur dem herrschenden Verständnis von der Bedeutung des Gesetzes in einem demokratischen Staat, sondern sie wendet auch Mittel an, die für den angestrebten Zweck deutlich unverhältnismäßig sind und zu deren Benutzung der TS verfassungsrechtlich außerdem gar nicht befugt ist. Bezüglich des ersten Punktes sticht hervor, dass sehr wenig auf dem Spiel steht, da der Abstand zwischen der Lehre des TS und der gesetzlichen Regelung in Wirklichkeit sehr klein ist. Jeder Richter oder jedes Gericht, der/das der Ansicht des TS über die Verbindlichkeit der Strafmilderung für den Teilnehmer folgt, kann von der Möglichkeit, die der Gesetzgeber ihm gibt, Gebrauch machen und auf diese Weise „Gerechtigkeit herstellen“34. Die „Ungerechtigkeit“, die dazu führt, dass der TS eine „Korrektur“ des Gesetzes für verfassungsrechtlich erforderlich hält, besteht in der Möglichkeit, dass andere Richter oder Gerichte diese Meinung nicht teilen und die Strafe in keinster Weise mildern werden. Denn die zu Art. 1 CE konforme Auslegung des Art. 65.3 CP will sicherstellen, dass kein Richter oder Gericht eine ungeminderte Strafe verhängt, was der Gesetzgeber ja erlaubt. Die verfassungskonforme Auslegung besteht in diesem Fall nicht in der Aufklärung des Sinns eines von dem Gesetzgeber verwendeten Begriffes („können“), sondern vielmehr in dessen Aufhebung und Ersetzung durch einen anderen („müssen“). Ohne jeden Zweifel setzt die Verfassung dem Gesetzgeber Grenzen und ermächtigt einige (aber nicht alle) Rechtsanwender dazu, gesetzliche Vorschriften nicht bzw. nur mit einer bestimmten Auslegung anzuwenden. Aber diese Befugnis zur Korrektur der gesetzgeberischen Arbeit über dessen Kopf hinweg ist für solche Fälle vorbehalten, bei denen es um eine gravierende Verletzung verfassungsrechtlicher Vorschriften mit einem spezielleren Inhalt als der Idee der Gerechtigkeit geht. Und es ist unverhältnismäßig, sie zur Korrektur jeder (vermeintlichen oder tatsächlichen) Ungerechtigkeit zu benutzen. Am Ende des vorherigen Abschnitts habe ich angezweifelt, dass eine Ungerechtigkeit besteht, die den Tribunal Supremo dazu gebracht hat, Art. 65.3 CP contra legem auszulegen. Tatsächlich wird dem TS zu viel zugestanden, wenn man vorbehaltlos annimmt, dass die Teilnehmer eines Sonderdelikts immer eine niedrigere 34 Von nun an werde ich mich nur auf die Gerechtigkeit beziehen, wobei ich davon ausgehe, dass eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes auch eine Ungerechtigkeit ist.
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Strafe verdienen als die Täter. Dies so allgemein zu behaupten bedeutet, die „Verletzung der besonderen Pflicht“ des Täters bei den Sonderdelikten als ein Gerechtigkeitskriterium anzusehen, das alle anderen Gesichtspunkte dominiert. Dies ist jedoch nicht nachvollziehbar. Man denke zum Beispiel an einen Fall, in dem ein millionenschwerer Bauunternehmer die bedrängte wirtschaftliche Situation eines Beamten, der über seinen Bauantrag zu entscheiden hat, ausnutzt und ihm einen Geldbetrag dafür anbietet, dass im Gegenzug zu seinen Gunsten entschieden wird, obwohl er sich völlig sicher ist, dass der Bauantrag nicht die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Nachdem der Beamte einen Monat lang nachgedacht hat, stimmt er aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation zu. Hier besteht eine administrative Rechtsbeugung (bzw. in deutscher Terminologie: Bestechlichkeit) des Beamten auf Grund der Anstiftung durch den millionenschweren Bauunternehmer und zweifellos ist es der Beamte, der seine besondere Pflicht verletzt hat. Dennoch ist es überhaupt nicht offensichtlich, dass der Millionär, der das Ganze erst in Gang gebracht hat und die wirtschaftlich schwache Situation des Beamten ausnutzte, nicht eine zumindest ebenso hohe Strafe wie dieser verdient. Zweitens ist die Handlung des TS auch deshalb falsch, weil er in diesen Situationen keine Handlungslegitimation hat. In Rechtssystemen mit konzentrierter oder spezialisierter Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wie in Spanien oder Deutschland ist die Entscheidung über die Angemessenheit der Verfügungen mit Gesetzesrang mit Blick auf die Verfassung nicht Sache des TS (also allgemeiner gesprochen: der Fachgerichtsbarkeit), sondern einzig des Tribunal Constitucional (span. Verfassungsgerichtshof, im Folgenden TC). Wenn der TS der Ansicht ist, dass Art. 65.3, der 25 Jahre nach der höherrangigen Norm in Kraft getreten ist, verfassungswidrig ist, hat er gemäß Art. 163 CE eine Richtervorlage zu stellen und die Entscheidung des TC abzuwarten.35 Wie oben schon angedeutet, ist dies das Beispiel einer Missachtung des Gesetzestextes im Interesse der Gerechtigkeit, die heutzutage nicht mehr in dem „Geist des Gesetzes“, sondern in dem „Geist der Rechtsordnung“ zu Tage tritt und sich rhetorisch auf die abstrakteren Regelungen der Verfassungstexte stützt. Es ist aber auch ein Beispiel für den momentanen Misskredit der Gesetzgebung, auf den viele Juristen, Theoretiker wie Praktiker, reagiert haben, wie sie schon immer in solchen Situationen reagiert haben: indem sie die Macht der Auslegenden steigerten. Auch wenn man nicht sagen kann, dass der Gesetzgeber diesen Misskredit nicht verdient hat, so ist 35 Art. 163 der spanischen Verfassung schreibt vor: „Wenn ein Organ der Rechtspflege in irgendeinem Prozess erwägt, dass eine Norm mit Gesetzesrang, die in dem entsprechenden Fall angewendet wird und von deren Gültigkeit der Fall abhängt, nicht der geltenden Verfassung entspricht, legt es die Frage dem Verfassungsgerichtshof vor (…)“. Man beachte, dass der Artikel mit „Wenn ein Organ der Rechtspflege“ beginnt, was zweifellos auch den TS einschließt. Man beachte ferner, dass, obwohl das Verfahren mit „Frage der Verfassungswidrigkeit“ überschrieben ist, der Zweifel über die Verfassungswidrigkeit keine Voraussetzung des Verfahrens ist: Auch wenn der gewöhnliche Auslegende fest davon überzeugt ist, dass eine Norm von Gesetzesrang verfassungswidrig ist, muss er erst die „Frage“ stellen.
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doch die gewählte Gegenstrategie – Aufwertung der Auslegung und der Freiheit der Auslegenden gegenüber dem Gesetzestext – nicht sachgemäß.
IV. Gesetz und Auslegender: das Misstrauen von Binding, 125 Jahre später „Die Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung stellt den bedeutsamsten Grundfehler unseres Rechts dar“36.
Vor mehr als 125 Jahren hat ein deutsches Genie diesen Satz geschrieben und heute stimmt die Mehrheit aller deutsch- und spanischsprachigen Strafrechtswissenschaftler dem zu. Wie ich im Anschluss zeigen will, ist dies ein Fehler, sowohl aus axiologischer als auch aus faktischer Sicht. Es besteht im Gegenteil gegenwärtig keine Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung, sondern vielmehr eine Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der Dogmatik und deren Einfluss auf die praktische Rechtsanwendung. Man kann schwer leugnen, dass im Recht (nicht nur im Strafrecht) die Ansichten über das Verhältnis der Gesetzestexte und derjenigen, die sie anwenden, zu Extremen neigen. Mit Schärfe schrieb García Amado „je mehr Rationalität man dem Recht und dem Gesetzgeber einräumt, desto weniger Beachtung schenkt man der juristischen Rationalität; und umgekehrt, wenn die Idee der gesetzgeberischen Vernunft verfällt, sorgt man sich umso mehr um die Rationalität des Richters“37. Gelegentlich wird das Gesetz und der Gesetzgeber erhöht, und gleichzeitig der „ideologische“ Charakter der gerichtlichen Aufgabe angeprangert, während ein anderes Mal davon ausgegangen wird, dass der Gesetzgeber einfach unfähig (wenn nicht etwas schlimmeres) ist und die Verteidigung „des Rechtlichen“ durch das Bündnis der akademischen Lehre mit dem Richter vorbereitet wird, wobei Erstere Letzteren mit Instrumenten zur Korrektur der gesetzlichen Fehlgriffe ausstattet. Dennoch fehlt in den meisten Fällen dem Vertrauen oder Misstrauen, das gegen den Gesetzgeber oder den Richter gehegt wird, eine berechtigte Grundlage. Die Einschätzung der Richterschaft etwa38 bildet zumindest teilweise das Ergebnis einer sich 36
Binding, Handbuch des Strafrechts, Leipzig 1885, S. 7. García Amado, „Razón práctica y teoría de la legislación“, in: Derechos y Libertades, Revista del Instituto Bartolomé de las Casas, Nr. 9, Juli-Dezember 2000, S. 305. Die Idee wurde von dem Autor bereits in seiner Doktorarbeit aufgezeigt, Teorías de la tópica jurídica, Civitas, Madrid 1988, S. 293 – 294. 38 Wie García Amado, Derechos y Libertades, 2000, S. 303, zum Ausdruck bringt, ist das aktuelle Vertrauen auf die richterlichen Fähigkeiten blind. Es stützt sich also nicht auf Argumente, die das Vertrauen tragen, das in die Vernünftigkeit oder die Kompetenz der richterlichen Entscheidungen gesetzt wird. Anders vor einigen Jahren, als man mit Nachdruck den sozialen Ursprung der Richter aufzeigen wollte (vorherrschend obere Mittelklasse und höher) und ohne Weiteres den ideologisch befleckten Charakter aus ihren Entscheidungen abgeleitete. Über die Einseitigkeit dieser Untersuchungen und Feststellungen, vgl. schon Schelsky, 37
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selbst erfüllenden Prognose. Letzteres ist der Fall, wenn von vornherein darauf verzichtet wird, die Gesetzgebung den Kriterien der Rationalität zu unterwerfen (man verzichtet sogar auf die so grundlegende Forderung, dass die Gesetzgebungsprozesse Informationen für die Entscheidungsträger enthalten müssen). Das Ergebnis eines solchen Verzichts ist, dass eine Überprüfung der gesetzgeberischen Rationalität durch ein geeigneteres Organ (vielleicht das einzige), nämlich den Tribunal Constitucional unmöglich gemacht wird. Der TC, der von Juristen gebildet wird, die einer Rechtskultur angehören, für welche die der Norm vorhergehenden Schritte und deren Motivation unerheblich sind, weigert sich, selbst bei den Anordnungen, die Verfassungsvorschriften zur Ausarbeitung von Gesetzen enthalten, die Qualität der Normen und die ihrem Inkrafttreten vorhergehenden Prozesse zu untersuchen, und bringt hierzu verschiedene Gründe mit unterschiedlichem Rechtfertigungsmaß vor39. Gegenwärtig befindet sich die Strafrechtsdogmatik auf einem Höhepunkt der positiven Wertschätzung der Rationalität der Rechtsanwendung und einer vergleichbaren Geringschätzung der Gesetzgebungsmöglichkeiten. Dies ist aufgrund des offensichtlich verbesserbaren Zustands der Gesetzgebung vielleicht nicht verwunderlich. Die Gesetzgebung, als eine der Politik unterworfene Tätigkeit, bleibt dieser auch jetzt verbunden, da sie immer mehr dem ewigen Hin und Her unterworfen ist, das zum größten Teil auf der Verallgemeinerung des politischen Diskurses basiert. Letzterer ist das Ergebnis der Professionalisierung der politischen Parteien in einem Umfeld, welches von der massiven Informationsmenge und dem Wettkampf der Medien, dem gespannten Publikum diese Information anzubieten, beherrscht wird. Dennoch werden bei der Beurteilung des Wertes der Gesetzgebung drei Fehler gemacht: – Aus axiologischer Sicht dürfen die Überlegungen zur Rolle, die der Rechtsanwender oder der Auslegende zu erfüllen hat, nicht vergessen, dass die Gesetzgebung vom Parlament, dem Repräsentanten der Volkssouveränität40, ausgeht, und dass dies schon per se etwas wert ist; wie weiter unten angedeutet wird, schuldet man der Gesetzgebung als Erzeugnis Respekt, und nicht dem Parlament selbst. – Aus faktischer Sicht41 neigt man in den üblichen juristischen Untersuchungen dazu, die wahre Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung, vor deren Überbewertung uns Binding gewarnt hatte, zu vergessen. „Soziologiekritische Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen“, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band III, 1972, S. 609 und neuer Albrecht, Kriminologie 1999, S. 264 sowie Robles Morchón, Sociología del Derecho, 2. Aufl., 1997, S. 263 – 265. 39 So ist es in der spanischen Verfassung, deren Art. 88 bestimmt, dass die von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe (ungefähr 85 % aller Projekte) „vom Kabinett genehmigt werden, welches sie dem Abgeordnetenhaus zusammen mit einer Darlegung der Gründe und der für die Stellungnahme notwendigen Vorgeschichte vorlegt“. 40 Welches in den parlamentarischen Demokratien alleiniger Volksvertreter ist und sich in den Präsidialdemokratien diese Aufgabe mit dem Präsidenten als Staatsoberhaupt teilt. 41 Ich benutze diesen Begriff, um den genaueren Begriff „empirisch“ zu vermeiden, da es unter den Juristen üblich ist, „empirisch“ als Beschreibung für das zu verstehen, was besteht
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– Bezüglich der Art und Weise dieser Bewertung sollten die Möglichkeiten der Gesetzgebung nicht im Hinblick auf ihren deutlich verbesserungsfähigen aktuellen Zustand bewertet werden, sondern entsprechend ihrer abstrakten Möglichkeiten. Ebenso wie sich die Möglichkeiten der juristischen Dogmatik nicht an den Leistungen messen lassen müssen, die die Gerichte eines bestimmten Landes in einem konkreten Moment erreichen, sondern mit den Möglichkeiten, die die Dogmatik in einer Rechtsordnung mit einer passenderen institutionellen Ausgestaltung hätte. Schauen wir uns diese Punkte etwas genauer an:
1. Normativität: der Wert der Gesetzgebung Warum ist die Gesetzgebung so wertvoll? Wenige Autoren haben den Wert des Gesetzes in letzter Zeit so klar beschreiben können wie Jeremy Waldron. Einer seiner letzten Beiträge diente mir auch dazu, diesen Absatz zu ordnen und zu entwickeln42. a) Gesetzgebung und Demokratie43 In unserer politischen Umgebung ist die Gesetzgebung ein demokratisches Produkt, das das Ergebnis einer Tätigkeit ausgewählter Parlamentarier ist, welche sich regelmäßig der Wahl durch das Volk stellen müssen. Es handelt sich um ein konjunkturelles und graduelles Merkmal der Gesetzgebung, das auch in nicht demokratischen politischen Systemen oder in unvollständigen demokratischen Parlamenten vorkommt (da einige ihrer Mitglieder – wie das britische House of Lords – nicht gewählt wurden oder noch umstrittener, weil die Wahlregeln einige Wähler bevorzugen – z. B. diejenigen, die in einem bestimmten Gebiet wohnen). Andererseits gibt es Rechtssysteme, die die demokratische Wahl und Absetzung bestimmter Organe
und über die Sinne wahrnehmbar ist, eine Definition, die aus Sicht eines Wörterbuches annehmbar ist, aber aus Sicht der Wissenschaftstheorie etwas kurz geraten ist. Wenn in Letzterer von „empirischem Diskurs“ gesprochen wird, bezieht man sich auf jeden Diskurs, der mittels der Erfahrung auf seine Wahrheit oder Unwahrheit hin überprüft werden kann. So ist die Behauptung, dass der Leser in diesem Moment mit seinen eigenen Augen einen Text liest, eine empirische Behauptung; möglicherweise ist sie falsch (vielleicht liest irgendjemand ihm den Text laut vor), aber in jedem Fall ist sie durch die Erfahrung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfbar; dies ist ebenso bei der Behauptung, dass der Leser diesen Text morgen um 17.00 Uhr lesen werde, da dies eine Vorhersage ist, die verifizierbar sein wird, sobald der beschriebene Moment eintritt, auch wenn im Moment noch keine gemäß der Erfahrung verifizierbare Tatsache vorliegt (da diese noch nicht eingetreten ist). Somit handelt es sich um eine empirische Vorhersage. Auf dieselbe Weise beziehe ich mich ab jetzt mit dem Begriff der „empirischen“ Möglichkeiten der Gesetzgebung auf ihre faktischen Möglichkeiten, unabhängig davon, ob diese von den Gesetzgebern wahrgenommen werden oder nicht. 42 Waldron, „Representative Lawmaking“, in: Boston University Law Review, Bd. 89, 2009, S. 335 – 355. 43 Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 335 – 336.
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der Rechtspflege vorsehen, ebenso wie solche, in denen die Bürger an der Rechtsanwendung als Laienrichter teilhaben44. b) Gesetzgebung und Erschaffung des Rechts45 Zweitens ist die parlamentarische Gesetzgebung das Produkt eines Organs, das sich auf öffentliche und ausdrückliche Art und Weise der Aufgabe verschrieben hat, das Recht zu verabschieden und zu modifizieren. Das ist auch die Aufgabe, die ihm durch die Verfassung übertragen und durch die Bürgerschaft problemlos angenommen wurde, so dass die Legitimität des Parlaments dadurch nicht als gestört angesehen wird, wie es bei der Rechtsprechung der Fall wäre, deren Legitimität in den Augen der Bürgerschaft entscheidend von der Vorstellung abhängt, dass die Rechtsprechung bestehende Regelungen anwendet, nicht aber neue Regeln erschafft oder bestehende modifiziert.46 Natürlich kann man immer auch behaupten, das Problem bestehe darin, dass die Bürgerschaft nicht ausreichend informiert ist und dass man diese Wissenslücke füllen muss47. Diese Möglichkeit würde nicht nur in den Fachzeitschriften wichtige Diskussionen hervorrufen, welche unvorhersehbare Folgen hätten. Jedenfalls spiegelt dies nicht den momentanen Stand der Frage in unseren Gesellschaften wider. c) Gesetzgebung und Pluralismus48 Drittens erfolgt die Gesetzgebung durch ein Organ, das sich aus einer hohen Anzahl von Mitgliedern zusammensetzt, was gemäß einer wichtigen Tradition des rechtspolitischen und sozialwissenschaftlichen49 Denkens die Qualität des normati-
44 In jedem Fall fällt diese Teilnahme für gewöhnlich bei der Erarbeitung von Tatsachen stärker aus, und weniger stark (bzw. gar nicht) bei der Rechtsauslegung, die das Thema dieses Beitrages ist. 45 Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 336 – 340. 46 Dies sieht man deutlich in den Systemen, in denen die Richter einer Art Wahl unterworfen sind. Das bekannteste Beispiel ist das des „hearings“ des US-amerikanischen Senats zur Bestätigung der Richter des Supreme Court. Darin untersuchen die Senate die Position des Kandidaten ganz genau und alle Befragten antworten mit der exakt gleichen Antwort, dass sie die Arbeit des Richters als Anwendung von bereits bestehenden Regeln verstehen – und dies in einem System der Rechtsfamilie des common law, in dem man traditionell ehrlicher war, was den Grad der Freiheit des Richters bei seiner Arbeit bei der Rechtsanwendung angeht. 47 Meiner Ansicht nach erkennt die Bürgerschaft zu Recht, dass eine gewisse Freiheit unvermeidbar ist; wichtig ist nur, dass die Richter hiervon nicht unvorhersehbar großen Gebrauch machen. 48 Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 340 – 345. 49 Eine Tradition, die ihren juristisch-politischen Ursprung bei Adam Smith hat und sich seit dem Werk von Condorcet als sozialwissenschaftliche Tradition festigte. Zu diesem Thema vgl. Sen, The Idea of Justice, Penguin, London 2009, S. 44 – 46 und 91 – 94.
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ven Produkts verbessert, da es die Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte sowie unterschiedlicher Kenntnisse, Erfahrungen und Interessen ermöglicht50. 2. Tatsächliche Möglichkeiten der Gesetzgebung a) Die Untersuchung der sozialen Realität Anders als die Justizorgane sind die Organe, die bei der Ausarbeitung und der Ausfertigung der Gesetze beteiligt sind, im Allgemeinen nicht von Rechts wegen dem Druck unterworfen, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu entscheiden, und sie sind in der Tat in den meisten Fällen nicht einmal rechtlich dazu verpflichtet, überhaupt zu entscheiden;51 anders als der Richter, der durch das non liquet gebunden ist.52 Auch sehen sie ihre Arbeit nicht durch die Grenzen beschränkt, die ihnen eine konkrete Streitfrage auferlegt, und sie können Experten der unterschiedlichsten Bereiche sowohl zur Informationsgewinnung als auch zu deren Verarbeitung um Rat fragen. Es ist allgemein anerkannt, dass die Möglichkeiten zur Untersuchung der sozialen Realität, über die der Gesetzgeber verfügt, die des Richters weit übersteigen. Der Gesetzgeber verlässt sich nicht nur auf überlegene Mittel, sondern findet sich – anders als der Richter – auch nicht durch die Umstände des ihm vorgelegten Einzelfalls und die Notwendigkeit, in einer angemessenen Zeit zu einer Lösung zu kommen, beschränkt53. Wenn erreicht werden soll, dass das Recht einer bestimmten Gesell50
In diesem Sinne, Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 343. Die Erfahrung zeigt, dass dies sogar bei dem Bestehen einer auf höchster Ebene, der Verfassung, anerkannten Pflicht zur Gesetzgebung gemächlich angegangen wird, was für Spanien der späte Erlass (erst 1995) des Geschworenengerichtsgesetzes zeigt, auf welches Art. 125 CE verweist, oder der Erlass des Regierungsgesetzes (verabschiedet im Jahr 1997), dessen Erlass ebenfalls in der 1978 verabschiedeten Verfassung (in Art. 98) vorgeschrieben war. 52 Natürlich nicht wegen des non liquet an sich, sondern wegen seiner Positivierung in Art. 1.7 Código Civil (spanisches BGB, im Folgenden CC) und Art. 448 CP. 53 Jetzt, da niemand mehr leugnet, dass die Richter sich nicht auf die quasi-mechanische Anwendung des Rechts beschränken, sondern einer kreativen Arbeit nachgehen, wurde die Ansicht vorgeschlagen, dass das Unterscheidungskriterium zwischen der Arbeit der Richter und der Gesetzgeber nicht von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Ermessens bei der Arbeit abhängt, sondern von der jeweiligen Form, in der beide ihre Handlung einleiten und dem unterschiedlichen Maß an Bindung an ihren Verfahrensgegenstand: „Das, was dazu führt, dass ein Richter ein Richter ist und ein Gericht ein Gericht, ist nicht ihre Kreativität und daher ihre Passivität auf substanzieller Ebene, sondern vielmehr ihre prozessuale Passivität, das heißt die Verbindung ihrer Entscheidungstätigkeit mit den Fällen und Kontroversen, und insbesondere mit den ,Parteien‘, die in diesen konkreten Fällen auftreten“ (Prieto Sanchís, Ideología e interpretación jurídica, Tecnos, Madrid, 1087, S. 111). Diese prozessuale Passivität besteht sogar bei dem Gerichtsorgan, dessen funktionale Unterscheidung vom Gesetzgeber die meisten Probleme aufwirft, dem TC, welches ebenfalls auf seine Aktivierung „von außen“ warten muss (Söllner, „Zum Eingriff der Rechtsprechung in die Gesetzgebung“, in: 51
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schaftsordnung besser dient, ergibt es keinen Sinn, auf die Analyse des Moments zu verzichten, in welchem die Charakteristiken dieser Gesellschaft am besten berücksichtigt werden können. Schauen wir uns das etwas genauer an: Die verschiedenen sozialen Notwendigkeiten zu identifizieren, festzusetzen, was die tatsächliche Situation ist, und zu entscheiden, welche Art der Behandlung dieser Situation die beste ist, sind für die Gerichtsorgane sehr viel problematischere Aufgaben als für die Gesetzgeber. Wenn man mit dem ersten Aspekt beginnt und noch einmal zu meiner eigenen normativen Argumentation im vorherigen Abschnitt IV.1. zurückkehrt, fehlt es den Organen der Justizverwaltung in unserem rechtspolitischen System an der Legitimität zu entscheiden, was eine Notwendigkeit oder ein soziales Anliegen ist: Die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten in diesem Punkt wurden durch die früheren Entscheidungen des gesetzgeberischen Organs bestimmt54. Angesichts der Kenntnis um die tatsächliche Situation fehlt den Gerichten im Allgemeinen die notwendige empirische Information. Diese ist für gewöhnlich weder vorhanden noch kann sie mittels der zur Lösung gerichtlicher Kontroversen angewandten Verfahren erhalten werden, da diese darauf gerichtet sind, die faktische Information zu erhalten, die notwendig ist, um das Bestehen oder Nichtbestehen der Mindestvoraussetzung für den gerichtlichen Syllogismus festzustellen55. Aber selbst wenn sie über solche Informationen verfügen, sind die Gerichte im Allgemeinen nicht auf deren Bewertung vorbereitet56.
Zeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 248 und Noll, Gesetzgebungslehre, Rowohlt, Hamburg 1973, S. 50 – 51). 54 In dem speziellen Fall des TC, der ein Gericht, aber kein Teil der Justizgewalt ist, werden ihm nicht vom gewöhnlichen, sondern vom verfassungsgebenden Gesetzgeber Grenzen auferlegt. Diese Grenzen beziehen sich hauptsächlich auf den großen Respekt, der dem gewöhnlichen Gesetzgeber bei der Entwicklung der verfassungsrechtlichen Verfügungen eingeräumt werden muss. 55 In der Tat gibt es sogar bei dieser Arbeit Beschränkungen für die Erlangung der Wahrheit (z. B. die Normen über das Verwertungsverbot von unrechtmäßig erlangten Beweisen). 56 Hierzu Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 27 – 28, der damit argumentiert, dass die Informationsbeschränkung beabsichtigt und notwendig ist: „Das Gesetz wirkt auch für den Richter gleichzeitig als Filter, der einen Teil der Realität abdeckt. Wenn der Richter in ihrer Gesamtheit über sie entscheiden müsste, würde er nie zu einer Entscheidung gelangen“. Die Frage, wie viel empirische oder allgemeinwissenschaftliche Informationen ein Gericht behandeln kann, wird von Meares/Harcourt, „Foreword: Transparent Adjudication and Social Science Research in Constitutional Criminal Procedure“, in: Journal of Criminal Law and Criminology 90:3, 2000, S. 795 – 796, behandelt, die diesbezüglich behaupten, dass die Fähigkeit, empirische und wissenschaftliche Informationen zu behandeln, viel größer ist als man denkt und dass diese durch Metastudien anstatt konkreter Untersuchungen noch vergrößert werden kann.
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b) Die schwierige Verallgemeinerung von Entscheidungskriterien Aber sogar wenn sie solche Informationen hätten und in der Lage wären, sie entsprechend zu nutzen, hätten die Gerichte auch erhebliche Schwierigkeiten, die Entscheidungskriterien zu verallgemeinern. Die Schwierigkeiten einer Verallgemeinerung variieren, je nachdem, um welches Organ es sich gerade handelt, wobei dies für den Gerichtshof eines Gebiets schwerer ist als für ein Obergericht auf nationaler Ebene wie den TS. Die Gründe hierfür sind tatsächlicher Art (die Entscheidungen der niedrigeren Gerichte sind viel zahlreicher und daher ist es auch schwieriger, sie im Detail zu kennen), liegen aber auch im Ansehen (der TS wird als ein Organ mit einem hohen juristischen Niveau angesehen), und in taktischen Entscheidungen (auch wenn man den TS oder seine spezielle Meinung in einem Bereich nicht allzu hoch einschätzt, können die niedrigeren Gerichte seinen Entscheidungen folgen, um die Aufhebung des eigenen Urteils im Rechtsmittelverfahren zu vermeiden). Außerdem können Rechtssysteme die Verallgemeinerung der Kriterien erleichtern, indem sie die Entscheidungen der Obergerichte für verbindlich erklären. Das Problem der Verallgemeinerung der Kriterien ist eine tatsächliche Frage, die – zusammen mit einigen normativen Voraussetzungen – erhebliche normative Auswirkungen hat. Dies ergibt sich daraus, dass „Problemlösungen“ durch die Rechtsprechung, die nicht allgemein gelten, aus Sicht des Gleichheitsgrundsatzes anzuzweifeln sind. Dies zeigt deutlich ein Beispiel aus der jüngeren gesetzgeberischen Entwicklung im Bereich der Delikte gegen das geistige Eigentum in Spanien. Seit der Strafrechtsreform auf Grund der LO 15/2003 vom 25.11. und bis zur Reform durch die LO 5/2010 vom 22.06. erweckte die Ausgestaltung der strafrechtlichen Delikte gegen das geistige Eigentum den Eindruck, als würden sie auch das Verhalten desjenigen erfassen, der auf der Straße illegale Kopien von CDs oder DVDs verkauft. Dieses Phänomen ist als „Top Manta“ bekannt, da diese Kopien für gewöhnlich öffentlich auf Decken (spanisch: „Manta“) zum Verkauf angeboten werden, die, wenn die Polizei naht, schnell mit der Verkaufsware eingerollt werden können. Es kennt als Täter hauptsächlich Immigranten ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis, die zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes Raubkopien verkaufen. Entsprechend dem Wortlaut der Norm gingen viele Gerichte dagegen vor und verhängten Freiheitsstrafen über diejenigen, die einen solchen Straßenverkauf von illegalen Reproduktionen durchführten. Wegen der erkennbaren Härte der Strafe und der Zweifel an ihrer Verhältnismäßigkeit versuchen die Strafgerichte, eine Verurteilung zu vermeiden, indem sie zweifelhafte Beweisprobleme vorbringen oder die strafrechtliche Relevanz einer Verfolgung mittels unterschiedlicher dogmatischer Hilfsmittel oder mittels der direkten Anwendung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und ultima ratio ausschließen57. Hier ist nicht der Ort, um die Probleme zu erörtern, die mit 57 Für eine komplette Analyse dieser Rechtsprechung, vgl. Castiñeira/Robles, „¿Cómo absolver a los Top manta? Panorama jurisprudencial“, in: InDret 2/2007, abrufbar unter www.indret.com.
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jedem dieser Lösungsansätze einhergehen58. Wir belassen es dabei aufzuzeigen, dass einige Angeklagte aufgrund dieser Auslegungsverfahren freigesprochen wurden, während andere in axiologisch und juristisch nicht unterscheidbaren Situationen im Gefängnis landeten, was weit davon entfernt ist, eine gleichwertige Behandlung zu sein59. Hier ist noch zu betonen, dass, wenn die Lösung nicht vom Gesetzgeber (und in geringerem Maße vom Tribunal Constitucional) kommt, das Risiko besteht, dass – wie in dem soeben genannten Beispiel – trotz juristisch und axiologisch gleichwertiger Umstände einige Gerichte verurteilen und andere nicht, was eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Rechtsanwendung darstellt; was in diesem Fall noch viel schwerwiegender ist, da es sich um ein Gesetz handelt, dass die Auferlegung der schwersten Folge unseres Rechtssystems vorsieht, die Freiheitsstrafe. Natürlich kann das Problem mit ähnlichen Worten wie ein Notstand geschildert werden, und man könnte fragen: „Wie viele können wir retten?“. Das heißt: Wenn wir durch dogmatische Argumente erreichen, dass 50 % der Angeklagten freigesprochen werden, dann wäre die Welt besser als wenn diese 50 % verurteilt würden. Indes: In diesem „Zustand der besseren Welt“ müsste die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes beachtet werden und vor allem müsste man sich fragen, warum bzw. ob die Mitglieder dieser Lehre behaupten können, dass die Gesellschaft mit einer größeren Anzahl an Freisprüchen in diesen Fällen tatsächlich besser gestellt ist. Dies ist meine persönliche Ansicht und ich denke, es gibt auch gute Argumente, die dafür sprechen, diesen Artikel wegen der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für verfassungswidrig zu erklären. Die Rechtsordnung hält jedoch schon eine Lösung 58 Hier muss noch einmal eindrücklich darauf hingewiesen werden, dass es illegitim ist, Verfassungsverfügungen direkt anzuwenden, um den Wortlaut des einfachgesetzlichen Rechts zu umgehen: Die nach-konstitutionelle Gesetzgebung genießt die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit. Wenn der Richter der Ansicht ist, dass dem nicht so sei, hat er die Pflicht, eine Richtervorlage vor dem TC zu stellen, er kann aber nicht einfach von selbst die Norm nicht anwenden. Dass man nicht so handelt, hat einen pragmatischen Grund: Bei seiner Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze des demokratisch legitimierten Gesetzgebers – und zwar sowohl mit Blick auf formelle als auch auf materielle Rechtsverletzungen – legt der TC den Auslegenden sehr strenge Maßstäbe auf (vgl. die umfassende Analyse von Gómez Corona, Las Cortes Generales en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional, Congreso de los Diputados, 2008, S. 126 – 266), wobei Letztere versuchen, diese Maßstäbe zu umgehen und sich selbst die Befugnis anmaßen, die Norm verfassungsgemäß auszulegen. 59 Und zwar unabhängig davon, ob diese ungleiche Behandlung verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Nach der strengen Lehre des spanischen TC besteht keine solche verfassungsrechtliche Bedeutung, da dieser die Ansicht vertritt, dass die unterschiedlichen Auslegungen vom gleichen Organ ausgehen müssen (wobei für ihn schon die unterschiedlichen Kammern desselben Gerichts verschiedene Organe sind). Dies steht aber der axiologischen Bedeutung der Frage nicht entgegen. In diesem Sinne Ollero, Igualdad en la aplicación de la ley y precedente judicial. 2. Aufl., 2005, S. 110: „Den zwei Bürgern, die die gleiche Situation erfahren haben, die man aber unterschiedlich behandelt, nützt es nichts, wenn man ihnen sagt, dass das Gesetz zwischen ihnen keine Unterschiede vorsieht, und dass dieses Unrecht nur von einem Wechsel in dem Normsinn hervorgerufen wurde, der in der Gesetzesanwendung zu Tage tritt“.
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für dieses Problem bereit, die nicht in der phantasievollen Anwendung der Dogmatik und der Rechtshermeneutik besteht, sondern in der Einlegung der Richtervorlage, damit der höchste Auslegende der Verfassung, der TC, entscheiden kann, ob die Regel verfassungsmäßig ist oder nicht. 3. Weder Salomon noch Herkules: wie man Institutionen vergleicht Es gibt keinen Grund, die abstrakte Überlegenheit der eben geschilderten Möglichkeiten der Gesetzgebungsorgane anzuzweifeln. Auch kann man nicht in Zweifel ziehen, dass zwischen der Schaffung von Gesetzen und ihrer Fortentwicklung ein beträchtlicher Unterschied besteht und dass zahlreiche Faktoren ihre Verwirklichung erschweren60. Das bedeutet allerdings nicht, dass es entbehrlich wäre, sich mit der Gesetzgebung zu befassen, bevor diese verabschiedet wird, sondern es zeigt im Gegenteil gerade die Notwendigkeit, dies zu tun. Das Ergreifen von Maßnahmen, die dazu dienen sollen, die Verzerrung zwischen der abstrakten Möglichkeit und der konkreten Verwirklichung zu beseitigen, lässt sich nicht auf allgemeine Prinzipien stützen, egal wie treffend diese auch sein mögen, sondern auf die Kenntnis der Probleme und der strukturellen Umstände der Tatsachen, gegen die man vorgehen möchte: in diesem Fall die gesetzgeberische Tätigkeit. Diese Kenntnisse zu erlangen, scheint jedoch nicht zu den Prioritäten der gegenwärtigen Juristen, und viel weniger noch der Strafrechtler zu gehören. Sie vergleichen im Gegenteil weiterhin eine Institution, das Parlament, mit all den oben aufgezeigten Problemen seiner tatsächlichen Funktionsweise mit einem idealisierten Modell eines Richters, von dem angenommen wird, dass er bestimmte theoretische Kenntnisse sowie viel Zeit und Mittel zur Verfügung hat, die offensichtlich außerhalb seiner Reichweite stehen. Als wäre das eben Gesagte nicht schon weit genug von der Realität entfernt, handelt jeder Theoretiker außerdem so, als ob alle Richter einer einzigen Lehre folgen würden (die gewöhnlich zufälligerweise die von Ersterem vorgeschlagene ist), womit er mit einem Federstrich die bedeutenden Schwierigkeiten beseitigt, welche die Existenz zahlreicher Richter mit unterschiedlichsten Ansichten sowie die Vielfältigkeit der Antworten der Lehre auf viele Probleme darstellen. Der Vergleich einer Institution in ihrer Funktionsfähigkeit und einer anderen idealisierten, der unter Wirtschaftswissenschaftlern als „Nirvana-Effekt“ bekannt ist, kann beim Vorschlagen von Lösungen vom Sofa aus sehr bequem sein. Doch es ist überflüssig zu betonen, dass dies für einen Vorschlag der öffentlichen Politik nicht nützlich ist61. Denn deren Gremien bestehen nicht aus weisen und gerechten 60
Bedeutend für diesen Punkt Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 94 – 95, der darauf hinweist, dass der Gesetzgeber in der Tat wenig Vorteile aus diesen vielen Möglichkeiten zieht. 61 Gegen diese Art von Analyse und für die sogenannte „vergleichende institutionelle Analyse“ (comparative institutional analysis), die darauf besteht, die gegebenen Alternativen immer hinsichtlich ihrer Implementationsprobleme zu vergleichen, Gómez Pomar/Ortiz de Urbina, Chantaje e Intimidación: un análisis jurídico y económico, 2005, S. 155 – 160.
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Abgeordneten wie Salomon, aber auch die Gerichte sind nicht mit mutigen und unermüdlichen Richtern besetzt wie Dworkins Herkules. Stattdessen sind die Fähigkeiten und das Vermögen jeder einzelnen Institution zu untersuchen und sie untereinander zu vergleichen, wobei darüber nachgedacht werden muss, welcher institutionelle Entwurf und welches Koordinationsverhältnis zwischen den beiden Institutionen für die Werte, die man vorantreiben möchte, d. h. in diesem Fall für die dem Gesetzlichkeitsprinzip zugrunde liegenden Werte, mehr Nutzen bringt. Meiner Meinung nach umfasst die Lösung keine Lizenz zur freien Auslegung von Gesetzen, deren Ergebnisse uns nicht gefallen. Ich denke, dass diese imaginäre Koalition zwischen Wissenschaft und Rechtsanwender gegen den Gesetzgeber schädlich ist, weil sie zu einer unbeherrschbaren Rechtsordnung führt.
V. Von Binding zu Bentham: Der „Übertragungskreislauf“ und die Auslegung strafrechtlicher Vorschriften Fast ein Jahrhundert vor Bindings Worten, mit denen der vorherige Abschnitt begonnen wurde, beschrieb ein anderes Genie mit ganz anderen intellektuellen Neigungen die Existenz von etwas, das spätere Autoren „Übertragungskreislauf“ genannt haben62. Unter Bezug auf die Entwicklung des Common Law wies Bentham auf die Existenz eines dreiphasigen Kreislaufs hin: In der ersten Phase sind die Richter in ihrer Handlung völlig frei, da weder ein konstanter Rechtskörper noch die Verpflichtung, den Vorentscheidungen zu folgen, besteht. In der zweiten Phase und aufgrund der zunehmenden Wahrnehmung von Willkür kommt die Lehre des stare decisis auf und es kommt zu einer Verschiebung zu der starren Befolgung der Vorentscheidungen. Nochmals später wird der Eindruck der übermäßigen Willkür durch die Wahrnehmung anderer Überschreitungen ersetzt; in diesem Fall durch die Wahrnehmung der Strenge: Die strenge Beachtung der Vorentscheidungen hatte zur Folge, dass man zu ungerechten und unzeitgemäßen Ergebnissen kam, die eine neue Unzufriedenheit nach sich zogen, welche den Übergang zum dritten Satz ermöglicht. Dort heißt es, dass die Richter ihre Entscheidungen rechtfertigen, indem sie sich auf zwei sehr unterschiedliche Argumente berufen. Sie können den Vorentscheidungen folgen und auf die Lehre vom „stare decisis“ hinweisen oder sie können sich davon trennen, indem sie sich auf die Notwendigkeit der gerechten Lösung im konkreten Fall berufen. Das war der Moment, als die Richter zu den Herren des Rechts wurden. Bekanntlich sah Bentham die Hinzuziehung der Gesetzgebung als einzigen Weg zur Beseitigung dieser Unzufriedenheit, da nur diese sicherstellen konnte, dass die Normen, mit deren Hilfe die Streitigkeiten entschieden wurden, sowohl in ihrem Anwendungsgebiet allgemein waren als auch präzise in ihrer Formulierung. Für die 62 Für eine besonders klare Darstellung vgl. Atria, „Adjudication and the Particular“, in: Bánkowski/MacLean (Hrsg.), The Universal and the Particular in Legal Reasoning. 2006, S. 70 – 73.
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Richter blieb nur eine sehr beschränkte Rolle: Sie sollten das Gesetz anwenden, auch wenn es ungerecht sei, und in diesem Fall seine Ungerechtigkeit feststellen63. Zwei Jahrhunderte später haben die vielen Zweige des englischen Rechts, die traditionell durch das common law bestimmt werden, einen sehr intensiven Gesetzgebungsprozess durchlaufen, der zu 8.000 strafrechtlichen Verstößen in England und Wales geführt hat64. Wenn dieses „Naturexperiment“ etwas gezeigt hat, dann dass die Gesetzgebung selbst die Probleme nicht lösen, sondern sie sogar noch verstärken kann65. Damit die Gesetzgebung sich verbessert, ist eine Änderung der Rechtskultur erforderlich, die den Wert und die Möglichkeiten der Gesetzgebung rehabilitiert und zugleich dem Gesetzgeber Verfahrens- und Motivationsanforderungen auferlegt66. Damit diese Verbesserung auch beständig bleibt, müssen die Gesetze unter Beachtung der institutionellen Stellung des Auslegenden im Rechtsstaat ausgelegt werden, was meiner Meinung nach bedeutet, dass der Auslegende bescheiden in der Auslegung der lex lata und schlagkräftig in seinen Vorschlägen zur lex ferenda sein muss. Die bisherigen Ausführungen ermöglichen eine Revision der aktuellen Behandlung der Auslegungstheorie im Strafrecht. Wegen des Ausmaßes dieser Aufgabe 63
Sogar Blackstone, die juristische Nemesis von Bentham, stimmt mit ihm bei der Beurteilung des kläglichen Zustands des common law dieser Zeit überein, wenn auch nicht in der Therapie: Während Bentham ein Anhänger einer großen Kodifikation war, lag die Lösung nach Blackstone in dem common law selbst (Postema, Bentham and the Common Law Tradition, 1986, S. 263 – 266). 64 Vgl. Card, Card, Cross and Jones, Criminal Law. 17. Aufl., 2006, S. 1, der diese Zahl als „eine konservative Einschätzung“ betrachtet. 65 Damit soll Bentham jedoch überhaupt nicht kritisiert werden. Wie viele andere Aufklärer hat er großes Vertrauen in die Führung, die die Gesetzestexte über die Entscheidungen konkreter Fälle ausüben können. Aber der gesetzgeberische Prozess, den er im Sinn hatte, war eine Kodifizierung in einem strengen Sinne und hat nichts mit dem Gesetzgebungsverfahren tun, das tatsächlich durchgeführt wurde. Heutzutage sieht die Mehrheit der Lehre und der englischen Rechtsprechung die Zeit für eine Reform des Strafrechts gekommen, und es bestehen zahlreiche Petitionen, die fordern, den ständig gescheiterten Kodifizierungsversuch für die wichtigsten Teile der Kodifikation fortzuführen. Zu einigen der letzten Versuche, unter denen die Ausarbeitung eines ehrgeizigen Projekts von 1985 durch ein Komitee der Law Commission (Codification of the criminal law: a report to the Law Commission) hervorsticht, das als Grundlage für das Projekt des Strafgesetzbuches für England und Wales von 1989 diente (Criminal Law: A Criminal Code for England and Wales), vgl. Ashworth, Principles of Criminal Law, 4. Aufl., 2003, S. 6 – 8, 58 – 61. 66 Daran ist nichts Ungereimtes: Niemand bezweifelt, dass dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich eine große Freiheit bei der Gestaltung der sozialen Verbindungen eingeräumt wird. Aber es erscheint einfach unverständlich, dass diese weite Befugnis, die ihm eingeräumt wird, damit er diese zugunsten von Dritten (den Bürgern) ausübt, nicht an irgendein Verfahrensoder Motivationserfordernis der gewählten Entscheidung geknüpft ist. Die Nützlichkeit der gesetzgeberischen Theorie wurde ausführlich dargestellt durch Díez Ripollés, „El Derecho penal simbólico y los efectos de la pena“, in: Actualidad Penal, Nr. 1, 1.–7. Januar 2001, S. 3: „die Verschiebung des Schwerpunkts der strafrechtlichen Überlegung von der Rechtsanwendung zu ihrer Schaffung“ ist eine Art, der beunruhigenden Entwicklung der strafrechtsgesetzlichen Politik zu begegnen. s. zu diesem Thema auch Díez Ripollés, La racionalidad de las leyes, 2003, passim, insbes. S. 13 – 16.
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kann diese hier nicht vollständig entfaltet werden – aber zumindest die Grundzüge des Modells können dargestellt werden, das meiner Ansicht nach ausgezeichnet ist und zu zwei klassischen, aber in der (zumindest spanischen) zeitgenössischen Lehre schlecht gelösten Themen Stellung bezieht: zur Frage nach der Anwendbarkeit der Auslegungsmethoden und etwaigen Vorrangregeln und zur Frage nach dem Zweck der Auslegung (letztere Frage kann man folgendermaßen zusammenfassen: Hat die Auslegung sich darauf zu richten, den Sinn eines Textes, den Willen desjenigen, der ihn verfasst hat oder etwas dazwischen zu ergründen?). Der hier skizzierte Vorschlag ist Folgender: Hinsichtlich der Auslegungsmethoden und ihrer Rangfolge muss eine absolute Priorität der Methode bestehen, die wenig treffend „grammatikalische Auslegung“ heißt und richtigerweise auch die systematische Auslegung umfasst. Dagegen ist die teleologische Auslegung nur im Rahmen des möglichen Auslegungssinns, der durch die grammatikalische Auslegung begrenzt wird, zulässig, und auf die historische Auslegung ist komplett zu verzichten67. Was den Zweck der Auslegung angeht, kann dieser sich nur auf die Erforschung des Sinns des tatsächlich erlassenen Textes und nicht auf irgendeine möglicherweise darin enthaltene Intention beziehen. Wie oben (II.2.) gezeigt, ist die Bedeutung des Auslegenden bei der Aufgabe der Rechtsanwendung Teil der methodologischen Grundausstattung des zeitgenössischen Juristen. Deswegen verwundert es, wie wenig Beachtung die Auslegungsmethoden und ihre mögliche Rangfolge in der spanischen Strafrechtslehre finden. Eine Analyse der Stellungnahmen in fünfzehn Lehrbüchern, Monografien über die strafrechtliche Methodik und Strafrechtskommentaren68 zeigt, dass in mehr als einem 67 Dieser letzte Schritt spiegelt weder die mehrheitliche Meinung noch das positive spanische Recht wider, welches in Art. 3.1 CC diese Methode als eine derjenigen aufnimmt, die die Aufgabe der Rechtsanwendung steuern sollen. Hier wird jedoch eine präskriptive, nicht deskriptive Erarbeitung vorgeschlagen, die daher die Grenzen des positiven Rechts nicht beachten muss (ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, zu zeigen, ob das positive Recht angemessen ist oder nicht). 68 Die Untersuchung wurde 2005 von Prof. Marisa Iglesias, Prof. Lorena Ramírez und mir durchgeführt. Ich danke den Professorinnen Marisa Iglesias und Lorena Ramírez, beide vom Institut für Rechtsphilosophie der Universität Pompeu Fabra, für die Genehmigung zur Benutzung in dieser Arbeit. Folgende Texte (in alphabetischer Reihenfolge) wurden untersucht: Álvarez García, Introducción a la teoría jurídica del delito, 1999, S. 21 – 29, 59 – 63; Berdugo Gómez de la Torre et al., Curso de Derecho Penal, Parte General, 2004, S. 49 – 56; Carbonell Mateu, Derecho penal: concepto y principios constitucionales, Tirant lo blanch, 1995, S. 102 – 133; Cerezo Mir, Curso de Derecho Penal español, Parte general I, Introducción, 2004, S. 184 – 214; Cobo del Rosal/Vives Antón, Derecho Penal, Parte General, 5. Aufl., 1999, S. 67 – 80, 115 – 122, 137 – 169; Cortés Bechiarelli, „Art. 4“, in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentarios al Código Penal, Bd. I, Art. 1 bis 18, 1999, passim; Cuello Contreras, El Derecho Penal español, Parte general, Nociones introductorias, Teoría del delito, 3. Aufl., 2002, S. 203 – 244; Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español, 5. Aufl., 2000, S. 82 – 110; Luzón Peña, Curso de Derecho penal, Parte General I, 1996, S. 91 – 97, 162 – 175; Mir Puig, Derecho Penal, Parte general, 7. Aufl., 2004, S. 124 – 125; Morillas Cuevas, Curso de Derecho penal español, parte general, Marcial Pons, 1996, S. 23 – 31, 71 – 76 und 90 – 97; Muñoz Conde/García Arán, Derecho Penal, Parte General, 6. Aufl., 2004, S. 121 – 126; Quintero Olivares (in Zusammenarbeit mit Morales Prats und Prats Canut), Manual de Derecho Penal, Parte General, 3. überarbeitete Aufl., 2002, S. 67 – 97 und 147 – 158; Rodríguez
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Drittel der Fälle (sechs) nicht einmal auf die Existenz dieser Methoden hingewiesen wird69, während in den restlichen Fällen kaum die Frage nach der Rangfolge behandelt wird und wenn, dann nur sehr schemenhaft70 ; schließlich wird in zwei von den drei Fällen, in denen die Rangfolgenfrage angesprochen wird (was nur 20 % der untersuchten Bücher ausmacht), die grammatikalische Auslegung an die Spitze gestellt71, während in dem dritten Fall die teleologische Auslegung favorisiert wird.72 Bei einer großen Mehrheit von Autoren ist eine deutliche „hermeneutische Promiskuität“ erkennbar, derzufolge alle Auslegungsmethoden mit unterschiedlicher Intensität und Rangfolge sowie alleine oder zusammen angewandt werden können, um das vom Auslegenden gewünschte Auslegungsergebnis zu erreichen73. Dies unterscheidet sich nicht von anderen Rechtsgebieten, ist aber im Bereich des Strafrechts wegen seiner strengeren Bestimmtheitsanforderungen noch problematischer.
Mourullo, „Art. 1, 2, 3 und 4“, in: Comentarios al Código Penal, 1999, passim; Zugaldía Espinar (Hrsg.), Derecho Penal, Parte General, 2. Aufl., 2004, S. 253 – 268. 69 Es handelt sich um die Werke von Álvarez García, Carbonell Mateu, Cerezo Mir, Cortés Bechiarelli, Mir Puig y Rodríguez Mourullo, zitiert in der vorherigen Fußnote. 70 Das Hauptproblem ist, dass z. T. behauptet wird, der „mögliche Wortsinn“ sei die Grenze der Auslegung, dass aber nicht erklärt wird, welche Auslegungsmethoden angewendet werden müssen, um diesen „möglichen Wortsinn“ zu bestimmen, und auch wenn die grammatikalische Methode der wahrscheinlichste Kandidat zu sein scheint, schließt dies andere Möglichkeiten nicht vollständig aus. In diesem Sinne besteht Zugaldía Espinar, Derecho Penal, Parte General, 2. Aufl., 2004, S. 266, darauf, dass es wichtig sei, den „möglichen Wortsinn“ nicht zu überschreiten, aber bei der Untersuchung der Auslegungsmethoden erklärt er, dass die teleologische Methode, die an das Rechtsgut anknüpft, welches der Gesetzgeber schützen will, „eine besondere Bedeutung“ habe. Wenn trotz dieser „besonderen Bedeutung“ der mögliche Wortsinn nicht überschritten werden kann (der gemäß der grammatikalischen Auslegung zu bestimmen ist?), dann scheint die grammatikalische Methode die entscheidende zu sein. Dann wird jedoch nicht erklärt, worin die „besondere Bedeutung“ der teleologischen Auslegung besteht. Und wenn diese über die grammatikalische hinausgehen könnte, dann wäre die Aussage, dass die Auslegung nicht über den möglichen Wortsinn hinausgehen könne, nicht wahr. 71 Luzón Peña, Curso de Derecho penal. Parte General, 1996, S. 163 – 175; Muñoz Conde/ García Arán, Derecho Penal, Parte General, 6. Aufl., 2004, S. 125 und 126. 72 Quintero Olivares, Manual de Derecho Penal, Parte General, 3. Aufl., 2002, S. 153: „die Auslegung, die ohne Zweifel eine herausragende Stellung gegenüber den anderen einnimmt, ist die teleologische Auslegung oder rationale Auslegung wie sie einige Autoren nennen“, die darin besteht, dass die strafrechtlichen Vorschriften „aufgrund des Ziels des Strafrechts, d. h. des Schutzes der strafrechtlich relevanten Rechtsgüter ausgelegt werden müssen“. 73 In manchen Fällen wird diese hermeneutische Promiskuität sowohl ausdrücklich als auch energisch vertreten. So Cobo del Rosal/Vives Antón, DP, PG, 1999, S. 122, welche einen angeblichen „Grundsatz der interpretativen Freiheit“ geltend machen, den sie mit folgender Behauptung stützen: „Jeder ,interpretative Dirigismus‘ hat eine autoritäre Wurzel, und steht sowohl zu der jeder wissenschaftlichen Untersuchung inhärenten Freiheit als auch zu der Diskussion über die charakteristischen Werte eines demokratischen Staates im Widerspruch“. Dennoch verwehrt niemand dem Auslegenden, einem „wissenschaftlichen“ oder praktischen Juristen, die Fähigkeit, sich kritisch über das geltende Recht oder seine axiologische oder allgemein praktische Geeignetheit zu äußern.
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Ich denke, dass es zumindest im Strafrecht wegen seiner hohen Bestimmtheitsanforderungen nötig ist, die Rangfolge der Auslegungsmethoden in dem oben genannten Sinne festzulegen. Der Erforschung des möglichen Wortsinns muss Vorrang eingeräumt werden (dies scheint mir eine bessere Formulierung zu sein, um sich auf die grammatikalische Auslegungsregel zu beziehen, wenn diese weit verstanden wird und auch die systematische Auslegung mit umfasst). Teleologische Überlegungen sind nur noch in dem so gebildeten Spielraum möglich und auf die historische Auslegung ist komplett zu verzichten. Diese Auffassung stößt bei denjenigen auf Kritik, die der Meinung sind, dass die sogenannte grammatikalische Auslegung die „Bedeutung der Wörter“ dem Wortlaut vorziehe. Diesbezüglich muss man sich an Engischs Warnung vor der Tendenz erinnern, die genannte grammatikalische Auslegung als eine Wort- und nicht als Sinnauslegung zu verstehen74. Jedoch wird auch in der grammatikalischen Auslegung ein Sinn untersucht, mit der einzigen Begrenzung, dass man diesen allein in den vom Gesetzgeber tatsächlich verwendeten Ausdrücken sucht, ohne z. B. auf parlamentarische Diskussionen, auf die historische Entwicklung (Zielrichtung der historischen Auslegung) oder auf die sozialen Erfordernisse (Zielrichtung der teleologischen Auslegung) zurückzugreifen. Dieses Verständnis der grammatikalischen Auslegung nähert sich der systematischen Auslegung an, wenn man mit ihr vorrangig auf die Behandlung des fraglichen Begriffs in anderen Äußerungen des Gesetzgebers abstellt und nicht auf die systematische Verortung der jeweiligen Institution in der Strafrechtstheorie. In Wahrheit erweist sich die systematische Auslegung, weil sie die Aufmerksamkeit auf andere Entscheidungen der gleichen erlassenden Person richtet, in vielen Fällen als entscheidend für die Aufklärung des Sinns der Vorschrift. Ich versuche das an einem Beispiel zu verdeutlichen. Im spanischen Strafrecht ist die Auslegung des Begriffs „Gewalt“, wie er in der Nötigung (Art. 174 CP) verwendet wird, strittig. Genauer gesagt wird darüber gestritten, ob er auch die psychische Nötigung oder Angriffe gegen Gegenstände umfasst, welche in anderen Straftatbeständen als unter die Begriffe „Einschüchterung“ und „Gewalt gegen Sachen“ fallend angesehen werden. Das Problem besteht, weil der Gesetzgeber diese anderen Merkmale (wie Einschüchterung, Gewalt gegen Sachen) bei der Nötigung nicht mit aufgenommen hat. Wenn also z. B. der Begriff „Gewalt“ bei der Nötigung genauso verstanden würde wie bei der Vergewaltigung, dann würden die einschüchternden Verhaltensweisen nicht unter den Nötigungstatbestand fallen. Da dieses Ergebnis der Rechtsprechung ungerecht erschien, ging sie zu einer „Vergeistigung“ des Begriffs „Gewalt“ bei der Nötigung über75. In einer systematischen Auslegung erscheint diese Rechtsprechungsentwicklung unpassend, da der Gesetzgeber, wenn er gewollt hätte, den Begriff „Einschüchterung“ oder den Aus74
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., 1997, S. 92. Für die Entwicklung und den aktuellen Zustand dieser Rechtsprechung, vgl. Ragués i Vallès, „¿Coacciones sin violencia? Apuntes sobre el difícil encaje de la legalidad en un sistema funcional del derecho penal“, in: El funcionalismo en Derecho Penal, Libro Homenaje al profesor Günther Jakobs, 2003, S. 484 – 488. 75
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druck „Gewalt gegen Sachen“, auch bei der Nötigung hätte verwenden können. Dass dies auch einfach möglich ist, zeigt sich am Auftreten dieses Begriffs zusammen mit der „Gewalt“ in anderen Straftatbeständen wie der Vergewaltigung oder dem Raub: Sein Fehlen bei der Nötigung, die auch dem Kern des Strafrechts angehört, muss als Ausschluss dieser tatbestandlichen Begehungsform verstanden werden.76 Der vorherige Vorschlag zur Reihenfolge der Auslegungsmethoden wird auch denjenigen ungeeignet erscheinen, die der teleologischen Auslegungsregel einen höheren Stellenwert einräumen, da sie ihrer Meinung nach „den Zweck, die ratio, die idea rectora der Gesetzesvorschrift ermittelt und davon ausgehend ihren Sinn mitteilt“77. Dennoch kann nach meiner Ansicht die teleologische Argumentation nur in dem durch den möglichen Wortlaut (oder, wenn man so will, durch die möglichen Wortlaute) bestimmten Rahmen Anwendung finden. In Wirklichkeit resultiert die Gegenansicht z. T. aus der Unklarheit darüber, was es bedeutet, sich für eine Auslegung auszusprechen, die den Wortlaut überschreitet. Konkret bedeutet das Überschreiten des Wortlautes zwei Dinge nicht: Es heißt zuallererst einmal nicht, dass es möglich ist, immer und in jedem Fall einen einzigen Sinn zu ermitteln: Ganz im Gegenteil, es wird ausdrücklich zugegeben, dass ein Begriff z. T. mehrere verschiedene Bedeutungen haben kann78 und dass in diesen Fällen ausgewählt werden muss. In einem solchen Fall wird vorgeschlagen, dann entsprechend den teleologischen Kriterien auszuwählen. Es bedeutet auch nicht, dass man von den Möglichkeiten, die der mögliche Wortsinn anbietet, immer die strengste wählen muss, sei sie nun zugunsten oder zum Nachteil des Angeklagten. An diesem Punkt ist es interessant, auf eine bekannte Diskussion zwischen den Richtern des US-amerikanischen Supreme Courts zurückzu76
Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber einen Begriff nicht für ein Delikt oder eine Gruppe von konkreten Delikten speziell und anders definieren kann (aber in diesen Fällen hat er mitzuteilen, was er da macht). Noch weniger bedeutet es, dass der Gesetzgeber die Einschüchterung nicht als Teil des Nötigungstatbestandes einschließen kann: Er muss dies nur ausdrücklich tun. 77 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., 1997, S. 88, der auch der Ansicht ist, dass diese Regel von der Mehrheit der Juristen als die wichtigste angesehen wird. 78 Ein Begriff kann ziemlich viele Bedeutungen haben, aber niemals so viele, wie gewöhnlich angenommen wird. Wir Juristen, und insbesondere wir Rechtswissenschaftler leiden unter einem Perspektivenproblem, weil wir uns fast vollständig auf die von den Obersten Gerichtshöfen und Verfassungsgerichten entschiedenen Fälle konzentrieren. Das kann zum Teil auf unterschiedliche Produktionsmengen (die „niedrigeren“ Gerichte stellen eine Unmenge an Entscheidungen pro Jahr her) zurückzuführen sein. Es ist jedoch vor allem eine Folge von Gründen des theoretischen Interesses: Die höheren Gerichte neigen dazu, Fälle zu entscheiden, die von einem theoretischen Gesichtspunkt aus „saftiger“ sind. Hierbei finden sich auch überproportional viele Fälle, bei denen mehrere mögliche Wortsinne bestehen. Die Realität der Rechtsanwendung an den ordentlichen Gerichten ist sehr viel weniger aufregend und umfasst eine sehr überwiegende Anzahl „einfacher Fälle“, zumindest was die Rechtsfragen betrifft (die hier den Problemen der Tatsachenfeststellung gegenübergestellt werden). Zu diesem Thema siehe Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, S. 20 – 23, 140 – 141.
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kommen, die in der Rechtssache Smith vs. United States stattfand79. In dem Fall besagte der entscheidende Gesetzestext, dass „jeder, der bei und im Zusammenhang mit der Begehung eines Gewaltdelikts oder dem Drogenhandel eine Schusswaffe verwendet oder bei sich trägt, (…) zusätzlich zu der für das jeweilige Delikt vorgesehenen Strafe (…) zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren (verurteilt wird)“. Im konkreten Fall hatte der Angeklagte eine Schusswaffe gegen Drogen getauscht und die Diskussion erstreckte sich darauf, ob jene Verwendung der Waffe als Tauschobjekt bei einem vermuteten Drogenverkauf „den Gebrauch bei oder im Zusammenhang mit der Begehung eines Drogenhandels“ darstellte oder nicht. Eine Mehrheit des Supreme Courts war dieser Ansicht, die einzig durch Richter Scalia abgelehnt wurde. Letzterer kam Jahre später auf den Fall zurück, um ihn als Beispiel für die Unterschiede zwischen seiner Interpretationstheorie, dem „Textualismus“ (textualism), und einer anderen, der er gewöhnlich zugeschrieben wird, der „strengen Gesetzestextauslegung“ (strict constructionism), anzuführen80. Entsprechend der „strengen Gesetzestextauslegung“ müsste der Angeklagte in dem Fall zusätzliche 5 Jahre ins Gefängnis, da die Benutzung einer Waffe als Austauschwährung ein „Verwenden“ darstellt. Anders Scalia, der zwar zugab, dass die Verwendung der Waffe als „Verwenden“ im Sinne des Wörterbuches zu verstehen ist, aber anführte, dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das „Verwenden“ einer Waffe deren Verwendung zum Angreifen oder Einschüchtern ist, und nicht deren Austausch (oder, wie ich hinzufüge, als Instrument, um sich den Kopf zu kratzen oder als Briefbeschwerer, um zu vermeiden, dass Dokumente weggeweht werden). Es lässt sich nicht leugnen, dass das Verwenden für den Austausch unter die mögliche Bedeutung des Ausdrucks „Gebrauchen“ fällt. Dennoch wird hier entschieden erklärt, dass es auch unter den möglichen Wortsinn fällt, den Begriff „Verwenden“ restriktiv auf Vorschriften zum aggressiven und einschüchternden Gebrauch anzuwenden, und dass diese letzte Auslegung aus teleologischer Sicht viel passender81 und deshalb zu bevorzugen ist. Dass auf der Restriktion der Auslegung hinsichtlich der möglichen Wortbedeutung(en) beharrt wird, bedeutet nicht, dass man der Ansicht ist, dass die beste Art zu ihrer Erforschung ausschließlich darin besteht, vom Wörterbuch und grammatikalischen Regeln Gebrauch zu machen82. Zur Erforschung des Mitteilungssinns ist es auch erforderlich, sich an der Lehre und am Sprachgebrauch der Gesellschaft zu orientieren, die, wie uns das Beispiel zeigt, für den gemeinen Gebrauch von dem in dem
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508 U.S. 223 (1993). Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law, 1997, S. 23. 81 Das kommt daher, dass der Zweck der Norm darin besteht, die größten Risiken, die mit einer Bewaffnung oder dem gewalttätigen Gebrauch von Schusswaffen bei der Ausführung der Tat verbunden sind, zu vermeiden. Hingegen erscheint es schwer zu erklären, warum der Gebrauch einer Schusswaffe als Tauschobjekt eine unterschiedliche Gefährlichkeit aufweisen sollte als der Gebrauch anderer Tauschmittel wie Bargeld, Schmuck oder anderen Drogen. 82 Aus dieser einfallsreichen, aber ungerechten Form bestimmen Alexander/Sherwin, Demistifying Legal Reasoning, 2008, S. 141, die Konzentration auf den Text statt auf die Absicht des Auslegenden. 80
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Wörterbüchern Vorgeschriebenen und von den grammatikalischen Regeln abweichen können. Zuletzt bleibt auf den Vorschlag der Vernachlässigung der historischen Auslegungsregel (oder ohne Euphemismen: auf die vollständige Aufhebung ihrer Bedeutung) hinzuweisen. Unter dem Begriff „historische Auslegungsregel“ bezieht man sich üblicherweise auf zwei unterschiedliche Dinge. Auf der einen Seite bezieht man sich auf die Entwicklung der Regelung vor und nach dem Inkrafttreten der Vorschrift, die man auslegen möchte; auf der anderen Seite bezieht man sich auf die Texte, die den Erlass der Norm begleitet haben (für gewöhnlich auf die parlamentarische Ausführung; aber wenn es um die Erforschung von Bedeutungen geht, kann man die Bedeutung der Regierungsausführung nicht ausschließen). Das Problem bei der historischen Auslegung ist, dass sie im ersten der genannten Sinne nicht viel Information beiträgt, und man im zweiten Sinn das Risiko eingeht, für die Parlamentsmitglieder einen Anreiz dazu zu schaffen, zu viel Information beizubringen. In beiden Fällen wird die Bedeutung der Auslegung nach dem Wortlaut herabgesetzt und dem Gesetzgeber kein Ansporn geboten, seine Arbeit gut zu erledigen. In dem ersten Sinne, der die Unterschiede zwischen der aktuellen und der vorherigen Regelung erforscht, können die Unterschiede groß ausfallen, und die Regelung kann daher an Wert verlieren, da es sich gerade darum handelt, festzulegen, was die neue Regelung bedeutet. Oder es kann passieren, dass es Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt, und dass sich in diesem Fall die Unterschiede zwischen der alten und der neuen Regelung als Zeichen der Absicht, eine Bedeutungsänderung einzuführen, deuten lassen, aber auch als vermeintlicher „Fehler“ des Gesetzgebers, wenn er vorgibt, grundsätzlich den status quo beizubehalten, ohne sich von dem zuvor vorbestimmten Sinn zu entfernen. Es ist ferner daran zu denken, dass es, wenn der Gesetzgeber seine Arbeit gut gemacht hätte, nicht notwendig wäre, über den Text hinaus zu forschen83: Wenn man sich fragt, was er über das tatsächlich Gesagte hinaus noch sagen wollte, bietet man dem Gesetzgeber nicht viel Anreiz dafür, sich präzise auszudrücken, da er sich immer auf die spätere Ermittlung seiner Absicht durch den Auslegenden verlassen kann. In der zweiten Bedeutung, der Untersuchung des Ausarbeitungsprozesses hat die historische Auslegung das große Problem, dass der schließlich ausgearbeitete Text die Endentscheidung darstellt, die u. U. das Ergebnis von als notwendig erachteten Verhandlungen und Vergleichen ist. Wenn während der Ausarbeitung darüber diskutiert wurde, ob ein bestimmter Fall in den Tatbestand eingefügt werden sollte oder nicht (wenn eine solche Diskussion nicht stattgefunden hat, wäre die historische Auslegung ja gar nicht anwendbar), dann fragt man sich, warum nicht eine Formulierung gewählt wurde, die insoweit eindeutig ist. Auch gibt es keine Notwendigkeit, den Arbeiten der Parlamentsmitglieder mehr Beachtung zu schenken. Wenn man den par83 Nämlich den Text, den der Gesetzgeber selbst erlassen hat, wenn die Auslegung kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes stattfindet; oder den Text, den der Gesetzgeber hätte verändern können, wenn die Auslegung erst später stattfindet.
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lamentarischen Diskussionen Bedeutung zumisst, wird den Parlamentsmitgliedern ein Anreiz geboten, sich im legislativen Prozess strategisch zu verhalten, um ihre Auffassung über den Anwendungsbereich einer Norm zu Protokoll zu geben. Das führt zu einem unbefriedigenden Ergebnis: Wenn alle mit einer Formulierung einverstanden waren, warum fand die Lösung dann keinen Niederschlag im Text? Und wenn man sich nicht einig war und unterschiedliche Wortmeldungen zu verschiedenen Bedeutungen stattfanden, nützt es wenig, sich auf eine bestimmte Äußerung zu berufen.84 In Wirklichkeit muss die Frage – bezogen auf die historische Auslegung, aber auch auf die übrigen Auslegungsmethoden – anders gestellt werden: Was ist das Auslegungsobjekt, d. h. muss die Absicht des Gesetzgebers oder der Wortlaut ermittelt werden? Nachdem der Leser nun die Auffassung des Autors vom Vorrang der Wortlautauslegung zur Kenntnis genommen hat, wird es ihn nicht verwundern, dass der Verfasser sich für die zweite dieser beiden Möglichkeiten ausspricht: für die Ermittlung des Sinnes des Textes. Es ist möglich, dass diese Annahme überraschend erscheint, wenn man daran denkt, wie viel Wert oben auf die Gesetzgebung gelegt wurde. Gleichwohl ist das nicht verwunderlich, da es die Gesetzgebung und nicht der Gesetzgeber (i.S.e. konkreten personellen Ausgestaltung des Parlaments in einem konkreten geschichtlichen Moment) ist, dem in demokratischen Systemen eine besondere Bedeutung beizumessen ist. Warum diese Unterscheidung? Ziel ist es, dem Gesetzgeber einen passenden Anreiz dazu zu geben, seine Aufgabe zu erfüllen, und das heißt: nicht nur Gesetze zu erlassen, sondern gute Gesetze zu erlassen. Die gesetzgeberische Gewalt ist kein subjektives Recht, das dem Gesetzgeber frei zur Verfügung steht, um seine eigenen Ziele zu erreichen, sondern eine Befugnis, die ihm zugunsten Dritter, nämlich der Bürger, gewährt wird. Wenn der Gesetzgeber seine Arbeit schlecht verrichtet und seinen Willen nicht in dem Text umsetzen kann, ist es nicht wünschenswert, dass der Auslegende oder der Anwender sein Werk korrigiert, indem sie sich auf seinen wahren Willen berufen (wenn dieser historisch gesehen bestimmbar ist). Denn das motiviert den Gesetzgeber nicht dazu, sich im Gesetzestext korrekt auszudrücken. Und noch weniger kann man für die geforderte Korrektur auf den Willen des idealen Gesetzgebers abstellen. Zwar kann dies wahrscheinlich den realen Gesetzgeber dazu verleiten, vorsichtiger zu sein, indem er die Einmischung der Auslegenden und der Anwender vorwegnimmt, doch ist die Berufung auf diesen idealen Gesetzgeber aus einem anderen Grund nicht zulässig: Jener ideale Gesetzgeber existiert nicht und mit seiner Anrufung bezieht der Auslegende oder Anwender sich darauf, was er selbst für passend erachtet. Dies führt zu dem unlösbaren Pro84
Man könnte denken, dass in diesem Fall die Auslegung bevorzugt werden müsste, die die Mitglieder einer Gruppe befürworten, deren Summe eine ausreichende Mehrheit darstellt, um den Text zu genehmigen. Unabhängig von anderen Problemen führt uns dies aber zu der vorherigen Frage zurück: Warum haben sie nicht den Text gebilligt, der die Frage klar löst, wenn sie doch eine Mehrheit waren?
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blem, dass es Letzteren an der notwendigen demokratischen Legitimation fehlt, um eine solche Entscheidung zu treffen.
VI. Schlussfolgerung Das Gesetzlichkeitsprinzip stellt hohe Ansprüche an den Gesetzgeber. Muss man dies so verstehen, dass diese auch für den Auslegenden gelten? In diesem Artikel habe ich den Schluss gezogen, dass dem so ist. Es geht nicht darum, die These in Zweifel zu ziehen, dass Texte ihre Exegeten weniger stark binden. Vielmehr geht es im Gegenteil, und gerade weil die Texte ihre Auslegenden nicht so rigoros binden können, darum, eine präskriptive These zu entwickeln, nach der sich die Rechtsanwender aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips binden und Beschränkungen ihrer bereits bestehenden Auslegungsfähigkeiten anerkennen sollen. Der Weg zu diesem Ziel führt über eine tiefer greifende Überlegung über die Auslegungsmethoden und ihr Verhältnis und – in der dargestellten Ansicht – über eine Bevorzugung der zwei Regeln, die direkt mit dem durch den Gesetzgeber verabschiedeten Text verbunden sind: der sogenannten „grammatikalischen Auslegung“ und der systematischen Auslegung. Zusammengefasst: Vom Gesetzgeber muss vehement die Abfassung präziser Normen gefordert werden, aber wir Auslegenden müssen von uns selbst verlangen, sie enger an dem und mit mehr Respekt gegenüber dem vorliegenden Gesetzestext auszulegen.
Die Wortlautgrenze Matthias Klatt* Nach einer in der juristischen Methodenlehre weit verbreiteten Auffassung ist jede Anwendung einer Norm entweder Interpretation oder Fortbildung des Rechts.1 Die Grenze zwischen beiden wird durch den Wortlaut der Norm markiert. Jede Anwendung, die innerhalb des Wortlautes einer Norm liegt, ist Interpretation. Jede Anwendung, die über den Wortlaut hinausgeht, ist Rechtsfortbildung. Das Problem der Wortlautgrenze2 betrifft die Frage, ob der Wortlaut diese ihm zugeschriebene Abgrenzungsfunktion erfüllen kann. Diese Frage scheint auf den ersten Blick nur eine unter den vielen zu sein, die zwischen den verschiedenen Theorien der juristischen Argumentation umstritten sind. Tatsächlich jedoch bündeln sich im Problem der Wortlautgrenze fundamentale rechtstheoretische Differenzen wie in einem Brennglas. Das rechtstheoretische Kernproblem der Wortlautgrenze ist die sprachphilosophische Frage nach Struktur und Erkenntnis von Bedeutung. Die Diskussion über die Wortlautgrenze ist ein Paradebeispiel für die – je nach Standpunkt – gescheiterte oder gelungene Zusammenarbeit von Juristen, Linguisten und Sprachphilosophen sowie für Möglichkeit und Grenzen von Interdisziplinarität überhaupt. Insbesondere für linguistisch und sprachphilosophisch basierte Ansätze ist die Wortlautgrenze ein beliebtes Angriffsziel, scheint sich doch in der überkommenen Lehre ein antiquiertes Sprachverständnis der Juristen zu offenbaren.3 Dem ist entge* Der vorliegende Beitrag erschien ursprünglich in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht Verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, Berlin: Walter de Gruyter, 2005, S. 343 – 368. 1 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation – Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1996, S. 288 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre – Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, 1982, S. 182; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 143; Hassold, in: Canaris/ Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S. 211, 219; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 100 Fn. 47, 121 Fn. 47; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung – Band IV: Dogmatischer Teil, 1977, S. 301; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 184. 2 Zur Problemgeschichte siehe Klatt, Theorie der Wortlautgrenze – Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, 2004, S. 40 ff. 3 Müller, Juristische Methodik, 1997, Rn. 533 – 535; Busse, Juristische Semantik – Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 1993, S. 127 ff., 225 f., 251; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische
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genzuhalten, daß das platonistische Ideal der Begriffsjurisprudenz, welches Begriffe als ewiggleiche, unveränderbare Entitäten betrachtet, in der Theorie der juristischen Argumentation schon seit langem einhellig verabschiedet ist. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß jede Interpretationstheorie auf den Fundamenten einer sprachphilosophisch fundierten Theorie sprachlicher Bedeutung aufbauen und mithin die pragmatische Wende, welche Bedeutung jedenfalls auch auf konkrete Verwendungspraktiken einer Sprachgemeinschaft zurückführt, zur Kenntnis nehmen muß. Umstritten ist nicht diese sprachliche Basis jeglicher juristischer Methodik, sondern die Schlußfolgerungen, die aus ihr zu ziehen sind. Ohne Frage kritikwürdig ist die herkömmliche Terminologie. Der Begriff „Wortlautgrenze“ ist in dreifacher Weise falsch. Erstens legt die neuere Sprachphilosophie überzeugend dar, daß propositionale Bedeutung gegenüber begrifflicher analytisch vorrangig ist.4 Die Bedeutung einzelner Wörter leitet sich von der ganzer Sätze ab, nicht umgekehrt. Folglich geht es bei der Frage der Grenze der Gesetzesbedeutung nicht in erster Linie um das einzelne Wort. Zweitens beschäftigt sich die Theorie der juristischen Argumentation zu Recht nicht mit der Phonetik, sondern mit der Semantik einer Norm.5 Irreführend ist daher der Terminus Wortlaut. Drittens kann auch von einer Grenze keine Rede sein, suggeriert dieser Begriff doch eine absolute Sperrwirkung, die für die meisten Rechtsgebiete gerade nicht gegeben ist: Die Grenzüberschreitung durch Rechtsfortbildung ist weit überwiegend zulässig. Zu Recht wird auch die Verwendung des Begriffes möglicher Wortsinn kritisiert.6 Bedeutung kommt Worten nur im Kontext bestimmter Sprechakte zu.7 Deshalb ist nicht auf eine lexikalisch mögliche Bedeutung, sondern auf die aktuelle Bedeutung der Worte des Gesetzes abzustellen. Aufgrund dieser Schwächen der herkömmlichen Bezeichnung ist es vorzuziehen, statt von „Wortlautgrenze“ von „semantischer Grenze“ zu sprechen. Dabei werden zwei der drei Ungenauigkeiten vermieden. Die Verwendung des Terminus „semantisch“ meint dabei nicht den Gegensatz zu „pragmatisch“. Vielmehr wird hier von einem intrinsischen Zusammenhang zwischen Semantik und Pragmatik ausgegangen. Im Kontext des methodologischen Pragmatismus kann man einzelne sprachliche Phänomene nicht mehr zuverlässig als entweder pragmatisch oder semantisch Untersuchung, 1989, S. 285; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze – Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, 1988, S. 40; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik – Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995, S. 239 f. 4 Zu dieser Priorität siehe Klatt (Fn. 2), S. 144 f.; vgl. Fuller, der feststellt: „Even in the case of statutes, we commonly have to assign meaning, not to a single word, but to a sentence, a paragraph, or a whole page or more of text.“ Fuller, Harvard Law Review 71 (1958), 630 (663). 5 So schon Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten – Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, 1972, S. 28. 6 Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 194. 7 Dies betont auch Hoecke, Norm, Kontext und Entscheidung – Die Interpretationsfreiheit des Richters, 1988, S. 236.
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voneinander unterscheiden.8 Wie zu zeigen sein wird, besteht auch nicht nur eine semantische Grenze, sondern es gibt mehrere. Abgesehen von der Terminologie ist jedoch dem Ausgangspunkt der überwiegenden Auffassung ausdrücklich beizupflichten: Semantische Grenzen sind eine unverzichtbare Grundlage der juristischen Methodik (I.). Angesichts dessen bedarf die sprachphilosophische und linguistische Kritik (II.) am Postulat semantischer Grenzen einer sorgfältigen Revision. Dabei zeigt sich, daß kein Anlaß besteht, sich von dem Postulat semantischer Grenzen zu verabschieden. Im Gegenteil: Ein neues System semantischer Grenzen ist möglich (III.).
I. Semantische Grenzen als unverzichtbare Grundlage juristischer Methodik Die bereits erwähnte Hauptfunktion9 semantischer Grenzen – die Abgrenzung von Interpretation und Rechtsfortbildung – ist kein juristisches Glasperlenspiel, sondern unverzichtbare Grundlage des juristischen Arbeitens.10 Dies gilt insbesondere für das Strafrecht11: Hier ist dem Richter die Überschreitung der semantischen Grenzen durch das verfassungsrechtliche Analogieverbot gem. Art. 103 II GG verboten. Auch über das Analogieverbot hinaus kann die verfassungsrechtliche Bedeutung semantischer Grenzen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Verwirklichung fundamentaler Strukturentscheidungen des Grundgesetzes hängt von der Existenz semantischer Grenzen ab. Dies gilt zuvörderst für die Gesetzesbindung der richterlichen Gewalt gem. Art. 20 III GG. Wegen der open texture of law, die nach Rawls zu den burdens of reason zählt,12 und wegen der Vagheit13 der Sprache haben Richter einen Spielraum bei der Rechtsanwendung. Semantische Grenzen haben die Aufgabe, diesen Spielraum durch die Bedeutung des Gesetzes einzuengen. Auf diese Weise 8 Brandom, Making It Explicit – Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, 1994, S. 592; Dummett, in: Dummett (Hrsg.), The Seas of Language, 1993, S. 34, 36, 51; Dummett, in: Dummett (Hrsg.), The Seas of Language, 1993, S. 106, 108, 115; Bilgrami, in: LePore (Hrsg.), Truth and Interpretation – Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, 1986, S. 101, 119 f. 9 Zu den weiteren Funktionen siehe Klatt (Fn. 2), S. 19 – 22. 10 Siehe hierzu und zum folgenden auch Klatt (Fn. 2), S. 22 – 26. Zum Zusammenhang mit der Frage der Objektivität juristischer Argumentation siehe Klatt, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 90 (2004), 51 f. 11 Zur Bedeutung der Wortlautgrenze im einfachen Recht sowie zu weiteren Analogieverboten siehe Klatt (Fn. 2), S. 23 – 25. 12 Rawls, Political Liberalism, 1996, S. 56. 13 Nach Alexy ist Vagheit „der praktisch bedeutsamste Fall eines semantischen Spielraums“, siehe Alexy, in: Alexy (Hrsg.), Recht, Vernunft, Diskurs – Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, S. 13, 24. Vgl. auch Waldron, California Law Review (1994), 509 (512). Zur Bedeutung der Vagheit im Recht siehe Endicott, Legal Theory 7 (2001), 379; Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387; Raz/Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 417.
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werden Freiheit und Bindung des Richters gegenüber dem positiven Recht in ein angemessenes Verhältnis gebracht. Semantische Grenzen sind damit ein wesentliches Fundament für Legitimität und Objektivität juristischer Entscheidungen. Semantische Grenzen sind notwendige Bedingung für die Gewaltenteilung gem. Art. 20 II 2 GG und damit auch für das Demokratieprinzip gem. Art. 20 I GG. Interpretation bedeutet immer, daß der Richter seine Entscheidung als aus dem Gesetz ableitbar darstellen kann. Auf diese Weise wird die Verantwortung für die Entscheidung ein Stück weit auf den demokratisch legitimierten Gesetzgeber delegiert. Für die Rechtsfortbildung dagegen wird eine besondere Begründung verlangt, die über rein interpretatorische Argumente hinausgeht. Der Richter muß z. B. für eine Analogie nachweisen, daß eine Lücke im Recht besteht und daß der Zweck der analog angewendeten Norm auch auf seinen Fall zutrifft.14 Aufgrund dieses Unterschiedes in den Begründungsanforderungen kann die Begründung einer juristischen Entscheidung nur beurteilt werden, wenn die Rechtsanwendung als Interpretation oder als Rechtsfortbildung qualifiziert wird. Dafür sind semantische Grenzen entscheidend. Gleiches gilt für die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Das Postulat semantischer Grenzen stellt eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen tragenden Grundentscheidungen der Verfassung und der juristischen Methodenlehre dar. Geboten kann allerdings nur etwas sein, das möglich ist. Wenn hier von semantischen Grenzen als „unverzichtbarer“ Grundlage gesprochen wird, so ist damit zunächst nur bezweckt, die verfassungskräftigen Gründe für das Postulat semantischer Grenzen wieder in den Blick zu rücken. Trotz dieser Gründe wäre das Postulat semantischer Grenzen aufzugeben, wenn es sich sprachphilosophisch als haltlos herausstellte. Damit kommt es auf die Überzeugungskraft der sprachphilosophischen und linguistischen Kritik an.
II. Sprachphilosophische und linguistische Kritik In dem Maße, in dem sich die Aufmerksamkeit der juristischen Methodenlehre auf die außergesetzlichen Bedingungen der Entscheidungsfindung richtete,15 wurde das Postulat der semantischen Grenzen als wirkungslos verurteilt. Es sei ein bloßes „Verbalbekenntnis“16, Ausdruck rein „symbolische[r] Treue“17 und spie14
Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 260. Vgl. Maus, in: Deiseroth (Hrsg.), Ordnungsmacht – Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft, 1981, S. 153. Für die amerikanische Verfassungsauslegung zieht Schefer das Fazit, daß sich die engen sprachlichen Ansätze, die den Interpreten an den Text binden wollen, vor dem Hintergrund der Kritik von Fish als haltlos erwiesen haben. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court – Zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, 1997, S. 154. 16 Vgl. Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 II GG), 1986, S. 412. 15
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gele ein unzeitgemäßes Richterbild18. Von Autoren des „Arbeitskreises Rechtslinguistik“ um Friedrich Müller stammen ernstzunehmende Einwände, in denen sprachphilosophisch argumentiert wird. Die zentrale These lautet, daß die Bedeutung einer Norm kein vor der Rechtsanwendung feststehender Maßstab sei, mithin diese nicht begrenzen könne.19 Die Ansicht, daß die Fixierung auf Gesetzestexte auf einer Überschätzung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten beruht und daß der Richter kein macht- und willenloses Sprachrohr des Gesetzgebers ist, ist keineswegs neu. Sie findet sich schon in der Freirechtslehre.20 Auch die Hermeneutik hat den Einfluß des Vorverständnisses des Interpreten betont.21 Die Argumente der ontologischen Hermeneutik kehren in der Strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers wieder, allerdings in sprachphilosophischer Gestalt.22 Die Betonung der Normoffenheit durch den „Arbeitskreis Rechtslinguistik“ steht in einem engen Zusammenhang mit rechtssoziologischen Ansätzen23 einerseits und mit dem sprachphilosophischen Bedeutungsskeptizismus andererseits. Die wesentlichen Argumente24 gegen das Postulat semantischer Grenzen sind sprachphilosophischer Natur. Insbesondere das hier sogenannte Sprachspielargument25 verweist im Gefolge des späten Wittgenstein auf die Offenheit von Bedeutung innerhalb von Sprachspielen. Die Verwendung von Sprache sei nicht durch feste Grenzen limitiert.26 Die Mitglieder eines Sprachspiels könnten dessen Regeln ständig verändern. Konventionen eigneten sich nicht als Instrument der Disziplinierung.
17 Ogorek, in: Forstmoser (Hrsg.), Rechtsanwendung in Theorie und Praxis – Symposion zum 70. Geburtstag von Arthur Meyer-Hayoz, 1993, S. 21, 31. 18 Ogorek (Fn. 17), S. 33. 19 Müller (Fn. 3), Rn. 533 – 535. Zur Sprache der Richter aus Sicht der forensischen Linguistik siehe Solan, The Language of Judges, 1993. 20 Vgl. Maus (Fn. 15), S. 154. Siehe auch Ogorek (Fn. 17), S. 22. 21 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 1972, S. 41 f.; Hruschka (Fn. 5), S. 102; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung. Entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 233, 311; Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – Eine rationale Analyse: Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. 92. Kritisch aus Sicht einer neuen subjektiven Auslegungstheorie auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik – Dargestellt am Beispiel der Lehre vom Wortlaut als Grenze der Auslegung, 1982, S. 17, 24 – 27; Depenheuer (Fn. 3), S. 33 – 40; Herbert (Fn. 3), S. 250. 22 Vgl. dazu im einzelnen Klatt (Fn. 2), S. 102, Fn. 617. 23 Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 31 (2000), 15 (30 f.). 24 Eine Zusammenstellung aller gegen das Postulat der Wortlautgrenze vorgebrachten Argumente gibt Klatt (Fn. 2), S. 99 – 102. 25 Zum Sprachspielargument und seinen vier Varianten siehe Klatt (Fn. 2), S. 100 f. 26 Herbert (Fn. 3), S. 239 f.
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Daher sei auch die von der analytischen Methodenlehre27 als (bloße) Feststellung einer Sprachregel bezeichnete Operation in Wirklichkeit kein Erkenntnis-, sondern ein Gestaltungsakt, mithin stets Festsetzung von Bedeutung.28 Die empirische Ermittlung von Bedeutung sei unmöglich. Wenn die herrschende Methodenlehre so tue, als ob Bedeutung vorgefunden werde und feststellbar sei, führe dies zu „freier Dezision“ und Willkür.29 Die Bedeutung einer Norm werde vom Rechtsanwender nicht vorgefunden und könne nicht rein semantisch bestimmt werden, sie werde vielmehr vom Rechtsanwender selbst im hermeneutischen Zirkel erst normiert.30 Diese Erschütterung der Theorie semantischer Grenzen ist von erheblicher Tragweite. Wenn die Bedeutung einer Norm nicht nur nicht feststeht, sondern die Rechtsanwendung nicht einmal steuern kann, dann sind die genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht zu realisieren. Der naheliegende Hinweis, die juristische Interpretation sei durch Regeln begrenzt, die innerhalb einer Interpretationsgemeinschaft gelten,31 wird von den kritischen Positionen nicht akzeptiert. Bloße Konventionen böten keine Richtigkeitsgewähr, sondern unterlägen dem Generalverdacht einer ideologisch infiltrierten, protektionistischen Interessendurchsetzung. Angesichts dieser dekonstruktivistischen Herausforderung ist eine analytische Rekonstruktion der Voraussetzungen semantischer Grenzen erforderlich. Dafür muß die Rechtstheorie auf sprachphilosophische Bedeutungstheorien zurückgreifen.
III. Analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen Die Basis für eine analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen bildet semantische Normativität (1.). Deren Voraussetzungen und Möglichkeiten sind Gegenstand der Kritik, die aber zurückzuweisen ist (2.). Demgemäß ist auf der Basis von Wortgebrauchsregeln und einer Theorie semantischer Fehler ein neues System semantischer Grenzen möglich (3.), das an einem Beispiel erläutert wird (4.).
27
Alexy (Fn. 1), S. 288 – 291; Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 163. Hegenbarth (Fn. 21), S. 51; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Entwickelt an Hand einer Studie zum Verhältnis von verfassungskonformer Auslegung und Analogie, 1979, S. 102 – 104; Herbert (Fn. 3), S. 240 f.; Müller (Fn. 3), Rn. 184; Christensen (Fn. 3), S. 198. 29 Christensen (Fn. 3), S. 180 f.; Busse (Fn. 3), S. 130. 30 Christensen (Fn. 3), S. 75; Busse, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik – Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik, 1989, S. 93, 100; Busse spricht insoweit von „Willkür“, siehe Busse (Fn. 3), S. 130 f.; Esser (Fn. 21), S. 41 f.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre – Ein Lehrbuch, 1995, S. 630, 657; Zippelius, Juristische Methodenlehre – Eine Einführung, 1999, S. 47 f. 31 So etwa Fiss, Stanford Law Review 34 (1982), 739 (762). 28
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1. Semantische Normativität als Fundament semantischer Grenzen Die Frage der Normativität sprachlicher Bedeutung ist ein auch in der neuesten sprachphilosophischen Literatur äußerst kontrovers diskutiertes Problem.32 Grundlegend für alle Normativitätstheorien ist die Erwägung, daß es unmöglich ist, überhaupt etwas Bedeutungsvolles zu sagen, solange es nicht möglich ist, Worte falsch zu verwenden.33 Die auf diesem sehr generellen Normativitätsbegriff aufbauende allgemeine Normativitätsthese lautet:34 Es kann in einer intersubjektiv gültigen Weise zwischen einem korrekten und einem inkorrekten Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken unterschieden werden.
Der Streit um diese Normativitätsthese dreht sich um zwei Fragen: Wie kann die jeder Normativität inhärente Vorstellung einer kontext-transzendentalen Objektivität mit der Pluralität existierender Sprachspiele und Weltkonzepte in Einklang gebracht werden? Und wie kann die intuitiv plausible Ansicht, daß Bedeutung in der konventionellen Praxis einer Sprachgemeinschaft entsteht, einbezogen werden, ohne Bedeutung zugleich auf Quines „common-sense platitudes“35 zu reduzieren? Die gegenwärtig bedeutsamste Verteidigung sprachlicher Normativität hat Robert Brandom mit Making It Explicit (1994) vorgelegt.36 Seine Bedeutungstheorie basiert auf einer Variante des Konventionalismus, geht über diesen jedoch hinaus. Die Regularität im Sprachverhalten einer Gemeinschaft wird durch einen diskurstheoretischen Anspruch auf Richtigkeit überwölbt. Wie bereits der programmatische Titel des Werkes zeigt, sieht Brandom es als Aufgabe seiner Philosophie, auszudrücken und damit explizit zu machen, was in unseren Praktiken bereits implizit vorliegt. Die zentrale These Brandoms lautet: Unsere diskursive Praxis ist implizit normativ strukturiert. Ihr wesentliches Merkmal ist die
32 Der These von der Normativität sprachlicher Bedeutung stehen kritisch gegenüber: Bilgrami, in: Stoecker (Hrsg.), Reflecting Davidson – Donald Davidson Responding to an International Forum of Philosophers, 1993, S. 121, 144; Glüer/Pagin, Synthese 118 (1999), 207 (224 f.); Wikforss, Philosophical Studies 102 (2001), 203 (220); Horwich, Mind 104 (1995), 355 (357); Coates, Mind 95 (1986), 77 (78). Für Normativität: Boghossian, Mind 98 (1989), 507 (532, 548); Blackburn, Synthese 58 (1984), 281 (291); McDowell, Synthese 58 (1984), 325 (329); Wright, Journal of Philosophy 81 (1984), 759 (771 f.); Lance/O’LearyHawthorne, The Grammar of Meaning – Normativity and Semantic Discourse, 1997, S. 13; Gampel, Philosophical Studies 86 (1997), 221. 33 Zum Begriff semantischer Normativität sowie zu den Bedingungen semantischer Normativitätstheorien siehe Klatt (Fn. 2), S. 122 – 138. 34 Boghossian (Fn. 32), S. 513; McDowell (Fn. 32), S. 359 Fn. 3. Vgl. auch Glüer, Sprache und Regeln – Zur Normativität von Bedeutung, 1999, S. 38; Glüer, Acta Analytica 14 (1999), 111 (121). 35 Van Orman Quine, The Pursuit of Truth, 1990, S. 13. 36 Brandom (Fn. 8).
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Möglichkeit, Sprechakte als richtig oder falsch, als angemessen oder unangemessen zu bewerten: „The practices that confer propositional and other sorts of conceptual content implicitly contain norms concerning how it is correct to use expressions, under what circumstances it is appropriate to perform various speech acts, and what the appropriate consequences of such performances are.“37
Insgesamt bietet Brandom eine großangelegte Apologie der oben genannten allgemeinen Normativitätsthese. Indem Brandom den Zusammenhang zwischen dem begrifflichen Inhalt einer Handlung und dem praktischen Kontext ihres Bezugs ausarbeitet, entwickelt er eine ausgesprochen elaborierte Fassung der sonst häufig zum Schlagwort reduzierten Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Wittgenstein.38 Das zentrale Paradox sprachlicher Bedeutung ist die Frage, wie es möglich ist, daß die sprachliche Praxis semantischen Normen unterworfen ist, die sie selbst entwickelt. Schon die Existenz des Streites über die Bedeutung vieler Begriffe wird als Widerlegung der These, semantische Normen könnten intersubjektiv oder gar interkulturell gelten, verstanden. Wie Brandom treffend bemerkt, lebt die sprachliche Praxis „in dieser Spannung zwischen der praktischen Übereinstimmung, daß für uns alle dieselben Normen bindend sind, auf der formalen Seite, und der Uneinigkeit darüber, was diese Normen sind, auf der inhaltlichen Seite.“39 Brandom widmet sich diesem Paradox der Entstehung sprachlicher Normen in der Praxis in seiner normativen Pragmatik. Damit ist nicht der Pragmatismus Rortys gemeint, der Argumentation zum Gespräch degradiert und angesichts der Sprachspielgebundenheit von Bedeutung interkonzeptionelle Diskurse von vornherein für unmöglich hält.40 Vielmehr geht es um eine pragmatisch fundierte Bedeutungstheorie, die das Problem des Zusammenhangs von Wahrheit und Rechtfertigung aufnimmt und die Rolle versteht, die der Wahrheitsbegriff in der diskursiven Praxis spielt. In einer pragmatischen Untersuchung des Gebrauchs von Begriffen klärt Brandom, was Handelnde tun müssen, damit ihre Praktiken als spezifisch sprachliche gelten können. Ausgangspunkt ist ein in der Tradition Kant stehendes anthropologischhandlungstheoretisches Verständnis, demzufolge der Mensch sich gerade durch seine Urteils- und Handlungsfähigkeit auszeichnet. Menschliches Urteilen und Handeln hat stets mit Gründen zu tun, und es ist spezifisch begriffliche Tätigkeit.41 Damit 37
Brandom (Fn. 8), XIII; Hervorhebungen im Original. Brandom (Fn. 8), XII f. 39 Brandom, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1999, 1005 (1019). 40 Vgl. Wellmer, in: Sandbothe (Hrsg.), Die Renaissance des Pragmatismus – Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, 2000, S. 253; Welsch, in: Sandbothe (Hrsg.), Die Renaissance des Pragmatismus – Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, 2000, S. 167. 41 Brandom (Fn. 8), S. 8. Kritisch zur Verbindung von Rationalität und Sprache vor allem MacIntyre, der für die „Animalität“ des Menschen argumentiert, siehe MacIntyre, Dependent Rational Animals – Why Human Beings Need the Virtues, 1999, S. 5 – 8. 38
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kommt begrifflich strukturiertem Tun ein normativer Charakter zu, für den Brandom den Begriff des normativen Status einführt.42 Intentionales Handeln unterliegt wesentlich der Beurteilung anhand der „Kraft des besseren Grundes“. Diese Relevanz von Gründen bei der Beurteilung von Sprechakten innerhalb eines Sprachspiels verleiht den Sprechakten eine normative Dimension. Diese normative Dimension kann nur mittels eines normativen Vokabulars adäquat erfaßt werden. Nach Brandom werden Normen in der sozialen Praxis implizit konstituiert. Diese These kann als Prinzip der sozioempraktischen Instituierung des Normativen bezeichnet werden.43 Wesentlich für diese Instituierung sind normative Beurteilungseinstellungen der Beteiligten. Wiederum auf der Basis von Kant zeigt Brandom, daß rationale Wesen nicht einfach gemäß Regeln handeln, sondern wesentlich gemäß ihren Vorstellungen von Regeln. Sprachliche Normen zwingen wie alle Handlungsnormen nicht naturgesetzlich und unmittelbar, sondern erst aufgrund der normativen Anerkennung durch das handelnde, sprechende Subjekt. Diese Anerkennung (oder auch Zurückweisung) beruht auf der Bewertung von Sprechakten als richtig oder falsch anhand von normativen Einstellungen. Die Rede von normativen Einstellungen ruft den Einwand44 hervor, es handele sich dabei selbst wieder um expliziten propositionalen Gehalt. Die als normativ bezeichneten Einstellungen wären dann nichts anderes als reguläre Verhaltensmuster, die rein deskriptiv beschrieben werden könnten, also Normativität gerade nicht erklärten. Brandom zeigt jedoch die Möglichkeit eines impliziten Verständnisses des Einstellungen, das diesem Regreßeinwand nicht ausgesetzt ist. Denn die Tätigkeit des Beurteilens von Sprechakten besteht wesentlich in Sanktionen. Sprechakte werden dadurch als richtig oder angemessen beurteilt, daß sie belohnt werden, und dadurch als unrichtig oder unangemessen, daß sie bestraft werden. Die sozialen Konstellationen solcher Sanktionsdispositionen haben zwar eine konformistische Struktur, können aber – und dies ist entscheidend – nicht rein deskriptiv als Verhaltensregularitäten beschrieben werden. Brandom erläutert dieses Problem am Beispiel einer archaischen Gesellschaft. Eine in dieser geltenden Norm besagt, daß eine bestimmte Hütte nur betreten werden darf, wenn man ein Blatt eines bestimmten Baumes vorzeigt. Die Verletzung der Norm wird mit Stockhieben sanktioniert. Hier ist die beurteilende Reaktion vollständig in nichtnormativen Begriffen beschreibbar, nämlich in der Verweigerung des Hüttenzugangs und in Stockhieben, wenn das Blatt nicht vorgezeigt wird. Die Bestrafung kann jedoch auch darin bestehen, daß andere Handlungen für unangemessen
42
Brandom (Fn. 8), S. 16 – 18. Vgl. Knell, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2000, 225 (235 f.); Rosen, Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), 163 (170). 44 Zu diesem Einwand des Regulismus siehe Klatt (Fn. 2), S. 141. 43
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erklärt werden, beispielsweise indem bei Verletzung der Hüttenzutrittsnorm die Teilnahme am wöchentlichen Dorffest verweigert wird. Brandom führt aus: „In such a case, the normative significance of transgression is itself specified in normative terms (of what is appropriate of the transgressor is entitled to do). The punishment for violating one norm is an alteration in other normative statuses. Acting incorrectly alters what other performances are correct and incorrect.“45
Dieses Beispiel zeigt, daß die nichtnormative Beschreibbarkeit von Einstellungen und Sanktionen kontingent ist und jedenfalls nicht alle Normen erklären kann. Selbst wenn die unangemessene Teilnahme am Dorffest ebenfalls mit Stockhieben bestraft wird, ist nur diese Teilnahmenorm selbst nichtnormativ intelligibel. Für die Hüttenzutrittsnorm gilt dennoch, daß sie in Begriffen von Einstellungen intelligibel ist, die durch Sanktionen ausgedrückt werden, die ihrerseits vollständig in normativen Begriffen, nämlich in der Berechtigung zum Festbesuch, angegeben werden können. Die normativen Einstellungen bestehen in Vorstellungen von Handlungsnormen und führen zur Bewertung von Handlungen durch Sanktionen bzw. zu entsprechenden Bewertungsdispositionen. Diese Beurteilungseinstellungen haben eine soziale Struktur. Daher sind die Praktiken, in denen Normen implizit enthalten sind, als soziale Praktiken aufzufassen. Eine Beschreibung dieser Normen setzt demnach Regularitäten des Verhaltens und der Dispositionen voraus. Regularitäten sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für normatives Vokabular.46 Das Richtigsein besteht nicht in der bloßen Übereinstimmung. Brandom entwickelt die normative Pragmatik zu einem Modell diskursiver Praxis, welches für die Theorie sprachlicher Bedeutung wichtig ist.47 Im Mittelpunkt der sprachlichen Praxis steht danach das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen.48 Dessen Hauptelemente sind Behauptungssprechakte. Behauptungen übernehmen in der normativen Pragmatik eine doppelte Funktion: Einerseits legt sich der Behauptende auf einen bestimmten Inhalt fest, andererseits kann nach anderen Behauptungen gefragt werden, welche den Sprecher zu dieser Behauptung berechtigen. Festlegung und Berechtigung sind die deontischen Status einer Behauptung. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung eines Sprechaktes als richtig oder falsch und konstituieren damit dessen Bedeutung. Um die besondere Beziehung von Sprechakten, deontischen Status und semantischem Gehalt zu erläutern, entwickelt Brandom ein Modell deontischer Kontoführung.49 Die Grundidee dieses Modells lautet, daß die Teilnehmer eines Sprachspiels über die Einstellungen, Festlegungen und Berechtigungen einzelner Sprecher wech45
Brandom (Fn. 8), S. 43. Brandom (Fn. 8), S. 46. 47 Siehe dazu und zum folgenden Klatt (Fn. 2), S. 147 – 154. 48 Brandom (Fn. 8), S. 159. 49 Brandom (Fn. 8), S. 181 ff. 46
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selseitig quasi Buch führen. Auf diese Weise entsteht ein Bild davon, was in der Gemeinschaft als richtiger und was als falscher Sprechakt gilt. Alle Behauptungen einer Sprache sind auf diese Weise intern miteinander vernetzt. Daher beruht die Bedeutungstheorie Brandoms neben der normativen Pragmatik auf einer inferentiellen Semantik.50 Grundlage sprachlicher Bedeutung sind inferentielle Relationen zwischen den Propositionen einer Sprache. Dieses Verständnis beruht auf der Auffassung, daß begriffliche Tätigkeit wesentlich im Fordern und Liefern von Gründen besteht, die eine Behauptung rechtfertigen. Demgemäß ist eine Aussage verstanden, wenn ihre inferentielle Rolle innerhalb eines Netzes von Aussagen, die jeweils untereinander Definitionen und Begründungen liefern, erfaßt ist.51 Die impliziten Normen, welche die inferentiellen Rollen von Aussagen festlegen, können als Punktestandfunktionen explizit gemacht werden, so daß sich die Sprachpraxis insgesamt in Begriffen einer deontischen Kontoführung erfassen läßt.52 Durch die Praxis der Kontoführung verleihen die Teilnehmer eines Sprachspiels bestimmten Äußerungen propositionalen Gehalt. Das von Brandom vorgelegte Modell diskursiver Praxis ermöglicht damit eine in rein normativen Begriffen gehaltene Analyse propositionaler Bedeutung. Die normative Pragmatik Brandoms zeigt, daß das Sprachspielargument die Offenheit von Bedeutung überbetont. Sprachliche Handlungsnormen einer Sprachgemeinschaft reduzieren diese Offenheit. Daher ist auch die Unterscheidung von Feststellung und Festsetzung von Bedeutung keineswegs von vornherein unmöglich.53 Denn wenn es implizite Normen der diskursiven Praxis gibt, ist nicht verständlich, warum diese nicht auch empirisch feststellbar sein sollten. Die Gleichsetzung von Feststellung und Festsetzung von Bedeutung ist nicht gerechtfertigt. All dies gilt aber nur, wenn die normative Pragmatik ihrerseits der Kritik standhält. 2. Kritik Die wichtigsten Einwände gegen jede Normativitätstheorie sprachlicher Bedeutung haben Kripke und Quine formuliert. Beide bestreiten, daß die Bedeutung eines Ausdrucks die Möglichkeit seines richtigen und falschen Gebrauchs determiniert.54 Kripke stützt seine Indeterminismusthese auf eine radikal skeptische Lesart von Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen.55 Kripkes vergebliche Suche nach einem Bedeutungsfaktum läßt sich mit einer antinaturalistischen Strategie widerle50
Zur inferentiellen Semantik Brandoms siehe Klatt (Fn. 2), S. 144 – 147. Brandom (Fn. 8), S. 89 – 91. 52 Brandom (Fn. 8), S. 181. 53 Klatt, Associations 7 (2003), 115 (122); Klatt (Fn. 2), S. 226 – 234. 54 Klatt (Fn. 10), 57 f. 55 Vgl. Coleman/Leiter, in: Marmor (Hrsg.), Law and Interpretation, Essays in Legal Philosophy, 1995, 203 (219 – 223). 51
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gen. Jeder naturalistische Versuch, die Normativität von Bedeutung auf Tatsachen zurückzuführen, muß daran scheitern, daß auf diese Weise nur unterschiedliche Weisen des Gebrauchs von Sprache festgestellt werden können, nicht aber richtige und falsche Verwendungsweisen. Kripkes zentrales Argument lautet, daß jedes sprachliche Zeichen seinerseits in seinem Gebrauch gerechtfertigt werden müsse. Daher führe der Versuch, sprachliche Regeln festzustellen, notwendig in einem infiniten Begründungsregreß. Kripke übersieht, daß in der Praxis des Argumentierens prima facie-Berechtigungen bestehen. Der normative Status der Berechtigung ist implizit in den sozialen Praktiken des Gebens und Verlangens von Gründen enthalten. Demgemäß werden bestimmte Behauptungen als solche angesehen, zu denen die Sprecher prima facie berechtigt sind. Dieser prima facie-Status ist weder dauerhaft noch unerschütterbar. Vielmehr kann er durch Zweifel angefochten werden. Bis zu ihrer Anfechtung rechtfertigen prima facie-Berechtigungen jedoch bestimmte Verwendungsweisen eines Wortes, während sie andere als falsch ausschließen. Brandom spricht insoweit von der Vorschuß- und Anfechtungsstruktur der Berechtigung. „Claims such as ,There have been black dogs‘ and ,I have ten fingers‘ are ones to which interlocutors are treated as prima facie entitled. They are not immune to doubt in the form of questions about entitlement, but such questions themselves stand in need of some sort of warrant or justification.“56
Durch prima facie-Berechtigungen wird ein vorläufiges Ende der Rechtfertigungsspirale erreicht. Der Einwand Kripkes, der den Sprachgebrauch an externen objektiven Kriterien zu messen verlangt, ist damit hinfällig. Bedeutungsdeterminismus kann auf die Praxis einer Sprachgemeinschaft relativ sein.57 Quines semantischer Holismus basiert wesentlich auf dem Reversibilitätsargument. Es besagt, daß jeder Satz einer Sprache auf der Basis von Erfahrungen veränderbar ist. Wenn dieses Argument zutrifft, ist ein Modell Brandomscher Prägung, das von normativ festgelegten, inferentiellen Relationen zwischen Propositionen ausgeht, unhaltbar. Nach Dummetts Analyse argumentiert Quine mit seiner Reversibilitätsthese wie folgt gegen die Annahme inferentieller Relationen: „The principles governing deductive connections themselves form part of the total theory, which, as a whole, confronts experience. […] But, in that case, there is nothing for the inferential links between sentences to consist in. They cannot be replaced by superinferential links, compelling, us, if we accept certain logical principles, to accept the consequences under those principles of other sentences we accept: for any such superlogical laws could in turn be formulated and considered as sentences no more immune to revision than any other.“58
56
Brandom (Fn. 8), S. 177. Zur triadischen Relativität der Analytizität siehe Klatt (Fn. 2), S. 190 – 193. 58 Dummett, Frege – Philosophy of Language, 1973, S. 596.
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Der zentrale Aspekt von Quines Reversibilitätsthese liegt in der Annahme, daß sämtliche Sätze einer Sprache der Möglichkeit der Revision unterliegen. Quine zufolge kann nicht auf vermeintlich feststehende Sätze, etwa die der Logik, zurückgegriffen werden, um sie als Metaregeln für inferentielle Relationen zu verwenden. Vielmehr, so Quines Argument, sind auch logische Sätze reversibel, so daß die Zuschreibung von Wahrheitswerten zu Behauptungen letzthin nur von der Gesamtheit aller Behauptungen einer Sprache gesteuert wird. Diese jedoch sei uns nicht zugänglich: „No speaker of a language can make fully explicit the principles underlying her linguistic practice.“59 Natürlich kann nicht geleugnet werden, daß viele Zuschreibungen von Wahrheitswerten zu Sätzen einer Sprache im Lichte neuer Welterfahrung geändert werden. Für die Gültigkeit der Quineschen Argumentation ist es jedoch erforderlich, daß diese Änderungen prinzipiell alle Sätze einer Sprache erfassen.60 Diese notwendige Bedingung ist nicht erfüllt, wenn in einer Sprache stets ein bestimmtes Set an Sätzen immun gegen Änderungen ist. Auf der Basis einer solchen limitierten Reversibilität ist gegen den Quineschen radikalen Holismus ein moderater Holismus geltend zu machen. Er beruht auf der These, daß nicht alle Sätze einer Sprache in gleichem Maße reversibel sind. Es spricht nämlich viel für die Annahme, daß es in jeder Sprachpraxis einige Sätze gibt, die prima facie revisionsimmun sind. Dazu gehören z. B. die Regeln der Logik. Ihre Revisionsimmunität beruht auf den normativen Einstellungen der Sprecher einer Sprachgemeinschaft. Logische Sätze sind demnach immun, weil sie von der Sprachgemeinschaft als solche behandelt werden. Die Revisionsimmunität ist an der deontischen Kontoführung ablesbar. Es spricht sogar viel dafür, daß jede Sprache notwendig ein Set an prima facie immunen Sätzen enthalten muß, damit es Kommunikation und Bedeutung überhaupt geben kann.61 Natürlich ist es denkbar, daß auch prima facie revisionsimmune Sätze geändert werden. dies ist jedoch nicht möglich, ohne daß das Sprach- und Argumentationsverhalten einer Sprachgemeinschaft eine völlig neue Struktur bekommt. Das hier entscheidende Argument lautet: Eine Änderung der fundamentalen Sätze unserer Sprache, der Logik, wäre als äußerst wesentliche Veränderung erkenn- und beschreibbar.62 Es entstünde eine andere Sprache mit einem anderen Begriff propositionaler Bedeutung. 59
Vgl. Shieh, in: Heck (Hrsg.), Language, Thought and Logic – Essays in Honour of Michael Dummett, 1997, S. 71, 90. 60 Vgl. Peacocke, in: Hale/Wright (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of Language, 1997, S. 227, 233. 61 Zu dieser These von der notwendigen Inkorporation immuner Sätze siehe Klatt (Fn. 2), S. 180. 62 Kritisch zu einer solchen Strategie zur Rettung der Revisionsimmunität der Logik durch ein Sprachspiel- oder Konventionsargument Putnam, in: Moser (Hrsg.), A priori Knowledge, 1987, S. 85, 110.
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Brandoms Analyse zeigt, daß sich im Gebrauch der Sprache notwendig ein explikatives Instrumentarium herausbildet, das eine normative Bewertung der Gültigkeit bestimmter Inferenzen ermöglicht. Der Unterschied, den Sprecher in ihren normativen Einstellungen zwischen ohne weiteres reversiblen und prima facie revisionsimmunen Propositionen machen, wird von Quine ignoriert. Für ihn sind alle Behauptungen, die in einer Sprache geäußert werden, in gleicher Weise unsicher. Für Quine unterliegen sie in demselben Maß der Möglichkeit der Revision. Wenn demgegenüber nicht alle Sätze einer Sprache in gleichem Maße reversibel sind, ist es gerechtfertigt, von der normativ festgelegten Existenz inferentieller Relationen zwischen Behauptungen zu sprechen. Der moderate Holismus führt deshalb nicht zu den weitreichenden bedeutungsskeptischen Konsequenzen, die aus einem radikalen Holismus Quinescher Prägung gezogen werden. Damit sind die beiden wesentlichen Argumente des Bedeutungsskeptizismus widerlegt. 3. Wortgebrauchsregeln und semantische Fehler Bevor das Gesagte anhand eines Beispiels erläutert werden kann, sind noch einige theoretische Ergänzungen erforderlich. Auf der Basis der oben verteidigten Normativität sprachlicher Bedeutung kann ein System semantischer Grenzen entwickelt werden, welches anhand einer neuen Terminologie eine differenzierte Analyse juristischer Entscheidungen ermöglicht. Statt von „der“ Wortlautgrenze zu sprechen, ist zwischen acht allgemeinen und fünf besonderen semantischen Grenzen zu unterscheiden.63 Ausgangspunkt für dieses System semantischer Grenzen sind die normativ ausgezeichneten inferentiellen Relationen zwischen Behauptungen, wie sie hier anhand von Brandoms Theorie verteidigt wurden. Alexy hat diese Relationen als „Wortgebrauchsregeln“ analysiert.64 Diese Regeln werden in der internen Rechtfertigung65 juristischer Entscheidungen als sprachliche Regeln über die Bedeutung von Ausdrücken gebraucht, die in vorangegangenen Begründungsschritten verwendeten wurden. Wortgebrauchsregeln geben an, welche Eigenschaften (M) ein Objekt (x) erfüllen muß, damit es unter einen Gesetzesbegriff (T) fällt. Die Basisstruktur einer Wortgebrauchsregel W lautet: Für alle Objekte x gilt: Wenn x die Eigenschaften M hat, dann ist x unter den Gesetzesbegriff T zu subsumieren. Formalisiert: W: (x) (Mx ! Tx). Es ist eine Leitidee der hier vorgestellten Theorie, daß diese Wortgebrauchsregeln eine Art der impliziten Normen sind, welche nach Brandom sprachliche Bedeutung 63 Zum System semantischer Grenzen siehe Klatt (Fn. 2), S. 236 – 264 mit weiteren Beispielen. 64 Alexy (Fn. 1), S. 288. 65 Zum Begriff der internen Rechtfertigung siehe Alexy (Fn. 1), S. 274.
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konstituieren.66 Sie zählen die Merkmale auf, die aufgrund der Bedeutung eines Ausdrucks erfüllt sein müssen, damit der Ausdruck auf ein Objekt richtigerweise angewendet wird. Die Geltung dieser Regeln kann durch die normative Pragmatik Brandoms erklärt werden. Wortgebrauchsregeln sind in der alltäglichen Sprachpraxis implizit vorhanden. Sie werden durch die Einstellungen und Bewertungshandlungen der Teilnehmer eines Sprachspiels hervorgebracht, also sozioempraktisch instituiert. Semantische Grenzen werden durch semantisch fehlerhafte Verwendung sprachlicher Ausdrücke überschritten. Die Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks ist fehlerhaft, wenn die ihr zugrundeliegende Wortgebrauchsregel nicht mit der in der Sprachgemeinschaft tatsächlich geltenden, d. h. normativ als richtig ausgezeichneten Wortgebrauchsregel übereinstimmt. In einem solchen Fall formuliert der Sprecher die Wortgebrauchsregel falsch.67 Betrachtet man die oben erläuterte Struktur von Wortgebrauchsregeln, so ist deutlich, daß sich eine solche falsche Formulierung entweder auf rechte oder auf die linke Seite des Konditionals beziehen kann. Entweder der Sprecher verwendet für einen Gesetzesbegriff T1 einen falschen Merkmalkatalog M2, oder er verwendet zwar das richtige M1, verbindet dieses aber mit einem anderen Gesetzesbegriff T2. Hier soll nur die zweite Fehlerart interessieren, d. h. die Verwendung eines falschen Gesetzesbegriffes.68 Dieser semantische Fehler hat zur Folge, daß ein Individuum a aufgrund der Merkmale M1 unter T2 anstatt unter T1 subsumiert wird. Der aufgrund der Merkmale zutreffende Begriff wird dagegen übersehen. Der entscheidende semantische Fehler lautet formalisiert: W: (x) (M1x ! T2x). 4. Das Geldwäsche-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ein Beispiel für die Überschreitung der soeben charakterisierten semantischen Grenze bildet das kürzlich ergangene Geldwäsche-Urteil des Bundesverfassungsgericht.69 In diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren war die Frage zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen sich Strafverteidiger wegen Geldwäsche gem. § 261 II Nr. 1 StGB strafbar machen können, wenn sie von ihren Mandanten ein Honorar annehmen, das diese aus einer rechtswidrigen Vortat erlangt hatten.
66
Dies wird näher ausgeführt bei Klatt (Fn. 2), S. 237 f. Neben den hier dargestellten Fehlerarten, die auf einer falschen Formulierung der Wortgebrauchsregel beruhen, gibt es auch Grenzüberschreitungen, die bei richtig formulierter Wortgebrauchsregel quasi auf einem Subsumtionsirrtum beruhen. Diese spielen hier jedoch keine Rolle. Siehe im einzelnen Klatt (Fn. 2), S. 238 ff. 68 Diese semantische Grenze kann als konsequentielle Festlegungsgrenze bezeichnet werden, siehe Klatt (Fn. 2), S. 244 – 252 mit weiteren Beispielen. 69 BVerfG NJW 2004, 1305 – 1313. 67
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Nach dem Wortlaut der Norm ist diese auch auf Strafverteidiger anwendbar, im Gesetz sind keine Ausnahmen vorgesehen. Dies ist jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen problematisch, weil die drohende Strafbarkeit in die Berufsausübungsfreiheit der Strafverteidiger eingreift und die rechtsstaatliche Bedeutung der Institution der Strafverteidigung beachtet werden muß. Insofern besteht zwischen dem Zweck des § 261 StGB, rechtswidrig bereicherte Straftäter durch das Verbot der Geldwäsche wirtschaftlich zu isolieren, einerseits und dem Recht des Beschuldigten, sich einen Verteidiger zu wählen und diesen zu bezahlen, sowie dem Recht des Verteidigers auf freie Berufsausübung andererseits ein Zielkonflikt.70 Zur Lösung dieses Konfliktes werden unterschiedliche Lösungen diskutiert.71 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem Urteil vom 30. März 2004 der sogenannten Vorsatzlösung72 angeschlossen. Hiernach machen sich Strafverteidiger gem. § 261 II Nr. 1 StGB nur dann strafbar, wenn sie im Zeitpunkt der Annahme ihres Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten. Methodisch stützt das Bundesverfassungsgericht dieses Ergebnis auf eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung. Wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sei der durch die Strafandrohung bewirkte Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit nur dann gerechtfertigt, wenn die Norm einschränkend ausgelegt werde. Durch diese einschränkende Auslegung erhöht das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen, die an den Vorsatz der Strafverteidiger zu stellen sind. Bedingter Vorsatz, d. h. Für-Möglich-Halten und billigende Inkaufnahme, reicht nicht aus. Vielmehr ist direkter Vorsatz, d. h. sicheres Wissen von der Herkunft des Geldes erforderlich. Eine verfassungskonforme Auslegung ist immer dann möglich, wenn eine Norm mehrere Auslegungen, die teils zu einem verfassungswidrigen Ergebnis und teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, zuläßt. Die Norm ist dann verfassungskonform auszulegen. Jede verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze aber am Wortlaut des Gesetzes.73 Durch diesen allgemein anerkannten Grundsatz werden die einleitend genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze sichergestellt. Insbesondere soll vermieden werden, daß durch eine verfassungskonforme Auslegung an die Stelle einer gesetzlichen Vorschrift inhaltlich eine andere Vorschrift gesetzt wird. Dies wäre ein für die Justiz unzulässiger Akt der Rechtssetzung, der nur dem Gesetzgeber zukommt.74
70
Vgl. OLG Hamburg NJW 2000, 673; Katholnigg, NJW 2001, 2041 f. Überblick bei Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage München 2003, § 261 Rn. 33 – 33d m.w.N. 72 Grüner/Wasserburg, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2000, 430 (438 ff.); Matt, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2002, 137 (145). 73 BVerfGE 2, 398; 18, 111; 54, 277 [299 f.]; 71, 81 [105]; 90, 263 [275]; 95, 64 [93]; 101, 312 [329]. 74 Vgl. BVerfGE 2, 406. 71
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Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, daß die vorgenommene restriktive Auslegung nicht gegen die semantischen Grenzen der Norm verstößt. Diese Auffassung ist falsch, wie im folgenden zu zeigen ist. Der hier als Norm N1 bezeichnete § 261 II Nr. 1 StGB besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge. Der Tatbestand nennt für die Rechtsfolge der Bestrafung (hier als R bezeichnet) fünf Voraussetzungen, welche hier als T1 bis T5 bezeichnet werden: Wer einen in Absatz 1 bezeichneten Gegenstand (T1) sich oder einem Dritten verschafft (T2) und – so ist über den reinen Normtext hinaus zu ergänzen75 – dies vorsätzlich (T3), rechtswidrig (T4) und schuldhaft (T5) tut, ist zu bestrafen. Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Wenn ein Objekt x alle fünf Voraussetzungen erfüllt, ist es geboten, die Rechtsfolge auf x anzuwenden. Dies läßt sich in der von Alexy eingeführten Schreibweise76 wie folgt formalisieren: N1: (x) (T1x ^ T2x ^ T3x ^ T4x ^ T5x ! ORx). Der hier entscheidende Tatbestandsbegriff ist T3, also der Vorsatz. Für diesen Begriff gilt in der juristischen Fachsprache die Wortgebrauchsregel W1: Vorsätzlich handelt, wer entweder mit direktem (M6) oder mit bedingtem Vorsatz (M7) handelt. Beide Vorsatzarten unterscheiden sich, wie erwähnt, dadurch, daß der direkte Vorsatz sichere Kenntnis von der Verwirklichung des Tatbestandes voraussetzt, während der bedingte Vorsatz ein Für-Möglich-Halten mit billigender Inkaufnahme genügen läßt. Diese Wortgebrauchsregel läßt sich wie folgt formalisieren: W1: M6x _ M7x ! T3x. Das Bundesverfassungsgericht verwendet demgegenüber, soweit Strafverteidiger betroffen sind, für den Gesetzesbegriff T3 nicht W1, sondern eine andere, engere Wortgebrauchsregel W2. Nach dieser liegt Vorsatz nur in der Form des direkten Vorsatzes, d. h. bei sicherem Wissen vor: W2 : M6x ! T3x. Dadurch wird nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine semantische Grenze nicht überschritten. Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil darauf, daß § 261 II Nr. 1 StGB selbst keine Umschreibung der Voraussetzungen vorsätzlichen Handelns enthalte. Das Gesetz überlasse es Rechtsprechung und Literatur, zu bestimmen, was „Vorsatz“ im einzelnen bedeute. Dies überzeugt nicht. Denn die vom Gesetz offengelassene Definition des Begriffes „Vorsatz“ und die unterschiedlichen Vorsatzarten sind in Rechtsprechung und Literatur seit langem geklärt. Es besteht eine feste fachsprachliche Konvention, über die nicht einfach hinweggegangen werden darf. Diese Konvention zum Wortge75
Die Merkmale T3 bis T5 werden in dem Normtext nicht explizit genannt. Sie stellen jedoch allgemeine Voraussetzungen der Strafbarkeit dar, die im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs genannt werden und bei jeder Strafnorm zu ergänzen sind. 76 Zur Erläuterung der Symbolik siehe Alexy (Fn. 1), S. 274.
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brauch setzt einer völlig neuen Begriffsbestimmung Grenzen. Wenn das Gesetz eine Beschränkung des Vorsatzes auf die Form der Wissentlichkeit in anderen Normen explizit macht (vgl. §§ 257, 258 StGB), folgt daraus e contrario, daß in allen übrigen Fällen auf die allgemeinen Vorsatzformen zurückzugreifen ist. Es entspricht allgemeiner Meinung, daß jede Form des Vorsatzes ausreicht, wenn sich aus dem Gesetz selbst nichts anderes ergibt.77 Dies ist bei § 261 II Nr. 1 StGB der Fall. Hinzu kommt, daß § 261 II Nr. 2 StGB als zusätzliches Merkmal die positive Kenntnis von der Herkunft des Geldes fordert.78 Dieses zusätzliche Merkmal ist aber in Nr. 1 gerade nicht aufgenommen worden. Schließlich ist auch § 261 V StGB zu bedenken, welcher die Strafbarkeit über den Vorsatz hinaus sogar auf Fahrlässigkeit ausdehnt.79 Mithin ist bedingter Vorsatz erst recht erfaßt. Entgegen dem Bundesverfassungsgericht ist daher von der Geltung von W1 auszugehen; W2 ist abzulehnen. Steht W2 aber nicht zur Verfügung, so ist deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht der Sache nach den Gesetzesbegriff T3 durch einen neuen Gesetzesbegriff T8 ersetzt. Das Bundesverfassungsgericht verbindet das aus der Wortgebrauchsregel W1 stammende Merkmal M6 (sichere Kenntnis) mit dem Gesetzesbegriff T3 und ignoriert dabei das ebenfalls in W1 disjunktiv enthaltene M7 (Für-Möglich-Halten). Auf diese Weise tauscht das Gericht T3 gegen einen neuen Begriff T8 aus. Exakt in dieser falsch formulierten Wortgebrauchsregel besteht der semantische Fehler. Das Bundesverfassungsgericht legt sich auf einen anderen Gesetzesbegriff T8 fest, der in der Norm N1 nicht enthalten ist, anstatt die Wortgebrauchsregel für den Gesetzesbegriff T3 zu beachten. Die falsch formulierte Wortgebrauchsregel lautet formalisiert: W3: (x) (M6x ! T8x).
d
Der Sache nach formuliert das Bundesverfassungsgericht auf der Basis der Wortgebrauchsregel W3 eine neue Norm N2. Diese hat zwei Alternativen. Die erste Alternative entspricht der Norm N1, enthält also das richtige T3, wird aber um das negative Merkmal ergänzt, daß der Betroffene nicht Strafverteidiger ist ( T9x). Diese erste Alternative gilt also für alle Personen, die nicht Strafverteidiger sind. Für sie bleibt es bei der normalen Vorsatzdefinition. Die zweite Alternative gilt dagegen für Strafverteidiger. Hier wird statt der normalen Vorsatzdefinition T3 der neue, engere Vorsatzbegriff T8 verwendet. Diese neue Norm N2 lautet formalisiert: d
N2:(x) (T1x^T2x^T3x^T4x^T5x^ T9x) _ (T1x^T2x^T8x^T4x^T5x^T9x) ! ORx). 77
Vgl. Tröndle/Fischer (Fn. 71), § 15 Rn. 5. Dieses zusätzliche Merkmal in Nr. 2 wird allerdings von der herrschenden Meinung als irrelevant interpretiert, so daß auch für Nr. 2 bedingter Vorsatz ausreiche, siehe Tröndle/Fischer (Fn. 71), § 261, Rn. 26a mit der unzutreffenden Feststellung, der Wortlaut sei „unklar“. Diese Interpretation wirft gleichfalls Probleme im Hinblick auf die Wortlautgrenze auf, was hier aber nicht vertieft werden soll. 79 Vgl. Barton, Strafverteidiger 1993, 156 (159). 78
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Der entscheidende Fehler des Bundesverfassungsgerichts liegt darin, daß diese Prozedur nicht offengelegt wird. Vielmehr wird diese Neuformulierung der Norm N2 gerade als Auslegung von N1 bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht schränkt den Anwendungsbereich der Norm ein, indem es für Strafverteidiger mit T8 einen engeren Begriff als T3 verwendet. Die als „einschränkende Auslegung“ bezeichnete Operation des Bundesverfassungsgerichts ist in Wirklichkeit eine Rechtsfortbildung in Form einer teleologischen Reduktion. Denn das Bundesverfassungsgericht nimmt in die Norm die zusätzlichen Begriffe T8 und T9 auf. Es hält den vorhandenen Gesetzesbegriff T3 für zu weit, weshalb es den restriktiveren Begriff T8 in die Norm aufnimmt. Dies ist eine Ergänzung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale, die sich aufgrund der für den Begriff T3 geltenden Wortgebrauchsregel W1 gerade nicht mehr im Rahmen des Wortlautes hält. Die semantischen Grenzen der Norm werden daher überschritten. Das Bundesverfassungsgericht legt § 261 II Nr. 1 StGB nicht aus, sondern formuliert ihn um. Damit überschreitet es die Grenzen verfassungskonformer Auslegung. Es muß betont werden, daß das Bundesverfassungsgericht für sein Ergebnis überzeugende Gründe vorzuweisen hat. Es spricht viel dafür, daß der Wortlaut des § 261 II Nr. 1 StGB tatsächlich zu weit ist und aus den dargelegten verfassungsrechtlichen Gründen der Einschränkung bedarf. Dies gilt insbesondere für den erstrebten Schutz der Strafverteidigung. Diesen Gründen soll hier keineswegs widersprochen werden. Die hier geübte Kritik bezog sich allein auf das methodische Vorgehen des Gerichts. Zu zeigen war ausschließlich, daß das Bundesverfassungsgericht an einer verfassungskonformen Auslegung durch die semantische Grenze des Begriffes „vorsätzlich“ gehindert war.80 Es hätte demnach richtigerweise die Verfassungswidrigkeit der Norm konstatieren müssen. Allein der Gesetzgeber ist berufen, die Norm durch die Einführung eines expliziten Verteidigerprivilegs nachzubessern. Es ist daran zu erinnern, daß dieser semantische Fehler nur eine Art der Überschreitung semantischer Grenzen darstellt. Abschließend sollen noch einmal die wesentlichen Merkmale der hier erläuterten semantischen Grenze dargestellt werden. Diese Grenze wird überschritten, wenn die angebliche Auslegung auf eine Textkorrektur durch den Rechtsanwender hinausläuft. Es handelt sich nicht nur um eine restriktive Interpretation, sondern um eine teleologische Reduktion. Der Normtext wird durch einen vom Rechtsanwender formulierten Quasi-Normtext ersetzt. Eine solche Rechtsfortbildung wird als Auslegung deklariert, wenn so getan wird, als gehe es um Merkmale für einen Begriff des gesetzlichen Tatbestandes, während die Zuordnung dieser Merkmale zu diesem Begriff in Wirklichkeit an der semanti-
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Im Ergebnis ebenso Schaefer/Wittig, NJW 2000, 1387 (1388); Burger/Peglau, wistra 2000, 161; Hetzer, wistra 2000, 281 (288). Vgl. auch Matt (Fn. 72), S. 145. Diese Autoren beziehen sich alle auf Entscheidungen des OLG Hamburg bzw. des BGH, in denen die Frage der verfassungskonformen Auslegung des § 261 II Nr. 1 StGB allerdings wie hier im Mittelpunkt stand.
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schen Grenze dieses Begriffes scheitert. Tatsächlich wird daher vom Rechtsanwender ein zweiter Tatbestandsbegriff in die Norm eingefügt, diese daher verändert.81 Diese Veränderung der Norm wird verschleiert, wenn so getan wird, als gehe es um die Definition des Begriffes der Norm. Das wesentliche Merkmal der Überschreitung dieser Art semantischer Grenzen ist dieses: Die Wortgebrauchsregel, die für die Subsumtion herangezogen wird, wird insofern falsch formuliert, als nicht der von der Gesetzesnorm vorgegebene Begriff gewählt wird, sondern ein anderer Begriff. Die Aufnahme zusätzlicher Tatbestandsmerkmale in die Norm kann zu einer Einschränkung oder Ausweitung ihres Anwendungsbereiches führen. Hier handelte es sich um eine Einschränkung, also um eine teleologische Reduktion.
IV. Ergebnis Anhand der Bedeutungstheorie Brandoms wurde die Normativität sprachlicher Bedeutung gegen sprachphilosophische und linguistische Kritik verteidigt. Sodann wurde auf dieser Basis ein neues System semantischer Grenzen angedeutet und eine Art dieser Grenzen anhand des Geldwäsche-Urteils des Bundesverfassungsgerichts erläutert. Dabei zeigte sich, daß die hochkomplexen sprachphilosophischen Überlegungen zur Normativität sprachlicher Bedeutung mit dem Instrumentarium der analytischen Methodenlehre verbunden und für die Analyse gerichtlicher Entscheidungen fruchtbar gemacht werden können. Auch die hier vorgestellte Theorie semantischer Grenzen zeigt nicht, wo diese in jedem Einzelfall verlaufen.82 Insofern sind keine allgemeingültigen Aussagen über einzelne Begriffe möglich, weil sprachliche Bedeutung eine holistische Struktur hat. Sie ist zu Hintergrundfestlegungen einzelner Sprecher und ganzer Sprachgemeinschaften relativ.83 Es bleibt daher bei der Notwendigkeit, einen sprachanalytischen Diskurs zu führen. Die wesentliche Argumentform dieses Diskurses ist der Verweis auf Wortgebrauchsregeln. Der Nutzen der hier vorgestellten Theorie liegt darin, daß erstmals die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten semantischer Grenzen möglich ist. Mit der hier vorgestellten Terminologie kann der sprachanalytische Diskurs um die Geltung von Wortgebrauchsregeln und die Struktur der Bedeutung von Gesetzesbegriffen differenzierter und präziser geführt werden. Jede Theorie semantischer Grenzen basiert auf einer Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Steuerungskraft der Semantik. Mit dem Problem semantischer Grenzen wird daher zugleich der Stellenwert der semantischen Argumentation im Recht erörtert. Daß von dem Ergebnis der semantischen Interpretation aus guten Gründen 81
Vgl. Seebode, Juristenzeitung 1998, 781 (782). Vgl. Klatt (Fn. 10), S. 64 f. 83 Vgl. Klatt (Fn. 2), S. 190 – 193, 205 – 207.
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abgewichen werden darf,84 hat viele Autoren veranlaßt, den Stellenwert der semantischen Argumentation als gering einzustufen.85 Im Hinblick auf die vehemente Kritik an theoretischen Versuchen, das Kontinuum sprachlicher Bedeutung durch Kategorien und Strukturen zu analysieren, sowie im Hinblick auf die anerkannten Schwierigkeiten in Fällen semantischer Unklarheit wurde die semantische Argumentation von der juristischen Methodenlehre zunehmend mit Unbehagen, wenn nicht mit Geringschätzung betrachtet. Die extreme Position wird von der These gekennzeichnet, daß semantische Argumentation keinen eigenen Stellenwert habe, die Bedeutung des Gesetzes sich vielmehr ausschließlich aus anderen juristischen Argumentformen ergebe.86 Demgegenüber können die hier vorgestellten Strukturen der Semantik als Grundstein für eine neue Theorie der semantischen Interpretation begriffen werden. Insgesamt kann daher von einer Rehabilitierung der semantischen Interpretation für das Recht gesprochen werden, die auch für den Streit um die Rangfolge der Auslegungskriterien von Bedeutung ist.87 Die Sprachpraxis ist nicht im Sinne einer unverbindlichen façon de parler aufzufassen, die von grenzenloser sprachlicher Willkür geprägt wäre, wie dieses dekonstruktivistische Positionen annehmen. Vielmehr sind in der Praxis implizite Normen vorhanden, deren Struktur mit der hier vorgestellten Terminologie analysiert und rekonstruiert werden kann. Auf diese Weise werden die Strukturen zugänglich, in denen sich begrifflicher Gehalt in einer Sprachgemeinschaft herausbildet. Hierdurch können auch die rechtstheoretischen Unterscheidungen zwischen schwierigen und leichten Fällen der Interpretation sowie zwischen Feststellung und Festsetzung von Bedeutung gerechtfertigt werden.88 Die Interpretation von Gesetzen hat insgesamt Diskurscharakter. Interpretationen sind Behauptungen über die Bedeutung eines vom Gesetz verwendeten Begriffes. Diese Behauptungen werden vom Rechtsanwender mit dem Anspruch auf Richtigkeit und unter Angabe von Gründen geäußert. Innerhalb der Klasse dieser Gründe ist semantische Normativität eigenständig. Dies wird hier als Externalität der Sprache für das Recht bezeichnet.89 Semantische Normativität wird in der juristischen Argumentation in einem eigenständigen, von den übrigen Argumentformen zu trennenden sprachanalytischen Diskurs zur Geltung gebracht.
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Schauer, Playing by the Rules – A Philosophical Examination of Rule-Based DecisionMaking in Law and in Life, 1991, S. 215 – 218; Brink, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 1989, 181 (186 f.). 85 In diesem Sinne Bix, Law Language, and Legal Determinacy, 1993, S. 178 – 182; Esser (Fn. 21), S. 103 f.; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“ – Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 1982, S. 42; Kriele (Fn. 21), S. 311; Hruschka (Fn. 5), S. 102; Pawlowski Methodenlehre für Juristen – Theorie der Norm und des Gesetzes, 1999, Rn. 458, 507. 86 So Schefer (Fn. 15), S. 154. 87 Klatt (Fn. 53), S. 127. 88 Klatt (Fn. 53), S. 121 f. 89 Vgl. Klatt (Fn. 53), S. 126.
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Die Externalität der Sprache für das Recht bedeutet, daß Zahl und Art der Argumente im sprachanalytischen Diskurs beschränkt sind. Es sind nur solche Gründe zugelassen, die sich auf Semantik beziehen. Nach der hier verfolgten Grundidee ist der Diskurs, der nach Brandom durch die expressive Rolle des logischen Vokabulars ermöglicht wird, mit dem sprachanalytischen Diskurs i. S. Alexys identisch. Der sprachanalytische Diskurs hat die Funktion, Bedeutung dadurch festzustellen, daß er vorhandene Normen explizit macht. Es handelt sich um einen Diskurs über die Berechtigung einzelner Sprecher zu Festlegungen und über die deontischen Status einzelner Sprechakte. Die hier vorgestellte Bedeutungstheorie stellt ein ausgearbeitetes terminologisches System zur Verfügung, das die bisherigen sprachanalytischen Modelle der juristischen Methodenlehre vertieft und ergänzt.
III. Das Gesetzlichkeitsprinzip in einzelnen Bereichen des materiellen Strafrechts
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe José Juan Moreso* Aber gerade die Dinge, die, wie es scheint, ein Gesetz nicht eindeutig regeln kann, kann doch ein Mensch wohl kaum erkennen. Das Gesetz hat jedoch mit voller Absicht die Bürger erzogen und überträgt Angelegenheiten, die es nicht eindeutig regeln kann, den Amtsinhabern, damit sie nach bestem Gewissen entscheiden und Maßnahmen treffen. (Aristoteles, Politik, III, 16)
I. Einführung Der Titel dieses Beitrags verspricht, ohne Zweifel, viel. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, vor allem die angestrebten Ziele zu definieren. Zunächst werde ich mich ausschließlich auf das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip beziehen, nämlich das, was man als Bestimmtheitsprinzip kennt. Das heißt, dass meine Überlegungen sich auf drei der grundlegenden Ausprägungen der klassischen Gestaltung des Gesetzlichkeitsprinzips richten werden, und zwar auf das Rückwirkungsverbot (nullum crimen sine lege praevia), auf das Verbot des Gewohnheitsrechts (nullum crimen sine lege scripta) und auf die Forderung nach der Bestimmtheit der Strafgesetze (nullum crimen sine lege stricta o sine lege certa). Ich werde mich hauptsächlich mit den letzten dieser Ausprägungen beschäftigen. Im Anschluss werde ich die Rechtfertigungsgründe – und zwar nur aus der Perspektive der Forderung nach der Bestimmtheit der Strafgesetze – betrachten. Obwohl die von mir vorgetragene Argumentation sich auch auf einige Schuldausschließungsgründe anwenden ließe, wie z. B. auf die unüberwindbare Furcht (§ 20. 6. spanStGB), werde ich mich nicht auch mit den begrifflichen Problemen der Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgründen und Schuldausschließungsgründen beschäftigen1, auch nicht – zumindest nicht unmittelbar – mit der entscheidenden Frage nach der Einbeziehung von außergesetzlichen Rechtfertigungsgründen. * Aus dem auf Spanisch vorliegenden Original: Principio de legalidad y causas de justificación (El alcance de la Taxatividad), in: La Constitución: modelo para armar, 2009, S. 205 – 222. Übersetzung ins Deutsche von Jorge Alexander Portocarrero Quispe. 1 Für die Zwecke dieser Arbeit genügt es zu erwähnen, dass ein Verhalten gerechtfertigt ist, wenn es dem Täter als Deliktsverwirklichung zugerechnet werden kann, aber die Tat rechtmäßig ist; dagegen ist ein Verhalten entschuldigt, wenn die Tat rechtswidrig ist, aber der Täter nicht dafür schuldig ist. Vgl. hierzu John L. Austin, „A Plea for Excuses“, in: Philosophical Papers, Oxford, 1961, S. 175 – 204, 176.
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Mit diesen Erklärungen im Blick will ich das Problem darstellen, das in Folgendem besteht: Häufig wird behauptet, das Bestimmtheitsgebot verlange, dass die Strafgesetze bei der Tatbestandsbeschreibung nur deskriptive Begriffe enthalten dürfen, und dass solche Begriffe so präzise wie möglich sein sollen. Das bedeutet, dass die Vagheit, die alle allgemeinen Begriffe betrifft – sogar auch die empirischen Begriffe – so gering wie möglich sein muss. Wenn man das erste und zweite Buch unseres Strafgesetzbuches liest, kann man feststellen, dass die Forderung nach Bestimmtheit bei verschiedenen Sachverhalten in unterschiedlichen Graden, aber immer in ausreichendem Maße, erfüllt wird. Um feststellen zu können, ob ein menschliches Verhalten (ein Tun oder ein Unterlassen) strafgesetzlich verboten ist, reicht es aber nicht aus, dass ein derartiges Verhalten ein im ersten und zweiten Buch des Strafgesetzbuches dargestellter allgemeiner Fall ist, sondern es ist auch notwendig, dass ein derartiges Verhalten nicht unter einen der in § 20 dargestellten Rechtfertigungsgründe fällt. Es ist gleichgültig, ob die sogenannte Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu verteidigen ist oder nicht. Laut dieser Lehre besteht der strafrechtliche Tatbestand aus zwei Merkmalen, nämlich dem positiven Merkmal, das die allgemeine Beschreibung eines prima facie verbotenen Verhaltens ist; und dem negativen Merkmal, der allgemeinen Beschreibung der Umstände, die als Ausnahmen für das obige prima facie Verbot fungieren2. Aus diesem Grund ist ein tatbestandsmäßiges aber nicht rechtwidriges Verhalten immer noch ein strafrechtlich erlaubtes Verhalten. Nun aber sind in unserem Rechtssystem die Rechtfertigungsgründe meistens anhand mehrdeutiger und bewertender Begriffe niedergeschrieben. Diese Überlegungen führen uns zu dem folgenden Trilemma: Entweder schlagen wir einen neuen Wortlaut der Rechtfertigungsgründe vor, der das Bestimmtheitsprinzip einhält, oder wir schlagen ein Strafrecht frei von Rechtfertigungsgründen vor, oder wir begrenzen die Reichweite des Bestimmtheitsprinzips, sodass es die Rechtfertigungsgründe nicht oder nur in abgeschwächter Weise beinhaltet. In den folgenden Absätzen werde ich mich mit der Untersuchung der drei Hörner dieses Trilemmas und einiger seiner Varianten beschäftigen. Vorher ist aber eine nähere Darstellung des Bestimmtheitsprinzips und seiner Rechtfertigung zu schildern. Das wird uns erlauben, die folgenden Themen kritisch zu betrachten.
II. Der Begriff des Bestimmtheitsgebots3 Das Bestimmtheitsprinzip erfordert die Formulierung der strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale mit präzisen Ausdrücken4. Diese Forderung wird häufig mit zwei 2 Vgl. hierzu und im Folgenden, Santiago Mir Puig, Derecho Penal. Parte General, Barcelona, 1998, S. 130. 3 Das Bestimmtheitsprinzip wirft viele und interessante Fragen auf, die hier nicht zu betrachten sind. Zu einer näheren Betrachtung des Bestimmtheitsprinzips kann man indes die folgenden Arbeiten in der spanischen Doktrin vergleichen: eine strafrechtliche Ansicht Ful-
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verschiedenen Bedeutungen verstanden: a) eine Reduktion der Vagheit der angewendeten Begriffe, um das strafrechtlich verbotene Verhalten festzustellen und b) eine Neigung zur Anwendung deskriptiver Begriffe gegenüber der Anwendung bewertender Begriffe. Dennoch ist bei der gegenwärtigen Diskussion bekannt, dass die Vagheit der Begriffe und die semantische Mehrdeutigkeit unausweichliche Merkmale unserer allgemeinen Begriffe sind5. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens, dass neue extreme Fälle von einem allgemeinen Begriff vorliegen können (z. B. wie viele Haare sind nötig, um nicht eine Glatze zu haben? Aus wie vielen Grammen entsteht ein Sandhaufen? usw.). Es ist immer möglich, dass neue bestimmte individuelle Fälle entstehen können, bei denen wir darüber Zweifel haben könnten, ob sie Fälle von einem Begriff sind oder nicht. H. L. A. Hart hat das so dargestellt6 : „Alle Regeln lassen uns Einzelfälle als Beispiele erkennen und klassifizieren; und überall, wo es eine Regel gibt, ist es auch möglich, einfache und zentrale Beispiele, für die die Regel mit Sicherheit gilt, von anderen zu unterscheiden, wo man deren Gültigkeit sowohl begründen wie verwerfen kann. Nirgendwo kann diese Dualität von sicherem Kern und Zwielichtzone vermieden werden, wenn wir Einzelfälle unter allgemeine Regeln bringen“.
Und zweitens, weil unsere Welt die Struktur hat, dass sie aus einer unendlichen Zahl von Merkmalen zusammengebaut ist. Deshalb ist es immer möglich, in der Zugencio Madrid Conesa, La legalidad del delito, 1983; Nicolás García Rivas, El principio de determinación del derecho punible en la doctrina del Tribunal Constitucional, Publicaciones del Ministerio de Justicia, 1992; und eine verfassungsrechtliche Ansicht vgl. Víctor Ferreres Comella, El principio de taxatividad en materia penal (una perspectiva constitucional) (Manuscript). 4 Das Verfassungsgericht Spaniens geht davon aus, dass eine solche Forderung sich in der verfassungsrechtlichen Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips von § 25 (spanische Verfassung) befindet, vgl. hierzu STC (Entscheidungen des Verfassungsgerichts) 133/1987 (S. 48). In der spanischen strafrechtlichen Doktrin vgl. Santiago Mir Puig, Derecho Penal. Parte General (Fn. 2), S. 78 und Manuel Cobo del Rosal/Tomás S. Vives Antón, Derecho Penal. Parte General, 1999, S. 329 – 342. 5 Zu den ersten analytisichen Philosophen zählen Bertrand Russell, „Vagueness“, in: Australian Journal of Philosophie and Psycology 1 (1923), S. 84 – 92; Frederick Waismann, „Verifiability“ in: A.N.G Flew (Hg.), Logic and Language, 1951, S. 117 – 144 und Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Oxford, 1953, secc. 76 und 80. Zwei jüngere Veröffentlichungen, die das philosophische Problem der Vagheit betrachten, sind: Timothy Williamson, Vagueness, 1994 und Rosanna Keefe, Theories of Vagueness, 2000. Rechtphilosophische Autoren, die sich mit dem Thema befasst haben: Alf Ross, On Law and Justice, London, 1958, S. 114 – 115; H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford, 1961, S. 121 ff.; Genaro R. Carrió, Notas sobre derecho y lenguaje, 1965, S. 31 ff. Neuerlich Claudio Luzzati, La Vaghezza delle norme. Un’analisi del liguaggio giuridico, 1990; Jeremy Waldron, „Vagueness in Law and Language: Some Philosophical Issues“, in: California Law Review 82 (1994), S. 510 – 540; Timothy Edicott, Vagueness in Law, 2000. Unter den Strafrechtlern Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 163 – 181. 6 H. L. A. Hart, The Concept of Law (Fn. 5), S. 119. Der auf Deutsch vorliegende Text entspricht der deutschen Ausgabe: H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1. Aufl., 1973, S. 171 – 172.
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kunft auf neue Fälle zu stoßen. Ebenso ist es möglich, dass wir uns hypothetische Fälle ausdenken, bei denen wir starke Zweifel haben, ob der Begriff anzuwenden ist oder nicht. Dies kennt man als potentielle Vagheit oder open texture der Sprache. Noch einmal in den Worten von H. L. A. Hart7: „Es ist ein Grundzug der menschlichen Situation (und deshalb auch der Legislative), dass wir stets zwei miteinander verbundenen Hindernissen entgegenarbeiten, wann immer wir versuchen, unzweideutig und im voraus einige Bereiche des menschlichen Verhaltens durch allgemeine Standards zu regeln, die ohne weitere amtliche Anleitung in besonderen Fällen angewandt werden sollen. Das erste Hindernis ist, dass wir relativ wenig von den Tatsachen wissen; das zweite Hindernis ist, dass wir unser Ziel relativ wenig bestimmen können. Wenn die Welt, in der wir leben, nur durch eine begrenzte Anzahl von Merkmalen bestimmt wäre und diese mit all ihren Kombinationsweisen bekannt wären, könnten wir für jede Möglichkeit im voraus eine Vorhersage machen. Wir könnten Regeln aufstellen, deren Anwendung auf besondere Fälle niemals eine weitere Wahl erfordern würden. Alles wäre bekannt, und für alles, da es bekannt ist, könnte im Voraus eine Regel aufgestellt werden. Dies wäre eine Welt, die für eine ,mechanische‘ Jurisprudenz geeignet wäre“.
Diese zwei Merkmale unserer Sprache werden bei der Einschätzung der Reichweite des Bestimmtheitsprinzips berücksichtigt. Die Bestimmtheit der Begriffe, die in den strafrechtlichen Vorschriften enthalten sind, ist eine Angelegenheit des Grades, und gerade die Bestimmung dieser Grade hängt hauptsächlich von der Rechtfertigung des Bestimmtheitsgebots ab. Zum Beispiel erkennt die amerikanische Lehre des Bestimmtheitsgebots, die als void-for-vagueness doctrine bekannt ist, diese zwei Präzisionsgrenzen in ihrem Rechtssystem an. Dadurch stellt sie fest, ob eine Vorschrift verfassungsmäßig ist oder nicht8. Jetzt wollen wir uns den Problemen zuwenden, die die bewertenden Begriffe mit sich bringen. In einigen Fällen wird die Forderung nach der Anwendung von deskriptiven Begriffen statt der Anwendung bewertender Begriffe als eine sehr strikte dargestellt. In diese Richtung geht Luigi Ferrajoli, wenn er das Bestimmtheitsgebot als Voraussetzung seiner Strafrechtslehre (Garantismo penal) ansieht9. Ferrajoli behauptet, dass die Einbeziehung von deskriptiven Begriffen in die Formulierung der strafrechtlichen Normen es erlaubt, verifizierbare und falsifizierbare deskriptive Aussagen über diese strafrechtlichen Normen formulieren zu können. Zum Beispiel wird der § 148.3 des spanischen Strafgesetzbuches als Strafverschärfungsgrund der Körperverletzung angesehen, wenn das Opfer jünger als zwölf Jahre bzw. unmündig war. Die Tatsache, dass jemand jünger als zwölf Jahre ist, kann anhand einer solchen Aussage dargestellt werden (das gleiche kann man über jemanden sagen, der unmün7
Ebd., S. 125, 178. Vgl. hierzu Wayne R. LeFave/Austin W. Scott, Jr., Substantive Criminal Law, Vol 1, 1986, S. 126 – 128. Die gegenwärtige nordamerikanische strafrechtliche Doktrin behauptet, dass die void-for-vagueness doctrine in dem fünften (zumindest was die Bundesgesetze betrifft) und vierzehnten (bzgl. der Gesetze der Bundesländer) amendment der Verfassung beinhaltet ist, nämlich in „the due process clauses“. 9 Luigi Ferrajoli, Diritto e Ragione. Teoria del garantismo penale, 1989, S. 94 – 107. 8
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dig ist, obwohl eine solche Behauptung schwieriger zu begründen ist, da „unmündig“ einen juristischen Ausdruck darstellt, dessen genaue Bedeutung seinerseits von anderen Rechtsnormen abhängt). Dagegen erlaubt laut Ferrajoli die Einbeziehung bewertender Begriffe bei der Formulierung der strafrechtlichen Normen nicht, verifizierbare und falsifizierbare Aussagen herzustellen10. „Eine Alternative dazu ergibt sich aus der Tatsache, dass die Sprache des Gesetzgebers bewertende Ausdrücke ausschließt oder einschließt. Man kann als Beispiel für eine strafrechtliche Norm, die eine Tatsache und nicht einen Wert beschreibt, § 575 unseres Strafgesetzbuches anführen [Ferrajoli bezieht sich hier auf das italienische Gesetzbuch]. Diese Norm definiert Mörder als denjenigen, der einen Menschen tötet. Ein Gegenbeispiel dazu – eine strafrechtliche Norm, die einen Wert ausdrückt und dementsprechend gegen das Gesetzlichkeitsprinzip verstößt (,stretta legalità‘ ist der Ausdruck, den Ferrajoli anwendet, um das Gesetzlichkeitsprinzip zu bezeichnen) – können wir in § 529 des italienischen Strafgesetzbuches finden. Diese Norm definiert Handlungen und Gegenstände als obszön, die die gemeinschaftliche Sittsamkeit verletzen. Die Anwendung der erstgenannten Norm setzt ein Tatsachenurteil voraus, nämlich, ,Ticio hat den Tod eines Mannes verursacht‘; die Anwendung der zweiten Normsetzt hingegen ein bewertendes Urteil voraus, nämlich, ,Ticio hat laut der gemeinschaftlichen Moral die Sittsamkeit verletzt‘. Das erste Urteil ist, indem es sich auf eine empirisch-objektive Tat bezieht, (einigermaßen) verifizierbar oder falsifizierbar. Damit wird dieses Urteil eine Erkenntnis und eine gerichtliche Handlung sein. Das zweite Urteil ist, indem es eine moralische Behauptung ausdrückt, keineswegs verifizierbar oder falsifizierbar, und damit wird dieses Urteil eine bewertende Handlung darstellen, die auf einer subjektiven und bloß beliebigen Behauptung basiert.“
Wenn Ferrajoli Recht hätte, das heißt, wenn alle die Prämissen, die ein bewertendes Urteil vorsehen, nicht tauglich wären, verifizierbar oder falsifizierbar zu sein (etwa bloße emotive Ausdrücke), dann läge ein starker Grund vor, um bewertende Ausdrücke von der Formulierung strafrechtlicher Normen auszuschließen: Bei Vorliegen bewertender Begriffe wird es unmöglich sein festzustellen, ob ein individueller Fall ein Unterfall des bewertenden Begriffs ist oder nicht. Es ist wichtig zu erkennen, dass das Vorliegen bewertender Begriffe in den strafrechtlichen Normen ein schwereres Problem wäre als das Problem der Vagheit der Begriffe, weil vage Begriffe sich als problematisch bei marginalen Anwendungsfällen erweisen, während die bewertenden Begriffe, laut dieser Auffassung, sich als problematisch bei allen ihren Anwendungsfällen zeigen. Indes: Was spricht dafür, diese Auffassung der bewertenden Begriffe zu übernehmen? Es scheint, als sehe diese Auffassung eine non-kognitivistische Auffassung von der Moral voraus, d. h. eine Einstellung, nach der die moralischen Urteile Ausdrücke von Emotionen oder von Verhaltensvorschriften sind und keine objektive Beschreibung.11 Setzen wir voraus, dass in diesem Kontext die bewertenden Begriffe eine lin10 Ebd, S. 100 – 101. Vgl. hierzu über bewertende Begriffe auch Jerzy Wròblewski, The Judicial Application of Law, 1992, S. 138 – 141. 11 Die Hauptvertreter der emotivistischen Auffassung sind: A. J. Ayer, Language, Truth and logic, 1936, Kap. 6 und Charles L. Stevenson, Ethic and Language, New Haven, 1945. Hauptvertreter der präskriptivistischen Fassung R. M. Hare, The Language of Morals, 1952.
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guistische Funktion haben, die grundlegend präskriptiv ist. Das schließt nicht aus, dass einige bewertende Begriffe vorliegen, nämlich Begriffe über das Gute, das Korrekte oder das Sittenwidrige – die sogenannten „leichten bewertenden Begriffe“ (thin) – deren Gehalt kaum deskriptiv ist (aber nicht vollkommen leer, denken wir an Ausdrücke wie „X ist ein guter Professor“ oder „Y ist eine gute Schauspielerin“). Es gibt andere bewertende Begriffe mit mehr deskriptivem Inhalt, nämlich die sogenannten „dichten bewertenden Begriffe“ (thick), wie die Begriffe ehrlich, keusch oder mutig12. Bei den dichten Begriffen ist es möglich, ihnen einen deskriptiven Inhalt zuzuschreiben. Der Satz „Das Leben von Königin Isabel II ist kein Beispiel von Keuschheit.“, hat einen informativen Inhalt, obwohl derjenige, der das sagt oder das hört, die ihm zugrundeliegende Idee der sexuellen Sittlichkeit nicht teilt. Sogar in Bezug auf Ferrajolis Beispiel über die Sittsamkeit (wir können an die obszönen Handlungen des § 185 des spanischen Strafgesetzbuches denken) kann man auch behaupten, dass dieser Ausdruck sich nicht auf die Zustimmung oder Missbilligung desjenigen bezieht, der eine vorschriftsmäßige Entscheidung trifft. Vielmehr bezieht sich dieser Ausdruck auf den Glauben und die Einstellungen einer bestimmten Gesellschaft. Die Darstellung des Glaubens und der Einstellung einer bestimmten Gesellschaft sind immer noch eine Beschreibung13. Dennoch erscheint dies kein geeigneter Weg zu sein, weil in der Mehrzahl der schwierigen Fälle die Mitglieder der Gesellschaft unterschiedliche Meinungen haben können. Aus diesem Grund sollten wir uns mit Winfried Hassemer fragen, was für einen Grad der Übereinstimmung man braucht, um feststellen zu können, ob ein bewertender Begriff entstanden ist oder nicht14. Von äußerster Bedeutung ist hier, dass die „bewertenden Begriffe dichter Art“ einen informativen Inhalt haben und sie sich dadurch nicht von den deskriptiven Begriffen unterscheiden lassen. Sie sind deskriptive Begriffe, die eindeutige oder paradigmatische Anwendungsfälle haben: Wenn man sagt, dass ein Verhalten mutig oder feige war, enthält dies schon einen informativen Inhalt. Trotzdem ist es wahr, dass die bewertenden Begriffe unten normalen Umständen eine zustimmende oder missbilligende Einstellung von demjenigen implizieren, der sie verwendet. Das ist das entscheidende Merkmal, das die bewertenden Begriffe von den bloß deskriptiven Begriffen unterscheidet. 12 Die ursprüngliche Idee stammt von R. M. Hare, The Language of Moral (Fn. 11), S. 121 ff., und wird fortgeführt bei Bernard Williams, Ethic and the Limits of Philosophy, 1985, Kap. 8: „Ethics“, in: A. C. Grayling (Hg.), Philosophy, Oxford, 1995, S. 546 – 582 und „Truth en Ethics“, Ratio 8 (1985), S. 227 – 242. Vgl. hierzu auch Joseph Raz, „Notes on Value and Objectivity“, in: Engaging Reason: On the Theory of Value and Action, 1999, Kap. 6. 13 Dieses Argument stammt von Carlos E. Alchourrón/Eugenio Bulygin, „Los Límites de la lógica y el razonamiento jurídico“, in: Carlos E. Alchourrón/Eugenio Bulygin, Análisis lógico del Derecho, 1991, S. 315 – 316. Der von Ferrajoli erwähnte Abschnitt der strafrechtlichen Norm scheint sich auf diese Annahme zu beziehen. 14 Vgl. Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts (Fn. 5), S. 179 – 181.
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Die verwendeten bewertenden Begriffe, die in der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände („ein besonders erniedrigender oder entwürdigender Charakter“, § 180 Abs. 2 des spanischen Strafgesetzbuchs; „besonders verletzbare Person“, § 180 Abs. 3 des spanischen Strafgesetzbuchs) sowie in der Formulierung der Rechtfertigungsgründe stehen („Gefahr der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung“, „unerlaubtes Eindringen“, „vernunftgemäße Erforderlichkeit des angewandten Mittels“, „ausreichende Provokation“, § 20 Abs. 4 des spanischen Strafgesetzbuchs oder „um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden“, § 20 Abs. 5 des spanischen Strafgesetzbuchs), sind „bewertende Begriffe dichter Art“ und haben damit einen informativen Inhalt. Solche Begriffe sind vage, einige sogar von äußerster Vagheit.15 Demnach ist die „Grauzone“ des Begriffes, d. h. der Bereich, in dem Zweifel über die Anwendung des Begriffes vorliegen, sehr breit. Damit liegt das Problem der Nutzung der bewertenden Begriffe in der strafrechtlichen Gesetzgebung nicht am fehlenden informativen Inhalt, wie Ferrajoli behauptet, sondern viel mehr in ihrer hohen Vagheit. Auf Grund dessen, dass die Vagheit eine intrinsische Eigenschaft der Sprache ist, mit der wir die generellen Vorschriften formulieren, und, dass – wie ich zu beweisen versucht habe – das Problem der bewertenden Begriffe an ihrem hohen Grad an Unbestimmtheit liegt, können wir behaupten, dass das Bestimmtheitsprinzip einen bestimmten Grad an semantischer Bestimmtheit verlangt. Dennoch kann diese Bestimmtheit nie vollkommen sein. Was für einen Grad an Präzision braucht man? Wo liegt die Schwelle der ausreichenden Bestimmtheit? Wo liegt der Grad der verfassungsmäßig mindestens erforderlichen Bestimmtheit?16 Solche Fragen hängen nicht von dem Begriff des Bestimmtheitsgebots ab, sondern von seiner Rechtfertigung.
III. Die Rechtfertigung des Bestimmtheitsgebots Dass die strafrechtlichen Gesetze bestimmt sind und dass sie dem Bestimmtheitsprinzip untergeordnet sind, ist ein Teil des Ideals der Rechtssicherheit in der Aufklärung. Nur klare und bestimmte Gesetze, die von ihren Adressaten erkennbar sind, erlauben den Menschen, ihre Entscheidungen und ihre Lebenspläne mit Sicherheit festsetzen zu können.17 Wenn wir uns nach den Gründen fragen, weswegen es wichtig ist, dass die Personen ihre Entscheidungen und ihre Lebenspläne festsetzen können, 15
Denken wir an den unterschiedlichen Präzisionsgrad des ersten und des zweiten Tatbestandsmerkmals, die beide als strafverschärfende Gründe für die sexuellen Angriffe bei § 180 des spanischen Strafgesetzbuches vorgesehen sind. Während das erste Merkmal sich darauf bezieht, dass die ausgeübte Gewalt oder Einschüchterung einen besonders erniedrigenden oder entwürdigenden Charakter aufweisen, bezieht sich das zweite Merkmal auf Taten, die durch das gemeinsame Handeln von zwei oder mehr Personen begangen sind. 16 Manuel Cobo del Rosal/Tomás S. Vives Antón, Derecho Penal, Parte General (Fn. 4), S. 335: „Ein strafrechtliches Gesetz …, das nicht mit Bestimmtheit den Bereich des Strafbaren feststellt, verstößt gegen die Verfassung“. 17 Anschaulich begründet bei Lon Fuller, The Morality of Law, 1969, Kap. II.
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gibt es nur eine mögliche Antwort, nämlich, dass das ein Weg ist, um Respekt für ihre Autonomie zu zeigen18. Eine der grundlegenden Eigenschaften der Autonomie besteht eben darin, dass jeder in der Lage sein soll, die für ihn wichtigen Entscheidungen und Lebenspläne allein festzusetzen19. In dem Maße, wie die strafrechtlichen Normen unbestimmt sind, nimmt die Fähigkeit des einzelnen, sein eigenes Leben zu planen und dabei das Strafrecht zu beachten, ab. Die Autonomie, so verstanden, ist ein Prinzip der Rationalität. Angenommen, dass wir rationale Wesen mit der Fähigkeit sind, Ziele zu setzen und zu erreichen, ist es für uns von äußerster Wichtigkeit zu wissen, was für Hindernisse der Erreichung unserer Ziele entgegenstehen können.20 Demzufolge kann das Bestimmtheitsprinzip als eine der Dimensionen des Gesetzlichkeitsprinzips angesehen werden und, noch allgemeiner, als eine der Gewährleistungen der Rechtstaats – Rule of Law –21. Diese Auffassung versteht das Strafrecht als ein öffentliches Maßnahmenbündel, das sich gezielt an rationale Personen richtet, um ihr Verhalten zu steuern und ihnen eine Grundlage für die soziale Zusammenarbeit zu geben. Es ist auch möglich, anhand dieser Kriterien die Verbindung zwischen Bestimmtheit und Freiheit zu rekonstruieren. Wie John Rawls behauptet: „Wird aber der Grundsatz, dass es kein Vergehen ohne ein Gesetz gibt, verletzt, etwa durch ungenaue Vorschriften, so ist das, was man tun darf, ebenso ungenau bestimmt. Die Grenzen unserer Freiheit sind ungewiss“22. Es ist wichtig zu beachten, dass das Ideal an Rechtssicherheit aus drei Perspektiven betrachtet werden kann: a) aus der Sicht der Bürger, b) aus der Sicht der Polizei und c) aus der Sicht der strafrechtlichen Organe. Demgegenüber wurde manchmal behauptet, dass die strafrechtlichen Normen nicht an die Bürger adressiert sind, sondern an die Richter. Wir werden hier davon ausgehen, dass ein verbotenes Verhalten impliziert, dass dieses Verhalten eine strafrechtliche Sanktion voraussetzt, d. h., dass dieses Verhalten ein Delikt oder eine Übertretung ist. Zugleich werden wir davon ausgehen, dass die strafrechtlichen Normen in der Lage sind, das Verhalten der Bürger zu steuern. Gewöhnlich bezieht sich die Klarheit der strafrechtlichen Normen, aus der Sicht der Bürger, ausschließlich auf die Reduktion des Spielraumes der Polizei und anderer strafrechtlicher Organe. Sie sind wie die zwei Seiten der gleichen Münze: Je klarer die Norm ist, desto mehr Autonomie besteht für die Bürger und desto weniger Spielraum für die Richter und die Polizei bei dem Verurteilen und bei dem Verhaften von Bürgern. Dennoch gibt es Fälle, in denen dies nicht so zu sein scheint: Eine strafrechtliche Norm kann festsetzen, dass bei bestimmten Umständen, wie z. B. bei sozialen Unruhen, die Polizei in der Lage sei, von den Bürgern das Verlassen bestimmter Zonen zu fordern und sie bei Missachtung festzuhalten und 18
Vgl. hierzu Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law, Oxford, 1995, S. 67. Vgl. hierzu Carlos Santiago Nino, Ética y derechos humanos, 1989 (2), S. 229. 20 Vgl. hierzu Joseph Raz, The Authority of Law, 1979, S. 27 (Fn. 27). 21 Joseph Raz (Fn. 19), S. 214 – 215. 22 John Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 279. Der auf Deutsch vorliegende Text entspricht der deutschen Ausgabe: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 270 – 271. 19
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nachträglich von einem Richter verurteilen zu lassen. Obwohl der Tatbestand dieser Norm sowohl für die Bürger als auch für die Richter bestimmt ist – wenn die Polizei den Befehl verkündet, eine bestimmte Zone zu verlassen, gibt es die Pflicht dem zu folgen, und wenn jemand diesen Befehl missachtet, müssen die Richter ihn bestrafen –, zeigt sich dieser Tatbestand als unbestimmt für die Polizei und erhöht ihren Spielraum.23 Aus diesem Grunde ist es wichtig hervorzuheben, dass die Forderung nach Rechtssicherheit der strafrechtlichen Normen eine doppelte Dimension vorweist: Einerseits wendet sie sich an den Gesetzgeber, denn die strafrechtlichen Normen sollen klar und bestimmt sein; andererseits wendet sie sich an die Polizei und an die Richter, um ihre Spielräume für Festnahmen und Verurteilungen zu beschränken. Damit zwingt man sie, das Gesetz zu respektieren und verbietet ihnen die analoge Anwendung der strafrechtlichen Normen.24 Wir können uns fragen, ob diese Forderung nach Bestimmtheit extrem sein soll. Es scheint plausibel, eine negative Antwort auf diese Frage zu geben. Eine extreme Bestimmtheit könnte einen starken Kasuismus implizieren. Der Kasuismus zeigt sich als problematisch, weil der Tatbestand einer Norm nicht alle möglicherweise vorkommenden bzw. nicht vorkommenden Fälle ein- bzw. ausschließen kann. Aus diesem Grund gilt der Satz: Je ungenauer die den Tatbestand rechtfertigenden Ziele sind, desto größer ist die Gefahr der Ein- bzw. Ausschließung von allen möglichen vorkommenden bzw. nicht vorkommenden Fällen. Exemplarisch: In einem Restaurant befindet sich ein Schild, auf dem steht: „Hunden ist der Zutritt nicht gestattet!“. Das diese Regel rechtfertigende Ziel ist, den Kunden ein ruhiges Essen zu ermöglichen. Nun ist es aber so, dass die Formulierung der Regel ein Zutrittsverbot für Blindenhunde impliziert, das vom Ziel der Regel aber nicht gerechtfertigt wird, während die Formulierung gleichzeitig Tigern den Zutritt erlaubt, obwohl das Ziel, das die Regel rechtfertigt, dem entgegensteht.25 Daraus entsteht das folgende Problem: Entweder nehmen wir lediglich die allgemeinen rechtfertigenden Ziele der Regeln in die Formulierung der Regel auf (etwa, „Hunden Zutritt nicht gestattet, soweit es die Ruhe der Kunden betrifft!“) und geben damit dem Regelanwender einen weiten Spielraum; oder wir formulieren die Regel, ohne in ihr die rechtfertigenden Ziele zu nennen und fassen so ausdrücklich auch Fälle, die nicht von dem rechtfertigenden Grund abgedeckt werden, unter die Regel und lassen Fälle, die von dem rechtfertigenden Grund eingeschlossen werden, außerhalb ihres Anwendungsbereichs. Es liegt nahe, dass es die Übernahme des zweiten Lösungsansatzes voraussetzt, wenn man 23 Ein ähnlicher Sachverhalt, bei dem der US Supreme Court die sogenannte void-forvagueness doctrine angewendet hat: City of Chicago v. Morales (US Supreme Court, 10 June 1999). 24 Vgl. Jesús-María Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, 1992, S. 254. 25 Diese für alle generellen Regeln kennzeichnenden Merkmale (under- und over-inclusiveness) wurden von Frederick Schauer ausgearbeitet. Vgl. Frederick Schauer, Playing by the Rules, Oxford, 1991, S. 31 – 34.
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menschliches Verhalten steuern will. Je ausführlicher und kasuistischer unsere Formulierung ist, desto größer wird die Gefahr von Schutzlosigkeit vor nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen. Wiederum zeigt sich hier das Bestimmtheitsgebot als eine graduierbare Angelegenheit. Wenden wir diese Ideen auf die strafrechtlichen Normen an. Wir merken, dass das Problem der Schutzlosigkeit vor nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen im Strafrecht relativ gering ist, da man davon ausgeht, dass strafrechtlich erlaubt ist, was nicht strafrechtlich verboten wurde. Es gibt andere Mechanismen in der Rechtsordnung, um die Verhaltensweisen, die außerhalb der abschließenden strafrechtlichen Regelungen liegen, zu verhindern. Dennoch spielt das Problem der Einbeziehung der über den Tatbestand hinausgehenden Verhaltensweisen eine wichtige Rolle im Strafrecht. Zahlreiche Autoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die Erweiterung strafrechtlicher Tatbestände die Gefahr impliziert, dass das Gewissheitsideal völlig verloren geht. Diese Gefahr entsteht aus der Tatsache, dass in diesen Tatbeständen Fälle, die nicht von den rechtfertigenden Zielen gedeckt sind, eingeschlossen sein können26. Trotzdem ist es für das Thema, das wir betrachten wollen, nämlich die Rechtfertigungsgründe, von besonderer Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass die Funktion solcher strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe darin liegt, ein strafrechtlich verbotenes Verhalten, das – obwohl es unter einen Straftatbestand fällt – doch nicht von den eine Bestrafung rechtfertigenden Gründen erfasst wird27, aus dem Anwendungsbereich der strafrechtlichen Sanktionierbarkeit auszuschließen. Dabei ist es notwendig, dass die Rechtfertigungsgründe in einer Weise formuliert werden, die es erlaubt, die für die Haftungsausschließung sprechenden Argumente angemessen zu fundieren. Dadurch wird vermieden, dass der Rechtfertigungsgrund seinerseits überbordend angewendet wird.
IV. Fallbezogene Analyse und Rechtfertigungsgründe Die erste Möglichkeit zur Lösung des dargelegten Trilemmas ist eine Forderung nach Ausführlichkeit und Korrektheit bei den Rechtfertigungsgründen im Strafrecht. Daraus könnte die Behauptung abgeleitet werden, dass Rechtfertigungsgründe für alle der im zweiten und dritten Buch des spanischen Strafgesetzbuches vorliegenden Tatbestände bestehen müssten. Wenn es nicht so wäre, hätten offensichtlich die strafrechtlichen Tatbestände eine generelle und, in diesem Sinn, eine unbestimmte For26 Vgl. hierzu Winfried Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“, ZRO (1992), S. 378 – 383; Jesús-María Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal constemporáneo, (Fn. 22), S. 252 – 258. 27 Wie Hart es gedeutet hat: „Killing in self-defence is an exception to a general rule making killing punishable, it is admitted because the policy or aims which in general justify the punishment of killing do not include cases such as this.“ Vgl. hierzu H. L. A. Hart, Punishment and Responsibility, 1968, S. 13.
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mulierung. Diese Formulierung bezieht sich nämlich auf alle in den Tatbeständen aufgenommenen Sachverhalte. Wie Claus Roxin aufzeigt28 : „Sie greifen erstens über den jeweiligen Deliktstypus hinaus, gelten für alle Tatbestände oder doch eine Vielzahl von ihnen und treffen ihre Regelungen daher nicht durch die Beschreibung deliktstypischer Lebensausschnitte, sondern durch die Aufstellung sozialer Ordnungsprinzipien (Güterabwägungsprinzip, Selbstschutzprinzip usw.).“
Dagegen könnte man einwenden, dass der strafrechtliche Gesetzgeber diese Sozialordnungsprinzipien in die Struktur jedes Tatbestandes einbauen durfte, um das von dem Bestimmtheitsprinzip geforderte Gewissheitsideal zu erhalten. Die Folge ist der sogenannte Kasuismus, welcher seinerseits eine schwere Gefahr von Schutzlosigkeit gegenüber den nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen impliziert. Dies bedeutete die Überschreitung der Hauptfunktion der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht: die Einbeziehung der über den Tatbestand hinausgehenden verbotenen Verhaltensweisen auszuschließen29. Mit anderen Worten: Die von der Formulierung, aber nicht den Zielen des Tatbestandes erfassten Verhaltensweisen, die auf Grund eines Übermaßes an Einzelheiten in der Formulierung auch nicht in die Rechtfertigungsgründe aufgenommen wurden, wären und blieben rechtswidriges Verhalten. Während einerseits bei der Formulierung des strafrechtlichen Tatbestandes wichtig ist, dass seine Formulierung nicht Verhalten, das über den Tatbestand hinausgeht, einbezieht, ist andererseits bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe von besonderer Bedeutung, dass ihre Formulierung Verhalten, das nicht in den (Rechtfertigungs-)Tatbestand einbezogen wird, schutzlos lässt. Da der Kasuismus die Schutzlosigkeit des nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltens impliziert, müssen wir eine ausführliche Formulierung der Rechtfertigungsgründe ablehnen.
V. Strafrecht ohne Rechtfertigungsgründe Die zweite Möglichkeit zur Lösung unseres Trilemmas hat zwei Varianten: a) bei der ersten geht es, da die Rechtfertigungsgründe sich nicht durch das Bestimmtheitsprinzip rekonstruieren lassen, um die Entstehung eines Strafrechts ohne jegliche Rechtfertigungsgründe; b) bei der zweiten geht es um die Entstehung eines ausdrücklichen Strafrechtes ohne explizite Rechtfertigungsgründe, bei dem den rechtsanwen-
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Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2006, S. 289. Man kann gegen das, was gerade gesagt wurde, argumentieren, dass der Gesetzgeber die Rechtfertigungsgründe manchmal (wie bei den Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch des § 147-bis des früheren spanischen Strafgesetzbuchs, welcher immer noch wegen der Abschaffungsvorschrift 1.a) des geltenden Strafgesetzbuchs in Geltung ist) ausführlich niederschreibt. Zwei Elemente sind hier von besonderer Bedeutung: einmal, ob die jeweilige Regelung für die Gesamtheit der strafrechtlichen Tatbestände gilt, und weiter, ob diese Regelung die Rechtfertigungsgründe genereller Art unanwendbar macht. Meine Antwort zu beiden Elementen lautet: nein. 29
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denden Organen die Kompetenz zukommt, die Täter, angesichts der konkreten Sachverhaltsumstände, freizusprechen. Die erste Variante wurde, soweit ich weiß, noch von niemandem vertreten. Sie impliziert einen so weitgehenden dogmatischen Standpunkt zur Bestimmtheit, dass sie nicht mehr zu vertreten ist. Das Bestimmtheitsideal ist nicht das einzige Ideal, das das Strafrecht verlangen muss. Zum Beispiel: Die Vorschriften in einem Konzentrationslager können sehr bestimmt formuliert sein, dennoch wird damit das Leben in diesem Konzentrationslager nicht besser.30 Weiterhin muss das Bestimmtheitsideal, da es seine Rechtfertigung im Autonomieprinzip finden soll, mit den weiteren Idealen, die mit der Privatautonomie verbunden sind, in Einklang gebracht werden. Meine Privatautonomie endet, wenn ich mich z. B. nicht vor fremden Eingriffen verteidigen kann, ohne ein Straftat zu begehen. Den Normadressaten für ein selbständiges Wesen zu halten, bedeutet, die Annahme in Kauf zu nehmen, dass Konflikte zwischen den Rechtgütern, die man schützen will, entstehen können und dabei Lösungskriterien für diese Konflikte anzubieten. Einem Strafrecht ohne Rechtfertigungsgründe mangelt es an Lösungskriterien für die erwähnten Konflikte (es setzt sogar keine Konflikte voraus). Demzufolge greift ein solches Strafrecht in die Autonomie, die das Bestimmtheitsideal rechtfertigt, ein. Die zweite Variante scheint plausibler. Dies kann man an Luigi Ferrajolis Auffassung sehen. Da Luigi Ferrajoli behauptet, dass die Anwendung bewertender Begriffe nicht überprüfbar ist, scheint es nicht ungewöhnlich, dass dieser Autor keinen besonderen Platz für die Betrachtung der Rechtfertigungsgründe in seiner Theorie einräumt. Er möchte das Problem der Einbeziehung von über den Tatbestand hinausgehendem Verhalten anhand der von ihm sogenannten „Macht der Richter, die fallbezogenen Umstände zu identifizieren“, und der „Gerechtigkeitsbehauptung des Richters“31 rekonstruieren. Laut Ferrajoli steht dem Richter, sobald ein bestimmtes Verhalten als individueller Fall eines generellen Falles festgestellt ist, die Möglichkeit zu, den Täter angesichts der fallbezogenen Eigenschaften nicht zu bestrafen. Es ist mir nicht klar, welchen Sinn diese „Macht der Richter, die fallbezogenen Umstände zu identifizieren“ hat. Im Gegenteil, der Richter muss angeben, welche Merkmale des generellen Falles für einen strafrechtlichen Freispruch zutreffen. Dies impliziert eine Darstellung dieser Merkmale und damit eine Kennzeichnung (Denotation). Dennoch ist es klar, dass es hier wichtig ist, dass der Richter auch Merkmale betrach30 Ein Einwand gegen Lon Fullers Auffassung (Fn. 16) kann bei Matthew Kramer, In Defense of Legal Positivism, 1999, Kap. 2, gefunden werden. Dabei will Kramer zeigen, dass ein ungerechtes System auch die Voraussetzungen der inneren Moralität des Rechts respektieren kann. 31 Luigi Ferrajoli, Diritto e Ragione, Teoria del garantismo penale, (Fn. 9), S. 135 – 160. In diese Richtung auch Rafael Hernández Marín, der, obwohl er die Rolle der Bestimmtheit in den Vordergrund stellt, sie mit der Möglichkeit ergänzt, dass die hochrangigen Gerichtshöfe Contra Legem-Entscheidungen treffen können, soweit diese Entscheidungen das Recht der Dritten nicht verletzen. Rafael Hernández Marín, Introducción a la teoría de la norma jurídica, 1998, S. 141 – 146.
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tet, die nicht in der Tatbestandsformulierung eingeschlossen sind. Ferrajoli selbst betrachtet in einem seiner Beispiele32 als Voraussetzung dieser „Macht der Richter, die fallbezogenen Umstände zu identifizieren“, einen Mundraub, welcher üblicherweise als Notstand eingestuft wird. Das bedeutet, dass für Ferrajoli ein Strafrecht ohne ausdrückliche Rechtfertigungsgründe möglich wäre, wobei dem Richter die Macht zur Verfügung steht, jeden angesichts der fallbezogenen Umstände freizusprechen, obwohl ein tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegt. Der von Ferrajoli dargestellte Vorschlag ähnelt der Konzeption der Notwehr im englischen Recht. Laut Ashworth ist die einzige Voraussetzung, die die englischen Gerichtshöfe machen, um den self defence-Rechtfertigungsgrund anzunehmen, die Vernünftigkeit (reasonableness). Dies impliziert, wie Ashworth hervorhebt, dass das Bestimmtheitsprinzip im englischen Recht nicht mit einer gerechten Anwendung von Zwang verbunden ist33. Ein Strafrecht ohne explizite Rechtfertigungsgründe, bei dem aber die Richter dazu ermächtigt sind, Täter trotz der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale freizusprechen, respektiert die Voraussetzung, dass die Einbeziehung von über den Tatbestand hinausgehendem verbotenen Verhalten zu vermeiden ist. Dies hat aber einen hohen Preis, nämlich die erhebliche Erhöhung des richterlichen Spielraums (sowie die Ungewissheit, wann eigentlich ein Verhalten als gerecht angesehen werden wird), was einen Mangel an Stringenz und an Systematik bei der richterlichen Entscheidungsfindung als unausweichliche Folge mit sich bringt. Weiterhin wird die Behauptung übersehen, dass die Strafe auch mit dem Bestimmtheitsgebot verbunden ist. Wenn man die Grenzen der Tatbestände nicht klar festlegt, dann verstößt dies auch gegen das Bestimmtheitsgebot.
VI. Die Reichweite des Bestimmtheitsprinzips in Bezug auf Rechtfertigungsgründe Das dritte Horn des Trilemmas besteht darin, die Kraft des Bestimmtheitsprinzips bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe zu mildern. Das geringere Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände muss höher als das Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe sein. Der Grund dafür kann aus den Einwänden gegen die anderen Hörner des Trilemmas abgeleitet werden: Die Formulierung der Rechtfertigungsgründe muss die Behauptung der Straflosigkeit aller Fälle, die nicht in ihr aufgenommen wurden, bereits beinhalten. Um dies zu ermöglichen benötigt man flexible Rechtfertigungsgründe, d. h. sol-
32
Ebd., S. 139. Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law (Fn. 19), S. 136: „This indicates that the principle of maximum certainty is not followed in the English law in justifiable force“. 33
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che, die sich an jeden neuen Umstand anpassen können.34 Das setzt voraus, dass die Formulierung der Rechtfertigungsgründe einige generelle Grundsätze festlegt, die es einerseits erlauben, strafrechtlich verbotenes Verhalten, dem kein Rechtfertigungsgrund zugrunde liegt, auszuschließen, und anderseits Einschränkungen des Entscheidungsspielraums des Richters einzuführen und klar festzustellen, wann ein Verhalten gerechtfertigt ist. Dies spiegelt die Auffassungen von Andrew Ashworth und Claus Roxin wider. Ashworth behauptet, dass es angemessen ist (im Entwurf eines Criminal Codes) einen Komplex von Prinzipien und Unteregeln, die die Rechtfertigungsgründe konkretisieren, auszuarbeiten35. „Moreover, legal certainty is important from the point of view of producing consistent and principled court decisions, as well as guiding the conduct of citizens. The approach of the draft Criminal Code in seeking to articulate some distinct principles and sub-principles is therefore to be welcomed. Greater legislative guidance of this kind would cover some recurrent issues which ought properly to be determined in a principled rather than an ad hoc fashion“.
Auch Roxin ist dieser Meinung. Laut Roxin dürfen die Rechtfertigungsgründe dem Bestimmtheitsprinzip nicht in der gleichen Weise unterzogen werden wie die Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände36. „Unter diese leitenden Prinzipien ist bei der Rechtsfindung nicht wie unter Tatbestandsmerkmale zu subsumieren, sondern sie sind am Rechtsstoff konkretisierend zu entfalten. Die dem nullum-crimen-Grundsatz entsprechende Auslegung ist daher bei ihnen nicht an 34 Dies wird zum Beispiel in der Milderung der Anforderungen an die „gegenwärtige Gefahr“ bei der Formulierung des Notstandes und Fällen von häuslicher Gewalt deutlich. Vgl. hierzu in der spanischen strafrechtlichen Doktrin Elena Larrauri, „Violencia doméstica y legítima defensa un caso de aplicación masculina del derecho“, in: E. Larrauri/D. Varona, Violencia doméstica y legítima defensa, Barcelona, 1995, S. 9 – 88; ferner Heidi Hurd, „Moral Rights and Legal Rules: A Natural Law Theory“, Legal Theory 6 (2000), S. 423 – 455, 427 ff. 35 Andrew Ashworth, Priciples of Criminal Law (Fn. 17), S. 136. 36 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, (Fn. 27), S. 289. In die gleiche Richtung auch George P. Fletcher, „The Nature of Justification“, in: Stephen Shute/John Gardner/Jeremy Holder (Hg.), Action and Value in Criminal Law, Oxford1993, S. 175 – 186, 180: „The legislation has a function in the field of justification […] which is different from its role in rendering as precise as possible the elements of offence. […] Accordingly, these provisions governing justifying criteria may admit of a degree of vagueness that would be intolerable under the due process principle of ,fair warning‘, requiring that criminal offences be defined with sufficient specificity to advise common people of their rights and obligations“; Ángel J. Sanz Morán, „Teoría general de la justificación“, Revista Penal 5 (2000), S. 74 – 89, 78 f.: „[…] Bestimmtheitsgebot bzw. Taxativität bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände entkräften sich, wenn es um Ausschließungsvoraussetzungen (Milderung) der strafrechtlichen Haftung geht“; Víctor Ferreres Comella, El principio de taxatividad en materia penal (una perspectiva constitucional), (Fn. 3): „Ein liberales strafrechtliches Rechtssystem muss ein gewisses Maß an Unbestimmtheit zugunsten der Verdächtigen haben. Diese Unbestimmtheit liegt in den Tatbestandselementen der Umstände zur Haftungsbefreiung (Rechtfertigungs- und Ausschließungsgründe)“.
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die Wortlautgrenze, sondern nur an die den jeweiligen Rechtfertigungsgründen immanenten Ordnungsprinzipien gebunden […]“.
Der von Roxin gegebene Hinweis besteht darin, dass es bei den Anwendungsfällen der Rechtfertigungsgründe nicht um einen Subsumtionsvorgang, sondern um einen der Prinzipienabwägung ähnlichen Vorgang geht. Die Rechtfertigungsgründe liefern nur die generellen Grundsätze, mit denen der Richter eine fallbezogene Gruppe von Regeln rekonstruieren soll. Diese Gruppe von Regeln hebt hervor, welche relevanten Merkmale die Anwendung der Rechtfertigungsgründe möglich bzw. unmöglich machen. Der Richter muss seine Entscheidung soweit wie möglich mit seinen früheren und zukünftigen Entscheidungsergebnissen in Einklang bringen. Dennoch wird er in der Lage sein, neue Argumente über die Relevanz eines der fallbezogenen Merkmale einzuführen37. Uns scheint es, dass das dritte Horn des Trilemmas der richtige Weg ist, um gerade dieses lösen zu können. Es impliziert eine Reduktion der Reichweite des Bestimmtheitsprinzips, um die Ausschließung des außerhalb der Rechtfertigung der Norm liegenden verbotenen Verhaltens zu begünstigen. Das dritte Horn des Trilemmas impliziert auch einen hohen Grad an Beachtung des Autonomieprinzips. Das Autonomieprinzip fordert einerseits, dass das Verhalten der Normadressaten ausführlichen und präzisen Formulierungen untergeordnet sei, und andererseits setzt es voraus, dass die Normempfänger als vernünftige Wesen zu behandeln sind. Ein vernünftiges Verhalten ist notwendigerweise ein gerechtfertigtes Verhalten38.
VII. Strafrecht und Moralität Es ist bekannt, dass die Hauptthese des Rechtspositivismus die Trennung zwischen Recht und Moral impliziert39. Allerdings wäre es möglich zu behaupten, dass die auf moralischen Argumenten beruhenden Rechtfertigungsgründe im Strafrecht in Widerspruch zur rechtspositivistischen Auffassung stehen. Zunächst will ich erläutern, was die Trennungsthese nicht behauptet. Diese These behauptet nicht, dass der Bereich des Rechts (hier Strafrecht) und der Bereich der Moral unterschiedlich sind. Sowohl die Moral als auch das Strafrecht verbieten z. B. den Mord, die Vergewaltigung, die körperlichen Verletzungen usw. Es ist 37
Über die Abwägung vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main, 1986, S. 143 – 157. Einen Vorschlag, die Abwägung als einen notwendigen Schritt vor der Subsumtion zu verstehen, macht José Juan Moreso, „Conflictos entre principios constitucionales“, in: La Constitución: modelo para armar, 2009, S. 267 – 284. 38 Die Menschen für verantwortungsfähige Wesen zu halten, impliziert notwendigerweise, sie für autonome Wesen zu halten. Vgl. hierzu Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 95 – 102; Lon Fuller, The Morality of Law (Fn. 16), S. 162; John Rawls, A Theory of Justice, (Fn. 21), S. 241. 39 Vgl. hierzu H. L. A. Hart, „Positivism and the Separation of Law and Morals“ [1958] in: H. L. A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, 1983, S. 21 – 48.
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wahr, dass einige Vertreter des Naturrechtes behaupteten, dass die Reichweite der Moral identisch mit der Reichweite der geistigen Absichten sei, während das Recht sich mit externen Handlungen beschäftige. Dies ist aber eine unhaltbare These. Auch die Moral hält eine Mutter, deren weinende kleine Tochter in der Badewanne ertrinkt, für verwerflicher als eine Mutter, die das nur will, aber es nicht tut. Das Recht hält auch eine Mutter, die vorsätzlich ihre kleine Tochter in der Badewanne ertränkt, für verwerflicher als diejenige Mutter, die nachlässig das Ertrinken ihrer kleinen Tochter in der Badewanne verursacht. In diesem Sinne sind Recht und Moral nicht unterschiedlich. Zweitens habe ich bereits zwischen den Gründen, die die Norm rechtfertigen, und der Norm an sich unterschieden. Ich bezeichne die ersteren als „zugrundeliegende Gründe“ und das zweite als „ausschließende Gründe“. Dennoch ist es offensichtlich, dass die „zugrundeliegenden Gründe“ eine moralische Natur aufweisen. Damit können die Rechtspositivisten nicht bestreiten, dass die rechtfertigenden Gründe einer Norm eine moralische Natur haben40. Dennoch gibt es zur aktuellen Problematik des Rechtspositivismus eine Auseinandersetzung, die mit unserer Diskussion über die Rechtfertigungsgründe verbunden ist. Es geht um die Auseinandersetzung zwischen dem exklusiven Rechtspositivismus und dem inklusiven Rechtspositivismus41. Der exklusive Rechtspositivismus behauptet, dass man auf moralische Argumente verzichten kann, um das geltende Recht zu identifizieren. Aus diesem Grund hängt die rechtliche Gültigkeit der Normen nicht von ihrer moralischen Angemessenheit ab. Mehr noch: Wenn das Recht moralische Begriffe nutzt, impliziert es die Einräumung eines Entscheidungsspielraums für die rechtsanwendenden Organe. Der inklusive Rechtspositivismus behauptet im Gegenteil, dass dann, wenn das Recht gelegentlich moralische Begriffe benötigt, 40 Eine Ausnahme wären diejenigen Autoren, die behaupten, dass es erlaubt ist, dass das Strafrecht die Leute als bloße Objekte behandelt, und die für eine Abschaffung von Begriffen wie „Haftung“ sind. Solche Ideen finden sich z. B. in der Law and Economics Theorie. Vgl. hierzu Richard Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, Kap. 5. 41 Für eine weitere Betrachtung dieser Diskussion vgl. José Juan Moreso, „In Defense of Inclusive Legal Positivism“, in: Pierluigi Chiassoni (Hg.), The Legal Ought, Torino, 2001, S. 37 – 64. Der Hauptvertreter des exklusiven Rechtspositivismus ist Joseph Raz (vgl. infra und Fn. 41). Die Entstehung des inklusiven Rechtspositivismus findet sich bei Genaro R. Carrió, Principios jurídicos y positivismo jurídico, 1971; David Lyons, „Principes, Positivism and Legal Theory“, Yale Law Journal 87 (1977), S. 415 – 436; Philip Soper, „Legal Theory and Obligation of the Judge; The Hart/Dworkin Dispute“, in: Michigan Law Review 75 (1977), S. 511 – 542. Zu einer systematischen Entwicklung vgl. Jules L. Coleman, „Negative and Positive Positivism“, in: Journal of Legal Studies 11 (1982), S. 139 – 162; ders., „On the Relationship between Law and Morality“, in: Ratio Juris 2 (1989) S. 66 – 78; ders., „Authority and Reason“, in: Robert P. George (Hg.), The Autonomy of Law, 1996, S. 287 – 319; ders., „Second Thoughts and Other First Impressions“, (Fn. 9), S. 258 – 278; ders., „Incorporationism, Conventionality, and the Practical Difference Thesis“, in: Legal Theory 4 (1998), S. 381 – 426; W. J. Waluchow, Inclusive Legal Positivism, Oxford, 1994. Auch in diese Richtung läuft der sogenannte „soft-positivism“, vgl. hierzu H. L. A. Hart, „Postscript“, in: The Concept of Law, 2. Aufl., 1994.
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die Moral meist eine entscheidende Rolle bei der Feststellung, was das Recht vorschreibt, und bei der Beschränkung des richterlichen Entscheidungsspielraums spielt. Einer der Hauptvertreter des exklusiven Rechtspositivismus ist Joseph Raz. Die zentrale These Razs bezieht sich auf das Autoritätsargument. Dieses Argument ist das Kernstück seiner gesamten Rechtsauffassung.42 Das Autoritätsargument Razs lässt sich wie folgt schematisieren: Eine philosophische Doktrin des Rechts muss uns dabei helfen, die relevanten Aspekten des Rechts zu erfassen. Das entscheidende kennzeichnende Merkmal, um das Recht von anderen Zwangsordnungen, z. B. einer Mafiaorganisation, zu differenzieren, ist der Anspruch auf Autorität. Die Autoritätsträger beanspruchen Legitimität für die von ihnen erlassenen Normen, d. h., dass diese Normen verbindlich für die Mitglieder der Gesellschaft sein können. Dies aber gewährleistet nicht, dass die Autoritätsträger selber legitimiert sind. Dennoch sind die Gründe, um einen Räuber von einem Autoritätsträger zu unterscheiden, die autoritätsrechtfertigenden Gründe. Die Kennzeichnung als Autoritätsträger impliziert die Kompetenz, verbindliche Normen zu erlassen. Damit muss eine philosophische Doktrin in der Lage sein zu erklären, was eigentlich die Autorität ist und unter welchen Voraussetzungen sie sich ergibt. Raz zufolge ist die einzige Auffassung, die in der Lage ist, die Autorität des Rechts zu erklären, eine positivistische Betrachtung. Die zentrale Struktur dieses Argumentes lautet: Die normativen autoritätstragenden Organe haben eine praktische Natur, d. h. ihre Normen modifizieren unsere Gründe zu agieren. Zum Beispiel erkennen wir keine Autorität eines geisteskranken Mannes an, die Höhe unserer Steuern an den Staat festzulegen. Wenn eine solche Person uns auffordert, zwanzig Prozent unseres Einkommens als Steuern an den Staat zu bezahlen, ist diese Forderung kein Grund, um das zu tun. Wenn hingegen das Parlament uns entsprechend auffordert, entsteht ein Grund das zu tun. Die geltenden Normen sind ausschließende Gründe. Sie verdrängen unsere eigenen Gründe. Eine Norm zu akzeptieren bedeutet, dass wir ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen sollen, sogar gegen unseren eigenen Willen. Die autoritätstragenden Organe erlassen in ihrer präskriptiven Funktion Handlungsnormen. Normalerweise versuchen die autoritätstragenden Organe soziale Probleme bzw. Konflikte anhand ihrer Normen zu lösen. Die Rechtfertigung ihrer Normen hängt mit den Gründen, die die Personen haben, um ihr Verhalten zu steuern, eng zusammen. Die Vorschriften eines autoritätstragenden Organs finden ihre Rechtfertigung bei den Gründen, die Konflikte zu lösen. Daher nennt Raz seine Doktrin die „Konzeption der Autorität als Dienst“. Ihr kennzeichnendes Merkmal ist das Verlangen, dass die Kompetenz der autoritätstragenden Organe auf den Annahmen beruht, dass Vorschriften der autoritätstragenden 42 Vgl. hierzu Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986, insbesondere Kap. 2 – 3; ders., „Authority, Law and Morality“, in: Ethics in the Public Domain, 1994, S. 194 – 221.
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Organe es uns erlauben, mit diesen Vorschriften unser Verhalten besser zu steuern als ohne sie. Die autoritätstragenden Organe helfen uns, indem sie die zugrunde liegenden Gründe für unser Handeln in Normen konkretisieren. Dieses Merkmal wird als „Abhängigkeitsthese“ bezeichnet. „Die Konzeption der Autorität als Dienst“ impliziert auch eine notwendige Voraussetzung, um den Einwand gegen die Relevanz der autoritätstragenden Organe zu überwinden. Die Autorität hat einen Sinn, soweit wir unser Verhalten durch ihre Normen steuern lassen, statt unseren eigenen Einschätzungen zu folgen. Dieses Merkmal ist die sogenannte These der normativen Rechtfertigung. Demzufolge impliziert die Anerkennung der Autorität eines Organs die Anerkennung der von ihm erlassenen Normen als „verdrängende Gründe“ – bei Raz: ausschließende Gründe –, d. h. Normen, die unsere eigenen Einschätzungen über Gründe zum Agieren verdrängen. Die von dem autoritätstragenden Organ erlassenen Normen sind keine lediglich zusätzlichen Gründe, um unsere eigene Interessengewichtung zu steuern, sondern ihre Funktion liegt genau darin, unsere eigene Einschätzung zu ersetzen. Aus diesem Grund wird dieses Merkmal als die These der Ersetzung bezeichnet. Eine Person hat nur unter der Voraussetzung Autorität, dass die notwendigen autoritätszuschreibenden Umstände vorliegen. Einer dieser Umstände ist die Möglichkeit, die von ihr getroffenen Entscheidungen bekanntzumachen. Diese Entscheidungen spiegeln – wenn das autoritätstragende Organ dafür legitimiert ist – die zugrunde liegenden Gründe wider, in einer bestimmten Situation zu agieren. Dies setzt voraus, dass die von dem autoritätstragenden Organ erlassenen Normen ohne Zuhilfenahme einer Abwägung der Gründe identifiziert werden können. Daraus folgt, dass nur eine Rechtstheorie, die das Recht frei von moralischen Argumenten versteht, die Autorität des Rechts richtig rekonstruieren kann. Die social sources-These zu verlassen bedeutet – laut Raz – die Autorität des Rechts außer Betracht zu lassen. Deswegen lässt sich die Auseinandersetzung zwischen exklusivem und inklusivem Rechtspositivismus zugunsten des exklusiven Rechtspositivismus lösen, weil dieser die einzige Konzeption ist, die die Natur des Rechts erfassen kann. Es ist wichtig zu bemerken, dass bei Razs Argumentation die Rechtfertigungsgründe keine vollständigen „ausschließenden Gründe“ sind. Der Grund dafür besteht darin, dass, um die Rechtfertigungsgründe anzuwenden, moralische „zugrunde liegende Gründe“ nötig sind. Deswegen bleiben für Raz nur zwei Möglichkeiten offen, nämlich das erste und das zweite Horn des Trilemmas. Das heißt, entweder sind die Rechtfertigungsgründe so ausführlich zu formulieren, dass ihr Inhalt ohne den Rückgriff auf die moralischen „zugrundeliegenden Gründe“ feststellbar wird, oder die ausdrückliche Formulierung der Rechtfertigungsgründe ist mit der Hoffnung zu verwerfen, dass der Entscheidungsspielraum der Richter verhindert, Personen ohne „zugrundeliegende Gründe“ zu bestrafen. Wir haben die Schwierigkeiten, die die beiden Hörner des Trilemmas überwinden müssen, schon dargestellt. Diese Schwierigkeiten bilden ein indirektes Argument zugunsten des Rechtspositivismus. Francisco Laporta hat darauf hingewiesen, dass ge-
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rade beim Strafrecht die moralische Argumentation eine zentrale Rolle gewonnen hat. „Die strafrechtlichen Normen verlangen eine praktische Argumentation, die sehr ähnlich zu der moralischen Argumentation ist“43. Dennoch gibt derselbe Autor zu44: „Die moralischen Normen, die in dem Rechtssystem Geltung haben, besitzen diese Geltung nicht auf Grund ihres moralischen Charakters, d. h., nicht wegen ihrer eigenen ethischen Wichtigkeit, sondern, weil eine ausschließlich positive Norm des Systems ihnen diese Qualität zuschreibt. Dieser Hinweis begründet die notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral und gleichzeitig, dass die Normen der modernen Rechtsnormen häufig moralische Elemente enthalten“.
Das Strafrecht bezieht sich, wenn es um Rechtfertigungsgründe geht, auf die „zugrundeliegenden Gründe“ gerade weil dies der einzige Weg ist, die Einbeziehung des über den Tatbestand hinausgehenden Verhaltens, das nicht in diese Gründe aufgenommen wurde, auszuschließen. Ein Strafrecht, das solchen Grundsätzen unterworfen ist, muss sich an eine moralische Argumentation, d. h. an die moralischen „zugrundeliegenden Gründe“, anpassen. Damit versuchen diese Gründe die rechtanwendenden Organe nicht zu einer strikten Version des Bestimmtheitsprinzips zu zwingen, sondern an einen nicht strikten Entscheidungsfindungsspielraum, der mit der Konsistenz und der Systematik verbunden ist, zu binden.
VIII. Fazit In meiner Argumentation habe ich versucht, die Übernahme des dritten Horns des dargelegten Trilemmas zu begründen, das heißt, die Reichweite des Bestimmtheitsprinzips in Bezug auf Rechtfertigungsgründe zu mildern. Es liegen Gründe vor, um die Existenz einer Schwelle zu begründen, wobei das zu verlangende Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände höher sein muss als die entsprechenden Anforderungen an die Bestimmtheit bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe. Die Gründe dafür sind die folgenden: Während einerseits bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände die Bestimmtheit ein gewisses Maß an Schutzlosigkeit der nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen verursachen kann, kann andererseits bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe das von der Bestimmtheit verursachte Maß an Schutzlosigkeit der nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen schwerer wiegen, da die Formulierung implizierte, dass einiges zu rechtfertigende Verhalten strafbar wäre. Aus diesem Grund ist es notwendig, eine breite und flexible Formulierung der Rechtfertigungsgründe zu schaffen, die in der Lage ist, all die Fälle, bei denen kein Grund vorliegt zu bestrafen, zu umfassen.
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Francisco Laporta, Entre el derecho y la moral, 1993, S. 62. Ebd., S. 61.
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Eine breite und flexible Formulierung (die alle bewertenden Begriffe einschließt) führt bei vielen Anwendungsfällen der Rechtfertigungsgründe zu einer starken Ähnlichkeit zwischen der juristischen Rechtfertigung und einer moralischen Rechtfertigung. Hier besteht ein notwendiger Zusammenhang, weil die Einführung von flexiblen Kriterien es erlaubt, den Rechtsanwender an die zugrundeliegenden Gründe zu binden, und diese Gründe haben meistens einen moralischen Charakter. Der inklusive Rechtspositivismus erfasst diese Konstellation am besten. Es wurde auch für ein gewisses Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe argumentiert und gegen einen schrankenlosen Entscheidungsspielraum der rechtanwendenden Organe. Dass das Strafrecht die Kriterien setzt, anhand derer die autoritätstragenden Organe die „zugrundeliegenden Gründe“ anwenden können, scheint mir von äußerster Bedeutung, um die Systematizität und die Konsistenz der institutionellen Entscheidungen gewährleisten zu können. Auf diese zwei Merkmale (Systematizität und Konsistenz) kann keine Entscheidungsprozedur verzichten.
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I. Einleitung Auf kaum einem anderen Gebiet des Strafrechts ist die Grenze zwischen erlaubtem und verbotenem, strafbarem und straffreiem Verhalten so weit vom Ideal der gesetzlichen Bestimmtheit entfernt, wie bei den Rechtfertigungsgründen. Das liegt zum Teil in der Natur der Sache. Denn bei der Rechtfertigung geht es stets um die Entscheidung eines Konflikts zwischen grundsätzlich legitimen Interessen, also um eine Interessenabwägung. Für diese Abwägung kann der Gesetzgeber die Gesichtspunkte aufzählen, die gewissermaßen in die Waagschalen zu werfen sind sowie die Maßstäbe angeben, nach denen die Abwägung vorzunehmen ist und zwar von Rechtfertigungsgrund zu Rechtfertigungsgrund verschieden. Aber die Abwägung im Einzelfall muss er am Ende doch dem Richter überlassen. Darüber hinaus bestehen aber bei den Rechtfertigungsgründen weitere richterliche Entscheidungsspielräume, die vermeidbar wären, wenn Gesetzgeber und Richter die Grundprinzipien der einzelnen Rechtfertigungsgründe klarer herausgearbeitet und konsequenter angewandt hätten, als sie es tun. Dies soll hier anhand der beiden wichtigsten Notrechte, der Notwehr und des allgemeinen, sogenannten aggressiven, Notstandes demonstriert werden. Bei der Notwehr hat sich die Rechtsprechung in Deutschland mit den sog. rechtsethischen Einschränkungen des Notwehrrechts praeter legem zusätzliche Entscheidungsspielräume eröffnet, die im Wortlaut des Gesetzes heute, notdürftig genug und unbestimmt genug, durch das Erfordernis der sog. Gebotenheit der Notwehr verankert werden.1 Sind die gesetzlichen Voraussetzungen der Notwehr erfüllt, wollen aber die Gerichte dem Angegriffenen doch nicht das volle Notwehrrecht zuerkennen, so stellen sie eben fest, dass im vorliegenden Fall diese Notwehr gleichwohl „nicht geboten“ war. Es soll gezeigt werden, dass diese Generalklausel zur Einschränkung des Rechts auf Notwehr bei dessen richtigem Verständnis nicht nötig ist. Im Gegensatz zur gesetzlichen Regelung der Notwehr besteht bei der des allgemeinen, sog. aggressiven Notstandes ein unabweisbares Bedürfnis nach einer Einschränkung praeter legem, denn die gesetzliche Regelung ist schon im Ansatz viel 1 Vgl. dazu Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 55; kritisch dazu Münchener Kommentar/Erb, StGB Band 1, 2003, § 32 Rn. 179; Nomos Kommentar/ Paeffgen, StGB Band 1, 3. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 150.
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zu weit geraten, was nicht nur für die deutsche, sondern in noch höherem Maße etwa für die spanische, die brasilianische, die argentinische, die kolumbianische und die chilenische Regelung gilt.2 Im deutschen Strafrecht wird dieser Mangel des Gesetzes dadurch ausgeglichen, dass mit Hilfe der sog. Angemessenheitsklausel der rechtfertigende Notstand derart eingeschränkt wird, dass seine Anwendung auf die vom Wortlaut des Gesetzes umfassten Fälle nicht mehr die Regel sondern geradezu die Ausnahme darstellt. Dabei wird dann so schweres Geschütz aufgefahren wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Geht man von dem allgemeinen Prinzip aus, dass der Rechtfertigung eines Eingriffs in fremde Rechtsgüter durch Notstand in Wahrheit zugrunde liegt, lässt sich der Wortlaut des Gesetzes von vornherein so präzisieren, dass die Anwendung derart verschwommener Begriffe wie der Angemessenheit des Mittels (§ 34 deutsches StGB) oder der Zumutbarkeit der Rechtsbeeinträchtigung (Art. 24 brasilianisches StGB) weitgehend überflüssig wird.
II. Die Notwehr 1. Das allgemeine Prinzip der Notwehr Nach § 32 deutsches StGB findet bei der Notwehr grundsätzlich keine Abwägung der Güter und Interessen von Angreifer und Angegriffenem statt. Von den noch zu besprechenden sog. rechtsethischen Einschränkungen der Notwehr abgesehen, werden die Interessen des Angreifers nur insofern berücksichtigt, als der Verteidiger von mehreren ihm zu Gebote stehenden gleich sicheren Abwehrmitteln das wählen muss, das die Interessen des Angreifers am wenigsten verletzt. Dieses Mittel ist dann im Sinne des Gesetzes zur Abwehr erforderlich und damit grundsätzlich auch geboten. Diese Schärfe des Schwerts der Notwehr ist oft beklagt worden und aus ihr erklären sich die sog. rechtsethischen Einschränkungen, die die Rechtsprechung nachträglich eingeführt hat. In anderen Ländern besteht diese Schärfe von vornherein nicht. Nach Art. 20 Nr. 4, Abs. 2 des spanischen StGB, Art. 34 Nr. 6b des argentinischen StGB und Art. 10 Nr. 4 chilenisches StGB muss für die Verteidigung „necesidiad rational“ bestehen, was die h.L. im Sinne einer Proportionalität zwischen Angriff und Verteidigung interpretiert. Der Ausdruck necesidad rational wird aber von einer Mindermeinung auch im Sinne der Erforderlichkeit verstanden.3 Nach Art. 25 des brasilianischen StGB ist nur eine Verteidigung „usando moderadamente dos meios“ als Notwehr gerechtfertigt. Nach § 32 des kolumbianischen StGB ist die Verteidigung sogar 2
All diese Regelungen verlangen im Gegensatz zu § 34 des deutschen StGB nicht einmal ein wesentliches Überwiegen des gewahrten gegenüber dem aufgeopferten Interesse, vgl. Art. 20 Nr. 5 StGB Spanien; Art. 34 Ziff. 3 StGB Argentinien; Art. 24 StGB Brasilien; Art. 32 Nr. 7 StGB Kolumbien; Art. 10 Nr. 6 StGB Chile, der allerdings ähnlich § 904 deutsches BGB nur einen Eingriff in fremdes Eigentum gestattet. 3 Rodriguez Devesa, Derecho penal espanol, Parte General, Madrid, 1970, S. 467 f.
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ausdrücklich auf Mittel beschränkt, die zum Angriff proportional sind. Der Verteidiger darf also dem Angreifer keine schwerere Gefährdung oder Schädigung zufügen, als sie ihm selbst von diesem droht.4 Eine solche Beschränkung der Mittel der Verteidigung, mit der Konsequenz, dass der Angegriffene den Angriff über sich ergehen lassen muss, falls er kein in diesem Sinne proportionales, rationales oder maßvolles Verteidigungsmittel zur Verfügung hat, wird aber der Situation des Verteidigers nicht gerecht, weil sie ihn und seine Interessen mit denen des Angreifers auf die gleiche Stufe stellt. Dem kann auch nicht dadurch abgeholfen werden, dass der Richter den Unterschied zwischen Recht und Unrecht irgendwie als Abwägungsposten in die Proportionalität einbringt. Das Ergebnis einer solchen modifizierten Güterabwägung wäre allzu unbestimmt und für den Angegriffenen nicht voraussehbar. All diese Rechtsordnungen sehen also ein gemäßigtes Notwehrrecht vor. Das gilt auch für die meisten europäischen Länder.5 Aber der Preis dieser Mäßigung ist ein Mangel an Bestimmtheit des Gesetzes, der zur Folge hat, dass der Verteidiger seiner Rechte, sofern es nicht gerade um sein Leben geht, das Risiko trägt, dass später der Richter seine Verteidigung nicht als vernünftig, maßvoll, proportional oder auch geboten beurteilen wird. Der einzige hinreichend klare und präzise Maßstab zur Bestimmung dessen, was ein rechtswidrig Angegriffener zur Abwehr des Angriffs tun darf, ist also der der Erforderlichkeit.6 Dass der Angegriffene nach deutscher Rechtsauffassung nicht auf eine verhältnismäßige Gegenwehr beschränkt ist, sondern grundsätzlich dem Angreifer einen schwereren Schaden zufügen darf, als er ihm von diesem droht, hat seinen Grund darin, dass von Rechts wegen gar kein Rechtsgüterkonflikt besteht. Der faktische Konflikt wird allein vom Angreifer verursacht und dies unter Verletzung des Gebotes neminem laedere. Die von Rechts wegen richtige Lösung des faktischen Konflikts besteht also darin, dass der Angreifer den Angriff abbricht. Tut er dies, so ist er dem viel berufenen scharfen Schwert der Notwehr des Verteidigers nicht mehr ausgesetzt. Deshalb kann er keinen Anspruch darauf erheben, dass der Verteidiger seine Interessen berücksichtigt, er kann dies selbst tun. „Der Angreifer ist nicht zu beklagen, weil er sich selbst in die Gefahr begeben hat.“7 Dies ist die Erklärung für das viel
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Eine Ausnahme stellt Art. 20 Abs. 3 des peruanischen StGB dar, der eine Einschränkung der Notwehr nach Verhältnismäßigkeitskriterien expressis verbis abgelehnt hat. 5 Für eine ausführliche rechtsvergleichende Darstellung des europäischen Notwehrrechts vgl. Leipziger Kommentar/Rönnau/Hohn, StGB, Band II, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 6 ff.; ein Abriss der historischen Entwicklung des Notwehrrechts in Deutschland bei Grünewald, ZStW (122), 2010, 51, 53 ff. 6 Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 180 ff. 7 Beling, Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl. 1930, S. 16. Siehe auch Binding, Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, Abteilung 7, Teil 1, Band 1, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1885, Aalen 1991, S. 778: „Wer sich in Gefahr begeben hat, der komme darin um.“
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berufene scharfe Schwert der Notwehr,8 nicht etwa die Tatsache, dass eine gelungene Abwehr auch der Verwirklichung der Rechtsordnung insgesamt oder der Generalprävention dient.9 Der Verteidiger tritt nicht als Hilfssheriff auf, der öffentliche Interessen wahrzunehmen hat. Als solcher wäre er an Grundsätze der Verhältnismäßigkeit gebunden.10 Er verteidigt sein eigenes in der konkreten Situation angegriffenes Recht und sonst nichts. Da der Angreifer dem Angegriffenen den faktischen Konflikt rechtswidrig aufzwingt, ist er allein für die Rechtsgutsverletzungen verantwortlich, die er durch die zur Abwehr des Angriffs erforderliche Verteidigung erleidet. Aus seiner Perspektive handelt es sich um einen Fall von freiverantwortlicher Selbstgefährdung.11 Entgegen Frister12 ist daraus allerdings nicht die Konsequenz zu ziehen, dass nur disponible Rechtsgüter des Angreifers dem Notwehrrecht ausgesetzt sind. Dass dem Angreifer durch die erforderliche Abwehr kein Unrecht geschieht, liegt nicht daran, dass er wirksam über seine Rechtsgüter disponiert hat, sondern daran, dass er allein durch seinen Angriff diejenige Ursache gesetzt hat, die die Zurechnung seiner eigenen Verletzung von Rechts wegen begründet. Andere Einschränkungen des Notwehrrechts im Vergleich zur h.L. ergeben sich aber aus diesem Grundgedanken sehr wohl. Diese können durchweg in plausibler Weise durch eine geeignete Auslegung des Begriffs des Angriffs legitimiert werden. Zunächst besteht ein Angriff nur solange, als es der Angreifer in der Hand hat, die Gefahr, die er für den Angegriffenen begründet, durch Abbruch des Angriffs selbst abzuwenden. Dauert die Gefahr, etwa ein Brand fort, nachdem der Täter aufgehört hat zu handeln, so ist er zwar nach den Grundsätzen der Ingerenz verpflichtet, nun zur Beseitigung der Gefahr alles zu tun, was ihm möglich und zumutbar ist, aber zu unzumutbaren und unverhältnismäßigen Opfern oder Wagnissen ist er auch durch die Ingerenz nicht verpflichtet. Dementsprechend steht auch dem Angegriffenen in diesem Zeitpunkt nicht mehr das Notwehrrecht zu, das auch unverhältnismäßige Eingriffe in die Rechtsgüter des Angreifers gestattet, sondern nur noch ein sog. defensives Notstandsrecht. Ein solches defensives Notstandsrecht gilt nach § 228 des deutschen BGB zugunsten dessen, dem von einer fremden Sache eine Gefahr droht. Gedacht war dabei in erster Linie an ein angreifendes Tier. Um die Gefahr abzuwenden, darf 8 Frister, GA 1988, 291, 301 f.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 12. Abschnitt, Rn. 16 f. 9 So aber die h.L. in Deutschland, vgl. Schönke/Schröder/Perron, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 1 f.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 1 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 32 I 1, 2. 10 Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 10; Frister, GA 1988, 291, 297 ff.; Beling, Grundzüge des Strafrechts, 1930, S. 516; Binding, Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, 1885, S. 778. 11 Frister, GA 1988, 291, 299; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 23 ff. 12 Frister, GA 1988, 291, 313 ff.).
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der Gefährdete die gefährliche Sache beschädigen oder zerstören, wenn der dadurch dem Eigentümer entstehende Schaden „nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht“. Der Grund dafür ist, dass es der Eigentümer der gefährlichen Sache ist, der die von ihr ausgehende Gefahr zu tragen hat, nicht ein anderer, den diese Gefahr zufällig getroffen hat. Dieser Gedanke kann auf andere Gefahren übertragen werden, für die der Grundsatz casum sentit dominus nicht gilt, weil nicht der Betroffene, sondern ein anderer eher daran ist, die Gefahr zu tragen. So ist auch der Angreifer, der eine Gefahr für den Angegriffenen verursacht hat, die er nicht durch Abbruch des Angriffs beenden kann, eher daran, sie zu tragen, als der Angegriffene. Deshalb kann der Angegriffene dem Angreifer in analoger Anwendung des sog. defensiven Notstands zur Abwendung der Gefahr jedes Opfer abverlangen, das nicht außer Verhältnis zu seiner eigenen Gefährdung steht.13 Von einem Angriff sollte man auch nur dann sprechen, wenn der Täter fremde Rechtsgüter vorsätzlich verletzt oder gefährdet.14 Das alltagssprachliche Verständnis des Worts Angriff legt diese Einschränkung sogar nahe. Sie muss allerdings damit bezahlt werden, dass man zugunsten des fahrlässig von einem anderen Verletzten oder Gefährdeten den defensiven Notstand analog anwendet. Diese Analogie ist leicht zu begründen, sofern man bei Rechtfertigungsgründen überhaupt Analogien erlaubt. Denn ebenso wie der Eigentümer einer gefährlichen Sache näher dran ist, für deren Gefahren aufzukommen, ist der fahrlässig handelnde Gefährder eher dran, die Kosten der Abwendung der Gefahr zu tragen, als der Gefährdete. Damit ist auch das Problem des in einem Erlaubnistatbestandsirrtum handelnden Angreifers gelöst. Für den schuldlosen Angreifer sollte dasselbe gelten. Auch er kann ja nicht darauf verwiesen werden, dass es in seiner Hand liegt, den Angriff jederzeit abzubrechen und dadurch das scharfe Schwert der Notwehr von sich selbst und seinen eigenen Rechtsgütern abzuwenden.15 Damit wäre auch das in der deutschen Strafrechtsdogmatik zur Kritik des rigiden Notwehrrechts immer wieder angeführte Beispiel erledigt, dass der gelähmte Gartenbesitzer die Kirschen stehlenden Kinder mit der Schrotflinte aus dem Baum schießt.16 Es muss allerdings zugegeben werden, dass dies nun wirklich eine Einschränkung des Notwehrrechts praeter legem ist, weil 13 Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 86; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Abschnitt, Rn. 46 ff.; Frister, GA 1988, 291 293 ff. 14 Frister, GA 1988, 291, 305; Hellmuth Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1967, S. 98; Schmidhäuser, Allgemeiner Teil, Studienbuch, 1984, § 6 Rn. 65; anders die h.L. in Deutschland, vgl. Nomos Kommentar/Herzog (Fn. 1), § 32 Rn. 5 m.w.N.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 10. Entgegen Roxin ist es aber mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und also auch mit dem Wortlaut des Gesetzes durchaus vereinbar unter einem Angriff nur eine vorsätzliche Verletzungshandlung zu verstehen. 15 Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 12. Abschnitt, Rn. 18 f.; Frister, GA 1988, 291, 304 ff.; a.A. Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 17 ff.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 32 Rn. 24; Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 55; Nomos Kommentar/Herzog (Fn. 1), § 32 Rn. 5, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 16 Vgl. z. B. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010, Rn. 343.
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rechtswidrig und schuldhaft eben verschiedene Begriffe sind.17 Aber diese Einschränkung ist klar genug, um den Bestimmtheitsgrundsatz nicht zu gefährden. Auch sie muss durch eine analoge Anwendung des Defensivnotstandes aufgefangen werden, denn auch der schuldlos Handelnde ist näher daran, die Kosten der Abwendung der von ihm ausgehenden Gefahr zu tragen, als der zufällig von ihm Betroffene. Ich sehe nicht, dass eine solche analoge Anwendung eines Rechtfertigungsgrundes, sofern sie methodengerecht geschieht,18 das Bestimmtheitserfordernis, soweit es im allgemeinen Teil des Strafrechts gilt, in Frage stellt. Jedenfalls gefährdet eine solche Analogie das Bestimmtheitserfordernis nicht annähernd in dem Maße, in dem es gefährdet würde, wenn man auf die Situation das Notwehrrecht anwenden würde, um es dann durch sozialethische Einschränkungen praeter legem zu reduzieren. 2. Die sog. rechtsethischen Einschränkungen des Notwehrrechts Eine sog. rechtsethische Einschränkung des Notwehrrechts hat die deutsche Rechtsprechung unter nahen Angehörigen vorgenommen. Sie wurde insbesondere auf Ehefrauen angewandt, die sich gegen die wiederholten Misshandlungen durch ihren trunksüchtigen Ehemann mit erforderlichen aber lebensgefährlichen und letztlich tödlichen Mitteln verteidigt haben. Teilweise hat der BGH von den betroffenen Ehefrauen nicht nur verlangt, die Flucht zu ergreifen, sondern auch leichtere Körperverletzungen hinzunehmen, zumal sie aus Erfahrung wussten, dass es wahrscheinlich zu schwereren nicht kommen werde.19 Es ist zynisch, wenn die Rechtsprechung hier ganz offen die Partei des Stärkeren und des Unrecht Handelnden ergreift gegen die Schwächere und Unrecht Leidende. Zynisch ist es auch, dies damit zu begründen, dass die Ehefrau selbst ein Interesse am Fortbestand der ehelichen Beziehung hat.20 Hat sie dies, so mag sie selbst darüber entscheiden, ob es ihr einen Verzicht auf die erforderliche Abwehr und die Duldung von Schlägen wert ist. Die Rechtsordnung handelt scheinheilig, wenn sie ihr ein solches Opfer in ihrem vermeintlichen Eigeninteresse aufzwingt. In Deutschland begründet man die Selbstaufopferungspflicht der Ehefrau gegenüber dem zuschlagenden Mann auch mit ihrer Garantenstellung ihm gegenüber.21 Aber der Begünstigte einer Garantenpflicht kann auf Leistungen und gar Opfer des Garanten erst dann Anspruch erheben, wenn er nicht mehr in der Lage ist, 17
Vgl. Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 10. Näher dazu Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2. Aufl. (2011), S. 113 ff. 19 BGH, GA 1969, 117; NJW 1969, 802; JZ 1975, 35. In BGH, JZ 2003, 50, 51 wurde es als eine zum Ausweichen vor dem zu erwartenden Angriff verpflichtende Selbstgefährdung der Ehefrau anerkannt, dass sie ihren gewalttätigen Mann, von dem sie sich getrennt hatte, immer wieder besuchte. 20 Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 32 Rn. 53; Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 194. 21 Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 19. 18
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seine Interessen selbst zu wahren. Dazu ist der Angreifer, solange er rechtswidrig und schuldhaft handelt, aber sehr wohl in der Lage, indem er genau das tut, was er von Rechts wegen ohnehin zu tun verpflichtet ist, nämlich den Angriff abbricht.22 Die praktisch wohl wichtigste Einschränkung des Notwehrrechts, die im deutschen Recht praeter legem von der Rechtsprechung vorgenommen worden ist,23 und in anderen Rechtsordnungen ausdrücklich im Gesetz steht,24 ist die Provokation des Angriffs durch den Verteidiger selbst. Diese Einschränkung dürfte praktisch die größte Rolle spielen, denn viele Notwehrsituationen erwachsen aus der Eskalation eines Streits, der zunächst mit Worten ausgetragen wird. Die deutsche Rechtsprechung sieht für diese Fälle in der Einschränkung des Notwehrrechts ein probates Mittel, nicht nur den provozierten Angreifer, sondern auch den Provokateur in seine Schranken zu weisen, der sich ja ebenfalls unfriedlich verhalten hat.25 Diese Notwehreinschränkung wird insbesondere dann angewandt, wenn der Streit am Ende schlecht ausgeht, einer der Kontrahenten also schließlich zu Tode kommt.26 Auch wenn beide an der Eskalation des Streites in dem Sinne schuld sind, dass sie sich gegenseitig provoziert oder sich unfriedlich verhalten haben, wird dann das Fehlverhalten des Überlebenden aufgebauscht und das des durch eine Abwehrhandlung tödlich verletzten Angreifers klein geredet, um dem Überlebenden das Notwehrrecht zu entziehen.27 Betrachten wir die verschiedenen Konstellationen der Notwehreinschränkung wegen Angriffsprovokation näher, so zeigt sich, dass sie nicht nur mit dem Grundgedanken der Notwehr unvereinbar sind, sondern dass auch kein praktisches Bedürfnis für eine solche Einschränkung des Notwehrrechts besteht und dass sie, wie
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Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 19. RG, DR 1939, 364; HRR 1940, 340; BGH, NJW 1983, 2267; NStZ 2003, 425, 427. 24 Art. 10 Abs. 4 Nr. 3 StGB Chile; Art. 34 Nr. 6c StGB Argentinien; Art. 20 Abs. 5 Nr. 2 StGB Spanien. 25 So zuletzt Grünewald, ZStW (122), 2010, 51, 67 ff. 26 Vgl. BGH, NStZ 2006, 332 ff.; BGHSt, 42, 97 dazu Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 23. 27 Vgl. BGHSt, 42, 97: Der Angeklagte fand in seinem Zugabteil erster Klasse einen alkoholisierten und Bier trinkenden Passagier, den J, vor, der vom Schaffner nur einen Fahrschein zweiter Klasse löste, aber in das Abteil erster Klasse zurückkehrte als der Schaffner weggegangen war. Der Angeklagte, der sich nicht verpflichtet fühlte, mit dem J das Abteil zu teilen, öffnete das Fenster, um ihn zu vertreiben. J schloss es wieder und drohte dem Angeklagten Schläge an, falls er es wieder öffnen sollte. Dieser zeigte dem J das Fahrtenmesser, das er bei sich führte, öffnete das Fenster wieder und legte sich auf zwei Sitzen nieder. J sprang auf, schloss das Fenster, beugte sich über den Angeklagten und griff ihm mit beiden Händen in das Gesicht. Daraufhin stach der Angeklagte ungezielt mit dem Messer nach oben dem J in den Oberbauch. Beide kämpften weiter miteinander, bis sie von einem anderen Reisenden getrennt wurden. Der Messerstich war tödlich. Der BGH wertet den Versuch des Angeklagten, J durch Öffnen des Fensters zu vertreiben, als „eine Missachtung die ihrem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt“ und den unberechtigten Aufenthalt des trinkenden und schon alkoholisierten J im Abteil erster Klasse nur als „Anlass zu Ärger“. Die Drohung des J, den Angeklagten zu schlagen würdigte der BGH überhaupt nicht. Vgl. BGHSt, 42, 97 (110). 23
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schon gezeigt, unbestimmt ist und den Richtern die Möglichkeit eröffnet, nach dem Endergebnis zu entscheiden, also danach, ob der Streit gut oder böse ausgegangen ist. Als besonders provozierend wird die Anwendung des ungeschmälerten Notwehrrechts auf die sog. Absichtsprovokation empfunden.28 Der heimtückische Feind setzt seinem Opfer solange zu, bis dieses die Nerven verliert und ihn angreift, um ihn dann im Schutze des Notwehrrechts straflos verletzen zu können. Ein solcher Fall ist nicht nur in der deutschen Praxis meines Wissens bisher nicht vorgekommen, er ist auch praktisch kaum durchführbar. Der Provokateur muss sich nämlich bei seinen Provokationen streng an die Rechtsordnung halten, um nicht seinerseits ein Notwehrrecht des Provozierten auszulösen. Jedenfalls wird von der h.L. in Deutschland ein zwar ungehöriges, sog. sozialwidriges, aber nicht rechtswidriges Verhalten nicht als notwehreinschränkende Provokation anerkannt.29 Ein rechtswidriger Angriff kommt als Provokationsmittel nur dann in Betracht, wenn er so kurz andauert, dass der Angegriffene nicht zu einer Notwehr kommt, so eindeutig sofort beendet ist, dass er sich nicht auf Putativnotwehr berufen kann und so geringfügig ist, dass der Provozierte auch nicht durch Notwehrexzess entschuldigt sein kann. Viel mehr als eine einmalige sofort und eindeutig beendete Sachbeschädigung oder Beleidigung bleibt da nicht übrig. Für eine solche Beleidigung ebenso wie für provozierendes ungehöriges aber nicht rechtswidriges Verhalten gilt, dass es dem Provozierten durchaus zumutbar ist, sich an den Grundsatz zu halten, dass man sich nicht zu rechtswidrigen Angriffen provozieren lassen darf. Es zeigt sich also, dass das Problem der Absichtsprovokation in der Praxis nicht existiert,30 sondern von der deutschen Strafrechtsdiskussion künstlich geschaffen und aufgebauscht wird. Für die unbeabsichtigte Provokation gilt, dass sie selten einseitig ist und wenn sie es doch ist, so ist sie so geringfügig, dass sie eine Einschränkung des Notwehrrechts kaum rechtfertigt. Denn selbst rechtswidrig darf sie ja nicht sein. Haben aber beide Kontrahenten zur Eskalation des Streites beigetragen, bis schließlich einer von ihnen zur körperlichen Auseinandersetzung, also zu einem rechtswidrigen Angriff übergeht, so gibt es keine Begründung dafür, nur die letzte Provokation des Angreifers notwehreinschränkend zu berücksichtigen und nicht auch die vorhergegangene Provokation des Provokateurs zur Einschränkung der Einschränkung zu verwerten.31 Aber dann ist es kaum möglich, einigermaßen klare und vorausberechenbare Kriterien dafür anzugeben, inwieweit und wie lange sich beide Kämpfer mit ihrer Notwehr zurückhalten sollen.32 Verfolgt ein Kontrahent den anderen hartnäckig, so muss des28
Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 65 ff. BGHSt, 27, 336; Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn 208; Perron, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 59; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 69; Grünewald, ZStW (122) 2010, 51, 79 ff. 30 Vgl. auch Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 65. 31 Festschrift für Paul Bockelmann/Hassemer, 1979, S. 225, 234 ff. 32 Vgl. hierzu BGH, NJW 1972, 1821 ff. (mit Anm. Roxin); NJW 1976, 634; BGH, NStZ 1991, 32, 33; Hassemer, in: Bockelmann-FS, 1979, S. 225, 237 ff.; Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 20 ff. 29
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sen Pflicht zur Zurückhaltung schließlich einmal enden.33 Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung eine solche Zurückhaltung dem Angegriffenen auch noch dann auferlegt, wenn die von ihm mitprovozierte Auseinandersetzung zunächst beendet ist, der andere sie aber wieder aufnimmt.34 Die Mutter in der Kinderstube und die Erzieherin im Kindergarten mögen nach solchen Regeln Streitigkeiten unter Kindern schlichten. Das Recht ist für Erwachsene geschrieben, es muss also von allgemeinen Prinzipien ausgehen, nach denen man sich zuverlässig orientieren kann und kann von den Erwachsenen ein gewisses Maß an Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung fordern. Unter Erwachsenen sollte es bei dem Prinzip bleiben, dass man sich nicht provozieren lassen soll, weder durch ein rechtmäßiges, wenn auch vielleicht ungehöriges Verhalten zu einem Angriff, noch durch einen Angriff zur Überschreitung seines Notwehrrechts. Ein Recht braucht auch eine gewisse Rigidität und Strenge bei der Verwirklichung seiner Prinzipien. Nach alledem ist eine Einschränkung des Notwehrrechts wegen einer Provokation des Angriffs nicht nur notwendig zu unbestimmt, es besteht auch kein praktisches Bedürfnis nach einer solchen Einschränkung und es gibt für sie auch keine rechtsethische Legitimation.35 Es ist also der Klarheit und der gesetzlichen Bestimmtheit des Notwehrrechts ein schlechter Dienst dadurch geschehen, dass Strafgesetze wie das spanische in Art. 20 Abs. 5 Nr. 2, das argentinische in Art. 34 Nr. 6c und das chilenische in Art. 10 Abs. 4 Nr. 3 das Notwehrrecht an die Bedingung des Fehlens einer „provocation suficiente“ knüpfen. Die erste rechtsethische Einschränkung der Notwehr, mit der die Erosion dieses Rechtfertigungsgrundes in der deutschen Strafrechtspraxis und Strafrechtswissenschaft begonnen hat, betraf den Gebrauch einer Schusswaffe, um einen Dieb zu stellen, der mit einer leeren Flasche flüchtete.36 Hat der Verteidiger nur ein für den Angreifer lebensgefährliches Mittel zur Verfügung, um den Verlust eines geringwertigen Gegenstandes oder sonst einen kleinen Vermögensschaden abzuwenden, so wird ihm die Hinnahme dieses Schadens von Rechts wegen zugemutet. Darüber besteht heute Einigkeit. Wer ein Notwehrrecht beansprucht, indem er den Angreifer tötet oder sein Leben einer erheblichen Gefahr aussetzt, um ein geringwertiges Recht zu verteidigen, der missbraucht sein Notwehrrecht. Aber es ist nicht notwendig, um dieses Extremfalles willen ein besonderes Institut der rechtsethischen Einschränkung oder ein eigenständiges inhaltliches Erfordernis der Gebotenheit in das Notwehrrecht hineinzutragen. Die Ausübung eines jeden Rechts steht unter dem Vorbe-
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Vgl. BGH, NJW 1976, 634; NStZ 1991, 32, 33. BGH, NStZ 2006, 332 ff. 35 Nomos Kommentar/Paeffgen (Fn. 1), Vor § 32 Rn. 147; Frister, GA 1988, 291 (309 f.); Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 20 ff. 36 OLG Stuttgart, Urteil v. 21. 4. 1948 – Ss 30/48 = Höchstrichterliche Entscheidungen Bd. I, 254, 255. 34
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halt der Schikane und des Missbrauchs. Dieses Missbrauchsverbot bedarf keiner besonderen gesetzlichen Legitimation.37 Eine andere Frage ist, ob man lebensgefährliche Verteidigungsmittel zum Schutz von bloßen Sachwerten generell vom Notwehrrecht ausnehmen will. Allgemein und ausdrücklich hat die deutsche Rechtsprechung einen solchen Grundsatz nicht aufgestellt. Sie würde damit auch ihre Kompetenzen überschreiten, denn nur der Gesetzgeber ist zu einer solchen Einschränkung des Notwehrrechts befugt. Trotzdem würde ich dem Angegriffenen dringend davon abraten, zum Schutz von Sachwerten das Leben des Angreifers zu gefährden, etwa hinter einem fliehenden Dieb her zu schießen. Geht dies für den Angreifer nämlich im Einzelfall tödlich aus, so wird die Rechtsprechung Mittel und Wege finden, den Verteidiger von Sachwerten dafür verantwortlich zu machen, indem sie ihm ein anderes, wenn auch wenig wirkungsvolles Verteidigungsmittel vorschreibt oder sein Notwehrrecht mit anderer Begründung einschränkt, etwa durch eine analoge Anwendung der Vorschriften zum polizeilichen Schusswaffengebrauch.38
III. Der allgemeine, sog. aggressive Notstand 1. Die Positivierung des allgemeinen Notstandes im Strafgesetzbuch Der allgemeine Notstand, also das Recht, zur Rettung eigener gefährdeter Rechtsgüter beliebige Rechtsgüter unbeteiligter Dritter in Anspruch zu nehmen, war im deutschen StGB ursprünglich nicht positiv geregelt. Man sprach deshalb von einem übergesetzlichen Notstand. Geregelt war nur ein Ausschnitt des aggressiven Notstandes und zwar in § 904 BGB. Diese Vorschrift schränkt das Eigentum, also das Recht mit einer Sache nach Belieben zu verfahren und jeden anderen von der Einwirkung auf die Sache auszuschließen (§ 903 BGB) dahin ein, dass der Eigentümer den Eingriff eines anderen in die Sache nicht verbieten oder verhindern darf, „wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstandenen Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen“.39 Der allgemeine Notstand wurde erst durch das zweite Strafrechtsreformgesetz vom 04. 07. 1969 positiviert. Durch diese Positivierung ist, so widersinnig das klingt, der Rechtssicherheit kein Dienst geschehen und wir hätten besser daran getan, uns 37 Es wird aber auch in einigen europäischen Strafgesetzen ausdrücklich statuiert, so in § 13 des dänischen StGB, in § 48 des norwegischen StGB und in § 3 des österreichischen StGB. 38 Vgl. etwa LG München, NJW 1988, 1860 ff. = JZ 1988, 565 (mit Anm. Schroeder). Vgl. dazu Puppe, JZ 1989, 728 ff. 39 So ist heute noch die Rechtslage in Chile, vgl. Art. 10 Nr. 7 chilenisches StGB.
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mit der positiven Regelung des sog. Sachnotstandes in § 904 BGB zu begnügen.40 Die gesetzliche Regelung des allgemeinen Notstandes in § 34 des deutschen StGB ist nämlich im Ansatz viel zu weit gefasst, und das gilt für die entsprechende Vorschrift in anderen Strafgesetzen in noch höherem Maße. Während § 34 StGB ein Eingriffsrecht gegenüber an der Gefährdung nicht Beteiligten nur gewährt, wenn „das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“, genügt es nach Art. 20 Abs. 5 Ziff. 1 des spanischen StGB, dass das dem Unbeteiligten zugefügte Übel „nicht größer“ als das abgewendete ist. Sie können also sogar gleich groß sein. Nach Art. 34 Abs. 3 des argentinischen StGB muss das abgewendete Übel lediglich „größer“ sein als das angerichtete. Um sie auf das rechte Maß einzuschränken bedienen sich die Gesetzgeber der Hinzufügung von Generalklauseln, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen übrig lassen. Nach § 34 des deutschen StGB muss der Eingriff in das fremde Rechtsgut ein „angemessenes Mittel“ sein, um „die Gefahr abzuwenden“,41 scil. die Gefahr für das durch den Eingriff gerettete Gut. Mit Hilfe dieser sog. Angemessenheitsklausel werden die verschiedensten Gründe geltend gemacht, das Notstandsrecht zu versagen, obwohl das gewahrte Interesse das verletzte wesentlich überwiegt. So soll die Angemessenheitsklausel das Notstandsrecht beispielsweise dann ausschließen, wenn es ein geordnetes Verfahren gibt, die Notlage zu beheben, auch wenn dieses Verfahren im Einzelfall versagt,42 beispielsweise Rechtsmittel gegen ungerechte Urteile, Krankenversicherungen oder Sozialhilfe. Überhaupt soll die Angemessenheitsklausel die Anwendung des Notstandsrechts zur Behebung einer finanziellen Notlage ausschließen.43 Schließlich soll es auch unangemessen sein, die körperliche Integrität eines anderen zur Rettung eines noch so stark überwiegenden Rechtsguts vorsätzlich zu verletzen. Standardbeispiel dafür ist die zwangsweise durchgeführte Blutspende zur Rettung des Lebens eines Patienten, die die Menschenwürde des Zwangsspenders verletze.44 Höchstpersönliche Rechtsgüter, nicht nur das Leben und die körperliche Un-
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Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 23 f., schreibt dazu (S. 23): „Je mehr die Diskussion darüber (über den allgemeinen Notstand) fortschreitet, desto deutlicher wird es, dass eine Formulierung, die allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten gerecht werden wollte, sich in einer vagen Allgemeinheit erschöpfen müsste.“ 41 Art. 24 des brasilianischen StGB verlangt, dass die verhinderte Beeinträchtigung dem Notstandstäter „nicht zumutbar ist“. 42 Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 40; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Abschnitt, Rn. 36 ff.; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3d; Wessels/Beulke, AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 317 ff.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 54. 43 Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 173; Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 40; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Abschnitt, Rn. 37; Wessels/Beulke, AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 317; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3d. 44 Dieses Beispiel geht zurück auf Gallas, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. 2, 1958, S. 151; vgl. auch ders., „Pflichtenkollision und Schuldausschließungsgrund“ in: Festschrift für Helmut Mezger, 1954, S. 325 f.; Schönke/Schröder/
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versehrtheit sondern auch etwa die Freiheit und die Ehre des Einzelnen unterliegen also grundsätzlich nicht dem Notstandsrecht.45 Es ist danach verständlich, wenn Gallas urteilt, dass wir besser daran getan hätten, uns mit dem Sachnotstand des § 904 BGB zu begnügen und die wenigen Fälle, in denen außerhalb dieses Bereichs ausnahmsweise eine Rechtfertigung durch Notstand in Betracht kommt, einer überpositiven Rechtsbegründung zu überlassen.46 Aber wie wir sehen werden ist auch § 904 BGB schon zu weit gefasst. 2. Das allgemeine Prinzip des rechtfertigenden Notstands Die Einschränkungen, die die Praxis unter Anknüpfung an die Generalklausel des angemessenen Mittels bei der Anwendung des § 34 vornimmt, gehen, wie wir gesehen haben, so weit, dass es am Ende nicht die Regel sondern die Ausnahme ist, dass ein Bürger, der die Rechtsgüter eines anderen zur Rettung von wesentlich überwiegenden eigenen Interessen benötigt, einfach auf sie zugreifen kann. In unserer Rechtsordnung und auch in jeder anderen Ordnung, die sich Rechtsordnung nennt, gilt immer noch der Grundsatz casum sentit dominus. Jeder hat die Gefahren, die ihn treffen, sei es durch Zufall und Unglück, sei es durch eigenes Verschulden, grundsätzlich selbst zu tragen.47 Es ist also nicht die Idee des Utilitarismus und schon gar nicht das Bestreben nach Maximierung von Gütern, das dem Notrecht zugrunde liegt. Es stellt sich die Frage, wann ein Bürger ausnahmsweise zur Wahrung seiner überwiegenden Interessen in Rechtsgüter des anderen Bürgers eingreifen darf. Dies ist dann der Fall, wenn er einen Anspruch auf die Solidarität des anderen hat, Gedanke der Mindestsolidarität.48 In der deutschen Notstandsdogmatik beginnt sich der Gedanke durchzusetzen, dass der aggressive Notstand nichts anderes ist, als die Kehrseite der Hilfeleistungspflicht nach § 323c.49 Diese besteht nur bei einem Unglücksfall, also bei einem plötzlichen Ereignis, das unmittelbar einen erheblichen Schaden herbeizuführen droht und auf das man sich nicht ausreichend vorbereiten kann oder vorbereitet hat. Ist der Hilfspflichtige nicht an Ort und Stelle oder kann er aus anderen Gründen die erforderliche Hilfe nicht leisten oder will er sie nicht leisten, so darf sich der Gefährdete eben selbst an dessen Gütern bedienen. Ob es rational Perron (Fn. 9), § 34 Rn. 41e; Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch/Günther, § 34 Rn. 51; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 2d. 45 Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 25. 46 Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 24 f.. 47 Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 7. 48 Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 6; Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch/Günther, § 34 Rn. 11; Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 9 ff.; ders., ZStW (116) 2004, 751, 752 f.; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 11. Abschnitt, Rn. 3 f., 12, 13. Abschnitt, Rn. 1, 8; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 9; vgl. auch Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 10 f.; Frisch, in: Puppe-FS (2011), S. 425, 438 ff. 49 Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 34 Rn. 6; Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 9; Festschrift für Hans Joachim Hirsch/Kühl, 1999, S. 259, 266.
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befriedigend zu erklären ist, dass gerade in diesen Fällen der eine Bürger einen Anspruch auf die Solidarität des anderen geltend machen kann, während in anderen Notlagen der Grundsatz casum sentit dominus unbarmherzig gilt, kann man bezweifeln. Dies mag damit zu rechtfertigen sein, dass der Inhaber des Eingriffsguts nicht sicher sein kann, ob er nicht eines Tages selbst auch von einem Unglück getroffen wird, in dem auch er das Notstandsrecht in Anspruch nehmen würde. Die Bereitschaft zu solcher Mindestsolidarität wurzelt vielleicht auch in unserer Instinktausrüstung, die aus einer Zeit stammt, als die Menschen in kleinen Gruppen einer übermächtigen Natur gegenüberstanden, gegen die sie sich nur durch Solidarität behaupten konnten. Jedenfalls gehört diese Mindestsolidarität im Unglücksfall zu jenem ethischen Minimum, das nicht nur die Moral, sondern auch das Recht vom einzelnen verlangt. 3. Zur Positivierung der Einschränkungen des Notstandsrechts Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine erste und radikale Einschränkung des Notstandsrechts, diejenige, dass es nur für einen Unglücksfall gilt. Das gilt auch für den Sachnotstand nach § 904 BGB. Ohne diese Einschränkung würde das Prinzip des Vorrangs des erheblich überwiegenden Interesses vor dem Recht des anderen direkt zu einer Art Steinzeitkommunismus führen. Nur bei einem Unglücksfall ist jedermann zur Hilfeleistung verpflichtet. Nur bei einem Unglücksfall darf der Betroffene sich fremder Sachen zur Abwendung eines wesentlich überwiegenden Schadens bedienen. Da nach heute in Deutschland herrschender Auffassung diese Solidaritätspflicht sich nur auf den Einsatz der eigenen Kraft und Zeit sowie vertretbarer Güter beschränkt, ist der bewusste Einsatz der Verletzung fremder höchstpersönlicher Güter als Mittel zur Rettung anderer von vornherein vom Notstandsrecht ausgeschlossen, auch wenn das gerettete Interesse das verletzte noch so stark überwiegt. Da hier die andere Person als bloßes Mittel eingesetzt wird, verstößt dies nach heutiger Auffassung unter allen Umständen gegen deren Menschenwürde.50 Das gilt aber nicht für eine bloße Gefährdung fremder höchstpersönlicher Rechtsgüter. Das mag seinen Grund darin haben, dass im Falle einer Realisierung dieser Gefährdung durch die Verletzung des gefährdeten Rechtsgutes, diese nicht in erster Linie als Werk des Gefährdenden erscheint, sondern als Unglück und Schicksal. In der Praxis sind es denn auch, abgesehen vom Sachnotstand, ausschließlich Fälle der Gefährdung, etwa des Straßenverkehrs, für die eine Rechtfertigung durch Notstand in der Praxis in Betracht gezogen wird.51 Allerdings darf die Gefährdung nicht das Ausmaß einer Vorsatzgefahr erreichen. Das kann dadurch sichergestellt werden, dass nicht nur das gerettete Rechtsgut, sondern auch dessen Gefährdung die verursachte Gefährdung 50 Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 118; Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch/Günther, § 34 Rn. 51; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 34 Rn. 41e; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 2d; Frisch, in: Puppe-FS (Fn. 48), S. 425 ff. 51 OLG Koblenz, NJW 1988, 2316; OLG Düsseldorf, NJW 1990, 2264; OLG Hamm, VRS 36, 27.
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wesentlich überwiegen muss. Dann ist es auch nicht erforderlich, eine Ausnahme für Rettungspflichtige, etwa Feuerwehrleute, Polizisten oder Garanten zu machen wie sie Art. 20 Abs. 5 des spanischen StGB ausdrücklich vorsieht. Denn zu unverhältnismäßigen Wagstücken sind auch diese nicht verpflichtet. Abschließend sei ein Formulierungsvorschlag zum rechtfertigenden Notstand vorgelegt, der nicht den Anspruch erhebt, einwandfrei zu sein, aber doch die Richtung anzeigt, in der eine gesetzliche Regelung dieser Materie vorgenommen werden könnte, die sehr viel bestimmter ist, als die in unseren Gesetzen vorfindliche. Rechtfertigender Notstand: Abs. 1 Die aus einem Unglücksfall erwachsene Gefahr für ein Recht oder rechtlich geschütztes Interesse darf durch die Schädigung oder Gefährdung einer fremden Sache oder eines sonstigen Vermögensinteresses abgewendet werden, wenn es zur Abwendung der Gefahr kein milderes Mittel gibt und diese Gefahr das verletzte Interesse wesentlich überwiegt. Der Träger des gewahrten Interesses soll den Schaden ersetzen. Abs. 2 Wer die durch einen Unglücksfall einem Rechtsgut drohende Gefahr dadurch abwendet, dass er ein anderes Rechtsgut gefährdet, handelt nicht rechtswidrig, wenn dessen Gefährdung zur Abwendung der durch den Unglücksfall drohenden Gefahr erforderlich ist und wesentlich geringer ist, als die durch den Unglücksfall drohende Gefahr. Tritt dadurch ein Schaden ein, so soll der Träger des gewahrten Interesses diesen ersetzen.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung Franz Streng
I. Die Rechtsfolgen fehlender Schuldfähigkeit Ist der Täter „bei Begehung der Tat“ schuldunfähig i.S.v. § 20 StGB, dann kann er mangels Schuld wegen dieser Tat nicht bestraft werden. Es fehlt ihm wegen psychischer Krankheit oder Störung entweder die erforderliche Unrechtseinsicht oder die Fähigkeit, „nach dieser Einsicht zu handeln“. Eine Bejahung der Voraussetzungen des § 20 StGB betrifft allein die fehlende Verantwortlichkeit für eine bestimmte Tat in einer ganz konkreten Situation, obwohl der Begriff der Schuldfähigkeit und der Gesetzeswortlaut („unfähig ist“) auf eine allgemeine Fähigkeit oder Unfähigkeit des betreffenden Täters zu verweisen scheint. Bei Schuldunfähigkeit kommen schuldausgleichende Sanktionen als „Strafe“ nicht in Betracht. Immerhin strafrechtliche „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ und andere schuldunabhängige Sanktionen, die lediglich eine „rechtswidrige Tat“ voraussetzen, nicht aber schuldhaftes Verhalten, können verhängt werden. Einschlägig sind besonders die „Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“ gem. § 63 StGB und auch die „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ gem. § 64 StGB1. Unbefriedigend ist die Ablehnung einer eigentlichen Bestrafung dann, wenn der Täter sich selbst – evtl. sogar zwecks Begehung der Straftat – sehenden Auges in einen derartigen Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt hat. · Beispiel: Ein Tatentschlossener betrinkt sich gezielt, um seine inneren Hemmungen gegenüber der dann zu begehenden Körperverletzung herabzusetzen. In der Folge führt er die geplante Tat im aktuellen Zustand der Schuldunfähigkeit durch. – Hier lehnt sich der Täter letztlich genauso vorwerfbar gegen die Rechtsordnung und gegen die Integrität des dann angegriffenen Rechtsguts auf wie der nüchtern bleibende Täter und er setzt diese Haltung auch in einen entsprechenden Rechtsgutsangriff um. Es lässt sich gegen einen solchen Täter der Vorwurf erheben, er habe eigenverantwortlich einen gefährlichen Zustand hervorgerufen, der sich dann gefahrentspre1
Dazu ausführlich Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 333 ff.
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chend tatsächlich in einer Rechtsgutsschädigung realisiert hat. Unstrittig ist in derartigen Konstellationen eine Strafbarkeit aus dem Vollrauschtatbestand des § 323 a StGB denkbar. Allerdings ist durch diese Norm nur die Berauschung als solche in Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts unter Strafe gestellt, nicht aber die eigentliche Rechtsgutsverletzung in Form der Schädigung des angegriffenen Tatopfers. Zumindest sieht das die herrschende Meinung so2. Daher besteht Anlass darüber nachzudenken, ob sich der Schuldvorwurf bezüglich der in schuldunfähigem Zustand begangenen Tat – in unserem Beispiel die Körperverletzung – an das Stadium vor Eintritt der alkoholbedingten psychischen Störung anknüpfen lässt. Eine solche Bezugnahme auf das schuldhafte Herbeiführen der Defektlage angesichts einer dann möglichen oder sogar geplanten „Defekttat“ wird traditionell als actio libera in causa bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die Tat immerhin in freiem (schuldfähigem) Zustand in Gang gesetzt worden ist und sich dann in vorhersehbarer Weise oder gar vorsatzgemäß auch realisiert hat. Und es besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die actio libera in causa (in fahrlässiger oder vorsätzlicher Form) grundsätzlich dem materiellen Schuldprinzip entspricht. Dennoch fehlt in Deutschland eine spezielle gesetzliche Regelung der Art, dass der Täter wegen seines in der Defektbegründung liegenden Vorverschuldens für die daran anknüpfende rechtswidrige Tat auch bestraft werden kann. Angesichts der Anforderungen des in unserer Verfassung (Art. 103 II GG) geregelten nullum crimen, nulla poena sine lege scripta-Prinzips stellt sich hier die Frage nach den Grenzen des Gesetzlichkeitsgrundsatzes.
II. Der Streit um die actio libera in causa Umstritten ist, wie die actio libera in causa strafrechtsdogmatisch begründet werden kann. Denn § 20 StGB geht ja – zumindest auf den ersten Blick – ohne Einschränkung von einer Koinzidenz bzw. Simultaneität von Tat und Schuldfähigkeit aus; abgeleitet wird dies daraus, dass es auf die Schuld(un)fähigkeit „bei Begehung der Tat“ ankommt. Derzeit konkurrieren im Wesentlichen drei Lehren zur Begründung der actio libera in causa-Haftung für Vorverschulden. Diese sollen im Folgenden für die Konstellation vorsätzlicher actio libera in causa – wenn also die vorsätzliche Defektherbeiführung mit Blick auf eine dann vorsätzlich zu begehende Tat erfolgt – kurz diskutiert werden.
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Zum Meinungsstand zur Rechtsnatur des Vollrauschtatbestands ausführlich Streng (Fn. 1), Rn. 572 ff.; Geisler, in: Münchener Kommentar zum StGB (MüKo-StGB), 2006, § 323 a Rn. 2 ff.; ferner Streng NJW 2003, 2963 (2964 f.); Schöch, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB (SSW-StGB), 2009, § 323 a Rn. 2 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 2, 35. Aufl. 2011, Rn. 1028 ff.; Rengier, Strafrecht BT II, 13. Aufl. 2012, § 41 Rn. 5 ff.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung
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1. Vorverlegungslehre (Tatbestandsmodell) Die wohl noch herrschenden Vorverlegungstheorien erklären die für die Rechtsgutsverletzung kausale Defektherbeiführung – im Regelfall ein Sich-Berauschen – zur eigentlichen Tathandlung, auf die sich die Schuld bezieht3. Dieses Tatbestandsmodell trägt dem Wortlaut von § 20 StGB immerhin insoweit Rechnung, als mit der Defektherbeiführung ein für die Tatbestandsverwirklichung kausaler Beitrag im Zustand der Schuldfähigkeit geleistet worden ist. Allerdings wird ganz berechtigt eingewandt, dass das Vorverhalten lediglich kausal dafür ist, dass der Täter den Rechtsgutsangriff im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat; dass er ihn ohne die Berauschung gar nicht oder weniger rechtsgutsverletzend begangen hätte, ist in keiner Weise gesichert. Letztlich führt die Anknüpfung an die Handlung der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit wegen der isolierten Vorverlagerung des Schuldvorwurfs zu einer Lösung der Schuld von der eigentlichen (versuchten) Rechtsgutsverletzung und damit zu einem jedenfalls materialen Verstoß gegen das Koinzidenzprinzip. Durch die weitgehende Abkoppelung von der notwendigen Wertungsgrundlage des eigentlichen Rechtsgutsangriffs degeneriert bei der Vorverlegungslehre das Schuldurteil zu einem bloß formalen Legitimationsakt. Ganz konsequent leidet die tatbestandsbezogene Vorverlegungstheorie in strafrechtsdogmatischer Hinsicht entscheidend daran, dass sich diese Vorverlagerung der Tathandlung etwa bei Delikten mit einem über die bloße Erfolgsverursachung hinausgehenden Handlungsunwert überhaupt nicht konstruieren lässt. Besonders deutlich wird dies bei „eigenhändigen Delikten“ wie dem Meineid (§ 154 StGB) oder der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB). Wer sich betrinkt, sagt eben nicht falsch aus, schwört nicht und fährt auch nicht Auto4. 3 Vgl. RGSt 22, 413 (414 f.); BGHSt 17, 333 ff.; BGHSt 21, 381 (381 f.); BGHSt 34, 29 (33); Maurach, JuS 1961, 373 (374, 377); Horn, GA 1969, 289 (300); Puppe, JuS 1980, 346 (347); Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 71 f.; Wolter, FS Leferenz, 1983, S. 545 (555 f.); Lange, in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 10. Aufl. 1985, § 21 Rn. 70 ff.; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (311 ff.); ders., Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 59 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 17 Rn. 64; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 54 ff.; Frister, ZStW 108 (1996), 645 (647, 651); Schlüchter, FS Hirsch, 1999, S. 345 (358 ff.); Guhra, Das vorsätzlich-tatbestandsmäßige Verhalten beim beendeten Versuch, 2002, S. 158 ff.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 35; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK-StGB), 7. Aufl. 2003, § 20 Rn. 28 d – e; Schünemann, Lampe-FS, 2003, S. 537, 557; SK-StGB/Wolters/Horn, 8. Aufl. 2007, § 323 a Rn. 28 ff.; Frister, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, Kap. 18 Rn. 19 ff.; Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 130 f.; Pfister, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 3 (2009), 253 (258); Joecks, Studienkommentar zum StGB, 9. Aufl. 2010, § 323 a Rn. 27 f.; Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 16; Rengier, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2011, § 25 Rn. 15; B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 603; Jäger, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011, Rn. 177; ähnlich Haft, Strafrecht AT, 9. Aufl. 2004, S. 131 f. – Weitere Nachweise bei Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 13. Aufl. 2010, S. 90 ff. 4 Vgl. Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat, 1988, S. 438 ff.; BGHSt 42, 235 ff.
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Weniger Beachtung gefunden haben die ganz entsprechenden Probleme bei den Unterlassungsdelikten: Wer sich betrinkt, zeigt positives Tun. Wenn der Schuldunfähige dann ganz im Sinne seines noch nüchtern gefassten Vorsatzes das erwartete Handlungsgebot vorsätzlich ignoriert, dann besteht keine Möglichkeit, die Defektherbeiführung zur noch schuldfähig begangenen Tathandlung zu erklären. Die pflichtwidrige Gebotsverletzung des Nicht-Eingreifens in eine vom Täter nicht verursachte Schädigungsentwicklung kann nicht in eine Verbotsverletzung im Sinne des aktiven Bewirkens einer Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung umgedeutet werden5. Dieses Scheitern der tatbestandsbezogenen Vorverlegungslehre wird durch § 8 S. 1 StGB untermauert6, demzufolge eine Tat zu der Zeit begangen ist, „zu welcher der Täter oder Teilnehmer … im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen“. Des Weiteren erscheint als problematisch, dass das Tatbestandsmodell bereits die Defektherbeiführung – im Regelfall das Sich-Berauschen – als unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes i.S.v. § 22 StGB ansehen muss. Derart wäre der geplant zur Tatvorbereitung eingesetzte Alkoholkonsum seitens eines zu einem Mord Entschlossenen spätestens im Moment des Verlusts der Schuldfähigkeit als versuchter Mord strafbar: also Sichberauschung als unmittelbares Ansetzen zur Tötung eines anderen Menschen! Weiterhin wird zutreffend kritisiert, dass die actio libera in causa-Konstruktion in Fällen der verminderten Schuldfähigkeit i.S.v. § 21 StGB bezüglich des Versuchsbeginns zu anderen Resultaten führe als in Fällen der Schuldunfähigkeit i.S.v. § 20 StGB; dies könne schwerlich überzeugen. In Fällen des § 21 StGB scheitert die Vorverlegung der Versuchsphase auf den Zeitpunkt der Erreichung des Zustands verminderter Schuldfähigkeit schon deshalb, weil man beim vermindert Schuldfähigen den Versuchsbeginn wohl kaum anders definieren kann als etwa beim voll schuldfähigen Mittäter. Auch die Konstruktion einer Art mittelbarer Täterschaft, bei der der Täter sich selbst als schuldunfähiges Werkzeug benutzt7, rettet die Vorverlegungstheorien nicht. Denn der Täter selbst kann nicht zugleich ein „anderer“ i.S.v. § 25 I 2. Alt. StGB sein. Zudem muss auch diese Konstruktion zu einer letztlich fiktiven Versuchs5
Für eine Systematisierung der Grundlagen Streng ZStW 122 (2010), 1 (2 ff.). Zutr. Baier, GA 1999, 272 (280 ff.), soweit er das Tatbestandsmodell kritisiert; fehlgehend will er sein Argument aber auch auf den Schuldtatbestand anwenden (dazu unten in II.2.). 7 Vgl. etwa Puppe, JuS 1980, 346 (348 f.); LK/Spendel, 11. Aufl. 1996, § 323 a Rn. 36; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (314 f.); ders., Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 61; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 17 Rn. 57, 64; ders., FS Nishihara, 1998, S. 105 (117 ff., 120); Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203 (219 f., 222 f.); Hardtung, NZV 1997, 97 (103); Hirsch, NStZ 1997, 230 ff.; ders., JR 1997, 391 (393); Miseré, Die Grundprobleme der Delikte mit strafbegründender Folge, 1997, S. 125 ff.; Baumann/Weber, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 45 f.; Satzger, Jura 2006, 513 (515); Dold, GA 2008, 427 ff.; Eschelbach, in: v. Heintschel-Heinegg, Kommentar zum StGB, 2010, § 20 Rn. 73; Joecks, StGB, 9. Aufl. 2010, § 323 a Rn. 27 f.; Schild, in: Nomos Kommentar zum StGB (NK-StGB), 3. Aufl. 2010, § 20 Rn. 112; Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 16 Rn. 8. 6
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bejahung schon beim Sich-Berauschen führen; dabei wird der relevante Unterschied zwischen actio libera in causa und mittelbarer Täterschaft, dass nämlich der sich Berauschende durch die Defektherbeiführung das weitere Geschehen gerade noch nicht aus der Hand gegeben hat, völlig ignoriert. Schließlich ist über die mittelbare Täterschaft keine einheitliche Erklärung der actio libera in causa möglich, da etwa eigenhändige Delikte nicht mittelbar täterschaftlich begehbar sind. Nicht zu überzeugen vermögen auch Ansätze, die zu begründen versuchen, dass eine zunächst nur vorbereitende Defektherbeiführung dann bei „normalem“ Überschreiten der Strafbarkeitsgrenze auf Tatbestandsebene – als schuldhaft begangen – berücksichtigbar sein soll8. Diese retrograde Umdefinition eines tatbestandslosen in ein tatbestandliches Handeln erscheint schwerlich begründbar und hat in der Lehre wenig Rückhalt gefunden. Als Resümee lässt sich festhalten, dass die Vorverlegungsansätze bzw. Tatbestandsmodelle samt und sonders durchgreifenden Bedenken ausgesetzt sind und daher keine tragfähige Basis für die Zurechnung von Vorverschulden abgeben9.
8 Vgl. LK/Spendel, 10. Aufl. 1985, § 323 a Rn. 32 ff.; ders., FS Hirsch, 1999, S. 379 ff.; Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203 ff.; Schmidhäuser, Die actio libera in causa, 1992, S. 25 ff. 9 Vgl. für Kritik etwa Hruschka, JuS 1968, 554 (556 f.); Horn, GA 1969, 289 (298 ff.); Küper, FS Leferenz, 1983, S. 573 (577 ff.); Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 25 ff.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (516 ff.); LK/Vogler, 10. Aufl. 1985, § 22 Rn. 107 f.; Otto, Jura 1986, 426 (427 ff.); Burkhardt, Täterschaft und ihre Erscheinungsformen, in: Eser/ Kaiser/Weigend (Hrsg.), Vorverschulden, Jugendkriminalität und Jugendgerichtsbarkeit, 1988, S. 147 (154 ff.); Hettinger (Fn. 4), S. 344 ff., 437 ff.; ders., GA 1989, 1 (13 ff.); Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 39 ff., 64 ff.; Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 39 ff.; Landgraf, Die „verschuldete“ verminderte Schuldfähigkeit, 1988, S. 59 ff.; Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 485 (492 f.); Streng, ZStW 101 (1989), 273 (309 f.); ders., JZ 1994, 709 (710 f.); ders., „Actio libera in causa“, in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 69 (72 ff.); Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, 17 A 4 ff.; Salger/ Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (563 ff.); Rath, JuS 1995, 405 (408 ff.); Ambos, NJW 1997, 2296 (2297); Rönnau, JA 1997, 707 ff.; Baier, GA 1999, 272 (280 ff.); Jerouschek, FS Hirsch, 1999, S. 241 (245 ff.); Stühler, Die actio libera in causa de lege lata und de lege ferenda, 1999, S. 49 ff.; Otto, Die Beurteilung alkoholbedingter Delinquenz in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV: Strafrecht, Strafprozeßrecht, 2000, S. 111 (124); Sydow, Die actio libera in causa nach dem Rechtsprechungswandel des Bundesgerichtshofs, 2002, S. 78 ff.; Zenker, Actio libera in causa, 2003, S. 93 ff.; Leupold, Die Tathandlung der reinen Erfolgsdelikte und das Tatbestandsmodell der „actio libera in causa“ im Lichte verfassungsrechtlicher Schranken, 2005, S. 194 f.; Mitsch, FS Küper, 2007, S. 347 (358 ff.); Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 11 Rn. 13 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, § 23 Rn. 16 ff.; v. Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 2010, § 20 Rn. 73; Lenckner/Perron, in: Schönke/ Schröder, Kommentar zum StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35; Fischer, Kommentar zum StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 52.
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2. Ausdehnungsmodell Der tragfähige Leitgedanke, der ansatzweise auch dem Vorverlagerungsmodell zugrunde liegt, kann sich allerdings in einer ausdehnenden Interpretation des Begriffs der Tatbegehung des § 20 StGB ausdrücken. Derart wäre auch das vortatbestandliche, auf die Tatbestandsverwirklichung bezogene Verhalten im Schuldtatbestand erfassbar. Für eine derartige ausdehnende Interpretation des „bei Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB spricht das im Grundsatz unstrittige normative Schuldverständnis. In diesem wird die „naive“ Perspektive vermieden, Schuld sei eine im Täter zu einem bestimmten Zeitpunkt auffindbare Eigenschaft. Das zeitliche Zusammenfallen von Schuldfähigkeit und Begehen einer tatbestandlichen Ausführungshandlung verliert daher an Bedeutung. Die Berechtigung zu einer derartigen Betrachtung i.S. des „Ausdehnungsmodells“10 ergibt sich daraus, dass Schuldwertungen oder Schuldzuschreibungen kaum jemals in ihrer Beurteilungsgrundlage genau auf den Zeitpunkt der Tathandlung begrenzbar sind. Besonders deutlich wird dies in den Regelungen zum Verbotsirrtum (§ 17 S. 2 StGB) und zum entschuldigenden Notstand (§ 35 I S. 2, II StGB), wo ein Vorverschulden die Bewertung des fraglichen Handelns prägt, das aktuelle innere Verhältnis des Täters zu seiner vorsätzlichen Tathandlung hingegen zurücktritt. – Über diese Beobachtung einer grundsätzlichen Bereitschaft in unserer Rechtsordnung zur Ausweitung des Schuldtatbestands nach vorne hin, also vor die Phase der eigentlichen Tatausführung, verdient die Regelung speziell des § 17 S. 2 StGB noch weitergehende Beachtung: Genau gelesen erfasst sie nämlich exakt den Fall der actio libera in causa, soweit es einen vorverschuldeten Verbotsirrtum angeht. Es gibt für das Rechtsinstitut der actio libera in causa also insoweit eine gesetzliche Grundlage! Diese Überlegungen bedeuten für den Fall eines beim Überschreiten der Versuchsschwelle Schuldunfähigen, dass eine Ausdehnung des Begriffs „Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB auf das tatbestandsbezogene Vorverhalten die Schaffung einer lebensnahen Bewertungseinheit herzustellen vermag. Durch diese Ausdehnung des Schuldtatbestands gegenüber dem Unrechtstatbestand wird eine zutreffende Einstufung der sozialen Relevanz der Tathandlung und damit eine adäquate Schuldwertung ermöglicht. 10 Vgl. Streng, ZStW 101 (1989), 273 (310 ff.); ders., JZ 1994, 709 ff.; ders., JZ 2000, 20 (22 ff.); Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 246 f. – Zumindest ansatzweise in die gleiche Richtung gehen auch Überlegungen von Lange, FS Bockelmann, 1979, S. 261 (273); Krümpelmann, GA 1983, 337 (356); Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 85 ff.; Kuhn-Päbst, Die Problematik der actio libera in causa, Jur. Diss. Mannheim, 1984, S. 128 ff.; Frisch, ZStW 101 (1989), 538 (608 ff.); Lampe, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie XIV (1989), S. 286 (292); Schild, FS Triffterer, 1996, S. 203 (204 ff.); Jerouschek, JuS 1997, 385 (388 f.); ders., FS Hirsch, 1999, S. 241 (257 f.); Dölling, Rausch, Kriminalität und Strafrecht, in: Kiesel (Hrsg.), Rausch (Heidelberger Jahrbücher XLIII), 1999, S. 149 (170 ff.); Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 48; vgl. ferner BGHSt 17, 333 (334 f.).
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Dass „bei Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB nicht etwa die Tatbestandsverwirklichung im Sinne von Versuch oder Vollendung meint und daher auch nicht mit den zeitlichen Grenzen der „rechtswidrigen Tat“ i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 5 oder der Tatzeit i.S.v. § 8 StGB zu identifizieren ist, bedarf in Anbetracht der durchschlagenden Kritik an den Vorverlegungstheorien besonderer Hervorhebung. Die Defektherbeiführung stellt vielmehr eine tatbestands- und unrechtsindifferente Vorbereitungshandlung dar; und dies gilt ganz unabhängig vom weiteren Gang der Dinge. Allerdings wird ab dem Vorliegen zumindest eines Versuchs dann auch die zunächst rechtlich völlig indifferente Vorbereitungshandlung immerhin als Bewertungsgrundlage bezüglich der Schuld bedeutsam und ist daher Teil der Tatbegehung i.S.v. § 20 StGB, d. h. sie gewinnt zwar nie Tatbestandsrelevanz aber doch Schuldrelevanz. Die „Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB umfasst folglich auch Dimensionen des Vorverhaltens, soweit diese für die unter Schuldgesichtspunkten erfolgende rechtliche Bewertung der – nach den allgemeinen Grundsätzen abgegrenzten – „rechtswidrigen Tat“ (§ 11 Abs.1 Nr. 5 StGB) erforderlich sind11. Den an das Gesetzlichkeitsprinzip anknüpfenden Bedenken des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofes gegen eine andere Auslegung des „bei Begehung der Tat“ in § 20 StGB als in § 16 und § 17 StGB12 fehlt es schon deshalb an Durchschlagskraft, weil der Tatbegriff in jeder der genannten Vorschriften unterschiedlichen Regelungsaufgaben dient: In der Irrtumsregelung des § 16 StGB geht es um die Bezugnahme auf den objektiven Tatbestand von Vorsatzdelikten, in der Irrtumsregelung des § 17 StGB um die Kennzeichnung der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tatbegehung ohne das gesondert beschriebene Vorverschulden (Vermeidbarkeit) und in § 20 StGB um die Tatbegehung i.w.S., nämlich unter Einschluss des nicht gesondert benannten Vorverschuldens13. Dass der Bundesgerichtshof mit seiner Bezugnahme auf einen einheitlichen Tatbegriff und seiner Ablehnung der Berücksichtigung von Vorverschulden im Schuldtatbestand wenig konsistent urteilt, zeigt sich etwa auch darin, dass er in einer durchaus ähnlichen Konstellation das Vorverschulden ganz entsprechend berücksichtigt hat, wie vorstehend zur actio libera in causa vorgeschlagen. Zur Entschuldigung wegen Notwehrexzesses urteilte er, dass zwar die Anwendung von § 33 auch bei provozierten Angriffen möglich sei, dass dies aber dann nicht gelte, „wenn sich der rechtswidrig Angegriffene planmäßig in eine tätliche Auseinandersetzung mit seinem Gegner eingelassen hat, um unter Ausschaltung der für die Konfliktlösung zuständigen und erreichbaren Polizei den ihm angekündigten Angriff mit eigenen Mitteln abzuwehren und die Oberhand über seinen Gegner zu gewinnen. Denn in einem solchen Fall liegt die eigentliche Ursache für die Notwehrüberschreitung nicht – wie Sinn und Zweck des § 33 StGB es voraussetzen – in einer durch den rechtswidrigen 11
Ausf. Streng, JZ 1994, 709 (711 ff.); ders., JZ 2000, 20 (22 ff.). BGHSt 42, 235 (240 f.); zust. Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn. 54; Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 149 f. 13 Vgl. MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 134 f. 12
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Angriff ausgelösten, auf asthenischen Affekten beruhenden Schwäche des Angegriffenen, sondern in dem vor Eintritt der Notwehrlage gefassten, auf sthenischen Affekten beruhenden Entschluss, den ,Krieg‘ mit dem Gegner selbst auszutragen“14. Unverkennbar dehnt der Bundesgerichtshof hier den Schuldtatbestand nach vorne hin aus, obwohl der Wortlaut von § 33 i.V.m. § 32 StGB den Schuldausschluss allein auf die psychische Ausnahmesituation zur Tatzeit (der Notwehr) bezieht. Mangels einer (auch nur teilweisen) Abstützbarkeit auf § 17 S. 2 StGB erscheint dieses Vorgehen gewiss gewagter15, als die hier vorgestellte Ausdehnungslösung zur actio libera in causa. Immerhin der Rechtsgedanke des § 35 I S. 2 StGB zur Notstandseinschränkung bei selbstverschuldeter Gefahr lässt sich für die Argumentation im Notwehrexzess-Fall – wie bei der actio libera in causa – als Hilfsargument anführen16. Die hier vertretene Position ist, dass sich kein Einwand gegen die actio libera in causa aus dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 II GG heraus erheben lässt, da die lex scripta durch den Begriff der „Begehung der Tat“ die vorgeschlagene Ausdehnung des Schuldtatbestands abdeckt. Dass es sich dabei nicht etwa um eine Überstrapazierung des Wortlauts des § 20 StGB („bei Begehung der Tat“) handelt, sondern um eine durch das System des Gesetzes nachgerade erzwungene Textinterpretation, ergibt sich aus Folgendem: Die Vermeidbarkeitsregelung des § 17 StGB schreibt für Fälle des Vorverschuldens bezüglich eines bei der Tat fehlenden Unrechtsbewusstseins eine ebensolche Ausdehnung des Schuldtatbestands sogar vor! Damit ist in § 17 StGB eine echte actio libera in causa-Konstellation außerhalb des § 20 StGB geregelt. Insoweit ist also der gegen die Rechtsfigur der actio libera in causa erhobene Vorwurf eines Verstoßes gegen die Garantiefunktion des Strafgesetzes gegenstandslos17. Dass man die Fälle einer selbstverschuldet fehlenden Steuerungsfähigkeit (§ 20 StGB: „unfähig ist, … nach dieser Einsicht zu handeln“) unter dem Vorverschuldensaspekt nicht anders behandeln kann als die Fälle fehlender Unrechtseinsicht, erscheint letztlich zwingend. Der Wortlaut des Gesetzes und damit das Gesetzlichkeitsprinzip steht dem jedenfalls nicht im Wege. 3. Ausnahmemodelle Ein weiteres, neben der Vorverlagerungslösung aber schon seit längerem etabliertes Modell zur Legitimation der actio libera in causa, das sogenannte Ausnahmemo14 BGHSt 39, 133, 139 f.; zust. Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn. 92; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 33 Rn. 7; vgl. auch B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 591. 15 Zur Kritik vgl. etwa Müller-Christmann, JuS 1994, 649 (652); Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 93; Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 136; Schönke/Schröder/ Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 33 Rn. 9; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 33 Rn. 4. 16 Dagegen aber Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 136. 17 Ausf. Streng, JZ 2000, 20 (22 f.).
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dell im Sinne einer Nichtbeachtung des Wortlauts von §§ 20, 21 StGB18, wird mit Gedanken der Obliegenheitsverletzung oder des Rechtsmissbrauchs des Täters oder unter Hinweis auf Gewohnheitsrecht begründet. Dagegen wird von der herrschenden Meinung eingewandt, dass – anders als bei § 323 a StGB – das Gesetz keinen Anhaltspunkt für die Zulässigkeit einer solchen Abweichung vom Wortlaut gebe und angesichts Art.103 II GG ein Gewohnheitsrecht-Argument zur Strafbegründung nicht tauge19. Entsprechendes muss dann konsequenterweise auch den anderen, in neuerer Zeit vorgetragenen Lehren entgegengehalten werden, die trotz fehlender Tatschuld zur Strafbarkeit gelangen wollen. Eine solche auf Vorverschulden gestützte Verantwortungszurechnung trotz Verneinung von Tatschuld mittels Ausgleich20 oder Surrogation21 der fehlenden Schuldfähigkeit oder im Wege eines „Verantwortungsdialogs als dogmatische Regeln zweiter Stufe“22 würde Strafbarkeit, d. h. Schuldausgleich, ohne Schuld bedeuten und deshalb der über das Rechtsstaatsprinzip grundgesetzlich abgesicherten Bedeutung des Strafbegründungs- und Straflimitierungselements der Tatschuld in keiner Weise entsprechen23. Freilich lässt sich das Ausnahmemodell ebenso wie das Ausdehnungsmodell auf die Teilregelung der actio libera in causa durch § 17 StGB für den selbstverschuldeten Verbotsirrtum und auf die – von der Gültigkeit der actio libera in causa ganz selbstverständlich ausgehenden – Gesetzgebungsmotive stützen. Dies ist von den Vertretern der Ausnahmelösung bislang jedoch nicht für die Verteidigung ihrer Position herangezogen worden24.
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Dafür etwa Hruschka, JuS 1968, 554 (558 f.); ders., Strafrecht AT, 2. Aufl. 1988, S. 46 ff., 293 ff.; Kienapfel, Strafrecht AT, 4. Aufl. 1984, S. 212; LK/Vogler, 10. Aufl. 1985, § 22 Rn. 107; Otto, Jura 1986, 426 (429 ff.); ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 24 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 VI 1; Schönke/Schröder/ Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35; Tiedemann, Die Anfängerübung im Strafrecht, 4. Aufl. 1999, S. 141; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 11 Rn. 18; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 415; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 55; Krey/Esser, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2011, Rn. 709 f.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 20 Rn. 25. – Dazu auch Neumann (Fn. 9), S. 41 ff.; Joerden (Fn. 9), S. 45 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 47 f. 19 Dies einräumend inzwischen auch der Vordenker der Ausnahme-Lehre Hruschka, JZ 1996, 64 ff. 20 Ehemals Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35; anders jetzt Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35 a. 21 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 128 ff. 22 Neumann (Fn. 9), S. 269 ff. 23 Vgl. dazu etwa Küper (Fn. 10), S. 86; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (309 ff.); Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203 (231 ff.); Schmidhäuser (Fn. 8), S. 18 ff.; NK-StGB/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, Vor § 323 a Rn. 14 ff.; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 138 f. 24 Vgl. Streng, JZ 2000, 20 (25).
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4. Ablehnung des actio libera in causa-Ansatzes Eine in letzter Zeit zunehmend vertretene Mindermeinung hält keines der Modelle für tragfähig und lehnt die Rechtsfigur der actio libera in causa ab, so dass nur Strafbarkeit aus dem Vollrauschtatbestand des § 323 a StGB in Frage käme25. Bemerkenswert an dieser Position ist das Fehlen einer Auseinandersetzung damit, dass § 17 StGB mit der dort geregelten Strafbarkeit in Fällen des vermeidbaren Verbotsirrtums immerhin eine Variante der actio libera in causa positiv-rechtlich klärt – und zwar im Sinne der oben (in 2.) dargestellten Ausdehnungslehre. Diese im fraglichen Zusammenhang etablierte Vernachlässigung von § 17 ist umso bemerkenswerter, als der Vorrang der Verbotsirrtumsregelung des § 17 vor einschlägigen Regelungen der §§ 20, 21 StGB der herrschenden Meinung entspricht26. Bezüglich des für §§ 20, 21 erforderlichen Einsichtsdefizits bedeutet dieser Vorrang von § 17, dass bei vorliegender Unrechtseinsicht eine Ex- oder Dekulpation auf defizitäre Einsichtsfähigkeit (wie in §§ 20, 21 angesprochen) nicht gestützt werden kann27. Denn die Privilegierung eines Täters, der – trotz aller Handicaps – doch wusste was er tat und mit Unrechtseinsicht handelte, würde wenig plausibel erscheinen. Es geht bei §§ 20, 21 demnach genauso um konkrete Unrechtseinsicht wie bei § 17 und nicht um eine abstrakte Fähigkeit hierzu. Für das Verhältnis von § 20 und § 21 führt das zu der Konsequenz, dass eine über Unrechtseinsichtsdefizite begründete Exkulpation einen unvermeidbaren Irrtum i.S. fehlender Unrechtseinsicht voraussetzt, während § 21 (analog zu § 17 S. 2) die Konstellation vermeidbar fehlender Unrechtseinsicht betrifft. Entgegen dem Wortlaut des § 21 scheidet gemäß herrschender Meinung eine Dekulpation wegen nur verminderter Einsichtsfähigkeit also aus28. Auch verzichtet man in Anwendung von § 17 S. 2 bei verschuldet fehlender Unrechtseinsicht für die Bejahung von verminderter Schuldfähigkeit auf eine dem Wortlaut von § 21 entsprechende defektbedingt erhebliche Verminderung der Ein-
25
Vgl. etwa Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (526 ff.); Hettinger (Fn. 4), S. 449; Salger/ Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (565); Rudolph, Das Korrespondenzprinzip im Strafrecht, 2006, S. 83 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 33 ff., 35 b. 26 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 IV 1 (mit Fn. 50); Baumann/ Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 27; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 35; LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 12, § 21 Rn. 8 f.; Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 77, 101 f.; Schönke/ Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 21 Rn. 4, 6/7; von Heintschel-Heinegg/ Eschelbach, StGB, 2010, § 21 Rn. 3 f.; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 21 Rn. 3; Lackner/ Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 21 Rn. 1; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 16 f., 50, § 21 Rn. 11 f. 27 Vgl. BGHSt 34, 22 (25); BGHSt 42, 385 (389); BGH, NJW 1995, 795 (796 f.); BGH, NStZ-RR 2002, 328 f.; BGH NStZ-RR 2008, 140; BGH, NStZ 2011, 336 f. 28 Anders Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 203; ders., Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, Kap. 18 Rn. 14; NK-StGB/Schild, 3. Aufl. 2010, § 21 Rn. 12 f.; ferner Kotsalis, FS Stöckel, 2010, S. 397 (399 mit Fn. 10).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung
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sichtsfähigkeit29. – Warum dieser etablierte Vorrang des § 17 gegenüber dem Wortlaut der §§ 20, 21 nun gerade in actio libera in causa-Konstellationen nicht gelten soll, bleibt seitens derjenigen, die die actio libera in causa ganz allgemein ablehnen, ohne Begründung. In der Tendenz hat die Lehre von der Unbegründbarkeit der actio libera in causa gleichwohl durch die Entscheidung BGHSt 42, 235 ff. des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofes Unterstützung erhalten, wonach die Grundsätze der actio libera in causa zumindest auf die Delikte der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c StGB) und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) für nicht anwendbar erklärt werden. Argument ist hierbei das Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 103 II GG. Der Bundesgerichtshof stützt sich dabei u. a. auf die an sich berechtigte Kritik am Tatbestands- bzw. Vorverlegungsmodell30. Seine Gründe für die Ablehnung speziell des Ausdehnungsmodells, nämlich der Hinweis auf den identischen Wortlaut in § 16, § 17 u. § 20 StGB, erscheinen freilich vordergründig, wie oben (in 2.) schon näher begründet wurde. Dass mit dieser Entscheidung des 4. Strafsenats noch keine abschließende Aussage über die künftige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes abgegeben ist, zeigt sich darin, dass andere Strafsenate in neueren Entscheidungen die actio libera in causa-Konstruktion immerhin im Grundsatz weiterhin anerkennen31. Für den Fall einer Ablehnung der actio libera in causa ist im Auge zu behalten, dass hinsichtlich Vorsatzstrafbarkeit dann allein auf § 323 a StGB zurückgegriffen werden kann32. Diese Strafnorm erscheint unter dem Gesetzlichkeitsprinzip zwar unanfechtbar, steht aber mit dem Schuldgrundsatz in Konflikt33. Denn es lässt sich 29
Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 74; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 IV 1 (mit Fn. 50); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 36; Venzlaff/Foerster/Schreiber/Rosenau, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 77, 102; SSW-StGB/Schöch, 2009, § 21 Rn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 21 Rn. 6/7; von Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 2010, § 21 Rn. 5; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 21 Rn. 13 f.; ferner Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 21 Rn. 4; Gegenposition bei Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 18 Rn. 31; SK-StGB/ Rudolphi, 7. Aufl. 2003, § 21 Rn. 4. 30 Vgl. BGHSt 42, 235 (238 ff.). 31 BGH, JR 1997, 391 (LS) – mit zust. Anm. von Hirsch; BGH, NStZ 2000, 584 – mit Anm. von Streng, JuS 2001, 540 ff. 32 Bezüglich Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kann daneben bei reinen Erfolgsdelikten auch unmittelbar auf Fahrlässigkeitsgrundsätze zurückgegriffen werden; vgl. etwa BGHSt 42, 235 (236 f.); aus der Lit. etwa Horn, GA 1969, 289 ff.; Puppe, JuS 1980, 346 (350); Ranft, JA 1983, 193 (195); Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (524 f.); Otto, Jura 1986, 426 (433); ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 32 f.; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (312); Hardtung, NZV 1997, 97 (101 f.); Mitsch, JuS 2001, 105 (111 f.); LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 206; B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 603; Joecks, StGB, 9. Aufl. 2010, § 323 a Rn. 34; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 51; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 148 f. 33 Zur Kritik an der Regelung des § 323 a vgl. schon Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425 ff.; Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 69 ff.; ders., Strafrecht AT, 2. Aufl. 1988,
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schwerlich rechtfertigen, die Tathandlung des Sich-Berauschens als Grundlage für eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu akzeptieren. Die gesetzliche Regelung des § 323 a II, III StGB bindet die Strafbarkeit daher auch an die Rechtsfolgegrenzen der im Zustand der Berauschung begangenen rechtswidrigen Tat. Indirekt wird so die im (möglichen) Zustand der Schuldunfähigkeit begangene rechtswidrige Tat doch Gegenstand der Bestrafung. Es handelt sich in der Sache also um eine im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches versteckte Ausnahme zu der in § 20 StGB geregelten Straflosigkeit des schuldunfähig Handelnden. Dabei bleibt diese verdeckte Form der actio libera in causa ohne deren einschränkende dogmatische Voraussetzungen34 ; etwa fehlt das dem Schuldprinzip geschuldete Erfordernis eines die Defektherbeiführung mit der eigentlichen Rechtsgutsverletzung verknüpfenden Vorsatzes (Doppelvorsatz) für Strafbarkeit aus vorsätzlicher actio libera in causa35. Immerhin für schwerste Taten wirkt sich die in § 323 a StGB enthaltene Limitierung auf fünf Jahre Freiheitsstrafe strafbegrenzend gegenüber der Strafdrohung des im Defekt verwirklichten Straftatbestands aus36. 5. Resümee: Zur Konstruktion der actio libera in causa Die actio libera in causa wird von der noch herrschenden Meinung als tragfähige Konstruktion angesehen. Die wohl überwiegende Lehrmeinung und die Rechtsprechung verlagern den Schuldvorwurf gegen den Täter i.S. des Tatbestandsmodells vor, so dass Anknüpfungspunkt des Schuldvorwurfs das Verhalten vor Eintritt der Schuldunfähigkeit ist. Wer sich angesichts der zu begehenden Vorsatztat vorsätzlich in Schuldunfähigkeit versetzt, mache sich quasi selbst zu seinem eigenen Werkzeug, weshalb dieses Vorverhalten die schuldhafte Verwirklichung des – rein körperlich erst später verwirklichten – Tatunrechts darstelle (sog. Vorverlagerungstheorie bzw. Tatbestandsmodell). Dabei handelt es sich um eine ergebnisorientierte Umgehung der Regelung des § 20 StGB, die an einer Vielzahl konstruktiver Mängel leidet. Nach verbreiteter anderer Ansicht stellt die actio libera in causa eine gewohnheitsrechtlich abgesicherte Durchbrechung der Regelung von § 20 StGB dar. Diesem konstruktiv weniger anfechtbaren Ansatz des Ausnahmemodells wird freilich das S. 298 ff.; Wolter, NStZ 1982, 54 ff.; Streng, JZ 1984, 114 (118 ff.); ders., JR 1993, 35 ff.; ders., JZ 2000, 20 (26 f.); ders., NJW 2003, 2963 (2964 f.); Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (526 ff.); ders., NStZ 1993, 66 ff.; Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 485 (495, 499); Sick/Renzikowski, ZRP 1997, 484 ff.; Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 368 ff.; Freund/Renzikowski, ZRP 1999, 497 (498); Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475 (504 f.); v. Heintschel-Heinegg/Dallmeyer, StGB, 2010, § 323 a Rn. 1.3. 34 Zu den daraus herzuleitenden Bedenken Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 407 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35 b. 35 Dazu etwa LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 202 f.; v. Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 2010, § 20 Rn. 74 f.; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 141 ff. 36 Ausführlich Streng, JZ 2000, 20 (26 f.); ders., NJW 2003, 2963 (2965).
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Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) entgegengehalten, da die gewohnheitsrechtliche Aushebelung von § 20 StGB letztlich eine – wenn auch mittelbare – gewohnheitsrechtliche Strafbegründung enthalte und folglich unzulässig sei. Oben näher begründet wurde, dass der Begriff der „Tat“ in § 20 StGB – also der Schuldtatbestand – auch das tatrelevante Vorverhalten umfasst (sog. Ausdehnungsmodell). Sobald zumindest das Versuchsstadium der eigentlichen Tatverwirklichung erreicht ist, wird das zunächst straflose Vorverhalten der Defektherbeiführung relevant für die Schuldwertung. Diese Ausdehnung des Schuldtatbestands steht in Übereinstimmung mit der in § 17 S. 2 StGB kodifizierten Vorverschuldensregelung beim Verbotsirrtum. Im Sinne solcher Gesamtbetrachtung handelt derjenige vorsätzlich schuldhaft, der sich unter Hinblick auf die folgende Tatbestandsverwirklichung schuldunfähig gemacht hat.
III. Allgemeines zum Verhältnis von Gesetzesauslegung und Analogieverbot Das eben Ausgeführte motiviert zu einer allgemeineren Stellungnahme bezüglich der Heranziehung des Gesetzlichkeitsprinzips als Argument in strafrechtsdogmatischen Diskussionen. Ich plädiere dafür, das radikale, jede weitere strafrechtsdogmatische Beschäftigung mit der Rechtsfrage scheinbar entbehrlich oder gar unzulässig machende Verdikt „unvereinbar mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG, § 1 StGB)“ künftig mit größerer Zurückhaltung einzusetzen als derzeit in der Rechtslehre in Mode37. Dies soll kein Plädoyer für eine Großzügigkeit der Art bedeuten, wie sie der Bundesgerichtshof etwa in einer Entscheidung aus dem Jahre 1957 gezeigt hatte38, als er unter „bespanntes Fuhrwerk, Kahn oder Lasttier“ (vgl. § 3 I Nr. 6 PrFDG) auch ein Kraftfahrzeug subsumiert hatte. Jedoch ergibt sich eine Notwendigkeit zu sensiblem Umgang mit der Behauptung eines Verstoßes gegen die Garantiefunktion des Gesetzes aus der erfahrungsgemäß – und vielleicht notwendig – unvollkommenen Arbeit des Gesetzgebers. Gerade im Bereich der Zurechnungsregeln des Allgemeinen Teils muss für Rechtsentwicklung Raum bleiben, solange damit nicht Entscheidungen des Gesetzgebers konterkariert werden39. Zudem kann der Gesetzgeber es nicht vermei37
Für einen kritischen Blick auf die weniger rigide Haltung der Gerichte vgl. Paeffgen, StraFo 2007, 442 ff.; ferner Schroeder, NJW 1999, 89 ff.; zur Relativierung des Gesetzlichkeitsprinzips im Zusammenhang mit der Internationalisierung des Strafrechts vgl. Jähnke, ZIS 2010, 463 ff. 38 Vgl. BGHSt 10, 375 f.; vgl. auch BGHSt 6, 394 (396): „Aber durch den Wortlaut ist die Auslegung der Bestimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt hat“; zur Kritik etwa Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 34; Simon (Fn. 12), S. 101 ff., 124 f.; vgl. zum Ganzen auch Naucke, Strafrecht Eine Einführung, 10. Aufl. 2002, § 2. 39 Vgl. etwa Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 82 ff.
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den, bestimmte Begriffe wie etwa „Tat“ in verschiedenen Normen mit ganz unterschiedlichem Regelungsgegenstand zu verwenden40. Dies bringt es dann naheliegender Weise mit sich, dass der jeweilige Tatbegriff eine spezifische Funktion innerhalb des fraglichen Regelungszusammenhangs gewinnt und damit auch einen jeweils eigenen Bedeutungsgehalt41. Um diese Relativität der Begriffe zu plausibilisieren, bedarf es keiner tiefschürfenden sprachwissenschaftlichen Begründung. Bereits ein Blick in ein beliebiges Wörterbuch lehrt, wie viele Bedeutungen ein bestimmter Ausdruck haben kann42. Über den Aussagegehalt des Begriffes können wir oft nur bei Berücksichtigung des sprachlichen Kontexts Auskunft geben. Auch im strafrechtlichen Zusammenhang ist jede Behauptung zum „möglichen Wortsinn“ als Grenze zulässiger Auslegung in eine Diskussion des Regelungszusammenhangs der Norm einzubetten43. Von daher ist etwa die Behauptung, ein bestimmter Gesetzesbegriff müsse in verschiedenen Normen gleich interpretiert werden44, mit Misstrauen wahrzunehmen und bedürfte akribischer Begründung. Die zunehmende Bereitschaft in Rechtsprechung und Rechtslehre, „auf dem – scheinbar – bequemen Weg der Aktivierung des Analogieverbots“ (Küper45) die Bemühungen um eine sachangemessene Auslegung des Gesetzes einzustellen46, erscheint nicht unproblematisch47. Zwar ist die Beachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien oberstes Gebot. Doch muss der Text von Art. 103 II GG gerade auch unter den
40
Vgl. für die §§ 16 ff. StGB bei MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 133 ff. Insoweit verdient die durchaus nicht identische Interpretation des Tatbegriffs bei § 22 und § 24 StGB besondere Beachtung, da der Rücktritt sich ja unmittelbar auf die versuchte Tat bezieht und insoweit ein gemeinsamer Regelungsbereich vorliegt. Durch ihre auf den Rücktrittshorizont abstellende Gesamtbetrachtungslehre zur Abgrenzung von unbeendetem und beendetem Versuch (sowie fehlgeschlagenem Versuch) verfolgt die Rspr. (vgl. BGHSt-GS 39, 221 [227 f.]) aber eine besonders weite Interpretation der „Tat“ i.S.v. § 24, d. h. es können auch mehrere Taten i.S.v. § 22 eine Tat i.S.v. § 24 darstellen. Wenig erstaunlich ist der Tatbegriff des § 24 StGB hoch umstritten (vgl. etwa Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999, S. 56 ff.; Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, 2006; Streng, JZ 2007, 1089 [1091]; Linke, Der Rücktritt vom Versuch bei mehreren Tatbeteiligten gemäß § 24 Absatz 2 StGB, 2010, S. 101 ff.). 42 Vertiefend Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 98 ff. 43 Dazu etwa Simon (Fn. 12), S. 77 ff., 134 ff.; Kudlich, FS Stöckel, 2010, S. 93 (103 ff.); ferner Palazzo, Strafgesetzlichkeit. Transformation und Vielschichtigkeit eines „Fundamentalprinzips“, 2010, S. 41 ff. 44 Vgl. etwa BGHSt 42, 235 (240); dagegen MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 135; ferner BGHSt 55, 36 (48 f.). 45 Küper JZ 1997, 229 (231). 46 Vgl. etwa BGHSt 42, 158 (160): „Der Senat verkennt nicht, dass diese Auffassung im Einzelfall unbefriedigende Ergebnisse vermeiden könnte. Ihre Vermeidung wäre aber nur durch eine Gesetzesänderung möglich“. 47 Vgl. auch Jakobs bei Dietmeier, ZStW 110 (1998), 393 (407). 41
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Bedingungen der Strafgesetzgebung und deren Umsetzung in der Praxis48 gelesen werden. Unverkennbar ist der Gesetzgeber darauf angewiesen, dass solche Probleme, wie sie durch die im Gesetzgebungsverfahren weithin gar nicht überschaubaren Auswirkungen von Gesetzesformulierungen auftreten, dann von den Gerichten und der Wissenschaft bewältigt werden. Und manchmal ruft der Gesetzgeber selbst Gerichte und Wissenschaft dazu auf, die im Gesetzgebungsverfahren offen gebliebenen Fragen zu klären; dies war gerade im Zusammenhang mit der früher gewohnheitsrechtlich anerkannten Strafbarkeit unter Heranziehung der actio libera in causa der Fall49. Sich als Wissenschaftler hier zügig auf den Wortlaut des Gesetzes zurückzuziehen, ohne die Auslegungsgrenzen des „möglichen Wortsinns“ akribisch auszuloten, bedeutet schwerlich, dem Prinzip der Gewaltenteilung Reverenz zu erweisen. Im Übrigen ist angesichts der Schutzrichtung gerade des Analogieverbots50 auf den Verständnishorizont des juristischen Laien zu achten: In concreto dürften die Bürger regelmäßig davon ausgehen, dass es sich bei einer vorsätzlich mittels Selbstberauschung durchgeführten Tat bei der vorbereitenden Defektherbeiführung und der anschließenden Durchführung des Gesamtplans um ein und dieselbe Tat i.S.v. § 20 StGB handelt; der Gesetzlichkeitsgrundsatz erzwingt die Haltung derjenigen, die die actio libera in causa ablehnen, also durchaus nicht. Solange den Bürgern durch die lex scripta der strafrechtliche Normbereich bzw. die ihnen drohende strafrechtliche Haftung deutlich genug wird, bleibt es Aufgabe der Gerichte und der Wissenschaft, mit den vorliegenden Gesetzestexten im Sinne der allgemeinen Wahrnehmung des Textes zu arbeiten – trotz des immer wieder und zunehmend sich einstellenden Wunsches nach gründlicherer Kodifikationsarbeit51. Dass eine puristische Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtswissenschaft den Gesetzgeber tatsächlich zur wünschenswerten gründlicheren und umfassenderen Normsetzung erziehen wird, dürfte jedenfalls mehr als fraglich sein. Festzuhalten bleibt die Empfehlung, das Verdikt des Analogieverbots zurückhaltender einzusetzen als dies derzeit der Fall ist. Man hüte sich davor, das Gesetzlichkeitsprinzip vorschnell als Mittel zur Petrifizierung einer Rechtsauslegung zu nutzen, die zur gesellschaftlichen Aufgabe des Rechts in Widerspruch steht. Wenn keine Unklarheit in der Wahrnehmung der konkreten Strafdrohung in der Öffentlich48 Zur Unzulänglichkeit der etablierten Methodenlehre, diesen Umsetzungsprozess zu bewältigen vgl. Hassemer, ZRP 2007, 213 (217 ff.); Christensen/Kudlich (Fn. 42), S. 80 ff. 49 Vgl. dazu näher bei Streng, JZ 2000, 20 (22) – mit Fn. 28. 50 Näher zum Gewährleistungsgehalt von Art. 103 II GG etwa Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 117 ff. 51 Außerordentlich scharfe Kritik hat die unzulängliche Vorbereitung des 6. StrRG von 1998 bei Lackner/Kühl (Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts. Eine kritische Einführung, 1998, S. V ff.) gefunden. Man mag die in diesem Gesetzgebungsverfahren deutlich gewordene überhastete und daher fehleranfällige Strafgesetzgebung als symptomatisch für die derzeitige legislatorische Tätigkeit ansehen. Vgl. auch Hettinger, in: Laubenthal (Hrsg.), Festgabe für Rainer Paulus zum 70. Geburtstag, 2009, S. 73 ff. Für ähnliche Erscheinungen in einem Nachbarland Stratenwerth, SchwZStr 127 (2009), 114 ff.
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keit besteht, nämlich der normale Bürger bei einem von seinem Rechtsgefühl geleiteten Blick ins Gesetz von der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ausgehen kann, handelt es sich bei Meinungsunterschieden über eine weitergehende Einschränkung der Strafbarkeit um Fragen der Auslegung des Gesetzes, nicht aber um die Reichweite verfassungsrechtlicher Garantien im Sinne des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 II GG. Gleichermaßen bleibt die Geltung des Gewaltenteilungsprinzips unberührt, wenn der Gesetzgeber der Lehre und Rechtsprechung die Klärung offener Fragen anvertraut hat, wie dies im Zusammenhang mit der actio libera in causa der Fall war52.
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Vgl. oben Fn. 49.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht Probleme aus Sicht des Gesetzlichkeitsprinzips Raquel Montaner Fernández*
I. Einleitung Der Einsatz des Strafrechts als Mittel der Risikokontrolle und -prävention ist in Bereichen sehr komplexer technischer und wissenschaftlicher Tätigkeit immer stärker gefragt. Dies ist zum Beispiel bei den Tatbeständen des Unternehmensstrafrechts der Fall, zu welchem die Fälle der Umweltkriminalität mehrheitlich zählen. Allerdings wird das (Straf-)Recht nicht immer das bestgeeignetste Mittel sozialer Regulierungen sein, um auf alle in diesem Bereich gewonnenen Erkenntnisse zuzugreifen und diese zu verarbeiten. Tatsächlich sind die spezialisierten privaten Subjekte des jeweiligen Unternehmenssektors, welche in einem bestimmten Moment deliktisches Verhalten verwirklichen können, die einzigen, die wirklich in der Lage sind, dieses Wissen zu beherrschen und zu beurteilen.1 Beansprucht das Recht, daran Teil zu haben, dann hat es keine andere Wahl, als den Abstand zur Technik zu verkürzen. Deswegen ist nicht nur eine rechtliche Regulierung notwendig, welche mit Effizienz jene technischen Handlungen oder Prozesse reguliert, deren Verwirklichung Nachteile für Dritte hervorbringen können – dies nennt sich heterogene Regulierung –, sondern auch die technische Regulierung der jeweiligen technischen Sektoren zu fordern, in Ergänzung zur bestehenden rechtlichen Regulierung – dies ist die sogenannte regulierte Selbstregulierung. Nach dieser Sachlage ist es erforderlich, die Möglichkeit der Einflussnahme der normativen Selbstregulierung im Recht und – im hiesigen Zusammenhang – im Strafrecht zu erörtern. Denn es kommt vor, dass die strafrechtliche Eingliederung solcher Selbstregulierungsformen mit dem von uns geschätzten Gesetzlichkeitsprinzip in Konflikt gerät, was auf den folgenden Seiten näher auszuführen sein wird. Diese Problematik kann sich konkret bei gewissen als Blankettstrafnormen ausgestalteten * Übers. von Ref. iur. Steffen Röber, Berlin. In diesem Sinne Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, Cizur Menor, 2002, S. 29, S. 172; Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público: la autorregulación regulada, Madrid, 2005, S. 51; auch Sieber, „Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht. Ein neues Konzept zur Kontrolle von Wirtschaftskriminalität“, in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 475 – 476. 1
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Straftatbeständen ergeben. Dies bedeutet in Anbetracht des Bereiches, in welchem sich die darin enthaltenen tatbestandsmäßigen Handlungen normalerweise verwirklichen, eine starke Berücksichtigung der technischen Regulierung. Nach dieser kurzen Heranführung an den Begriff und die Formen der Selbstregulierung ist die primäre Intention dieser Arbeit, aus der Perspektive des Gesetzlichkeitsprinzips die strafrechtlichen Auswirkungen der Selbstregulierungsformen bei der Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Rahmen der Unternehmenskriminalität und im Speziellen der Umweltkriminalität zu analysieren. Hierzu wird ausschließlich von der Sichtweise der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu Individualpersonen ausgegangen, die bei der unternehmerischen Tätigkeit mitwirken, welche in eine deliktische Handlung mündet. So wird ein Augenmerk auf die Art und Weise gelegt, in der in einem Unternehmen gewisse operative Formen der normativen Selbstregulierung bei der Ausfüllung der im Spanischen Strafgesetzbuch geregelten Umweltstraftat (Art. 325) gestalterisch einwirken oder zumindest daran teilhaben.2 Dabei ist eine der großen Fragen, ob die Nichterfüllung einer technischen Umweltschutznorm ein bei der Würdigung der Strafbarkeit dieser Zuwiderhandlung zu beachtendes Tatbestandsmerkmal ist. Es handelt sich mit anderen Worten um die Analyse, inwiefern die Produkte der normativen Selbstregulierung, unter Beachtung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, dazu dienen dürfen, den Tatbestand der Umweltstraftat – insofern ein Blankettstrafgesetz – auszufüllen. Bevor das Hauptanliegen dieser Arbeit angegangen wird, müssen jedoch einige Begriffe um das Phänomen, die Kategorien und die aus der Selbstregulierung hervorgehenden Produkte im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit abgegrenzt werden.
II. Die Selbstregulierung im Unternehmen 1. Annäherung an den Anwendungskontext a) Jede Tätigkeit von gewisser Komplexität, welche zumindest das wirksame Erreichen ihrer Zwecke verfolgt, erfordert die Bestimmung optimaler Richtlinien oder Parameter zur Erreichung dieses Ziels. Hierzu ist es nicht nur notwendig, über das geeignete Wissen und die Mittel zur Entfaltung einer Tätigkeit zu verfügen. Vielmehr ist auch entscheidend, über die Kapazitäten für die Anwendung des Wissens und die Mittel dazu zu verfügen. Dieser Gedanke lässt sich perfekt auf die unternehmerische Tätigkeit übertragen, denn auch hier ist die korrekte Vereinigung von Wissen (Wissenschaft) und Anwendung des Wissens zur Erreichung eines Ziels (Technik) unerlässlich. Vor allem von Seiten der besonders zu beachtenden Verwaltungsrechtslehre wird hervorgehoben, dass die Anstrengungen, die zur Anerkennung von Konzepten 2 Bezüglich der letzten Gesetzesnovellierung der Straftaten gegen die Umwelt im Spanischen Strafgesetzbuch Montaner Fernández, „Delitos contra los recursos naturales y el medio ambiente“, in: Ortiz de Urbina Gimeno (Hrsg.), Memento Experto. Reforma Penal 2010, 2010, S. 369 – 409.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht
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wie der „Technikwissenschaft“ geführt haben, die immer wichtigere Rolle der Anwendung und Nützlichkeit der Wissenschaft offenbaren, mehr als deren klassische Funktion der Suche nach Gewissheit.3 Die unternehmerische Tätigkeit ist genau genommen ein eindeutiger Ausdruck dieser wissenschaftlichen Neuorientierung. Denn bei der unternehmerischen Tätigkeit manifestiert sich deutlich die Instrumentalisierung des Wissens auf der Suche nach dem hauptsächlich ökonomischen Nutzen. b) Die Entwicklung und Verbreitung von Selbstregulierungsformen unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche steht in engem Bezug zur sogenannten Risikogesellschaft.4 In einer ausgesprochen risikofeindlichen Gesellschaft scheint klar, dass eine ihrer Prioritäten die Suche und die Entwicklung von Mechanismen ist, welche die Reduzierung oder zumindest die Kontrolle von Gefahrenräumen erlauben. Die Formen privater Regulierung können gerade eines dieser Instrumente sein.5 In der Tat ist eine der wesentlichen Eigenschaften der unterschiedlichen Selbstregulierungsformen deren enge Verknüpfung mit der Funktion des Risikomanagements und der Risikokontrolle.6 Tatsächlich und gerade im Umfeld der Unternehmenstätigkeit sind bestimmte Systeme der Corporate Governance und von Compliance Programmen7 wie auch von anderen Formen der normativen Selbstregulierung in den Unternehmen als Antwort auf große Skandale der Wirtschaftskriminalität etabliert worden, dies vor allem in den Vereinigten Staaten.8 Deshalb wird auch mittels der Selbstregulierungs-
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Vgl. Esteve Pardo, El desconcierto del Leviatán. Política y derecho ante las incertidumbres de la ciencia, 2009, S. 54. 4 Hierzu Beck, La sociedad del riesgo. Hacia una nueva modernidad, 1998. 5 In diesem Sinne Esteve Pardo, „El reto de la autorregulación o cómo aprovechar en el sistema jurídico lo que se gesta extramuros del mismo. Mito y realidad del caballo de Troya“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín, Autorregulación y sanciones, 2008, S. 44, zeigt, dass zusammen mit dem Bereich der Grundrechte und des Wirtschafts- und Finanzsystems das Risikomanagement technologischen Ursprungs der dritte Bereich ist, in welchem die Selbstregulierung typischerweise wirkt, vgl. S. 43 – 45. 6 Vgl. Vorwort von Esteve Pardo, in: Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público: la autorregulación regulada, 2005, S. 14; Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 84. 7 Hierüber und andere Kategorien ethischer Kodizes Laufer/Roberston, „Corporate Ethics Initiatives As Social Control“, Journal of Business Ethics, vol. 16, Nr. 10, 1997, S. 1030; vgl. auch De Maglie, „Sanzioni pecuniarie e tecniche de controllo dell’impresa. Crisi e innovazioni nel diritto penale statunitense“, Riv. It. Dir. e Proc. Penale, 1995, S. 137 ff. 8 Vgl. Sieber, in: Tiedemann-FS, S. 449, unter Hinweis auf die Skandale bei World-Com, Enron, Parmalat und Flowtex; auch De Cleyn, „Compliance of Companies with Corporate Governance Codes: Case Study on listed Belgian SMEs“, Journal of Business Systems, Governance and Ethics, vol. 3, Nr. 1, 2008, S. 1, S. 2; McConvill, „Positive Corporate Governance“, in: Journal of Business and Security, 2005 – 2006, S. 51 – 52. Über die Gründe für diese Skandale Tillman, „Making the rules and breaking the rules: the political origins of corporate corruption in the new economy“, Crime Law Soc Change (51), 2009, S. 73 – 86. Siehe auch Laufer/Roberston, Journal of Business Ethics, vol. 16, Nr. 10, 1997, S. 1035, die jedoch zeigen, dass sich nicht allgemein sagen lässt, dass diese Unternehmenskodizes eine abwehrende Antwort auf Unternehmensskandale mit großem medialem Echo seien, sondern
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formen Risikomanagement betrieben, was hochspezialisierte und hochkomplexe Bereiche umfassen kann. Dies geschieht von Seiten der die fragliche Tätigkeit durchführenden Subjekte bzw. Personen selbst, welche auch über das Spezialwissen des Sektors verfügen. c) Die die Unternehmen zur Selbstregulierung motivierenden Interessen sind nicht immer die gleichen. Für einige sind sie der Funktionsweise des Unternehmens inhärent, da das Erfüllen und Befolgen von Normen – nicht nur der rechtlichen Normen – das ethisch Richtige ist.9 So führt die Betrachtung des Unternehmens als eines nicht nur auf Maximierung seiner ökonomischen Vorteile ausgerichteten Wirtschaftsakteurs, sondern auch als eines moralisch Handelnden, sozial Engagierten und um die Auswirkungen seiner Entscheidungen Besorgten, zum Begriff der unternehmerischen sozialen Verantwortlichkeit oder der körperschaftlichen sozialen Verantwortlichkeit.10 Die Reputation des Unternehmens ist auch ein gewichtiges Motiv für die Durchführung von Selbstregulierungsprogrammen. Tatsächlich ist dies für manchen Autor der derzeit gewichtigste Faktor, sich für die Selbstregulierung zu entscheiden. Denn NGOs oder andere soziale Interessensgruppen sind dazu fähig, harte Kampagnen gegen gewisse Unternehmen zu fahren – zum Beispiel wegen deren respektlosen Umgangs mit der Umwelt – und können so deren Reputation und Position auf dem Markt schwer beeinträchtigen.11 Ferner wird von den Unternehmen die Annahme und die Erfüllung der Selbstregulierungsformen als etwas begriffen, das mit ihren eigenen Unternehmenszielen verbunden ist. Denn die Selbstregulierungsformen können sich langfristig in einen finanziellen Vorteil für die eigene Unternehmenstätigkeit verwandeln. So kann zum Beispiel die Wandlung zu einem öko-effizienteren Unternehmen die unternehmerischen Kosten senken.12 Des Weiteren kann man die Selbstregulierung als eine Methode einsetzen, um ein staatliches Eingreifen zu verringern oder zu verhindern.13 D.h. die Privatsubjekte entscheiden sich vor einer Erhöhung oder Verschärfung der öffentlichen Regulierung wegen möglicher Verstöße selbst, sich „einem selbstregulierenden System [zu unterwerfen], das Aktivitäten wegen eines Verstoßes gegen rechtliche Normen verhindert oder vorbeugt, die dem Unternehmen sehr negative Konsequenzen verursachen könnten“.14 Deshalb funktionieren aus Sicht der praktischen Ausführbarkeit der unternehmerischen Tätigkeit die vielmehr aus dem Schutzmechanismus der eigenen Unternehmensinteressen hervorgehen, siehe S. 1035 – 1036. 9 Vgl. Braithwaite/Fisse, „Self-regulation and the control of corporate crime“, in: Shearing/Stenning (Hrsg.), Private Policing, Newbury Park (California), 1987, S. 221 – 222. 10 Vgl. Calveras/Ganuza, „Responsabilidad social corporativa. Una visión desde la Teoría Económica“, in: http://hdl.handle.net//2072/1578. 11 Vgl. Vogel, „Private Global Business Regulation“, Annual Review of Political Science, vol. 11, 2008, S. 268; auch O’Riordan/Fairbrass, „Corporate social responsibility (CSR): Models and theories in stakeholder dialogue“, Journal of Business Ethics (83), 2008, S. 746. 12 Vgl. Vogel, Annual Review of Political Science, 2008, S. 268 – 269. 13 Vgl. Braithwaite/Fisse, Private Policing, 1987, S. 221 – 222. 14 Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 58.
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Mittel der Selbstregulierung als echte Präventionsinstrumente. Insofern sind die Unternehmen nicht nur am Rückgriff auf Formen der Selbstregulierung interessiert, um eine verwaltungsrechtliche oder sogar strafrechtliche Sanktionierung zu verhindern, sondern auch um Produktreklamationen oder große zivilrechtliche Schäden zu verhindern.15 2. Selbstregulierung und regulierte Selbstregulierung in der unternehmerischen Tätigkeit: Begriffliche Abgrenzung a) Das Hauptmerkmal der Selbstregulierung ist deren privater Ursprung oder, wie Esteve Pardo aufzeigt, ihr Ursprung in der Gesellschaft selbst, also außerhalb des Staates.16 Die Selbstregulierung bildet auf diese Weise eine Regulierung, welche die privaten Subjekte und Organisationen eigenständig in deren Berufsumfeld ohne Intervention der öffentlichen Gewalten entwickeln.17 Folglich werden die Selbstregulierungsformen im privaten Umfeld nicht nur ausgearbeitet, sondern verbreiten dort auch ihre Wirkung. Dies verhindert allerdings nicht, dass deren Wirkungen über den eigenen Tätigkeitssektor hinausgehen und auf diese Weise von Seiten der öffentlichen Gewalt berücksichtigt werden.18 Konkret lässt sich bezüglich der unternehmerischen Tätigkeit festhalten, dass die dort angewandten Selbstregulierungsformen entweder Produkt des jeweiligen individuellen Unternehmens – zum Beispiel ein ethischer Kodex – oder auch ein Produkt aus Vereinbarungen eines Unternehmens- bzw. Berufsverbandes des Sektors sein können.19 Auf jeden Fall sind die Schöpfer dieser Selbstregulierungsformen Privatsubjekte, die nicht nur über das spezialisierte Wissen verfügen, sondern auch über die Erfahrung bei dessen Anwendung. b) Die Hauptformen der privaten Regulierung sind die normative Selbstregulierung, die deklarative Selbstregulierung und die resolutive Selbstregulierung. Zunächst einmal kann die Selbstregulierung normativen Charakter haben, wenn sie sich in Form von Richtlinien oder Normen manifestiert, welche die beste Methode zur Erreichung bestimmter Resultate vorgeben. Hieraus folgt, dass besonders im industriellen und beruflichen Sektor die rechtlichen Normen mit einer Reihe von extrajuristischen Sozialnormen zusammentreffen: die technischen Normen und Regeln bzw. Verhaltenskodizes oder ethischen Kodizes.20 Zweitens kann die Selbstregulierung in der Deklaration von Einzelvereinbarungen oder -entscheidungen bestehen, 15
Vgl. Braithwaite, Regulation, Crime and Freedom, 2000, S. 95. Vgl. Esteve Pardo, in: Autorregulación y sanciones, 2008, S. 40, S. 43. 17 Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, S. 15 – 17; Lenckner, „Technische Normen und Fahrlässigkeit“, in: Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, 1969, S. 490. 18 Vgl. Esteve Pardo, in: Autorregulación y sanciones, S. 45 – 46. 19 Diesbezüglich Bermejo, Prevención y castigo del blanqueo de capitales. Una aproximación desde el Análisis Económico del Derecho (Tesis doctoral UPF), 2009, S. 110. 20 Diesbezüglich Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 114 – 120. 16
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wie der Bewilligung von technischen Zertifikaten, Qualitätsmarken oder -kennzeichen. Und letzten Endes kann sich die Selbstregulierung in Form von Schiedsentscheidungen oder disziplinarischen Sanktionen (also im Sinne einer Resolution) ausdrücken.21 Die vorliegende Abhandlung wird sich nur mit den Formen der normativen Selbstregulierung beschäftigen. c) Einer der grundlegenden Wesenszüge der normativen Selbstregulierung ist im Unterschied zur rechtlichen Regulierung, dass sie von Seiten der Privatpersonen freiwillig erfolgt. Und es sind die handelnden Personen des jeweiligen Sektors selbst, für die die Anwendung dieser Sozialnormen privaten Ursprungs gedacht ist. Diese entscheiden letztlich über die Selbstbindung durch diese Formen der Selbstregulierung. Entscheidet sich nun ein Subjekt vor dem Hintergrund des freiwilligen Charakters, sich diesen privaten Normen nicht zu unterwerfen, kann es abweichend von diesen Normen verfahren, ohne dass dies unmittelbar sanktionsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde.22 So steht es zum Beispiel zur Entscheidung des Unternehmens, sich an eine Norm der ISO (International Organization for Standardization) der 14000er-Serie bezüglich des Umweltmanagements und der Umweltprüfung zu binden oder an deren spanische Version, die korrespondierenden Normen der UNE (Una Norma Española), welche die AENOR (Asociación Española de Normalización y Certificación) erarbeitet. Da es sich bei all diesen Normen um technische und nicht rechtliche Normen handelt, bedeutet deren freiwilliger Charakter tatsächlich, dass die Unternehmen selbst die Entscheidungsbefugnis darüber besitzen, ob sie auf deren Basis operieren oder nicht. d) Die Wirkung der unternehmerischen Tätigkeit entfaltet sich offenkundig nicht nur ad intra des Unternehmens, sondern auch ad extra. So gibt es zahlreiche denkbare Gruppierungen (stakeholders), die – positiv oder negativ – von den Resultaten der unternehmerischen Tätigkeit betroffen sein können. In gleicher Weise gibt es viele, die daran interessiert sind, dass die Tätigkeit in dieser Form reguliert wird, kann dies doch die Wahrung ihrer Interessen sichern. So kann es sich gerade bei den öffentlichen Interessen verhalten. So kann der Staat zu einem der Hauptinteressenten an der Sicherung werden, dass die unternehmerische Tätigkeit korrekt ausgerichtet ist. Deshalb ist die Selbstregulierung nicht etwas, das komplett im Rahmen der öffentlichen Gewalt existiert und entsteht, sondern ganz im Gegenteil. Obwohl die Selbstregulierung im engeren Sinn die Form der durch die Privatsubjekte generierten Regulierung bleibt, ohne Eingreifen der staatlichen Gewalt, werden die durch den Staat gesteuerten oder „extern bedingten“ privaten Regulierungen aber immer häufiger.23 Trotz der möglichen Vorteile für die unternehmerische Organisation durch die Selbstregulierung ist gewiss, dass nicht alle Unternehmen sich auf Grund eigener In21
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 15. Vgl. Salmoni, Le norme tecniche, 2001, S. 242. 23 Vgl. Arroyo Jiménez, „Introducción a la autorregulación“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 23. 22
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itiative für eine Selbstregulierung entscheiden. Vielmehr ist es gelegentlich notwendig, dass die Unternehmen irgendeine Form externen Drucks verspüren.24 Die öffentliche Gewalt ist gerade eines der Subjekte, die in der Lage sind, besagten Druck auszuüben. Dies drücken die Wendungen „regulierte Selbstregulierung“ und „Ko-Regulierung“ aus. Sie nehmen auf diejenigen „Bekundungen der Selbstregulierung Bezug, deren Kontext und Wirkung von der Verwaltungsgesetzgebung vorbestimmt wird“.25 Die regulierte Selbstregulierung ist folglich das Resultat der Beziehung zwischen Fremdregulierung und Selbstregulierung. Nach der Verwaltungsrechtslehre ist sie eine Form der „durch den Gesetzgeber und die Verwaltung kontrollierten und instrumentalisierten“ Selbstregulierung, eine Selbstregulierung in Diensten öffentlicher Zwecke.26 e) Jedoch bleibt auch im Umfeld der regulierten Selbstregulierung die direkte Verantwortlichkeit des Risikomanagements in den Händen der Privatpersonen, die das Risiko generieren – normalerweise individuelle Unternehmen. Wie die Verwaltungsrechtslehre aufzeigt, kommt es vor, dass Privatsubjekten erlaubt wird, „diese Verantwortung ihrerseits an andere Privatsubjekte zu übertragen; Technikexperten, welche die Risiken minimalisieren können – Normierungsorganisationen, Zertifizierungsstellen, Kontrollorgane, Umweltprüfer, Wirtschaftsprüfstellen und Test- und Eichlabore“. Dann beschränkt sich auch die Funktion des Staates „auf die Kontrolle der korrekten Funktionsweise des für das Risikomanagement verfassten Selbstregulierungssystems“.27 Obwohl der Staat nicht in der Lage ist, direkt in die Regulierung von Bereichen erhöhter technischer Komplexität einzugreifen – da er, neben anderen Gesichtspunkten, nicht über die erforderlichen Spezialkenntnisse verfügt – hat er durch die regulierte Selbstregulierung die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeit über die Selbstregulierungsinstanzen und das, was diese zur Reduzierung der von ihnen verursachten Risiken unternehmen. So wandelt sich die regulierte Selbstregulierung in eine indirekte Strategie der öffentlichen Regulierung.28 3. Die Hauptausdrucksformen der technisch-normativen Selbstregulierung: die technischen Regeln und Normen a) Unter den Formen der normativen Selbstregulierung unterscheidet man zwischen jenen Regulierungen von technischem Charakter – wie es die technischen Regeln und Normen sind – und jenen von ethischer Natur – wie zum Beispiel den ethischen Kodizes. Aus strafrechtlicher Sicht zeigt sich die Bedeutung der ethischen 24
Vgl. Simpson, Corporate Crime, S. 100. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 33 – 34. 26 Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 75, S. 83; auch Arroyo Jiménez, Autorregulación y sanciones, S. 24. 27 Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 136. 28 Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 85, S. 87. 25
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Selbstregulierungsformen hauptsächlich auf dem Gebiet der Begründung von Verantwortlichkeit juristischer Personen. Dagegen haben die Formen der technischen Selbstregulierung größere Bedeutung zur Begrenzung individueller Verantwortlichkeitssphären erlangt. Hinsichtlich der Auswirkungen der Selbstregulierung auf die Bestimmung der Straftatbestandsmäßigkeit von Handlungen, soll hier nur auf die normative Selbstregulierung technischer Art eingegangen werden. b) Zunächst sind die technischen Regeln (regulae artis oder lex artis) „Methoden, um als im beruflichen Sektor, um den es sich handelt, allgemein anerkannt geeignet zu verfahren“. Ihre Funktion ist es, „das vernünftigerweise zu fordernde Niveau, die Sorgfaltspflichten oder den Sorgfaltsmaßstab einer konkreten Leistung“ zu definieren.29 Deshalb meinen manche, dass die technischen Regeln als Kriterien bei der Würdigung hinsichtlich der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt herangezogen werden können.30 Tatsächlich beziehen sich die technischen Regeln auf die „gute Ausführung eines Berufes oder Handwerks“,31indem es ihre Hauptaufgabe ist, das bestgeeignete technische Mittel oder Verfahren zur Realisierung der fraglichen Tätigkeit aufzuzeigen. Diese beruflichen Verwendungen entbehren im Allgemeinen einer schriftlichen und bestimmten Formulierung und besitzen darüber hinaus auch keine „bindenden Wirkungen a priori“, wie etwa rechtliche Normen.32 Letzten Endes bestehen die technischen Regeln aus einer Reihe von Grundsätzen, welche die Ausführung bestimmter Tätigkeiten lenken und deren Daseinsberechtigung sich aus einem auf Erfahrung basierenden Verfahren der Vorhersehbarkeit ergibt.33 So führt die Durchführung einer gewissen Tätigkeit auf eine bestimmte und erfolgreiche Weise zur Standardisierung der zur Durchführung dieser Tätigkeit übernommenen Grundsätze oder Parameter. So üben die technischen Regeln eine der Funktionen der Selbstregulierung aus. Sie bilden auf diese Art eine Methode der Risikoreduzierung in bestimmten Bereichen, die von der rechtlichen Regulierung nicht erfasst werden.34 Deshalb zeigen einige Autoren, dass es diese Kategorie der technischen Regulierung erlaubt, „den In-
29 Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho. Tratamiento del riesgo tecnológico en el Derecho ambiental, 1999, S. 156 – 157. 30 Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, 1999, S. 157. 31 So Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 248. 32 Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, 1999, S. 157 – 158. 33 Vgl. Schünemann, „Reglas de la técnica en Derecho penal“, in: Temas actuales y permanentes del Derecho penal después del milenio, 2002, S. 162 und Fn. 30; Frisch, Comportamiento típico e imputación de resultado (Übers. Cuello Contreras/Serrano González de Murillo), 2004, S. 119. 34 Diese Meinung vertritt Frisch, Comportamiento típico e imputación de resultado, 2004, S. 117, und meint, dass diese Regeln „angewandtes empirisches Wissen repräsentieren“, S. 119; auch Kuhlen, „Technische Risiken im Strafrecht“, in: Das Recht von der Herausforderungen der modernen Technik, 1999, S. 62.
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halt der objektiven Sorgfaltspflicht“35 auszufüllen, weswegen sie auch für die Bestimmung der Verhaltensnorm relevant ist. c) Neben den technischen Regeln sind die technischen Normen weitere Formen der normativen Regulierung. Im Allgemeinen sind die technischen Normen eine Unterklasse der technischen Regeln, mit der Besonderheit, dass diese in schriftlicher Form wiedergegeben werden.36 Wenn diese Wiedergabe durch die hierfür autorisierten Normierungsorganisationen durchgeführt wird, spricht man von einer anerkannten technischen Norm.37 Danach ist die technische Norm als eine nicht-rechtliche Norm definiert, welche „die schriftliche Fixierung des Inhalts der technischen Regel durch dessen Systematisierung von Seiten der Normierungsorganisationen voraussetzt“,38 wie zum Beispiel der AENOR (Asociación Española de Normalización y Certificación) für den industriellen Sektor und Dienstleistungen.39 Auch wenn die technische Norm einzig die schriftliche Verbreitung einer technischen Regel voraussetzen kann, hat sie im Unterschied zur technischen Regel „das Endresultat einer Leistung zum Gegenstand“, bezüglich derer der Normadressat eine Erfolgspflicht hat.40 Dem schadet allerdings nicht, dass hierzu, außer ein festgelegtes Ziel oder Resultat zu verfolgen, in den technischen Normen Richtlinien oder Verfahren festlegt werden. Zu diesem Zweck – und ähnlich den rechtlichen Normen – pflegen die technischen Normen „einen starren Wortlaut [zu haben] und streben nach Bestimmtheit und Allgemeingültigkeit“.41 Allerdings bilden die technischen Normen auf den ersten Blick auch keinen Teil der Rechtsordnung, das heißt, sie sind keine rechtlichen Normen.42 Ihre Formulierung ist privaten Ursprungs. Außerdem ist deren Anwendung auch für den privaten Sektor bestimmt. Trotzdem können manche technische Normen zur Entfaltung öffentlich-rechtlicher Wirkungen gelangen, wie noch später zu sehen sein wird. Zusammenfassend teilen sowohl die technischen Regeln als auch die technischen Normen den gemeinsamen Nenner – zumindest ursprünglich – außerrechtlicher Natur zu sein. Auf der anderen Seite besitzen sie auch beide Begrenzungsfunktion 35 Romeo Casabona, Conducta peligrosa e imprudencia en la sociedad del riesgo, 2005, S. 17. In diesem Sinne sagt Köhler, Die haftungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, in: BB (4), 1985, dass man für die Bestimmung der Sorgfaltspflichten nicht nur die technischen Regeln berücksichtigen solle, S. 10; Kuhlen, in: Das Recht von der Herausforderungen der modernen Technik, 1999, S. 62. 36 Vgl. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S. 47. 37 Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 247. Zu dieser Gruppe gehören zum Beispiel die technischen Normen der UNE (Una Norma Española), DIN (Deutsches Institut für Normung), UNI (Ente Nazionale Italiano di Unificazione), ISO (International Organization for Standardization) etc. 38 Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 247 – 248. 39 www.aenor.es. 40 Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 248 – 249. 41 Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, S. 118. 42 Vgl. Lenckner, in: Engisch-FS, S. 494.
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oder zumindest Orientierungsfunktion bezüglich des Inhalts der gebotenen Sorgfaltspflicht für die Personen, auf die sie anwendbar sind. Soweit diese Regulierungsart von den Subjekten des im jeweiligen Fall zu berücksichtigenden Sektors weitgehend konsolidiert oder anerkannt wird, tragen sie außerdem dazu bei, den Vorhersehbarkeitsgrundsatz für die in diesem Sektor interagierenden Personen zu befolgen.
III. Die Formen der Selbstregulierung im Straftatbestand des Art. 325 des Spanischen Strafgesetzbuches 1. Einführung a) Bis heute hat die spanische Lehre, welche sich mit der Selbstregulierung im Unternehmensstrafrecht befasst hat, ihre Aufmerksamkeit auf das jeweilige Unternehmenskollektiv bei der Selbstregulierung als mögliche Quelle für die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit konzentriert.43 Dieser Denkansatz erklärt sich schlicht durch die konstante Entwicklung der Selbstregulierungsformen in den Unternehmen und/oder mit der Anwendung im Unternehmen und folglich der jedes Mal größeren Berücksichtigung dieser privaten Regulierungsformen von Seiten der öffentlichen Gewalt. Tatsächlich erfordert die Idee der Selbstregulierung selbst den Bezug auf ein mehr oder weniger breites Personenkollektiv. Denn es handelt sich um die Parameter oder die Grundsätze, welche das gemeinsame Vorgehen dieser Personen abstimmen sollen. Allerdings verhindert die enge Verknüpfung zwischen der Selbstregulierung und der Idee des Kollektivs nicht deren Berücksichtigung im Hinblick auf das Kompetenzumfeld der dem Kollektiv angehörenden Einzelpersonen; und dies ist der Aspekt, auf den hier das Augenmerk gelegt wird. b) Häufig sind die unterschiedlichen Formen der operativen Selbstregulierung eines bestimmten Sektors für die daran beteiligten Arbeitnehmer „verbindlich“. So kann zum Beispiel die Entfaltung eines gewissen technischen Prozesses oder die Bedienung von Maschinen oder die Handhabung von in der Produktion verwendeten Substanzen der Befolgung der verfahrensmäßigen technischen Regeln oder Normen unterworfen sein, welche die Unternehmensführung übernommen hat. Ausgehend von dieser Prämisse ist die sich stellende Frage, ob die Bindung der Arbeitnehmer an diese Kategorie der unternehmensinternen Selbstregulierungsnormen bei der Anwendung strafrechtlicher Normen und hinsichtlich strafrechtlicher Konsequenzen im Falle der Nichterfüllung relevant sein kann. Diesbezüglich ist zu fragen, 43
Vgl. Nieto Martín, La responsabilidad penal de las personas jurídicas, 2008; Feijóo Sánchez, „Autorregulación y Derecho penal de la empresa: ¿una cuestión de responsabilidad individual?“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 204 ff., wenngleich er sich hinsichtlich der Auswirkungen der Selbstregulierung auch auf die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit bezieht, S. 247 ff.; Gómez-Jara Díez, „La incidencia de la autorregulación en el debate legislativo y doctrinal actual sobre la responsabilidad penal de las personas jurídicas“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 253 ff.
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ob die Handlung desjenigen strafrechtlich relevant ist, der, entgegen den Festlegungen einer bestimmten privaten Emissionsgrenzwertregulierung für gewisse umweltschädigende Substanzen diesen Grenzwert überschreitet, ohne hierdurch den gesetzlich festgelegten Grenzwert zu überschreiten. c) Wie bereits erwähnt worden ist, betreiben die Unternehmen durch die Formen der Selbstregulierung das Risikomanagement für die aus der Entfaltung ihrer Tätigkeit hervorgehenden Risiken. So fördert die nach einer freiwillig übernommenen technischen Regel oder Norm bestimmungsgemäße Durchführung einer gewissen Tätigkeit nicht nur die Standardisierung dieser Tätigkeit. Gleichzeitig neutralisiert sie auch die möglichen Risiken, die im Falle anderweitigen Handelns entstehen können. Die technischen Regeln oder Normen bilden eine Maßnahme der Risikokontrolle. Sofern das Unternehmen – jenseits der Unterwerfung unter die anwendbaren rechtlichen Vorschriften – diese technische Regulierung als Richtlinie für die Entfaltung einer gewissen Tätigkeit übernimmt und einbindet, sind die diese konkrete Tätigkeit durchführenden Personen außerdem verpflichtet, ihr Verhalten an den Vorgaben der in Frage stehenden technischen Norm auszurichten. So sind die Personen, bezogen auf innerunternehmerische Wirkungen, in der Art zur Erfüllung der Vorgaben der technischen Norm(en) verpflichtet, insofern deren Nichterfüllung disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Aus dieser Perspektive ist zu konstatieren, dass der Inhalt dieser privaten technischen Regulierung dazu beiträgt, die Sphäre der sozio-unternehmerischen Verantwortung der an der Tätigkeit teilhabenden Personen zu konstituieren. Tatsächlich stützt sich die geforderte innerunternehmerische Sorgfaltspflicht für die durch eine bestimmte technische Norm verpflichteten Berufsschaffenden nicht nur auf die Einhaltung der rechtlichen Normen, sondern auch auf die Einhaltung der technischen Norm. In diesem Maße kann das gebotene Verhalten, oder besser gesagt, können die von den Arbeitnehmern zu fordernden Parameter der Sorgfaltspflicht sehr weit angehoben sein; ihnen wird viel mehr abverlangt, als allein von der rechtlichen Norm verlangt würde. d) Jenseits der disziplinarischen Konsequenzen, welche die Nichterfüllung der Selbstregulierungsnormen innerhalb des unternehmerischen Rahmens verursachen kann,44 ist von Bedeutung, ob diese Nichterfüllung von nicht-rechtlichen Normen darüber hinaus die Verhängung strafrechtlicher Konsequenzen begründen kann. Es ist also der Frage nachzugehen, in welchem Maße die normative Selbstregulierung zur Bestimmung der Reichweite des verbotenen Verhaltens oder der Straftatbestandsmäßigkeit der in einem bestimmten Sektor wirkenden Personen berücksichtigt werden kann.45 Bei dieser Analyse ist eine der grundlegenden Fragen, ob die private 44
Hierzu zeigt Darnaculleta i Gardella, „Autorregulación sanciones administrativas y sanciones disciplinarias“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, dass diese disziplinarischen Sanktionen von der Beendigung einer konkreten Tätigkeit bis zur Kündigung bzw. Entlassung bestehen können, vgl. S. 125 – 126. 45 Diese Frage stellt sich auch Sieber, Tiedemann-FS, S. 462 ff.; vom Standpunkt der Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme eines solchen extrarechtlichen Normtypus von Seiten
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Regulierung außer der innerunternehmerisch geforderten Sorgfaltspflicht auch die strafrechtlich geforderte Sorgfaltspflicht bestimmt. Dies setzt allerdings nicht notwendigerweise voraus – wie es traditionellerweise getan wurde46 – dies im Rahmen der Fahrlässigkeitsstraftaten anzusiedeln.47 Die Frage ist m. E. vor der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit zu stellen. Es handelt sich tatsächlich darum, zu bestimmen, in welchem Maße die Selbstregulierungsprodukte des Unternehmens zur Gestaltung der strafrechtlichen Verantwortungssphäre seiner Mitglieder beitragen. Dabei erlaubt es die Nichterfüllung jener Selbstregulierungsprodukte die objektive Tatbestandsmäßigkeit der Handlung zu bejahen. Auf diese Weise liegt die Frage, ob die technische Norm zur Bestimmung der objektiven Sorgfaltspflicht dienen kann, in Wirklichkeit darin, ob der Verstoß gegen diese Norm eine strafrechtlich missbilligte Gefahr schafft. Hier soll die Analyse dieser Problematik auf Basis einer bestimmten Unternehmenskriminalität vollzogen werden, nämlich der Umweltkriminalität. So wird im Folgenden der Einfluss der am Umweltrisikomanagement ausgerichteten technischen Normen auf die Ausgestaltung des Tatbestandes der Umweltstraftat (Art. 325 Código Penal [Spanisches Strafgesetzbuch], im Weiteren CP) analysiert. Wie wir sehen werden zentriert sich die Problematik in diesem strafrechtlichen Rahmen auf die Möglichkeit, das normative Element dieses Tatbestands durch einen Verweis auf die normativen Selbstregulierungsformen auszugestalten. In diesem Sinne handelt es sich um die Analyse, ob die auf die Umwelt bezogenen technischen Regeln und Normen als Ergänzung der Blankettstrafnorm dienen können.48 Deshalb ist es notwendig, sich der Frage zu widmen, ob es einer Übertretung umweltschützender Gesetze oder anderer allgemeiner Bestimmungen gleichkommt, wenn zum Beispiel eine Person eine gewisse Substanz über den in einer technischen Regulierung festgelegten Grenzwerten emittiert oder die für den Umgang mit gewissen Umweltrisiken vorgesehenen technischen Sorgfaltspflichtrichtlinien nicht respektiert. Wenngleich beide Fallkonstellationen in Zusammenhang stehen, muss die Antwort auf die erste Alternative mit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips in Übereindes Strafrechts siehe auch Nieto Martín, „Autorregulación, compliance y justicia restaurativa“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 83. 46 In diesem Sinne zeigt Schünemann, in: Temas actuales, 2002, dass die Regeln der Technik „eine Ermahnung an den Richter [bedeuten können], damit dieser ein besonderes Augenmerk auf den technischen Kontext in der Entscheidung über den Sorgfaltsmaßstab für die Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit legt“, S. 161. 47 Anders Frígols i Brines, „El papel de las reglas técnicas en la determinación del injusto de los delitos imprudentes: su relevancia en el ámbito de la responsabilidad penal por el producto“, in: Boix Reig/Bernardi (Koord.), Responsabilidad penal por defectos en productos destinados a los consumidores, 2005, S. 257 ff., der sich speziell auf die „Rolle der technischen Regeln in der Definition des Unrechts der Fahrlässigkeitsdelikte“ konzentriert; vgl. auch Lenckner, Engisch-FS, S. 491 ff. 48 Sich die gleiche Frage stellend, aber in Bezug auf das Umfeld der Verhütung von Arbeitsrisiken und das Arbeitsstrafrecht Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, 2008, S. 85 – 90.
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stimmung gebracht werden. Umgekehrt wäre die zweite Alternative zunächst mit der Möglichkeit zu verknüpfen, Richtlinien der technischen Sorgfalt bei der Konkretisierung der strafrechtlich gebotenen Sorgfaltspflicht zu berücksichtigen. Sicher ist, dass in der Kategorie der Blankettstrafgesetze letztere Alternative auch das Gesetzlichkeitsprinzip betrifft, denn die Bestimmung der Sorgfaltspflicht würde bedeuten, die Technik der normativen Verweisung anzuwenden. e) Erörtert man die strafrechtliche Relevanz der Selbstregulierungsformen, was die Bestimmung der tatbestandsmäßigen Handlung anbelangt, umfasst dies also eine eher allgemeine, aber keineswegs unwichtige Fragestellung: die ihrer fragwürdigen Vereinbarkeit mit dem Gesetzlichkeitsprinzip. Tatsächlich müssen wir uns fragen, ob die Maxime nullum crimen nulla poena sine lege, im Falle des Rückgriffs auf außerrechtliche Normen, wie den aus der Selbstregulierung entspringenden Normen, um eine Handlung als strafrechtlich verboten zu bestimmen, verletzt wäre.49 Diese Problematik wird in Bereichen, in welchen keinerlei rechtliche Regulierung besteht, nicht aufgeworfen. Vielmehr stellt sich diese Problematik in Bereichen, die bereits Gegenstand einer bestimmten rechtlichen Regulierung sind und aus deren Tätigkeit deliktische Erfolge entstehen können, so wie bei der technisch-unternehmerischen Tätigkeit. Mehr noch ist die tatsächlich relevante Fallgruppe jene, in welcher die Frage darin besteht, die Straftatbestandsmäßigkeit einer Handlung zu bejahen, obwohl der Verletzungserfolg nicht direkt der Vorgabe einer rechtlichen Norm entspringt, sondern einer außerrechtlichen Norm, wie zum Beispiel einer technischen Norm. 2. Die Umweltstraftat aus der Perspektive der Selbstregulierung a) Wie bereits betont, wird in dieser Arbeit die mögliche strafrechtliche Relevanz einer gegen technische Normen verstoßenden Handlung aus der Perspektive der Umweltstraftat des Art. 325 CP analysiert.50 Deswegen ist es angebracht, kurz auf die 49 So zeigt Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl. 2008, dass das Gesetzlichkeitsprinzip zumindest „abgewertet“ wäre, wenn die deliktische Handlung letztlich durch technische Normen definiert würde. In solch technisch komplexen Bereichen wie der Umwelt sei es jedoch sehr schwierig, auf den Verweis auf Selbstregulierungsnormen zu verzichten, vgl. S. 116. 50 Der Wortlaut dieser Vorschrift: „Mit Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren, Geldstrafe von acht bis vierundzwanzig Monatssätzen und der besonderen Untauglichkeitserklärung zur Ausübung des Berufs oder der beruflichen Tätigkeit für die Dauer von einem bis drei Jahren ist zu bestrafen, wer unter Verstoß gegen die Gesetze oder anderer allgemeiner Umweltschutzbestimmungen Emissionen, Verklappungen, Strahlungen, Förderungen oder Abgrabungen, Aufschüttungen, Lärm, Vibrationen, Einspritzungen oder Lagerungen in der Atmosphäre, im Boden, im Untergrund oder in den Binnengewässern, den Meeren, einschließlich der hohen See, oder dem Grundwasser mit Auswirkungen auch in jenseits der Grenze gelegenen Gebieten, sowie Wasserentnahmen, die das Gleichgewicht der natürlichen Systeme schwer beeinträchtigen können, unmittelbar oder mittelbar herbeiführt oder vornimmt. Besteht die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung für Menschen, ist die Strafe aus der oberen Hälfte zu verhängen.“
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Hauptmerkmale dieses Straftatbestandes einzugehen51 und konkret auf die wichtigsten Merkmale für die Würdigung des Einflusses der Selbstregulierungsformen. Dieser Straftatbestand erfordert, dass die handelnde Person mit der Realisierung der angesprochenen Aktivität gegen „die Umweltschutzgesetze oder andere allgemeine Umweltschutzbestimmungen“ verstößt. Auf diese Art gestaltet der Gesetzgeber den Tatbestand des Art. 325 CP als ein Blankettstrafgesetz, dessen Verfassungskonformität durch unser Verfassungsgericht stets bestätigt worden ist, soweit die Anforderungen der sogenannten Lehre der unabdingbaren Ergänzung (complemento indispensable)52 erfüllt werden.53 Zur Rechtfertigung des Rückgriffs auf diese Gesetzgebungstechnik wird auf den erhöhten Aktualisierungsbedarf der Straftatbestände wegen neuer normativer und faktischer Situationen in Bezug auf den Schutz gewisser Rechtsgüter hingewiesen. Auf diese Weise – so wird vertreten – werden Fälle von „Fossilbildung“ oder „Versteinerung“ der strafrechtlichen Regelungen vermieden.54 Auf Grund der Gestaltung dieses Tatbestandes als Blankettstrafnorm ist ein Verweis vom Strafrecht auf die Bestimmungen der verwaltungsrechtlichen Umweltschutznormen notwendig. Wenngleich die Erwähnung der „Gesetze“ keine Probleme verursacht, gilt dies nicht in Bezug auf die „allgemeinen Umweltschutzbestimmungen“. Zunächst scheint diese Formulierung auf Rechtsverordnungen hinzudeuten, und dass die Verwaltungsakte ausschlossen sind. Diese Rechtsverordnungen können bundesstaatlich, autonom (autonómicas), lokal (locales) und sogar kommunal (comunitarias) sein – obwohl unter den letzteren Verordnungen die nicht in Kraft gesetzten ausgenommen sind.55 Auf Grund dieser Erwägungen können die außerrechtlichen technischen Normen und Regeln nicht direkt als Ergänzung der Blankettstrafnorm dienen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jene nicht auf andere Weise auf die Bestimmung des Tatbestandes Einfluss nehmen können. An diesem Punkt verweist die Verwaltungsrechtslehre darauf, dass manche technischen Reglementierun51 Vgl. für alle Silva Sánchez, Delitos contra el medio ambiente, 1999; Silva Sánchez/ Montaner Fernández, Los delitos contra el medio ambiente. Reforma legal y aplicación judicial, 2012. 52 So die Ansicht des Tribunal Constitucional Español. Demnach müssen für die Verfassungskonformität der Blankettstrafgesetze mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: a) von der Rechtsnorm muss eine ausdrückliche und durch das geschützte Rechtsgut gerechtfertigte Verweisung ausgehen; b) die Strafnorm muss die Strafe und den Kernbereich des Verbots enthalten; c) die Strafnorm muss das Bestimmtheitsgebot erfüllen und ausreichend konkretisiert sein. 53 Hierzu Urteil des Tribunal Constitucional (STC) 127/1990, vom 5. Juli, Votum (ponente) García-Mon y González Regueral; speziell für die Umweltstraftat vgl. STC 62/1994, vom 28. Februar, Votum Gabaldón López. 54 Vgl. Doval Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales. El caso de las leyes penales en blanco, 1999, S. 109 und Fn. 178; De Vicente Martínez, El principio de legalidad penal, 2004, S. 52. 55 Hierzu Silva Sánchez, Delitos contra el medio ambiente, 1999, S. 57 – 63. Silva Sánchez/ Montaner Fernández, Delitos (Fn. 51), S. 77 – 84. Zur Rechtsprechung, vgl. Urteil des Tribunal Supremo (STS) vom 24. Februar 2003, Votum (ponente) Granados Pérez (FD 48); STS vom 13. Februar 2008, Votum Berdugo y Gómez de la Torre (FD 198).
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gen anerkannte öffentlich-rechtliche Wirkungen in Bezug auf die eigene rechtliche Ordnung entfalten können.56 b) Dabei ist auf die Indizwirkungen hinzuweisen. Denn die Erfüllung gewisser Selbstregulierungsformen kann als Indiz für den Sorgfaltsgrad dienen, mit welchem eine Person ihre Tätigkeit entfaltet.57 Die Normen der Selbstregulierung können auch Vermutungswirkungen entfalten. Dies ist der Fall, wenn die Einhaltung dieser Normen sich in eine durch die rechtliche Ordnung anerkannte gesetzliche Vermutung der Sorgfaltspflicht verwandelt. Diese gesetzliche Anerkennung besteht nicht im Rahmen der Indizwirkung. Weitere Wirkung ist der Sachverstand. Denn häufig bilden die technischen Normen und Regeln ein antizipiertes Sachverständigengutachten. Sind sie rechtlich anerkannt, können die Selbstregulierungsformeln auch integrative Wirkungen haben und zwar in der Weise, dass sie „gewisse Segmente oder Lücken der öffentlichen Regulierung einbinden bzw. ausfüllen können“, wie zum Beispiel gewisse Instanzenwege eines Verwaltungsverfahrens. Vielleicht eine der relevantesten Wirkungen ist die rechtliche Anerkennung von technischen Normen, sei es bereits durch den von einer rechtlichen Norm oder einer Verwaltungsentscheidung ausgehenden Verweis oder auch durch Beleihung von Privatpersonen, damit diese Entscheidungen mit öffentlich-rechtlicher Wirkung treffen können. In diesem Fall spricht man von der Umwandlungswirkung (efecto transformador) der Selbstregulierungsformen. Die Bezugnahmen der rechtlichen Ordnung auf Normen technischer Art können durch Klauseln verwirklicht werden, die zur inhaltlichen Ausfüllung der Blankettstrafnorm beispielsweise auf Anforderungen gemäß des „Stands der Technik“58 verweisen oder auf das geeignete Verfahren gemäß „der besten Technik oder verfügbaren Technologien“.59 Nach der Verwaltungsrechtslehre bedeutet nur 56 Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, 2002, S. 130 – 157; ders., Derecho del medio ambiente, 2. Aufl. 2008, S. 137 – 140. 57 Auch die Strafrechtslehre erwähnt diese Indizfunktion der technischen Regeln, vgl. Choclán Montalvo, „Deber de cuidado y riesgo permitido“, in: Castellano Rausell (Hrsg.), CDJ: La responsabilidad penal de las actividades de riesgo, 2002, S. 168 – 169. 58 Nach Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, 2008, wird unter dem Begriff „Stand der Technik“ der „Entwicklungsstand in einem bestimmten Moment der Organisation, der Produktionsprozesse oder der Methoden“ verstanden, „der es erlaubt, die praktische Tauglichkeit einer Sicherheitsvorkehrung zu zeigen. Eine Sicherheitsvorkehrung dieser Art bedeutet in der Praxis, die neuen durch die Technik erprobten Entwicklungen anzuwenden. Dass die Vorkehrung praktische Tauglichkeit aufweisen sollte, bedeutet allerdings nicht, dass sie allgemein anerkannt sein müsse. Um Teil des Stands der Technik zu sein, ist die Verwirklichung eines erfolgreichen Testlaufs im Unternehmen ausreichend. Dieses Konzept entspricht der herrschenden deutschen Lehre hinsichtlich der normativen Rezeption der Sicherheitsstandards, welche durch die sogenannte Drei-Stufen-Theorie repräsentiert wird. Nach besagter Theorie existiert kein einheitlicher normativer Sicherheitsstandard, sondern das Recht der technischen Sicherheit hat dessen Fundament auf drei verschiedenen Stufen. Das geringste Sicherheitsniveau wird durch die ,allgemein anerkannten Regeln der Technik‘ festgelegt, das mittlere Niveau ist der ,Stand der Technik‘ und letztlich wird das höchste Niveau durch den ,Stand von Wissenschaft und Technik‘ festgelegt“, S. 108. 59 So legt zum Beispiel das Gesetz (Ley) 16/2002 vom 1. Juli zur integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in dessen Art. 4.1 a) fest, dass man für eine
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der Verweis auf technische Normen eine echte Übertragung von verbindlichen rechtlichen Wirkungen auf diese Formen der Selbstregulierung.60 c) Unter den möglichen Wirkungen der Selbstregulierungsformen kommen die Umwandlungswirkungen im Zusammenhang mit der Figur der Blankettstrafgesetze in Betracht. Dies ist der Fall, wenn die technischen Normen und Regeln durch die von der verwaltungsrechtlichen Norm ausgehende Verweisung rechtlich anerkannt sind. So erfordert die Antwort auf die Frage, ob die Formen der normativen Selbstregulierung den Bereich der objektiven Tatbestandsmäßigkeit der Umweltstraftat ausfüllen können, die Berücksichtigung zweier Variablen: Auf der einen Seite die Kategorie der normativen Selbstregulierung, unterteilt in aus der Selbstregulierung im engeren Sinn stammenden technischen Regeln und Normen und jenen, die aus der sogenannten regulierten Selbstregulierung stammen. Auf der anderen Seite die Kategorie der normativen Verweisung, ausgehend vom Verwaltungsrecht auf die Formen der Selbstregulierung. Dabei wird grundlegend zwischen dynamischen und statischen Verweisen unterschieden. 3. Die Produkte der normativen Selbstregulierung und deren strafrechtliche Relevanz a) Umweltstraftat und Selbstregulierung im engeren Sinn aa) Die Selbstregulierung im engeren Sinn meint die Regulierung, welche die privaten Subjekte erschaffen, weiterentwickeln und denen sie sich freiwillig, abseits jeglichem staatlichen Einflusses unterwerfen. Es handelt sich folglich um Verhaltensregeln oder Grundsätze, welche die Tätigkeit gewisser Berufsgruppen reglementieren, die nicht in irgendeiner Form durch Recht ausgearbeitet worden sind. Hierunter fallen die Regeln der Technik oder leges artis, die sich die privaten Personen oder Organisationen auf Grund ihrer Erfahrung und wiederholter Übung zur Erfüllung ihrer Tätigkeit freiwillig selbst auferlegen. Nach einer Meinung sind diese Fälle Genehmigung der Umweltbehörde in den fraglichen Anlagen unter anderem „die geeigneten Vorkehrungen übernehmen [muss], um der Umweltverschmutzung vorzubeugen, speziell durch die Anwendung der besten verfügbaren Technik“; auch im Rahmen der Autonomiegesetzgebung (legislación autonómica) legt das Gesetz (Ley) 3/1998 vom 27. Februar der Intervención Integral de la Administración Ambiental de Cataluña, außer sich auf die Anpassung an die „beste verfügbare Technik“ als eine der Handlungsprinzipien der diesem Gesetz unterworfenen Tätigkeiten (Art. 5) zu beziehen, in dessen Art. 8 fest, dass für die Bestimmung der „Emissionsgrenzwerte und der technischen Vorschriften allgemeiner Art“ unter anderem die „beste verfügbare Technik“ anzuwenden sei; auch das Gesetz (Ley) 11/2003 vom 8. April der Prevención Ambiental de Castilla y León legt fest, dass zu den Prinzipien, welche die Tätigkeit der verpflichteten Personen (titulares) oder Trägerschaften (promotores) der vom Anwendungsbereich der Norm umfassten Tätigkeiten und Anlagen bestimmen, das Prinzip der „Vermeidung der Kontamination und deren Freisetzung, durch die Anwendung der geeigneten Vorkehrungen und im speziellen der besten Technik oder verfügbaren Technologien“ (Art. 5.2 a) zählt. 60 Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, 2008, S. 407.
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der Selbstregulierung im engeren Sinn die große Ausnahme, da die Mehrheit der Selbstregulierungsformen „Gegenstand irgendeiner direkten oder indirekten Gestaltung oder Bedingung von Seiten der öffentlichen Gewalt“ sind.61 Es bleibt aber trotzdem wichtig sich die Frage zu stellen, ob die Nichterfüllung dieser Selbstregulierungsstrukturen für die Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Betracht gezogen werden muss. bb) In Übereinstimmung mit der Lehre, wonach man den technischen Regeln und Normen die gleiche Funktionalität wie rechtlichen Normen zuspricht,62 kann man deren Verwendung von einem rechtlichen Standpunkt aus zur Begrenzung der zu fordernden Sorgfaltspflicht in Betracht ziehen. So wird vertreten, dass deren Erfüllung für die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt zumindest Indizwirkung hat.63 Auf dieser Grundlage kommt die spanische Rechtsprechung zur Anlehnung an die sogenannte lex artis, um die gebotene strafrechtliche Sorgfalt des gegenständlichen Berufsfeldes festzulegen.64 Die Anerkennung einer Indizwirkung der Kategorien technischer Regulierung bedeutet trotzdem nicht, dass diese, hinsichtlich der Bestimmung der gebotenen Verhaltensweise, in jedem Fall die strafrechtlich gebotene Sorgfaltspflicht bestimmen. cc) Im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit kann sich die Selbstregulierung im engeren Sinn in zwei unterschiedlichen Situationen manifestieren: in Sektoren, die schon Gegenstand einer bestimmten rechtlichen Norm sind, oder in Bereichen, in welchen keine rechtliche Regulierung besteht. In der ersten Alternative bedeutet die Selbstregulierung normalerweise, anspruchsvollere Verhaltensrichtlinien oder -normen als die rechtlichen Normen zu entwickeln. In der Konsequenz wird der technische Parameter der gebotenen Sorgfalt höher sein als der rechtlich geforderte Parameter. Trotzdem ist dieser Sorgfaltsmaßstab nur im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit geboten, bei der die technische Regulierung angewandt wird. Denn es handelt sich um ein Produkt der Selbstregulierung im engeren Sinn. In der zweiten Alternative, wie auch im vorherigen Fall, macht die Forderung der Erfüllung der technischen Regulierung nur vom innerunternehmerischen Standpunkt aus Sinn. Folglich kann deren Verletzung auch keine rechtlichen Wirkungen entfalten. dd) Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass der Verletzung technischer Regeln oder Normen nicht immer die Verletzung eines strafrechtlich geschützten Inter61
Arroyo Jiménez, in: Autorregulación y sanciones, 2008, S. 24 Fn. 10. So sagt Frisch, Comportamiento típico, 2004, dass diese vorrechtlichen Normen „im Allgemeinen funktionell gleichwertige Surrogate der korrespondierenden staatlichen Regulierungen sind“, S. 124. 63 Vgl. Feijóo Sánchez, „Imputación de hechos delictivos en estructuras empresariales complejas“, in: La Ley (40), 2007. 64 Vgl. zum Beispiel Urteil des Tribunal Supremo (STS) vom 23. Februar 2009 (Votum [ponente] Prego de Oliver y Tolivar), FD 58, STS vom 9. Februar 2007 (Votum Maza Martín), FD 28; STS vom 25. April 2005 (Votum Granados Pérez), FD 18, wenngleich dies die Bestimmung der Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeitsdelikte betraf. 62
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esses innewohnt. Soweit diese Produkte der normativen Selbstregulierung nicht in irgendeiner Weise durch das Recht konstituiert worden sind oder durch Recht kontrolliert werden, kann ein Verstoß nicht direkt für die strafrechtliche Bewertung der Verletzungshandlungen herangezogen werden. Hinsichtlich der Umweltstraftat können die aus der Selbstregulierung im engeren Sinn hervorgehenden technischen Regeln und Normen auch nicht bei der Würdigung der Straftatbestandsmäßigkeit berücksichtigt werden. Obwohl diese Kategorie der Selbstregulierungsformen de facto den Anwendungsbereich der Handlungsnorm begrenzt, dringen deren Wirkungen nicht zum rechtlichen Rahmen durch, auch nicht bis zum strafrechtlichen Rahmen. Da sich nicht einmal das Umweltverwaltungsrecht auf diese Kategorie der privaten Regulierung bezieht, kann auch das Strafrecht diese nicht zur Ausfüllung der Blankettstrafnormen heranziehen. b) Umweltstraftat und regulierte Selbstregulierung aa) Wie bereits gezeigt wurde, ist es nicht mehr möglich von Selbstregulierung im engeren Sinne zu sprechen, sobald die Formen der Selbstregulierung in irgend einer Weise durch die staatliche Regulierung bedingt worden sind. Der passende Terminus ist nun regulierte Selbstregulierung oder Ko-Regulierung. Nach der Verwaltungsrechtslehre ist dies die einzige Kategorie der Selbstregulierung, die für das Öffentliche Recht relevant sein kann.65 Mehr noch werden die durch die bereits angedeutete Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips verursachten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit – auch mit spezieller Tragweite im Rahmen des Strafrechts – für einige durch die regulierte Selbstregulierung geheilt. Gewiss bedeutet diese Selbstregulierungsform, dass die öffentliche Verwaltung bereits interveniert hat, sei es „ex ante mit dem Ziel, die durch das Selbstregulierungssystem zu befolgenden Richtlinien festzulegen oder ex post, um zu kontrollieren, ob die Selbstregulierung den notwendigen Grad an Qualität besitzt.“66 In diesen Fällen hält man es für legitim, dass das Recht das Produkt der normativen Selbstregulierung zur rechtlichen Begründung der objektiven Sorgfaltspflicht heranzieht.67 bb) Die regulierte Selbstregulierung kann sich in unterschiedlichen Formen manifestieren. Der Einfluss oder die Kontrolle von Seiten der öffentlichen Gewalt auf die Privatsubjekte und die Produkte ihrer Selbstregulierung ist demnach nicht einheitlich. Die relevanteste Form der regulierten Selbstregulierung ist für Umweltstraftaten diejenige, welche durch die Technik der normativen Verweisung formuliert wird. Da der Umweltstraftatbestand als Blankettstrafnorm gestaltet ist, ist tatsächlich die einzige Möglichkeit die Regulierungen technischer Art bei der Bestimmung der Straftatbestandsmäßigkeit mit einzubeziehen, dass auf die technischen Regulierungen durch die Umweltschutzverwaltungsgesetze oder allgemeinen Umweltschutz65
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 75. Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, S. 89. 67 So Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, S. 90.
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verwaltungsbestimmungen verwiesen wird. Nur so lässt sich begründen, dass der Inhalt der technischen Norm Teil der Rechtsordnung wird.68 cc) Im Rahmen der beruflichen Tätigkeit ist der Regelfall, dass die auf Basis einer bereits existenten rechtlichen Regulierung stehenden Formeln der normativen Selbstregulierung die Grenzen der gebotenen Sorgfalt anheben.69 Auf diese Weise verwandeln sich die Selbstregulierungsnormen in noch anspruchsvollere Kontrollmechanismen für die von der unternehmerischen Tätigkeit ausgehenden (Umwelt-)Risiken. Sie reduzieren den erlaubten Risikobereich der Unternehmenstätigkeit und heben den Standard der gebotenen Sorgfalt für die an dieser Tätigkeit teilhabenden Personen an. Folglich kann es sein, dass der Rahmen des rechtlich erlaubten Risikos weiter gefasst ist als der Rahmen des technisch erlaubten Risikos. Anders ausgedrückt ist das durch die Technik tolerierte Risiko geringer als das durch das Recht tolerierte Risiko. 4. Die strafrechtlich zulässigen Verweisungen auf die Formen der Selbstregulierung a) Die Gestaltung gewisser Vorschriften als Blankettstrafnormen macht es notwendig, sich mit der Technik der normativen Verweisung zu befassen.70 Denn in diesen Fällen verweist ein Tatbestand zu dessen Ausfüllung auf andere Normen. Im Fall der Umweltstraftat verweist Art. 325 CP ausdrücklich auf außerstrafrechtliche Normen, welche den grundlegenden Tatbestand der Straftat ausfüllen. Wie sie formuliert ist, gestaltet sich diese normative Verweisung als eine externe, dynamische und en bloc Verweisung auf Tatbestände, welche Ausfüllungsnormen der Umweltschutzgesetze und anderer allgemeiner Umweltschutzbestimmungen im Moment der Tat sind.71 Jenseits der bereits aufgezeigten Problematik hinsichtlich des Konzepts der „allgemeinen Umweltschutzbestimmungen“, ist die nun in Bezug auf die Umweltstraftat aufgeworfene Frage zu untersuchen, ob gewisse Selbstregulierungsnormen als indirekte Ausfüllung der Strafrechtsvorschrift dienen können oder besser gesagt als Strafrechtsvorschrift zweiten Grades.72 Diese Frage bedeutet ihrerseits, sich mit 68 Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, der zeigt, dass durch diese Verweisung „die technische Norm zu einer rechtlichen Norm mutiert“, S. 168. 69 In diesem Sinne Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 191. 70 Vgl. De Vicente Martínez, El principio de legalidad penal, 2004, S. 51 – 52; auch Doval Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales, der zeigt, dass die Blankettstrafgesetze als eine Kategorie der normativen Verweisung gesehen werden können, vgl. S. 78. 71 Über die unterschiedlichen Klassifizierungen der Verweisung, wie auch zu deren Konzeption vgl. Doval Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales, S. 79 – 93; zuletzt auch Fakhouri Gómez, Delimitación entre error de tipo y de prohibición. Las remisiones normativas: un caso problemático, 2009, S. 98 – 106. 72 Nach Fakhouri Gómez, Delimitación entre error de tipo y de prohibición, „ergänzt“ im Falle der Verweisung zweiten Grades „die Norm, auf die der Straftatbestand verweist, den Straftatbestand nicht – im Unterschied zu den Verweisungen ersten Grades. Vielmehr verweist
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den normativen Verweisungen zu befassen, die vom Verwaltungsrecht auf normative Selbstregulierungen in ihren verschiedenen Formen bestehen. b) Die stetig zunehmende Verwendung der normativen Verweisung auf gewisse Produkte der Selbstregulierung erklärt sich durch die formalere oder verfahrensmäßigere Gestaltung der rechtlichen Regulierung in diesem Bereich. So lässt man die Funktion, materiellen Inhalt hinzuzufügen, auf technische Normen übergehen.73 Falls diese Verweisung gesetzlich anerkannt ist, sollte man sich konsequenterweise fragen, ob der Inhalt der technischen Verweisungsnormen und -regeln sich selbst zu einem Teil der rechtlichen Ordnung entwickelt.74 Daher wird das Problem aufgeworfen, ob dieser als rechtlich verkleidete technische Inhalt durch den Verweis indirekt zur Ergänzung des Blankettstrafgesetzes dienen kann und damit das tatbestandlich relevante Verhalten anpasst.75 c) Die Verwaltungsrechtslehre kennt – im Unterschied zur weiter gefassten strafrechtlichen Klassifizierung – drei Verweisungskategorien: die dynamische Verweisung, die statische Verweisung und die Verweisung durch die technische Regel. Erstere liegt vor, „wenn die rechtliche Verweisungsnorm auf eine technische Norm deutet, aber nicht nur mit ihrem Wortlaut des jeweiligen Zeitpunktes, sondern auch die Modifikationen und Adaptionen dieser technischen Norm zulässt“, ohne Kontrolle oder auch nur irgendeiner vorherigen Kenntnis von Seiten der Verwaltung bezüglich möglicher späterer Veränderungen der technischen Norm.76 Ein Beispiel dieser Verweisungskategorie ist in Art. 6 des Gesetzes 3/1998 vom 27. Februar der Intervención Integral de la Administración Ambiental de Cataluña zu finden. In dieser Vorschrift werden die allgemeinen Verpflichtungen der an der jeweiligen Tätigkeit bediese Ausfüllungsnorm ihrerseits auf eine zweite oder spätere Vorschrift, welche die Blankettstrafnorm inhaltlich ergänzt“, S. 93. In diesem Sinne könnte man von einer Kettenverweisung sprechen. 73 Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 115, S. 117; ders., in: „Protección penal y accesoriedad administrativa en la nueva regulación para la protección del medio ambiente“, in: Berberoff Ayuda (Hrsg.), Incidencia medioambiental y derecho sancionador, CGPJ, VIII, Madrid, 2006, zeigt, dass in diesem Bereich die rechtlichen Normen „die Kontrolle, Vorbeugung und Korrektur der Umweltverschmutzung in allen ihren Formen zum Gegenstand haben (…) sie sind inhaltsleere Gesetze und materielle Verweisungen“, wonach man nicht erwarten sollte, dass man weder in ihnen noch in deren Durchführungsbestimmungen „die Bestimmung [finden wird], wann eine Umweltverschmutzung oder Abfälle ein unerlaubtes Risiko bilden, welches die vom Strafrecht gesuchte Voraussetzung ist. Diese Verweisungen finden sich immer häufiger in technischen Normen“, S. 135; Stella, „Scienza e norma nella practica dell’igiene industriale“, in: Riv. it. Dir. e proc. Penale, 1999, S. 388 – 389, zeigt die Verfassungsmäßigkeitsprobleme dieser Verweisungskategorie auf private Regulierungen. 74 So zeigt Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, dass „die technischen Normen durch die Verweisung das Naturell rechtlicher Reglementierung erlangen“, S. 407 – 408. 75 In diesem Sinne habe ich mich bereits in einer früheren Arbeit geäußert, vgl. Montaner Fernández, Gestión empresarial, S. 286 – 288. 76 Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 137; ders., Técnica, riesgo y Derecho, S. 174; auch Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 407.
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teiligten Personen festgelegt. Danach sind diese Verpflichtungen genau dann erfüllt, wenn besagte Tätigkeiten „geplant, installiert und kontrolliert wurden und man sie in Übereinstimmung mit der gerade gültigen Reglementierung und den Anweisungen der zuständigen Verwaltung ausführt und Mangels spezieller Reglementierung oder Anweisungen den allgemein anerkannten technischen Normen anpasst“ (Art. 6.2 a, kursive Hervorhebung durch die Autorin). Eine statische Verweisung liegt dagegen vor, „wenn eine rechtliche Norm sich auf eine bestimmte technische Norm bezieht, mit dem Wortlaut und den Vorgaben, welche die technische Norm in diesem Moment hat“.77 Diese Verweisungsform wäre aus Sicht der Gesetzmäßigkeit die einzig statthafte, vorausgesetzt diese auf eine bestimmte Norm Bezug nehmende und begrenzte Verweisung sieht die Eingliederung dieser Selbstregulierungsform in die Rechtsordnung vor. Nach Esteve Pardo ist die dynamische Verweisung „grundsätzlich nicht statthaft, da die Rechtsordnung die Herrschaft und sogar die genaue Kenntnis von den Normen verliert, die sie eingliedert“. Außerdem würde ansonsten „eine gesetzgeberische Gewalt einer privaten Normierungsorganisation, mit allen Konsequenzen hinsichtlich ihrer Integration in die Rechtsordnung, anerkannt, der die grundlegende Legitimation fehlt, um bindende Normen der Rechtsordnung zu erlassen“.78 Deswegen wird aus Sicht des Verwaltungsrechts betont, dass die dynamischen oder gleitenden Verweisungen auf technische Normen nicht geeignet sind, rechtliche Pflichten zu generieren. Eine andere Frage ist allerdings, ob diese technischen Normen, auf die die rechtliche Regulierung in dynamischer Weise verweist, andersartige Wirkungen entfalten können. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass sie „ein Indiz oder eine Vermutung zu Gunsten möglicher Verantwortungen“ bilden können.79 Nach meiner Meinung haben diese Schlussfolgerungen auch Auswirkungen auf die strafrechtliche Bewertung des Verstoßes. Daher kann man nur für die statische Verweisung auf eine technische Norm (zur Ausfüllung des materiellen Inhalts einer verwaltungsrechtlichen Norm) bejahen, dass diese als indirekte Ausfüllung einer Blankettstrafnorm dienen kann. d) Wie bereits aufgezeigt wurde, können die verwaltungsrechtlichen Normen zu guter Letzt auch in allgemeiner Form auf den Stand der Technik verweisen. Dabei können diese Verweisungen durch Formeln wie „den Stand der Technik“ oder „die beste verfügbare Technik“ abgefasst sein,80 die in den Kategorien der Verwaltungsrechtslehre mit unbestimmten Rechtsbegriffen gleichzusetzen wären.81 Diese Verweisungskategorie kennt man als technische Regel. Durch sie verweist die recht77 Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 136; ders., Técnica, riesgo y Derecho, S. 173. 78 Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 136 – 137. 79 Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 137. 80 Diese rechtliche Verweisungskategorie bildet nach Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, auch „eine Verweisung bzw. eine direkte Adressierung auf/an die normative Selbstregulierung technischen Inhalts“, S. 407. 81 Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, S. 175.
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liche Ordnung nicht auf eine konkrete technische Norm, sondern vielmehr auf die „technische Ordnung“ in ihrer Gesamtheit, also auf die beste sich von dieser Seite aus anbietende Lösung.82 Die Verweisungen auf die beste verfügbare Technik (im folgenden BVT) erklärt sich durch die Logik der integralen Intervention der Verwaltung (intervención integral de la Administración) in beispielsweise der Umweltverschmutzungsprävention und -kontrolle. Ausgehend von der Europäischen Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung von 1996 (IVU-Richtlinie) setzt sich so – auch in der spanischen Rechtsordnung83 – ein Hauptziel der Verwaltung durch, „die Umweltverschmutzung im Ansatz zu verhindern“.84 So handelt es sich um „Handeln direkt über den Brennpunkten der Umweltverschmutzung“, indem man die Notwendigkeit sieht, dass die übernommenen Mittel technischen Charakter haben und Effizienz besitzen müssen „jenseits der formalen Maßnahmen rechtlichen Inhalts“.85 Diese Klausel der BVT bezieht sich auf „die rücksichtsvollste, bekannte Art des Umgangs mit der Umwelt zur Durchführung einer Tätigkeit. Dabei wird berücksichtigt, dass die Kosten für die Unternehmen, welche die BVT anzuwenden haben, innerhalb gewisser Grenzen bleiben“.86 Die Anpassung der Unternehmenstätigkeit an die BVT hängt von mehreren Faktoren ab. Ein Faktor ist die technologische Anpassungskapazität der jeweiligen Anlage, wobei ein zeitliches Element berücksichtigt wird. Demnach wird das zu fordernde Anpassungsniveau an die BVT für neue Anlagen höher sein, als für jene, die bereits einige Laufzeit besitzen. Dieser Aspekt ist eng mit dem zweiten Faktor verknüpft, nämlich den für die Anpassung erforderlichen wirtschaftlichen Kosten.87 Durch den Verweis auf die BVT und immer auf Grundlage der gesetzlich erlaubten Grenzen bestimmen die vom Unternehmen zu tragenden wirtschaftlichen Kosten auch, welches beispielsweise die geeignetsten Emissionstoleranzwerte sind. Alles in allem entsprechen nicht alle für die Umwelt meist rücksichtsvollsten Techniken dem Stand der BVT. Vielmehr ist hierfür die wirtschaftliche Machbarkeit für das jeweilige Unternehmen maßgeblich. Jedoch wird in jedem Fall der zulässige Emissionsgrenzwert gemäß der BVT unterhalb der Emissionsgrenze festgesetzt werden, die ansonsten gesetzlich festgelegt worden wäre. Von hier an soll nun bestimmt werden, ob das Strafrecht beispielsweise den Verstoß gegen die gemäß der BVT markierten Emissionsgrenzwerte berücksichtigen kann. Mit anderen Worten: Kann man die Handlung einer Einzelperson für straftatbestandsmäßig halten, die zwar die durch die BVT qualifizierten Emissionsgrenzwerte überschreitet, jedoch nicht gegen das gesetzlich festgelegte Limit verstößt? Diese Frage kann sich stellen, wenn die Umweltbehörde ursprünglich die Ausfüh82
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, S. 176. So im staatlichen Bereich, Gesetz (Ley) 16/2002, vom 1. Juli, zur integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung. 84 Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 39. 85 Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 39 – 40. 86 Vgl. http://mediambient.gencat.cat/cat/empreses/mtd/. 87 Hierzu Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 42 – 43. 83
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rung einer unternehmerischen Tätigkeit genehmigte, seit besagter Genehmigung Zeit verstreicht, in der sich die Sachlage geändert hat, und das Unternehmen seine Tätigkeit nun nicht an die BVT anpasst, zum Beispiel hinsichtlich der erlaubten Emissionswerte. In diesem Fall wird gegen die Bedingungen der Umweltbehörde verstoßen und daher gegen das den Bedingungen zu Grunde liegende Gesetz, und trotzdem hält der Emissionspegel dieser Tätigkeit die gesetzlich festgelegten Parameter ein. M.E. kann nun auf Grund des Gesetzlichkeitsprinzips dieses Vorgehen nicht für die Anwendung des Art. 325 CP relevant sein. Der gesetzliche Verweis auf die BVT gestaltet sich als eine gleitende oder dynamische Verweisung, welche aus Sicht der Rechtssicherheit unzulässig ist und folglich keine strafrechtlichen Pflichten zu erzeugen vermag. Zudem ist diese Verweisungsform auch relativ, weil die konkrete Bestimmung der BVT und die von der jeweiligen Umweltbehörde festgelegten Emissionswerte nicht nur von den operativen technischen Normen des jeweiligen Tätigkeitssektors abhängen, sondern auch von den Eigenschaften der Anlage oder des Unternehmens. Die Nicht-Anpassung an die BVT bedeutet so lediglich einen Verstoß gegen Verwaltungsrecht. e) Zusammenfassend ist nur für die statische Verweisung rechtliche Wirkung anzuerkennen, die von der verwaltungsrechtlichen Ordnung auf die private Regulierung technischen Charakters gemacht wird, obwohl unser Strafgesetzbuch die Technik der dynamischen normativen Verweisung verwendet. Die Berücksichtigung technischer Regeln und Normen über Blankettstrafnormen bei der Abgrenzung der strafrechtlich verbotenen Handlung hängt auf diese Weise nicht nur von der Kategorie der privaten Regulierung ab, sondern auch von der Verweisungsart der rechtlichen Ordnung. Werden nach diesem Verständnis nur auf diese Weise die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips eingehalten, sind die rechtlich relevanten Normen die der regulierten Selbstregulierung, auf die eine statische Verweisung vorliegt. Damit würden sich die hier aufgeworfenen Fragen – ist eine Person strafrechtlich verantwortlich, die eine gewisse umweltschädigende Substanz oberhalb der in einer technischen Regulierung festgelegten Werte emittiert, oder diejenige, die nicht die vorgesehenen technischen Sorgfaltsgrundsätze für ein gewisses Umweltrisikomanagement einhält? – dahingehend lösen: Nur wenn die verletzte technische Norm durch die rechtliche Ordnung anerkannt war (Ko-Regulierung) und diese ihrerseits auf diese technische Norm durch eine statische Verweisung verwiesen hatte, können besagte Normen den Straftatbestand ausfüllen, und folglich kann dann deren Verletzung in eine strafrechtlich relevante Handlung münden. Es ist anzunehmen, dass die hier vorgeschlagene grundrechtsfreundliche Lösung zur Bewahrung der Gesetzmäßigkeit der Blankettstrafgesetztechnik keine große Bedeutung zu haben scheint, wenn es sich um die Bestimmung der Sorgfaltspflicht in den Fällen der nicht als Blankettgesetze ausgestalteten Straftatbestände handelt. Tatsächlich ist hierfür der Rekurs auf technische Normen und Regeln sowohl von der Lehre wie auch von Rechtsprechung anerkannt, um einen Verstoß gegen die strafrechtlich gebotene Sorgfalt zu bestimmen, ohne dass dies eine Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips zu verursachen scheinen würde.
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5. Schlussbetrachtungen a) Man muss auf Grund der vorangehenden Erwägungen davon ausgehen, dass die Nichterfüllung der technischen Regeln und Normen nicht immer das Einschreiten des Strafrechts rechtfertigt. Auf dem dieser Analyse gegenständlichen Sektor, nämlich der potentiell umweltschädigenden unternehmerischen Tätigkeit, entstehen die Selbstregulierungsformen nicht in einem frei von rechtlicher Normierung stehenden Kontext. So kann es sein, dass die Verantwortlichkeit der Berufstätigen des jeweiligen Bereichs sich nicht nur nach den Vorgaben der zur Anwendung kommenden rechtlichen Regulierung bestimmt, sondern auch nach den Bestimmungen der Selbstregulierungsnormen. Um die Konsequenzen für die Zurechnung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Nichterfüllung gewisser unternehmerischer normativer Selbstregulierungsformen zu bewerten, ist zu beachten, dass jene normalerweise einem Fall der regulierten Selbstregulierung entsprechen werden. b) In jeder ihrer Formen dienen die Produkte der normativen Selbstregulierung der Bestimmung des erlaubten Risikos im jeweiligen Anwendungssektor. Doch einzig bei der regulierten Selbstregulierung kann man davon ausgehen, dass dieses Risiko nicht nur erlaubt ist, sondern auch rechtlich erlaubt ist. Tatsächlich nimmt das Recht von dem Moment an, in welchem es den Formen der normativen Selbstregulierung rechtliche Relevanz verleiht, seinerseits die durch die Selbstregulierung begrenzten Risikoparameter an. Demnach entfaltet sich eine Tätigkeit, die gemäß den Bestimmungen einer rechtlich durch Verweisung anerkannten technischen Norm durchgeführt wird, auch im Rahmen des rechtlich erlaubten Risikos. c) Zuletzt wurde in diesem Beitrag versucht, eine Antwort auf die folgende Frage zu geben: Können die Selbstregulierungsformen zur Ausfüllung der Blankettstrafnormen dienen? Nach meinem Verständnis ist die Antwort negativ, zumindest wenn man vom Konzept der Selbstregulierung im engeren Sinn ausgeht. Vertritt man, dass sich nur bei denjenigen Formen der Selbstregulierung rechtliche Wirkungen entfalten, auf die sich die rechtliche Ordnung in statischer Weise bezieht, ist demnach davon auszugehen, dass diese ursprünglich privaten Normen nur strafrechtliche Relevanz erlangen, wenn sie sich in rechtliche Normen verwandeln. Also ist die einzige auf Basis des Gesetzlichkeitsprinzips statthafte Verweisungskategorie die statische Verweisung auf technische Normen. Allerdings mutieren die technischen Normen auf diese Weise in Wirklichkeit zu Rechtsverordnungen und bleiben folglich nicht länger technische Normen im engeren Sinn. Deshalb werden nur die Formen der „regulierten Selbstregulierung“ oder „Ko-Regulierung“ zur Ausfüllung der Blankettstrafgesetze dienen können. Wenn dem so ist, wird der Straftatbestand des Art. 325 CP überholt. Mehr noch wird dies allgemein mit allen als Blankettstrafgesetz gestalteten Straftatbeständen geschehen, die auf verwaltungsrechtliche Normen verweisen, welche ihrerseits mit sehr technischen Regulierungen verknüpft sind. Obwohl die Blankettstrafgesetze ein Werkzeug sein sollen, um die oben erwähnte „Fossilbildung“ der strafrechtlichen Norm zu verhindern, scheint dies im Bereich der
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stark technisierten Tätigkeit gerade nicht vermeidbar. Denn obwohl man den Anspruch aufrechterhält, die strafrechtliche Regulierung an z. B. veränderte Anforderungen des Umweltschutzes anzupassen, wird der Straftatbestand sich nicht an die wechselhaften – und dynamischen – Notwendigkeiten dieses Schutzbereiches anpassen können, wenn nur die statische Verweisung auf die technische Selbstregulierungsnorm als rechtmäßig anzusehen ist. Folglich kann unter diesen Bedingungen die Intervention des Strafrechts in stark durch die Technik reglementierten Sektoren unbrauchbar werden. Möchte man diese Folge verhindern, bleibt kein anderes Mittel, als sich die Frage zu stellen, ob gegebenenfalls eine Überholung oder zumindest eine Neuauslegung des Gesetzlichkeitsprinzips notwendig ist, welche die Anpassung von Straftatbeständen wie der Umweltstraftat an die Wirklichkeit in den Tätigkeitsbereichen vereinfacht.
IV. Blick über die Grenzen (des Nationalstaats und des materiellen Strafrechts)
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht Matthias Jahn*
I. Methodische Vorüberlegungen: Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts Besonderheiten der Geltung des rechtsstaatlichen Prinzips vom Vorbehalt des Gesetzes in der Strafprozessordnung müssten nicht eigens behandelt werden, wenn ihre Beantwortung bereits aus der allgemeinen Methodologie der Rechtsanwendung oder jedenfalls des materiellen Strafrechts folgte. Das wäre der Fall, wenn das Strafverfahrensrecht sich nicht signifikant von anderen Rechtsgebieten – insbesondere dem materiellen Strafrecht – unterschiede, weil dessen Gewährleistungen wie das strenge Analogie- und Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG dann ohne Weiteres auch im Verfahrensrecht Geltung beanspruchen würden. Die damit gestellte Vorfrage muss also zunächst geklärt werden. Wie ein Recht angewendet wird, hängt – mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil – von dem ab, was seine spezielle Struktur oder auch inhaltliche Konzeption genannt werden kann. Keine Einigkeit besteht aber bereits innerhalb der strafjuristischen Fachdiskussion über die Frage, ob es überhaupt so etwas wie ein genuin strafprozessuales Denken mit der nahe liegenden Folge einer sowohl gegenüber den anderen Prozessrechten als auch gegenüber dem materiellen Strafrecht eigenständigen Methodenlehre gibt1. Die methodologische (Lehrbuch-) Literatur verknüpft das Stichwort Strafprozessrecht heute noch nicht mit eigenständigen Inhalten, sondern begnügt sich bestenfalls mit kursorischen Hinweisen auf Einzelfragen der Auslegung2. Diese Reserve beruht zum Teil auf einer aus der Ge* Dem Beitrag liegt die zusammen mit Klaus Lüderssen verantwortete Kommentierung zur Methode der Rechtsanwendung im Strafverfahren in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einleitung Abschn. M, zugrunde; die Nachweise wurden aktualisiert und auf das Notwendigste beschränkt. Der Verf. ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht und Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Richter am Oberlandesgericht Nürnberg (1. Strafsenat). 1 Vgl. Meyer-Goßner, FS Schöch, S. 811 f. Mit Nachdruck bejahend zuletzt Salas, Kritik des strafprozessualen Denkens (2005), S. 55, allerdings mit zweifelhaften Folgerungen (vgl. Jahn, GA 2006, S. 542). 2 Dies verwundert umso mehr, als es sowohl zwischen der Rechtstheorie (und Rechtsphilosophie) und dem Straf(prozess)recht eine stets enge, mit großen Namen verbundene Ver-
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schichte der juristischen Methodenlehre erklärbaren Präponderanz zivilrechtlicher Erkenntnisinteressen. Sowohl in der Methodenlehre als auch in der allgemeinen rechtstheoretischen Diskussion wird über diesen Zustand allerdings nicht besonders häufig Klage geführt3. Dies dürfte mit der Befürchtung zusammenhängen, dass die vor allem am privatrechtlichen Beispiel entwickelte Methodenlehre ihren Universalitätsanspruch verlieren und darüber das hergebrachte Desiderat einer allgemeinen Prozesslehre aus dem Blick geraten könne4. Solche Bedenken vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Die ungehindert fortschreitende Ausdifferenzierung der Rechtsordnung verlangt nicht nur nach einer Besinnung auf vorhandene gemeinsame Grundüberzeugungen, sondern gerade dort, wo diese Überzeugungen auf eine immer komplexere und technisch hochgerüstete Lebenswirklichkeit treffen, nach einer Verfeinerung und Sektoralisierung der Methodenlehre. Der Hinweis auf das gemeinsame theoretische Erbe trägt der komplexen Problemlage ebenso wenig ausreichend Rechnung wie derjenige auf Art. 2 EGGVG. Dass ein undifferenziertes Einheitsdenken zu methodisch anfechtbaren Ergebnissen führen kann, zeigt bereits die Behandlung der Frage, ob der zivilprozessuale Grundsatz, dass jede Prozesshandlung von Treu und Glauben bestimmt sein muss, auch für das Strafprozessrecht Geltung beansprucht. Ob aus der im Zivilverfahrensrecht etablierten Abwehraufgabe dieser Formel gegen die funktionswidrige Ausnutzung der Rechtsschutzeinrichtung auch im Strafprozessrecht Folgerungen zu ziehen sind, wie dies teilweise befürwortet wird5, kann methodisch angemessen nur beantwortet werden, wenn bei ihrer Beantwortung die Eigengesetzlichkeiten des Strafverfahrens berücksichtigt werden. Diese Ausgangslage macht eine eingehende Klärung des Verhältnisses von allgemeiner Methodenlehre zur Methode der Rechtsfindung im Strafprozessrecht nicht überflüssig. Es handelt sich hier ebenso um eine „Lebensfrage der Strafrechtsdogmatik“, wie dies auch für die Auslegung des Besonderen Teils des materiellen Strafrechts gegenüber dem Allgemeinen Teil reklamiert wird6. Gerade für das Strafprozessrecht fordert das Verfassungsrecht die Beachtung von methodischen Standards bei der Rechtsfindung. Ein Verfassungsverstoß kann nach der Rechtsprechung des
bindung gegeben hat, wie sich etwa bei Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht (2001), S. 19 ff. nachlesen lässt. 3 Vgl. aber Salas (Fn. 1), S. 61 f. und wohl auch Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1995 (2005), S. 76. 4 Paradigmatisch Bruns, ZZP 87 (1974), S. 104 (105) sowie für das Strafprozessrecht – allerdings zurückhaltender – Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren (2004), S. 28 ff., 51 ff. 5 Zur jüngeren Diskussion unter methodischen Aspekten Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot (1998), S. 64 ff.; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (2004), S. 79 ff.; Jahn/Schmitz, wistra 2001, S. 328 (330 ff.); Jahn, StV 2009, S. 663 (665 ff.). 6 Siehe Schünemann, FS Bockelmann, S. 117 (119).
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BVerfG7 auch vorliegen, wenn der Richter zu einem Ergebnis, das den Wertvorstellungen der Verfassung entspricht, auf einem methodischen Wege gelangt, der die ihm bei der Rechtsfindung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen missachtet. Soweit die allgemeinen methodischen Standards im Strafprozess besonderen Modifikationen unterliegen, verlangt daher die Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 Abs. 3 GG) ihre Berücksichtigung bei der Konkretisierung des Normbefehls.
II. Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts lassen sich nicht ohne Weiteres in einer Definition zusammenfassen. Vielmehr bedarf es zunächst induktiver Annäherungen. 1. Modelle zum Verhältnis vom materiellen Strafrecht und Strafprozessrecht a) Konfundation von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht Die Voraussetzungen, unter denen jemand strafrechtlich verfolgt werden kann, werden nicht danach unterschieden, ob sie unabhängig von dem im Einzelfall zu beurteilenden Verhalten formuliert sind oder erst ad hoc. Auch die Rechtsfolgen (z. B. Einsperren des Beschuldigten, Bestrafung des Verurteilten) sind nicht substantiell geschieden. b) Dienende Funktion des Strafverfahrens Das Strafverfahrensrecht hat keine selbständige Funktion. Mit den Maßnahmen, die es vorsieht, wird nur das Ziel der Aburteilung nach materiellem Strafrecht (Verurteilung oder Freispruch) verfolgt. c) Gleichrangigkeit von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht Die Materien werden zwar begrifflich auseinandergehalten, die Entscheidungen im Prozess balancieren indessen die normativen Aussagen des materiellen Rechts. d) Dominierende Funktion des Strafverfahrensrechts Die normativen Aussagen des materiellen Rechts treten im Vergleich mit den im Verfahren getroffenen Entscheidungen zurück.
7 BVerfGE 34, 269 (280); BVerfGE 49, 304 (313). Siehe dazu Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 326 f.; Gaebel, Das „Grundrecht auf Methodengleichheit“, 2008.
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2. Reale Erscheinungsformen Alle soeben beschriebenen Modelle kommen vor, allerdings nicht in Reinkultur, sondern mehr oder weniger gemischt, in ständiger Entwicklung begriffen, worüber im Einzelnen die Rechtsgeschichte Auskunft gibt8. Älteren Rechtsordnungen ist die Trennung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht ganz unbekannt. Dabei muss man freilich berücksichtigen, dass erst mit dem Begriff vom Strafrecht, der einen öffentlichen, das heißt im Namen der Allgemeinheit über den Kopf der Opfer hinweg geltend zu machenden Strafanspruch etabliert, sich die Bedeutung von Strafrecht und Strafverfahrensrecht, die der gegenwärtige Betrachter zugrunde legt, verbindet. Die entscheidende Zäsur bestand in der Rationalisierung des Verfahrens durch den inquisitorischen Prozess (als Offizialverfahren mit dem Ziel der Wahrheitsfindung). Gleichwohl kam es noch nicht zu einer Aufspaltung der Materien, sondern – im Gegenteil – erst einmal zu einer besonders eindrucksvollen Integrationsleistung in Gestalt der Constitutio Criminalis Carolina (1532), mit der das öffentliche Strafrecht zu Beginn der Neuzeit einen ersten Höhepunkt erreichte. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wird das Prozessrecht als rein praktische Disziplin begriffen. Die Prozesskunde beschäftigt sich vor allem mit den „Kunstkniffen“ für ein erfolgreiches Prozessieren. Rechtstheorie, Rechtslehre und Rechtswissenschaft werden noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Synonyme gebraucht. Auch die moderne Trennung von Prozessrecht und materiellem Recht beginnt erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und hat nicht nur mit Rechtspositivismus, sondern auch mit Begriffsjurisprudenz etwas zu tun; beide sind ihrerseits wiederum nicht zu trennen von der modernen Entwicklung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: begriffliche Klarheit und Abgeschlossenheit waren die Parole, das heißt, ein Forschungsgebiet musste sich deutlich abgrenzbar von anderen definieren – das ist einer der Aspekte des Konzeptes der reinen Prozessrechtslehre. Rechtspositivismus meint freilich auch: rechtspolitische, also gesetzgeberische Kreativität, und schließlich (im Zuge der Befreiung vom Metaphysischen) eine große Ernüchterung, die zu einer endgültigen Eliminierung tradierter Rituale den Weg für ein – sich dann verselbständigendes – zweckrationales Verfahren ebnete. Die Folge dieses Trennungsdenkens war unter anderem die Ausbildung ganz neuer Begriffspaare auch im Strafprozess: wirksam/unwirksam; zulässig/unzulässig – in Konfrontation mit: rechtmäßig/rechtswidrig. Das implizierte eine bestimmte Lehre von den Prozesshandlungen (Bewirkungshandlungen, Erwirkungshandlungen9) und nahm, nachdem – reichlich verspätet – Eberhard Schmidt in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts (die eine gewisse Renaissance begriffsjuristischen Denkens brachten) die Verknüpfung der Strafprozessrechtswissenschaft mit den gro8 Umfassend dazu Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von formellem und materiellem Recht (1996) und aus straf(verfahrens)rechtlicher Sicht Grunst, Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 22 ff. Zusfs. Jung, ZStrR 130 (2012), 39 (43 ff.). 9 Vgl. die Darstellung und Begründung bei Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen. Ein Beitrag zur allgemeinen Prozeßrechtslehre (1950), S. 88 ff.
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ßen Theorien des Zivilprozessrechts hergestellt hatte, jahrzehntelang in der gesamten Prozessrechtswissenschaft einen großen Raum ein (nie in der Prozessrechtspraxis). Bald indessen begann die berechtigte Kritik daran und verhalf allmählich wieder der Auffassung zur Geltung, dass am Ende auch im Prozess doch Bewertungen den Ausschlag geben, die von dem, was man rechtmäßig oder rechtswidrig zu nennen gewohnt ist, eigentlich nicht abweichen10. Nur die Ideologie, wonach die Prädikate rechtmäßig/rechtswidrig lediglich für Verbotenes – im Strafrecht für strafrechtlich Verbotenes – reserviert sind, konnte jene fruchtlosen Differenzierungen begünstigen. Macht man sich aber klar, dass die Voraussetzungen, unter denen etwas rechtmäßig oder rechtswidrig ist, und die Folgen, die sich an das Wort rechtmäßig oder rechtswidrig knüpfen, ohnehin jeweils sehr vielgestaltig sein können, dann tritt die Einheitlichkeit des Bewertungsmaßstabs deutlich hervor. So richtig es also zunächst war, im Zivilrecht das überkommene Konglomerat des aktionenrechtlichen Denkens aufzulösen, den rein materiellrechtlichen Anspruch zu „entdecken“, so übertrieben war die Konsequenz, die Differenzierung der Wertgesichtspunkte gleich zur Etablierung ganz verschiedener, ständig mit ihrer Selbstbehauptung beschäftigter Rechtsgebiete heraufzustilisieren. Dass im Straf- und Strafprozessrecht die Ausgangsposition insofern anders war, hat die Übernahme dieses Trennungsdenkens aus dem Zivil- und Zivilprozessrecht in das Strafrecht und Strafprozessrecht nicht verhindern können, und deshalb gilt für Strafrecht und Strafprozessrecht nichts anderes als für Zivilrecht und Zivilprozessrecht. Nach einer Phase der künstlichen Trennung sieht man jetzt wieder das Gemeinsame. Diese Entwicklung entspricht dem heute vorherrschenden Verständnis juristischer Methodologie11. Das, was vor der Modernisierung der Prozesskategorien eine unklare Gemengelage war, ist im modernen Verhältnis von materiellem Zivilrecht und Zivilprozessrecht eine stufenreiche, aber in einem einheitlichen Rahmen gehaltene Wertungsskala. Im Strafrecht und Strafprozessrecht haben wir vergleichbare Entwicklungen, wenn man sich einen größeren Zeitraum vor Augen führt: vor der Etablierung des öffentlichen Strafrechts im hohen Mittelalter gibt es ein Nebeneinander von Rache, Vergeltung, Buße, vielfältigen finanziellen Ablösungsformen, Vergleichen, Verträgen und ähnlichem, und jetzt, nachdem in Jahrhunderten der öffentliche Strafanspruch aufgebaut worden ist und am Schluss seine Krönung durch das Legalitätsprinzip bekommen hat, ist wiederum eine Ausdifferenzierung der Reaktionen auf rechtswidrig-schuldhafte schwere Interessenverletzungen zu registrieren, deren Stichworte sind: Wiedergutmachung, zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Alternativen zum Strafen, Konzeptionen spezieller Interventionsrechte, Mediation im Strafverfahren, das alles auf der Basis von allmählich etablierten prozessualen Erledigungsmöglichkeiten verschiedenster Art, insbesondere der Verständigung12 10
Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht (1978), S. 7 ff. Speziell für das Strafrecht Vogel, Juristische Methodik (1998), S. 19 f. Zur Rezeption der Hermeneutik in der neueren Rechtstheorie umfassend Hilgendorf (Fn. 3), S. 36 ff. 12 Zur rechtstheoretischen Fundierung der Verständigung im Strafverfahren Jahn, GA 2004, S. 272 (275 ff.); krit. – mit weiteren Belegen – Hamm, FS Dahs, S. 267 ff. 11
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sowie der Forderung nach einem partizipatorisch ausgestalteten (Vor-)Verfahren13. Dabei wächst die Gewissheit, dass diese Entwicklungen auch für die Methodenlehre folgenreich sein müssen. 3. Konzeption der Gleichwertigkeit strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse Verdichtet man diese Entwicklungslinien zu einem System, so ergibt sich eine Konzeption der Gleichwertigkeit strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse. Man ist gewohnt, den im materiellen Strafrecht formulierten Verboten und den an sie geknüpften Sanktionen eine abstrakte Bedeutung zuzuschreiben und darauf die Behauptung zu stützen, damit sei eine klare Trennung von der nur und erst im Strafprozess konkretisierten Funktion der Strafgesetze etabliert. Aber dieses Bild einer gleichsam als Wertetafel fungierenden Verbotsmaterie mit generalpräventivem Effekt täuscht eine Selbständigkeit nur vor. Auch die Regeln des Strafprozessrechts existieren abstrakt und entfalten eine ganz entsprechende Wirkung, indem sie die Voraussetzungen formulieren, unter denen die bloße Existenz materiell-strafrechtlicher Verbote in – den einzelnen Menschen treffende – Sanktionen umschlägt. Damit sind sie ein Teil auch des abstrakten, an Bestrafung orientierten Normsystems14. Auch die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes wären insoweit in die Gesamtperspektive einzuschließen, bleiben hier aber wegen der begrenzten Zielsetzung der Darstellung außer Betracht. Wenn das richtig ist, kann aus der Perspektive der spezifischen Relevanz abstrakter Tatbestände des materiellen Strafrechts und seiner Sanktionen nicht dem Eindruck entgegengetreten werden, der sich bei der Anwendung des Strafrechts und des Strafprozessrechts einstellt: dass wir es mit einer gleitenden Skala von Eingriffen in die Rechtssphäre der Personen, die der Strafverfolgung ausgesetzt sind, zu tun haben. Diese Eingriffe sind einander sehr ähnlich – etwa vom Beginn der Untersuchungshaft bis zur Ladung zum Strafantritt nach der Verurteilung, bleiben aber auch diesseits und jenseits davon vergleichbar: Der Verdacht gegen den Beschuldigten – der ihn nicht erst belastet, wenn er ihn kennt – wird durch die Verurteilung zur Überzeugung oder durch den Freispruch beseitigt; Strafrecht und Strafprozess bewegen sich zusammen in einem gleichsam durch ein „Auf und Ab“ geprägten Kontinuum.
13 Zu gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Forderung ausf. Jahn, ZStW 115 (2003), S. 815 (818 ff.). 14 Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 239 (265 ff.); Volk, in: Streck-FS, S. 597 (600 ff.). Eine Parallele findet die hier befürwortete Konzeption in der Gleichordnung von Verfassungsprozessrecht und materiellem Verfassungsrecht durch Schorkopf, AöR 130 (2005), S. 465 (483 ff.), sowie in der neueren Diskussion über den Eigenwert des Verwaltungsverfahrens bei Fehling, VVDStRL 70 (2011), S. 278 (286 ff.). Gegen die ganzheitliche Betrachtung von Strafrecht und Strafprozessrecht aber Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung (1983), S. 83 ff.; Grunst (Fn. 8), S. 136 ff.
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4. Ein Kriminal-Justiz-System? Eine völlig konsistente Gleichordnung von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht zu begründen, kann nicht Aufgabe dieses Beitrages sein15. Allerdings muss hier so viel darüber gesagt werden, dass die für Auslegung und Anwendung des Strafprozessrechts abzuleitenden Konsequenzen nachvollziehbar werden. Das Problem ist, dass mit der Beseitigung einer als überholt empfundenen Trennung von Phänomenen nicht automatisch eine einheitliche Grundlage gegeben ist. Die Beseitigung der Trennung stellt nicht einfach wieder etwas her. Erstens deshalb nicht, weil die Trennung zu lange angedauert hat, als dass ein einfaches Zurückgehen auf den Status quo ante überhaupt möglich erscheint. Ferner: selbst wenn man das könnte, wird man keineswegs auf eine geschlossene Konzeption stoßen, sondern lediglich auf etwas relativ ungeordnet Historisch-Gewachsenes. Für unsere Epoche und die Zukunft muss das ersetzt werden durch etwas, was man „criminal justice system“ nennen könnte, und in der Tat scheint insofern die anglo-amerikanische Tradition eine günstigere Basis für die Lösung der Probleme zu bieten, von denen hier die Rede ist. Eine konzeptionelle Gleichgewichtigkeit materiellrechtlicher und prozessualer Probleme muss sui generis sein, kann nicht nur durch Verschmelzung stattfinden. Der Weg dahin ist schwierig und von der Gefahr bedroht, dass nunmehr das Prozessuale gegenüber dem Materiellen zu sehr betont wird, auch wenn das zunächst noch als liberale Lösung erscheint. Kriminalsoziologisch gesehen würde das auf einen konsequenten Interaktionismus (jetzt – sozialer – Konstruktivismus genannt) hinauslaufen. Bemerkenswert ist, wie nahe diesen modernen Ansichten die Version vom Prozess gewesen ist, die in den zwanziger Jahren James Goldschmidt präsentiert hat, klar erkannt bereits von Fritz v. Hippel16. Der Prozess erscheint „als die übergeordnete Macht … die nicht dem Rechte, sondern der das Recht unterworfen ist“17. Luhmann18 hat das später „Immunisierung“ getauft, damit aber im Grunde seine Diagnose nur euphemistisch verschleiert. Die Spannung zwischen materieller Richtigkeit und prozessualer Realisierung ist letztlich nicht auflösbar. Deshalb wird auch jene Richtung, die sich darauf beschränkt, die Auflösung der Spannung durch eine besonders strikte Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips zu bewirken19, den verschiedenen Sachlagen nicht gerecht. Erforderlich ist vielmehr 15
Grundlegende Ausführungen dazu – im Sinne der hier eingenommenen Position – bei Naucke, GA 1998, S. 263; Hassemer, in: Mehr Gerechtigkeit (Loccumer Protokolle 09/2011), S. 13 (15 ff.); Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, 3. Aufl. 2010, Vorb. § 1 Rn. 198 ff. 16 v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 424 ff. Siehe auch Heger, JZ 2010, S. 637 (643 ff.); ders., in: FS 200 Jahre Jur. Fakultät der HU, S. 477 (494 f.). 17 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S. 246. Krit. demgegenüber etwa Grunsky, JZ 1974, S. 750 (751). 18 Legitimation durch Verfahren (1969). Zu den Auswirkungen seiner Konzeption für den Verfahrensbegriff Schaper, Studien zur Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens (1984), S. 205 f. 19 So z. B. Naucke, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 483 (495).
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eine wirklich in die Tiefe gehende Analyse der Situation des Beschuldigten in den verschiedenen Phasen, die er bis zur Verurteilung oder zum Freispruch erlebt, konfrontiert mit dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und den Bedürfnissen einzelner Geschädigter. Anders ausgedrückt, es konkurriert die Unschuldsvermutung mit den Strafzwecken. Beide Materien sind in unglaublicher Bewegung. Bei den Strafzwecken ist längst der Abschied von den monolithischen Blöcken: Vergeltung und/ oder Prävention eingeleitet. An die Stelle davon ist ein großes Ensemble von Reaktionen getreten. Das Bild der Unschuldsvermutung ist ähnlich komplex, insbesondere durch Rechtsvergleichung und übergreifende Rechtsordnungen bestimmt. Hinzu kommt, dass man viel reflektierter geworden ist mit Bezug auf das wissenschaftstheoretische Problem, das hinter der Dialektik von Unschuldsvermutung und Strafzwecken verborgen ist.
III. Folgerungen für die Rechtsanwendung im Strafprozessrecht 1. Analogieverbot im Strafprozessrecht Für die den Beschuldigten belastende Analogie ergibt sich das Analogieverbot im Strafprozessrecht also ohne Weiteres aus der vorstehend entwickelten Gleichordnung des strafrechtlichen und strafprozessualen Eingriffs20. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Eingriff eine Zwangsmaßnahme im Sinne des Strafprozessrechts ist oder eine den Beschuldigten „nur“ in anderer Weise belastende Verfahrensmaßnahme. Auf die Frage, ob dieses Analogieverbot schon aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt für öffentlich-rechtliche Regelungen folgt, wie dies namentlich von der Rechtsprechung des BVerfG21 angenommen wird – keine Analogie zu Lasten des Grundrechtsträgers –, kommt es insoweit also nicht an. Noch offensichtlicher ist das bei Zwangsmaßnahmen, die zu einer Freiheitsentziehung führen, also bei der Untersuchungshaft und der vorläufigen Festnahme. Hier ergibt sich das Analogieverbot direkt aus Art. 104 Abs. 1 GG22. Für die den Beschuldigten nicht belastenden Maßnahmen oder Verfahrensvorgänge ist die Parallele zum materiell-strafrechtlichen Analogieverbot nicht ohne weiteres einsichtig. Hier wird man dann auf den allgemei20 Grds. zustimmend zur hier eingenommenen Position Gaede, StV 2009, S. 96 (99); ders., in: AnwK-StGB, § 1 Rn. 11; Ziemann, HRRS 2008, S. 364 (366) und Pfordte, StV 2008, S. 243 (244). A.A. Jäger, GA 2006, S. 615 (622 f.) sowie – mit differenzierter Stellungnahme und Herleitung – Kudlich, in diesem Band, S. 233 (244) unter III.1.d). 21 BVerfGE 25, 269 (286 f.); BVerfGE 63, 343 (359) sowie zuletzt – allerdings nunmehr mit dem einschränkenden Zusatz „grundsätzlich“ – BVerfGE 112, 304 (315) sowie BVerfGE 116, 69 (83); Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, Einl. Rn. 198; Satzger, in: SSW-StGB, 2008, § 1 Rn. 61; Krey, JA 1983, S. 233 (235); Beaucamp, AöR 134 (2009), S. 83 (89 ff.); T. Schmidt, VerwArch 97 (2006), S. 139 (152 f.). 22 Das wird auch von der Rechtsprechung nicht bestritten, vgl. BVerfGE 78, 374 (383); BVerfGE 96, 68 (97).
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht
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nen Gesetzesvorbehalt zurückgreifen müssen, mit der Maßgabe, dass er im öffentlichen Recht besonders streng zu handhaben ist23. 2. Rückwirkungsverbot Der Grundsatz der Gleichrangigkeit strafrechtlicher und strafprozessualer Eingriffe muss auch dazu führen, das Rückwirkungsverbot auch im Strafprozessrecht durchzusetzen. Eine direkte Anknüpfung an Art. 103 Abs. 2 GG scheint dabei freilich zunächst nicht in Betracht zu kommen, denn dort ist eindeutig von der Strafbarkeit einer Tat die Rede. Eine reflektierte Wortauslegung könnte die Strafbarkeit zwar in dem hier skizzierten umfassenden Sinne deuten, und auch systematisch-teleologische Erwägungen könnten dieses Ergebnis stützen, man hätte dann jedoch mit der historischen (subjektiven wie objektiven) Ausgangsposition Schwierigkeiten24 – unter der Voraussetzung, dass bei einer derartigen Sachlage die Konkurrenz der Auslegungskriterien, die auch für das Verfassungsrecht gelten25, zugunsten der historischen Auslegung aufzulösen wäre. Ein dahingehender Grundsatz existiert allerdings nicht. Hinzu kommt, dass man die Auffassungen, die sich in der Gesetzgebungsgeschichte widerspiegeln, in ihrem Selbstverständnis korrigieren muss. Wenn der Sinn des Rückwirkungsverbots darin bestanden hat, den Bürger vor gesetzgeberischer Willkür durch eine objektive Begrenzung staatlicher Strafgewalt zu schützen, so folgt daraus, dass dieser Schutz durch das Erfordernis „allgemeiner, nicht auf bestimmte Einzelfälle rückwirkender Gesetze“ auch die Einbeziehung von Prozessgesetzen nahe legt, die den Freiheitsbereich des Betroffenen berühren26. Wer das in dieser Allgemeinheit nicht anerkennen möchte, dem bleibt immer noch die Position, es vom konkreten Einzelfall abhängig zu machen, ob Rückwirkung im 23 Einzelheiten gehören wiederum nicht hierher. Aber ergänzend ist vielleicht zu vermerken, dass das Bild, das Rechtsprechung und Literatur in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der Analogie im Strafverfahren bietet, sehr unübersichtlich ist. In der Literatur überwiegen die Meinungen, wonach das Analogieverbot des materiellen Strafrechts nicht auf das Strafverfahrensrecht übertragen werden dürfe. In der Rechtsprechung wird generalisierend ebenso argumentiert. Daher mag es überraschen, dass in so vielen Einzelfällen die Erweiterung von Eingriffsbefugnissen abgelehnt wird (vgl. etwa BGHSt 34, 39 [51]; BGHSt 30, 38 [41]). Die Erklärung hierfür mag darin liegen, dass in diesen Fällen die Rechtsprechung offenbar nicht die Frage des Analogieverbotes vor Augen hat, sondern den allgemeinen Gesetzesvorbehalt im öffentlichen Recht (so freilich auch ein Teil der Literatur, insbesondere Krey, FS Blau, S. 123 ff.; Kudlich, in: Vieweg/Gerhäuser (Hrsg.), Digitale Daten in Geräten und Systemen (2010), S. 137 (139)). Im Text dürfte deutlich geworden sein, dass diese Positionen zu undifferenziert sind. 24 Speziell zur Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 25, 269 (287 ff.). 25 Die These, das BVerfG selbst wende, wie Bleckmann, JuS 2002, S. 942 f. meint, seinen Methodenkanon ohne Unterschied sowohl auf strafprozessuale als auch materiell-strafrechtliche Vorschriften an, bedürfte allerdings noch näherer Untersuchung. Einige Hinweise dazu finden sich bei Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht (2005), S. 577 ff. 26 Schreiber, ZStW 80 (1968), S. 366 (368). A.A. Jäger, GA 2006, S. 615 (625 f.); Kudlich, in diesem Band, S. 233 (248 f.) unter IV.1.c).
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Prozess möglich sei oder nicht. So gesehen ist also auch verfassungsrechtlich die Argumentation offen für ein teleologisches Verständnis des Eingriffscharakters der Strafverfolgung, das Prozessrecht und Strafrecht gleichermaßen im „Tat“begriff berücksichtigt. Dass man dabei ein „abgestuftes System“ der Geltung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots zum Strafverfahrensrecht befürwortet, ist dann nicht mehr von prinzipieller Bedeutung, zumal die Geltung des Rückwirkungsverbotes im Strafverfahrensrecht auch danach sehr weit geht; es soll erst bei den Normen der Gerichtsverfahrensorganisation enden. Dass demgegenüber im verfassungsrechtlichen Schrifttum die – freilich im Wesentlichen begründungslose – kategorische Ablehnung der Geltung des Rückwirkungsverbotes im Strafverfahrensrecht überwiegt27, ist ein merkwürdiger, die mangelhafte Kooperation der an der Behandlung dieses Problems beteiligten Fächer widerspiegelnder Anachronismus. Immerhin hat das BVerfG in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des deutschen Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl nunmehr – wenn auch den Nichtigkeitsausspruch nicht tragend – ausdrücklich anerkannt, dass es auch im Prozessrecht Lagen geben kann, die eine Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG rechtfertigen. Zwar wird zunächst stereotyp der hergebrachte Grundsatz wiederholt, nach dem das Rückwirkungsverbot nur bei Änderungen des materiellen Strafrechts und nicht bei solchen des Verfahrensrechts gelte. Doch gerade durch ein Auslieferungsrecht, das auf die Prüfung der Strafbarkeit nach bundesdeutschem Recht zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vollständig verzichtet und die Auslieferung nur davon abhängig macht, dass der ersuchende Mitgliedsstaat der Europäischen Union nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zurückzuüberstellen, wird dieser Grundsatz offensichtlich dementiert. An die Stelle der materiell-rechtlichen Vorschriften des innerdeutschen Strafrechts tritt hier das formelle Auslieferungsrecht, durch das der ausländische Gesetzesbefehl quasi unmittelbare innerstaatliche Wirksamkeit erlangt. Die Gefahren dieser Strafbegründung durch Prozessrecht erkennt auch der 2. Senat28 und merkt an, dass es einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung – so wörtlich – „gleichstehen“ könne, wenn sich ein bislang vor Auslieferung absolut geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren.
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Statt vieler Schmidt-Assmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 64. Lfg. 2012, Art. 103 Abs. 2 Rn. 245 m.w.N. 28 BVerfGE 113, 273 (308) m. insoweit zust. Anm. Ranft, wistra 2005, S. 361 (364 f.) widerspricht damit ausdrücklich der im Verfahren vorgetragenen Rechtsansicht der Bundesregierung. Ebenso Dannecker, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 106; Pabst, ZIS 2010, S. 126 (130).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht Hans Kudlich
I. Hinführung Die Diskussion um die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und Vorgaben im Strafrecht zeichnet für das materielle Strafrecht auf der einen und für das Strafverfahrensrecht auf der anderen Seite ein heterogenes – man könnte auch sagen: hinsichtlich der verschiedenen verfassungsrechtlichen Kategorien ein diametral gegensätzliches – Bild: Im materiellen Strafrecht wird die formelle Garantie des Gesetzlichkeitsprinzips in seiner konkreten Ausformung des „nulla-poena-Grundsatzes“ in Art. 103 II GG allenthalben (zumindest formal bzw. in der Theorie1) betont,2 während die inhaltlichen Garantien der Grundrechte und ihre Bedeutung insbesondere auch für die Rechtsanwendung erst in der jüngeren Vergangenheit zum zentralen Thema auch des materiellen Strafrechts geworden sind.3 Für das Strafver1 Zur Kritik an der mangelhaften praktischen Beachtung des nulla-poena-Grundsatzes vgl. etwa (mit Blick auf die Wortlautgrenze) Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, S. 4, der anschaulich von der „in der Rechtswirklichkeit vorherrschenden Geringschätzung“ spricht, die in einem gewissen Widerspruch zu der grundsätzlichen Anerkennung der Wortlautgrenze steht. Freilich muss diese Kritik in verschiedenen zeitlichen Phasen und auch mit Blick auf verschiedene Facetten des Grundsatzes durchaus differenziert ausfallen. 2 Vgl. nur den breiten Raum, den Art. 103 II GG zumindest in den großen Lehrbüchern zum Allgemeinen Strafrecht einnimmt, vgl. etwa Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006 § 5 Rn. 1 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 15 I = S. 126 ff. 3 Vgl. seit etwa Mitte der 1990-er Jahre Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Lagodny, Das Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Paulduro, Die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen, insb. der Normen des Strafgesetzbuches, 1992, sowie Staechelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998. Als Vorreiter der Diskussion ist auch die Kurzmonographie von Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, zu nennen. Untersuchungen, die zu einzelnen Problemfeldern auch vertiefend auf verfassungsrechtliche Lösungsansätze zurückgreifen, liegen natürlich schon aus der vorangegangenen Zeit vor, vgl. statt Vieler nur Kohlmann, Der Begriff des Steuergeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen und der Grundsatz nullum crimen sine lege, 1970, und Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960. Vielleicht auch deshalb sieht Naucke, Die Legitimation strafrechtlicher Normen – durch Verfassungen oder durch überpositive Quellen, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. I, 1998, S. 156, 163, den Be-
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fahrensrecht wird dagegen in der deutschen Diskussion zwar schon seit den 1950-er Jahren betont, dass das Strafprozessrecht „angewandtes Verfassungsrecht“ bzw. „Seismograph der Staatsverfassung“4 sei; diese Diskussion ist aber in hohem Maße auf die inhaltlichen Grenzen fokussiert, welche die Grundrechte z. B. strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen setzen, und blendet die formelle Dimension des Gesetzlichkeitsprinzips vielfach aus. Beides ist keinesfalls selbstverständlich: Denn natürlich sind auch materiell-strafrechtliche Verbotsnormen inhaltlich an den Gewährleistungen der Grundrechte zu messen;5 und ebenso natürlich ist auch für das Verfahrensrecht bedeutsam, ob etwa auf der Grundlage ungeschriebener (lex scripta) oder nicht hinreichend bestimmter (lex certa) gesetzlicher Grundlagen bzw. sogar in nur analoger bzw. sonst gesetzesüberschreitender6 Weise durch Verfahrenshandlungen in die Rechte der Betroffenen (und insbesondere des Beschuldigten) eingegriffen werden darf. Gerade diese formell-verfassungsrechtliche Dimension bildet damit auch im Prozessrecht die entscheidende Schnittstelle zwischen Verfas-
ginn der „Debatte ,GG und Strafrecht‘“ an der Wende der 50-er zu den 60-er Jahren, als nach der Naturrechts-Renaissance der Nachkriegszeit die Zeit für eine Rückkehr zum Positivismus reif, zugleich aber vorstrafrechtliche (aber nicht offen als überpositiv bezeichnete) Wertungen erforderlich gewesen seien. Dies ist sicher richtig, soweit darauf abgestellt wird, dass die Verfassung als relevantes Argument in der strafrechtlichen Diskussion auftaucht. Die grundsätzliche (und nicht nur punktuelle) Befassung auf der Basis der fortschreitenden Verfassungsinterpretation des BVerfG fällt allerdings in die hier skizzierte jüngere Vergangenheit; und noch 1995 konnte Braum (KritV 1995, 371 f.) feststellen, dass in der materiell-strafrechtlichen Argumentation das Verfassungsrecht zwar erwähnt, aber noch nicht vertieft fruchtbar gemacht wird. 4 Vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 909, 967; auf S. 910 spricht Sax (ohne Nachweis) davon, dass schon 1959 die Einordnung der StPO als „Ausführungsgesetz zum Grundgesetz“ verbreitet gewesen sei. Das Bild des „angewandten Verfassungsrechts“ wird später auch vom BVerfG (etwa E 32, 373, 383) aufgenommen. Eine andere Metapher mit gleicher Bedeutung benutzen etwa Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 2 Rn. 1 mit der Redensart vom Strafverfahren als „Seismograph der Staatsverfassung“. 5 Vgl. ergänzend zu den Nachweisen in Fn. 3 auch Kudlich, JZ 2003, 127 ff. 6 Für das materielle Recht ist anerkannt, dass die Garantie der lex stricta nicht nur die analoge Anwendung von Strafvorschriften in malam partem (zur Frage nach der Zulässigkeit von Analogien in bonam partem im Strafverfahren vgl. eingehend Montiel, Analogía favorable al reo. Fundamentos y límites de la analogía in bonam partem in el Derecho penal, 2009) umfasst, sondern auch andere Formen der gesetzesüberschreitenden Rechtsanwendung vor Augen hat, vgl. nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl., 2008, Art. 103 II Rn. 40 unter Berufung auf BVerfGE 71, 108, 115; 92, 1, 13 f. Ähnlich in einer Analyse der Rechtsprechung des BVerfG Appel, Strafe und Verfassung, 1998, S. 118. Dies ist an sich nur selbstverständlich, da Art. 103 II GG weder explizit von einer „Analogie“ spricht noch sich auf ihre Voraussetzungen im technischen Sinne bezieht; anschaulich die Metapher von Jakobs, Strafrecht AT, Studienausgabe, 2. Aufl. 1993, Abschn. 4 Rn. 33 ff., der von einem „Generalisierungsverbot“ spricht: Das Niveau der Generalisierung darf durch den Rechtsanwender gegenüber dem des Gesetzgebers nicht angehoben werden.
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sungsrecht und Methodik bzw. umgekehrt formuliert: macht methodische Fragen auch zu verfassungsrechtlichen.7 Im Folgenden soll dem letztgenannten Desiderat etwas näher nachgegangen werden. Dabei spricht Manches dafür, dass die Gesetzlichkeitsfrage im Prozessrecht sogar besonders bedeutsam ist, weil das Verfahren als Zustand rechtlicher Interaktion immer in die eine oder andere Richtung „weitergehen“ muss – ein dem materiellen Recht vergleichbarer Zustand von „Keine Regelung, daher keine Relevanz“ ist hier oft nicht denkbar, weil prozessual zumindest irgendwie reagiert werden muss.8 In diesem Zusammenhang soll nun untersucht werden, ob bzw. in welcher Ausprägung und mit welchen grundsätzlichen Konsequenzen das Gesetzlichkeitsprinzip als formelle Garantie auch im Strafverfahrensrecht Geltung beansprucht. Darauf aufbauend werden die Konsequenzen des Gesetzlichkeitsprinzips für verschiedene prozessuale Konstellationen näher erläutert.
II. Stand der Diskussion um das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafprozessrecht im Überblick Ungeachtet der hier einleitend skizzenhaft plausibel gemachten (wissenschaftlichen wie praktischen) Bedeutung der formell-verfassungsrechtlichen Frage nach dem Gesetzlichkeitsprinzip kann von einer einhelligen Ansicht oder auch nur einer gesicherten Rechtsprechung zur Frage, auf welcher Grundlage und mit welchen Konsequenzen das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafverfahrensrecht gilt, noch keine Rede sein. Deutlich wird das etwa in der – insoweit nur exemplarischen, aber noch am meisten diskutierten – Frage, inwieweit im Strafverfahrensrecht eine Analogie (im oben verstandenen weiten Sinne) zulässig ist.9 1. Die Rechtsprechung a) Die Rechtsprechung befasst sich selten explizit mit der Problematik und bietet – soweit sie berührt und sogar angesprochen wird – ein uneinheitliches Bild; vor allem aber ist eine Ableitung verallgemeinerungsfähiger Grundsätze kaum möglich. So stellt z. B. das BVerfG in einer Entscheidung vom 23. 02. 199010 im Zusammenhang mit Straferlass und Gesamtstrafenbildung fest, dass für verfahrensrechtliche Vorschriften ein Analogieverbot gelte; dabei könne offen bleiben, ob dieses aus 7 Vgl. bereits (dort speziell zum methodischen Topos des Judizierens contra legem) Krey, JZ 1978, 361, 363. 8 Zum Zusammenhang zwischen Inhalt und Struktur der rechtlichen Materie und Regeln der Rechtsanwendung auch Jahn in diesem Band, S. 223, 225 ff. 9 Zu den nachfolgenden Überlegungen vgl. auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Missbrauchsverbot, 1998, S. 131 ff. 10 BVerfG NJW 1991, 558.
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Art. 103 II GG oder aus dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes (und damit letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG) herzuleiten sei. Demgegenüber führt der BGH in seiner bekannten Leitentscheidung zum ungeschriebenen allgemeinen Missbrauchsverbot im Strafprozessrecht11 ohne weitere Begründung (oder auch nur Erörterung dieser Problematik) aus, dass auf der Grundlage des allgemeinen Missbrauchsverbots – das prima vista für den Gesetzesvorbehalt ähnlich relevant erscheint wie der Analogieschluss12 – auch ohne gesetzliche Verankerung das Beweisantragsrecht des Angeklagten nicht unerheblich eingeschränkt werden dürfe. Andererseits betont der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der strafprozessualen Onlinedurchsuchung,13 dass es „dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes für Eingriffe in Grundrechte (Art. 20 III GG) sowie dem Grundsatz der Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit von strafprozessualen Eingriffsnormen widersprechen“ würde, wenn gewissermaßen aus mehreren, für sich allein jeweils nicht „passenden“ Eingriffsbefugnissen eine als solche nicht geschriebene Befugnis für diese Ermittlungsmaßnahme abgeleitet würde. b) In einer Reihe weiterer Entscheidungen wird die Frage nach einer Analogie zwar gestreift, jedoch sogar jeweils für sich genommen kaum verallgemeinerungsfähig beantwortet, z. B. weil nicht zur Möglichkeit einer Analogie im Strafverfahren überhaupt Stellung genommen wird, sondern eine solche beispielsweise mit der (zumindest konkludenten) Begründung abgelehnt wird, dass eine vergleichbare Interessenlage gar nicht vorliege:14 – So hatte z. B. der BGH in einem Urteil vom 25. 06. 197015 (ebenso wie für ähnlich gelagerte Fragen verschiedene andere Obergerichte16) die Ableitung aktiver Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit der Bestimmung der Fahr(un)tüchtigkeit in analoger Anwendung des § 81a StPO abgelehnt; dies wird aber vor allem darauf gestützt, dass die Interessenlage einer aktiven Mitwirkung mit der bei einer 11
BGHSt 38, 111, insb. 112 f. Zur methodischen Dimension des „Missbrauchsurteils“ vgl. auch schon Christensen/ Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls, 2000, S. 189 ff. 13 Vgl. BGHSt 51, 211, 219 m. Anm. Kudlich, JA 2007, 391 ff., sowie schon vorher zur Entscheidung des Ermittlungsrichters des BGH Jahn/Kudlich, JR 2007, 57 ff. 14 Eine (über die im folgenden aufgezählten Entscheidungen hinausgehende) ausführliche Übersicht zu Entscheidungen, die sich mit der Frage einer Analogie bzw. eines Analogieverbots im Strafprozessrecht beschäftigen, findet sich – jeweils mit kurzer Inhaltsangabe und Wiedergabe der wichtigsten Entscheidungsgründe – bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 72 ff. Die Tatsache, dass diese Entscheidungen ohne nähere Stellungnahme nur der Reihe nach aufgezählt werden, darf wohl als Bestätigung dafür gesehen werden, dass sie für eine allgemeine Beantwortung der Frage wenig hergeben. Allerdings scheint Bär nicht näher zwischen der Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Ergebnisse und der schon per se begrenzten Aussagekraft einzelner Entscheidungen zu differenzieren. 15 BGH VRS 39, 184. 16 Vgl. nur BayObLG NJW 1963, 772; OLG Hamm NJW 1976, 1524; OLG Schleswig VRS 30, 344. 12
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Duldungspflicht nicht vergleichbar ist. Dann wären aber selbst bei grundsätzlicher Zulässigkeit einer Analogie deren Voraussetzungen gar nicht gegeben, so dass der damit begründeten Ablehnung einer Analogie im konkreten Einzelfall kein generelles Analogieverbot entnommen werden kann. – Ähnlich stellt sich die Situation bei der Ablehnung einer analogen Anwendung des § 108 StPO auf „Zufallsfunde“ im Rahmen der Telefonüberwachung17 oder gar auf Raumgespräche18 oder des § 97 II 3 StPO auf das aus § 148 StPO abgeleitete Verbot einer Überwachung des Verteidigertelefonanschlusses dar.19 Einzig in einer Entscheidung zur analogen Anwendung der §§ 100a f. StPO auf einen Stimmvergleich auf Grund eines bei einem nicht telefonischen Gespräch aufgenommenen Tonbandes20 bemüht der BGH ausdrücklich den Vorbehalt des Gesetzes, wobei aber auch in diesem Fall eine Analogie auf Grund fehlender Interessengleichheit hätte ausscheiden müssen. – In einer weiteren Gruppe von Entscheidungen wurde zwar eine Rechtsfindung praeter legem ebenfalls abgelehnt, indes spielten hier besondere Erwägungen eine zusätzliche Rolle, die nicht zwingend allgemein übertragbar sind: So hatte das BVerfG in seinem „Schily-Beschluss“21 einen Verteidigerausschluss ohne gesetzliche Grundlage (entgegen der Vorentscheidung des BGH22) abgelehnt. Doch wurde dies weniger auf die Beeinträchtigung der prozessualen Situation der Angeklagten, sondern auf den gleichzeitig damit verbundenen Eingriff in die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts gestützt. Außerdem hatte der BGH in der Vorentscheidung den Ausschluss nicht auf eine Analogie, sondern auf – vom BVerfG im konkreten Fall verneintes – Gewohnheitsrecht sowie auf eine allgemeine, den Vorschriften über die Verteidigung vorgeblich entnehmbaren Wertungen und somit letztlich auf eine methodisch in keiner Weise untermauerte rechtspolitische Beurteilung gestützt. – In einem weiteren Fall hatte das BVerfG den vom BGH gebilligten23 Haftbefehl auf Grund einer analogen Anwendung des § 30 des Deutschen Auslieferungsgesetzes (DAG) beanstandet, da eine Analogie nicht den speziellen Anforderungen des § 104 GG genügen könne, der explizit eine förmliche Regelung fordere.24 Doch ist gerade dieses auf Art. 104 GG gestützte, spezielle Erfordernis eines formellen Gesetzes, welches das BVerfG in die Nähe des Art. 103 II GG rückt, nicht ohne weiteres auf jede andere grundrechtsrelevante Maßnahme zu übertragen. 17
Vgl. BGHSt 26, 298, 303 (heute gesetzlich übergreifend geregelt in § 477 II 2, V StPO). Vgl. BGHSt 31, 296, 301. 19 Vgl. BGHSt 33, 347, 352 f. 20 Vgl. BGHSt 34, 39, 50. 21 Vgl. BVerfGE 34, 293. Vgl. dazu und zur Entstehung des § 138a StPO auch Kröpil, DRiZ 1996, 448, 451. 22 Vgl. BGH NJW 1972, 2140. 23 Vgl. BGHSt 22, 58. 24 Vgl. BVerfGE 29, 183, 195 f. 18
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c) Umgekehrt tragen einzelne, eine weite Rechtsanwendung billigende Entscheidungen nicht die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes, wonach eine Analogie stets zulässig sei: – So billigt z. B. das BVerfG eine Gegenüberstellung mit einer zwangsweisen Veränderung der Haar- und Barttracht des Beschuldigten als „weite Auslegung“ des (und damit gerade nicht als Analogie zu) § 81a StPO.25 – Eine Entscheidung des BGH vom 21. 06. 1956 billigte zwar die analoge Anwendung des § 251 I Nr. 2 StPO a.F. im Falle einer anwesenden, aber auf absehbare Zeit nicht verhandlungsfähigen Zeugin;26 indes handelt es sich (nicht nur um eine recht frühe Entscheidung, sondern auch) um einen Fall, in dem subjektive Rechtspositionen des Beschuldigten allenfalls sehr mittelbar tangiert wurden, da der von § 251 StPO eingeschränkte Unmittelbarkeitsgrundsatz vor allem eine objektiv-rechtliche Dimension hat. – Ebenso wenig kann die allgemeine Zulässigkeit der Analogie aus einer Entscheidung des BVerfGE abgeleitet werden, in der die (durch Anordnung einer Verjährungsunterbrechung für die Zeit vom 8. 5. 1945 bis zum 31. 12. 1949) faktische Verlängerung der Verjährung für bestimmte Straftaten gebilligt und ein Verstoß gegen Art. 103 II GG abgelehnt wurde:27 Denn da es sich um einen Akt des Gesetzgebers und nicht der Judikative handelte, stellte sich die Vorbehaltsproblematik ohnehin nicht im hier interessierenden Sinne.
2. Der Meinungsstand in der Literatur a) In der strafprozessualen Literatur wird der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes, der im Verwaltungsrecht eine herausragende Bedeutung hat, von einigen Ausnahmen abgesehen28 allenfalls knapp behandelt und insbesondere auch in seiner Bedeutung für die Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem oft gar nicht angesprochen. Dazu würde freilich durchaus Anlass bestehen, gibt es doch gute Gründe, z. B. auch bei grundsätzlicher Billigung von Analogien unter methodischen Gesichts25
Vgl. BVerfGE 47, 239, insb. 246 ff. Vgl. BGHSt 9, 297, 300. 27 Vgl. BVerfGE 25, 269, insb. 287. 28 Mit dem Vorbehalt des Gesetzes im Straf- und Strafverfahrensrechts auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 II GG hat sich vor allem Krey mehrfach auseinandergesetzt. Vgl. vor allem seine Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht. Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots, 1977; ders., Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Gesetzesvorbehalt, in: Schwind (Hrsg.), Festschrift für Günter Blau, 1985, S. 123 ff.; vor allem auf der Grundlage der Arbeiten Kreys findet sich auch eine ausführliche Diskussion bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 69 ff., insb. S. 122 ff., der sich allerdings im Wesentlichen auf den Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen beschränkt. Nicht zuletzt erwähnt seien die Kommentierung der „Einleitung M“ im Großkommentar von Löwe-Rosenberg aus der Feder von Lüderssen und Jahn, vgl. Rn. 41 ff. insb. Rn. 47, sowie der Beitrag von Jäger, GA 2006, 615 ff. 26
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punkten deren Zulässigkeit im Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts anzuzweifeln. b) Freilich käme es auf diese (auch im sonstigen öffentlichen Recht als originärer Heimat der Vorbehaltsdogmatik noch nicht erschöpfend behandelte) Frage nicht entscheidend an, wenn bzw. soweit – und dies ist der zweite, tendenziell wohl etwas häufiger behandelte Punkt in diesem Problemfeld – auch für das Strafprozessrecht Art. 103 II GG mit seinen unbestrittenen Ausformungen der Garantien der lex scripta, praevia, stricta und certa Anwendung findet. Nach wohl herrschender Ansicht ist dies zumindest insoweit nicht der Fall, als es um rein verfahrensrechtliche Vorschriften geht. Andere vertreten ein Konzept einer zumindest weitgehenden Gleichwertigkeit der strafrechtlichen und strafprozessualen Eingriffe,29 das auf das Bild „einer gleitenden Skala von Eingriffen in die Rechtssphäre der Personen, die der Strafverfolgung ausgesetzt sind“ gestützt wird, die „einander sehr ähnlich“ seien und „sich zusammen in einem gleichsam durch ein ,Auf und Ab‘ geprägten Kontinuum“ bewegen. Vermittelnde Auffassungen unterstellen zumindest solche strafprozessualen Normen den speziellen Garantien des Art. 103 II GG, die unmittelbar dem Nachweis der Voraussetzungen der Tatbestandsmerkmale dienen (wie z. B. Vorschriften aus dem Beweiserhebungsrecht), da diese Regelungen mittelbar ebenfalls zu „Strafbarkeitsvoraussetzungen“ führen.30
III. Art. 103 II GG und/oder allgemeiner Gesetzesvorbehalt als Anknüpfungspunkt des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafprozessrecht Vor diesem Hintergrund einer einerseits nur vereinzelt aufgegriffenen, dann andererseits aber durchaus kontrovers geführten Diskussion in der Literatur und eher punktueller Äußerungen in der Rechtsprechung dürfte es lohnend sein, etwas weiter auszuholen. Dazu sollen Wortlaut, Geschichte und spezifische Funktion des Art. 103 II GG untersucht werden, um herauszufinden, ob bzw. ggf. inwieweit seine Anwendung im Strafprozessrecht gerechtfertigt ist; darauf aufbauend wird dargestellt, welche Funktion dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt zukommen kann.31 1. Unmittelbare Geltung des Art. 103 II GG im Strafprozessrecht? a) Art. 103 II GG fordert, dass „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt“ war, bevor die Tat begangen wurde. Zwar erschiene es mit dem Wortlaut des Art. 103 II GG ver29
Vgl. dazu insbesondere die sorgfältige Analyse von Jahn, in diesem Band, S. 223, 228 ff. Vgl. Jäger, GA 2006, 615, 619 ff. 31 Vgl. zum Folgenden auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 134 ff. 30
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einbar, den Begriff „Strafbarkeit“ verfassungsspezifisch weit zu verstehen32 und unter seine Garantie all die Normen fallen zu lassen, die letztlich für die Verhängung einer Strafe von Bedeutung sein können. Dafür spricht nicht nur, dass für das von der Strafverfolgung betroffene Individuum als durch das grundrechtsgleiche Recht geschütztes Rechtssubjekt verfahrensrechtliche Vorschriften von ähnlich großer Bedeutung sein können wie das materielle Recht,33 sondern auch die systematische Stellung des Art. 103 II GG zwischen dem Prozessgrundrecht des Art. 103 I und der ebenfalls formalen Garantie des Art. 104 GG. Rein sprachlich spricht indes mehr dafür, unter dem in Art. 103 II GG verwendeten Begriff der „Strafbarkeit“ ausschließlich die materielle Verbotsnorm (also die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten unter Androhung einer Strafe verboten ist) zu verstehen, nicht dagegen die Frage, unter welchen Voraussetzungen und nach welchem Verfahren diese Strafe verhängt wird. Hätte der Verfassungsgeber einen weiteren Anwendungsbereich gewünscht, hätte er genauer von einer „Verfolgbarkeit“ sprechen müssen.34 Unter systematischen Gesichtspunkten ist ferner anzuführen, dass auch der Art. 103 II GG nachfolgende Grundsatz des ne bis in idem (Art. 103 III GG) den Begriff des „Strafgesetzes“ und des „Bestrafens“ sinnvollerweise nur i.S.d. materiellen Rechts und der darin angedrohten Sanktion verstehen kann.35 Schließlich ist zu beachten, dass Art. 103 II GG nicht nur wortgleich mit § 1 StGB übereinstimmt, sondern auch mit dem früheren § 2 I StGB a.F. Zwar ist Bär darin zuzustimmen, dass grundsätzlich Verfassungsbegriffe nicht durch einfachgesetzliche Formulierungen eingeschränkt werden können;36 dies schließt jedoch nicht die Vorstellung aus, dass auch der Verfassungsgeber sich an Sprachgebrauch und Inhalten des Gesetzesrechts orientiert, wenn er bei seiner Wortwahl feststehende gesetzliche Formulierungen in den Verfassungstext übernimmt. Im Ergebnis wäre somit eine weite, das Strafprozessrecht (generell) miteinbeziehende Auslegung des Art. 103 II GG seinem Wortlaut nach zwar nicht ausgeschlos32 In diesem Sinne wohl Arndt, NJW 1961, 14, 15. Lüderssen, JZ 1979, 449, 450. Allgemein zum Gebot einer weiten Auslegung von Grundrechten, nach der „die juristische Wirkungskraft des betreffenden Norm am stärksten entfaltet“ wird, BVerfGE 6, 55, 72; 43, 154, 167 als Beispiele aus der ständigen Rechtsprechung des BVerfG. 33 So deutlich Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 104: „Ihn (= den betroffenen Bürger, H.K.) interessiert neben dem ,Ob‘ eines strafbaren Verhaltens vor allem die Frage, mit welchen Mitteln (,Wie‘) dies festgestellt werden kann.“ Vgl. auch nochmals den Beitrag von Jahn in diesem Band. 34 So im Ergebnis Calvelli-Adorno, NJW 1965, 273, 274; Krey, JA 1983, 233, 235; vgl. auch BVerfGE 25, 269, 287, wonach mit der Strafbarkeit die Verfolgbarkeit, nicht dagegen mit der Verfolgbarkeit auch die Strafbarkeit entfallen soll; vgl. dazu auch Böckenförde, ZStW 91 (1979), 888, 891; krit. insoweit Schünemann, NStZ 1981, 143, 144. 35 Von diesem speziellen Zusammenhang in Art. 103 III GG abgesehen wäre der Begriff der „Strafe“ eventuell sogar noch etwas weiter zu verstehen als der der „Strafbarkeit“, was um so mehr dafür spricht, die Strafbarkeit in Art. 103 II GG in einem engen materiellen Sinn zu verstehen. 36 Vgl. Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 103 f.
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sen. Die besseren Gründe im Rahmen einer grammatischen und systematischen Auslegung sprechen aber für die grundsätzliche Beschränkung auf materielle Normen; zumindest aber ergeben sich aus dem Wortlaut keinesfalls ernsthafte Bedenken gegen die enge Auslegung der herrschenden Meinung. b) Etwas anderes ergibt sich letztlich auch nicht – und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der teilweise gemeinsamen historischen Entwicklung von Straf- und Strafprozessrecht, auf die Jahn in seinem Beitrag grundsätzlich zu Recht hinweist37 – aus dem historischen Hintergrund des nulla-poena-Grundsatzes, der – trotz gewisser Ausprägungen einer richterlichen Willkürkontrolle auch schon in Art. 104, 105 der Constitutio Criminalis Carolina (CCC) und in Art. 39 der Magna Carta Libertatis (MCL)38 König Johanns von England – im Wesentlichen „eine Frucht des aufklärerischen Denkens“39 ist. Fasst man die Entwicklung beginnend etwa ab den Arbeiten Montesquieus und Beccarias (Idee des Gesetzesstaats und der Gewaltenteilung in „De l’esprit des lois“ und ihre vertiefende Aufnahme für das Strafrecht in „Dei delitti e delle penne“) über die Aufnahme in verschiedene Kodifikationen (beginnend mit der „Josephina“ von 1787,40 später dann im Entwurf zum „Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern“ von 1813, dessen Art. 1 zum Vorbild für viele weitere Kodifikationen des 19. Jahrhundert wurde), die theoretische Fundierung durch von Feuerbachs „Theorie des psychologischen Zwangs“ und in Art. 116 WRV bis hin zum Bonner Grundgesetz zusammen, so ergibt diese dogmengeschichtliche Betrachtung zwei wesentliche Wurzeln: Das rechtsstaatliche Element des Schutzes vor richterlicher Willkür (das einer Erstreckung seiner Geltung auf das Strafverfahrensrecht nicht entgegenstehen, ja sogar für sie sprechen würde) und das präventive Element nach von Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges, dem echte Berechtigung nur für das materielle Strafrecht zukommt (im Zusammenhang mit diesem von Feuerbach den Gedanken auch ausschließlich entwickelt hat). Somit spricht auch die historische Betrachtung insgesamt eher für, jedenfalls aber nicht gegen ein enges Verständnis des speziellen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, wie es in Deutschland in Art. 103 II GG Ausdruck gefunden hat. Diese Sonderrolle des Strafrechts ist auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden: Denn zum einen ist die aufklärerische, von Kodifikationsoptimismus und -euphorie genährte Vorstellung des idealen Gesetzes und des vollkommenen Gesetzesstaats einem gewissen Realismus hinsichtlich der unvermeidbaren Unvollständigkeit der geschriebenen Rechtsordnung gewichen, der als liberalistisches Minimalziel 37
Vgl. in diesem Buch S. 225, 229. Vgl. näher zur Bedeutung der Magna Carta Libertatis insgesamt Voigt, JuS 1965, 218 ff. 39 Vgl. Krey, in: Blau-FS, 1985, S. 123, 127. Näher Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, Rn. 13, 38. 53; Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S. 53 ff. 40 Vgl. dazu nur Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S. 75 ff. Aufnahme finden diese Gedanken außerdem z. B. auch in das Preußische ALR und in die französische Menschenrechtserklärung von 1789. 38
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die Forderung nach einer vollständigen Normierung durch die lex scripta wenigstens (andererseits aber auch nur) für den als ultima ratio ohnehin als lückenhaft angelegten Bereich des (materiellen) Strafrechts aufrechterhalten kann. Zum anderen ist die Anwendung des Strafprozessrechts jedenfalls unter dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes (vgl. dazu auch unten 2.) auch ohne Rückgriff auf Art. 103 II GG keinesfalls frei von gesetzlichen Bindungen. c) Entscheidend für die Reichweite des Art. 103 II GG und seine Anwendung oder Nichtanwendung im Strafprozessrecht muss aber – ungeachtet der Befunde aus der Wortlautbetrachtung und aus der Geschichte (die im Übrigen auch nur Richtungen induziert, aber keine eindeutigen Ergebnisse geliefert haben) – seine Bedeutung nach modernem, grundgesetzlich geprägtem Verständnis und unter Berücksichtigung des Kriminalsystems insgesamt41 sein. Beschränkt man diese Funktion auf die Bewahrung rechtsstaatlicher (aber auch demokratischer Grundsätze), so ließen diese – wie oben gezeigt – zwar eine Ausdehnung der Anwendung auf das Strafverfahrensrecht zu, fordern sie aber nicht unbedingt, da auch unter diesen Gesichtspunkten eine Sonderrolle des materiellen Strafrechts begründbar ist. Noch eindeutiger zu einer Beschränkung des Art. 103 II GG auf das materielle Recht würde die namentlich von Sax vertretene Ansicht führen, wonach Art. 103 II GG vornehmlich als Ausprägung des strafrechtlichen Schuldprinzips zu verstehen sei.42 Daneben lassen sich aber für eine grundsätzliche Beschränkung des Art.103 II GG auf das materielle Strafrecht auch noch weitere Gründe anführen, die in der Natur der Strafnormen liegen. Auch ohne die selten allein ausschlaggebende Trennung zwischen formellem und materiellem Recht überzubetonen, können hier folgende Gesichtspunkte genannt werden: Die materiellen Verbotsnormen richten sich an den Bürger („Was ist ihm verboten?“), während sich prozessuale Vorschriften vorrangig an den Staat richten (bei Zwangsmaßnahmen: „Was ist ihm erlaubt?“, bei Verfahrensvorschriften: „Welche Rechte muss der Staat dem Bürger einräumen?“). Diese unterschiedliche Adressierung des Normbefehls ist als differenzierendes Element stärker zu gewichten als die mitunter erhobene Forderung, dass der nullapoena-Grundsatz auch das zur Strafe führenden Verfahren lückenlos vorherbeschreiben müsste (was im Übrigen etwa dazu führen würde, dass Art. 101 GG im Strafrecht keine eigenständige Bedeutung mehr hätte). Damit eng zusammen hängt der Aspekt, dass die Normen des materiellen Strafrechts unmittelbar, generell und dauernd verhaltenssteuernd wirken sollen, während dem Prozessrecht nur eine vor allem auf die jeweiligen Prozesssubjekte gerichtete und der Dynamik des Verfahrens unterworfene Verhaltenssteuerungsfunktion zukommt. Schließlich enthält vorrangig das materielle Strafrecht ein autoritatives Unrechtsurteil, während das Prozessrecht an Stelle der Kategorie „rechtswidrig“ häufig
41
Insoweit zutreffend Jahn in diesem Band, S. 223, 229. Vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III 2. Halbband, 1959, S. 999. 42
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„nur“ die Beurteilung als „unwirksam“, „unzulässig“ oder „unbegründet“ verwendet. Zwar dürfen diese Unterschiede – wie in diesem Band Jahn noch einmal eindrucksvoll herausarbeitet43 – nicht überschätzt werden, da es teilweise nur um „Formulierungstraditionen“ geht und manches durch einen Wechsel in der eingenommenen Perspektive ineinander umformuliert werden könnte. Gleichwohl: Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sich gerade unterschiedliche Perspektiven und Terminologien herausgebildet haben. Denn die Sonderstellung des materiellen – und nur des materiellen! – Strafrechts innerhalb eines generell vom Postulat des Gesetzlichkeitsprinzips für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger beherrschten Rechtssystems liegt gerade darin, dass mit der strafrechtlichen Verurteilung der sozialethische Vorwurf einer Schädigung elementarer gesellschaftlicher Interessen verbunden ist. Das gilt schon wegen der Unschuldsvermutung und wegen des Verdachts als hinreichendem Anordnungsgrund selbst für einschneidendste strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gerade nicht für das Strafprozessrecht: Die in ihm ausgesprochenen Handlungs- und Duldungspflichten treffen den einzelnen (sei es als Unbeteiligter, sei es als Prozesssubjekt) einerseits unabhängig von einem persönlichen Vorwurf, andererseits nur im speziellen Kontext der aktuellen Verfahrenssituation. Eine über das allgemeine Gesetzlichkeitsprinzip hinausgehende, besonders strikte Bindung durch Art. 103 II GG ist aber auch überhaupt nur notwendig, wo mit der Subsumtion unter die Vorschrift nicht nur eine Rechtseinbuße, sondern ein herausgehobener Vorwurf verbunden ist. Auch können im Bereich des materiellen Strafrechts aus einem strikten Gesetzlichkeitsprinzip erwachsende Regelungslücken als normative Aussage der Straflosigkeit in einem fragmentarischen System hingenommen werden, während der Verfahrensablauf als Gesamtsystem mitunter auf die Schließung von Lücken angewiesen sein kann. Exemplarisch: Ist die Vorbereitungshandlung zu einem Delikt (wie regelmäßig!) nicht strafbar, so mag dies in Einzelfällen aus Gründen eines effektiven, da früh ansetzenden Rechtsgüterschutzes bedauerlich sein – das materiell-strafrechtliche Gesamtsystem leidet dadurch aber keinen Schaden, und die Effektivität des Straftatbestandes selbst wird nicht beeinträchtigt. Setzt dagegen z. B. eine strafprozessuale Eingriffsbefugnis zwangsläufig voraus, dass zu ihrer Vorbereitung eine weitere grundrechtsinvasive Maßnahme durchgeführt wird (wie etwa das Betreten einer Wohnung, um in dieser eine im Gesetz vorgesehene Abhörmaßnahme durchführen zu können), würde die „Kernbefugnis“ letztlich ihre Bedeutung überwiegend verlieren, wenn man mit ihr nicht gleichsam ungeschrieben (und daher z. B. mit einem engen Verständnis des Art. 103 II GG nicht zu vereinbaren) die typischen und unverzichtbaren Vorbereitungshandlungen als erlaubt ansehen würde. Dieses Beispiel illustriert zugleich den oben angesprochenen Aspekt, dass ganz generell Verbote (wie sie die materiellen Strafvorschriften enthalten) viel eher isoliert und fragmentarisch
43
Vgl. S. 223, 225 ff.
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bestehen können als Handlungserlaubnisse (wie sie zumindest vielfach in der Strafprozessordnung enthalten sind). d) Zusammenfassend beansprucht daher sub specie Art. 103 II GG auch heute noch die Einschätzung Belings Gültigkeit, der bereits vor über 80 Jahren am Beispiel des Analogieverbots zum Verhältnis von Strafrecht und Strafprozessrecht ausführte:44 „Wenn § 2 StGB (vgl. heute § 1 StGB n.F., HK) das Individuum in strafrechtlicher Hinsicht vor einer zu seinen Ungunsten wirkenden Analogie sicherstellt, so beruht dies auf dem Gedanken, dass das Strafrecht, bei dem der Nachdruck gerade auf dem Leidensollen liegt, nach Ob und Wie nicht ins Ungewisse gestellt sein soll. Die Prozessbehelligung ist generisch anderer Art; wenn sie das Individuum in seinen Interessen beeinträchtigt, so besteht darin nicht ihr Wesen, und deshalb steht sie nicht mit dem Strafleiden, sondern mit solchen Interessenverkürzungen auf derselben Linie, die sich das Individuum im Verwaltungsrecht dem Staate gegenüber gefallen lassen muss. Es fehlt damit an der ratio, um das Analogieverbot des § 2 StGB analog in das Strafprozessrecht zu übertragen.“
2. Die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes für die Rechtsfindung im Strafprozessrecht a) Kann damit auch als Zwischenergebnis davon ausgegangen werden, dass Art. 103 II GG jedenfalls grundsätzlich auf das Strafverfahrensrecht nicht anwendbar ist (sondern nur im Einzelfall die Frage aufgeworfen werden muss, ob alle in der Strafprozessordnung geregelten oder traditionell etwa als Verfahrensvoraussetzung dem Prozessrecht zugeschlagenen Materien wirklich rein formaler Natur sind oder ob sie nicht doch zumindest im hier interessierenden Sinne [auch?] dem materiellen Recht zuzurechnen sind45), bedeutet das keinesfalls, dass das Gericht im Strafverfahrensrecht von der Gesetzesbindung freigestellt wäre. Gerade der o.g. Hinweis Belings auf das Verwaltungsrecht ist noch von einem Verständnis vom Verhältnis der staatlichen Gewalt zum Individuum geprägt, das der heutigen, durch das Grundgesetz bestimmten Sichtweise nicht mehr ohne weiteres entsprechen kann. Vielmehr bleibt noch die Bedeutung des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes für die Rechtsfindung im Strafprozessrecht zu klären. Zwar könnten dessen Grenzen insgesamt eher für Ausnahmen in Einzelfällen durchlässig sein als die des Art. 103 II GG, indes lässt sich dies erst auf der Grundlage einer genaueren Analyse entscheiden. Fest steht aber jedenfalls, dass sich etwa die unbefangene Neigung zu Analogien
44
Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht mit Einschluss des Strafgerichtsverfassungsrechts, 1928, S. 22. 45 Besonders plastisch wird diese Frage etwa bei der Verjährung, die letztlich genauso als Strafausschließungsgrund statt als Verfahrensvoraussetzung zu konstruieren wäre. Diesen Schnittstellen soll hier nicht näher nachgegangen werden, da sie in der Literatur schon häufig untersucht worden sind.
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aus dem Zivilrecht nicht auf das öffentliche Recht und (damit auch nicht auf Rechtsverkürzungen durch das Strafverfahren) übertragen lässt.46 b) Da es eine gesetzliche Normierung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts nicht gibt, muss – anders als oben bei Art. 103 II GG – auf eine Analyse des Wortlauts verzichtet werden, so dass nach einer knappen Darstellung der historischen Wurzeln der Anwendungsbereich des Vorbehaltsgrundsatzes sowie die Frage nach den daraus resultierenden Konsequenzen für das Strafverfahren behandelt werden sollen. Was die Entwicklungsstränge des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes angeht, kann auf die Ausführungen zu Art. 103 II GG verwiesen werden, soweit dessen allgemeine staatsrechtlichen Wurzeln beschrieben wurden.47 In Deutschland wurde dieses Gedankengut vor allem durch die konstitutionelle Bewegung unter maßgeblichem Einfluss des Freiherrn vom Stein verbreitet.48 Neben dieser rechtsstaatlichen Entwicklungslinie wird auch beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt seit dem 19. Jahrhundert eine „demokratisch-partizipatorische“ Komponente deutlich.49 Der Wille des Bürgertums nach Teilhabe am Staat erscheint hier noch klarer verständlich als beim nulla-poena-Grundsatz: Ging es bei diesem „nur“ darum, dass die Strafnorm vom Parlament als demokratisch legitimierten Staatsorgan erlassen werden, so sind beim allgemeinen Vorbehalt – der z. B. auch den großen Bereich der Wirtschaftsordnung oder des Steuerrechts betrifft – Zusammenhänge betroffen, die den Bürger auch in seinen ganz alltäglichen Interessen berühren. Während diese Forderung damals politisch noch viel brisanter war als die nach Machtmäßigung des Staates in Form von selbstbindender Beschränkung des Monarchen,50 ist der demokratische Aspekt heute (durchaus noch wichtig, aber) nicht mehr der Problemschwerpunkt: Durchbrechungen des Vorbehaltsgrundsatzes erfolgen durch die Exekutive (oder Judikative) zumindest regelmäßig nicht in der Intention, dass dem Parlament das Entscheidungsrecht über eine bestimmte Frage zielgerichtet entzogen werden soll.51 46 Ähnlich Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 172. 47 Vgl. bereits Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 33, nach dem der „Vorbehalt des Gesetzes für Verwaltungsmaßnahmen (…) ein Unterfall eines umfassenden Gesetzmäßigkeitsprinzips (sc. ist), dessen andere Komponente der Satz nulla poena sine lege darstellt.“ Zustimmend Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 242. 48 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 123; Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 125. 49 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 132 ff.; Pietzcker, JuS 1979, 710, 712; Selmer, JuS 1968, 498, 491. Vgl. auch den Hinweis von Roellecke, NJW 1978, 1778, wonach die Legitimation des Vorbehaltsgrundsatzes für belastende Maßnahmen im Gedanken des „volenti non fit iniuria“ liegt: soweit das Parlament als „Vertreter“ des Bürgers einem Eingriff zustimmt, kann darin dem Bürger gegenüber kein Unrecht mehr liegen. 50 Vgl. Kloepfer, JZ 1984, 685. 51 Freilich sind Fälle beobachtbar, in denen die Rechtsprechung in (vermeintlich zulässiger) rechtsfortbildender Weise Ansätze aufgreift, die im Gesetzgebungsverfahren gescheitert sind, so etwa die faktische Einführung einer Präklusion im Beweisantragsrecht durch die
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c) Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt auf der angedeuteten Entwicklung basierend eine gesetzliche Grundlage jedenfalls für Eingriffe in subjektive Rechte des Bürgers52 und dürfte damit, über die klassische Formulierung des „Eingriffs in Freiheit und Eigentum“ hinausgehend, die wichtigste Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in seinem heutigen gesetzespositivistisch-formellen Verständnis53 sein. Dabei ist – auch ohne Rückgriff auf die ganz überwiegend abgelehnte Lehre vom Totalvorbehalt54 – davon auszugehen, dass der Gesetzesvorbehalt nicht nur „uneingeschränkt auch“,55 sondern sogar in besonderem Maße für das Strafverfahren gilt, das einen besonders intensiven Eingriff in die Rechtsposition des Bürgers darstellt.56
IV. Konsequenzen aus der Geltung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts im Strafprozessrecht? Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich nun aus der Tatsache, dass im Strafverfahrensrecht zwar der allgemeine Gesetzesvorbehalt, nicht aber der spezielle Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG gilt? Zur Antwort kann auf zwei verschiedenen Ebenen differenziert werden: Zum einen hinsichtlich der verschiedenen Folgerungen aus den Gesetzesvorbehalten (für den nulla-poena-Grundsatz als Garantien der lex scripta, stricta, certa und praevia bekannt), zum anderen nach den verschiedenen vom Strafverfahren betroffenen Rechtspositionen (als welche die materiellen Grundrechtsgarantien vor allem bei Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, die – im deutschen Grundgesetz vielfach durch die sog. Verfahrensgrundrechte abgedeckten – Verfahrensgarantien vor allem bei Einschränkungen der prozessualen Befugnisse in Betracht kommen).
Fristsetzungsrechtsprechung des 1. Strafsenats (vgl. BGHSt 52, 355, sowie dazu statt vieler Kudlich, Fristsetzung für Beweisanträge als legitimes Mittel der Verfahrensbeschleunigung?, in: Kotsalis/Kourakis/Mydonopoulos (Hrsg.), Festschrift für Argyrios Karras, 2010, S. 591 ff.), nachdem entsprechende gesetzliche Initiativen gescheitert sind, vgl. instruktiv Jahn, StV 2009,663, 667 52 Vgl. zum Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts etwa Wehr, JuS 1997, 419, 420 ff. 53 Vgl. dazu Jentsch, ZRP 1995, 9 ff., 11. 54 Vgl. dazu Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, insb. S. 171 f., 205. Zu den Stimmen gegen diese Ansicht vgl. statt vieler BVerfGE 68, 1, 87; Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozessrecht, 1995, S. 115 f. m.w.N.; Rogall, Informationseingriff und Vorbehalt des Gesetzes, 1992, S. 16. 55 Vgl. etwa BVerfGE 47, 239, 248. 56 Ebenso Krey, in: Blau-FS, 1985, S. 123, 124 f., der zu Recht darauf hinweist, dass die spezielle Regelung des Art. 103 II GG nach h.M. für das Strafverfahren und seine Eingriffsbefugnisse (und nach Kreys Ansicht auch für die materiell-rechtlichen Rechtsfolgen der §§ 61 ff. StGB, a.A. die wohl h.M.) nicht gilt und deshalb auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt zurückzugreifen ist.
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1. Inhalte des Gesetzesvorbehalts a) Das Gebot der lex scripta, welches ungeschriebene und dabei insbesondere gewohnheitsrechtliche Belastungen für die Grundrechte des Bürgers (und im Fall des nulla poena-Grundsatzes: Strafbarkeitsanordnungen) verbietet, sollte auch im Anwendungsbereich des einfachen Gesetzesvorbehalts Geltung beanspruchen. Seine demokratische Dimension gebietet gerade, dass über die Beeinträchtigungen der parlamentarische Gesetzgeber entscheidet. Freilich bleibt im Einzelfall zu prüfen, inwieweit Rechtspositionen, die nicht gleichsam vorrechtlich angenommen werden können bzw. nicht explizit im einfachgesetzlichen Strafprozessrecht fundiert sind, sondern erst durch die Rechtsprechung entwickelt werden, von dieser auch wieder eingeschränkt werden können. Macht also etwa die Rechtsprechung im Bereich der gesetzlich nicht näher geregelten Beweisverwertungsverbote das Eingreifen eines solchen für bestimmte Konstellationen von einem Widerspruch durch den verteidigten Angeklagten in der Hauptverhandlung abhängig, so mag man dagegen inhaltlich gute Gründe anführen können57 – ein unzulässiger ungeschriebener Eingriff in eine feststehende Rechtsposition liegt dagegen nicht vor, denn die in der Strafprozessordnung im Wesentlichen nicht erwähnten Beweisverwertungsverbote werden in diesen Fällen vom Rechtsanwender gewissermaßen mit dieser Einschränkung geschaffen.58 b) Hinsichtlich des Gebotes der lex stricta gibt es im öffentlichen Recht (d. h. insbesondere auch Verwaltungsrecht) als originärer Heimat des Vorbehaltsdogmas eine lange Diskussion über die Zulässigkeit belastender Analogien. In dieser wird ein Eingriff in den Kernbereich der Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Judikative durch eine Analogie zumindest dann nicht angenommen, wenn durch sie kein unvorhergesehenes Übergewicht der rechtsanwendenden Gewalten entsteht. Eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips soll danach nicht vorliegen, wenn durch die Analogie keine vollständig neue Regel für einen bisher ungeregelten Sachverhalt (d. h. auf den Eingriff in subjektive Rechte übertragen: keine neue Eingriffsbefugnis in ein Recht, in das der Gesetzgeber bisher noch keinen Eingriff vorgesehen hatte) geschaffen wird, sondern nur die bereits bestehende Regelung erweitert bzw. ergänzt (also ohnehin bereits gesetzlich vorgesehene Eingriffe in ein Recht auch unter den geregelten Fällen ähnlichen Voraussetzungen ermöglicht) werden. Betrachtet man den Gesetzesvorbehalt freilich nicht nur in seiner gewaltenteilenden, sondern auch in seiner demokratietheoretischen Dimension, dürfte das zu kurz gegriffen sein: Denn vor dem zweitgenannten Hintergrund besteht ein grundsätzli57 Vgl. Kudlich, Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens?, Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, S. C 92 ff. 58 Etwas Ähnliches findet sich im Übrigen sogar im materiellen Strafrecht unter dem Regime des Art. 103 II GG: Die im deutschen Strafgesetzbuch nicht explizit geregelte rechtfertigende Einwilligung kann selbstverständlich im Einzelfall von bestimmten, notwendigerweise ebenfalls nicht geschriebenen einschränkenden Kriterien abhängig gemacht werden, um Wirksamkeit zu erlangen.
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cher Vorrang der jeweils dem Wortsinn des Gesetzes nächsten Rechtsfindung, da nur das Gesetz einen Akt des alleine unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments darstellt.59 Aus dieser Forderung aber lassen sich z. B. gute Gründe für ein Verbot belastender Analogien im Strafprozessrecht ableiten. In der öffentlich rechtlichen Diskussion um ein Analogieverbot werden Analogien unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips zwar jedenfalls dann für unbedenklich gehalten, wenn damit die Entscheidung des Gesetzgebers gleichsam dadurch nur „weitergeführt“ wird, dass sich die Analogie innerhalb der ratio legis bewegt.60 Hiergegen spricht jedoch die Erwägung, dass gerade aus demokratischen Aspekten der Gesetzesvorbehalt in manchen Bereichen zum Parlamentsvorbehalt erstarkt ist und insbesondere nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BVerfG wesentliche Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen; wo aber selbst eine Delegation der Rechtssetzung in einem (z. B. durch Art. 80 GG) geregelten und an sich im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren nicht möglich ist, müsste dies für die außerlegislative „Rechtssetzung durch Analogie“ erst Recht gelten. Soweit mit dem BVerfG die „Wesentlichkeit“ zumindest in grundrechtsrelevanten Bereichen mit der „Wesentlichkeit für die Grundrechtsverwirklichung“ gleichgesetzt wird,61 ergäbe sich für den Bereich von Grundrechtsbeschränkungen – sei es für den Bereich der Zwangsmaßnahmen i. e.S.,62 sei es für die Beschränkung von Verfahrensrechten – ein Analogieverbot im Strafprozessrecht.63 c) Dagegen ist eine Art. 103 II GG vergleichbare Garantie der lex praevia dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt fremd. Zwar gelten auch insoweit die allgemeinen 59 Vgl. zum Demokratieprinzip allgemein Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 127 ff.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 10 ff.; vgl. ferner im Zusammenhang mit der hier behandelten Frage Krey, in: Blau-FS, 1985, S. 123, 131 m.w.N. (allerdings zur demokratischen Komponente des Art. 103 II GG) sowie Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, S. 142 ff. 60 Vgl. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, 176 f. sowie Gern, DÖV 1985, 558, 562, der allerdings die weitere nicht ganz klare Einschränkung macht, dass keine „Grundrechte verletzt“ werden dürften: Da ein erheblicher Streit eigentlich nur um die Analogie zu Lasten des Bürgers besteht, hängt die Frage, ob ein Grundrecht verletzt wird, ja regelmäßig in erster Linie davon ab, ob die Analogie zulässig und damit ausreichend ist, den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Im Übrigen ist zu dieser Ansicht anzumerken, dass die Fortführung der ratio legis nur ein sehr ungenaues Abgrenzungskriterium zwischen zulässiger und unzulässiger Analogie sein kann, da es schon methodische Voraussetzung des Analogieschlusses (in Form des Erfordernis einer vergleichbaren Interessenlage) ist, dass die ratio legis ihn trägt. 61 Vgl. BVerfGE 47, 46, 78 f.; 58, 257, 268 f. Ein instruktiver Überblick über andere Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit findet sich bei Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 126 ff.; allerdings würden auch die dort genannten Ansätze für die vorliegende Analogiefrage überwiegend zu keinem anderen Ergebnis führen. 62 Gemeint sind hier vor allem die Befugnisse nach §§ 94 ff. StPO; umfassend zum Begriff Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme, 1995. 63 Ebenso im Ergebnis Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 244; ders., in: Blau-FS, 1985, S. 123, 149; Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 147; vgl. ferner Amelung, NStZ 1982, 38, 40.
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rechtsstaatlichen Grundsätze über den Vertrauensschutz bei einer Rückwirkung. Soweit man hier als Anknüpfungspunkt aber jeweils nur das prozessuale Geschehen (und nicht die zu verfolgende Straftat) sieht, werden sich Rückwirkungsverbote in einer in Art. 103 II GG vergleichbaren Weise regelmäßig nicht ergeben. Vielmehr ist der Prozess nach dem jeweils geltenden Verfahrensrecht zu führen. d) Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Garantie der lex certa: So sind etwa im Sicherheitsrecht, in dem als klassischem Eingriffsrecht selbstverständlich auch der allgemeine Gesetzesvorbehalt gilt, Generalklauseln, die in ihrer Bestimmtheit hinter den für materielle Strafgesetze geltenden Anforderungen deutlich zurückbleiben, nicht unüblich und hinsichtlich ihrer Zulässigkeit auch grundsätzlich anerkannt. Freilich wird man insoweit eine gewisse Korrespondenz mit der Eingriffstiefe dahingehend anzunehmen haben, dass auf Generalklauseln gestützte Maßnahmen zum einen keine massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen gestatten können und dass durch sie zum anderen die Wertungen spezieller Vorschriften nicht unterlaufen werden dürfen. 2. Betroffene Rechtspositionen a) Von strafprozessualen Maßnahmen im weiteren Sinn betroffen sein können zum einen die „allgemeinen Grundrechte“, da insbesondere strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in sämtliche Lebensbereiche eingreifen können.64 Dies beginnt etwa bei Hausrecht und Eigentum, soweit Durchsuchungen oder Beschlagnahmen angeordnet werden, setzt sich beim Telekommunikationsgeheimnis fort, soweit Telefonate oder Emails überwacht werden und mündet bei der Beeinträchtigung der Freiheit der Person, wenn Untersuchungshaft angeordnet wird. Für all diese und vergleichbare Bereiche, für welche sich zahllose Beispiele finden lassen würden, ist davon auszugehen, dass die oben genannten Inhalte des Gesetzesvorbehaltes in strenger Form gelten und damit nur vergleichsweise enge Eingriffsbefugnisse bieten, da es sich um Rechtspositionen handelt, die gewissermaßen schon „vorprozessual“ bestehen, und in die durch das Prozessrecht und die Prozesshandlung unmittelbar eingegriffen wird. Dass dabei – anders, als dies wohl nach Art. 103 II GG für das materielle Strafrecht möglich wäre – notwendige Begleit- bzw. Vorfeldbefugnisse in der Einräumung bestimmter Zwangsbefugnisse mit umfasst sein müssen und dürfen, wurde oben bereits erwähnt. b) Davon zu unterscheiden ist der Eingriff in prozessuale Verfahrenspositionen etwa durch Verkürzungen von Beweisantrags-, Frage- oder sonstigen Äußerungsrechten: Ihre grundrechtliche (und damit auch Gesetzesvorbehalts-)Relevanz mag – freilich nur auf den ersten Blick – weniger evident sein als bei Grundrechtseingrif64 Vgl. zur Diskussion statt vieler nur mit einem insoweit geradezu programmatischen Titel Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976; ders., NJW 1979, 1678; ferner mit umfassenden Nachweisen Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995; exemplarisch zur Frage sog. Informationseingriffe Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeß, 1992; vgl. ferner die ausführliche Darstellung bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 51 ff.
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fen durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und wird deswegen auch in der Literatur weniger intensiv diskutiert und teilweise nur mit Blick auf die verfahrensrechtliche Dimension der Grundrechte vertieft. Diese verfahrensrechtliche Dimension – der status activus processualis – auch von Grundrechten mit primär materiellem Gewährleistungsgehalt beruht auf der Erkenntnis, dass effektiver Grundrechtsschutz nicht nur eine materielle Rechtsposition, sondern auch ein Verfahren voraussetzt, in dem diese Position durchgesetzt bzw. gegen Eingriffe geschützt werden kann.65 Die prozessuale Wirkdimension der Grundrechte ist zwar durchaus auf das Strafverfahren übertragbar, das vom Staat sogar schon in der Erwartung eingeleitet wird,66 dass sein Abschluss zu massiven Grundrechtseingriffen für den Beschuldigten in Form von Kriminalstrafen führt. Gleichwohl ist die verfahrensrechtliche Dimension von primär materiellen Grundrechten nicht der entscheidende Anknüpfungspunkt, wenn es um die Verkürzung prozessualer Rechte geht, da diese spezieller durch Verfahrensgrundrechte bzw. -prinzipien geschützt sind.67 In Betracht kommt insoweit vor allem der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG, welcher die wichtigste Grundrechtsgewährleistung für den Ablauf des Hauptverfahrens und insbesondere der Hauptverhandlung beinhaltet. Danach hat jeder „unmittelbar rechtliche betroffene“68 Verfahrensbeteiligte ein Anrecht darauf, sich vor Erlass einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Nach h.M. umfasst Art. 103 I GG auch das Vorfeld und den Wirkbereich dieser Äußerungen und damit drei grundsätzliche Dimensionen der aktiven Beteiligung am Prozess:69 ein Recht auf Information, ein Recht zur Äußerung zu Tatsachen- und Rechtsfragen sowie ein Recht auf Berücksichtigung dieser Äußerungen (im Sinne einer Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der mitwirkenden Richter). Für typische strafprozessuale Befugnisse (des Angeklagten und seines Verteidigers) gilt dabei im Einzelnen:
65 Vgl. in der Rechtsprechung BVerfGE 24, 367, 400 f.; 37, 132, 141, 148; 49, 220, 225 (jeweils zu Art. 14 GG); BVerfGE 39, 276, 294; 44, 105, 119 ff.; 45, 422, 430 ff. (jeweils zu Art. 12 GG) sowie BVerfGE 53, 30, 65 f. (zu Art. 2 II GG). In der Literatur grundlegend vor allem Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL Bd. 30 (1972), 43 ff., insb. 88 f.; vgl. aus der reichhaltigen Literatur ferner Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien – ein Beitrag zum Verständnis des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1981; Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1981; 1984, insb. 69 ff. 66 Vgl. §§ 170 I, 203 StPO, wonach Anklage erhoben bzw. das Hauptverfahren eröffnet wird, wenn „genügend Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ besteht bzw. der Angeschuldigte „hinreichend verdächtig“ erscheint. Diese Tatbestandsmerkmale setzen aber gerade voraus, dass der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht eine spätere Verurteilung wahrscheinlich erscheint. 67 Vgl. hierzu exemplarisch für das Beweisantragsrecht instruktiv Jahn, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Beweisantragsrechts der Verteidigung im deutschen Strafprozess, in: Neumann/Herzog (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer 2010, S. 1029 ff. 68 So die gängige Umschreibung der Grundrechtsträgerschaft durch das BVerfG, vgl. nur BVerfGE 60, 7, 13; 65, 227, 233; 75, 201, 215. 69 Vertiefend und mit weiteren Nachweisen Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 188 ff.
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aa) Das Beweisantragsrecht fällt nach zutreffender h.M. in den Schutzbereich des Art. 103 I GG bzw. stellt eine Konkretisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, da eine Äußerung, die Aussicht auf Beachtung haben soll, vor allem eine mit einem Beweismittel untermauerte ist. bb) Auch das einfachgesetzlich in § 258 II StPO garantierte Recht des Angeklagten auf das „letzte Wort“ wird als unmittelbare Gewährleistung des Anspruches auf rechtliches Gehör verstanden.70 Dabei kann zwar nicht übersehen werden, dass die gesetzlichen Regelungen (insbesondere in ihrer – zu Recht – strengen Auslegung durch die Rechtsprechung) über die verfassungsrechtliche Minimalgarantie hinausgeht. Art. 103 I GG verlangt nämlich nur, dass dem Angeklagten überhaupt in effektiver Weise rechtliches Gehör verschafft wird, nicht aber dass er das letzte Wort haben muss. Man wird aber jedenfalls annehmen können, dass die Möglichkeit des letzten Wortes einer optimalen Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient, da in diesem Augenblick der Zustand bestmöglicher und vollständiger Information über den Prozessstoff besteht und die Möglichkeit einer Äußerung unmittelbar vor der Urteilsfindung gegeben ist. cc) Wesentlich problematischer erscheint demgegenüber die verfassungsrechtliche Verankerung des in §§ 240, 241 StPO geregelten Fragerechts. Obwohl es sich auch bei Fragen um Äußerungen i.w.S. handelt, erscheint der engere Bereich des rechtlichen Gehörs verlassen, da es dem Fragesteller nicht in erster Linie darum geht, dass seine Äußerung wahrgenommen wird, sondern auf die Antwort des Befragten ankommt. Aus diesem Grund wird in der Literatur das Fragerecht (anders als etwa das Beweisantragsrecht) i. d. R. nicht ausdrücklich Art. 103 I GG zugeordnet. Soweit sich ausdrückliche Stellungnahmen finden, wird eine Einbeziehung unter Art. 103 I GG sogar abgelehnt und eine Verankerung außerhalb der StPO „nur“ in Art. 6 III d EMRK gesehen. Dies erscheint freilich bei der Art. 103 I GG sonst zukommenden weiten Auslegung nicht unbedingt zwingend: So wie die Einbeziehung des Beweisantragsrechts damit begründet werden kann, dass eine Tatsachenäußerung ohne Beweisangebot u. U. nur von geringem Wert ist, ließe sich hier anführen, dass die Äußerung zur Aussage eines Zeugen u. U. nur dann sinnvoll ist und die gebührende Beachtung erfahren kann, wenn durch Fragen an den Zeugen Widersprüche aufgeklärt oder Sachverhalte ins rechte Licht gerückt werden können. Aus diesem Grund erschiene es keinesfalls abwegig, ähnlich wie beim Recht auf das letzte Wort ein Fragerecht zwar nicht als unabdingbare Forderung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wohl aber in einer Beschneidung des nach dem gesetzlichen status quo bestehenden Fragerechts eine nach Art. 103 I GG grundrechtsrelevante Maßnahme zu sehen. dd) Wohl nicht mehr von Art. 103 I GG gedeckt ist das Recht der Richterablehnung nach §§ 24 ff. StPO, da hier (noch mehr als beim Fragerecht) nicht die mit der Ablehnung gleichzeitig verbundene Äußerung, sondern deren rechtlichen Konse70 Vgl. BVerfGE 54, 140; vgl. ferner zur Bedeutung des § 258 StPO BGHSt 3, 368; 20, 273; 22, 278.
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quenzen im Mittelpunkt des Interesses stehen.71 Da diese Folgen – und insoweit besteht ein wichtiger Unterschied zur oben aufgeworfenen Problematik beim Fragerecht – ausschließlich verfahrensrechtlicher Natur sind und eine unmittelbare Einflussnahme auf den Wahrheitsfindungsprozess und die tatsächlichen und rechtlichen Probleme des Falles nicht stattfindet, kann die Richterablehnung nicht mehr als Inanspruchnahme des rechtlichen Gehörs gesehen werden. Andererseits dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass die durch das Ablehnungsrecht gesicherte Unbefangenheit (im technischen Sinne) des Richters ein zentrales Element eines rechtsstaatlichen und „fairen“ Verfahrens ist. Dies wird daran deutlich, dass ein unabhängiges und unparteiisches Gericht auch durch Art. 6 I EMRK garantiert wird. Außerdem besteht ein enger Zusammenhang zum Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 GG. Zwar hat Art. 101 GG selbst nur den Einfluss des Staates auf ein Verfahren durch den Einsatz eines bestimmten Richters vor Augen;72 indes steht dahinter in hohem Maße der Wunsch nach richterlicher Objektivität, die im Mikrokosmos des einzelnen Verfahrens durch das Ablehnungsrecht gesichert werden kann. Einschränkungen des Ablehnungsrechts über den gesetzlichen Ist-Zustand hinaus sind daher zwar verfassungsrechtlich nicht ohne weiteres unzulässig, tangieren aber den subjektiven Anspruch jedes Einzelnen auf ein faires Verfahren nach Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip. 3. Konsequenzen Fasst man die Überlegungen unter 1. und 2. knapp zusammen, führt das für den Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren zu folgenden Konsequenzen: Sowohl durch strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen als auch durch die Verkürzung prozessualer Teilhaberechte in der Hauptverhandlung kann es zu Grundrechtseingriffen kommen, die den allgemeinen Gesetzesvorbehalt auslösen. In dessen Anwendungsbereich gelten insbesondere die Garantien der lex scripta und der lex stricta in einer Art. 103 II GG durchaus vergleichbaren Weise, während hinsichtlich der Rückwirkung und der Bestimmtheit gegenüber den im materiellen Strafrecht geltenden Garantien Abstriche zu machen sind. Insbesondere, soweit es um die Verkürzung genuin prozessualer Positionen (etwa im Bereich der Antragsrechte) geht, ist dabei freilich zu bedenken, dass sowohl der Anspruch auf rechtliches Gehör als auch (und insbesondere) der Anspruch auf ein „faires Verfahrens“ in hohem Maße normgeprägte Garantien sind.73 Das bedeutet, 71 Wenngleich ein befriedigendes rechtliches Gehör nicht durch einen Richter gewährt werden kann, der aus nachvollziehbaren Gründen kein Vertrauen des Zuhörenden besitzt, vgl. Herzog, StV 1995, 372, 374. 72 Die historische Wurzel des Art. 101 GG liegt insoweit in einer Bekämpfung der Kabinettsjustiz, vgl. bereits BVerfGE 4, 412, 416. 73 Zu Art. 103 I GG vgl. etwa BVerfGE 67, 208, 211; zur Frage der normgeprägten Verfahrensgrundrechte auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 127 f.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht
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„das rechtliche Gehör“ bzw. „das faire Verfahren“ sind weniger leicht vornormativ greif- und verstehbar (als etwa Termini wie Leben, Meinung oder Freizügigkeit). Rechtliches Gehör und faire Verfahrensstrukturen können daher im Grundsatz erst einmal nur dadurch gewährt werden, dass sie durch den Staat zur Verfügung gestellt werden. Da es sich insoweit nicht um absolute, jeder Abwägung Wechselwirkung entzogene Garantien handelt, wird damit in formeller Hinsicht eine solche Verfahrensgarantie erst einmal in dem Umfang gewährt, in dem sie spezialgesetzlich vorgesehen ist. Das bedeutet zwar nicht, dass die spezialgesetzliche Ausprägung nicht am (materiellen) Maßstab der Verfassung gemessen werden könnte; sehr wohl ist es aber so, dass nicht automatisch jeder neue gesetzliche (!) Zustand in das Grundrecht eingreift, nur weil er nicht die bisherige Gewährleistungstiefe erreicht.74 Wird aber umgekehrt ein bestimmter Umfang durch die gesetzliche Regelung zur Verfügung gestellt, so sind Verkürzungen dieses Zustandes durch den Rechtsanwender als Grundrechtseingriffe legitimierungsbedürftig (und sollten als solche regelmäßig auch auf gesetzlicher Grundlage erfolgen).
V. Zusammenfassung und Fazit 1. Im deutschen Recht gilt Art. 103 II GG mit seinen Garantien der lex scripta, stricta, praevia und certa als strengste Ausformung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes nicht im Strafverfahrensrecht. Auch jenseits der spezifischen deutschen Regelung wird man – vorbehaltlich entsprechender expliziter Klarstellungen in anderen nationalen Rechtsordnungen – den international weit anerkannten besonderen Gesetzlichkeitsgrundsatz für das materielle Strafrecht („nulla poena sine lege“) nicht auf das Strafprozessrecht übertragen können,75 da weder seine geistesgeschichtlichen Wurzeln dazu zwingen noch die Betrachtung „des Kriminalrechts“ als Gesamtheit dem Wesen des Strafprozesses eher gerecht wird als ein Vergleich mit sonstigem Verfahrensrecht bzw. (hinsichtlich der Eingriffsbefugnisse) mit dem sonstigen öffentlichen Recht. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass sämtliche durch das Prozessrecht selbst bedingten Rechtsbeeinträchtigungen auch dem „bloß Verdächtigen“ auferlegt werden können und daher per se keinesfalls mit einem vergleichbaren sozialethischen Unwerturteil verbunden sind wie eine (materiell) strafrechtliche Verurteilung. 2. Allerdings gilt im Strafprozessrecht als Sondermaterie des öffentlichen Rechts der allgemeine Gesetzesvorbehalt, der in seiner Wirkung insbesondere hinsichtlich der Garantien der lex scripta und der lex stricta Art. 103 II GG zumindest nahe kommt. Eingriffe in Rechtspositionen, für die das Gesetzlichkeitsprinzip insoweit relevant wird, können dabei durch Zwangsmaßnahmen (vor allem im Ermittlungsver74
Vgl. auch BVerfG NJW 2009, 1469, 1474. Wobei im Detail einmal bei manchen Regeln, wie etwa der Verjährung, schwierig zu entscheiden sein kann, ob sie zum Strafprozessrecht oder zum materiellen Strafrecht gehören. Klar zum Strafprozessrecht gehören jedenfalls die prozessualen Zwangsmaßnahmen und die Regelungen der prozessualen Teilhabebefugnisse in der Hauptverhandlung. 75
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fahren) in nahezu alle materiellen Grundrechte der Art. 1 ff. GG vorliegen; die Verkürzung prozessualer Rechte kann insbesondere in die sog. Justizgrundrechte (insb. Art. 101, 103, 104 GG) eingreifen. 3. Mit Blick auf das Gesetzlichkeitsprinzip und etwaige ungeschriebene Rechtseingriffe sind dabei zwei bedeutsame Konstellationen besonders zu betonen, bei denen die Überlegungen zur Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips auch Lösungsansätze für die dogmatische Durchdringung des Prozessrechts liefern: a) Im Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen wird man unverzichtbare Vorbereitungshandlungen regelmäßig als von der Befugnis mit gedeckt betrachten können (jedenfalls wenn keine Anforderungen eines speziellen Gesetzesvorbehalts betroffen sind). Gestattet der Gesetzgeber nämlich eine bestimmte Maßnahme, ist nicht davon auszugehen, dass er ihren Anwendungsbereich dadurch „auf null reduzieren“ will, dass er die unabdingbaren Vorbereitungshandlungen dafür nicht zulassen will. Insoweit streiten weder Willkürverbot noch Demokratieprinzip gegen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme. b) Im Bereich prozessualer (etwa Verteidigungs-)Befugnisse ist zu berücksichtigen, dass es sich vielfach um normgeprägte Grundrechte handelt, deren konkrete Reichweite erst durch die einfachgesetzlichen Regelungen festgelegt werden. Soweit diese Reichweite mittels gesetzlicher Regelung verkürzt wird, ist das nicht per se verfassungsrechtlich zu beanstanden. Dagegen stellen Verkürzungen gegenüber dem gesetzlichen status quo durch den Rechtsanwender Grundrechtsverkürzungen dar, die mangels gesetzlicher Grundlage regelmäßig unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund ist eigentlich erstaunlich – und jedenfalls kritisch zu vermerken –, dass in der gegenwärtigen Strafprozessrechtspraxis immer wieder solche „Rechtsverkürzungen“ auf richterrechtlicher Grundlage erfolgen (so etwa die Einschränkung der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls76 oder die Quasi-Präklusion im Beweisantragsrecht durch das Fristsetzungsmodell77). Gerade hier wäre eine einschränkende gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich vergleichsweise unkritisch und daher leicht möglich, so dass das Vorpreschen durch die Gerichte die Gefahr birgt, aus rein formalen Gründen – nämlich mangels gesetzlicher Grundlage – die Rechte der Betroffenen zu verletzen.
76
Vgl. BGHSt 51, 88, sowie BVerfGE 122, 248, und dazu krit. Kudlich, BLJ (www.lawjournal.de), 125 ff., sowie speziell zur Kompetenzüberschreitung des BGH bei der Rechtsfortbildung Kudlich/Christensen, JZ 2009, 943 ff. 77 Vgl. nochmals Fn. 51.
Der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen Union Jan C. Schuhr
I. Themenstellung und Überblick In vielen Staaten der Welt ist das auf Strafnormen bezogene Gesetzlichkeitsprinzip Bestandteil der Rechtsordnung. Oft hat es Verfassungsrang. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland etwa steht es in Art. 103 II des Grundgesetzes (GG). Das Gesetzlichkeitsprinzip hat auch Eingang in internationale Übereinkommen gefunden. Beispiele hierfür sind Art. 15 des Internationalen Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte1 und Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)2. Naturgemäß entstehen Verschränkungen zwischen den nationalen und internationalen Regelungen.3 So gehören in der Bundesrepublik sowohl Art. 103 II GG als auch Art. 7 EMRK zum unmittelbar innerstaatlich geltenden Recht. Zum Recht der Europäischen Union (EU), dem Unionsrecht sowie früher dem Gemeinschaftsrecht,4 gehört das Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls. Doch seine dortige Verortung ist alles andere als übersichtlich. Heute steht das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Dieser hat enge Verbindungen zu Art. 7 EMRK, auch wenn die EMRK selbst nicht zum Unionsrecht gehört5 und die EU ihr bislang noch nicht beigetreten ist. Art. 49 GRCh aber ist neu, und es gibt schon wesentlich länger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zum Gesetzlichkeitsprinzip bei Sanktio1 Resolution 2200 A (XXI) der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 16. 12. 1966, in Kraft getreten am 23. 3. 1976 (für die Bundesrepublik Deutschland vgl. BGBl. 1973 II S. 1553). 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (CETS Nr. 5; BGBl. 1952 II S. 686). Sie gilt seit 1. Juni 2010 in der Fassung des Protokolls Nr. 14 vom 13. Mai 2004 (CETS Nr. 194; BGBl. 2006 II S. 138 ff.; 2010 II S. 1196 und 1276). 3 Vgl. statt vieler Schmahl, EuR 2008 Beiheft 1, 7 ff. 4 Oft spricht man einfach vom „Europarecht“. Zum Europarecht im weiteren Sinne gehört aber auch die EMRK, ohne zum Unionsrecht zu gehören. Weil diese Differenzierung im vorliegenden Zusammenhang eine gewisse Bedeutung hat, wird die Bezeichnung „Europarecht“ hier vermieden. 5 Die EMRK ist eine Konvention des von der EU unabhängigen Europarats.
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Jan C. Schuhr
nen mit Strafcharakter. Auch zwischen dieser Rechtsprechung des EuGH und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 7 EMRK bestehen enge Verbindungen. Dass es solche Rechtsprechung gibt, ist auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlich. Die EU hat keine Allzuständigkeit. Es gelten vielmehr der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung6 und das Subsidiaritätsprinzip7. Strafrecht fiel traditionell nicht (bzw. nur in einem eng umgrenzten Bereich) in den Kompetenzbereich der EU bzw. der Europäischen Gemeinschaften. Es war aber umgekehrt auch nicht ausgenommen, sodass sich aus dem Sachzusammenhang zu einem originären Zuständigkeitsbereich die Kompetenz zu einer europäischen Regelung von Sanktionen ergeben konnte.8 Im Vertrag von Lissabon sind nunmehr sogar originär strafrechtliche Kompetenzen vorgesehen. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über Ort und Inhalt des Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht geben. Sein Gegenstand sind die Gründungsverträge und die Rechtsprechung des EuGH. Es geht dabei um eine Bestandsaufnahme. Eine eingehende Erörterung bislang ungelöster bzw. unbefriedigend gelöster Probleme muss einer wesentlich umfangreicheren Arbeit vorbehalten bleiben.
II. Unionsrecht und Sanktionsnormen mit strafendem Charakter Die EU ist eine supranationale Organisation9 mit primär wirtschaftspolitischen Zielen und Zuständigkeiten. Weil sich das Gesetzlichkeitsprinzip auf Sanktionsnormen bezieht, muss man sich vergegenwärtigen, mit welchen Sanktionsnormen bzw. was für Bezügen auf Sanktionsnormen im Unionsrecht zu rechnen ist. Die Frage strafrechtlicher Kompetenzen der EU war zumindest vor dem Vertrag von Lissabon10 so heftig umstritten,11 dass ihre Vertiefung hier nicht möglich ist. Im vorliegenden 6
Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV); siehe auch Art. 1 Unterabs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 5, Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 2 S. 2 EUV – zu Gefahren aus gleichwohl unklarer Kompetenzabgrenzung und Zielkonflikten siehe Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 ff. Auch wenn seine Warnungen sich auf den letztlich nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrag beziehen, bleiben sie mit Bezug auf den Vertrag von Lissabon aktuell. 7 Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 EUV. 8 Eingehend Vogel, GA 2003, 314 ff.; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, 2005, S. 227 ff. 9 Vgl. statt vieler Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 1 mit weiteren Nachweisen. 10 Unterzeichnet am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009. 11 Statt vieler siehe dazu Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 9 Rn. 2, § 10 Rn. 1; Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 8 Rn. 9 ff., 48 ff.; Hugger, NStZ 1993, 421 ff. sowie insbesondere Urteil des EuGH vom 16. Juni 2005, M. Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 34 und 43 – 45 (= JZ 2005, 838 = NJW
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU
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Zusammenhang genügt aber ein knapper Abriss zu Sanktionsnormen mit strafendem Charakter im Unionsrecht, der zeigt, weshalb das Unionsrecht ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip enthält und der Gerichtshof darüber urteilt. In einigen von der EU erlassenen Verordnungen wird die Kommission zur Verhängung von Sanktionen, insbesondere Geldbußen, ermächtigt. Ebenso erlässt die EU Richtlinien (bzw. erließ sie Rahmenbeschlüsse), in denen sie die Mitgliedstaaten zur Schaffung von Sanktionsnormen verpflichtet.12 Dass es dabei meist nicht um im engeren Sinne strafrechtliche Sanktionen geht, steht der Anwendung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips nicht entgegen. Ihm genügt als Bezugspunkt vielmehr die Androhung bzw. Verhängung von Sanktionen, die im weiteren Sinne strafrechtlicher Art sind. Die genannten Sanktionsnormen beruhen jeweils auf strafrechtsfremden Sachzuständigkeiten (Kartellrecht, Agrarpolitik etc.). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Gemeinschaftsgesetzgeber auch Sanktionen androhen bzw. Maßnahmen mit Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten anordnen, wenn er sie für erforderlich hält, um die volle Wirksamkeit von im Rahmen seiner Zuständigkeit erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten.13 Wo immer ein solcher Sachzusammenhang besteht, verschafft dies der EU Zugriff auf die gesamte Spannbreite strafrechtlicher Sanktionen, allerdings begrenzt durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die EU findet zunehmend Anlass, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Zwar ändert die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs nichts an der originären strafrechtlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, soweit Rechtsakte der EU bestehen, setzen diese der Ausübung dieser Kompetenz aber Schranken.14 Nahezu alle das Gesetzlichkeitsprinzip betreffenden bisherigen Entscheidungen des EuGH beziehen sich auf Verordnungen und Richtlinien (sekundäres Unionsrecht bzw. früher sekundäres Gemeinschaftsrecht) dieser Art. Neben dem Gesetzlichkeitsprinzip stehen dabei weitere, ein Ausufern von Sanktionsdrohungen bis zu einem gewissen Grad einschränkende Grundsätze. Insbesondere muss die Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen Be2005, 2839), mit Anmerkungen u. a. von Hillgruber, JZ 2005, 841 ff.; Wehnert, NJW 2005, 3760 ff.; Gärditz/Gusy, GA 2006, 225 ff.; Tinkl, StV 2006, 36 ff.; Bock, ZStW 119 (2007), 664 ff.; Tinkl, ZIS 2007, 419 ff.; Rackow, ZIS 2008, 526 ff. 12 Zu Beispielen siehe jeweils Fn. 48 (mit 55 und 73), 79, 101. 13 Urteil des EuGH vom 13. September 2005, Kommission/Rat, C-176/03, Slg. 2005 I-7879, Rn. 48 (= JZ 2006, 307 = EuZW 2005, 632), mit Anmerkungen von Heger, JZ 2006, 310 ff.; Jour-Schröder, EuZW 2005, 550 ff.; Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 ff.; Böse, GA 2006, 211 ff.; Braun, wistra 2006, 121 ff.; Diehm, wistra 2006, 366 ff.; Fromm, ZIS 2007, 26 ff.; Rackow, ZIS 2008, 526 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340 ff.; vgl. auch Art. 83 Abs. 2 AEUV. 14 Urteile des EuGH vom 11. November 1981, G. Casati, 203/80, Slg. 1981, 2595, Rn. 27 (= NJW 1982, 504); vom 2. Februar 1989, I. W. Cowan/Trésor public, 186/87, Slg. 1989, 195, Rn. 19 (= NJW 1989, 2183) und vom 16. Juni 1998, Joh. M. Lemmens, C-226/97, Slg. 1998, I-3711, Rn. 19 (= JZ 1998, 1068 = EuZW 1998, 569) mit Anmerkungen von Kühne, JZ 1998, 1070 f.; Abele, EuZW 1998, 571 f.; Satzger, StV 1999, 132 f.; Gleß, NStZ 1999, 142 ff. und Streinz, JuS 1999, 599 f.
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hörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen des Ziels der jeweiligen Gesetzgebung unerlässliche Maßnahme darstellen.15 Im Vertrag von Maastricht16 wurde eine „justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ – in der Knappheit dieser Worte – vereinbart (Art. K.1 Nr. 7 EUV a.F. [Maastricht]17). Mit dem Vertrag von Amsterdam18 wurde daraus ein ganzer Titel (Art. 29 bis 42 EUVa.F. [Amsterdam]19) zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Hier wurde auch das seither bestehende Ziel formuliert, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 2 Spiegelstrich 4 und Art. 29 Unterabs. 1 EUV a.F. [Amsterdam]) zu schaffen und zu erhalten. Im Hinblick auf das materielle Strafrecht sahen Art. 31 lit. e EUV a.F. [Amsterdam] und insoweit unverändert Art. 31 Abs. 1 lit. e EUV in der Fassung des Vertrages von Nizza20 die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierter Kriminalität, Terrorismus und illegalen Drogenhandels vor. Das Mittel hierzu waren einstimmig zu fassende Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV a.F. [Amsterdam und Nizza]. Rahmenbeschlüsse waren den Richtlinien ähnliche Rechtsakte, nicht unmittelbar anwendbar, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überließen die Wahl der Form und der Mittel aber dem einzelnen Mitgliedstaat. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) umbenannt in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV); der EUV ist (neugefasst) geblieben.21 Nach Art. 3 Abs. 2 EUV „bietet“ die EU nunmehr „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ und hat hierzu nunmehr eine eigene, aber mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV).22 Dieser Raum wird im AEUV eingehend behandelt. Dessen dritter Teil be15 A.a.O., Fn. 13; die Passage des zu einem Rahmenbeschluss mit umweltrechtlichem Hintergrund ergangenen Urteils lautet in der verbindlichen französischen Fassung: „Cette dernière constatation ne saurait cependant empêcher le législateur communautaire, lorsque l’application de sanctions pénales effectives, proportionnées et dissuasives par les autorités nationales compétentes constitue une mesure indispensable pour lutter contre les atteintes graves à l’environnement, de prendre des mesures en relation avec le droit pénal des États membres et qu’il estime nécessaires pour garantir la pleine effectivité des normes qu’il édicte en matière de protection de l’environnement.“ – Beachte dazu heute Art. 49 III GRCh. 16 Unterzeichnet am 7. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993. 17 ABl. C 224 vom 31. 8. 1992, S. 97. 18 Unterzeichnet am 2. Oktober 1997, in Kraft getreten am 1. Mai 1999. 19 ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 164. 20 Beschlossen am 11. Dezember 2000, unterzeichnet am 26. Februar 2001, in Kraft getreten am 1. Februar 2003 – Abl. C 325 vom 24. 12. 2002, S. 23. 21 Konsolidierte Fassungen gibt das ABl. C 115 vom 9. Mai 2008. 22 Vgl. dazu Müller-Graff, EuR 2009 Beiheft 1, 105 ff.; Nettesheim, EuR 2009, 24 ff.; sowie (zum Verfassungsvertrag) Pache (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005, mit hier einschlägigen Beiträgen von Pache,
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trifft „die internen Politiken und Maßnahmen der Union“. Er beginnt mit Titeln zum Binnenmarkt, zur Zollunion, zu Landwirtschaft und Fischerei sowie zur Freizügigkeit nebst freiem Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. In Titel V dieses Teils, noch vor den Gemeinsamen Regeln zum Wettbewerb, zu Steuerfragen und zur Angleichung von Rechtsvorschriften, zur Wirtschafts- und Währungspolitik u.s.w. behandeln nun die Art. 67 bis 89 AEUV den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Dieser Titel enthält in Kapitel 4 die Regeln zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82 – 86 AEUV) und im Kapitel 5 diejenigen zur polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87 – 89 AEUV).23 Die zum „Kerngeschäft“ der Union gehörende justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Kapitel 3) kommt demgegenüber mit einem einzigen Artikel aus. Die Zusammenarbeit in Zivilsachen und die Zusammenarbeit in Strafsachen sollen gleichermaßen auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruhen. Beide umfassen Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Soweit die Maßnahmen sich auf Art. 82 Abs. 2 AEUV (Strafverfahrensrecht) oder Art. 83 AEUV (materielles Strafrecht) stützen, dürfen durch sie nur Mindestvorschriften festgelegt werden und dies ausschließlich in Form einer Richtlinie. Auch das Mehrheitsprinzip bleibt hier weiterhin erheblich eingeschränkt.24 Im materiellen Strafrecht („Festlegung von Straftaten und Strafen“) darf die Union künftig Mindestvorschriften „in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.“ (Art. 83 Abs. 1 Unterab. 1 und 2 AEUV).25 Mit einstimmigem Beschluss und Zustimmung des Parlaments kann der Rat weitere Kriminalitätsbereiche bestimmen, die die Kriterien erfüllen (Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 3 AEUV). Die Möglichkeit, S. 9 ff., Ruffert, S. 14 ff., Baldus, S. 34 ff., Schünemann, S. 81 ff. und v. Bubnoff, S. 101 ff.; Weigend, ZStW 116 (2004), 275 ff.; sowie Zuleeg (Hrsg.), Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2007, mit Beiträgen von Bitter, S. 9 ff., Esser, S. 25 ff., Günther, S. 47 und Gusy, S. 61 ff. 23 Siehe dazu Böse, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 151 ff. 24 Zu Form und Verfahren der Gesetzgebung siehe grundsätzlich Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 sowie Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 1 i.V.m. Art. 288, 289, 294 sowie 231, 238 Abs. 1 AEUV und zum Initiativrecht der Mitgliedstaaten Art. 76 AEUV. In Art. 82 Abs. 3 und 83 Abs. 3 AEUV werden jedoch einem Erfordernis der Zustimmung jedes Mitgliedstaats relativ nahe kommende Sonderregeln aufgestellt und zugleich die Möglichkeit einer Verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV und Art. 326 ff. AEUV) einer Gruppe von Mitgliedstaaten vorgesehen. 25 Näher dazu Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 8 Rn. 18 ff.
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auf anderer Kompetenzgrundlage ergehende Harmonisierungsmaßnahmen mit „unerlässlichen“ strafrechtlichen Maßnahmen zu begleiten, bleibt daneben ausdrücklich bestehen (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Im Strafverfahrensrecht wurden weitgehende Zuständigkeiten neu aufgenommen (Art. 82 Abs. 2 AEUV). Neben diesen Befugnissen der EU stehen weitere mit zumindest indirekter Auswirkung auf das materielle Strafrecht. So darf sie insbesondere Regeln und Verfahren festlegen, um die Anerkennung aller Arten von gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sicherzustellen und um Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu beheben (Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Mit der Ausdehnung strafrechtlicher Kompetenzen der EU wachsen auch der Anwendungsbereich eines strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips und das Bedürfnis nach ihm und seiner Geltung in allen Mitgliedstaaten. Dies kann sich noch weiter verstärken, wenn der institutionelle Ausbau der EU voranschreitet. Der Vertrag von Lissabon ermöglicht erstmals26 die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 AEUV). Wird sie eingerichtet, soll sie Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union bekämpfen und kann eventuell sogar mit der Verfolgung schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension befasst werden.
III. Die Bezeichnung des Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht Das Gesetzlichkeitsprinzip hat viele Aspekte und viele Namen. Nicht selten werden all diese Aspekte in der deutschen Rechtssprache gemeinsam als „Bestimmtheitsgrundsatz“ bezeichnet. Oft wird dieser Begriff dabei synonym mit „Art. 103 II GG“ verwendet. Um abzustecken, worum es dabei geht, sind eine etwas ausdifferenziertere Sprechweise und ein engeres Verständnis des Begriffs „Bestimmtheitsgrundsatz“ hilfreich. Mit der Nennung der folgenden Aspekte soll nicht gesagt sein, dass sie das Gesetzlichkeitsprinzip im Unionsrecht adäquat abbilden. Sie legen erst einmal nur das begriffliche Vorverständnis offen, mit dem sich ein deutscher Jurist diesem zu nähern versucht:27 Man kann einen Bestimmtheitsgrundsatz und ein Analogieverbot einander gegenüberstellen. Dann versteht man den Bestimmtheitsgrundsatz meist als an den Gesetzgeber gerichtet und auf die Formulierung von Gesetzen bezogenen (nullum crimen sine lege certa). Das Analogieverbot versteht man im Kontext dieser Unterscheidung als an die Anwender des Rechts, insbesondere Richter, gerichtet und auf die Methode der Rechtsfindung bezogen (nulla poena sine lege stricta, nulla poena sine crimine
26 Es gibt aber bereits Eurojust, siehe dazu Art. 85 AEUV sowie Esser/Herbold, NJW 2004, 2421. 27 Vgl. z. B. Jähnke, ZIS 2010, 463 ff.
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und nullum crimen sine poena legali28). Dem Analogieverbot kann man das Verbot von Gewohnheitsrecht zur Seite stellen. Je nach Verständnis des Analogieverbots ist das Verbot von Gewohnheitsrecht dessen Korrelar, also logische Folge des Analogieverbots, oder ein selbständiges, neben das Analogieverbot tretendes und dieses ergänzendes Verbot. Auf Seiten des Bestimmtheitsgrundsatzes, d. h. als an den Gesetzgeber gerichtete Norm, korrespondiert dem Verbot von Gewohnheitsrecht dann das Gebot der Schriftlichkeit von Strafdrohungen (nullum crimen sine lege scripta). Traditionell mit dem Gesetzlichkeitsprinzip verbunden ist das Rückwirkungsverbot. Je nach Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips kann man sich auch das Rückwirkungsverbot als Korrelar des Gesetzlichkeitsprinzips oder als selbständigen Rechtssatz vorstellen. Jedenfalls muss sich das Rückwirkungsverbot wiederum sowohl an den Gesetzgeber – als Verbot rückwirkender Gesetzgebung (nullum crimen sine lege praevia) – als auch an den Rechtsanwender – als Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafrecht (nulla poena sine lege praevia) – richten. Die Verbote beziehen sich jeweils auf dem Täter bzw. dem Beschuldigten nachteilige Rechtssätze. Werden strafrechtliche Vorschriften geändert, ordnen viele Rechtsordnungen an, dass bei der Sanktionierung von vor der Änderung begangenen Taten die dem Täter günstigere Rechtslage (lex mitior) zugrundezulegen ist (z. B. § 2 III StGB). Folglich gilt gegebenenfalls also sogar ein Gebot der Rückwirkung. Der Sprachgebrauch des EuGH in Entscheidungen zum Gesetzlichkeitsprinzip war über die Jahre nicht einheitlich. Zum Teil ist das eine Selbstverständlichkeit, denn nach Art. 29 bis 31 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs29 kann jede der heute 23 Amts- und Arbeitssprachen der EU Verfahrenssprache sein und die Sprache der verbindlichen Fassung der Entscheidung entsprechend wechseln. Doch auch wenn man dies in Rechnung stellt, war die Bezeichnung des Gesetzlichkeitsprinzips in einschlägigen Entscheidungen zunächst bemerkenswert uneinheitlich und Übersetzungen in verschiedene Sprachen „streuten“ stark. Eine rein terminologische Unsicherheit, die den Inhalt nicht beträfe, wäre wenig interessant. Als die Entscheidungen ergingen, war das Gesetzlichkeitsprinzip im geschriebenen primären Unionsrecht bzw. Gemeinschaftsrecht aber noch nicht enthalten, wirkten die Formulierungen des Gerichts also notwendig prägend.
28 Feuerbach hatte in seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts (2. Aufl. 1803, § 20 S. 20 f., Hervorhebungen im Original) die Grundsätze „I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege).“, „II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine).“ und „III. Das gesetzlich bedrohte Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali).“ formuliert. Bei II. ist gemeint, dass wirklich ein den Tatbestand erfüllendes Verhalten vorliegen muss. Bei III. ist gemeint, dass eine Straftat eine gesetzliche Strafandrohung voraussetzt. 29 Konsolidierte Fassung ABl. C 177 vom 2. 7. 2010; ursprünglich vom 19. Juni 1991 (ABl. L 176 vom 4. 7. 1991, S. 7 und Berichtigungen ABl. L 383 vom 29. 12. 1992, S. 117).
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Zunächst (1979) prüfte der EuGH in einer in deutscher Sprache verbindlichen Entscheidung die „Unbestimmtheit von Sanktionsnormen“.30 1984 wurde eine in niederländischer Sprache verbindliche Entscheidung mit der Formulierung „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit (,nullum crimen sine lege‘), der Verhältnismäßigkeit […]“ wörtlich ins Deutsche übertragen.31 Die Wendung „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ bzw. leichte Abwandlungen davon finden sich danach nicht nur in Übersetzungen32, sondern auch in einer in deutscher Sprache verbindlichen Entscheidung.33 Dieser Sprachgebrauch stand aber neben anderen Formulierungen, etwa in einer Übersetzung aus dem Italienischen „Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen“34 und in einer unter anderem auch in deutscher Sprache verbindlichen Entscheidung „Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von Tatbestand und Strafe (nullum crimen, nulla poena sine lege)“35. Unabhängig von der Frage, welche Formulierung wann wie häufig gewählt wurde und ob sie einer verbindlichen Entscheidung oder einer Übersetzung entstammt, dürfte der künftige deutsche Sprachgebrauch im Unionsrecht durch die Überschrift von Art. 49 GRCh geprägt werden. Seit Ende 2000 fand er als bald verbindliche Formulierung und seit Ende 2009 als geltendes Recht weithin Beachtung. Die Überschrift lautet „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“, wobei mit dem Verhältnismäßigkeits30 Urteil des EuGH vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche & Co. AG/Kommission, 85/76, Slg. 1979, 461, Überschrift bei Rn. 128, siehe auch Rn. 130 (= NJW 1979, 2460). 31 Urteil des EuGH vom 29. Februar 1984, Estel NV/Kommission, 270/82, Slg. 1984, 1195, Rn. 9 (Hervorhebung nicht im Original) – im Niederländischen hieß es „het wettigheidsbeginsel (,nullum crimen sine lege‘), het […]“. 32 Z.B. Urteile des EuGH vom 25. Juni 1997, Euro Tombesi u. a., C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Slg. 1997, I-3561, Rn. 43; vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld VZW/Leden van de Ministerraad, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 49 (= NJW 2007, 2237 = EuGRZ 2007, 273; zu Anmerkungen siehe Fn. 47) – die wörtliche Übersetzung der verbindlichen niederländischen Formulierung „legaliteitsbeginsel ter zake van strafbare feiten en straffen (nullum crimen, nulla poena sine lege)“ wäre wohl eher „Gesetzlichkeitsprinzip“ gewesen –; vom 3. Juni 2008, The Queen, auf Antrag der International Association of Independent Tanker Owners (Intertanko) u. a./Secretary of State for Transport, C-308/06, Slg. 2008, I-4057, Rn. 70 (= EuZW 2008, 439) und vom 28. Oktober 2010, Belgisch Interventie- en Restitutiebureau/SGS Belgium NV u. a., C-367/09, Slg. 2010, Rn. 39. 33 Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH/Kommission und Rat, C-266/06 P, abgekürzt in Slg. 2008, I-81, Rn. 38. 34 Urteil des EuGH vom 12. Dezember 1996, X, C-74/95 und C-129/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 25 und 31 (Hervorhebung nicht im Original) – in der verbindlichen italienischen Fassung hieß es „principio della previsione legale dei reati e delle pene“, die Übersetzung war also nicht wörtlich. 35 Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a./Kommission, C-189/ 02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Slg. 2005, I-5425, Rn. 217 (Hervorhebung nicht im Original; zu Anmerkungen siehe Fn. 89). Die weiteren verbindlichen Formulierungen lauten (englisch) „principle that offences and punishments are to be strictly defined by law (nullum crimen, nulla poena sine lege)“ und (dänisch) „princippet om, at strafbare forhold og straffe skal have lovhjemmel (nullum crimen, nulla poena sine lege)“.
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grundsatz der hier nicht einschlägige Art. 49 III GRCh gemeint ist. Man wird also davon ausgehen müssen, dass „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Straftaten und Strafen“ der Name des Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht ist. „Gesetzmäßigkeit“ ist in der deutschen Rechtssprache keine sehr übliche Bezeichnung für das Gesetzlichkeitsprinzip. Das Gesetzlichkeitsprinzip stellt – wie gerade skizziert – Anforderungen an Rechtsquellen bzw. reglementiert den Umgang mit Rechtsquellen, ohne ihn vollständig zu regeln (der Wortlaut wird als eine Grenze der Auslegung vorgestellt, nicht aber als alleiniger Maßstab der Anwendung des Gesetzes). Mit „Gesetzmäßigkeit“ meint man hingegen üblicherweise eine (in jeder Hinsicht) richtige Anwendung des Gesetzes. Das setzt insbesondere eine – soweit sie sich auf die gefundene Rechtsfolge auswirkt – zutreffende Auslegung – also weit mehr als lediglich die Beachtung der Wortlautgrenze – voraus. Dabei mag es mehrere widerstreitende und gleichwohl jeweils zutreffende, „vertretbare“ Auslegungen und dann auch unterschiedliche jeweils nicht zu beanstandende Ergebnisse der Anwendung des Gesetzes geben, ohne dass dies zur Beliebigkeit der Gesetzesanwendung führen und damit das Prädikat „gesetzmäßig“ seines Sinns entleeren würde.36 Freilich bestehen auch in der „allgemeinen“ deutschen Rechtssprache enge Beziehungen zwischen dem Gesetzlichkeitsprinzip und der Forderung nach Gesetzmäßigkeit; insbesondere setzt Gesetzmäßigkeit im Strafrecht – weil das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip zum geltenden Recht gehört – die Befolgung des Gesetzlichkeitsprinzips voraus. In der deutschen Allgemeinsprache bezeichnet man ein Geschehen als „gesetzmäßig“, wenn es einer Gesetzlichkeit – einem Gesetz, das aber nicht bis ins letzte Detail bekannt zu sein braucht und nicht ausnahmslos gelten muss – folgt. Die Bedeutung des allgemeinsprachlichen Ausdrucks kommt dem Inhalt des Gesetzlichkeitsprinzips also sehr nahe. Aber die rechtliche Unterscheidung eines die Zulässigkeit von Strafdrohungen und der Bestrafung von Personen begrenzenden Gesetzlichkeitsprinzips, eines die Anwendung des Gesetzes insgesamt betreffenden Prädikats37 der Gesetz(es)mäßigkeit (die ein Teil der die Rechtsanwendung insgesamt betreffenden Rechtmäßigkeit ist) und des Strafverfolgung gebietenden Legalitätsprinzips im Verfahrensrecht droht dabei sprachlich verloren zu gehen, und recht unterschiedliche Konzepte können verschwimmen.
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Eingehend Schuhr, JZ 2008, 603 ff. Von einem „Prädikat“ wird hier gesprochen, weil ein Gesetz das Gebot, es sei zu befolgen, zwar stets implizit voraussetzt, dieses Gebot aber nicht selbst sinnvoll aufstellen kann, denn die Geltung eines solchen gesetzlichen Gebots würde die Pflicht zur Befolgung des Gesetzes bereits voraussetzen. Das Gebot eines bestimmten Verhaltens und das Gebot der Befolgung dieses Gebots fallen stets zusammen (und beider Geltung setzt bei positivem Recht eine entsprechende Regelungskompetenz voraus). Gesetzmäßigkeit im gerade angegebenen Sinne gehört daher nicht in das System von Rechtsregeln. Gesetzmäßigkeit ist vielmehr ein Urteil über die Anwendung der Regeln eines solchen Systems. Wenn man eine Regel als „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit“ bezeichnet, wird dies vermengt. 37
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Es ist müßig, der Frage nachzugehen, ob der vom EuGH und in der GRCh gewählte Name „schön“ ist. Es erscheint aber wichtig, die gerade getroffenen Unterscheidungen weiterhin zu bedenken, auch wenn der Name das nicht begünstigt.
IV. Schriftlichkeit und unionsrechtskonforme Auslegung In der kontinentaleuropäischen Tradition wird bisweilen als Selbstverständlichkeit unterstellt, dass nur ein geschriebenes Strafgesetz bestimmt sein könne. Dem korrespondiert eine Begrifflichkeit, in der sich das Schriftlichkeitsgebot als Korrelar des Bestimmtheitsgrundsatzes darstellt (so dass sich zwischen den oben angegebenen Prinzipien symmetrische logische Beziehungen ergeben, wenn man das Analogieverbot so weit versteht, dass das Verbot des Gewohnheitsrechts logisch aus ihm folgt). Demgegenüber gibt es im anglo-amerikanischen Recht common law crimes. Deren Strafbarkeit ergibt sich nur aus case law. Daran zeigt sich, dass das Schriftlichkeitsgebot weit weniger selbstverständlich ist, als teilweise angenommen. Wie der Supreme Court of the United States38 hat auch der EGMR zu Art. 7 EMRK entschieden, dass bereits etablierte common law crimes zwar weiterhin die Grundlage für eine Bestrafung darstellen können, die Gerichte aber keine neuen common law crimes mehr „schaffen“ dürfen.39 Die Position des Unionsrechts und des EuGH zu dieser Frage ist noch nicht so weit ausgearbeitet. An dieser Stelle kann daher nur das Problemfeld für das Unionsrecht umrissen werden. Dem EuGH stellt sich die Frage nach dem Schriftlichkeitserfordernis zumindest bislang nicht so scharf wie dem EGMR. Das Unionsrecht wird – wie das kontinentaleuropäische Recht – vom gesetzten, geschriebenen Recht dominiert. Der EuGH postuliert keine neuen Straftatbestände. Die Frage nach dem Schriftlichkeitserfordernis ist für das Unionsrecht daher in erster Linie – ähnlich wie im deut38
United States v. Hudson and Goodwin, 11 U.S. 32 (1812). Grundlegend zu den Begriffen „law“ bzw. „loi“ und „droit“ in der EMRK (aber zur Frage einer wirksamen Beschränkung nach Art. 10 II EMRK) war das Urteil des EGMR Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 1) [P], 26. April 1979, Nr. 6538/74, Serie A Nr. 30, § 47 f. (= dt. EGMR-E 1, 366 = EuGRZ 1979, 386). Für Art. 7 EMRK wurde das dort entwickelte Gesetzesverständnis ausdrücklich übernommen (Urteile des EGMR Kafkaris ./. Zypern [GK], 12. Februar 2008, Antrag Nr. 21906/04, § 139, vorgesehen für die Reports, [= dt. NJOZ 2010, 1599]; Liivik ./. Estland, 25. Juni 2009, Antrag Nr. 12157/05, § 93 f. und Scoppola ./. Italien (Nr. 2) [GK], 17. September 2009, Antrag Nr. 10249/03, vorgesehen für die Reports, § 99). Schon länger unterscheidet der EGMR bei Art. 7 EMRK zwischen der gerichtlichen Interpretation von Normen einerseits und andererseits der richterrechtlichen Schaffung neuer Normen oder Änderung bestehender Normen (Urteile des EGMR G. ./. Frankreich, 27. September 1995, Antrag Nr. 15312/89, Serie A Nr. 325-B, § 25 [= dt.: ÖJZ 1996, 150]; S.W. ./. Vereinigtes Königreich, 22. November 1995, Antrag Nr. 20166/92, Serie A Nr. 335-B, § 36 [= dt.: ÖJZ 1996, 356]; C.R. ./. Vereinigtes Königreich, 22. November 1995, Antrag Nr. 20190/92, Serie A Nr. 335-C, § 34 und Cantoni ./. Frankreich [GK], 15. November 1996, Antrag Nr. 17862/91, Reports 1996-V, §§ 29, 31 – 35 [= dt.: EuGRZ 1999, 193 = ÖJZ 1997, 579]). 39
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schen Recht – die Frage danach, inwieweit allgemeine Lehren und in der Rechtsprechung zur Anwendung der Straftatbestände aufgestellte Prinzipien die Strafbarkeit des Täters begründen dürfen (bzw. in welchem Maße sie im geschriebenen Gesetz Anhaltspunkte finden müssen) und ob die Änderung einer Rechtsprechung das Gesetzlichkeitsprinzip verletzen kann. In zweiter Linie kann aber z. B. die Frage aufkommen, ob es zur Umsetzung einer unionsrechtlichen Richtlinie, die die Schaffung eines Straftatbestandes fordert, in England ausreicht, wenn dort bereits ein die Richtlinie erfüllender Satz des common law gilt. Auch vor dem EuGH kann sich die Frage daher irgendwann scharf stellen. Auch ohne Entscheidung in der Sache lässt sich über die grundsätzliche Haltung des EuGH doch bereits ein wenig sagen: Wenn er in einem Fall am Maßstab des Gesetzlichkeitsprinzips prüft, bezieht er sich ohne weiteres auf den Wortlaut der gegenständlichen Normen. Er formuliert die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips auch so, dass sie den Wortlaut einer Norm voraussetzen.40 Hier zeigt sich einmal mehr der französisch-deutsche Einfluss auf die EU und eine zumindest unterschwellig starke Tendenz zugunsten eines Schriftlichkeitserfordernisses. Praktisch größere Bedeutung als diese Zuspitzung der Frage nach der Schriftlichkeit hat ein anderes, eng verwandtes Problem: Nationales Recht ist unionsrechtskonform auszulegen41 – wie innerstaatliches Recht niedrigeren Rangs höherrangigem Recht konform auszulegen ist. Andererseits begrenzt bei Geltung eines Gesetzlichkeitsprinzips mit Schriftlichkeitserfordernis der Wortlaut der geschriebenen Norm den Auslegungsspielraum. Wie man sich eine solche Grenzziehung vorzustellen hat, ist ein Problem für sich, aber ohne eine Vorstellung dieser Art hätte das Schriftlichkeitsgebot keinen Inhalt. Wenn der EuGH ernsthaft von einem Schriftlichkeitserfordernis ausgeht, wird er – soweit es um die Rechtmäßigkeit strafrechtlicher Sanktionen geht – ausgehend vom Wortlaut der nationalen Rechtsgrundlage eine Grenze ziehen müssen, innerhalb derer eine unionsrechtskonforme Auslegung nur möglich ist. Das wird dann dazu führen, dass Spannungen zwischen dem Unionsrecht und nationalem Recht – die in allen Rechtsgebieten zur Normalität geworden sind – sich im Strafrecht gehäuft als echter Normwiderspruch darstellen werden, der de lege lata nicht auflösbar ist. Ob der EuGH ernsthaft von einem Schriftlichkeitserfordernis ausgeht, wird sich daher wohl primär daran zeigen, ob er in solchen Kollisionsfällen bereit ist (soweit die entsprechenden Fragen rechtshängig sind), die folgenden rechtlichen Feststellungen zu treffen: 1. Dass entgegen einer Richtlinie (oder anderer Regelungen des sekundären Unionsrechts) eine strafrechtliche Sanktion mangels ausreichender nationaler Rechtsgrundlage – und sei sie auch gerade zur Umsetzung der Richtlinie geschaffen worden, aber eben doch nicht ausreichend – nicht verhängt wurde, ist unionsrechtlich rechtmäßig, ja sogar vom primären Unionsrecht (nämlich 40 Siehe z. B. Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH (siehe Fn. 33), Rn. 39 f. und 44 (unten bei Fn. 51 f. wörtlich zitiert). 41 Oft spricht man hier von „europarechtskonformer Auslegung“ und meint dasselbe. Vgl. auch insoweit Fn. 4. – Einen Überblick über die zugrundeliegenden Probleme und einschlägige Literatur gibt Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 10.
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Art. 49 GRCh) geboten. 2. Dadurch, dass der Mitgliedstaat bislang keine ausreichende Rechtsgrundlage zur Verhängung der Sanktion schuf, verstößt er gegen die Verträge. Ein solches Vorgehen macht das Normensystem zumindest kurz- und mittelfristig weniger effizient als ein System, in dem Korrekturen unter dem Mantel „konformer“ Auslegung „großzügig“ vorgenommen werden. Die Judikative stößt hier ja nur einen komplexen politischen und administrativen Prozess mit letztlich ungewissem Ausgang an, statt selbst eine rechtskonforme Lage zu schaffen. Von seinen Vorstellungen praktischer Wirksamkeit („effét utile“) müsste der EuGH sich im Strafrecht eventuell recht weit entfernen. Vom Standpunkt des Gesetzlichkeitsprinzips – und auch vom Standpunkt der Gewaltenteilung und des unionsrechtlichen Zuständigkeitsregimes – wäre das aber nichts Besonderes, sondern gerade die vorgesehene Konsequenz eines Verstoßes. Zu diesem Problemkreis gibt es bereits einige Entscheidungen des EuGH, deren zentrale Aussagen im Folgenden nachgezeichnet werden. Seine Haltung zur Kernfrage hat der EuGH aber noch nicht in Entscheidungen festgelegt. Eine Richtlinie kann für sich allein, d. h. ohne zu ihrer Durchführung erlassene innerstaatliche Rechtsvorschriften keine strafrechtliche Verantwortlichkeit festlegen und eine solche nicht verschärfen.42 Insbesondere auch im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts darf eine Richtlinie nicht zur Begründung oder Schärfung der Strafbarkeit herangezogen werden, soweit diese Richtlinie im nationalen Recht noch nicht umgesetzt ist.43 Nationale Vorschriften, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen wurden, sind gemeinschaftsrechtskonform auszulegen; für Strafsachen macht der EuGH keine 42 In seinem Urteil vom 11. Juni 1987, Pretore di Salò/X, 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 20 gründete der EuGH dies auf den Grundsatz, dass die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie nicht zum Nachteil eines Einzelnen gehen darf (dazu Urteil des EuGH vom 26. Februar 1986, M.H. Marshall/Southampton u. a., 152/84, Slg. 1986, 723, Rn. 48 [= NJW 1986, 2178]), entsprechend in seinen Urteilen vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen BV, 80/86, Slg. 1987, 3969, Rn. 13 (= EuR 1988, 391); vom 26. September 1996, L. Arcaro, C-168/95, Slg. 1996, I-4705, Rn. 37 (= EuZW 1997, 318); vom 12. Dezember 1996, X (siehe Fn. 34), Rn. 24 und vom 11. November 2004, Antonio Niselli, C-457/02, Slg. 2004, I-10853, Rn. 29 f. (= EuZW 2005, 219 = NVwZ 2005, 306), mit Anmerkung von Wegener/Lock, EuR 2005, 802 ff. In neueren Entscheidungen stützte er sich zudem auf die speziell strafrechtliche Ausprägung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots (Urteile vom 7. Januar 2004, X, C-60/02, Slg. 2004, I-651, Rn. 61 [= EuZW 2004, 285]; vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a., C-387/02, C-391/02, C-403/02, Slg. 2005 I-3565, Rn. 74 [= JZ 2005, 997]; siehe dazu auch die Anmerkungen von Satzger, JZ 2005, 998 ff.; Luther, EuGRZ 2005, 350 ff. und Gross, EuZW 2005, 371 ff. sowie Dannecker, ZIS 2006, 309 ff. und vom 16. Juni 2005, M. Pupino [siehe Fn. 11], Rn. 45). 43 Urteile des EuGH vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen BV (siehe Fn. 42), Rn. 13, vom 26. September 1996, L. Arcaro (siehe Fn. 42), Rn. 42, vom 12. Dezember 1996, X (siehe Fn. 34), Rn. 24, vom 7. Januar 2004, Kommission/Spanien, C-58/02, Slg. 2004, I-621, Rn. 28 und vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 220 f.
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Ausnahme.44 In einem hierzu entschiedenen Fall, der die Strafbarkeit von InsiderGeschäften betraf, ging es um die Anwendbarkeit einer sowohl in der Richtlinie als auch in der nationalen Vorschrift vorgesehenen Ausnahme von der Strafbarkeit. Der EuGH legte die Ausnahme vom Verbot im Interesse seiner praktischen Wirksamkeit eng aus45 und beanspruchte dafür grundsätzlich auch strafrechtliche Geltung. Er wies aber darauf hin, dass es Sache des vorlegenden Gerichts sei, für die Einhaltung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu sorgen.46
V. Grundsätze des EuGH, Ermessen und Kenntnis Der EuGH hatte den „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ schon längere Zeit vor Art. 49 GRCh als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts entwickelt.47 Mit Art. 49 GRCh greift die Charta diese Rechtsprechung auf. Der EuGH stützte sich darauf, dass das Gesetzlichkeitsprinzip den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegt und durch verschiedene völkerrechtliche Verträge anerkannt wird. Er hob dabei Art. 7 Abs. 1 EMRK hervor und orientierte seine eigene Rechtsprechung an Urteilen des EGMR. Die Rechtsprechung des EuGH hat sich zu einem erheblichen Teil an kartellrechtlichen48 Bußgeldsachen entwickelt, die gegen juristische Personen verhängt wurden. In einer solchen Entscheidung hat der EuGH wesentliche Aspekte seines Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen zusammengestellt und ausgeführt,49 44 Urteil des EuGH vom 22. November 2005, K. Grøngaard und A. Bang, C-384/02, Slg. 2005, I-9939, NJW 2006, 133, Rn. 28. 45 Rn. 27 des Urteils (Fn. 44). 46 Rn. 29 f. des Urteils (Fn. 44). 47 U. a. (vgl. auch Fn. 30 bis 35) Urteile des EuGH vom 12. Dezember 1996, X (siehe Fn. 34), Rn. 25, vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 215 – 219, vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld VZW (siehe Fn. 32) , Rn. 49 – mit Anmerkungen von Braum, wistra 2007, 401 ff.; Tinkl, ZIS 2007, 419 ff.; Michalke, EuZW 2007, 377 f. –, vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH (siehe Fn. 33), Rn. 38 und vom 3. Juni 2008, Intertanko (siehe Fn. 32), Rn. 70. 48 Es geht um Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [101] und [102] des [AEUV]. Dieser lautet: „Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million Rechnungseinheiten oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig: a) gegen Artikel [101] Absatz (1) oder Artikel [102] des [AEUV] verstoßen, […]. Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“ 49 Die Passagen stammen jeweils aus dem Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH (siehe Fn. 33); die verbindliche Sprache des Urteils ist Deutsch (in seinem
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„dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen ein Korrelat des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist, der verlangt, dass jede Gemeinschaftsregelung klar und bestimmt ist.“50 „Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. Urteil Advocaten voor de Wereld, Randnr. 50). Außerdem ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Klarheit des Gesetzes nicht nur anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung zu beurteilen, sondern auch anhand der Präzisierungen durch eine ständige und veröffentlichte Rechtsprechung (vgl. u. a. EGMR, Urteil G./Frankreich vom 27. September 1995, Serie A, Nr. 325-B, § 25). Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass nach dieser Rechtsprechung der Begriff ,Recht‘ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK dem in anderen Bestimmungen der EMRK verwendeten Begriff ,Gesetz‘ entspricht und sowohl das Gesetzes- als auch das Richterrecht umfasst (vgl. Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Randnr. 216).“51 „… [Es wird] nicht verlangt, dass der Wortlaut der einschlägigen Bestimmung, aufgrund deren eine Sanktion verhängt wird, so genau formuliert ist, dass die möglichen Folgen eines Verstoßes gegen sie mit absoluter Gewissheit vorhersehbar sind. … [Das] Erfordernis der Vorhersehbarkeit [steht] einem durch das Gesetz verliehenen Ermessen, dessen Umfang und Ausübungsmodalitäten hinreichend deutlich festgelegt sind, nicht entgegen […].“52
Der EuGH akzeptierte in diesem Fall einen weiten Ermessensspielraum der Kommission. Er stellte aber darauf ab, dass dessen Ausübung durch die Einführung objektiver Kriterien beschränkt war, namentlich die Geldbuße eine im Voraus bezifferbare, absolute Obergrenze hatte.53 Als Rechtssicherheit schaffend sieht der EuGH auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze an, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit, wie sie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz entwickelt wurden.54 Rechtssicherheit ergebe sich – im auf die EGKS zurückgehenden Wettbewerbs- bzw. Kartellrecht – ferner aus den Verhaltensregeln zur Ermessensausübung, welche die Kommission sich selbst auferlegt habe und an die sie nach den Grundsätzen der Gleichbehandlung Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge SA/Kommission, C-413/08 P, Slg. 2010, Rn. 94 f. hat der EuGH sich entsprechend geäußert). 50 Rn. 43 des Urteils (Fn. 49); der EuGH referiert hier zustimmend die Entscheidung des Gerichts erster Instanz. 51 Rn. 39 f. des Urteils (Fn. 49); zu den zitierten Urteilen des EuGH siehe Fn. 47. 52 Rn. 44 f. des Urteils (Fn. 49); der EuGH referiert wiederum zustimmend die Entscheidung des Gerichts erster Instanz. 53 Rn. 50 des Urteils (Fn. 49). 54 Rn. 51 des Urteils (Fn. 49); siehe zum Gleichheitssatz heute auch Art. 20 ff. GRCh sowie Art. 2, 9 EUV, Art. 8 AEUV und zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Art. 49 Abs. 3, 52 Abs. 1 GRCh sowie allgemeiner Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV und Art. 12 lit. b EUV, Art. 69, 276, 296 Unterabs. 1 AEUV.
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und des Vertrauensschutzes rechtlich gebunden sei.55 Schließlich seien Sanktionsentscheidungen der Kommission gerichtlich unbeschränkt nachprüfbar und unbestimmte Rechtsbegriffe der Strafnorm in gefestigter Rechtsprechung konkretisiert worden.56 Selbstgesetzte Verhaltensregeln zur Ermessensausübung bzw. veröffentlichte Leitlinien oder schriftliche Mitteilungen spielen eine bemerkenswerte Rolle im unionsrechtlichen (wettbewerbsrechtlichen) System zur Sicherung der Vorhersehbarkeit von Sanktionen. Im Interesse der Rechtssicherheit prüft der EuGH grundsätzlich alle Stufen der Konkretisierung einer Sanktionsnorm auf hinreichende Vorhersehbarkeit der Sanktion. Er trennt nicht zwischen einer Bestimmtheitsprüfung der Rechtsgrundlage (insbesondere Verordnung) und einer Prüfung der Entscheidung (z. B. auf verbotene Analogie) oder der Berücksichtigung eines Verbotsirrtums (z. B. als entschuldigend oder die Schuld mindernd). Der EuGH verlangt, dass der Entscheider (i.a. die Kommission) im Voraus offenlegt, in welcher Weise er die wesentlichen in der Rechtsgrundlage aufgeworfenen Auslegungsfragen (sowohl bzgl. der Verhaltensnorm als auch bzgl. der Sanktionierung) beantworten will, ohne damit die Einzelfallentscheidung vorwegzunehmen. Z. B. hat der EuGH hinsichtlich Sanktionen wegen der Überschreitung der Erzeugungsquoten für Stahl verlangt, dass die Kommission ihre Berechnungsmethode für die Quoten den Betroffenen von sich aus zu Beginn des Quartals der Erzeugung mitteilt.57 In Ermangelung der nötigen Mitteilung hat der EuGH zur Bemessung der Sanktion im zu entscheidenden Fall die vom Unternehmen selbst angenommene (ihm günstigere) Auslegung (hier: Berechnungsmethode für die Quote) zugrunde gelegt.58 Dass zahlreiche Normen erst dadurch bestimmt werden können, dass die Praxis sie im Zuge ihrer Anwendung konkretisiert, ist einerseits eine unwiderlegliche Wahrheit,59 kann andererseits aber leicht in das Gesetzlichkeitsprinzip aushöhlenden Floskeln missbraucht zu werden. Dem EuGH gelingt es durch seine bemerkenswerte 55
Rn. 52 f. des Urteils (Fn. 49); es ging um die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden (ABl. C 9 vom 14. 1. 1998, S. 3) sowie die Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. C 207 vom 18. 7. 1996, S. 4). Diese sieht der EuGH als Recht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK an und damit als für die Dauer ihres Bestehens bindend und unter das Rückwirkungsverbot fallend (Urteile vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. [siehe Fn. 35], Rn. 211, 222 f. und vom 21. September 2006, JCB Service/Kommission, C-167/04 P, Slg. 2006, I-8935, Rn. 208 f.). 56 Rn. 54 f. und 61 des Urteils (Fn. 49). 57 Urteil des EuGH vom 29. Februar 1984, Estel NV (siehe Fn. 31), Rn. 15. 58 Rn. 32 i.V.m. Rn. 4 des Urteils (Fn. 57). 59 Eingehend Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 22 ff.; Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 186 ff.
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Konstruktion, der Notwendigkeit einer Konkretisierung in der Praxis Rechnung zu tragen und zugleich bestimmte Anforderungen an diese Praxis zu formulieren, die die Vorhersehbarkeit der Entscheidung und damit die Rechtssicherheit erheblich fördern. Das ist eine sehr interessante Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips. Leider ist die Situation, für die der EuGH diese Anforderungen entwickelt hat, vom Massengeschäft einer Staatsanwaltschaft im Allgemeinstrafrecht grundverschieden. Die Anforderungen können nicht einfach übertragen werden. Im Anwendungsbereich der Anforderungen des EuGH ist von vornherein klar, welcher recht überschaubare Adressatenkreis von der Norm erfasst wird, und schon vor der Tat besteht eine gewisse Arbeitsbeziehung zwischen dem Entscheider und den Adressaten. Der EuGH erhält diese Anforderungen nicht in der Schärfe, in der sie ursprünglich herausgestellt wurden, aufrecht. Er hat später entschieden, dass die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Aspekte in der Rechtsgrundlage der Entscheidung nicht aufgezählt sein müssen. Das gelte auch dann, wenn zum Tatzeitpunkt keine den letztlich maßgebenden Aspekt nennenden Leitlinien der Ermessensausübung veröffentlicht waren. Bei einer ca. 50 %-igen Erhöhung einer Geldbuße wegen wiederholter Tat nahm der EuGH ohne weiteres an, dass die Normunterworfenen auch ohne solche Leitlinien in der Lage waren, die Konsequenzen ihres Handelns vorherzusehen.60 Der EuGH prüft die Vorhersehbarkeit für den Adressaten nicht objektiv, nicht abstrakt-generell. Er prüft individuelle Kenntnis bzw. individuelles Kennen-Können und Kennen-Müssen. Das wird deutlich in einem unmittelbar mit der gerade behandelten Entscheidung zusammenhängenden Urteil (selbe Parteien, ein Quartal später). Der EuGH hat dort ausgesprochen, dass das Unternehmen sich von sich aus bei der Kommission erkundigen muss, wenn es weiß, dass diese eine andere Berechnungsmethode verwendet als es selbst, diese Methode seitens des Unternehmens aber möglicherweise noch nicht richtig verstanden wurde oder für falsch gehalten wird.61 Dabei verwendete der EuGH ausdrücklich den Begriff „Legalitätsprinzip (,nulla poena sine lege‘)“62 und sprach zugleich davon, die Klägerin könne sich nicht mehr auf ihre „Gutgläubigkeit oder auf eine mögliche Ungewissheit“ berufen.63 Diese Vermengung der vom Gesetzlichkeitsprinzip gebotenen objektiven Vorhersehbarkeit der Sanktion – als Folge der Bestimmtheit der Norm – und individueller Irrtümer bzw. Verantwortlichkeit für Unkenntnis letztlich nach Fahrlässigkeitsmaßstäben rechtfertigt sich nicht aus der dargestellten Sondersituation, für die der EuGH 60 Urteil des EuGH vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C-3/06 P, Slg. 2007, I-1331, Rn. 25-30 (= EuZW 2007, 145) mit Anmerkung Seitz, EuZW 2007, 304 f. 61 Urteil des EuGH vom 17. Mai 1984, Estel NV/Kommission, 83/83, Slg. 1984, 2195, Rn. 35 f. 62 Überschrift vor Rn. 16 des Urteils (Fn. 61) – verbindlicher Wortlaut: „Legaliteitsbeginsel (,nulla poena sine lege‘)“ –; vgl. dort auch Rn. 29 und 37. 63 Rn. 36 des Urteils (Fn. 61); verbindlicher Wortlaut: „goede trouw, noch op een eventuele onzekerheid“.
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geurteilt hat. Ob sie einen Mangel an nötiger dogmatischer Schärfe darstellt oder eher Dinge, die zusammengehören, zusammenführt, kann hier nicht weiter vertieft werden. Jedenfalls ist es nicht etwa so, dass der EuGH Verbotsirrtümer gänzlich im Rahmen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit abhandeln würde. Er erkennt auch eine eigene Wertungsstufe der Schuld und den Grundsatz nulla poena sine culpa an, vermeidet aber zumindest bislang eine klare Einordnung von Verbotsirrtümern.64 Bisweilen behandelt er sie ohne Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsirrtümern unter dem Gesichtspunkt der Fahrlässigkeit65, bisweilen stellt er pauschal fest, die Berufung auf die Unkenntnis einer Vorschrift sei wegen deren Veröffentlichung ausgeschlossen66, bisweilen behandelt er sie beim Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen67, bisweilen verweist er auf das nationale Recht und eine dortige Entschuldigung68, bisweilen erkennt er (wie § 17 StGB) die Möglichkeit entschuldigender Rechtsirrtümer an und unterscheidet diese Frage von der Vorsätzlichkeit eines Verstoßes69.
VI. Wortlaut und Bestimmtheit der Begriffe Mehrere Entscheidungen des EuGH beziehen sich auf folgende Bestimmung aus einer Verordnung, also im Fall unmittelbar anwendbaren sekundären Unionsrechts: 64
In seinem Urteil vom 17. Mai 1984, Estel NV/Kommission (siehe Fn. 61), Rn. 41 begründet der EuGH die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission immerhin damit, die Klägerin habe ihren Irrtum über die richtige Berechnungsmethode, der zum sanktionierten Verstoß führte, bewusst als Risiko in Kauf genommen, und daher sei „[d]ieser Irrtum […] nicht entschuldbar.“ Der EuGH unterscheidet zwar zwischen Tatsachen- und Rechtsirrtümern und sieht im Unrechtsbewusstsein keine Voraussetzung für Vorsatz (vgl. Urteil des EuGH vom 6. April 1995, Ferriere Nord SpA/Kommission, T-143/89, Slg. 1995, II-917, Rn. 41 mit weiteren Nachweisen). Im selben Zusammenhang meint er aber, die Auskunft eines Rechtsberaters (vor der Tat) könne nicht entschuldigend wirken, und folgert daraus Vorsatz (Urteil des EuGH vom 1. Februar 1978, Miller International Schallplatten GmbH/Kommission, 19/77, Slg. 1978, 131, Rn. 18). 65 So Urteil des EuGH vom 10. Dezember 1985, Stichting Sigarettenindustrie u. a./Kommission, 240/82, 241/82, 242/82, 261/82, 262/82, 268/82 und 269/82, Slg. 1985, 3831, Rn. 60 – 66 66 So Urteile des EuGH vom 12. Juli 1989, Friedrich Binder GmbH & Co. KG/Hauptzollamt Bad Reichenhall, 161/88, Slg. 1989, 2415, Rn. 19 (= DStR 1990, 74) und vom 20. November 2008, Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading BV/Kommission, C-38/ 07 P, Slg. 2008, I-8599, Rn. 61. 67 Siehe dazu oben bei Fn. 61. 68 Urteil des EuGH vom 25. November 1998, Giuseppe Manfredi/Regione Puglia, C-308/ 97, Slg. 1998, I-7685, Rn. 34. 69 So bzgl. Vertragsverletzungen durch Mitgliedstaaten das Urteil des EuGH vom 5. März 1996, Brasserie du Pêcheur SA/Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a., C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 56 (= JZ 1996, 789 = NJW 1996, 1267) mit Anmerkungen u. a. von Ehlers, JZ 1996; 776 ff.; Böhm, JZ 1997, 53 ff.; Streinz, EuZW 1996, 201 ff.; Beul, EuZW 1996, 748 ff.
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„Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“70 Anhand dieser Entscheidungen lassen sich die Einstellung des EuGH zum Wortlaut einer Vorschrift und die Anwendung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Strafen auf Rechtsfolgen ausloten. Der EuGH fühlt sich nicht besonders eng an den Wortlaut gebunden. Er meint ausdrücklich, die Schwere (des Verstoßes) sei unter Heranziehung zahlreicher anderer Faktoren als der Schwere zu ermitteln.71 Das war keineswegs nur eine misslungene Wortwahl. Der EuGH möchte neben den Umständen des Verstoßes auch die Abschreckungswirkung der Geldbuße bei ihrer Bemessung berücksichtigt wissen.72 Diese ist kein Aspekt der Tat. Sie bezieht sich vielmehr auf künftiges Verhalten des Adressaten und Dritter. Inhaltlich ist das weder zu beanstanden noch überraschend. Der EuGH fordert lediglich, dass ein Strafzweck73 bei der Zumessung der Geldbuße berücksichtigt wird. Diesen Inhalt durch Auslegung des Wortes „Schwere“ in die Norm bringen zu wollen, ist aber ein Vorgehen, das das Bestehen einer Wortlautgrenze, d. h. eine Begrenzung zulässiger Auslegung durch den Wortlaut der Vorschrift, von vornherein in Zweifel zieht. Dies gilt umso mehr, als der EuGH die Liste der Zumessungsgesichtspunkte ohnehin nicht für abschließend hält (was mit dem Wortlaut durchaus vereinbar ist).74 Das geht so weit, dass der EuGH auch die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens (als Verschleierung und Behinderung der Ermittlungen gewertete Warnungen anderer Unternehmen) billigt, die in der Vorschrift nicht angelegt, bei der Zumessung von Strafen indes grundsätzlich üblich ist.75 Die Verwendung allgemeiner Begriffe hält der EuGH auch in Verordnungen für bisweilen notwendig. Ein Kriterium, wie weit sie gehen darf, gibt er zwar letztlich 70
Siehe Fn. 48 am Ende. Urteil des EuGH vom 8. Februar 2007, Groupe Danone (siehe Fn. 60), Rn. 25. Der maßgebliche französische Text (letzter Satz von Rn. 24, erster von Rn. 25, Hervorhebung hinzugefügt) lautet: „En vertu de cette disposition, pour déterminer le montant de l’amende, la durée et la gravité de l’infraction dont il s’agit doivent être prises en considération. [Rn. 25:] S’agissant du dernier élément énoncé ci-dessus, la Cour a jugé que, tandis que le montant de base de l’amende est fixé en fonction de l’infraction, la gravité de celle-ci est déterminée par référence à de nombreux autres facteurs, pour lesquels la Commission dispose d’une marge d’appréciation.“ 72 Beschluss des EuGH vom 25. März 1996, Vereniging van Samenwerkende Prijsregelende Organisaties in de Bouwnijverheid (=SPO) u. a./Kommission, C-137/95 P, Slg. 1996, I-1611, Rn. 54 sowie Urteile des EuGH vom 17. Juli 1997, Ferriere Nord SpA/Kommission, C-219/95 P, Slg. 1997, I-4411 Rn. 33 (= EuZW 1997, 632) und vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 90. 73 Es geht um einen solchen, auch wenn Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17 (Fn. 48) bestimmt, die Entscheidung sei „nicht strafrechtlicher Art“. 74 Beschluss des EuGH vom 25. März 1996, SPO (siehe Fn. 72), Rn. 54 und Urteil des EuGH vom 17. Juli 1997, Ferriere Nord SpA (siehe Fn. 72), Rn. 33. 75 Urteil des EuGH vom 29. Juni 2006, SGL Carbon AG/Kommission, C-308/04 P, Slg. 2006, I-5977, Rn. 69-71 (= EuR 2006, 554). 71
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nicht an. In einer älteren wettbewerbsrechtlichen Entscheidung hat er aber Aspekte zusammengetragen, die die Vorhersehbarkeit von Sanktionsentscheidungen fördern und dabei die Allgemeinheit verwendeter Begriffe kompensieren können. Er nennt hierzu den systematischen Zusammenhang, die Verwendung von Begriffen, die sich auf eine in den Mitgliedstaaten etablierte Praxis beziehen, das exemplarische Angeben starker Indizien (zumindest in Rechtsprechung und Praxis) sowie das Bestehen eines Verfahrens, in dem die Adressaten der Norm die Feststellung beantragen können, dass nach den bekannten Tatsachen kein Anlass zum Einschreiten besteht.76 Während Verordnungen einen Normbefehl an Unionsbürger richten können,77 adressieren Richtlinien die Mitgliedstaaten der Union. Diese sind zur Umsetzung der Richtlinie im eigenen nationalen Recht verpflichtet. Dabei sollen ihnen aber gerade Spielräume verbleiben. Die Anforderungen an Richtlinien müssen daher von den Anforderungen an Verordnungen und Vorschriften des nationalen Rechts unterschieden werden. In welchem Umfang der EuGH unbestimmte Rechtsbegriffe in Richtlinien akzeptiert und in welcher Weise er sie klärt oder im Vagen belässt, zeigt sich in einer Entscheidung zum Begriff grober Fahrlässigkeit.78 Dieser Begriff wurde in einer die Mitgliedstaaten zur Ahndung von Verstößen verpflichtenden Richtlinie ohne Definition verwendet.79 Der EuGH sah ihn als hinreichend bestimmt an und führte aus, darunter sei „ein nicht vorsätzliches Handeln oder Unterlassen zu verstehen, mit dem die verantwortliche Person die Sorgfaltspflicht, der sie in Anbetracht ihrer Eigenschaften, ihrer Kenntnisse, ihrer Fähigkeiten und ihrer persönlichen Lage hätte genügen können und müssen, in qualifizierter [verbindliche englische Fassung: ,patent‘] Weise verletzt.“80 Es geht ihm dabei gar nicht um eine subsumtionsfähige Definition für das Unionsrecht. Vielmehr verweist er letztlich darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen jeweils über weiter ausgearbeitete Fahrlässigkeitskonzepte verfügen, an die das Unionsrecht anknüpft.81
76
Urteil des EuGH vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche & Co. AG (siehe Fn. 30), Rn. 130, 132 f. 77 Zu besonderen Problemen unionsrechtlicher Verordnungen, die nationale Blankettstraftatbestände ausfüllen siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 9 Rn. 58 ff. und Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 7 Rn. 76 ff. 78 Urteil des EuGH vom 3. Juni 2008, Intertanko (siehe Fn. 32). 79 Art. 4 S. 1 der Richtlinie 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße, ABl. L 255 vom 30. 9. 2005, S. 13 (die Richtlinie wurde berichtigt in ABl. L 33 vom 4. 2. 2006, S. 87 sowie ABl. L 105 vom 13. 4. 2006, S. 65). 80 Rn. 77 des Urteils (Fn. 78); Original: „Accordingly, ,serious negligence‘ within the meaning of Article 4 of Directive 2005/35 must be understood as entailing an unintentional act or omission by which the person responsible commits a patent breach of the duty of care which he should have and could have complied with in view of his attributes, knowledge, abilities and individual situation.“ 81 Vgl. dazu auch Rn. 75 des Urteils (Fn. 78).
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VII. Reichweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen Auch wenn der EuGH nicht von einem Analogieverbot und nur selten von der Bestimmtheit einer Vorschrift spricht, geht er davon aus, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen sich sowohl an den Normgeber als auch an den Anwender der Norm richtet. Selbst außerhalb sanktionenrechtlicher Bezüge fordert er, „daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften klar sein müssen und daß ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein muß. Dieses Gebot der Rechtssicherheit verlangt, daß jede Maßnahme, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein muß und die Rechtsform vorschreibt, in der die Maßnahme zu erlassen ist.“82 Schon zuvor hatte er ausgesprochen, „dass eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht.“83 Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen umfasst ein Rückwirkungsverbot.84 Die Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft kann grundsätzlich nicht vor seiner Veröffentlichung beginnen. Das Rückwirkungsverbot ist zwar nicht auf das Strafrecht beschränkt, außerhalb des Strafrechts macht der EuGH aber Ausnahmen, „wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.“85 Eine Strafbarkeit kann eine im Rechtsakt angeordnete und eventuell sogar grundsätzlich zulässige Rückwirkung hingegen nicht begründen.86 Auch auf eine zum Zeitpunkt der Tat bestehende, aber gegen Unionsrecht verstoßende nationale Vorschrift darf keine Strafe gestützt
82
Urteil des EuGH vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission, C-325/91, Slg. 1993, I-3283, Rn. 26 (= RIW 1993, 789) – die Passage lautet in der verbindlichen französischen Fassung: „Or, ainsi que la Cour l’ a jugé à maintes reprises, la législation communautaire doit être claire et son application prévisible pour tous ceux qui sont concernés. Cet impératif de sécurité juridique requiert que tout acte visant à créer des effets juridiques emprunte sa force obligatoire à une disposition du droit communautaire qui doit expressément être indiquée comme base légale et qui prescrit la forme juridique dont l’ acte doit être revêtu.“ – Eingehend zur Rechtsprechung des EuGH zum Bestimmtheitsgrundsatz bei anderen als strafrechtlichen Sanktionsnormen Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 67 ff. 83 Urteil des EuGH vom 25. September 1984, Karl Könecke GmbH & Co. KG/Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, 117/83, Slg. 1984, 3291, Rn. 11; die Entscheidung ist in deutscher Sprache verbindlich. 84 Eingehend Dannecker, ZIS 2006, 309 ff. 85 Urteile des EuGH vom 25. Januar 1979, Weingut Gustav Decker KG/Hauptzollamt Landau, 99/78, Slg. 1979, 101, Rn. 8 und vom 11. Juli 1991, Antonio Crispoltoni/Fattoria autonoma tabacchi di Città di Castello, C-368/89, Slg. 1991, I-3695, Rn. 17. 86 Urteil des EuGH vom 29. Juni 2010, E und F, C-550/09, Slg. 2010, Rn. 59 (= NJW 2010, 2413 = EuGRZ 2010, 289) mit Anmerkung Meyer, NJW 2010, 2397 ff. sowie die folgenden Entscheidungen (Fn. 87).
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werden.87 Die Vorlagefrage, ob es gegen das Rückwirkungsverbot verstoße, wenn eine zur Umsetzung einer Richtlinie ergangene nationale Vorschrift wegen Verstoßes gegen Unionsrecht für nichtig erklärt wurde, aber eine unionsrechtskonforme neue nationale Regelung rückwirkend in Kraft gesetzt wird, hat der EuGH verneint; er hat dabei aber darauf abgestellt, dass die darin vorgesehene Ahndung durch eine Zusatzabgabe nicht als Strafvorschrift (sondern fiskalisch) zu qualifizieren sei und das schärfere Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften daher keine Anwendung finde.88 Das Rückwirkungsverbot steht Richterrecht im Sinne einer schrittweisen Klärung strafrechtlicher Vorschriften durch die Gerichte nicht prinzipiell entgegen. Wenn durch eine neue Auslegung einer Norm eine Zuwiderhandlung aber erst festgelegt wird, darf auch diese nicht rückwirkend zugrunde gelegt werden. Als maßgebliches Kriterium prüft der EuGH dabei, ob die richterliche Auslegung für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar war.89 Der EuGH beschränkt das Rückwirkungsverbot nicht auf Gesetzgebungsakte, legt bei anderen Rechtsakten aber einen ungleich niedrigeren Maßstab an die Vorhersehbarkeit an. Auch die „Änderung einer repressiven Politik, […] vor allem dann, wenn sie durch den Erlass von Verhaltensnormen wie den Leitlinien [für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen90] erfolgt“91, untersteht danach grundsätzlich dem Rückwirkungsverbot. Soweit die wirksame Anwendung der sanktionsbewährten Regeln nach Ansicht des EuGH aber Flexibilität bei der Bemessung der Sanktionen erfordert, hält er Änderungen sowohl des Niveaus der Geldbußen als auch Änderungen der Methode ihrer Berechnung generell für vorhersehbar92 und goutiert sogar eine rückwirkende Änderung von „Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung wie d[en] Leitlinien“93. Das ist nicht unproblematisch, denn die genannten Leitlinien
87 Urteile des EuGH vom 10. Juli 1984, Kent Kirk, 63/83, Slg. 1984, 2689, Rn. 21 – 23 und vom 13. November 1990, Minister of Agriculture, Fisheries and Food und Secretary of State for Health, ex parte: Fedesa u. a., C-331/88, Slg. 1990, I-4023, Rn. 44. 88 Urteil des EuGH vom 15. Juli 2004, Willy Gerekens und Association agricole pour la promotion de la commercialisation laitière Procola (Gerekens und Procola)/Luxemburg, C-459/02, Slg. 2004, I-7315 Rn. 23 – 38, insbesondere Rn. 35 – 37. 89 Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 217 bis 224. Kritisch dazu z. B. Eissler, ELR 2005, 370 ff.; Hirsbrunner/Schädle, WuW 2009, 12 ff. 90 Siehe dazu oben Fn. 55 sowie hier Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission. 91 Urteil des EuGH vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland Co. und Archer Daniels Midland Ingredients Ltd (Midland)/Kommission, C-397/03 P, Slg. 2006, I-4429, Rn. 20 (= EWS 2006, 262) gestützt auf Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 222. 92 Rn. 21 – 23 desselben Urteils (Fn. 91). 93 Rn. 24 desselben Urteils (Fn. 91); entsprechend die Urteile des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 227 – 232 und vom 8. Februar 2007, Groupe Danone (siehe Fn. 60), Rn. 90 – 93.
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sind gerade dazu da, die in der zugrundeliegenden Norm angedrohte Sanktion überhaupt erst vorhersehbar zu machen.94 Neben dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot hat der EuGH auch die lex mitior-Regel, also ein Rückwirkungsgebot zu Gunsten des Täters, als Bestandteil der allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts anerkannt.95 Der unionsrechtliche Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen gilt nicht nur für materielles Strafrecht in einem engen Sinne. Insbesondere fallen Bußgelder, wie sie im deutschen Recht mit Ordnungswidrigkeiten verbunden sind, in seinen Anwendungsbereich. Umgekehrt umfasst dieser Anwendungsbereich nicht das Verfahrensrecht.96 Er umfasst auch nicht alle Sanktionsnormen im materiellen Recht. Der EuGH verlangt vielmehr, dass die Sanktionsnorm „strafrechtlichen Charakter“97 besitzt:98 Verneint hat er einen solchen Charakter und mit ihm die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots z. B. für Zusatzabgaben wegen der Überschreitung von Milchproduktionsquoten. Diese hätten zwar einen verhaltenssteuernden Zweck, sie seien aber selbst Teil der Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte und sollten zugleich finanzielle Mittel für diese Intervention verfügbar machen. Der EuGH ordnet sie daher als wirtschaftliche Maßnahme der Markt- oder Strukturpolitik ein, die er strafenden Sanktionen gegenüberstellt.99 Solange damit missbilligtes, aber nicht rechtswidriges Verhalten erfasst wird und die Verhaltenssteuerung durch eine Änderung von Kosten- bzw. Einkommensfaktoren der Marktteilnehmer erfolgt, die über ihr Verhalten im Markt weiterhin autonom – nur eben unter geänderten Rahmenbedingungen – entscheiden, ist diese Gegenüberstellung durchaus sinnvoll.100 Im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des strafrechtlichen Schuldprinzips (nulla poena sine culpa) hat der EuGH einen strafenden Charakter der Vorschrift 94
Siehe oben bei Fn. 57. Urteile des EuGH vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (siehe Fn. 42), Rn. 68 und vom 4. Juni 2009, Percy Mickelsson und Joakim Roos, C-142/05, Slg. 2009, I-4273, Rn. 43 – zum Gebot der Anwendung des milderen Rechts mit Bezug auf die Überlagerung von nationalem Recht durch Unionsrecht siehe Gleß, GA 2000, 224 ff. 96 Urteil des EuGH vom 16. Juni 2005, M. Pupino [siehe Fn. 11], Rn. 46. 97 Urteil des EuGH vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister GmbH & Co. KG/ Hauptzollamt Hamburg-Jonas, C-210/00, Slg. 2002, I-6453, Rn. 35 f. (= DVBl 2002, 1344); das Urteil ist in deutscher Sprache verbindlich. 98 Zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR in dieser Frage siehe auch Mylonopoulos, ZStW 121 (2009), 68 (69 ff.); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 8 Rn. 5 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 62 ff. 99 Urteile des EuGH vom 25. März 2004, Cooperativa Lattepiù arl u. a./Azienda di Stato per gli interventi nel mercato agricolo u. a., C-231/00, C-303/00 und C-451/00, Slg. 2004, I-2869, Rn. 73 – 77 und vom vom 15. Juli 2004, Gerekens und Procola (siehe Fn. 88), Rn. 36 f. mit weiterem Nachweis. 100 Vgl. dazu auch die Urteile des EuGH vom 18. November 1987, Maizena GmbH u. a./ Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung (BALM), 137/85, Slg. 1987, 4587 Rn. 13 f. sowie vom 3. März 1982, Alphasteel Ltd./Kommission, 14/81, Slg. 1982, 749, Rn. 29. 95
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weit weniger plausibel verneint: In dem Fall ging es um schuldlos unrichtig abgegebene Erklärungen zur Erlangung landwirtschaftlicher Ausfuhrerstattungen. Der EuGH hat entschieden, die vorgesehene Geldbuße101 in Höhe des Betrages, der zu Unrecht ausgezahlt worden wäre, wenn die zuständigen Behörden keine Unregelmäßigkeit entdeckt hätten, habe keinen strafenden Charakter.102 Zur Begründung führt er aus, die Sanktion diene der Bekämpfung der zahlreichen Unregelmäßigkeiten und der mit ihnen verbundenen Belastung des Gemeinschaftshaushalts.103 Sie sei zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik bestimmt und habe so ausweislich der Begründung der Verordnung „einen eigenen Zweck“.104 Sie solle „die Ausführer veranlassen, das Gemeinschaftsrecht einzuhalten“105 und könne nur gegen Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden, die sich aus freien Stücken zur Abgabe eines Antrags entschieden hätten. Der EuGH folgert, die gegenständliche Sanktionsnorm sei eine spezifische Handhabe für die Verwaltung und Bestandteil der Beihilferegelung.106 Bemerkenswert ist daran weniger das Ergebnis (Zulassung einer schuldunabhängigen Bußgeldzahlung) als die Argumentation. Der EuGH verneint den Strafcharakter mit verhältnismäßig langer Begründung, in der er kein Wort dazu verliert, welche Eigenschaften eine Norm mit strafrechtlichem Charakter aufweisen müsste und wie die gegenständliche Norm sich davon unterscheidet. Die hervorgehobenen Merkmale sind für Straftatbestände keineswegs untypisch. Es besteht wenig Anlass zu bezweifeln, dass der EuGH mit dem Anwendungsbereich des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen ebenso verfahren würde. Wenn er dessen Anwendung ablehnt, ist aber davon auszugehen, dass er auf seine qualifizierten Anforderungen an belastende Regelungen zurückgreifen wird. Diese müssen so „klar und deutlich“ sein, dass der Adressat „seine Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann“.107 Auch diese Anforderungen leitet der EuGH – ebenso wie vor Art. 49 GRCh den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen – unmittelbar aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit her. 101 Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 3665/87 (ABl. L 351 vom 14. 12. 1987, berichtigt im ABl. L 164 vom 7. 7. 1993, S. 12). 102 Urteil des EuGH vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister GmbH & Co. KG (siehe Fn. 97), Rn. 43. 103 Rn. 38 des Urteils (Fn. 102). 104 Rn. 39 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen. 105 Rn. 40 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen. 106 Rn. 41 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen. 107 Urteil des EuGH vom 9. Juli 1981, Administration des douanes/Société anonyme Gondrand Frères und Société anonyme Garancini (Gondrand Frères), 169/80, Slg. 1981, 1931, Rn. 17 (Original: „Le principe de sécurité juridique exige qu’une réglementation imposant des charges au contribuable soit claire et précise, afin qu’il puisse connaître sans ambiguïté ses droits et obligations et prendre ses dispositions en conséquence.“). Entsprechend z. B. das Urteil des EuGH vom 20. Mai 2003, Consorzio del Prosciutto di Parma und Salumificio S. Rita SpA/Asda Stores Ltd und Hygrade Foods Ltd., C-108/01, Slg. 2003, I-5121, Rn. 89 mit weiterer Verweiskette.
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VIII. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen in der Europäischen Grundrechtecharta Das Gesetzlichkeitsprinzip steht heute in Art. 49 GRCh: „Art. 49 Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. (1) 1Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. 2Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. 3Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen. (2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war. (3) Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.“
Die Grundrechtecharta wurde vom europäischen Konvent erarbeitet und zur Eröffnung der Tagung des Europäischen Rats in Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich unterzeichnet und proklamiert.108 Mit ihr wurde eine Verbürgung von Grundrechten geschaffen, die sich gezielt nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Gedacht war sie als Teil einer Verfassung der EU.109 Es ist schon deshalb nicht erstaunlich, in ihr ein Prinzip mit spezifisch strafrechtlichem Bezug zu lesen. Die Grundrechtecharta wurde am 12. Dezember 2007, einen Tag vor dem Vertrag von Lissabon, in leicht geänderter Fassung110 erneut unterzeichnet und veröffentlicht.111 In Kraft getreten ist sie erst zusammen mit dem Vertrag von Lissabon112 am 1. Dezember 2009. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 2. Hs. EUV (n.F.) stellt sie in den Rang der Verträge113. Die Charta gilt nun einerseits für sämtliche Organe, Einrichtungen und Stellen der Union und andererseits für die Mitgliedstaaten, für diese aber „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Art. 49 GRCh steht im Titel VI (Justizielle Rechte) zusammen mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Verfahren (Art. 47 GRCh), der Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechten (Art. 48 GRCh) und dem Recht,
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ABl. C 364 vom 18. 12. 2000. Sie bildete Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa (ABl. C 310 vom 16. 12. 2004), der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde, dessen Ratifizierung aber scheiterte. Art. 49 GRCh hatte dort die Bezeichnung Artikel II-109. 110 In Art. 49 GRCh wurde lediglich in Abs. 3 das heutige „zur“ an die Stelle der früheren Formulierung „gegenüber der“ gesetzt. 111 ABl. C 303 vom 14. 12. 2007. 112 ABl. C 306 vom 17. 12. 2007. 113 Gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV n.F. sind das der EUV selbst sowie der AEUV. 109
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wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden (Art. 50). Art. 49 GRCh gibt im Wesentlichen Art. 7 EMRK wieder,114 ergänzt ihn aber an zwei Stellen: Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh und Art. 49 Abs. 3 GRCh haben im Wortlaut des Art. 7 EMRK keine Entsprechung. Zwischenzeitlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) indes u. a. anknüpfend an bereits vor Geltung des Art. 49 GRCh ergangene Rechtsprechung des EuGH115 Art. 7 Abs. 1 EMRK dahingehend interpretiert, dass auch dieser die lex mitior-Regel verbürge, und dabei seine ältere entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.116 Inhaltlich geht Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh nach dieser Rechtsprechung also nicht über Art. 7 EMRK hinaus. Art. 49 Abs. 3 GRCh hingegen hat einen zwar thematisch verwandten, aber nicht unmittelbar zum Gesetzlichkeitsprinzip gehörenden Inhalt. Es geht dort vielmehr um einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Art. 52 Abs. 1 GRCh enthält zwar eine allgemeine Schrankenregelung.117 Die inhaltliche Übereinstimmung mit Art. 7 EMRK hat nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh aber zur Folge, dass die Bestimmung der Grundrechtecharta „die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie [ihr] in der genannten Konvention verliehen wird“ hat. Das bedeutet einerseits, dass eine Einschränkung von Art. 49 GRCh selbst bei Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh praktisch immer unzulässig wäre. Andererseits ist damit eine Anknüpfung an die Rechtsprechung des EGMR intendiert. Damit zeigt sich heute das Bild weitestgehender Übereinstimmung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh stellt aber klar, dass ein über die EMRK hinausgehender Schutz im Recht der Union durchaus möglich ist. Art. 49 GRCh erkennt Grundrechte an, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Gemäß Art. 52 Abs. 4 GRCh ist diese Bestimmung daher auch „im Einklang mit diesen Überlieferungen“ auszulegen. Nachdem der EGMR die EMRK ebenso nach diesen Grundsätzen auslegt, sind Kollisionen der Auslegungsregeln in Art. 52 Abs. 3 und 4 GRCh nicht zu erwarten.
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Zu einem Überblick über diesen und zentrale Aussagen des EGMR siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 11 Rn. 77 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 10 Rn. 64 ff. 115 Siehe dazu bereits Fn. 95. 116 Urteil des EGMR Scoppola ./. Italien (Nr. 2) [GK], 17. September 2009, Antrag Nr. 10249/03, § 109 (sowie §§ 114 – 119). 117 Dessen Voraussetzungen knüpfen an bestehende Rechtsprechung des EuGH an, vgl. dazu das Urteil des EuGH vom 13. April 2000, K. Karlsson u. a., C-292/97, Slg. 2000, I-2737, Rn. 45 (= EuGRZ 2000, 524) mit weiteren Nachweisen.
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IX. Zusammenfassung und Ausblick Das Gesetzlichkeitsprinzip firmiert im Recht der Europäischen Union als „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“. Er ist heute in Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh niedergelegt, wurde aber schon zuvor vom EuGH anerkannt. Inhaltlich lehnt das Unionsrecht sich eng an Art. 7 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR an. Die Wortwahl birgt aber die Gefahr, das Gesetzlichkeitsprinzip mit einer Gesamtbetrachtung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung sowie dem Legalitätsprinzip zu vermengen. Der EuGH leitet insbesondere aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit Anforderungen an die Vorhersehbarkeit hoheitlichen Handelns auf der Grundlage von Unionsrecht ab. Diese sind nicht auf das Strafrecht beschränkt, aber nach dem Grad der Belastung für den Bürger abgestuft. Die höchsten Anforderungen werden an Sanktionsnormen mit strafendem Charakter gestellt; für sie gilt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen einschließlich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Die Vorhersehbarkeit prüft der EuGH oft individuell, konkret und subjektiv, sodass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen teilweise Regeln über die Behandlung eines Verbotsirrtums vertritt. Hinsichtlich seiner Haltung zum Schriftlichkeitserfordernis, zur unionsrechtskonformen Auslegung und zum Bestimmtheitsgebot im Strafrecht zeichnen sich zwar bereits Konturen ab, die Kernbereiche sind aber bislang noch ungeklärt. Mit dem Vertrag von Lissabon sind die strafrechtsbezogenen Kompetenzen der EU erheblich erweitert worden. Es ist damit zu rechnen, dass die bislang wirtschaftsrechtlich geprägte Rechtsprechung zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen sich künftig verstärkt mit Fällen des Kernstrafrechts wird beschäftigen müssen.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen Kenneth S. Gallant* Das berühmte Urteil am Ende der Nürnberger Prozesse von 1946 stellt fest: „Der Grundsatz nullum crimen sine lege ist keine Begrenzung der Souveränität, sondern ein allgemeines Prinzip der Gerechtigkeit.“1
Nullum crimen sine lege („Keine Straftat ohne [vorher bestehendes] Gesetz“) war in anderen Worten 1946 keine bei der Bestrafung von Verbrechen durchsetzbare Norm des internationalen Rechts. Ähnliches galt für die verwandte Regel nulla poena sine lege („Keine Strafe ohne [vorher bestehendes] Gesetz“). Heutzutage stellt nullum crimen, nulla poena sine lege ein international anerkanntes Menschenrecht dar. Die Prinzipien sind zu Normen des internationalen Gewohnheitsrechts geworden. Sie sind nicht länger „nur“ Grundsätze der Gerechtigkeit. Mit anderen Worten hat sich das Recht seit den Nürnberger Prozessen gewandelt. Die Wandlung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit zu einer Norm des Völkergewohnheitsrechts war Teil einer grundlegenden und noch andauernden Veränderung der Art und Weise, in der internationale Menschenrechtsbestimmungen geschaffen und angewendet werden. Dieser Beitrag soll zwei Dinge aufzeigen: Erstens, dass das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen zu einer Norm des Völkergewohnheitsrechts geworden ist. Zweitens, dass eine Norm des internationalen Menschenrechts ebenso exakt durch Praxis und opinio juris nachgewiesen werden kann wie jede andere Regel des internationalen Gewohnheitsrechts. Gelegentlich wird vorgebracht, dass es weniger Belege an Staatenpraxis bedürfe, um ein internationales Menschenrecht als Völkergewohnheitsrecht zu behandeln.2 Allerdings sind die Regeln des internationalen Menschenrechts bei weitem sicherer, wenn sie durch die Praxis und opinio juris
* Übersetzung ins Deutsche durch Andreas Doser. United States et al. v. Göring et al., Judgment of 30 September 1946, 1 Trial of the Major War Criminals Before the International Military Tribunal: Nuremberg 14 November 1945 – 1 October 1946 171, 219 (Nuremberg: International Military Tribunal, 1947) [IMT, Trial]. 2 Meron, S. 264. 1
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fundiert sind. Das Gesetzlichkeitsgebot ist dabei ein ausgezeichnetes Hilfsmittel zur Demonstration einer solchen Technik auf dem Gebiet der Menschenrechte. Da die Gesetzmäßigkeit, wie andere Menschenrechte, die Beziehung zwischen den Staaten und ihren Staatsangehörigen regelt, muss ein breiteres Spektrum an Praxisquellen herangezogen werden, als es sonst häufig zum Beleg von internationalem Gewohnheitsrecht der Fall ist, das sich nur auf die Wechselwirkungen zwischen den Staaten bezieht. Zusätzlich wurden die Praxis und opinio juris internationaler Organisationen, einschließlich internationaler Tribunale/Gerichte zu vorrangigen Belegen für internationales Gewohnheitsrecht und sind somit nicht mehr nur ein ergänzendes Mitteln zu dessen Bestimmung.3 Daher wird dieser Beitrag sowohl die internationale als auch die innerstaatliche Praxis, einschließlich der von nationalen und internationalen Organisationen in Verträgen, Verfassungen, Gesetzen, anderen bindenden Rechtstexten sowie „case-law“, untersuchen.
I. Die zentralen Regeln der Gesetzmäßigkeit im internationalen Gewohnheitsrecht Die Erklärung zum Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Bestrafungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (UN-Menschenrechtscharta) von 1948 ist internationales Gewohnheitsrecht geworden: Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.4 Das Verbot einer Handlung oder eines Unterlassens und die Höchststrafe müssen also auf den Handelnden/Unterlassenden und die Handlung/die Unterlassung zum Zeitpunkt der Handlung/des Unterlassens anwendbar sein. Eine Handlung/ein Unterlassen kann daher keinen mit Strafe bedrohten Gesetzesverstoß darstellen, wenn kein nationales oder internationales Gesetz zum Tatzeitpunkt auf den Täter und die Tat anwendbar ist. Wenn die Tat nach einem auf den Täter anwendbaren nationalen oder internationalen Gesetz strafbar war, kann die Tat nach einem später in Kraft getretenen Gesetz nur in dem zum Zeitpunkt der Tat erlaubten Umfang bestraft werden. Diese Auffassung von Gesetzlichkeit findet als Gegenstand der internationalen Menschenrechte sowohl durch nationale als auch durch internationale Strafgerichte 3
Zu einer Diskussion dieses Punktes durch den Verfasser siehe Kenneth S. Gallant, International Criminal Courts and the Making of Public International Law: New Roles for International Organizations and Individuals, 43 John Marshall Law Review 603 (2010). 4 Universelle Erklärung der Menschenrechte – Universal Declaration of Human Rights (Art. 11(2), Vollversammlungsbeschluss 217 (III), 10 Dezember 1948, Art. 11(2) [UN-Menschenrechtscharta], GAOR, 3d sess., Teil. I, S. 71).
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Anwendung, unabhängig davon, ob nationale oder internationale Straftaten verhandelt werden. Eine striktere Auffassung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit findet sich in vielen innerstaatlichen Rechtsordnungen, die besagt, dass das bestimmte Gesetz, auf dessen Grundlage eine Person angeklagt wird, zum Zeitpunkt der Tat bereits in Kraft gewesen sein muss, nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.5 Diese striktere Auffassung ist jedoch nicht zu internationalem Gewohnheitsrecht geworden, das Staaten und/oder internationale Organisationen binden würde. Mit Rücksicht auf den begrenzten Platz wird dieser Beitrag zumindest zwei für die Schaffung eines Systems des Verbots der Rückwirkung von Straftat und Bestrafung wichtige Doktrinen nicht analysieren. Die erste ist die der Vorhersehbarkeit und der damit verwandten Idee der Klarheit. Gesetzesinterpretation und Entwicklungen des common law sowie des internationalen Gewohnheitsrechts können manchmal zu Verurteilungen für Taten führen, für die es in der Vergangenheit noch keine Verurteilungen gab. Das ist insoweit akzeptabel, als der Täter vernünftigerweise hätte vorhersehen können, dass die Tat nach dem zum Tatzeitpunkt bestehenden Gesetz, common law oder internationalen Gewohnheitsrecht als strafbar behandelt werden wird.6 Das übliche Maß an strafrechtlicher Klarheit wurde kürzlich von Ward N. Ferdinandusse basierend auf der Rechtsprechung des EGMR treffend wie folgt beschrieben: „Der Wesenskern des Prinzips der Gesetzmäßigkeit, also dass ein Individuum nicht strafrechtlich verfolgt werden kann für ein Verhalten, von dessen Strafbarkeit es nichts wissen konnte, erfordert, dass ein Gesetz so klar sein muss, dass seine Folgen vorhersehbar sind.“7 5 Siehe bspw. die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Art. 8 („[N]iemand darf bestraft werden außer aufgrund eines Gesetzes, das vor der Straftat verabschiedet und veröffentlicht ist“). 6 Für eine ausführliche Darstellung, siehe Gallant, Chap. 4.h. Es gibt eine beachtenswerte Entwicklung in der Doktrin der Vorhersehbarkeit in der Rechtsprechung des EGMR (der sich stets mit Entscheidungen nationaler Gerichte der Unterzeichnerstaaten befasst). Einige dieser Fälle sind: Kokkinakis v. Greece, Judgment, Eur. Ct. H.R. (25 May 1993), ser. A-260-A, 40; G. v. France, Judgment, Eur. Ct. H.R. (27 September 1995), ser. A-325-B; Baskaya v. Turkey, Judgment, Eur. Ct. H.R. (8 July 1999), 39; C. R. v. United Kingdom, Judgment, Case. No. Case No. 48/1994/495/577, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995); S. W. v. United Kingdom, Judgment, Case No. 47/1994/494/576, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995); Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 54 – 55, 74 – 76, 77 – 106, Case Nos. 34044/96, 35532/97, 44801/98, Eur. Ct. H.R. 2001-II (22 March 2001) (die Handlungen waren nach DDR-Recht zum Zeitpunkt der Tatbegehung illegal und die strafrechtliche Verantwortlichkeit daher vorhersehbar); K.-H. W. v. Germany, 49 – 50, 66 – 67, 68 – 91, Case No. 37201/97, Eur. Ct. H.R. 2001-II (22 March 2001) (mit ähnlicher Folge). Zu Fällen nationaler Gerichte, die die unvorhersehbare Ausdehnung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch richterliche Gesetzesauslegung betreffen, siehe Bouie v. City of Columbia, 378 U.S. 347 (1964); Public Prosecutor v. Manogaran, [1997] 2 L.R.C. 288 (Ct. of App. of Singapore), vermerkt in Nihal Jayawickrame, The Judicial Application of Human Rights Law: National, Regional and International Jurisprudence 588 (Cambridge Univ. Press, 2002). 7 Ward N. Ferdinandusse, Direct Application of International Criminal Law in National Courts 238 (TMC Asser 2006) 238, sich auf G. v. France, Judgment, Eur. Ct. H.R. 24 – 25 (27 September 1995), und Sunday Times v. United Kingdom, Judgment, Eur. Ct. H.R. 48 – 49 (26
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Der zweite hier nicht vertiefte Aspekt betrifft die Frage danach, was eigentlich „Bestrafung“ im Sinne eines strafrechtlichen Rückwirkungsverbots darstellt. Einige Staaten erlauben gegenwärtig Freiheitsverkürzungen wie die Einweisung von psychischen Kranken und andere rehabilitive Maßnahmen, selbst wenn diese erst nach der Tat durch ein Gesetz angeordnet werden.
II. Der Hintergrund zur Zeit des Zweiten Weltkrieges: Keine Regel des internationalen Gewohnheitsrechts Die am Anfang berichtete Aussage aus den Nürnberger Prozessen von 1946, dass der nullum crimen-Grundsatz keine Beschränkung der Souveränität darstellt, war zu diesem Zeitpunkt zutreffend. Am Ende des Zweiten Weltkrieges steckte das Recht der internationalen Menschenrechte in seinem engsten Sinn als Beschränkung des Rechts der Staaten, mit seinen Angehörigen (und ebenso den Angehörigen anderer Staaten) nach Belieben zu verfahren, noch in den Kinderschuhen. Besondere Regeln des Völkergewohnheitsrechts für die Art und Weise, in der ein Staat seine Justiz ausübt, waren noch nicht geschaffen. So hielt zum Beispiel nicht lange vor dem zweiten Weltkrieg der Permanent Court of International Justice in einer beratenden Stellungnahme ein von den Nazis inspiriertes Gesetz in Danzig, das zum ersten Mal die Schaffung rückwirkender Straftaten und Sanktionen erlaubte, für gültig. Der Permanent Court of International Justice behandelte den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit nicht als Gegenstand der internationalen Menschenrechte – also nicht als Frage von Rechten eines Individuums gegen staatliche Behörden. Stattdessen stellte er auf die besondere Rolle des Völkerbundes beim Schutz Danzigs und seiner Verfassung ab und vertrat den Standpunkt, dass das von den Nazis inspirierte Gesetz gegen die Verfassung Danzigs als einer dem Rechtsstaatsprinzip unterworfenen Körperschaft verstoße.8 Zum Zeitpunkt des Endes des Zweiten Weltkriegs hatte das Rückwirkungsverbot nur in einer Minderheit der Staaten Verfassungsrang.9 In anderen Staaten war es immerhin auf einfach gesetzlicher Ebene verankert.10 Bedeutende Staaten ohne RückApril 1979) stützend. Für eine klare Erklärung der Vorhersehbarkeit im Zusammenhang der internationalen Kernverbrechen, siehe im Allgemeinen Ferdinandusse, S. 238 – 248. 8 Advisory Opinion on the Consistency of Certain Danzig Legislative Decrees with the Constitution of the Free City, 4 December 1935, P.C.I.J. (ser. A/B) No. 65. 9 Siehe Documented Outline of an International Bill of Rights, UN Doc. E/CN.4/AC.1/3/ Add.1, arts. 25 – 26, pp. 215 – 234 (2 June 1947); [United Nations] Yearbook on Human Rights 1946, UN Sales No. 1948.XIV.1 (rep. William S. Hein & Co. 1996), beide behandelt in Gallant, Kap. 5.b. 10 Italienisches Strafgesetz von 1931 Art. 1, 2 (ohne eine verfassungsrechtliche Vorschrift zur Gesetzlichkeit im Strafrecht; festzuhalten ist, dass das faschistische Italien anders als Nazi-Deutschland das Rückwirkungsverbot gesetzlich beibehalten hat); Lebanesischer Code Pénal von 1943 Art. 1 – 14 (nulla poena nicht in der Verfassung enthalten).
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wirkungsverbot waren: die Sowjetunion,11 Großbritannien (das zu diesem Zeitpunkt noch immer die Schaffung von Straftaten nach common law zuließ und wegen der Doktrin der Oberherrschaft des Parlaments rückwirkende Strafgesetze nicht verbot), einige andere common law Länder, die die Beschränkung der Parlamente und Gerichte durch die Verfassung noch nicht kannten, sowie einige islamisch-rechtliche Länder (für Straftaten, die als ta’azir [Gegenstand eines gewissen Maßes an Ermessen] nach islamischem Recht qualifiziert wurden).12 Zudem erlaubten auch einige Staaten mit kodifikatorischer Rechtstradition im ersten Teil des 20. Jahrhunderts die Analogiebildung bei Straftaten.13 Analogien dienten somit als Technik dazu, Verhalten zu kriminalisieren, das zwar nicht vom Wortsinn, wohl aber von Sinn und Zweck der Norm erfasst wurde.14 Selbst die USA verboten unvorhersehbare Erweiterungen von Straftatbeständen durch Gerichte erst in den 1960ern.15 Die Aussage des Urteils zu den Nürnberger Prozessen von 1946 zum Status von nullum crimen sine lege war also korrekt. Wie wir sehen werden, hat sich das Recht diesbezüglich geändert.
III. Der Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg: Der Beweis, dass das Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Sanktionen eine Regel des internationalen Gewohnheitsrechts geworden ist Der Beleg für das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrecht auf Gesetzlichkeit basiert auf Praxis und Rechtsauffassungen der Staaten, Gründungs- und anderer Dokumente, auf Praxis und Rechtsauffassungen internationaler Organisationen (insbesondere, aber nicht ausschließlich der internationaler Strafgerichte und 11 Siehe John N. Hazard/Isaac Shapiro, The Soviet Legal System: Post-Stalin Documentation and Historical Commentary, I-4 und n. 3 (Oceana Publications 1962), der Art. 16 des Strafgesetz der RSFSR von 1926, der Art. 10 des Strafgesetz der RSFSR von 1922 1 Sob. Uzak. RSFSR, Nr. 15, Punkt 153 (in Kraft getreten am 1. Juni 1922) wiederholt. 12 Siehe Haidar Ala Hamoudi, The Muezzin’s Call and the Dow Jones Bell: On the Necessity of Realism in the Study of Islamic Law, 56:2 Am. J. Comp. L. (oben) (sec. II.A) [Hamoudi]; Ghaouti Benmelha, Ta’azir Crimes, in: The Islamic Criminal Justice System 211, S. 216 – 217 und n. 15 (M. Cherif Bassiouni [Hrsg.], Oceana Publications 1982), der sich auf Abu ‘Abd Allah al-Zubayr (d. 939 c.e.) aus der Schafiitischen-Rechtsschule (für die These, dass einige islamische Gesetze eine der im Zivilrecht anerkannten, der Analogie ähnliche Technik auf ta’azir-Straftaten erlauben) stützt; Stefan Glaser, Nullum Crimen Sine Lege, 24 J. Comp. Legis. & Int’l L., 3d ser., 1942, S. 29, 32 (Widerstand gegen nulla poena in Afghanistan im frühen 20. Jhd.). 13 Jerome Hall, Nulla Poena Sine Lege, 47 Yale L.J. 165, 1938, S. 172 – 180. 14 Siehe Gallant, Kap. 1.c.ii. 15 U.S. Verf., amend. XIV(1) (1868) (Grundsatz des fairen Verfahrens, der für die USBundesstaaten gilt) wurde dazu herangezogen, im Fall Bouie v. City of Columbia, 378 U.S. 347 (1964) das Verbot unvorhersehbarer Ausdehnung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu begründen. Ebenso in Rogers v. Tennessee, 532 U.S. 451 (2001).
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-tribunale), auf Beiträgen von Rechtsexperten und auf anderen Beweisen.16 Diese zeigen, dass Gesetzmäßigkeit auch ein allgemeines, von der Gemeinschaft der Staaten anerkanntes Rechtsprinzip ist. 1. Staatenpraxis – Staaten verpflichten sich selbst zum Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Strafen durch Verfassung, Gewohnheit und Abkommen Alle bis auf zwei Mitglieder der UN akzeptieren das allgemeine Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Sanktionen durch Verfassung, Gesetz, Abkommen (dem IPbpR und/oder andere Menschenrechtsabkommen) oder einer Kombination der drei Rechtsformen. In der großen Mehrheit der Staaten ist das Rückwirkungsverbot verfassungsrechtlich verankert. Mehr als vier Fünftel (162 der 192 oder etwa 84 %) der UN-Mitglieder erkennen das Rückwirkungsverbot für Straftaten (nullum crimen) in ihren Verfassungen an.17 Mehr als drei Viertel (147 der 192 oder 16 Dieses Material ist zusammengetragen und ausführlich dargestellt in Gallant, Kap. 4 (state treaty practice and opinio juris and international human rights court practice), 5 (internal state practice), 6 (international and hybrid national-international criminal tribunal practice), und den Anhängen A–C. Die meisten Belege in diesem Beitrag sind diesem Material entnommen und aktualisiert, um neuen Entwicklungen gerecht zu werden. 17 Dieses Material ist zusammengefasst in Gallant, Anhang A, mit der Dokumentation der Texte bis Anfang 2008 in Anhang C. Eine aktualisierte Liste der verfassungsrechtlichen nullum crimen Vorschriften bis Mitte 2010: Afghanische Verf. Art. 24 (alternative Nummerierung Kap. 2, Art. 7); Albanische Verf. Art. 29(1); Algerische Verf. Art. 46, 140; Andorranische Verf. Art. 3(2), 9(4); Angolanische Verf. Law, Art. 9(3, 4); Verf. von Antigua & Barbuda Art. 15(4); Argentinische Verf. Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Aserbaidschanische Verf. Art. 71(VIII); Bahamaische Verf. Art. 20(4); Bahrainische Verf. Art. 20(a); Bangladeschische Verf. Art. 35(1); Barbadische Verf. Art. 18(4); Belarussische (Weißrussische) Verf. Art. 104; Belizische Verf. Art. 6(4); Beninische Verf. Art. 7, 17; Bolivische Verf. Art. 129 (neue Verfassung, bestätigt durch Referendum vom Januar 2009); Verf. von Bosnien & Herzegowina Verf. Art. II(2); Botswanische Verf. Art. 10(4); Brasilianische Verf. Art. 5(XXXIX, XL); Bulgarische Verf. Art. 5(3); Verf. von Burkina Faso Art. 5; Burundische Verf. Art. 19, 39, 41; Kambodschanische Verf. Art. 31 (Einbindung der UN-Menschenrechtscharta und von Menschenrechtsabkommen); Kamerunische Verf., Präambel; Kanadische Verf.-Gesetz, Art. 11(g); Kapverdische Verf. Art. 16(5), 30(2); Verf. der Zentralafrikanischen Republik Art. 3; Verf. des Tschads Art. 23; Chilenische Verf. Art. 19(3); Kolumbianische Verf. Art. 28, 29; Komorische Verf. Art. 48; Verf. der Dem. Rep. Kongo Art. 17; Verf. Costa Ricas Art. 34, 39; Verf. der Elfenbeinküste Art. 21; Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische Verf. Art. 59; Zypriotische Verf. Art. 12(1); Verf. der Tschechischen Republik Art. 3 und Tschechische Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten Art. 40(6); Djiboutische Verf. Art. 10; Dominikanische Verf. Art. 8(4); Verf. der Dominikanischen Rep. Art. 47; Verf. Ost-Timors Art. 31(2, 5); Ecuadorianische Verf. Art. 24(1); Ägyptische Verf. Art. 66, 187; Verf. El Salvadors Art. 15; Äquatorialguinea Fundamental Law Art. 13(s); Eritreische Verf. Art. 17(2); Estländische Verf. Art. 23; Äthiopische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnländische Verf., ch. 2, § 8; Französische Verf. Präambel und Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger Art. 8; Gabunische Verf. Art. 79 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamten; Gabun ist an nullum crimen und nulla poena für Straftaten allgemein durch den ACHPR und den IPbpR gebunden); Gambische Verf. Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Deutsches Grundgesetz Art. 103(2); Gha-
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etwa 76 %) erkennen auch das Rückwirkungsverbot für erhöhte Sanktionen (nulla poena) durch ihre Verfassungen an.18 Das bedeutet, dass eine große Mehrheit der naische Verf. Art. 19(5, 6, 11), 107; Griechische Verf. Art. 7(1); Verf. Grenadas Art. 8(4); Guatemaltekische Verf. Art. 15, 17; Verf. von Guinea Art. 9, 122 (7. Mai 2010) (Art. 9 allgemein, Art. 122 besonders für hohe Regierungsbeamte); Verf. von Guinea-Bissau Art. 33(2); Guyanische Verf. Art. 144(4); Haitische Verf. Art. 51; Honduranische Verf. Art. 95, 96; Ungarische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; Indische Verf. Art. 20(1); Indonesische Verf. Art. 28I(1); Iranische Verf. Art. 169; Irakische Verf. Art. 19(2, 10); Irische Verf. Art. 15 (5)(1); Italienische Verf. Art. 25; Jamaikanische Verf. Art. 20(7); Japanische Verf. Art. 39; Kasachische Verf. Art. 77(3)(5, 10); Kenianische Verf. Art. 50(2)(n) (21. August 2010); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Verf. der Rep. Korea, Art. 13(1); Kuwaitische Verf. Art. 32; Kirgisische Verf. Art. 6(5) (bestätigt in einem Referendum Juni 2010); Lettische Verf. Art. 89 (verfassungsrechtliches Erfordernis des Schutzes grundlegender Menschenrechte in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen, die Lettland binden, die die Implementierung des EMRK und des IPbpR zu erfordern scheint); Lesothische Verf. Art. 12(4); Liberische Verf. Art. 21(a); Mazedonische Verf. Art. 14, 52; Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf. Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische Verf. Art. 7(1); Maledivische Verf. Art. 17(1); Malische Verf. Art. 9; Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8)(1); Mauritische Verf., Kap. II, Art. 10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Micronesische Verf. Art. IV(11); Moldawische Verf. Art. 22; Monegassische Verf. Art. 20; Montenegrinische Verf. Art. 33, 34; Marokkanische Verf. Art. 4; Mosambikanische Verf. Art. 99; Verf. Myanmars Art. 43, 353, 377 (2008); Namibische Verf. Art. 12(3); Verf. von Nauru Art. 10(4); Nepalesische Übergangsverf. [2007], Art. 24(4); Niederländische Verf. Art. 16; Nicaraguanische Verf. Art. 34(11), 38, 100; Verf. des Nigers Art. 15, 16, 17; Nigerianische Verf. Art. 36 (8, 12); Norwegische Verf. Art. 96, 97; Omanisches Grundgesetz des Staates Art. 75; Pakistanische Verf. Art. 12(1) (mit Ausnahmen für bestimmte Fälle der Zersetzung der Verfassung); Palauische Verf. Art. IV(6); Verf. Panamas Art. 31, 46; Papua Neu Guineische Verf. Art. 37(2, 7, 21, 22 – wobei in Dorfgerichten nullum crimen und nulla peona einfachgesetzliche Geltung zu beanspruchen scheinen); Paraguayische Verf. Art. 14, 17(1); Peruanische Verf. Art. 2(24)(d); Philippinische Verf. Art. III(22); Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(1); Verf. Katars Art. 40; Rumänische Verf. Art. 15(2); Russische Verf. Art. 54; Ruandische Verf. Präambel 9, Art. 18, 20; Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Art. 8(4); Verf. St. Vincent & the Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé und Príncipe Art. 7, 36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische Verf. Art. 34, 197; Seychellische Verf. Art. 19(4); Sierra Leonische Verf. Art. 23(7); Singapurische Verf. Art. 11(1) (mit Ausnahmen für bestimmte politische Straftaten); Slowakische Verf. Art. 50(6); Slowenische Verf. Art. 28, 153, 155; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische Verf. Art. 34; Südafrikanische Verf. Art. 35(3)(l); Spanische Verf. Art. 9(3), 25(1); Sri-lankische Verf. Art. 13(6); Sudanesische Übergangsnationalverfassung Art. 34(4); Verf. Surinamas Art. 131(2); Swasiländisches Verf.-Gesetz § 21(5); Schwedisches Grundgesetz zur Regierungsform Kap. 2, Art. 10; Syrische Verf. Art. 30; Tadschikische Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische Verf. § 39; Verf. Togos Art. 19; Tongische Verf. Art. 20; Tunesische Verf. Art. 13; Türkische Verf. Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Verf. Tuvalus § 22(6); Ugandische Verf. Art. 28(7); Ukrainische Verf. Art. 58; Verf. der Vereinigten Arabischen Emirate Art. 27; U.S. Verf. Art. I, §§ 9, 10; Verf. von Vanuatu Art. 5(2)(f); Venezolanische Verf. Art. 24, 49(6); Jemenitische Verf. Art. 46, 103; Sambische Verf. Art. 18(4, 8); Simbabwische Verf. Art. 18(5). Die Zahlen im Text beziehen sich nicht auf solche Staaten, die nulla poena verfassungsrechtlich nur auf hohe Regierungsbeamte anwenden und andere Quellen für die allgemeine Anwendung im Strafrecht haben. 18 Dieses Material ist zusammengefasst in Gallant, Appendix A, mit einer Dokumentation des Wortlauts von Anfang 2008 im Appendix C. Eine aktualisierte Liste (bis Mitte 2010) der
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verfassungsrechtlichen nulla poena Vorschriften: Afghanische Verf. Art. 24 (alternative Nummerierung Kap. 2, Art. 7); Albanische Verf. Art. 29(2); Algerische Verf. Art. 140, 142; Andorranische Verf. Art. 3(2), 9(4); Angolanische Verf.-Gesetz, Art. 9(4); Verf. von Antigua & Barbuda Art. 15(4); Argentinische Verf. Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Verf. der Bahamas Art. 20(4); Verf. Bahrains Art. 20(a); Bangladeschische Verf. Art. 35(1); Barbadische Verf. Art. 18(4); Belarussische (weißrussische) Verf. Art. 104; Belizische Verf. Art. 6(4); Beninische Verf. Art. 7, 17; Bolivische Verf. Art. 129 (neue Verfassung bestätigt durch Referendum vom Januar 2009); Verf. von Bosnien & Herzegowina Verf. Art. II(2); Botswanische Verf. Art. 10(4); Brasilianische Verf. Art. 5(XXXIX, XL); Verf. von Burkina Faso Art. 5; Burundische Verf. Art. 19, 39, 41; Kambodschanische Verf. Art. 31 (Einbindung der UNMenschenrechtscharta und von Menschenrechtsabkommen); Kamerunische Verf. Präambel; Kanadische Verf.-Gesetz Art. 11(i); Kapverdische Verf. Art. 16(5), 30(2); Verf. der Zentralafrikanischen Republik Art. 3; Chilenische Verf. Art. 19(3); Kolumbische Verf. Art. 28, 29; Komorische Verf. Art. 48; Verf. Dem. Rep. Kongo Verf. Art. 17; Costa-ricanische Verf. Art. 34; Ivorische Verf. Art. 112 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamten – für Straftaten im Allgemeinen ist nulla poena einfachgesetzlich); Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische Verf. Art. 59; Zypriotische Verf. Art. 12(1); Verf. der Tschechischen Rep. Art. 3 und Tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten Art. 40(6); Djiboutische Verf. Art. 10; Dominikanische Verf. Art. 8(4); Verf. der Dominikanischen Rep. Art. 47; Verf. Ost-Timors Art. 31(3, 5); Ecuadorianische Verf. Art. 24(1); Ägyptische Verf. Art. 66, 187; El Salvadorianische Verf. Art. 15; Grundgesetz Äquatorialguineas Art. 13(s); Estländische Verf. Art. 23; Äthiopische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnische Verf. Kap. 2, § 8; Französische Verf. Präambel und Französische Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger Art. 8; Gabunische Verf. Art. 79 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamter ist Gabun an nullum crimen und nulla poena für Straftaten im Allgemeinen durch den ACHPR und den IPbpR gebunden); Gambische Verf. Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Ghanaische Verf. Art. 19(5, 6, 11), 107; Griechische Verf. Art. 7(1); Grenadische Verf. Art. 8(4); Guatemaltekische Verf. Art. 15, 17; Verf. von Guinea Art. 9, 122 (7 Mai 2010) (Art. 9 allgemein, Art. 122 besonders, wohl ausdrücklich, für hohe Regierungsbeamte); Verf. von Guinea-Bissau Art. 33 (2); Guyanische Verf. Art. 144(4); Haitische Verf. Art. 51; Honduranische Verf. Art. 95, 96; Ungarische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; Indische Verf. Art. 20(1); Indonesische Verf. Art. 28I(1); Irakische Verf. Art. 19(2, 10); Italienische Verf. Art. 25; Jamaikanische Verf. Art. 20(7); Kasachische Verf. Art. 77(3)(5); Kenianische Verf. Art. 50(2)(p) (21. August 2010); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Kuwaitische Verf. Art. 32; Kirgisische Verf. Art. 6(5) (bestätigt durch Referendum im Juni 2010); Lettische Verf. Art. 89 (verfassungsrechtliches Erfordernis des Schutzes grundlegender Menschenrechte in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen, die Lettland binden, die die Implementierung des EMRK und des IPbpR zu erfordern scheint); Lesothische Verf. Art. 12(4); Liberische Verf. Art. 21(a); Mazedonische Verf. Art. 14, 52; Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf. Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische Verf. Art. 7(1); Maledivische Verf. Art. 17(2); Malische Verf. Art. 95 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamter – hinsichtlich allgemeiner Straftaten wird nulla poena von ACHPR und IPbpR erfordert); Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8)(1); Mauritische Verf. Kap. II, Art. 10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Mikronesische Verf. Art. IV(11); Moldawische Verf. Art. 22; Monegassische Verf. Art. 20; Montenegrinische Verf. Art. 33, 34; Marokkanische Verf. Art. 4; Mosambikanische Verf. Art. 99(2); Verf. von Myanmar Art. 43, 353, 377 (2008); Namibische Verf. Art. 12(3); Verf. Naurus Art. 10(4); Nepalesische Übergangsverf. [2007], Art. 24(4); Nicaraguanische Verf. Art. 34(11), 38, 100; Verf. des Nigers Art. 16, 17; Nigerianische Verf. Art. 36 (8, 12); Norwegische Verf. Art. 96, 97; Grundgesetz des Staates von Oman Art. 21, 75; Pakistanische Verf. Art. 12(1); Verf. von Palau Art. IV(6); Panamaische Verf. Art. 46; Papua Neu Guineaische Verf. Art. 37(2, 7, 21, 22) (wobei für Dorfgerichte nullum crimen und nulla peona anscheinend einfachgesetzlich sind); Paraguayische Verf. Art. 14, 17(1); Peruanische Verf. Art. 2(24)(d); Philippinische Verf. Art. III(22);
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UN-Mitgliedsstaaten19 beide Grundsätze in ihrem höchsten nationalen Rechtsdokument anerkennen. 15 Staaten haben beide Grundsätze als einfachgesetzliche Regelungen implementiert: Österreich, Belgien, die VR China, Dänemark, Israel, Libanon, Litauen, Lichtenstein, Luxemburg, Mauretanien, Neuseeland, Saudi Arabien, die Schweiz, das Vereinigte Königreich, Uruguay und Usbekistan.20 Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(4); Verf. Katars Art. 40; Rumänische Verf. Art. 15(2); Russische Verf. Art. 54; Ruandische Verf. Präambel 9, Art. 20; Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Verf. Art. 8(4); Verf. von St. Vincent & the Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé und Príncipe Art. 7, 36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische Verf. Art. 34, 197; Seychellische Verf. Art. 19(4); Sierra Leonische Verf. Art. 23(8); Singapurische Verf. Art. 11(1); Slowakische Verf. Art. 50 (6); Slowenische Verf. Art. 28, 153, 155; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische Verf. Art. 34; Südafrikanische Verf. Art. 35(3)(n); Spanische Verf. Art. 9(3); Sri-lankische Verf. Art. 13(6); Surinamische Verf. Art. 131(2); Verf.-Gesetz des Swasilandes § 21(6); Schwedisches Grundgesetz zur Regierungsform Kap. 2 Art. 10; Syrische Verf. Art. 30; Tadschikische Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische Verf., Abschnitt 39; Togoische Verf. Art. 129 (nur im Bezug auf hohe Regierungsbeamte; Togo ist an nulla poena für allgemeine Straftaten durch ACHPR und IPbpR gebunden); Tongische Verf. Art. 20; Tunesische Verf. Art. 13; Türkische Verf. Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Verf. von Tuvalu § 22(7); Ugandische Verf. Art. 28(8); Ukrainische Verf. Art. 58; Verf. der VAE Art. 27; U.S. Verf. Art. I, §§ 9, 10; Verf. von Vanuatu Art. 5(2)(g); Venezolanische Verf. Art. 24; Jemenitische Verf. Art. 46, 103; Sambische Verf. Art. 18(4, 8); Simbabwische Verf. Art. 18(5). Ausnahmen von diesen Vorschriften werden in Gallant, Kap. 5.c.vi diskutiert und sind in Appendix A vermerkt sowie in Appendix C dokumentiert. Die Zahlen im Text beziehen sich nicht auf solche Staaten, die nulla poena verfassungsrechtlich nur auf hohe Regierungsbeamte anwenden und andere Quellen für die allgemeine Anwendung im Strafrecht haben. 19 Zu Körperschaften, die nicht Mitglied der UN sind und diese Doktrinen angenommen haben, siehe Kosovo Verf. Art. 33 (2008) (Der Kosovo wird von einigen Staaten als Staat anerkannt); Palästinensisches Ergänztes Grundgesetz Art. 15 (Palästina ist eine Körperschaft, die die Anerkennung als Staat anstrebt); Türkische Rep. Nordzypern Verf. Art. 18(1) (nur von der Türkei als Staat anerkannt; der UN-Sicherheitsrat hat die Staaten in der Resolution UN Security Council Res. 541, UN Doc. S/RES 541 (18. November 1983) dazu angehalten, diese nicht als Staat anzuerkennen). 20 „Civil law“-Staaten: Österreichisches StGB § 1; Belgischer Crim. Code Art. 2; Dänischer Crim. Code §§ 3, 4; Liechtensteinisches StGB § 1; Luxemburgischer Code Pénal Art. 2; Schweizer Code Pénal Art. 1, 2; Uruguayischer Código Penal Art. 15. Common-law-Staaten: New Zealand Bill of Rights Act Art. 26(1); United Kingdom Human Rights Act 1998, sched. 1, pt. 1, Art. 7; siehe auch Knuller (Publishing, Printing and Promotions), Ltd. v. DPP, [1973] AC 435 (U.K. H.L.). Kommunistische oder frühere Sowjetstaaten, die in der Vergangenheit die Gesetzlichkeit abgelehnt haben: Volksrepublik China Strafgesetz Art. 12 und Legislativgesetz Art. 84; Litauer Strafgesetz Art. 3; Usbekisches Strafgesetz Art. 13. Drei Staaten mit Verbindungen zu Europa und einer religiösen Rechtstradition: Israelisches Strafgesetz §§ 1 – 6; Libanesischer Code Pénal Art. 1 – 3, 6 – 8, 12 – 14; Mauretanischer Code Pénal Art. 4. Islam-rechtliche Staaten: Saudi Arabisches Grundgesetz des Beratungsgremiums Art. 38, Dekret A-90 (obwohl dieses Dokument manchmal wie eine Verfassung behandelt wird, ist die offizielle Verfassung Saudi-Arabiens der Koran und die Sunna des Propheten). Die Republik China (Taiwan) (deren Verfassung noch immer behauptet, der einzige Staat Chinas zu sein) implementiert diese Regeln ebenfalls durch Gesetz. Republik China Strafge-
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Eine andere Gruppe sind die vierzehn Staaten, die zwar eine nullum crimen Vorschrift in ihrer Verfassung haben, aber keine (ausdrückliche) zu nulla poena. Allerdings hat jeder dieser Staaten heutzutage das Verbot rückwirkender neuer Bestrafungen anerkannt: Fünf dieser Länder haben dies durch Gesetz getan: Bulgarien, Deutschland, die Elfenbeinküste, Japan und die Niederlande.21 Alle dieser Länder haben eines oder mehrere Menschenrechtsabkommen akzeptiert, die das Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Sanktionen beinhalten,22 einschließlich jener Staaten, in denen sich kein gesetzliches Verbot finden lässt: Aserbaidschan, Eritrea, Iran, Irland, Südkorea, Mali, der Sudan, Togo und der Tschad.23 Zudem gibt es eine Gruppe von Staaten, die zwar Menschenrechtsabkommen akzeptiert haben, die die Verpflichtung zum Rückwirkungsverbot von Straftaten und Sanktionen enthalten, für die sich jedoch weder entsprechende verfassungsrechtliche noch einfachgesetzliche Vorschriften finden: Zu dieser Gruppe gehören Australien, Gabun, Jordanien, die Republik Kongo, Laos, Libyen, die Mongolei, Nordkorea, San Marina, Trinidad und Tobago sowie Vietnam, die alle Parteien des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sind sowie häufig regionale Menschenrechtsabkommen unterzeichnet haben.24 Von besonderer Bedeutung für die Konstruktion internationalen Gemeinschaftsrechts ist das Verhalten der Staaten, die nicht Unterzeichner des IPbpR und regionaler Menschenrechtsabkommen sind oder waren. Die große Mehrheit hat das Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Sanktionen in ihrer Verfassung niedergelegt: Antigua und Barbuda, die Bahamas, Kuba, Fidschi, Kiribati, Malaysia, die Marshall setz Art. 1 und 2 und Gesetz zur Implementierung des International Covenant on Civil and Political Rights and the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (IPbpR) Art. 2 (22. April 2009) (das Gesetz transformiert die Vorschriften beider Abkommen in nationales taiwanesisches Recht). Siehe auch Republic of China Council of Grand Justices, Interpretation No. 384. 21 Bulgarische Verf. Art. 5(3) und Strafgesetz Art. 2; Ivorische Verf. Art. 21, und Code Pénal Art. 19 – 21; Deutsches Grundgesetz Art. 103(2) und §§ 1, 2, StGB; Japanische Verf. Art. 39, und Strafgesetz Art. 6; Niederländische Verf. Art. 16 und Strafgesetz Art. 1. 22 Abkommenstatus der Staaten mit nulla poena-Gesetzen: Bulgarien, EMRK und IPbpR; Elfenbeinküste, ACHPR und IPbpR; Deutschland, EMRK und IPbpR; Japan, IPbpR; Niederlande, EMRK und IPbpR; Staaten ohne Gesetz stehen in der folgenden Fußnote. 23 Aserbaidschanische Verf. Art. 71(VIII) mit EMRK, IPbpR; Tschadische Verf. Art. 23 mit ACHPR, IPbpR; Eritreische Verf. Art. 17(2) mit ACHPR, IPbpR; Iranische Verf. Art. 169 mit IPbpR; Irländische Verf. Art. 15(5)(1) mit EMRK, IPbpR; Rep. [Süd-]Koreanische Verf. Art. 13(1) mit IPbpR; Malische Verf. Art. 9 mit ACHPR, IPbpR; Sudanesische Nationale Übergangsverfassung Art. 34(4) mit ACHPR, IPbpR; Togoische Verf. Art. 19 mit ACHPR, IPbpR. 24 Australien, Laos, Demokratische Republik [Nord-]Korea und Vietnam sind Parteien des IPbpR; Rep. Kongo, Gabun, und Libyen sind Parteien des ACHPR und des IPbpR; Jordanien, überarbeitete ArCHR und IPbpR; Mongolei, IPbpR; San Marino, EMRK und IPbpR; Trinidad und Tobago, ACHR und IPbpR. Sahrauische Arabische Demokratische Republik (West-Sahara – eine Körperschaft, die von einer beträchtlichen Minderheit der Staaten Anerkennung gefunden hat) hat den ACHPR akzeptiert.
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Inseln, Mikronesien, Myanmar, Nauru, Oman, Palau, Papua Neu-Guinea, Katar, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, Samoa, Singapur (mit Ausnahmen für politische Straftaten), Solomon Inseln, Tonga, Tuvalu, die Vereinigten Arabischen Emirate und Vanuatu.25 Einige Staaten, die kürzlich dem IPbpR beigetreten sind, hatten bereits daher Rückwirkungsverbote in ihren Verfassungen verankert.26 Zwei Staaten, die den Beitritt zum internationalen Menschenrechtsregime erwägen, die Volksrepublik China und Saudi-Arabien, haben Gesetze, die das Rückwirkungsverbot von Straftaten und Sanktionen bekräftigen.27 Von besonderer Bedeutung ist die heutige Akzeptanz des Gesetzlichkeitsprinzips durch alle islamrechtlich und säkular geprägten Länder mit islamischer Bevölkerungsmehrheit. Haider Ala Hamoudi hat herausgestellt, dass es im klassischen islamischen Rechts „wegen der großen Vielfalt von Ermessensstraftaten, ta’azir genannt, […] [ursprünglich] kein Konzept des nulla poena/nullum crimen [gegeben habe].“28 Nichtsdestotrotz haben heute fast alle islamischen Staaten nulla poena/nullum crimen akzeptiert, „selbst solche, von denen behauptet wird, sie wendeten die shari’a an.“29 Daraus lässt sich schließen, dass diese Staaten ta’azir-Gesetze so anwenden, dass diese nicht gegen das Rückwirkungsverbot von Straftaten und Sanktionen verstoßen. Daher lässt sich auch nicht sagen, dass diese Staaten noch immer hartnäckige Gegner des gewohnheitsrechtlichen Rückwirkungsverbots seien. 25 Verf. von Antigua & Barbuda Art. 15(4); Kubanische Verf. Art. 59, 61; Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Malaiische Verf. Art. 7(1); Verf. der Marshall Inseln Verf. Art. II(8); Mikronesische Verf. Art. IV(11); Myanmarische Verf. Art. 23; Nauruische Verf. Art. 10(4) (Nauru hat den IPbpR unterzeichnet); Omanisches Grundgesetz des Staates Art. 21, 75, Sultan Verf. No. 101/96 (1996); Palauische Verf. Art. IV(6); Katarische Verf. Art. 40; Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Art. 8(4); Singapurische Verf. Art. 11(1), 149(1); Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Tongische Verf. Art. 20; Verf. von Tuvalu sec. 22(6, 7); Verf. der VAE Art. 27. 26 Bahamische Verf. Art. 20(4), die Bahamas sind dem IPbpR am 23. Dezember 2008 beigetreten; Pakistanische Verf. Art. 12 (mit Ausnahmen für Umstürze der Verfassung), Pakistan ist dem IPbpR am 23. Juni 2010 (ohne Vorhalt, der diese Ausnahme erlauben würde – somit hat Pakistan jetzt eine internationale Verpflichtung dazu, nicht auf diese Ausnahme zurückzugreifen) beigetreten; Papua Neu-Guineische Verf. Art. 37(2, 7, 21 und 22), dem IPbpR am 21. Juli 2008 beigetreten; Samoanische Verf. Art. 10(1 und 2), dem IPbpR am 15. Februar 2008 beigetreten; Vanuatuische Verf. Art. 5(2)(f und g), dem IPbpR am 21. November 2008 beigetreten. 27 Strafgesetz der Volksrepublik China Art. 3, 12; Legislativgesetz der Volksrepublik China Art. 9, 84; Saudi Arabisches Grundgesetz des Beratungsbeirats Art. 36. Die Volksrepublik China hat den IPbpR unterzeichnet. Saudi Arabien hat die überarbeitete ArCHR unterzeichnet und interne Schritte unternommen, um diese zu ratifizieren. Siehe Shura Council ratifies Arab Charter on Human Rights, auf http://www.saudiembassy.net/2008News/News/RigDetail. asp?cIndex=7698 (Website der Königlichen Botschaft Saudi-Arabiens in den USA). 28 Hamoudi, sec. II.A [Material in Klammern vom Verf. hinzugefügt]. 29 Hamoudi, sec. II.A; islamrechtliche Staaten und Staaten mit islamischer Mehrheit, die diese Doktrin akzeptieren, sind in der obigen Zusammenstellung aufgelistet, abhängig von der Methode der Zustimmung (Verfassung, Gesetz oder Abkommen). Die einzige Ausnahme zur allgemeinen Akzeptanz des Rückwirkungsverbots ist Brunei.
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Lediglich in zwei UN-Mitgliedsstaaten, Bhutan und Brunei, sowie einem Staat mit Beobachterstatus bei der UN, der Vatikanstadt, besteht weder durch Verfassung, Gesetz noch durch Abkommen ein allgemeines Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Sanktionen. Selbst diese Staaten haben sich jedoch durch Abkommen unter bestimmten Umständen zum Verbot der Rückwirkung verpflichtet. Durch die Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention haben Brunei und Bhutan ein Rückwirkungsverbot für Straftaten zumindest für Jugendliche akzeptiert.30 Brunei und der Vatikan haben ein Rückwirkungsverbot sowohl hinsichtlich Straftaten, als auch Sanktionen während nicht-internationalen bewaffneten Konflikten mit dem Zusatzprotokoll II von 197731 zur Genfer Konvention von 1949 akzeptiert. In anderen Worten: Das Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Sanktionen ist eine nahezu weltweite Regel. Somit zeigt die beinahe universelle Anerkennung des Rückwirkungsverbots für Straftaten und Strafen, dass es sich dabei um einen allgemeinen Grundsatz des Rechts handelt, der von der Gemeinschaft der Staaten anerkannt wird.32 Allgemeine Prinzipien des Rechts schließen die Kategorie der weit verbreiteten „grundlegenden Prinzipien des Strafrechts“, wie der Gesetzesbindung, mit ein.33 Dies gestattet auch die Anwendung dieser Regel durch den Internationalen Gerichtshof und andere Instanzen, die den Grundsätzen des Internationalen Gerichtshofs zu den Quellen internationalen Rechts folgen.34 Der völkergewohnheitsrechtliche Status zeigt jedoch auch, dass sie eine größere als die bloße normative Kraft besitzt. Heutzutage ist die Verabschiedung von inländischen Gesetzen, verfassungsrechtlich oder auf anderem Wege, Teil der „Praxis der Staaten“, wenigstens hinsichtlich der Schaffung von internationalen Menschenrechten. Einige ältere Definitionen von Staatenpraxis im internationalen Recht würden innerstaatliche verfassungsrechtliche oder gesetzliche Vorschriften nicht als Instanzen der Staatenpraxis mit einbeziehen, sondern würden sich auf Akte zwischen den Staaten beschränken.35 Heute ist jedoch anerkannt, dass auch eine konsistente innerstaatliche Praxis der Staaten zu den Akten zählen kann, die internationales Recht, insbesondere internationale Menschenrechte, begründen. Die gegenwärtige Praxis des internationalen Gerichtshofs legt nahe, dass die nahezu universelle Anerkennung dieser Rechtsregel bereits genügt, um seinen Status 30
Konvention über die Rechte des Kindes Art. 40(2)(a). Zusatzprotokoll II Art. 6(2)(c). 32 Siehe Statute of the International Court of Justice [im Folgenden ICJ Stat.], Art. 38(1)(c) (das den Begriff „zivilisierten“ statt der späteren Formulierung „Gemeinschaft der“ Nationen verwendet). 33 Marc Henzelin, Le principe de l’universalité en droit pénal inernational: Droit et obigation pour les États de poursuivre et juger selon le principe de l’universalité, 2000, S. 641. 34 ICJ Stat. Art. 38. 35 George Brand, The Sources of International Criminal Law, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. S. 5, S. 6 – 10. 31
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als internationales Gewohnheitsrecht zu belegen. Im Fall des Haftbefehls vom 11. April 2000 (Demokratische Republik Kongo vs. Belgien) untersuchte der Internationale Gerichtshof sorgfältig „die Staatenpraxis, einschließlich der Gesetzgebung und die wenigen Entscheidungen höherer nationaler Gerichte“, um festzustellen, ob es das internationale Gewohnheitsrecht gestattet, einen amtierenden ausländischen Minister wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Missachtung seiner diplomatischen Immunität in einem anderen Staat vor Gericht zu stellen.36 In anderen Worten zählt heutzutage auch interne Staatenpraxis, einschließlich der Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit,37 als Beleg für internationales Gewohnheitsrecht. Der Haftbefehl-Fall verlangte von den Staaten keine Rechtfertigung ihrer internen Staatenpraxis anhand des internationalen Rechts, um dieses für die Begründung internationalen Gewohnheitsrechts heranzuziehen. Der Internationale Gerichtshof schien weniger Wert auf eine opinio juris38 gelegt zu haben, als es früher einmal der Fall war – wenigstens dort, wo diese Praktiken weitverbreitet sind. In diesem Sinne kann man kaum die weite Verbreitung des Rückwirkungsverbots für Straftaten und Sanktionen als Menschenrecht in nationalen Verfassungen und Gesetzen bezweifeln. Der Haftbefehl-Fall ist nicht der einzige Beweis für innerstaatliche Praxis, die internationales Gewohnheitsrecht begründete. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war man teilweise davon überzeugt, dass eine Praxis, die von den Staaten durch ihr Verhalten als allgemeiner Grundsatz der Gerechtigkeit anerkannt wird, auch als Regel des internationalen Gewohnheitsrechts durchgesetzt werden kann.39 Das indiziert natürlich, dass Praktiken zu innerstaatlichen Angelegenheiten als Teil der Praktiken betrachtet werden können, die für die Bestimmung von Regeln des internationalen Gewohnheitsrechts herangezogen werden. Das Menschenrecht bezieht sich vorrangig auf die Interaktion von Staaten und Individuen. Obwohl diese Individuen gelegentlich Ausländer sind, halten sich die meisten von uns den größten Teil der Zeit im Staat unserer jeweiligen Nationalität auf. Daher schützen internationale Menschenrechtsabkommen generell individuelle Menschenrechte (mit Ausnahme der politischen Partizipation) ungeachtet dessen, ob
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Case Concerning the Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of Congo v. Belgium), Judgment, 58 (ICJ, 14 February 2002). 37 Gerichtsentscheidungen wurden traditionell als subsidiär bei der Bestimmung von Rechtsregeln angesehen. ICJ Statute Art. 38 I d. 38 Vgl. die Fälle zum Kontinentalschelf in der Nordsee (Fed. Rep. of Germany v. Denmark, Fed. Rep. of Germany v. Netherlands), 1969 I.C.J. 3. 39 George Brand, The Sources of International Criminal Law, 15 U.N.W.C.C., Law Rep., S. 5, 6 – 10 (die Autorenschaft wird ihm im Vorwort von [Lord] Wright [of Durley] zugeschrieben, ebda. S. x), der sich auf United States v. List (Hostages Case) stützt, wie in 8 id. 34, 49 – 50 (19. Februar 1948), und die Analyse des Schonfeld Case, 11 id. 64, 72 – 73 (British Military Ct., Essen, 19. Juni 1946) zitiert.
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die beteiligte Person ein Staatsbürger des jeweiligen Staates ist oder nicht.40 Diese internationalen Menschenrechte schützen die Staatsangehörigen vor ihrem eigenen Staat. Eine Vorstellung von gewohnheitsrechtlichen internationalen Menschenrechten würde ohne den Schutz von Staatsbürgern vor ihrem eigenen Staat wenig Sinn machen. Daher ist es vernünftig, auch die Praxis der Staaten, einschließlich verfassungsrechtlicher Vorschriften und Gesetze, die sich auf die eigenen Staatsbürger auswirkt, mit in die Staatenpraktiken einzubeziehen, die internationale Menschenrechte begründen. Islamisches Recht mag sich zwar als ein sogenannter „ständiger Einspruch“ zu diesem Thema präsentiert haben – gegenwärtig tut es das aber nicht. Auch wenn ta’azir-Recht in einigen islamischen Gesellschaften bzw. Staaten noch traditionell (d. h. im Widerspruch zur Gesetzmäßigkeit) angewendet wird, so sind die in diesem Beitrag getroffenen Aussagen hinsichtlich einer gewohnheitsrechtlichen Regel doch nicht widerlegt. Ein Staat, der beständig Einspruch gegen die Bildung einer Regel des internationalen Gewohnheitsrechts erhebt, während diese sich herausbildet, wird als „persistent objector“, also als ständig Einsprechender, bezeichnet. Ein „persistent objector“ mag sich zwar im Widerspruch zu internationalem Gewohnheitsrecht verhalten, ein solcher Widerspruch zerstört jedoch nicht die Verpflichtung der anderen Staaten zur Befolgung des Gewohnheitsrechts. Jedenfalls zeigen die oben angeführten Nachweise, dass fast alle islamischen Staaten sich einer Anwendung von ta’azir-Recht verschrieben haben, die das Verbot der Rückwirkung für Straftaten und Sanktionen anerkennt. Entsprechend lässt sich auch nicht sagen, dass einer dieser Staaten wirklich ein persistent objector wäre. 2. Die Abkommen – Allgemeine Menschenrechtsabkommen, Abkommen des humanitären Völkerrechts und andere Der Beweis des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots als Gegenstand des Völkergewohnheitsrechts stützt sich nicht nur auf innerstaatliche Praxis und die UNMenschenrechtscharta, sondern auch auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR),41 auf die Europäische Menschenrechtscharta 40 Siehe allgemein IPbpR Art. 2 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 25 (politische Beteiligungsrechte sind für „Bürger“ des Staats); EMRK Art. 14 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 16 (politische Beteiligungsrechte von „Ausländern“ können beschränkt werden); ACHR Art. 1 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 23 (Recht zur Beteiligung an der Regierung kann auf „Bürger“ beschränkt werden); ACHPR Art. 2 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 13 (Recht zur Beteiligung an der Regierung kann auf „Bürger“ beschränkt werden); überarbeitete ArCHR Art. 3 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 24 (politische Rechte können auf „Bürger“ beschränkt werden). 41 IPbpR Art. 15, G.A. Res. 2200 A (XXI), 21 GAOR Supp. No. 16, p. 52, UN Doc. A/ 6316, 993 U.N.T.S. 171 (16. Dezember 1966, in Kraft getreten am 23. März 1976) [IPbpR].
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(EMRK),42 auf die Amerikanische Konvention der Zivilen und Politischen Rechte (the American Convention on Civil and Political Rights [ACHR])43 und auf die Afrikanische Charta der Menschen- und Völkerrechte (ACHPR).44 Die neu überarbeitete Arabische Charta der Menschenrechte (überarbeitete ArCHR) bringt die Gesetzmäßigkeit deutlich zum Ausdruck: Keine Straftat und keine Strafe kann ohne vorherige Rechtsvorschrift erlassen werden. Unter allen Umständen hat das für den Angeklagten vorteilhafteste Recht Anwendung zu finden“45 Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit wird im IPbpR, der EMRK, der ACHR und der überarbeiten ArCHR ausdrücklich als unabdingbar selbst in Krisenzeiten bezeichnet.46 Selbst die sogenannte Nürnberg-Klausel im IPbpR und der EGMR47 weicht nicht vom Rückwirkungsverbot ab. Diese erlaubt Verurteilungen „wegen einer Handlung oder Unterlassung (…), die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“48 In anderen Worten muss der allgemeine Grundsatz bereits zum Zeitpunkt der Straftat existiert haben. Bezeichnend für die Herausbildung eines Völkergewohnheitsrechts ist, dass über 110 nationale Verfassungen und Gesetze diese Regel in ähnlicher Form wie die UNMenschenrechtscharta und diese Abkommen enthalten. Das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen, wie es in diesen Verfassungen enthalten ist, stellt darauf ab, ob eine Handlung oder ein Unterlassen zum Zeitpunkt der Tat eine Straftat darstellte (oder damit eine Strafe verwirkt war).49 42 Auch bekannt als Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten Art. 7, 312 U.N.T.S. 221 (4 November 1950) [EMRK]. 43 American Convention on Human Rights Art. 9, 1114 U.N.T.S. 123 (22. November 1969), abgedruckt in 9 I.L.M. 673 (1970) [ACHR]. 44 African Charter of Human and Peoples’ Rights Art. 7(2), OAU Doc. CAB/LEG/67/3/ Rev. 5, Art. 7(2) (27 June 1981) abgedruckt in 21 I.L.M. 59 (1982) [ACHPR]. 45 Überarbeitete Arabische Charta der Menschenrechte (Revised Arab Charter on Human Rights) Art. 15, abgedruckt in 12 Int’l Hum. Rts. Rep. 893 (2005) (22. Mai 2004; im Kraft getreten 15. März 2008). 46 Siehe IPbpR Art. 4; EMRK Art. 15(2); ACHR Art. 27; überarbeitete ArCHR Art. 4; 1 ICRC Customary IHL (Rule) discussion of R. 101, auf S. 371 – 372; 2 ICRC Customary IHL (Practice, part II) 3677 – 3678, 2681 – 2682, S. 2494 – 2495. 47 Art. 15 II IPbpR; EMRK Art. 7 II EMRK (der frühere Ausdruck „zivilisierte Nationen“ aus dem ICJ-Statut wird statt „Gemeinschaft der Nationen“ verwendet). 48 Art. 7 EMRK. Die Überschrift „Keine Strafe ohne Gesetz“ zu diesem Abschnitt wurde durch das 11. Protokoll zur EMRK eingefügt. 49 Nationale Verfassungen, die üblicherweise so verstanden wurden, sind etwa Albanische Verf. Art. 29; Algerische Verf. Art. 46; Andorranische Verf. Art. 9(4); Argentinische Verf. Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Bahamische Verf. Art. 20(4); Bangladescher Verf. Art. 35 (1); Barbadische Verf. Art. 18(4); Belizische Verf. Art. 6(4); Beninische Verf. Art. 17; Botswanische Verf. Art. 10(4); Bulgarische Verf. Art. 5(3); Burundische Verf. Art. 39, 40; Kamerunische Verf. Präambel; Kanadische Verf.-Gesetz Art. 11(g); Verf. der Zentralafrikanischen Republik Art. 3; Tschadische Verf. Art. 23; Chilenische Verf. Art. 19(3); Komorische Verf. Art. 48; Verf. der Dem. Rep. Kongo Verf. Art. 17; Costa-ricanische Verf. Art. 39; Ivorische
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Die Regel in der Form der UN-Menschenrechtscharta und des IPbpR setzt nur voraus, dass die Handlung von irgendeinem zum Zeitpunkt der Tat auf den Täter anwendbaren Gesetz unter Strafe gestellt ist und dass die Sanktion nach irgendeinem zum Zeitpunkt der Tat auf den Täter anwendbaren Gesetz erlaubt ist. Folglich wird keine strengere Regel vorausgesetzt, die es erfordern würde, dass ein bestimmtes Gesetz, das eine Verurteilung und Bestrafung erlaubt, zum Zeitpunkt der Tat in Kraft gewesen ist, nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.50 Das legt nahe, dass zumindest zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Textes des IPbpR das Bestehen eines kriminalisierenden Textes nicht Teil des Völkergewohnheitsrechts war. Der Umstand, dass so viele Staaten den Wortlaut der UN-Menschenrechtscharta und Verf. Art. 21; Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische Verf. Art. 59; Verf. der Rep. Zypern Art. 12(1); Djiboutische Verf. Art. 10; Dominikanische Verf. Art. 8(4); Verf. Ost-Timors Art. 31(2); Ecuadorianische Verf. Art. 24(1); Salvadorianische Verf. Art. 15; Äquatorial-guineisches Grundgesetz Art. 13(s); Eritreische Verf. Art. 17(2); Estländische Verf. Art. 23; Äthiopische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnische Verf., Kap. 2, Abschnitt 8; Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Art. 8; Gambische Verf. Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Deutsches Grundgesetz Art. 103(2) (nullum crimen); Ghanaische Verf. Art. 19(5); Griechische Verf. Art. 7(1); Grenadische Verf.-Ordnung, Art. 8 (4); Guyanische Verf. Art. 144(4); Ungarische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; Indische Verf. Art. 20; Iranische Verf. Art. 169; Jamaikanische Verf. Art. 20(7); Japanische Verf. Art. 39; Kenianische Verf. Art. 50(2)(n, p) (21. August 2010); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Verf. Rep. (Süd-) Korea Art. 13(1); Lesothische Verf. Art. 12(4); Mazedonische Verf. Art. 14; Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf. Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische Verf. Art. 7(1); Maledivische Verf. Art. 17; Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8); Mauritische Verf. Art.10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Moldawische Verf. Art. 22; Mosambikanische Verf. Art. 99; Namibische Verf. Art. 12(3); Nauruische Verf. Art. 10(4); Nepalesische Übergangsverf. Art. 24(4); Nicaraguanische Verf. Art. 34(11); Verf. des Niger Art. 17; Nigerianische Verf. Art. 36(8); Pakistanische Verf. Art. 12(1); Palauische Verf. Art. IV(6); Papua-Neu-Guineische Verf. Art. 37; Paraguayische Verf. Art. 17(3); Peruanische Verf. Art. 2(24)(d); Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(1); Russische Verf. Art. 52(1); Ruandische Verf. Art. 18, 20; Verf. von St. Kitts & Nevis Verf. 10(4); Verf. St. Vincent & the Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé and Príncipe Art. 36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische [früheres Serbien und Montenegro] Charta der Menschen-, Minderheiten- und Bürgerrechte Art. 20; Seychellische Verf. Art. 19(4); Sierra Leonische Verf. Art. 23(7); Singapurische Verf. Art. 11(1); Slowakische Verf. Art. 49, 50(6); Slowenische Verf. Art. 28; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische Verf. Art. 34; Südafrikanische Verf. Art. 35(3)(l); Spanische Verf. Art. 25(1); Sri-lankische Verf. Art. 13(6); Sudanesische Nationale Übergangsverfassung Art. 34(4); Tadschikische Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische Verf., 2007 § 39; Türkische Verf. Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Tuvaluische Verf. § 22(6); Ukrainische Verf. Art. 58; Vanuatuische Verf. Art. 5(2)(f); Venezolanische Verf. Art. 49(6); Sambische Verf. Art. 18(4); Simbabwische Verf. Art. 18(5); vgl. Guatemaltekische Verf. Art. 17. Die Kirgische Verfassung entsprach früher diesem Schema, tut dies aber heute nicht mehr. Für einfachgesetzliche Regelungen mit ähnlicher Auswirkung siehe Volksrepublik China Strafgesetz Art. 3, 12; Dänisches Strafgesetz § 3; Neuseeländische Bill of Rights-Gesetz Art. 26(1); U.K. Human Rights Act Art. 7. Zu einer Körperschaft, deren Status umstritten ist, siehe Kosovo Verf. Art. 33. Zu einer im Allgemeinen nicht als Staat anerkannte Körperschaft, siehe Verf. der Türkischen Republik Zypern Art. 18(1). 50 Siehe im Besonderen Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Art. 8.
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des IPbpR in ihren Verfassungen aufgenommen haben,51 indiziert, dass die Regel der praevia lex scripta bis heute nicht Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot kommt durchgehend im humanitären Völkerrecht, einschließlich des Rechts innerstaatlicher bewaffneter Konflikte, vor. Die Regel ist in beiden beinahe universell unterzeichneten Genfer Konventionen III und IV zu Kriegsgefangen und Zivilisten von 1949 sowie den zwei weithin, aber nicht universell, angenommen Protokollen von 197752 enthalten. Mit anderen Worten haben sich die Staaten selbst zur Gesetzmäßigkeit in Zeiten größter Belastung verpflichtet – ein starker Hinweis darauf, dass es sich um Völkergewohnheitsrecht handelt. 3. Die Praxis der internationalen Organisationen und Gerichte Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Strafen findet sich auch in den Gründungsdokumenten und/oder der Rechtsprechung der modernen internationalen und internationalisierten Strafgerichte als von Rechts wegen erforderlich. Bezeichnend für die Bildung von Gewohnheitsrecht ist, dass das Rückwirkungsverbot in der Praxis der internationalen Strafgerichte dort in Erscheinung tritt, wo es nicht in den Gründungsdokumenten enthalten ist. Die Statuten der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) sowie des Sondergerichtshofs für Sierra Leone (SCSL) enthalten keine ausdrückliche Aussage über den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit. Nichtsdestotrotz wurde nullum crimen sine lege als Rechtsregel in der Rechtsprechung aller anerkannt.53 51 Einige dieser Staaten mit diesen Verfassungen wenden jedenfalls tatsächlich die striktere Regel praevia lex scripta in ihrer tatsächlichen nationalen Praxis entweder durch Gesetz, Richterrecht oder Gewohnheit an. 52 Genfer Konvention (Nr. IV) Art. 65 (Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Bestrafungen zum Schutze von Zivilisten); Genfer Konvention (Nr. III) Art. 99 (das Gleiche für Kriegsgefangene); Zusatzprotokoll I zur Genfer Konvention von 1949 Art. 75(4)(c) (1977); Zusatzprotokoll II zur 1949 Genfer Konvention Art. 6(2)(c) (1977) (die beiden Vorschriften aus den Zusatzprotokollen durch Konsens angenommen; die Zusatzprotokoll II Vorschrift findet auf intere bewaffnete Konflikte Anwendung); Jean-Marie Henckaerts & Louise Doswald-Beck, 1 Customary International Humanitarian Law (Rules) R. 101 (Cambridge Univ. Press 2005) (Studie veröffentlicht vom ICRC) [folgend ICRC, Customary IHL] (Regel des Völkergewohnheitsrechts, die für interne sowie internationale bewaffnete Konflikte gilt), belegt durch ausführliche Dokumentation in 2 (Teil 2) ICRC, Customary IHL (Practice) §§ 3673 – 3716, S. 2493 – 2500. 53 ICTY: z. B. Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch., 21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 – 127 Case No. IT-95-14/1 (ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 178 – 80, Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v. Aleksovski (Appeal of Nobilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of Contempt, Case No. IT-95-14/1AR77 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (contempt, a non-statutory crime). ICTR: siehe Prosecutor v. Akayesu, Judgement 617, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September
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Hinsichtlich des materiellen Strafrechts im ICTY Statut hielt der Report des UNGeneralsekretärs, der die Errichtung des ICTY forderte, fest, dass nur solche Straftaten enthalten sein sollen, die „zweifelsfrei“ völkergewohnheitsrechtlich anerkannt waren. Dies geschah, „damit das Problem des Festhaltens einiger, jedoch nicht aller Staaten an bestimmten Konventionen nicht entsteht“54, also um Probleme des nullum crimen sine lege zu umgehen. Die Resolution des Sicherheitsrats, die den ICTY errichtet hat, ist Praxis einer internationalen Organisation.55 Die Gründungsdokumente der „internationalisierten“ Strafgerichte (Kosovo, OstTimor und Kambodscha) gehen mit Blick auf den Schutz vor rückwirkender Kriminalisierung noch weiter als die Statuten der ad hoc Tribunale. Diese drei Tribunale binden durch Verweise auf Menschenrechtsdokumente die Gerichte auf beide Teile des Gesetzlichkeitsgrundsatzes nullum crimen und nulla poena.56 Kosovo und OstTimor sind Beispiele dafür, dass die Staatengemeinschaft nationalen und lokalen Regierungen diese Prinzipien außerhalb des Zusammenhangs von Abkommen, die die Einhaltung der Gesetzlichkeit direkt erfordern, auferlegt. Die UN-Charta führt das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen nicht ausdrücklich als internationales Menschenrecht auf. Folglich indiziert die Praxis unter der Charta in jüngster Zeit (d. h. durch direkte UN-Verwaltung im Kosovo und Ost-Timor) besonders, dass dieses Recht Völkergewohnheitsrecht geworden ist.57
1998). SCSL: Prosecutor v. Norman, Decision on Preliminary Motion Based on Lack of Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72(E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004). 54 Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808, UN Doc. S/25704, 34 (3 May 1993), [folgend Sec-Gen’s ICTY Rep.]. 55 SC Res. 827, UN Doc. S/RES/827, mit dem angehängten Statut des Internationalen Tribunals. 56 UN Interim Administration Mission in Kosovo UNMIK Regulation No. 2000/59, UN Doc. UNMIK/REG/2000/59, amending UNMIK Regulation No. 1999/24 [10 June 1999] On the Law Applicable In Kosovo (27 October 2000) §§ 1.3, 1.4; UNTAET Regulation No. 1999/ 1, UN Doc. UNTAET/REG/1999/1, On the Authority of the Transitional Administration in East Timor § 2 (27 November 1999), sich stützend auf Sicherheitsratsresolution 1272, UN Doc. No. S/RES/1272 (25 October 1999), and UNTAET Regulation No. 2000/15, UN Doc. UNTAET/REG/2000/15, On the Establishment of Panels with Exclusive Jurisdiction over Serious Criminal Offenses §§ 12, 13 (6 June 2000); Draft Agreement between the United Nations and the Royal Government of Cambodia concerning the Prosecution under Cambodian Law of Crimes Committed during the Period of Democratic Kampuchea (Abkommen zwischen den Vereinten Nationen und der königlichen Regierung von Kambodscha bezüglich der Verfolgung von während der Zeit des Demokratischen Kampuchaes nach kambodschanischem Recht begangenen Straftaten) Art. 12(2), bestätigt und auf Rote-Khmer-Tribunale erweitert, G.A. Res. 57/228 B, UN Doc. A/RES/57/228 B (22 May 2003), und die IPbpR Art. 14 und 15 miteinschließend. Das Agreement Between the United Nations and the Royal Government of Cambodia Concerning the Prosecution under Cambodian Law of Crimes Committed During the Period of Democratic Kampuchea wurde am 6. Juni 2003 in Phnom Penh unterzeichnet. In Übereinstimmung mit seinem Artikel 32 trat es am 29. April 2005 in Kraft. 57 Siehe Abschnitt III.4. unten.
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Schließlich wurde das Prinzip der Gesetzesmäßigkeit im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshof aufgenommen.58 Dieses wird auch vom Gerichtshof angewendet.59 4. Opinio juris Oft wird behauptet, es sei leichter eine opinio juris für internationales Menschenrecht zu finden als eine Staatspraxis.60 Staaten haben regelmäßig verlautbart, dass das Rückwirkungsverbot ein Menschenrecht darstellt.61 Zudem haben wir neuerdings gesehen, dass der Internationale Gerichtshof weitverbreitete Staatenpraxis als Entstehungsgrund für Völkergewohnheitsrecht im Bereich der strafrechtlichen Immunität angesehen hat – ohne Rückgriff auf eine opinio juris.62 Eine ältere Ansicht würde allerdings voraussetzen, dass das Verhalten mit der Ansicht verknüpft ist, dass dieses durch internationales Recht erforderlich (bzw. erlaubt) ist, um opinio juris zu beweisen.63 Eine genaue Betrachtung des hier Aufgezeigten zeigt in vielen Fällen opinio juris in diesem traditionellen Sinn. Dies lässt sich am leichtesten anhand des Verhaltens der internationalen Organisationen zeigen, deren Praxis und opinio mittlerweile zu den Quellen gehören, die das Völkergewohnheitsrecht ausmachen.64 In diesem Fall ist die opinio juris von internationalen Organisationen und Staaten wesentlich. Dabei sind es die modernen internationalen Tribunale, vom ICTY bis zum ICC, die größtenteils verantwortlich für die Entwicklung des modernen internationalen Strafrechts sind und die Strafverfolgung derer übernehmen, denen internationale Straftaten vorgeworfen werden, die diejenigen bestrafen, die für schuldig befunden werden, und die diejenigen freilas58
ICC Statute, Art. 11, 22 – 24; vgl. Art. 21 (der eine Anwendung in Übereinstimmung mit dem international anerkannten Menschenrechte erfordert). 59 Procureur c. Dyilo, No. ICC-01/04 – 01/06, Décision sur la confirmation des charges (Version publique) (La Chamber Préliminaire I) 294 – 316, 29 January 2007. 60 Meron, S. 264. 61 Für entsprechende Aussagen siehe Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion on Interlocutory Appeal on Jurisdiction 143, Case No IT-94-1 (ICTY App. Ch., 2 October 1995) (wo Aussagen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zum Provisional Verbatim Record, SCOR, 3217th mtg., S. 11, 15, 19, U.N. Doc. S/PV.3217 (25 May 1993) diskutiert werden); Machteld Boot, Genocide, Crimes against Humanity, War Crimes: Nullum Crimen Sine Lege and the Subject Matter Jurisdiction of the International Criminal Court 218 – 219, S. 235 und n. 55, 236 und n. 57, 237 und n. 60 (Intersentia 2002) [folgend Boot] (die Aussagen Russlands, der Organisation der Islamischen Konferenz, Kanadas, Venezuelas, Brasiliens, Spaniens und Mexikos zitiert, wobei die Zitate aus Venezuela, Brasilien und Spanien keine direkten Verweise auf das gegenwärtige internationale Strafrecht enthalten; Gallant, Kap. 4.a.ii, 4.b.2 (einschließlich Hinweise zu Aussagen einer Vielzahl von Staaten während der Verhandlungen zur UN-Menschenrechtscharta bzw. zum IPbpR). 62 Siehe Arrest Warrant Case, der in den Fn. 38 – 40 oben diskutiert wird. 63 Siehe Fälle zum Kontinentalschelf in der Nordsee, diskutiert in Fn. 40 oben. 64 Siehe Kenneth S. Gallant, International Criminal Courts and the Making of Public International Law: New Roles for International Organizations and Individuals, 43 John Marshall Law Review 603 (2010).
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sen, die für unschuldig erachtet werden, von besonderer Bedeutung, da diese Organisationen, insbesondere wenn sie sich durch ihre justiziellen Organe äußern, häufig rechtliche Begründungen für ihre Entscheidungen geben. Als der Sicherheitsrat z. B. das ICTYerrichtet und den Bericht des UN-Generalsekretärs angenommen hat, hat er auch die Sicht des Generalsekretärs65, dass das Rückwirkungsverbot von rechtswegen erforderlich ist, übernommen. Auf ähnliche Weise haben internationale Tribunale und Gerichte, die das Rückwirkungsverbot voraussetzen, durch die Begründung ihrer Auffassung opinio juris gezeigt.66 Das gilt insbesondere für die Rechtsauffassung des ICTY, des ICTR und des SCSL, da deren Statuten nicht ausdrücklich ein Rückwirkungsverbot aussprechen. Angesichts der Schaffung von hartem, also durchgesetztem, Strafrecht durch die internationalen Strafgerichte und Tribunale kann heutzutage nicht länger bezweifelt werden, dass ihre Auffassung als opinio juris des internationalen Strafrechts (und damit verbunden: der Menschenrechte) gilt. Die gegenwärtige Verwaltung von Territorien durch die UN, wie in Ost-Timor und dem Kosovo, erkennt das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen ebenfalls an, was dazu führt, dass auch dies opinio juris zeigt. Dies legt die Auffassung nahe, dass die Gesetzlichkeit im Strafrecht ein internationales Menschenrecht ist, das durch die UN-Charta und der ihr gemäß erfolgten Tätigkeit gefördert werden soll. Dafür spricht auch, wenn man die über 110 Staaten sieht, die verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Regeln ähnlich dem Wortlaut des IPbpR oder der UN-Menschenrechtscharta besitzen. Eine große Mehrheit dieser Staaten hat ihre Verfassung nach der UN-Menschenrechtscharta von 1949 geschaffen oder geändert. Daraus kann geschlossen werden, dass diese Staaten das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen deshalb übernommen haben, weil es Völkergewohnheitsrecht verkörpert. Dies gilt insbesondere für solche Staaten, die eine derartige Formulierung in ihre Verfassung oder Gesetze aufgenommen haben, ohne Teil des internationalen Menschenrechtsabkommensregimes zu sein.67 Diese Staaten hätten keine durch Abkommen begründete Verpflichtung, ein Rückwirkungsverbot zu implementieren. 65
Sec-Gen’s ICTY Rep. 34. ICTY: z. B. Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch., 21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 – 27 Case No. IT-95-14/1 (ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 175 – 80, Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v. Furundzija, Judgement 165 – 69, Case No. IT-95-17/1 (ICTY Tr. Ch., 10 December 1998); Prosecutor v. Aleksovski (Appeal of Nobilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of Contempt, Case No. IT-95-14/1-AR77 13 – 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (contempt, a non-statutory crime). ICTR: siehe Prosecutor v. Akayesu, Judgement 601 – 17, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September 1998). SCSL: Prosecutor v. Norman, Decision on Preliminary Motion Based on Lack of Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72(E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004). 67 Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags hatten die folgenden Staaten kein allgemeines Menschenrechtsabkommen unterzeichnet (IPbpR oder regionale Menschenrechtsabkommen), aber eine verfassungsrechtliche oder gesetzliche nullum crimen/nulla poena Bestimmung wie die UN-Menschenrechtscharta/IPbpR: Verf. der Bahamas Art. 20 IV; VR China 66
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In der Tat kann aus der großen Mehrheit der über hundert Staaten, die diese Vorschrift in ihre Verfassung aufgenommen haben, die Folgerung gezogen werden, dass das Rückwirkungsverbot in der Art der UN-Menschenrechtscharta und des IPbpR durch Völkergewohnheitsrecht gefordert wird und/oder diesem entspricht. Das ergibt sich daraus, dass die meisten dieser Staaten ihre Verfassungen nach 1948 (als die UN-Menschenrechtscharta geschaffen wurde) erlassen oder wesentlich überarbeitet haben. Es ist daher sicher, dass sie die entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorschriften im Lichte der UN-Menschenrechtscharta (neu-)erlassen oder inhaltich überarbeitet haben. Die Annahme des Textes des IPbpR im Jahr 1966 bringt eine opinio juris zum Ausdruck, dass der Text den Anforderungen des internationalen Gewohnheitsrechts entspricht. Der Sinn und Zweck des Abkommens war es, Menschenrechte zu festigen und weiterzuentwickeln. Im Zusammenhang des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsgebots bedeutet dies, dass ein Gebot praevia lex scripta noch kein Völkergewohnheitsrecht geworden war. Ebenso ist die Vielzahl der Staaten, die seit 1948 Texte ähnlich der UN-Menschenrechtscharta (und seit 1966 ähnlich des IPbpR und der UN-Menschenrechte) erlassen haben, Ausdruck der opinio juris, dass diese Texte wenigstens dem Völkergewohnheitsrecht und/oder abkommensrechtlichen Verpflichtungen entsprechen. Mehrere Abkommen, einschließlich des IPbpR, verbieten die Abweichung vom Verbot der Rückwirkung. Angesichts der Tatsache, dass sie die Abweichung von anderen Rechten unter bestimmten Umständen erlauben, legt dies eine opinio juris nahe, die dahin geht, dass eine Abweichung von dieser Regel jedoch unter keinen Umständen erlaubt ist. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass es sich bei dieser Regel in jedem Fall um Völkergewohnheitsrecht handelt. Die Anerkennung des Rückwirkungsverbots durch islamisch-rechtliche Länder (sunnitische und schiitische) in ihrem nationalen Recht und die überarbeitete Arabische Charta der Menschenrechte sind wegen der islamischen Tradition der ta’azirStraftaten von besonderer Bedeutung.68 Das Erfordernis eines Rückwirkungsverbots für Straftaten und Strafen ist eine wichtige Entwicklung in der islamischen Rechtsprechung und indiziert den Glauben, dass es sich dabei um internationales Gewohnheitsrecht handelt. Die überarbeitete Arabische Charta bringt eine islamisch-rechtliche Perspektive auf die Menschenrechte zum Ausdruck und wiederholt nicht nur den Text des IPbpR und der regionalen Menschenrechtabkommen. Die wesentlichen Staaten, die eine Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip während des 20. Jahrhunderts abgelehnt haben, haben diese heute anerkannt. Dies legt Strafgesetz Art. 3, 12 (verabschiedet nach der Unterzeichnung des IPbpR im Jahr 1998; jedoch noch nicht ratifiziert); Verf. Kiribatis Art. 10 IV; Malayische Verf. Art. 7 I; Moldawische Verf. Art. 22; Verf. Narus Art. 10 IV; Verf. Palaus Art. IV(6); Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10 IV; Verf. von St. Lucia Art. 8 IV; Verf. der Solomon Inseln Art. 10 IV; Verf. Tuvalus Art. 22 VI, VII. Siehe Verf. Singapurs Art. 11 I (aber siehe Art. 149 I für wichtige Ausnahmen bei einigen politischen Straftaten); Verf. der Türkischen Republik Nordzypern Art. 18 I (nur von der Türkei als Staat anerkannt). Der IPbpR wurde 2008 von den Bahamas unterzeichnet. 68 Siehe Text und Fn. 14, 30 – 31 oben.
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ebenfalls eine entsprechende opinio dahingehend nahe, dass dies als internationales Menschenrecht gefordert wird. Ein Muster für die Achtung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes im Strafrecht ist in den Verfassungen des wiederhergestellten Deutschland und Japan – diese traten vor der Begründung des heutigen internationalen Systems der Menschenrechtsabkommen in Kraft – und in deren Gesetzen zu finden.69 Die Sowjetunion setzte das strafrechtliche Rückwirkungsverbot 1960 um (allerdings wohl mit einige Ausnahmen), also abermals bevor der IPbpR fertiggestellt war.70 Russland und die anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion wie auch China, die ehemaligen Europäischen Ostblockstaaten, Laos, Vietnam, Kambodscha und Kuba haben ebenfalls Vorschriften erlassen, die die Rückwirkung verbieten.71 Das legt den Schluss nahe, dass der strafrechtliche Gesetzlichkeitsgrundsatz als Teil des weltweiten Menschenrechtssystems anerkannt wird. Kurz, eine opinio juris, sowohl im traditionellen als auch im erweiterten Sinn, existiert, und sie zeigt, dass das Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Sanktionen in das Völkergewohnheitsrecht eingegangen ist.
IV. Auffassungen in der Literatur: Unterstützung und ein Widerspruch 1. Unterstützung im Allgemeinen Führende Rechtswissenschaftler haben im Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen Völkergewohnheitsrecht (und zwar sowohl internationales Menschenrecht als auch humanitäres Völkerrecht) gesehen. Davon müssen nur einige hierfür zitiert werden. Wie bereits oben erwähnt, hat der Professor und Richter in der ICTY- und ICTRBerufungskammer Theodore Meron geäußert, dass es sich dabei um „eine gewohnheitsrechtliche, sogar zwingende Norm“72 handele. Meron gehört sicher zu den führenden Rechtswissenschaftlern, deren Rechtsauffassung besonderes Gewicht zukommt. Ein führender Kommentar zum Römischen Statut des ICC, herausgegeben vom ehemaligen Präsidenten des Sondertribunals für den Libanon und ICTY Professor Antonio Cassese sowie anderen führenden Rechtswissenschaftlern, befürwortet 69
Deutsches Grundgesetz Art. 103 (2) und §§ 1, 2 StGB; Japanische Verf. Art. 39 und Strafgesetzbuch Art. 6. 70 1960 RSFSR Strafgesetz Art. 6, das Grundprinzip der UdSSR 6 von 1958 implementiert (und mit ihm identisch ist) in Harold J. Berman, Soviet Criminal Law and Procedure: The RSFSR Codes 145 – 147 (Harvard Univ. Press, 1966); id. S. 47 (for identity of provisions); mögliche Ausnahmen werden in Gallant, sec 5.c.4 diskutiert (Auseinandersetzung mit Berman und anderen Quellen). 71 Verweise in Teil III.1. oben. Weitere Diskussion bei Gallant, Teil 5.c.iv. 72 Theodore Meron, War Crimes Law Comes of Age 244 (Oxford Univ. Press 1998).
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den völkergewohnheitsrechtlichen Status des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsgebots. In dieser Reihe von Kommentaren stellt sich Susan Lamb auf den Standpunkt, das Prinzip der Gesetzlichkeit sei seit dem zweiten Weltkrieg „eindeutig und fest im Völkergewohnheitsrecht verwurzelt“.73 Ebenso betont Raul C. Pangalangan im anderen bedeutenden, von Otto Triffterer herausgegebenen Kommentar zum Statut, dass das Rückwirkungsverbot für Strafen ein unerlässlicher Teil des ICC-Systems sei.74 Schließlich hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in einer umfangreichen Studie festgestellt, dass das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen sowohl in internationalen als auch nicht-internationalen Konflikten nach humanitärem Völkergewohnheitsrecht gilt.75 Es sei nochmals besonders betont, dass dies 73 Susan Lamb, Nullum crimen, nulla poena sine lege in 1 The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary 735 (Antonio Cassese/Paola Gaeta/John R. W. D. Jones, Hrsg., 2002) [folgend Cassese et al., Commentary]. Siehe auch Gerhard Werle et al., Principles of International Criminal Law 93 S. 33 (TMC Asser Press 2005). 74 Raul C. Pangalangan, Article 24, Non-retroactivity ratione personae, in Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court: Observers’ Notes, Article by Article 14 – 15, S. 467, 472 – 73 (Otto Triffterer, Hrsg., 1999). 75 International Committee of the Red Cross, Customary International Humanitarian Law (Rules), R. 101, S. 371 (im Folgenden ICRC, Customary IHL). Zur Dokumentation siehe 2 (Teil 2) ICRC, Customary IHL (Practice) 3687 (Jugoslawien und Kroatien (27. November 1991) haben zugestimmt, dass Zivilisten gem. Art. 75 Zusatzprotokoll I behandelt werden), 3688 (Vertreter der Republik Bosnien-Herzegowina, der ethnischen Serben und ethnischen Kroaten in Bosien haben dem gleichen zugestimmt, 27 Mai 1992), 3691 – 3692 (Argentinische Kriegsrechtsvorschrift §§ 3.30, 5.025, 5.026 (1969), „gesetzliche Bestimmung“ nur angewendet, wenn zum Zeitpunkt des Verstoßes in Kraft), 3693 (Kanada LOAC-Handbuch § 49(a), S. 12 – 16 (1999), „Strafvorschriften, die durch den Besatzer erlassen werden, dürfen nicht rückwirkend sein.“), 3696 (Neuseeländisches Militärhandbuch §§ 1327(1)(a), 1815(2)(c) (1993) Formulierung der Strafvorschriften ähnlich der Kanadas; in nicht internationalen bewaffneten Konflikten darf keine Strafe schärfer sein zum Zeitpunkt des Verstoßes anwendbar war, mit der Anwendung des Gnadenprinzips (mercy principle)), 3698 (Schwedisches Humanitäres Völkerrechtshandbuch § 2.2.3, S. 19 (1991) erachtet das gesamte Zusatzprotokoll I als Teil des Völkergewohnheitsrechts), 3699 – 3700 (U.K.-Militärhandbuch § 233 (1958) („kein Kriegsgefangener darf wegen einer Tat angeklagt oder verurteilt werden, die nicht nach dem zum Zeitpunkt der Tathandlung gültigen Recht des Gewahrsamstaates oder Völkerrecht“ galt; U.K.-LOAC-Handbuch (1981) entsprechend), 3701 (US-Feldhandbuch, wendet die Genfer Konvention (Nr. 4) Art. 65 auf Besatzungssituationen an); 3703 (Bangladeschisches Internationales Straf(tribunal)gesetz (International Crimes (Tribunal) Act) § 3(2)(e) (1973), „Verletzung jeglicher Regel des humanitären Völkerrechts, die in bewaffneten Konflikten gem. der Genfer Konvention von 1949 anzuwenden ist,“ ist ein Verbrechen), 3705 (ergänztes Irisches Genfer-Konventions-Gesetz § 4(1 und 4) (1962) bestimmt, dass „geringfügige Brüche“ der Genfer Konvention oder des Zusatzprotokolls I oder „Verstöße“ gegen das Zusatzprotokoll II (einschließlich der Vorschriften zur Gesetzlichkeit aller Konventionen) strafbar sind), 3706 (Norwegisches Militärstrafgesetz, das bestimmt, dass jedem, der gegen Vorschriften, die im Zusammenhang mit dem Schutz [durch die Genfer Konvention von 1949 und den Zusatzprotokollen] von Personen oder Eigentum stehen, verstößt oder Teilnehmer eines Verstoßes gegen diese Vorschriften ist […] Gefängnisstrafe droht; 3708 (Die jordanische Praxis (1997) hält Art. 75 Zusatzprotokoll II für die Verkörperung von Gewohnheitsrecht, 3709 (ebenso für Syrien), 3710 (US-Praxis (1997) akzeptiert Art. 6 Zusatzprotokoll II und militärische Notwendigkeit führt nicht zur Beeinträchtigung dieser Rechte), S. 2495 – 2499.
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von besonderer Bedeutung ist, da das humanitäre Völkerrecht dann Anwendung findet, wenn sich die Staaten dem größten Druck ausgesetzt sehen, und es für Angehörige anderer Staaten (in internationalen bewaffneten Konflikten) und selbst für die eigenen Staatsbürger (in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten) gilt. Wenn das strafrechtliche Rückwirkungsverbot selbst in diesen Fällen gilt, sollte es in Friedenszeiten als Norm umso stärker sein. Die Fassung von nullum crimen, nulla poena sine lege, die von diesen Rechtswissenschaftlern diskutiert wird, entspricht der oben (durch Praxis und opinio juris) als internationales Gewohnheitsrecht dargestellten Fassung. Es ist irrelevant, ob die fragliche Straftat durch nationales oder internationales (einschließlich des Unterfalls der sog. allgemeinen von der Staatengemeinschaft anerkannten Rechtsprinzipien) Recht geschaffen wurde.76 2. Ein Widerspruch: Die Behauptung, dass nullum crimen, nulla poena nicht wirklich auf völkerrechtliche Verbrechen anwendbar ist Einige Positivisten kritisieren die Möglichkeit der Existenz eines internationalen Strafrechts unter den gegenwärtigen Bedingungen – unter denen es keinen allgemeinen internationalen Gesetzgeber gibt – als widersprüchlich mit dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.77 Dies führt dazu, dass einige von ihnen dem gesamten Projekt eines materiellen internationalen Strafrechts ablehnend gegenüberstehen.78 Zweifelsfrei haben die Kritiker insofern Recht: Die Nürnberger Charta und Prozesse als Grundlage des modernen internationalen Strafrechts erforderten keine praevia lex scripta. Die Kritiker argumentieren dahingehend, dass das Verbrechen gegen den Frieden (d. h. ein Angriffskrieg) fast vollständig ausgedacht worden sei und daher das Gesetzlichkeitsprinzip in keiner seiner Ausprägungen Anwendung ge-
Von allen Zitaten zur Unterstützung des Gesetzlichkeitsprinzips in den Materialien des internationalen Roten Kreuzes sind nur die aufgeführt, die sich auf die Einbeziehung der Gesetzlichkeit bei Verurteilungen in Dokumenten beziehen, die sich mit möglichen Verstößen gegen internationales Recht befassen. 76 Gerhard Werle et al., Principles of International Criminal Law 93 S. 33 (TMC Asser Press 2005); Susan Lamb, Nullum crimen, nulla poena sine lege, in: Cassese et al., Commentary S. 735 („Das Prinzip der Gesetzlichkeit ist klar und deutlich seit dem Zweiten Weltkrieg im Völkergewohnheitsrecht verankert“); Bassiouni, CAH-ICL S. 144, 162; sowie das in Kapitel 1.b.v. diskutierte Material. 77 Siehe z. B., Alfred P. Rubin, The Law of Piracy 343 (1988); Alfred P. Rubin, An International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia?, 6 Pace Int’l L.J. 7 (1994) [folgend Rubin, An ICTY?]. 78 Das ist zweifelsohne die Ansicht von Rubin.
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funden habe. Es ist schwierig, dem etwas entgegenzusetzen.79 Daher muss die Auffassung, dass es sich beim Rückwirkungsverbot um internationales Strafrecht handele (wie in diesem Artikel geschehen) darlegen, dass sich das Recht seit den Nürnberger Prozessen gewandelt hat. Die Behauptung, dass nullum crimen und nulla poena gegenwärtig im internationalen Strafrecht nicht angewendet werden, beruht häufig auf Missverständnissen. Die Verfechter dieser Auffassung verwenden in der Regel die sehr strikte positivistische Definition des Rückwirkungsverbots nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta oder wie es in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte niedergelegt ist: „Niemand darf bestraft werden, außer aufgrund eines Gesetz, das vor dem Delikt angenommen und veröffentlicht wurde.“ Die Kritiker haben Recht, dass das Gebot der praevia lex scripta nicht auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts angewendet wurde. Insbesondere findet sich kein einziger Text, der, universell angenommen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Zudem befindet sich der Allgemeine Teil des Strafrechts, im Besonderen die Verantwortlichkeit für das Handeln anderer, noch immer in Entwicklung. Allerdings gilt der praevia lex scripta-Grundsatz im Völkergewohnheitsrecht, einschließlich des internationalen Strafrechts, nicht. Dies ergibt sich aus der oben dargestellten Praxis der Staaten und der internationalen Organisationen sowie opinio juris.80 Dennoch gilt nach internationalem Menschenrecht ein echtes Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen sowohl für das internationale Strafrecht als auch für sonstiges Strafrecht. Dies entspricht der Formulierung in der UN-Menschenrechtscharta und im IPbpR, die verlangt, dass die angeklagte Handlung schon zum Zeitpunkt der Tat strafbar gewesen sein muss und ein anwendbares Gesetz die Strafe erlaubt haben muss. Selbst der von der Tradition der Kodifikation geprägte Rechtswissenschaftler Dr. Stefan Glaser aus Polen weist darauf hin, dass der zentrale Aspekt des Gesetzlichkeitsgrundsatzes die Ablehnung der Kriminalisierung einer zum Zeitpunkt der Tat nicht strafbaren Handlung ist.81 Dieser Beitrag soll nicht die Grundsätze kritisieren, die hinter der praevia lex scripta-Fassung des Rückwirkungsverbots stehen. Es ist sogar so, dass der Verfasser selbst hofft, dass irgendwann klare Texte für das internationale Strafrecht existieren. Dieser Beitrag beschränkt sich daher darauf, die Auffassung zu kritisieren, dass es 79 Die einzige Person, die angeblich schon vor dem Zweiten Weltkrieg dafür eingetreten ist, Aggression als Verbrechen anzusehen, war der französische Richter im Nürnberger Prozess, Prof. Henri Donnedieu de Vabres. Siehe Henri Felix August Donnedieu de Vabres, Les principes modernes de droit pénal international 426 (Librairie du Recueil Sirey 1928) („Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen“) (Übersetzung des Autors). 80 Siehe Teil III. oben. 81 Stefan Glaser, La méthode d’interpretation en droit international pénal, 9 Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale 757, 762 – 764 (1966).
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ohne Gebot einer praevia lex scripta ein Gesetzlichkeitsgebot im internationalen Strafrecht nicht gäbe, und aufzuzeigen, dass dieselben Regeln der Menschenrechte für nationales wie für internationales Strafrecht gelten. a) Nullum Crimen Professor William A. Schabas, ein führender wissenschaftlicher Befürworter des internationalen Strafrechts, hat geschrieben, dass die Interpretation des Gesetzlichkeitsgebots des materiellen Strafrechts durch die internationalen ad hoc-Tribunale ein „recht entspanntes“82, den Nürnberger Prozessen ähnliches, Verständnis der Gesetzlichkeit widerspiegele. Schabas ist aber nur insofern zuzustimmen, als die Statuten der ad hoc-Tribunale auf nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta verzichten. Seine Aussage wäre eine Übertreibung, wenn man sie so auffasste, dass die modernen Tribunale die rückwirkende Schaffung von Straftaten, ähnlich der Schaffung eines Verbrechens gegen den Frieden (Angriffskrieg) durch das Gericht in Nürnberg, erlaubt hätten. Dies ist gerade nicht der Fall bei den modernen Tribunalen, was nahelegt, dass sich das Recht seit dem Zweiten Weltkrieg geändert hat. Zunächst einmal haben all diese Tribunale die Befugnis zur Verurteilung von Personen für Taten, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht strafbar waren, abgelehnt.83 Anders als das Nürnberger Tribunal haben sich all diese neueren Gerichte und Tribunale an das Rückwirkungsverbot, wie es in der UN-Menschenrechtscharta und dem IPbpR niedergelegt ist, gebunden gefühlt. Selbstverständlich gab es Kontroversen darüber, was von den Statuten der internationalen Straftribunale umfasst wird: Die Frage, wann ein materielles Verbrechen vor der Tat definiert war, ist noch immer umstritten und stellt eine komplizierte Angelegenheit dar.84 Das spiegelt aber nur die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gesetzlichkeitsgebots wider, ist also weder eine Ablehnung des Prinzips als Rechtsregel, noch eine Behauptung, die Regel könne für internationale Straftaten aufgeweicht werden.
82
William A. Schabas, The UN International Criminal Tribunals: The Former Yugoslavia, Rwanda and Sierra Leone 63 (2006) [folgend Schabas, UN ICT]. 83 Um den ICTY zu zitieren, vgl. etwa Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37AR72 (ICTY App. Ch., 21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 – 127 Case No. IT-95-14/1 (ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 178 – 180, Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v. Aleksovski (Appeal of Nobilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of Contempt, Case No. IT-95-14/1-AR77 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (Missachtung des Gerichts, eine nicht-gesetzliche Straftat). ICTR: siehe Prosecutor v. Akayesu, Judgement 617, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September 1998). SCSL: Prosecutor v. Norman, Decision on Preliminary Motion Based on Lack of Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72 (E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004). 84 Siehe Prosecutor v. Furundzija, Judgement 165 – 169, Case No. IT-95-17/1 (ICTY Tr. Ch., 10 December 1998) (on rape); Delalic, Appeals Judgement 175 – 180.
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In der Tat ist es so, dass der strittigste gegenwärtige Fall hinsichtlich der Rückwirkung von Strafen nicht das internationale Strafrecht betrifft, sondern die nationale Verfolgung eines Verstoßes gegen nationales Recht. Dies sind die Fälle, in denen sowohl die Gerichte des Vereinigten Königreichs als auch der EGMR es für vorhersehbar erachtet haben, dass ein neues Vergewaltigungsgesetz im U.K. dahingehend interpretiert werden würde, dass erzwungener ehelicher Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung zu behandeln ist, weshalb eine entsprechende Entscheidung keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot darstelle.85 Man muss diesen Entscheidungen nicht zustimmen, aber das bedeutet beileibe nicht, dass es im Vereinigten Königreich oder vor dem EGMR kein echtes Rückwirkungsverbot gäbe. Der Punkt hier ist, dass diese Fälle ebenso schwierig und fraglich sind wie die Fälle der neuen internationalen Strafgerichte und Tribunale. In den Fällen vor den modernen internationalen Strafgerichten und Tribunalen wurde die Frage nach der Gesetzmäßigkeit nicht „entspannter“ behandelt als in Fällen des nationalen Rechts. Eines der kontroversesten Beispiele für die behauptete Schaffung rückwirkender internationaler strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist der Wortlaut, mit dem die internationalen ad hoc-Straftribunale eine Form der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Individuen, das sog. „joint criminal enterprise“, also gemeinsames kriminelles Unternehmen, bezeichnet haben. Der Name dieser Art der Verantwortlichkeit ist neu. Allerdings umfasst sie in ihren verschiedenen Formen Ideen der strafrechtlichen Beteiligung, wie sie weltweit üblich sind. Das Rückwirkungsverbot von Straftaten umfasst auch teilnehmende Handlungen, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen. Eine Person kann nur für die strafbare Tat eines Anderen (z. B. auf der Basis der Verantwortlichkeit wegen eines joint criminal enterprise) verantwortlich sein, wenn zum Zeitpunkt der behaupteten Teilnahme der beschuldigten Person ein auf den Handelnden anwendbares Gesetz die Zurechnung der Verantwortlichkeit von der Handlung des Beschuldigten erlaubt, wie das ICTY festgehalten hat.86 Keines der internationalen Strafgerichte und Tribunale hat etwas Gegenteiliges geurteilt.
85
C. R. v. United Kingdom, Judgment, Case. No. Case No. 48/1994/495/577, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995), and S. W. v. United Kingdom, Judgment, Case No. 47/1994/494/576, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995), including discussions of the history of the cases in the courts of the U.K. 86 „Es gibt keinen Hinweis im Bericht des Generalsekretärs, der die persönliche Gerichtszuständigkeit des internationalen Tribunals hinsichtlich der Haftung wie durch Gewohnheitsrecht vorgeschrieben beschränkt. Jedoch erfordert das Prinzip der Gesetzlichkeit, dass das Tribunal das Recht anwendet, das für die Individuen zum Zeitpunkt der angeklagten Handlungen bindet war. Und, wie es gerade bei der Sachzuständigkeit des Tribunals der Fall ist, dass das Gesetzeswerk das Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln muss.“ Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10 (Fußnoten ausgelassen), Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch., 21 May 2003). Siehe Prosecutor v. Hadzihasanovic, Decision on Interlocutory Appeal Challenging Jurisdiction in Relation to Command Responsibility 10 – 36 (zur Frage, ob eine Kommandoverantwortlichkeit in nicht-internationalen Konflikten ein Verbrechen nach Völkergewohnheitsrecht darstellt).
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Wenn nicht zumindest eine Theorie strafrechtlicher Beteiligung auf seine Handlung zum Tatzeitpunkt anwendbar war, hat der Beschuldigte keine Handlung begangen, die unter dem anwendbaren Recht strafbar ist,87 unabhängig davon, welche rechtliche Theorie benutzt wird, um eine Verbindung zur Handlung des Haupttäter herzustellen. Nochmals sei hervorgehoben, dass dies die im nationalen und internationalen Strafrecht anzuwendende völkergewohnheitsrechtliche Regel der Gesetzlichkeit verkörpert. Quelle des Rechts, das eine Handlung zur Zeit ihrer Begehung unter Strafe stellt, können Abkommen, aber auch innerstaatliches Recht sein, wobei die Strafverfolgung später nach internationalem Recht erfolgen kann. Das ICTR hat den Umstand diskutiert, dass seine Statuten die Verfolgung von Verstößen gegen das Zusatzprotokoll II der Genfer Konvention von 1977 vorsehen, die Vorschriften enthalten, die wohl zum Teil Straftaten schaffen, die kein internationales Gewohnheitsrecht sind. Das Gericht hat die Verfolgung dieser Straftaten erlaubt, da Ruanda die relevanten Protokolle angenommen und die entsprechenden Handlungen im nationalen Recht unter Strafe gestellt hat und weil die infrage stehende Straftat in der Tat als völkergewohnheitsrechtlich anerkanntes Verbrechen galt.88 Zudem gilt: Wenn eine Handlung zur Zeit der Tatbegehung nach nationalem Recht strafbar ist, so stellt es keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot dar, wenn diese Handlung später nach internationalem Strafrecht verfolgt wird: „Mord, Folter, Sklaverei und ähnliche Verbrechen, die bisher nur nach dem Recht der jeweiligen Staaten unter Strafe standen, fallen nun unter die Entscheidungsbefugnis der Familie der Nationen. Daher ist Mord nicht weniger Mord, wenn er gegen eine ganze Rasse anstatt gegen eine einzelne Person begangen wird.“89 Der springende Punkt ist, dass die Handelnden zur Zeit der Tat Straftaten begangen hatten, wenn auch nur unter deutschem Recht. 87 Für einen nationalen Fall, siehe Hamdan v. Rumsfeld, 548 U.S. 557 (2006) (Teil V; abweichende Meinungen hinsichtlich dieses Aspekts). 88 Prosecutor v. Akayesu, Judgement 600 – 617, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September 1998). Siehe auch Prosecutor v. Galic, Judgement 16 – 25, 28 – 32, Case No. IT-9829 (ICTY Tr. Ch., 5 December 2003). 89 Einsatzgruppen-Fall, 4 Trials of War Criminals 411, 485 – 487, 497; siehe auch ebda. S. 459. Das war ein Fall eines US-Militärtribunals, dessen Errichtung auf ein internationales Gesetz (Control Council Law No. 10 der Alliierten) der Legislative für das besetzte Deutschland zurückgeht, in dem nichtsdestotrotz internationales Strafrecht angewendet wurde. Der Fall, S. 471 – 472, zitiert Militärrecht der deutschen Staaten der vergangen Jahrzehnte, einschließlich des Preußischen Militärgesetzes (1845), des Sächsischen Militärstrafgesetzes (1857), des Baierischen Militärstrafgesetzes (1869), des Badener Militärstrafgesetzes (1870), des Deutschen Militärstrafgesetzes, Art. 47 (1872). Ebenfalls wird das ÖsterreichUngarische Militärstrafgesetz, Art. 158 (1855) angeführt. Siehe Trial of Rauter, 14 U.N.W.C.C., Law Rep. 89, 119 – 120 (Netherlands Special Ct. of Cass. 12 January 1949). Siehe ebenfalls die Argumente der Anklage (keines davon vom Tribunal ausdrücklich akzeptiert oder abgelehnt) im Hauptprozess in Nürnberg, de Menthon, Opening, 3 IMT, Trial S. 92, 128, und Shawcross, Closing, 19 IMT, Trial S. 433, 448.
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Entsprechend können entweder nationale oder internationale Gerichte internationale Verbrechen unter später erlassenen Gesetzen verfolgen, solange die angeklagten Handlungen zum Zeitpunkt der Tatbegehung internationale Straftaten waren. Dies geschah nach dem Zweiten Weltkrieg durch einige nationale Tribunale. Es war außerdem auch die Grundlage für das ICTY, ICTR und SCSL, die sich alle hauptsächlich mit Ereignissen beschäftigen, die bereits in der Vergangenheit liegen. Nochmal: Der Punkt ist, dass alle relevanten Handlungen bereits zum Zeitpunkt ihrer Begehung Straftaten waren. Schließlich können allgemeine Prinzipien des Rechts, die eine Handlung kriminalisieren, zur Definition einer Straftat herangezogen werden, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Handlung existiert haben. Dies bildet die Grundlage dafür, dass das ICTY für sich die Befugnis in Anspruch genommen hat, die Missachtung des Gerichts zu bestrafen.90 Offensichtlich stellen die letzten Beispiele (internationales Recht greift nationales Recht und nationales Recht internationales Recht sowie nicht kodifizierte allgemeinen Prinzipien des Rechts auf) die Befürworter der praevia lex scripta nicht zufrieden. Die Auffassung von nullum crimen sine lege, die die oben beschrieben Praktiken erlaubt, ist Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden. Es ist irrelevant, ob die fragliche Straftat durch nationales oder internationales Recht (einschließlich der als „allgemeine, von der Gemeinschaft der Staaten anerkannte Prinzipien des Rechts“ bezeichneten Untergruppe des internationalen Rechts) geschaffen wurde. Wenn man erst einmal verstanden hat, dass common law oder Gewohnheitsrecht den vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit gesetzten Anforderungen genauso (oder fast genauso) gut entspricht wie geschriebene Gesetze, gibt es kein grundsätzliches Problem mit der Auffassung eines die Individuen bindenden internationalen Rechts in der gegenwärtigen Situation der Welt. Daher wurde von einigen Stimmen vorgeschlagen, das Schlagwort in „nullum crimen, nulla poena sine iure“91 (wobei iure eher eine allgemeinere Beschreibung von bindenden rechtlichen Norm ist als „lege“) zu ändern. Das anwendbare Recht (lex oder ius) kann Straftaten beinhalten, die bereits davor von der Rechtsprechung (durch die Entwicklung von common law) und durch internationales Recht (einschließlich des internationalen Gewohnheitsrechts, anwendbaren Vertragsrechts und allgemeiner Rechtsprinzipien, die von der Gemeinschaft der Staaten anerkannt sind) geschaffen wurden. Das anwendbare Recht kann nationales Recht beinhalten, das gewöhnliche Verbrechen definiert, soweit es aufzeigt, welches Verhalten erkennbar als Straftat angesehen wird.92 90 Prosecutor v. Tadic (Appeal of Vujin), Judgement on Allegations of Contempt against Prior Counsel, Milan Vujin, Case No. IT-94-1-A-R77 19 – 24 (ICTY App. Ch., 27 February 2001). Eine ausführliche Darstellung dieses Aspekts, die zu lange wäre, um sie hier mit zu behandeln, kann bei Gallant, sec. 6.a.1.A gefunden werden. 91 Siehe Kap. 1 (Einführung) und 7.b. 92 Siehe das Material zur Rechtscharakterisierung in Kap. 3.c.i und 6.a.iv.
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Verbunden mit diesem Punkt ist die Behauptung, dass internationales Strafrecht in der Tat nicht weit genug entwickelt ist, um Individuen in Kenntnis zu setzen und um sie vor willkürlicher Gesetzgebung und Gesetzesvollzug zu beschützen.93 Internationales Strafrecht unterliegt dem gleichen Druck willkürlicher Ausweitung wie das Strafrecht in manchen Ländern mit einer langen Rechtsstaatstradition. Die Behauptung, dass die unvorhersehbaren Erweiterungen des Strafrechts wegen des Fehlens eines allgemeinen Gesetzgebers in diesem System stärker als in nationalen Systemen seien, wird dadurch weniger haltbar. Nichtsdestotrotz ist die Gefahr solcher unvorhersehbaren Erweiterungen real. Sicherzustellen, dass dies nicht geschieht, erfordert Wachsamkeit bei der Durchsetzung der Prinzipien und besonders – wo es nötig ist – bei der Feststellung, ob ein bestimmtes Verhalten wirklich nach Völkergewohnheitsrecht oder einem anderen anwendbaren Gesetz strafbar ist. Sofern es Staaten betrifft, die das ICC Statut unterzeichnet haben, trifft innerhalb des Systems des ICC die Behauptung, es gebe keine Befolgung des Gesetzlichkeitsgebots, noch weniger zu. In diesen Fällen handeln die ICC-Staaten als der Gesetzgeber und das Statut selbst dient als positiver Rechtstext.94 b) Das besondere Problem von Nulla Poena Ungeachtet der starken Beweise dafür, dass nulla poena sine lege eine Regel des Völkergewohnheitsrechts ist, hat diese Regel eine wechselvolle Karriere in der modernen, sich mit humanitärem Völkerrecht (d. h. Genozide, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) befassenden, Rechtswissenschaft hinter sich. Einige Rechtswissenschaftler sind skeptisch gegenüber einer umfassenden Anwendung des nulla poena Grundsatzes auf die strafrechtliche Verantwortung für Verletzungen des humanitären Völkerrechts geblieben – unabhängig davon, ob vor nationalen oder internationalen Tribunalen verhandelt wird. Dies schließt sowohl Personen mit ein, die das Projekt eines internationalen Strafrechts unterstützen,95 als auch solche, die ihm ablehnend gegenüber stehen.96 Beispielsweise schlägt M. Cherif Bassiouni vor, dass nulla poena sine lege im internationalen Recht nur analog angewendet wird.97 Salvatore Zappalà behauptet, dass in internationalen Strafprozessen diese Regel zwar ein Prinzip der Billigkeit sei, sie aber nicht wirklich dem Individuum Rechte verleihe.98 Dieses Problem wird hier separat behandelt, da die Literatur hierzu unübersichtlich ist. Jedenfalls ist die Praxis weit weniger verwirrend als die Literatur es nahe legt. 93
Siehe Rubin, Piracy. Siehe ICC Statute Art. 22. 95 Siehe Bassiouni, CAH-ICL S. 158 – 159, 162, 176; Zappalà, S. 196; Guénaël Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals 356 – 357 (2005) [folgend Mettraux]. 96 Siehe Rubin, An ICTY. 97 Bassiouni, CAH-ICL S. 158 – 159, 162. 98 Zappalà, S. 196. 94
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Der Grund für diese Verwirrung ist, dass nulla poena sine lege in verschiedenen Rechtssystemen eine andere Bedeutung hat. Es bedarf daher eines Verständnisses der international-rechtlichen Anwendung des Gesetzlichkeitsgebots bei der Verurteilung so genannter internationaler Kernverbrechen dahingehend, dass diese nicht mehr voraussetzt als die Definition von Straftaten. Lex (oder in Bassiounis Verwendung zur Definition der Gesetzlichkeit: ius99) kann sich aus dem Völkergewohnheitsrecht zur Bestrafung als auch aus geschriebenen Gesetzen ergeben. Auf die wichtigste Ursache für diese Verwirkung wurde von Zivkovic, einem UN War Crimes Commission Berichterstatter, der über das Verfahren gegen Rauter 1948 – 1949 in den Niederlanden schrieb, hingewiesen: „Im kontinentalen Recht […] sind Strafen für Straftaten ausdrücklich und mit der Bezeichnung der bestimmten Strafe oder der bestimmten Strafen, in der Regel mit einer Höchst-und/oder Mindeststrafe, vorgeschrieben.“100 Solche „Straftarife“ waren in den Niederlanden für Kriegsverbrechen noch nicht festgeschrieben, als Rauter seine Kriegsverbrechen, einschließlich Mord, Sklaverei, Plünderei und illegale Beschlagnahme von Eigentum, illegale Festnahmen und Haft, kollektive Bestrafung Unschuldiger und Verfolgung wegen der Religion begann. Die viel später erlassenen Statuten des ICTY und des ICTR enthalten solche Straftarife ebenfalls nicht, ebenso wenig das ICC Statut. Der Mangel eines bestimmten Verurteilungsschemas im Recht der kriminalisierenden Gewalt ist der Grund für viele der Behauptungen, dass nulla poena für internationale Straftaten nicht gelte.101 Bassiouni behauptet, dass die fehlende Statuierung erlaubter Strafen in den Statuten des ICTY und des ICTR zu einer mangelhaften Erfüllung des Prinzips nulla poena sine lege führe.102 Zappalà würde den Rückgriff auf das Strafmaß am Ort des Verbrechens erlauben und argumentiert, dass sonst die Verurteilungspraxis Jugoslawiens und Ruandas in den Statuten des ICTY und ICTR zu einem Verstoß gegen nulla poena führen müsste.103 Bassiounis Behauptung spiegelt die Praxis vieler Staaten, insbesondere in den sog. civil law jurisdictions, also in kodifikatorischen Rechtssystemen, mit ausgeprägten Straftarifen für bestimmte Verbrechen, wider. Diese strikte Fassung des nulla poena-Grundsatzes stellt aber nicht die weltweite Praxis aller Staaten dar, weder im nationalen, noch im internationalen Recht. Sie geht außerdem weit über das vom Gebot der Gesetzlichkeit für das zur Verurteilung wegen Verstößen gegen die oben dargestellten internationalen Menschenrechte und über das von den humanitären Völkerrechtsabkommen Geforderte hinaus. Alles, was von der internationalen Menschenrechtspraxis zur Legalität von Verurteilungen gefordert wird, ist, dass keine schwerere Strafe verhängt wird, als zum Zeitpunkt der Straftat vorgesehen 99
Bassiouni, CAH-IHL, S. 144. Zivkovic, Notes on Trial of Rauter, 14 U.N.W.C.C., Law Rep., S. 111, 120 (1949). 101 Siehe Ferdinandusse, S. 248 – 249; vgl. Bassiouni, CAH-IHL, S. 133 – 134; Zappalà, S. 199 – 201, 208. 102 Bassiouni, CAH-ICL S. 176. 103 Siehe Zappalà, S. 196. 100
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war. Die Handelnden müssen nur die mögliche Höchststrafe vorhersehen können. Internationales Menschenrecht zeigt, dass dies durch Gewohnheitsrecht, einschließlich des richterrechtlich entwickelten, geschehen kann, also auf dem gleichen Weg, wie auch gewohnheitsrechtliche internationale Straftaten sich entwickeln. Das Bestehen eines kontinental-typischen Strafschemas wird vom Gebot der Gesetzlichkeit, das als internationales Menschenrecht existiert und auf internationale wie auf nationale Verbrechen anwendbar ist, bei der Verurteilung gerade nicht vorausgesetzt. In der Rechtsprechung der modernen internationalen Strafgerichte findet sich kein Beispiel dafür, dass Verurteilungen außerhalb des Rahmens erfolgten, der für zum Tatzeitpunkt als internationale Straftaten feststehende Verbrechen erlaubt war. Hinsichtlich der Fälle, in denen eine Tat nach ihrer Begehung von einer nationalen zu einer internationalen „Rechtscharakterisierung“ wurde, stößt man auf keine dahingehenden Äußerungen, dass die Verurteilung das nach nationalem Recht zum Tatzeitpunkt erlaubte Maß überschritten hätte.104 Zu finden sind aber Fälle, in denen Personen wegen internationaler Straftaten zu höheren Strafen verurteilt wurden als sie es nach dem Recht des Staates, in dem die Tat begangen wurde, erhalten hätten können. Die Gerichte haben in diesen Fällen jedoch festgestellt, dass keine verbotene Rückwirkung internationaler Straftaten zulasten der Angeklagten vorlag.105 Nationales Recht kann nicht aus eigener Machtvervollkommnung die für eine internationale Straftat mögliche Strafe herabsetzen – zumindest nicht, was internationale Strafgerichte und -tribunale anbelangt. Entsprechend verstoßen solche Verurteilungen auch nicht gegen das völkerrechtliche Verständnis von nulla poena. Für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Völkergewohnheitsrecht bestand zur Zeit des Zweiten Weltkriegs106 als Höchststrafe die To104 Siehe Prosecutor v. Furundzija, Trial Judgment 168 – 169, Case No. IT-95-17/1 (ICTY Tr. Ch., 1998) (zur Vergewaltigung); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 178 – 180, Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 1991). Hadzihasanovic, 34 (ICTY App. Ch., 16. Juli 2003). Ebenso Norman, 25 (SCSL App. Ch. 31. Mai 2004). Prosecutor v. Akayesu, Judgement 617, Case No. ICTR-96-4-T (2. September 1998) (auf die Ratifizierung des Zusatzprotokolls II durch Ruanda am 19 November 1984 und die Umsetzung der Vorschriften in nationales Recht sowie die Stellung solcher Vorschriften als Völkergewohnheitsrecht vertrauend). 105 Siehe Prosecutor v. Delalic, Appeal Judgement 813, 817 (ICTY App. Ch. 20 February 2001) (dahingehend, dass das Prinzip der Gesetzlichkeit eine materielle, den Angeklagten schützende Regel des Strafrechts ist, nicht nur eine Frage der personalen Gerichtszuständigkeit); Prosecutor v. Erdemovic, Sentencing Judgment 38 (ICTY Tr. Ch. 29. November 1996); Prosecutor v. Serushago, Case No. ICTR 98-39-A 30 (ICTR App. Ch., 6 April 2000). 106 U.S. Army, Rules of Land Warfare, Field Manual 27-10 357 (1. Oktober 1940) („all war crimes are subject to the death penalty, although a lesser penalty may be imposed“ [„Alle Kriegsverbrechen unterliegen der Todesstrafe, wobei eine mildere Strafe verhängt werden können“]), zitiert bei Lamb, in: Cassese et al., 1 Commentary S. 757 n. 95; [George Brand,] Punishment of Criminals, 15 U.N.W.C.C, Law Rep. S. 200, der Fälle von Todesurteilen zitiert, die für nicht-tödliche Kriegsverbrechen von norwegischen und österreichischen Gerichten verhängt wurden, sondern auch für Verbrechen wie Folter und Vergewaltigung; William A. Schabas, Article 23, Nulla poena sine lege, in: Observers’ Notes, 1, S. 463.
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desstrafe oder lebenslängliche Haft. Dies hat sich auch nicht geändert. Lebenslängliche Haft oder die Todesstrafe wurden von nationalen Gerichten verhängt.107 Internationale Gerichte können immer noch zu lebenslanger Haft verurteilen.108 Vermögensverfall und Geldstrafen sind ebenso erlaubt109 und bleiben dies auch.110 Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit (einschließlich dessen, was später als Verbrechen des Genozid separat betrachtet wurde) im internationalen Gewohnheitsrecht lässt sich darüber streiten, ob tatsächlich vor dem Zweiten Weltkrieg internationale Strafen existiert haben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist jedenfalls durch Chartas und Strafverfolgung111 internationales Recht geworden, dass diese die gleiche potenzielle Strafe zur Folge haben können wie Kriegsverbrechen.112 Folglich ist dem im internationalen Menschenrecht anzuwendenden Gebot der Gesetzlichkeit für diese gewohnheitsrechtlichen internationalen Straftaten entsprochen.113 107
Todesstrafen für Völkermord (als Untergruppe der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Fällen nach dem Zweiten Weltkrieg) wurden von ruandischen Gerichten und kürzlich vom irakischen Sondertribunal für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhängt. Ruanda: siehe Ministère Public v. Karamira, 1 Recueil de jurisprudence contentieux du genocide et des massacres au Rwanda 75 (1st inst., Kigali, 14 February 1997), zitiert und diskutiert in: Schabas, UN ICT S. 124 – 125 und n. 7; Mark A. Drumbl, Punishment, Postgenocide: From Guilt to Shame to Civis in Rwanda, 75 NYU L. Rev. 1221, 1287 n. 314 [folgend Drumbl] (der von etwa 300 Todesurteilen als Folge des ruandischen Völkermords ausgeht). Irak: Saddam Hussein, Iraqi High Tribunal, Lawsuit No. 1/Criminal/2005 (Urteil mündlich verkündet, 5 November 2006) (drei Personen, einschließlich des früheren Staatsoberhaupts Saddam Hussein, wurden zum Tode wegen Kriegsverbrechen verurteilt; die Urteile wurden vollstreckt); siehe auch Bushra Juhi, Death Sentences Upheld in Iraq for ,Chemical Ali,‘ Two Others, Washington Post, 5 September 2007, S. A-11 (Todesstrafe vollstreckt am 25. Januar 2010). 108 Siehe Kap. 6(a, c). 109 Control Council Law No. 10 Art. II(3)(c – e) (das „Geldstrafen“, „Vermögensverfall“ oder „Resitution von unrechtmäßig erworbenem Eigentum“ kennt); Trial of Krupp, 10 U.N.W.C.C., Law Rep. Case No. 58, pp. 69, 158 (USMT, 30 June 1948) (Verfall des gesamten Vermögens des Angeklagten Krupp); Brand, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. S. 200, der die Verfahren Trial of Goeth, 7 U.N.W.C.C., Law Rep. 1, 4 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 5 September 1946), Trial of Hoess, 7 U.N.W.C.C., Law Rep. 11, 17 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 29 March 1947) (die beide den „Verfall des gesamten Vermögens“ kennen) zitiert; Trial of Greiser, 13 U.N.W.C.C., Law Rep., Case No. 74, S. 70, 104 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 7 July 1946) (Verfall des gesamten Vermögens; das Gericht verband den Fall mit dem Freien Staat Danzig sowie polnischer Interessen). 110 ICC Statute Art. 75 – 77. 111 Siehe Nuremberg Charter Art. 27; International Military Tribunal for the Far East Charter Art. 16. 112 Man bedenke die Todesstrafe wegen Völkermords in den Verfahren vor den nationalen ruandischen Gerichten und die lebenslange Haftstrafen wegen Völkermords im Verfahren vor dem ICTR. Siehe Drumbl, S. 1287 n. 314. 113 Siehe Brand, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. S. 200; siehe Ferdinandusse, S. 253 – 254, der sich auf Trial of Klinge, 3 U.N.W.C.C., Law Rep., Case No. 11, S. 1, stützt; Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 817 (App. Ch., 20. Februar 2001); Prosecutor v. Erdemovic, Sentencing Judgment 40 (ICTY Tr. Ch., 29. November 1996); Prosecutor v. Akayesu, Sen-
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Höchststrafen (im Allgemeinen die lebenslängliche Haftstrafe) sind in den Statuten der modernen internationalen Straftribunale festgeschrieben. Man kann diese hohe Höchststrafe damit rechtfertigen, dass all diese Verbrechen, die in die Zuständigkeit dieser Gerichte fallen, extrem schwer wiegen. Da es völkergewohnheitsrechtliche Strafen gibt, ergibt sich auch keine Verletzung des nulla poena-Grundsatzes, soweit dieses Prinzip nur die Festlegung einer rechtlich zulässigen Höchststrafe für irgendeine Straftat voraussetzt. Festzuhalten ist, dass die Festschreibung einer Strafe in den ICTY und ICTR Statuten alleine aber nicht reichen würde, um dem nulla poena-Grundsatz zu genügen. Diese Tribunale wurden vorrangig für Verbrechen errichtet, die vor seiner Errichtung begangen wurden. Daher müssen diese Strafen bereits zu einem früheren Zeitpunkt erlaubt gewesen sein – d. h. zum Zeitpunkt der Tat im internationalen Recht oder im Recht des Tatortstaates. Wenn also z. B. der ICTR zu lebenslänglicher Haft verurteilen will, kann dem Rückwirkungsverbot hinsichtlich nulla poena nur wirklich genügt werden, wenn zum Zeitpunkt der Begehung der vor dem ICTR verhandelten Taten wenigstens in irgendeinem auf den Angeklagten anwendbares Gesetz eine lebenslängliche Haftstrafe vorgesehen war.114 Damit bleibt die hier vertretene Ansicht „unversehrt“. Die internationale Gemeinschaft hat eindeutig die Tatbestände „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Kriegsverbrechen“, wie diese in Nürnberg und gem. Kontrollratsgesetz Nr. 10 nach internationalem Recht definiert wurden, angenommen.115 Die internationale Gemeinschaft hat die Verhängung von Strafen, einschließlich der Todesstrafe und lebenslänglicher Haftstrafe, für diese Taten durch das IMT und andere Gerichte nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls als maßgeblich erachtet.116 Seit dem Zweiten Weltkrieg haben viele Staaten in ihrem nationalen Recht die Todesstrafe abgeschafft. In jüngerer Zeit haben jedoch Ruanda und der Irak Todesstrafen für Genozide und Kriegsverbrechen verhängt und vollstreckt.117 Die Vereinten Nationen haben die Ertencing Judgment (ICTR Tr. Ch., 2. Oktober 1998 – mit der Anmerkung, dass Ruanda für Völkermord schwerste Strafen, einschließlich der Todesstrafe, erlaubt). 114 Vgl. aber Per Ole Träskman, Should We Take the Condition of Double Criminality Seriously?, in: Double Criminality: Studies in International Criminal Law 151 (Nils Jareborg, Hrsg., 1989) (der anscheinend argumentiert, dass das Recht des Gerichtsorts für den Zweck der Gesetzlichkeit ausreiche). 115 Später war die internationale Praxis nicht ganz so beständig, was die Existenz eines Verbrechens gegen den Frieden (Angriffskrieg) anbelangt. Selbst die Überprüfungskonferenz des ICC hat das Inkrafttreten einer positiv-rechtlichen Definition der Aggression um 10 Jahre verzögert. 116 Siehe, z. B. Eichmann v. Attorney-General, [1962] 16 Piske Din 2033 (Israel, Sup. Ct., 29 May 1962), nachgedruckt in 36 Int’l L. Rep. 277 (1968), aff’g 45 Pesakim Mehoziim 3 (Jerusalem Dist. Ct., 11. Dezember 1961), nachgedruckt in 36 Int’l L. Rep. 18 (Eichmann wurde hingerichtet); [George Brand], Punishment of Criminals, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. 200 (1949). 117 Ruanda: Ministère Public v. Karamira, oben Fn. 136, zitiert in: Schabas, UN ICT S. 124 – 25 (der die Exekution von Karamira berichtet); Drumbl, S. 1287 n. 314. Iraq: Saddam
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mächtigung internationaler Strafgerichte zur Verhängung der Todesstrafe abgelehnt.118 Die an der Errichtung des ICC beteiligten Staaten haben die Verhängung der Todesstrafe sowie von Haftstrafen von mehr als 30 Jahren durch das Gericht selbst für die schlimmsten Verbrechen abgelehnt.119 Das bedeutet jedoch nicht, dass keine völkergewohnheitsrechtlichen Strafen für diese Verbrechen bestünden. Eine Strafe, die Todesstrafe, wurde lediglich aus den positiven Texten des ICC Statuts und der Gründungsdokumente anderer internationaler Straftribunale ausgeklammert. Diese Ansicht unterscheidet sich von der Analyse von nulla poena durch Zappalà. Er führt an, dass das ICTYund das ICTR nulla poena nicht nachkämen, da diese nicht an das jugoslawische und ruandische Recht der Strafzumessung und die jeweilige Praxis gebunden seien.120 Nach Zappalàs Ansicht existiert noch kein wirkliches internationales Recht der Strafzumessung. Im Sinne von umfassenden einheitlichen Regeln, die die Gerichte zu bestimmten Strafen für bestimmte Taten anweisen, hat er selbstverständlich Recht. Allerdings setzt die völkergewohnheitsrechtliche nulla poena-Regel kein spezifisches Strafzumessungsschema voraus. Es bestehen im allgemeinen internationalen Strafzumessungsrecht für Straftaten nach dem humanitären Völkerrecht – also Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen – mit bis zu lebenslänglicher Haft oder Todesstrafe mögliche Sanktionen. Geldbußen und die Beschlagnahme von Eigentum sind ebenfalls erlaubt. Die einzigen Straftaten, für die dies nicht gilt, sind solche, die vom nationalen Strafrecht in internationales Strafrecht zwischen Tatbegehung und Verurteilung überführt werden. Für derartige Verbrechen sind nur die Strafen möglich, die zum Zeitpunkt der Tat am Tatort möglich waren. Die Höchststrafe, die nach internationalem Recht verhängt werden kann, soll in diesen Fällen nicht höher sein als die Höchststrafe, die im Staat des Tatorts zum Zeitpunkt der Tat verhängt hätte werden können. Die ad hoc Tribunale haben die Behauptung zurückgewiesen, dass sie bei der Anwendung internationalen Strafrechts an die Straftarife des Staates, in dem die Taten begangen wurden, gebunden sind.121 Die niederländischen Gerichte haben nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie die ad hoc Tribunale deutlich gemacht, dass eine Person, die diese Taten begeht, hätte vorhersehen können, dass das internationale Recht – gleichgültig, ob durch das Kriegsrecht während des Zweiten Weltkriegs oder durch die neuere Disziplin des humanitären Völkerrechts – solches Verhalten auf das Hussein, oben Fn. 136, Bushra Juhi, Death Sentences Upheld in Iraq for ,Chemical Ali‘, Two Others, Washington Post, 5. September 2007, S. A-11 (Urteil am 25. Januar 2010 vollstreckt). 118 ICTY Statute Art. 24; ICTR Statute Art. 23; SCSL Statute Art. 19. 119 ICC Statute Art. 77. 120 Siehe Zappalà, S. 196. 121 Prosecutor v. Delalic, Appeal Judgement 813, 817 (ICTY App. Ch., 20. Februar 2001 – Erlaubnis zu höheren als im jugoslawischen Recht erlaubten Haftstrafen nach internationalem Recht); Prosecutor v. Erdemovic, Sentencing Judgment 38 (ICTY Tr. Ch., 29. November 1996); Prosecutor v. Serushago, Case No. ICTR 98-39-A 30 (ICTR App. Ch., 6. April 2000).
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Schärfste verurteilt. Rauter beging z. B. Straftaten, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg völkergewohnheitsrechtliche Straftaten waren. Die Statuten des ICTY, des ICTR (und des ICC für besonders schwere Verbrechen) erlauben jede Strafe hin bis zu lebenslänglicher Haftstrafe für jedes Verbrechen innerhalb der jeweiligen Zuständigkeit ohne eine zwingende Mindeststrafe für eines von ihnen. Dies genügt dem Gebot der Gesetzmäßigkeit der Sanktionen im internationalen Strafrecht. Zappalà geht zu weit, wenn er behauptet, nulla poena sine lege verleihe Individuen keine subjektiven Rechte des internationalen Strafrechts. Das Verbot der Rückwirkung von Strafen mag zwar als Gegenstand des internationalen Menschenrechtsschutzes gewissermaßen schwächer ausgeprägt sein als in einigen (aber nicht allen) nationalen Strafrechtssystemen. Es ist aber real und kann von Individuen in internationalen Strafprozessen eingewendet werden. Die Auseinandersetzung mit den Ansichten Bassiounis und Zappalàs unterstreicht, was bereits zu Beginn dieses Beitrags gesagt wurde. Behauptungen: Die Behauptung, dass nullum crimen und nulla poena im internationalen Strafrecht keine Anwendung fänden, geht häufig auf den Umstand zurück, dass die Vertreter dieser Ansicht das kodifikatorische Verständnis der praevia lex scripta als maßgebliche Ausprägung des Rückwirkungsverbots zugrundelegen. Diese Definition, so nützlich sie auch in einigen nationalen Systemen sein mag, gilt nicht als internationales Menschenrecht und auch nicht im internationalen Strafrecht. Nichtsdestotrotz wendet das internationale Strafrecht ein echtes Rückwirkungsverbot von Strafen und Sanktionen als Gegenstand der allgemeinen Menschenrechte an, wenn auch in etwas schwächerer Form. Wenn die Strafe für internationale Kernverbrechen alles bis hin zur Todesstrafe (mit Ausnahme von Folter und anderen grausamen und erniedrigenden Bestrafungen, die stets inakzeptabel und illegal sind) einschließt, warum ist dann die Diskussion, ob nulla poena gilt, überhaupt von Bedeutung?122 Zunächst ist die politische Unterstützung des Vorhabens eines internationalen Strafrechts in großen Teilen auf die Einhaltung von Menschenrechtsnormen angewiesen. Daher ist die Darlegung der tatsächlichen Einhaltung dieser Norm im internationalen Strafrecht bei der Werbung um Unterstützung hilfreicher als die bloße Behauptung, sie werde nicht angewendet. Zweitens können mit der Reifung des internationalen Strafrechts striktere Beschränkungen der Strafen entstehen, auf die die Anwendung von nulla poena leichter zu verstehen ist. Drittens gibt es Taten, die von nationalen zu internationalen Straftaten werden und die nur in dem Umfang bestraft werden dürfen, der zum Zeitpunkt der Tathandlung bestimmt war. Zusammengefasst kann man daher sagen, dass das moderne internationale Strafrecht im Allgemeinen dem international anerkannten Prinzip der Gesetzlichkeit bei Verurteilungen entspricht. Das bedeutet aber nicht, dass Fragestellungen zu den
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Vgl. Lamb, in: Cassese et al., 1 Commentary S. 757 – 758.
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Strafzumessungsregeln bereits hinreichend geklärt wären – dem ist nicht so.123 Noch weniger bedeutet es, dass die kriminologischen Theorien und der Sinn und Zweck des internationalen Strafrechts, einschließlich Abschreckung, opferorientierte Gerechtigkeit und Versöhnung bereits in adäquatem Umfang vom gegenwärtigen Recht behandelt werden. Diese bedürfen noch einer ausgiebigen Entwicklung124, können aber im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden.
V. Fazit 1. Das Rückwirkungsverbot Heutzutage ist klar: Das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Strafen ist internationales Menschengewohnheitsrecht, das für nationale und internationale Gerichte gilt. Niemand kann einer Straftat wegen einer Handlung oder eines Unterlassens schuldig sein, die bzw. das keine Straftat nach nationalem oder internationalem Recht zum Zeitpunkt der Tat darstellte (oder mit schärferen Strafen bestraft werden als bestimmt war). Die rückwirkende Schaffung von neuen Straftaten und erhöhter Bestrafung ist heute, selbst im internationalen Strafrecht, nicht glaubwürdig, wenn es das denn jemals war.125 Jeder Fehler der Durchsetzung der Grundprinzipien der Gesetzlichkeit in Nürnberg und Tokio wurde von der Praxis der Staaten und internationalen Organisationen und opinio juris seitdem deutlich verworfen. Allerdings wurde das von diesen Tribunalen geschaffene materielle Strafrecht, besonders das Recht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit,126 in der Folgezeit aufgenommen. Dieses Verständnis der Gesetzmäßigkeit gilt als Gegenstand der internationalen Menschenrechte vor nationalen und internationalen Gerichten, egal, ob nationale oder internationale Straftaten verhandelt werden. Striktere Auffassungen des Prinzips der Gesetzmäßigkeit existieren in vielen nationalen Systemen und selbst in einem regionalen Menschenrechtsregime.127 Allerdings sind diese strikteren Auffas-
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Siehe z. B. Mark A. Drumbl, Collective Violence and Individual Punishment: The Criminality of Mass Atrocity, 99 Northwestern L. Rev. 539 (2005) [folgend Drumbl, Collective Violence]; Mettraux, International Crimes S. 357. 124 Siehe z. B. Drumbl, Collective Violence. 125 Dieser Satz ist eine ergänzte Paraphrase von (und eine Homage an) Jerome Hall, einem bahnbrechenden Autor zur Gesetzlichkeit. Jerome Hall, Nulla Poena Sine Lege, 47 Yale L.J. 165, 172 (1937). 126 Siehe z. B. Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808, UN Doc. S/25704 47 (3. Mai 1993). Anbetracht des Mangels an strafrechtlicher Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden (Angriffskrieg) ist sein Status als Völkergewohnheitsrecht eher unbedeutend. 127 Siehe ACHR Art. 7 – 9.
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Kenneth S. Gallant
sungen außerhalb des Geltungsbereichs des Abkommens nicht Staaten und/oder internationale Organisationen bindendes Völkergewohnheitsrecht. Man kann die Entwicklung des Rückwirkungsverbots als Regel des Völkergewohnheitsrechts auf unterschiedliche Weise charakterisieren. Man kann es als Wandel des materiellen internationalen Menschenrechts,128 als Beschränkung der Rechtsprechung hinsichtlich der Definition von Straftaten,129 als Beschränkung der Souveränität130 oder als alles drei ansehen. Selbstverständlich ist die legitime Befugnis zur Schaffung von Straftaten ein traditioneller Aspekt der Souveränität. Das Prinzip der Gesetzlichkeit wirkt als Beschränkung dieser wie auch vieler anderer Regeln des Menschenrechtsschutzes im modernen Völkerrecht. 2. Die Quellen der gewohnheitsrechtlichen Menschenrechte Dieser Beitrag hat die verschiedenen Praktiken und Arten von opinio juris dargestellt. Das zeigt zwei Dinge. Erstens ist ein echtes Wachstum der Arten von Praktiken und opinio zu verzeichnen, die die Existenz von Völkergewohnheitsrecht bestätigen. Interne Staatenpraxis ist entscheidend für die Existenz von internationalem Menschenrecht. Die Praxis internationaler Organisationen und opinio juris spielen heutzutage ebenfalls eine wichtige Rolle im Prozess der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht und besonders des internationalen Strafrechts und der internationalen Menschenrechte. Traditionelle Staatenpraxis und die Ausdrucksformen von opinio juris sind aber immer noch unentbehrlich. Sie müssen also ebenfalls betrachtet werden. Zweitens können Staatenpraxis und opinio die Existenz von Regeln des Völkergewohnheitsrechts so exakt darlegen wie andere Regeln des internationalen Rechts. Wo dies möglich ist, können Menschenrechte nicht mehr als eine zweitklassige Form von „weichem Recht“, also zwar belegt durch opinio, aber ohne sie stützende Praxis, abgewertet werden. 3. Ist das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Strafen eine Regel des jus cogens? Einer der angesehensten Kommentatoren zum internationalen Recht und Richter, Theodore Meron, ging sogar soweit zu sagen, dass das Rückwirkungsverbot für strafrechtliche Maßnahmen ein fundamentales Prinzip der strafrechtlichen Gerechtigkeit 128 Siehe z. B. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10 (dahingehend, dass das Prinzip der Gesetzlichkeit eine materielle, den Angeklagten schützende Regel des Strafrechts ist, nicht nur eine Frage der personalen Gerichtszuständigkeit). 129 Vgl. z. B. ebda. S. 9, 10. 130 Vgl. Nuremberg Judgment, 1 IMT Trial S. 219.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts
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und eine gewohnheitsrechtliche, sogar zwingende Norm des internationalen Rechts sei, die unter allen Umständen von nationalen oder internationalen Gerichten zu beachten sei.131 Die universelle Akzeptanz des strafrechtlichen Legalitätsgebots als völkerrechtliche Verpflichtung durch Menschenrechtsabkommen oder humanitäre Abkommen deutet in diese Richtung. Von besonderer Bedeutung ist die Akzeptanz der Gesetzlichkeit durch die wesentlichen Staaten und Rechtssysteme, die sie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelehnt haben. Es mag ein paar Beispiele geben, die in eine andere Richtung deuten. Das wichtigste dieser Beispiele ist die mögliche Ablehnung der Regel durch einige islamischrechtlich geprägte Staaten. Jedenfalls sind solche Einsprüche, wie wir gesehen haben, sollten sie jemals existiert haben, „ausgestorben“.132 Eine Aussage in einer Entscheidung des Hohen Rates der Niederlande, nicht unbedingt nötig für die Entscheidung, legt nahe, dass es Abkommensrecht geben könnte, das die rückwirkende Schaffung von Straftaten verlangen könnte.133 Es ist aber kaum vorstellbar, dass neue Abkommen rückwirkend etwas unter Strafe stellen, was nicht bereits nach Völkergewohnheitsrecht, allgemeinen Rechtsprinzipien oder irgendeiner Quelle des örtlichen Rechts strafbar ist. Es gibt Ausnahmen vom Verbot der Rückwirkung in den Verfassungen Pakistans und Singapurs für bestimmte politische Straftaten, jedoch konnte der Verfasser keine Beweise für die Verfolgung solcher rückwirkend geschaffener Strafe in den letzten Jahrzehnten finden. Daher erscheint es vernünftig anzunehmen, dass es keine Einsprüche gegen den Grundsatz der Legalität in der hier dargestellten Auffassung als internationales Menschenrecht mehr gibt. Das macht es nicht automatisch zu jus cogens Standard. Nichtsdestotrotz legen seine wiederholte Anerkennung in fast universellem Abkommensrecht, seine Implementierung als Gegenstand des innerstaatlichen Rechts durch so viele Staaten und die fehlenden Ablehnung in der Gegenwart nahe, dass Meron Recht hat. Schlussendlich beginnt das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen sich als Norm des jus cogens herauszukristallisieren.
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Theodore Meron, War Crimes Law Comes of Age 244 (1998) (Hervorhebung vom Verfasser). 132 Siehe Teil III. oben. 133 Siehe [Bouterse], Appeal in cassation in the interests of the law 4.5, 32 Netherlands Y.B.I.L. S. 291.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen Analyse und Prognose des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts Juan Pablo Montiel*
I. Einleitung: Das Gesetzlichkeitsprinzip und die Quellensysteme des nationalen Strafrechts und des Völkerstrafrechts Wie wir alle wissen, besteht eine der Hauptaufgaben des Gesetzlichkeitsprinzips darin, die Gesamtheit der durch die Richter anzuwendenden Quellen zu bestimmen. Im Allgemeinen erscheint diese Regel in den nationalen Strafgesetzen nicht ausdrücklich, weil es an einer speziellen, die Quellen des Strafrechts festlegenden, Norm fehlt, wie sie etwa in einigen Zivilgesetzbüchern zu finden ist.1 Trotzdem lässt sich diese Regel implizit aus dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Vorbehalt ableiten, dass das Strafrecht auf einem quellenbeschränkten System fußt, wonach die Richter die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließlich aus den Gesetzesvorgaben – im engeren Sinne – begründen oder ausschließen dürfen. Dabei müssen sie die nichtgeschriebenen Normen beiseitelassen (nullum crimen sine lege scripta). Nur in Ausnahmefällen darf Richterrecht eine strafrechtliche Quelle sein, nämlich wenn es dem Ausschluss oder der Milderung von Strafe dient.2 Da das Gesetzlichkeitsprinzip * Im Folgenden häufig gebrauchte Abkürzungen: Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut), Internationaler Strafgerichtshof (IStGH), Joint Criminal Enterprise (JCE), Statut für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (IMG-Statut), Statut für den Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten (IMGFO-Statut), Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten/Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGH), Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IStGH-Statut), Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (RStGH), Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (RStGH-Statut), Internationaler Gerichtshof (IGH). Übersetzung durch Ref. iur. Steffen Röber, Berlin. 1 Zum Beispiel Art. 1 des Spanischen Zivilgesetzbuches und Art. 1 des Italienischen Zivilgesetzbuches. 2 Man muss sich klar machen, dass Richterrecht nicht gleichbedeutend mit Rechtsprechung ist. Während sich m. E. die Rechtsprechung auf die Gesamtheit der erlassenen Urteile bezieht
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versucht, die Willkür staatlicher Macht einzuschränken und dem Bürger die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns zu garantieren, erscheint es verständlich, dass es ungeschriebene Regelungen über die Strafbarkeit dann nicht missbilligt, wenn deren überwiegender Zweck Strafausschließung und -milderung sein sollten. Im Völkerstrafrecht werden insoweit klare Unterschiede offenbar. Zunächst ist sein Quellensystem als Teil des Völkerrechts in der Bestimmung des Art. 38 der Statuten des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) ausgestaltet.3 Als Primärquellen sind in dieser Vorschrift4 völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze vorgesehen. Zur normativen Basis des Völkerstrafrechts zählen also sowohl geschriebene und ausreichend bestimmte Vorschriften – ähnlich wie in den nationalen Rechtsordnungen – (Verträge), als auch ungeschriebene Normen. Für sich gesehen erscheint diese Reglementierung des Quellensystems gegenüber der Vorschrift des Art. 21 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut) im Wesentlichen nicht widersprüchlich. Dieser ermächtigt ebenfalls den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), über das eigene Statut hinaus Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze anzuwenden.5 Deshalb spricht
(also auf die Summe der individuellen Normen, die sich aus der Anwendung eines Gesetzes auf den konkreten Fall ergeben), besteht das Richterrecht aus generischen Normen, die von den Gerichten entwickelt werden, um gewisse Lücken im Rechtssystem zu korrigieren. Man kann daher sagen, dass die Rechtsprechung ein Ausfluss der rein rechtsprechenden Tätigkeit der Gerichte ist; dagegen verdichtet sich das Richterrecht zu einer ausnahmsweise legislativen Befugnis der Gerichte. 3 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 123; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 2; Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 2 – 4; Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 35; ders., Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Völkerstrafrecht. Europäisches Strafrecht, 2. Aufl., 2008, S. 84; Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 19. 4 Bei der Interpretation des Art. 38 IGH-Statut ist zu differenzieren: Primärquellen (Verträge, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze), welche die wahre, anwendbare Materie des Richters bilden; sowie Quellen zur näheren Bestimmung der Gesetzesregeln (Richterentscheidungen und Lehrmeinungen), die hauptsächlich der Erläuterung des normativen Inhalts der Primärquellen dienen. In Bezug auf die Primärquellen sieht die Lehre zwischen diesen keine bestehende Hierarchie, so dass alle den gleichen Rang innehaben, vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 2; Schabas, An Introduction to the International Criminal Court, 3. Aufl., 2007, S. 195. Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl., 2005, S. 13 kritisiert diesbezüglich den Wortlaut des Art. 38 IStGH-Statut, da dieser keine Regeln festlege, welche die unter den Primärquellen auftauchenden Normkonflikte lösen würden. 5 Zwar widerspricht Art. 21 IStGH-Statut grds. nicht den Vorgaben des Art. 38 IGH-Statut; das bedeutet aber nicht, dass er seiner Konzeption folgt. Eher ist mit Bitti, „Art. 21 of the Statute of the International Criminal Court and the treatment of sources of law in the jurisprudence of ICC“, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International
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man im Völkerstrafrecht vom Prinzip des nullum crimen, nulla poena sine iure anstatt des Prinzips nullum crimen nulla poena sine lege.6 Daneben kann man einen zweiten Unterschied zwischen beiden Quellensystemen ausmachen, allerdings nicht was dessen Zusammenstellung, sondern dessen Funktionsweise betrifft. Im nationalen Strafrecht verbietet die Maxime des Gesetzlichkeitsprinzips, wonach „alles, was nicht gesetzlich verboten ist, erlaubt ist“, ein anderes „nichtgesetzliches“ Element in den Quellenfundus einzugliedern. Das bedeutet, dass das nationale Strafrecht einen der seltenen Fälle bildet, in dem die Forderung nach „normativer Vollständigkeit“ im Allgemeinen7 tatsächlich besteht. Auf diese Weise bleiben Taten ungestraft, die nicht als Straftaten im geschriebenen Recht vorgesehen sind. Zwar besteht auch in der internationalen Ordnung der Wunsch nach einem vollständigen System frei von Normlücken. Aber im Unterschied zum nationalen Strafrecht bleiben die nicht in geschriebenen Normen erfassten Fälle durch das Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das zwingende Recht (ius cogens) erfasst.8 Im letzten Fall dienen diese ungeschriebenen Normen der Bestrafung von Taten, anstatt deren Straflosigkeit zu garantieren. Man darf nicht übersehen, dass die unterschiedliche Denkweise, mit der beide Strafrechtsordnungen operieren, weithin diese so unterschiedlichen Sichtweisen bezüglich der Quellen der Strafmacht (ius puniendi) erklärt. Die Existenz eines monolithischen Quellensystems, das die Bestrafung von nicht in geschriebener Weise vorgesehenen Taten verbietet, entspricht den kriminalpolitischen Garantien, welche danach streben ein Minimalnationalstrafrecht zu bilden. Demgegenüber führt die in der internationalen Strafrechtsdogmatik vorherrschende Denkweise der grenzenlosen Strafbarkeit und der „Null-Straflosigkeit“9 zur Erweiterung des Quellensystems auf ungeschriebene und unbestimmte Normen und somit auch zur Möglichkeit, Strafbarkeitslücken zu füllen. Wie man sich vorstellen kann, ist letztere Annäherung Criminal Court, 2008, S. 287, zu sagen, dass sich das Rom-Statut von dem im IGH-Statut festgelegten Quellensystem des Völkerstrafrechts unterscheidet. 6 Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 202. 7 Alchourrón/Bulygin, Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales, 2002, S. 198, nuancieren diese Aussage mit der Anmerkung, dass das Strafrechtssystem relativ geschlossen oder vollständig ist. Denn dies ist es nur hinsichtlich strafrechtlicher Lösungen: „Dass eine Handlung strafrechtlich erlaubt ist, bedeutet, dass seine Verwirklichung keine strafrechtlichen Sanktionen verursacht, aber es schließt in keiner Weise das Verbot durch eine Norm eines anderen Typus aus“. 8 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 187. Genau genommen sieht dieser Autor das Völkerrecht aufgrund des ius cogens als ein umfassendes Regelwerk (also ohne Regelungs- oder Gesetzeslücken) an. Im gleichen Sinne bestätigt Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 40 – 41, dass den Rechtsgrundsätzen über ihren großen Nutzen als Interpretationsgrundlage der Völkerrechtsverträge hinaus, eine hervorgehobene Aufgabe in der Einbindung der Regelungslücken im Quellensystem des Völkerstrafrechts zukommt. 9 Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos del Estatuto de Roma, 2006, S. 75 ff.
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an das Phänomen Strafrecht und konkret an dessen Quellensystem Gegenstand mannigfaltiger Art von Kritik aus der traditionellen Sicht des nationalen Strafrechts gewesen, da es die Strafrechtszwecke verfälscht und im Speziellen das Gesetzlichkeitsprinzip außer Acht lässt oder es im bestem Falle erheblich flexibilisiert.10 Diese letzte Feststellung hat eine große Bedeutung für das Völkerstrafrecht und zwingt dazu, der Missachtung des Gesetzlichkeitsprinzips die Stirn zu bieten, zumal in der internationalen Lehre ein breiter Konsens über den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Gesetzlichkeitsprinzips besteht.11 Man kann sagen, dass es bislang hauptsächlich zwei Konzeptionen gab, um eine Anwendung ungeschriebener Strafnormen im Völkerstrafrecht zu begründen, ohne dabei das Gesetzlichkeitsprinzip außer Kraft zu setzen. In der einen argumentiert man, dass die Anerkennung des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Quelle weder die Verkennung des Verbots, Recht ex post facto zu erlassen, mit sich bringt, noch die totale Aufgabe der Forderung nach einer lex certa, vor allem wenn man den IPbpR (Art. 15.2), die AEMR (Art. 11.2) und die EMRK (Art. 7.2) berücksichtigt. Diese bestimmen, dass ein Vergehen immer bestraft werden kann, wenn es „gemäß der allgemeinen Prinzipien der durch die Völkergemeinschaft anerkannten Rechte“ strafbar war.12 Die andere Konzeption geht von der Frage aus, ob das Gesetzlichkeitsprinzip einen absoluten Grundsatz bilden kann, der keine Ausnahmen zulässt, insbesondere wenn eine totale Strenge seiner Vorgaben den Anforderungen der Gerechtigkeit zuwiderlaufen würde.13 Selbstverständlich bezieht sich letzteres auf Fälle, in denen eine stringente Interpretation der Forderung nach einer lex praevia und certa zum Beispiel die Straflosigkeit von Personen nach sich ziehen würde, die sich der Brutalität ihrer Taten vollständig bewusst waren.14 Aus dieser letztgenannten
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Demgegenüber vertritt Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 51, dass der überwiegende Teil der Diskussionen über das Gewohnheitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts, einer zu engen Interpretation des Gesetzlichkeitsprinzips folgt (wonach es nur möglich ist, die Beschuldigung auf positives Recht zu stützen), was durch die Länder des common law nicht akzeptiert wurde und auch im Völkerrecht keinen Platz fand. 11 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 13; Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 352 ff. 12 Diese Ansicht schildert Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 36. 13 Wie später zu sehen sein wird, spielte dieses Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips eine Rolle vor dem IMG. 14 Genau diese Ansicht herrschte während der Nürnberger Prozesse, da das Gesetzlichkeitsprinzip als ein „Gerechtigkeitsprinzip“ gesehen wurde. Das Gericht beschränkte sich zudem auf die Feststellung, dass es ungerecht wäre, jene, welche die Verträge verletzten, ohne Strafe davonkommen zu lassen. Es bestehe vielmehr die „Pflicht, diesen Aggressoren zu zeigen, dass ihre Taten schlecht sind“, vgl. Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 24.
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Perspektive sollte das Gesetzlichkeitsprinzip Ausnahmen zulassen, wenn die gerechte Lösung des Falles es so verlangt. Ungeachtet dessen, dass diese Argumente uns, die wir gewöhnlich aus Sicht des nationalen Strafrechts schreiben, ganz und gar nicht zufrieden stellen können, ist sicher, dass sie mit der Eigenart des Gesetzlichkeitsprinzips im internationalen Bereich zusammenhängen. Begreift man das Gesetzlichkeitsprinzip als eine anerkannte, gültige Norm der internationalen Gemeinschaft, soll dieses alle Überschneidungspunkte wiederspiegeln, welche die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Welt aufweisen. Dies ist selbstverständlich keine einfache Aufgabe, vor allem wegen der unterschiedlichen Arten die Forderung nullum crimen, nulla poena sine lege zu begreifen. Wie Bassiouni zeigt,15 verbieten alle Rechtsfamilien die Bestrafung ex post facto, obschon in einigen von ihnen gewisse Ausnahmen akzeptiert sind; im gleichem Maße fehlt es umgekehrt an Einigkeit über die Reichweite des Analogieverbots.16 Trotz allem ergibt der Versuch, ein völkerrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip zu konstruieren, zumindest, dass das Gebot, nur auf der Grundlage einer lex praevia zu bestrafen (Rückwirkungsverbot) dort in gleicher Weise gilt, wie im nationalen Recht, während die lex certa17- (Bestimmtheitsgebot) und lex stricta-Erfordernisse (Analogieverbot) klar aufgeweicht scheinen und die Forderung nach einer lex scripta (Verbot von strafbegründendem und -schärfendem Gewohnheitsrecht) dadurch praktisch vollkommen an Gültigkeit verliert.18 Es kann hinzugefügt werden, dass sich trotz der 15
Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 194. Nach Ambos, ¿Cómo imputar a los superiores crímenes de los subordinados en el Derecho penal internacional? Fundamentos y formas, 2008, S. 47 ff., erkennt die Mehrheit der internationalen Menschenrechtsinstrumente das Erfordernis einer lex praevia (Rückwirkungsverbot) als Ableitung aus dem Gesetzlichkeitsprinzip an, und ebenso das Gebot des Vorrangs des mildesten Gesetzes, nicht hingegen das Prinzip der lex certa (Bestimmtheitsgebot). 17 Hinsichtlich des Erfordernisses einer lex certa (Bestimmtheitsgebot) ist zu sagen, dass die internationale Praxis trotz aktueller Bemühungen zur Verbesserung des Bestimmtheitsstandards strafrechtlicher Tatbestände in den völkerrechtlichen Instrumenten dies in Bezug auf die Bestimmung der Strafrahmen noch schuldig bleibt. Denn es ist nicht üblich, völkerrechtliche Tatbestände anzuerkennen, die einen eigenen Strafrahmen haben. Man tätigt vielmehr einen Verweis auf die Strafrahmen des nationalen Rechts (Modell der Statuten der Ad-hocTribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda), oder es existiert in einem Gesetzeswerk ein allgemeiner Abschnitt mit Strafen für die unterschiedlichen völkerrechtlichen Verbrechen (Modell des IStGH-Statuts). Aus diesem Grund erscheint es nicht verwunderlich, dass Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 331, erwägt, dass das aktuelle Strafensystem im Völkerrecht nicht den Minimalvoraussetzungen des Gesetzlichkeitsprinzips entspricht. Demnach kann der Modus der Festlegung der im völkerrechtlichen Bereich verwendeten Strafrahmen mit dem Gesetzlichkeitsprinzip nur in Einklang gebracht werden, wenn das Prinzip des nulla poene sine lege so ausgelegt wird, dass es lediglich fordert, nicht nachträglich die Strafe eines Delikts zu erhöhen, nicht aber die genaue Präzisierung eines Strafrahmens. Zu dieser letztgenannten Interpretation vgl. Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 381 ff. 18 Nach Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 13, 16
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ausgehend vom IStGH-Statut erreichten Fortschritte hinsichtlich des erreichten Bestimmtheitsniveaus, des Rückwirkungsverbots und des Analogieverbots (Art. 22, Art. 23 und Art. 24) an der Situation des Quellensystems in Bezug auf die Anerkennung des Gewohnheitsrechts wenig geändert hat.19 Meiner Meinung nach, und wie ich später vertiefen werde, kann man zumindest sagen, dass das Inkrafttreten des IStGH-Statuts eine Neuverortung des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts bedeutet, wenngleich auch in keiner Weise dessen Abschaffung. Dieses Szenario zeigt, dass man trotz einer langsamen Annäherung an die traditionelle Konzeption des Gesetzlichkeitsprinzips noch weit von einem totalen Verzicht auf das Gewohnheitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts entfernt ist. Damit haben nicht nur die eigene Phänomenologie und der politische Kontext internationaler Verbrechen zu tun, sondern auch die transzendentale Funktion, die seit jeher diese ungeschriebene Quelle im Völkerrecht erfüllte. In Anbetracht des praktisch unbeugsamen Charakters des Gewohnheitsrechts in der aktuellen Völkerstrafrechtsordnung versucht die folgende Ausarbeitung im Grunde eine die Strafrechtslehre und die Völkerrechtslehre versöhnende Sichtweise anzubieten, indem sie nach dem bestmöglichen Ausgleich der Menschenrechte des Beschuldigten und der Interessen der Opfer bzw. der internationalen Gemeinschaft strebt. Zu diesem Zweck muss man bereits hier betonen, dass die Schwierigkeiten, Gewohnheitsrecht im Völkerstrafrecht zu akzeptieren, nicht allein darauf fußen, dass es sich um eine ungeschriebene Quelle handelt, sondern auch auf dem fragwürdigen, von den Gerichten bei der Ermittlung des Gewohnheitsrechts beschrittenen Prozess. Die folgende Analyse wird sich um diesen Punkt drehen. Dabei wird versucht, die tatsächliche Reichweite des Gewohnheitsrechts im Völkerstrafrecht, dessen Elemente und den von den Richtern vorangetriebenen rechtlichen Identifikationsprozess zur Bestätigung der Elemente zu zeigen, ohne dabei einige Rechtsmissbräuche zu übersehen, die in grotesker Weise fundamentale Rechte der Angeklagten beschneiden.
kann man im Völkerstrafrecht weder eine schriftliche Fixierung noch eine materielle Bestimmtheit der mit dem nationalen Recht vergleichbaren Straftat fordern. 19 In gleicher Weise äußert sich Broomhall, Bruce, „Art. 22“, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., C. H. Beck/Hart/ Nomos, München, 2008, Rn. 15 und 20, für den die Strenge, mit der das Gesetzlichkeitsprinzip im Rom-Statut gilt, im Vergleich zum allgemeinen Völkerrecht größer ist. Zugleich hebt er aber auch hervor, dass dem Gewohnheitsrecht nach wie vor eine wichtige Rolle zukommt: Insbesondere wenn man bedenkt, welch großer Teil der dort vorgesehenen Kerndelikte eine Ableitung aus Gewohnheitsrecht sind. Dieselbe Idee präzisierend, erwägt Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 141, dass das IStGH-Statut gewisse gewohnheitsrechtliche Normen bestätigt, wenngleich es auch von diesen abweicht und großzügigere oder restriktiver gefasste Regelungen formuliert, als die Ableitungen des Gewohnheitsrechts, zum Beispiel in Hinblick auf die Kriminalisierung verbotener Kampfmittel in internationalen bewaffneten Konflikten.
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II. Typologie völkerrechtlicher Strafnormen und deren Genese im Gewohnheitsrecht Wenn man in der Strafrechtsdogmatik die Reichweite des lex scripta-Grundsatzes untersucht, denkt man normalerweise an die Funktion, die das Gewohnheitsrecht in der Begründung oder im Ausschluss von Strafen haben kann. Mit anderen Worten ist die erste Frage, mit der das Gesetzlichkeitsprinzip konfrontiert wird, ob es dem Richter zugestanden wird, Tatbestände, Straffreistellungsgründe und Strafmilderungsgründe aus dem Gewohnheitsrecht anzuwenden. Zu dieser Frage wird im Allgemeinen die klar herrschende Zurückweisung von gewohnheitsrechtlichen strafbarkeitsbegründenden Tatbeständen von der Akzeptanz des Gewohnheitsrechts in bonam partem begleitet, das heißt, das Gewohnheitsrecht darf angewendet werden, wenn es den Angeklagten begünstigt, die Strafe ausschließt oder mildert.20/21 Des Weiteren ist wichtig hervorzuheben, dass der durch die Anerkennung von gewohnheitsrechtlichen Tatbeständen und Straferschwerungsgründen verursachte Verstoß gegen den lex scripta-Grundsatz, konzeptionell eine Schwächung des Prinzips nullum crimen, nulla poena sine lex certa bedeutet. Beim Anwenden von ungeschriebenen Tatbeständen verliert man genauso an Gewissheit und an Bestimmtheit der verbotenen Handlung. Es findet eine Eingliederung von Tatbeständen statt, die im offensichtlichen Gegensatz zu dem Ziel steht, das ius puniendi zu reduzieren, welches die Interpretation des Gesetzlichkeitsprinzips bestimmt. Die Schwierigkeiten verschärfen sich, wenn man versucht, zumindest minimale Bestimmtheitsanforderungen an die Umschreibung der unerlaubten Handlung in der gewohnheitsrechtlichen Norm zu formulieren. Das Problem spitzt sich nochmals zu, wenn man auch Anforderungen an die tatbestandsmäßige Bestimmung der Strafe stellen möchte. Es scheint fast unmöglich, im Gewohnheitsrecht überhaupt von der Androhung einer bestimmten Strafe oder eines konkreten Strafrahmens zu sprechen. 20
Diese Unterscheidung des Gewohnheitsrechts in bonam partem und in malam partem trifft Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., 2006, § 5, Rn. 50; Bacigalupo, Manual de Derecho penal. Parte General, 1998, S. 38. Ebenso sind in den Lehrbüchern reichlich Aussagen zu Gunsten des Gewohnheitsrechts als Quelle von Rechtfertigungsgründen vorhanden, vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, S. 143, Paeffgen, „Vorbemerkungen zu den §§ 32 bis 35“, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl., 2005, Rn. 56; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 23; Hirsch, „Vorbemerkung zu den §§ 32 ff.“, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, 11. Aufl., Bd. 2, 2003, Rn. 34; Cerezo Mir, Curso de Derecho penal español, Bd. I, 5. Aufl., 1996 S. 158; Roxin, AT, Bd. I, 2006, § 5, Rn. 49 – 50, S. 160 – 161; Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, 10. Aufl., 2002, § 2, Rn. 27, S. 68; Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1953, S. 83. 21 Dies gilt unabhängig von der Unterscheidung, die man häufig hinsichtlich des unterschiedlichen Verständnisses des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil und im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches macht, wo dessen Strenge im ersten Teil geringer sein soll und letztendlich die Akzeptanz des Gewohnheitsrechts viel größer ist. Eine geringere Strenge des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil u. a. anerkennend Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, 1992, S. 118 – 120.
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Im Völkerstrafrecht besteht die vorrangige Funktion des Gewohnheitsrechts in der Festlegung von Verboten. So sind die Straftatbestände die Hauptkategorie der im internationalen Gewohnheitsrecht bestehenden strafrechtlichen Vorschriften. Das Verbrechen des Völkermords oder das Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeigen ihre gewohnheitsrechtliche Natur unbeschadet dessen, dass sie bereits in diversen internationalen Vertragswerken und nationalen Gesetzen positivrechtlich verankert wurden. Trotzdem darf die unterschiedliche, im internationalen Umfeld vorherrschende Situation nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gleichen, bereits aufgezeigten Probleme wie im nationalen Strafrecht bestehen: die Unbestimmtheit des Straftatbestandes und seiner Strafe bzw. seines Strafrahmens. Dies ist aber nicht das einzige Umfeld, in dem das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht als Quelle strafrechtlicher Regelungen wirken kann. Das Gewohnheitsrecht ist, in gleicher Weise wie es im nationalen Strafrecht geschieht,22 imstande, Zurechnungsregeln der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in der internationalen Strafgewalt zu begründen.23 Es fehlt zum Beispiel – wie später zu zeigen sein wird – nicht an Ansichten in der Lehre24 und in der Rechtsprechung,25 welche die auf der Lehre des Joint Criminal Enterprise basierende Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit von einer gewohnheitsrechtlichen Norm getragen sehen. In diesem Fall liefert das Gewohnheitsrecht Regeln über die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit hinsichtlich des Teilnehmers an der Begehung eines völkerrechtlichen Verbrechens. Letztendlich kann man daran denken, dass auch zwei andere Normkategorien ihre Genese in dieser Klasse des ungeschriebenen Rechts haben: Auf der einen Seite beziehe ich mich auf den gewohnheitsrechtlichen Charakter gewisser Vorschriften, welche die Verfolgbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen bestimmen, besonders auf die Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen. Unbeschadet der unten noch auszuführenden Kritik daran ist es wichtig hervorzuheben, dass für gewisse Sektoren das Prinzip der Unverjährbarkeit des Verbrechens gegen die Menschlichkeit von einer gewohnheitsrechtlichen Norm getragen wird.26 Auf der anderen Seite bot 22
Diesbezüglich existieren unzählige Anmerkungen über die Rolle des Gewohnheitsrechts in der Herleitung von Regeln der objektiven Tatbestandszurechnung, genauso wie der subjektiven Zurechnung, vor allem wenn man die gewohnheitsrechtliche Herkunft der Lehre der actio libera in causa anspricht. Über die Rolle des Gewohnheitsrechts bei der objektiven Zurechnung, vor allem in der Festlegung von Parametern des erlaubten Risikos Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch, 2. Aufl., 1991, Abschnitt 4, Rn. 47. Bzgl. der Auswirkungen des Gewohnheitsrechts in der Gestaltung der actio libera in causa, vgl. u. a. Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl., 1996, S. 143. 23 Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 49 – 50. 24 Soweit ersichtlich, vertreten diese Ansicht van Sliedregt, „Joint Criminal Enterprise as a Pathway to Convicting Individuals for Genocide“, JICJ (5), 2007, S. 202 – 203; Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 49 – 50. 25 Vgl. vor allem IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 220 26 Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 – 169.
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sich vor dem IStGH die Möglichkeit, über den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Straffreistellungsgrundes des Handelns unter dem Einfluss von Nötigung zu debattieren,27 wenngleich hierbei letztendlich ein absoluter Straffreistellungsgrund durch das Gericht abgelehnt wurde.28
III. Elemente des Gewohnheitsrechts und deren Anerkennung im Völkerstrafrecht 1. Wie vorangehend aufgezeigt wurde, folgt die Zugehörigkeit des Gewohnheitsrechts zu den Quellen des Völkerrechts und des Völkerstrafrechts hauptsächlich aus lit. b des Absatzes 1 des Art. 38 IGH-Statut, wonach das Gericht „das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht“ anwenden soll, für dessen Vorliegen eine „allgemein als Recht anerkannte Praxis“ als Beweis dient. Ausgehend von dieser Definition haben sowohl die internationale Rechtsprechung29 wie auch die internationale Lehre30 die Ableitung zweier Elemente anerkannt, die das Gewohnheitsrecht besitzt. Diese beiden Elemente sind: a) Das materielle oder objektive Element getragen von der Praxis der Völkerrechtssubjekte, b) das geistige bzw. subjektive Element oder die opinio iuris (Rechtsüberzeugung).31 Der Bezug in der Vorschrift des Statuts auf eine „als Recht anerkannte Praxis“ spiegelt beide Elemente wider, wenngleich dies nicht viel zum Verständnis der Elemente beiträgt. Auch mir erscheint es daher überzeugend, auf den in der Londoner 27 Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 49 – 50. 28 IStGH (Appeals Chamber), Erdemovic, 7. 10. 1997, Entscheidungsgründe Abs. 19. 29 Nebst anderen Fällen, vgl. IGH, Rep. 266, 20. 11. 1950. Ebenfalls zeigte dies der IGH in seinem Gutachten vom 08. 07. 1996 über die Rechtmäßigkeit der Bedrohung oder des Gebrauchs nuklearer Waffen. 30 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 91; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 122; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 128; Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 360 ff.; Dencker, ZIS (7), 2008, S. 299 (http:// www.zis-online.com/dat/artikel/2008_7_245.pdf); Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 20. 31 Bisher ist die Frage unbeantwortet, ob beide oder nur eines der beiden Elemente vorliegen müssen. Man vertrat traditionellerweise die Interpretation, dass man beide Elemente zur Begründung einer aus Gewohnheitsrecht abgeleiteten völkerrechtlichen Norm heranziehen sollte. Diese Interpretation folgt vor allem die Rechtsprechung des IGH, vgl. IGH, 20. Februar 1969, Nordsee-Festlandsockel. Nach einer anderen Ansicht ist es in Ausnahmefällen dann nicht notwendig auf die opinio iuris (Rechtsüberzeugung) abzustellen, wenn die Praxis den Anforderungen der Verbreitung, Dauerhaftigkeit und Einheitlichkeit genügt. So die Auffassung der London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 31.
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Konferenz im Jahr 2000 gestalteten Begriff des Völkergewohnheitsrechts abzustellen, der durch das Komitee zur Bildung des Völkergewohnheitsrechts (Committee on Formation of Customary [General] International Law) der International Law Association folgendermaßen gefasst wurde: „Eine völkerrechtliche Gewohnheitsregel ist diejenige, welche durch die dauerhafte und einheitliche Praxis von Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten im Rahmen ihrer internationalen Rechtsbeziehungen oder mit Wirkung für deren internationale Rechtsbeziehungen gebildet und vertreten wird, und dies unter Umständen, welche berechtigten Anlass geben, auch für die Zukunft von gleichem Verhalten [der Staaten und Völkerrechtssubjekte] auszugehen“.32 Diese Definition erlaubt nicht nur Schlussfolgerungen auf die Anforderungen an die Praxis und die opinio iuris (Rechtsüberzeugung), sondern auch Rückschlüsse auf einige der Merkmale. So muss die Praxis etwa dauerhaft und einheitlich sein sowie Auswirkungen auf das internationale Umfeld haben und muss auch durch andere völkerrechtliche Subjekte als die Staaten vorangetrieben werden können. Es ist notwendig zu betonen, dass die große Klarheit, die angesichts der Identifikation der Elemente des Völkergewohnheitsrechts vorherrscht, sich in dem Maße langsam auflöst, in dem man tiefer in deren Charakterisierung und in deren Wechselwirkungen zueinander eintaucht. Auf der einen Seite ist das Verständnis der Lehre und Rechtsprechung zu den Merkmalen, welche die Praxis der völkerrechtlichen Subjekte haben sollte (z. B. Dauerhaftigkeit, Einheitlichkeit und Verbreitung), sehr weit davon entfernt, klar und eindeutig zu sein, und erschwert somit den Identifikationsprozess der ungeschriebenen Norm. Auf der anderen Seite – und vielleicht ist dies die größte Schwachstelle – herrscht große Konfusion darüber, welche Elemente dem Nachweis der Praxis dienen und welche der opinio iuris (Rechtsüberzeugung). Denn man sieht das Problem, dass die Unterscheidung zu fließend geworden ist, vor allem in denjenigen Fällen, in denen die gleiche Aktivität beide Elemente belegen kann.33 Letzteres Problem verschärft sich noch, wenn man bedenkt, dass die tatsächliche Rolle des subjektiven Elements aktuell in Frage gestellt wird. Man fragt sich, ob es notwendigerweise dazu beitragen muss, eine gewohnheitsrechtliche Norm anerkennen zu können. Natürlich sind all dies keine geringfügigen Probleme innerhalb des Völkerstrafrechts, wo die Schwere seiner Sanktionen ein höchstmögliches Maß an Rechtssicherheit im Bereich von gewohnheitsrechtlichen Normen erfordert. 2. Die Merkmale des Völkergewohnheitsrechts erfordern jeweils eine noch eingehendere Betrachtung. Zunächst zur materiellen und objektiven Seite, der Praxis der völkerrechtlichen Subjekte: 32
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 8. 33 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 130. Im gleichen Sinne, Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 37.
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Vorab ist nochmals klarzustellen, dass die auf Gewohnheitsrecht basierende Norm nicht ausschließlich aktiv betriebene internationale Praxis der Staaten voraussetzt. Tatsächlich besteht ein breiter Konsens darüber, wonach auch die Praxis von völkerrechtlichen Organen ausreichen kann, diese erste Komponente zu bestätigen.34,35 Doch: Welche Art des Handelns dieser völkerrechtlichen Subjekte sind in diesem Sinne eine Praxis? Nach allgemeinem Verständnis kristallisiert sich das materielle bzw. objektive Element speziell in der offiziellen Staatsführung heraus, was die Tätigkeit seiner Organe (legislative Gewalt, exekutive Gewalt und judikative Gewalt) sowie die diplomatischen oder politischen Erklärungen seiner auswärtigen Repräsentanten, einschließlich eventueller Kommentare über ein Vertragsprojekt, Militärhandbücher etc. umfassen kann.36 Auch wird vertreten, dass von völkerrechtlichen Organen angenommene Deklarationen oder Resolutionen,37 die Statuten der Adhoc-Strafgerichtshöfe und deren Urteile eine im Sinne des Völkerrechts geforderte Praxis darstellen.38 Wie man sieht, fordern fast alle beschriebenen Praktiken verbale Akte der Staaten oder der völkerrechtlichen Organe. Dies erlaubt es, mit einer recht weit verbreiteten Ansicht in der Lehre39 zu brechen, wonach diese Art der Akte eher 34 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 91. 35 Nach Arajärvi, „The Role of the Internacional Criminal Judge in the Formation of Customary Internacional Law“, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 13, zeigt sich die enorme Bedeutung der „völkerrechtlichen Praxis“ gegenüber der „staatlichen Praxis“ im Fall Tadic, indem man als Bezug der Praxis die Arbeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, die Erklärungen der Europäischen Gemeinschaft von 1990 über die Situation in Liberia und der Europäischen Union von 1995 in Bezug auf Tschetschenien heranzog. 36 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 14, 17 – 18; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 129; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 123 – 124. Den Ausführungen des IStGH im Fall Tadic folgend, betont Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 12, in welcher Weise die offiziellen Erklärungen der Staaten, die Militärhandbücher und die Gerichtsentscheidungen zur Bildung des objektiven Elements wichtig sein können. Vor allem, wenn das objektive Element im jeweiligen Fall schwierig zu beweisen ist. Denn in Situationen nicht internationaler Konflikte kommt es häufig vor, dass objektive Beobachter keine Erlaubnis haben, die Handlungen der Konfliktparteien zu überwachen. 37 Diesbezüglich darf man, so wie Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 16, nicht übersehen, dass man es traditionell als Regel verstand, dass die Praxis der völkerrechtlichen Organe irrelevant für die Bildung gewohnheitsrechtlicher Normen waren. 38 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 144, 146. In diesem Sinne zeigt Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 402, dass seit Nürnberg die internationalen Gerichte und Organisationen eine der am stärksten wirkenden Kräfte in der Entwicklung des Gewohnheitsstrafrechts waren. 39 Zum Beispiel bejaht Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 37 – 38, dass die Entscheidungen der nicht-gerichtlichen Völkerrechtsorgane, Gesetzesprojekte, die Erklärungen diplomatischer Konferenzen
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mit der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) verknüpft ist. Wie bei der Londoner Konferenz ersichtlich, sind die Verbalakte tatsächlich der Hauptbeleg des objektiven Elements des Gewohnheitsrechts, vorausgesetzt, dass physische Akte (z. B. Festnahme von Personen, Beschlagnahme von Schiffen etc.) tatsächlich die Ausnahme sind.40 Trotzdem stellt nicht jeder Verbalakt eine Praxis im geforderten Sinne für die Annahme einer völkerrechtlichen Gewohnheitsnorm dar. Diese Akte müssen darüber hinaus durch drei Merkmale begleitet sein: Dauerhaftigkeit, Verbreitung oder Repräsentativität und Einheitlichkeit.41 Jene Merkmale wurden durch den IGH gefordert42 und das Komitee zur Bildung des Völkergewohnheitsrechts43 und große Teile der völkerrechtlichen Lehre haben dem zugestimmt.44 Eine Praxis ist demnach dauerhaft, wenn sie während einer bestimmten Zeitspanne befolgt wurde. Dies bedeutet nicht, dass es zur Annahme einer dauerhaften Praxis notwendig ist, dass sich diese über eine lange Zeitspanne oder einen vordefinierten Zeitraum erstreckt. Vielmehr reicht es aus, eine gewisse „zeitliche Gültigkeit“ der Praxis zu belegen. Wenn die Akte der Völkerrechtssubjekte nur während einer kurzen Zeitspanne praktiziert wurden, kann dieses Defizit durch eine starke Präsenz der anderen beiden Merkmale in diesem Zeitraum kompensiert werden.45 Daher sieht man im Grunde genommen, dass wir es mit einer Frage der Anhäufung, also der aus-
und andere Elemente des sogenannten „soft law“ bedeutsam für den Beleg der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) sein können. 40 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 14. 41 Wie ebenfalls aus der London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 15, folgt, ist die Öffentlichkeit ein weiteres Merkmal der Praxis, wenngleich ich wegen der hier vorgenommenen Zielsetzung der Arbeit dessen Beschreibung auslassen werde. 42 Siehe Anm. 29. 43 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 20 ff. 44 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 129; ders., Principles of International Criminal Law, 2005, Rn. 129; Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl., 2005, S. 17; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 124; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 92 ff. 45 So verstand dies der IGH im Fall „Nordsee-Festlandsockel“, vgl. Fall IGH, Rep. 3, 20. 02. 1969. Auch in der Lehre vertreten Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl., 2005, S. 17; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 124.
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reichenden Dichte bezüglich der Einheitlichkeit, Verbreitung und Repräsentativität zu tun haben.46 Die Praxis muss auch verbreitet sein, weshalb sie durch eine gewichtige Anzahl von Staaten befolgt werden muss. Man darf aber nicht übersehen, dass es keine reine Frage der Quantität ist, abhängig von der Anzahl der Staaten oder Völkerrechtssubjekte, die dieser Praxis folgen. Vielmehr ist auch ein qualitativer Aspekt zu berücksichtigen.47 Aus diesem Grund ist es vielleicht besser, von Repräsentativität anstatt von Verbreitung zu sprechen. Denn es ist auch wichtig zu berücksichtigen, welches die der entsprechenden Praxis folgenden Staaten sind und ob es sich konkret um die Staaten handelt, deren Interessen durch die gewohnheitsrechtliche Norm im besonderen Maße beeinträchtigt werden.48 Außerdem ist hervorzuheben, dass im internationalen Umfeld die gewohnheitsrechtlichen Normen einen unterschiedlichen Verbreitungsgrad aufweisen, was unmittelbar von der Anzahl der Staaten abhängt, welche die in Frage kommende Praxis anzuwenden pflegen. Daher spricht man von generellen Gewohnheitsrechten und von partikularen Gewohnheitsrechten.49 Trotz allem existiert im begrenzten Bereich des Völkerstrafrechts eine klare Tendenz dazu, eine weitreichende Verbreitung oder Repräsentativität der Praxis zu fordern, und zwar in der Weise, dass eine allgemeine Befolgung von Seiten der internationalen Gemeinschaft der ungeschriebenen Norm besteht. Dies spiegelt sich auch zum Großteil in den theoretischen Annäherungen an das Thema wider,50 wie auch in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Gerichte,51 welche die Existenz einer originären Straftat im internationalen Gewohnheitsrecht oder eines bestimmten strafrechtlichen Zurechnungsmodells begründen, indem sie als Beleg Praktiken der repräsentativsten Staaten der Welt heranziehen. 46
Conferencia London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 20. 47 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 25 – 26. 48 Das Hinzufügen dieses qualitativen Faktors kann zum Verlust eines gewissen demokratischen Verständnisses in der Praxis führen. Zu diesem Punkt hat das Komitee zur Bildung des Völkergewohnheitsrechts folgendes vertreten: „The fact that the test is not purely quantitative may appear undemocratic. But leaving aside the question what is meant by ,democratic‘ in this context, it should be noted that customary systems are rarely completely democratic: the more important participants play a particularly significant role in the process. And certainly, the international system as a whole is far from democratic. So, in this regard, customary international law is at least in touch with political reality“. Vgl. London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 26. 49 Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 125 – 126; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 92 – 93, 100 – 102. 50 Vgl. u. a. Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 ff. 51 IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 224.
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Meiner Meinung nach ist die Forderung dieses Generalisierungs- oder Repräsentativitätsniveaus im Völkerstrafrecht durch zweierlei gerechtfertigt: (1) Die Schwere der völkerrechtlichen Verbrechen erschüttert die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit, durch Verletzung ihrer eigenen Grundwerte; folglich ist es die gesamte Gemeinschaft, die reagiert. (2) Die Existenz so drastischer Sanktionen wie derjenigen für Verbrechen des Völkerstrafrechts52 kann nur Legitimation finden, wenn, neben weiteren Gründen, eine allgemeine Unterstützung der internationalen Gemeinschaft existiert. Ich denke, eine der Hauptkonsequenzen welche man aus der geforderten weiten Repräsentativität ableiten kann, ist, dass ein guter Teil der gewohnheitsrechtlichen Normen praktisch angeglichen oder Teil des ius cogens wird (oder – falls bevorzugt – des ius cogens poenalis).53 Das heißt, sie werden zwingende Normen oder Normen der öffentlichen Ordnung, welche nicht durch Verträge oder das gewöhnliche Völkergewohnheitsrecht aufgehoben werden können.54 Für viele Autoren sind bereits große Teile der gültigen Vorschriften des Völkerstrafrechts im ius cogens integriert: das Folterverbot, die Bestrafung von Völkermord und der Versklavung, das Verbot der Rückwirkung des nachteiligen Strafgesetzes etc.55 Trotzdem sollte diese tendenzielle Gleichstellung des strafrechtlichen Gewohnheitsrechts und des ius cogens – oder genereller gesagt, von ungeschriebenen völkerstrafrechtlichen Normen und des ius cogens – nicht zu einer Verallgemeinerung führen, die diese notwendige Unterscheidung sowohl auf praktischer wie auch auf konzeptioneller Ebene auflöst. Letzten Endes sollten wir bei folgender Überlegung bleiben: Damit Raum für eine Praxis einer gewohnheitsstrafrechtlichen Norm ist, sollte diese durch eine weit52 Nimmt man das IStGH-Statut oder auch das Statut des TIM-Nürnberg, des IStGH und des RStGH als Bezugspunkt, gelangt man u. a. zu der Ansicht, dass das Völkerstrafrecht – abgesehen von der in den Nürnberger Prozessen angewandten Todesstrafe – ein Strafrecht der Freiheitsstrafe ist. Denn weniger schwere Hauptfolgen als die Gefängnisstrafe (Geldstrafe, Aberkennung von Rechten) sind nicht vorgesehen. Dennoch hält man auf Grund des Verhältnismäßigkeitsprinzips Strafdrohungen langer Haftstrafen für notwendig, zum Beispiel gemäß Art. 77 IStGH-Statut lebenslänglich oder bis zu 30 Jahren. 53 Es genügt, folgenden Satz von Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 177, heranzuziehen, um die bemerkenswerte Annäherung zwischen dem Gewohnheitsrecht und dem ius cogens im Bereich des Völkerstrafrechts zu verstehen: „Eine Norm des ius cogens erhebt sich auf dieses Niveau, wenn das dahinterstehende Prinzip, ausgehend von einer dauerhaften Praxis, allgemein anerkannt wird, begleitet durch die notwendige Rechtsüberzeugung der Mehrheit der Staaten.“ 54 Wie es die Artikel 53 und 64 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge festlegen, ist, was das sogenannte vorangehende und nachfolgende ius cogens angeht, jeder Vertrag nichtig, der im Moment des Abschlusses gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts verstößt oder durch dessen Abschluss eine neue Norm des ius cogens entsteht, welche zur konventionellen Norm im Gegensatz steht. Der gleiche Effekt besteht bei einer gewohnheitsrechtlichen Norm, welche einer zwingenden Norm des ius cogens zuwider läuft. Vgl. hierzu Gómez Robledo, El ius cogens internacional (Estudio histórico-crítico), México, 1982, S. 96 ff. 55 Gómez Robledo, El ius cogens internacional (Estudio histórico-crítico), México, 1982, S. 196, 198 – 199; Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 – 169; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 567; Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 352 ff.
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reichende Repräsentativität in der internationalen Gemeinschaft gestützt sein; das heißt, dass eine Praxis, um gültig zu sein, keinen universalen Charakter haben muss, sondern es reicht aus, dass es sich um eine allgemeine Praxis handelt. An dritter Stelle muss sich die Praxis, außer durch Dauerhaftigkeit und Allgemeinheit auch durch Einheitlichkeit auszeichnen. Dieses Erfordernis sollte nicht in der Art verstanden werden, dass es einer rigorosen und absolut identischen Praxis bedarf.56 Man sieht dies im Gegenteil so, dass es ausreicht, wenn man von Seiten der Staaten die Zustimmung zu einer Regel beobachten kann, und dass die ihr gegenläufigen Handlungen als Verstoß angesehen werden und nicht als die Begründung einer neuen Regel.57 Ebenfalls betont man, dass die Einheitlichkeit sowohl in einem internen wie auch kollektiven Sinne entfaltet werden müsse.58 Das bedeutet: Die Praxis ist intern einheitlich, wenn jeder Staat, dessen Verhalten berücksichtigt wird, zu fast allen Anlässen in gleicher Art und Weise gehandelt hat. Daneben ist sie kollektiv einheitlich, wenn die unterschiedlichen mit einbezogenen Staaten der Praxis keine substanziell unterschiedlichen Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben, also manche Staaten anders als andere handeln. Trotz der Berührungspunkte, welche Allgemeinheit und Einheitlichkeit häufig aufweisen, hat deren Unterscheidung eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung für das strafrechtliche Gewohnheitsrecht. Wie später noch etwas detaillierter darzulegen sein wird, kann es geschehen, dass eine gewohnheitsrechtliche Norm (z. B. diejenige, die das Verbrechen gegen die Menschlichkeit beinhaltet), obwohl sie auf einer allgemeinen Praxis in der internationalen Gemeinschaft beruht, einige Probleme bezüglich ihrer Einheitlichkeit mit sich bringt. Denn nicht immer wurden dieselben Handlungen vom Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit umfasst. In diesem Fall würde man von einer allgemeinen Praxis sprechen, aber nicht von einer einheitlichen. In gleicher Weise kann es Fälle geben, in denen die verfolgte Praxis einheitlich ist, wegen einer spärlichen oder geringen Befolgung von Seiten der Staaten – etwa bei der unten noch einmal aufgegriffenen Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen – aber die Allgemeinheit als materielles bzw. objektives Element des Gewohnheitsrechts fehlt. 3. Auch das geistige oder subjektive Element, die opinio iuris sive necessitatis, bedarf noch einiger Erläuterungen. Für einige besteht dieses Element in der „Zustimmung“ oder in dem „Wunsch“, dass etwas eine gewohnheitsrechtliche Regel bilde, während es sich für andere um den „Glauben“ an die Gültigkeit der Regel handelt.59 56
Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl., 2005, S. 18. Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones nales, 5. Aufl., 1994, S. 92. 58 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of (General) International Law, 2000, S. 21. 59 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of (General) International Law, 2000, S. 30. 57
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Indes sieht eine dritte, zwischen den vorangehenden Ansichten vermittelnde Meinung in diesem Element die „Akzeptanz“ oder die „Anerkennung“ einer Praxis als rechtlich verbindlich. Deshalb kann man sagen, dass die opinio iuris die Akzeptanz – oder sogar die Überzeugung – der rechtlichen Erlaubnis oder Verpflichtung (je nach Fall) zur Praxis beinhaltet.60 Eine der größten Schwierigkeiten hinsichtlich der subjektiven oder geistigen Komponente, besteht in ihrer (mangelnden) Beweisbarkeit. Während die Praxis der völkerrechtlichen Subjekte einfach festgestellt werden kann, stößt die Überzeugung von der rechtlichen Verbindlichkeit auf die typischen Probleme der Beweisbarkeit subjektiver Elemente. Unter den Strafrechtsdogmatikern meint man, dass die opinio iuris (Rechtsüberzeugung) vor allem im sogenannten soft law (z. B. Entscheidungen nicht-juristischer internationaler Organisationen, Gesetzesprojekte, Erklärungen diplomatischer Konferenzen) und in der Lehrmeinung der übrigen Juristen61 sowie in den judikativen und legislativen Aktivitäten der Staaten gesehen werden kann.62 Für Ambos63 sind ferner die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine große Hilfe bei der Identifikation der Überzeugung über rechtliche Obliegenheiten/Erlaubnisse der Praxis, was nach seiner Meinung den Unterschied zwischen Gewohnheitsrecht und anderen ungeschriebenen Normen auflöst. Man kann trotzdem vertreten, dass die zur Feststellung der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) empfohlene Offensichtlichkeit, die gleiche ist, die bezüglich der materiellen oder objektiven Komponente vorgeschlagen wird. Das führt in vielen Fällen dazu, ihre Rolle unterzubewerten.64 Man kann – nach der Londoner Konferenz65 – sagen, dass sich die Bedeutung der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) hauptsächlich auf zwei Punkte konzentriert. An erster Stelle besitzt sie eine Funktion als negatives Element, wie man auch sagt, als die Annahme von Gewohnheitsrecht ausschließende opinio non iuris. Das heißt, sie zeigt, dass gewisse Praktiken (als übliches Beispiel der Versand von Bei60 Mit gleichen Worten, vgl. Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 94 – 95; London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 33; Werle, Principles of International Criminal Law, Den Haag, 2005, Rn. 130. 61 Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 37 – 38. 62 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 156, 158. 63 Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 38. 64 Man darf trotzdem nicht verkennen, dass die gleiche Offensichtlichkeit beide Elemente des Gewohnheitsrechts bekräftigt, vgl. London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 7. 65 London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 34 – 36.
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leidsbekundungen zwischen staatlichen Bevollmächtigten) keine gewohnheitsrechtliche Norm widerspiegeln, obwohl sie verbreitet, dauerhaft und einheitlich erfolgen. Nach meinem Dafürhalten besitzt dieses subjektive Element – vor allem auf dem Gebiet des völkerrechtlichen Strafrechts –, dort eine besondere Bedeutung, wo man es mit einer mehrdeutigen oder nicht dauerhaften Praxis zu tun hat, welche durch eine solide Überzeugung von der rechtlichen Verbindlichkeit kompensiert werden kann.66
IV. Der Anerkennungsprozess des Gewohnheitsrechts und dessen Garantiedefizit im Völkerstrafrecht 1. Der Verlust der Objektivität und der Abbau des Identifikationsprozesses der strafrechtlichen Gewohnheitsregel Eine der aus dem Prinzip des Willkürverbots hervorgehenden Hauptkonsequenzen ist, dass die Rechtsprechungsaktivität im Wesentlichen auf der Anwendung einer zuvor festgelegten rechtlichen Vorschrift für den konkreten Fall beruhen muss und nicht auf einer erst nach der Tat geschaffenen rechtlichen Ad-hoc-Norm beruhen darf. Unbeschadet gewisser Ermessenspielräume bleibt die Tätigkeit des Richters eng an den gegebenen Grenzen der von ihm anzuwendenden Vorschrift gebunden. Dieses Verständnis der Rechtsprechungstätigkeit garantiert die Objektivität des Urteils, da es durch einen externen Parameter getragen wird und nicht durch den Subjektivismus des Richters.67 Vor allem aber ist es aus dieser Perspektive notwendig, zwei Tätigkeiten zu unterscheiden: die gerichtliche Identifikation oder Anerkennung einer rechtlichen Quelle (unvermeidliche gerichtliche Tätigkeit) und die gerichtliche Schöpfung einer rechtlichen Quelle (in der Regel Sperrgebiet im Strafrecht). In einem heterogenen Quellensystem, wie dem gültigen System im Völkerstrafrecht, verläuft die Auseinanderhaltung dieser beiden Tätigkeiten nicht immer ohne Komplikationen. Um eine konventionell gegebene Norm zu identifizieren, ist es ausreichend, dass der Richter auf den konkreten Artikel des Vertrages verweist, in welchem sie niedergeschrieben ist. Zum Beispiel genügt es dem IStGH zur Anerkennung der Vorschrift, welche er zur Verurteilung eines Ex-Diktators für Völkermord anwendet, in seiner Entscheidung auf Art. 6 IStGH-Statut zu verweisen. Weil man in das Quellensystem des Völkerstrafrechts auch ungeschriebene Normen eingliedern möchte, bestimmt man die Zugehörigkeit einer Norm zu diesen Quellen nicht anhand eines rechtlichen oder vertraglichen Korpus. Der Richter erhält eine viel komplexere 66 Genau genommen wurde diese Idee durch den IStGH im Fall Kupreskic hervorgehoben, vgl. IStGH, Prosecutor vs. Kupreskic, 2000, § 527. 67 Genau genommen ist es die Funktion des wörtlichen Tenors, dem gerichtlichen Urteil, Gesetzmäßigkeit und Objektivität zu geben, vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, 2004, S. 19, 21 – 23.
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Aufgabe. Sie besteht darin, den Beweis der Existenz der gewohnheitsrechtlichen Norm anzutreten, und dies macht es notwendig, einen Verifikationsprozess oder Anerkennungsprozess der internationalen Praxis und der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) zu durchlaufen.68 Das internationale Gericht muss alle Anstrengungen unternehmen, um die Existenz dieser gewohnheitsrechtlichen Norm durch das Zusammentragen einer größtmöglichen Anzahl von Beweisen für das Vorliegen der oben dargestellten Voraussetzungen zu erbringen. Genauso ist es auch geboten, dass das Gericht die Beweise würdigt und dass es Begründungen anbietet, weswegen es die Elemente des Gewohnheitsrechts für verifiziert hält. Dies zeigt grundlegend, dass die Aufgabe des Richters nicht in der Erschaffung einer Gewohnheitsregel besteht, sondern vielmehr darin liegt, diese anzuerkennen oder zu identifizieren. Da es sich bei der Ermittlung des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts um einen Prozess handelt, in dem dem Richter eine sehr aktive Rolle zukommt, kam man zu der Ansicht, dass diese Quelle in Wirklichkeit das Produkt oder Resultat eines „informellen [gerichtlichen] Rechtsschöpfungsprozesses“ ist, in welchem man kein hohes Niveau an Präzision und Bestimmtheit erwarten könne.69 Wie Mettraux anmerkt, findet man gute Beispiele dieser schlechten Interpretation des Identifikationsprozesses gewohnheitsrechtlicher Strafnormen (vor allem im Hinblick auf das Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Aggression) in der Rechtsprechung des IMG und der Adhoc-Tribunale, besonders beim IStGH.70 Häufig ist das Verständnis des Gewohnheitsrechts als richterliches Produkt ein Kunstgriff, der angewandt wird, um mögliche Kritik angesichts ausufernder Interpretation zu verhindern oder um eine subjektive Entscheidung des Richters als logische Schlussfolgerung aus im Voraus festgelegten rechtlichen Quellen auszugeben.71 In Wirklichkeit ist das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht keine rechtliche Regel, die der Richter für den konkreten Fall entwickelt, sondern die bereits vor der richterlichen Intervention besteht, dessen Existenz jedoch durch den Rechtsanwender bewiesen werden muss. Dieser Anerkennungsprozess setzt in keiner Weise eine schöpferische Tätigkeit des Richters voraus, sondern die Eröffnung einer Beweisaufnahme, in welcher solide Belege für die Existenz der ungeschriebenen Norm aufgeboten werden müssen. Kurzum: Der Richter schafft keinerlei Rechtsnorm, sondern beweist ihre Existenz. Nur dieses Verständnis des gewohnheitsrechtlichen Anerkennungsprozesses im Völkerstrafrecht kann die Kompetenzen des Richters eingrenzen und der Objektivität seiner Entscheidungen förderlich sein. 68
Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 14. London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 2. 70 Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 15. 71 Tatsächlich wäre dies der Fall beim IStGH nach Gradoni, Lorenzo, „Nullum crimen sine consuetudine. A Few Observations on How the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia Has Been Identifying Custom“, in: Agorae Papers of the ESIL Inaugural Conference, Florencia, 2004, S. 6. 69
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Das Hauptproblem der Zulassung des Gewohnheitsrechts als strafrechtliche Quelle in der Völkerrechtsordnung besteht gerade darin, dass der Argumentationsund Beweisprozess, so wie er von den Gerichten betrieben wird, defizitär ist. Das wichtige der Völkerrechtslehre gemachte Zugeständnis, die Begründung von Strafe durch ungeschriebenes Recht zuzulassen, sollte durch die Forderung eines äußerst genauen und stichhaltigen Prozesses kompensiert werden, welcher den größten Teil der Zweifel an der Existenz des Gewohnheitsrechts ausräumt. Andernfalls ginge das zu Lasten der sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergebenden Anforderungen gemachte Zugeständnis mit einem weiteren Zugeständnis bezüglich des zu fordernden Prozesses einher.72 Leider ist die Rechtsprechungspraxis in ihrem Eifer, den internationalen Frieden, die Sicherheit und die Menschenrechte zu garantieren, sehr weit davon entfernt, dieser Strenge gerecht zu werden, und der Nachweis der objektiven und subjektiven Elemente des Gewohnheitsrechts zeichnet sich durch deren Abwesenheit aus oder besteht in Beweisen von geringer Überzeugungskraft.73 Konkret zeigt sich dieser Verschlechterungstrend der Identifikation von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht durch zwei essenzielle Merkmale: 1. Das Fehlen von Beweisen, welche das Vorliegen von allen oder einigen Elementen des Gewohnheitsrechts belegen; 2. das Fehlen von Begründungen, welche erklären, weshalb diese Beweise die Existenz der Praxis und der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) belegen. Bei einigen der Elemente des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts kann man oft keine großen Bemühungen von Seiten der Gerichte beobachten, ihr Vorliegen zu bestätigen. So ist es vor allem bei der opinio iuris (Rechtsüberzeugung). Bei ihr verweisen die Gerichte im Allgemeinen auf die Rechtsprechung oder die Gesetzgebung einiger weniger Länder der Elite oder auf gewisse internationale Instrumente, welche für sich selbst gesehen die völkerrechtliche Praxis beweisen könnten, wenngleich die Gerichte jegliche Begründung dafür schuldig bleiben, dass die Überzeugung von der Verbindlichkeit dieser Praxis existiert.74 Doch sogar der Nachweis des objektiven Elements – der viel einfacher zu sein scheint – ist defizitär, da man in manchen Fällen einfach allgemein auf völkerrechtliche Verträge oder nationale Urteile Bezug nimmt, ohne zu erklären, warum diese eine Praxis darstellen. Gleichzeitig wird in anderen Fällen nicht nachgewiesen, dass diese Praxis dauerhaft, einheitlich und allgemein ist. Die Situation ist nicht weniger problematisch, wenn man trotz des Fehlens einer dauerhaften und allgemeinen Praxis eine gewohnheitsrechtliche Norm auf der Grundla-
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Gradoni, in: Agorae Papers of the ESIL Inaugural Conference, 2004, S. 4. Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 5; Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 15, welcher speziell diese Verschlechterung des Identifikationsprozesses von Gewohnheitsrecht in den Urteilen des IMG und IStGH findet. 74 Auf dieses Problem in der Rechtsprechung des IStGH hinweisend, Gradoni, in: Agorae Papers of the ESIL Inaugural Conference, 2004, S. 8. 73
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ge eines übertriebenen, allgemeinen Bezuges auf die opinio iuris (Rechtsüberzeugung) anerkennt.75 Trotz der Beispiele, die wir später analysieren werden, hilft es bereits hier, einige entschiedene Fälle des IStGH aufzuführen. Auf der einen Seite versuchte man im Fall Furundzija76, den Nachweis des gewohnheitsrechtlichen Charakters des Folterverbots ohne eine präzise Verifikation einer dauerhaften, allgemeinen und einheitlichen Praxis der völkerrechtlichen Subjekte und der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) zu führen. Stattdessen bediente man sich schlicht eines allgemeinen Verweises auf den Lieber Code von 1863, auf die Haager Konvention von 1907 zusammen mit der Martens’schen Klausel der Präambel der zweiten Genfer Konvention von 1946 und auf das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates.77 Auf der anderen Seite folgte im Fall Krstic etwas Ähnliches: Um den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Völkermordes zu beweisen, bediente man sich eines Verweises auf die Völkermordkonvention, auf die völkerrechtliche Rechtsprechung, auf die Berichte der völkerrechtlichen Organe (z. B. Bericht der Internationalen Rechtskommission über das Projekt des Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit), auf die Arbeiten im Vorfeld des Projekts des Rom-Statuts und letztlich auf die staatliche Gesetzgebung und Praxis, speziell auf die gerichtlichen Interpretationen.78 Hier gab es auch keinen ernsthaften Versuch, beide Elemente zu belegen. Diese einfache Bezugnahme auf, unter anderem, völkerrechtliche Normen, nationale Urteile, Gesetzgebung und politische Erklärungen, schafft auch Raum für ein weiteres Defizit, welches im Identifikationsprozess des strafrechtlichen Gewohnheitsrechts zu finden ist. Solche Bezugnahmen werden nicht durch die gebotene Würdigung der vorgebrachten Beweise begleitet oder wenn doch, so ist die Beweiswürdigung dürftig und trägt nicht viel zur Überzeugungskraft des Beweises bei. Im Folgenden werde ich die Kritik an den im Völkerstrafrecht angewendeten Kriterien zur Identifikation des Gewohnheitsrechts ausgehend von der Analyse des gewohnheitsrechtlichen Charakters des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen und der Lehre des Joint Criminal Enterprise vertiefen.
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Diesbezüglich begründet der IStGH im Fall Kupreskic für die gewohnheitsrechtliche Natur des Verbots Repressalien gegenüber Zivilisten in Kampfgebieten anzuwenden, trotz Nichtexistenz einer allgemeinen und dauerhaften Praxis, mit dem Argument des subjektiven Elements. Das Gericht gibt sich zur Annahme der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) mit einer Bezugnahme auf die Martens’sche Klausel einfach zufrieden, welche „klar zeige, dass Prinzipien des humanitären Völkerrechts aus einem gewohnheitsrechtlichen Prozess entstehen, unter dem Druck der Bedürfnisse der Menschlichkeit oder dem Diktat des öffentlichen Unrechtsbewusstseins.“ Vgl. IStGH, (Trial Chamber), Kupreskic, Abs. 527. 76 IStGH, (Trial Chamber), Furundzija, 10. 12. 1998, Abs. 137. 77 In diesem Sinne, Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 14 – 15. 78 Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 17 – 18.
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2. Einige besonders problematische Beispiele der Anerkennung des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts: Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Lehre des Joint Criminal Enterprise und die Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen a) Vielleicht mag es den Leser besonders überraschen, dass hier das Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eines der Beispiele gewählt wird, in welchem der Anerkennungsprozess des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts fraglich erscheint. Die Überraschung ist verständlich, da nicht nur ein gefestigter Konsens in der Lehre79 über dessen gewohnheitsrechtliches Naturell besteht, sondern auch über seinen Charakter als Norm des ius cogens. Trotzdem frage ich mich, warum es in der Gesamtschau so eindeutig sein soll, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein gewohnheitsrechtliches Naturell besitzt. Denn man kann dieses weder den ersten gerichtlichen Äußerungen zu diesem Delikt entnehmen, noch gegenwärtig eine internationale Praxis hinsichtlich dieses Verbrechens beobachten, welche die Voraussetzungen an den Nachweis eines gewohnheitsrechtlichen Tatbestandes vollständig erfüllen würden. Diese Verbrechen traten zum ersten Mal aus Anlass der Nürnberger80 und Tokioter Prozesse auf die Hauptbühne der strafrechtlichen Diskussion, wenngleich Frankreich, Großbritannien und Russland bereits im Jahr 1915 den Begriff geprägt hatten, um auf das Massaker an der armenischen Zivilbevölkerung hinzuweisen.81 Beim Richten der Hauptverbrecher des Zweiten Weltkriegs führte die Bestrafung auf Grund der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer großen Kontroverse, da die gewohnheitsrechtliche Natur dieses Straftatbestandes trotz der Vorgeschichte des Jahres 1915 sehr fragwürdig erschien. In Wirklichkeit handelte es sich um eine gewohnheitsrechtliche Norm, welche sich in Entstehung befand, und so zum Zeitpunkt, als die Taten begangen wurden, in der internationalen Gemeinschaft noch nicht in Kraft war.82 Die Nichtexistenz eines völkerrechtlichen Gewohnheits79 Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 141; Werle, Principles of International Criminal Law, 2005, Rn. 639; Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 51 – 52. 80 Obwohl von diesem historischen Moment an das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein der Völkerrechtsordnung bekanntes Delikt war, kann man nicht außer Acht lassen, dass man diesem während der Nürnberger Prozesse das Tribunal diesem Aufmerksamkeit schenkte, was sich auf seine Weise in den geringen Anstrengungen zum Beweis dessen gewohnheitsrechtlicher Natur zeigt. Diesbezüglich Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 119. 81 Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 67; Werle, Principles of International Criminal Law, 2005, Rn. 636 – 637. 82 Aus diesem Grund bejaht Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 125 u. 126, dass es sich tatsächlich um eine Anwendung des Strafrechts ex post facto handelte.
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rechts, welches das Verbrechen gegen die Menschlichkeit beinhaltet, war offensichtlich, und zwar trotz der Versuche, die staatliche Praxis, ausgehend von den offiziellen Erklärungen der alliierten Nationen während des bewaffneten Konflikts, welche die brutalen Handlungen des Nationalsozialismus verurteilten, anzuerkennen.83 Mehr noch erscheint es überraschend, dass die einzige durch den IMG vorgebrachte Rechtsquelle, um dessen Existenz zu substantiieren, ausgerechnet das eigene Statut des Militärgerichtshofs war.84 Ich meine, dass man erstmals vom gewohnheitsrechtlichen Charakter des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sprechen konnte, als sich im Jahr 1950 mit der Resolution Nr. 177 der Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Nürnberger Prinzipien“ herauskristallisierten.85 Daher verdichtete Art. 6 des IMG-Statuts keine seit Kurzem bestehende Regel des Völkerrechts, sondern es handelte sich in Wirklichkeit um eine neue Regel, deren Anwendung ex post facto nur tolerabel war, wenn man das Rückwirkungsverbot nicht als eine Begrenzung der Souveränität interpretiert, sondern als eine Maxime der Gerechtigkeit, die in einem Konflikt mit der drohenden Straflosigkeit von Taten extremer Schwere steht.86 Heute bestehen am gewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Straftaten keine Zweifel mehr, sondern allenfalls an der gewohnheitsrechtlichen Struktur des Tatbestandes. Auch wenn man die (meiner Meinung nach) unüberwindbaren Hindernisse, die der Zuordnung des Strafrahmens des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zum Gewohnheitsrecht entgegenstehen, einmal beiseitelässt,87 verbleiben Probleme, eine einheitliche Praxis im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale auszumachen. In diesem Sinne bestehen die aktuellen Hauptprobleme des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in folgenden Fragen: Ob, auf der einen Seite, zwischen dem Angriff auf die Zivilbevölkerung und den bewaffneten Konflikten eine Verbindung bestehen muss und, auf der anderen Seite, welche Einzeldelikte vom Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit umfasst sind.88 Entgegen landläufiger Annahmen 83
Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 8. Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 122. 85 Für Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 72, begannen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst mit dieser Resolution, sich in Völkergewohnheitsrecht zu wandeln. 86 Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 113; Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 70, 72. 87 Bezüglich dieser Kritik, vgl. Dencker, ZIS (7), 2008, S. 299 ff. Zu dieser Frage beobachtet er, dass die Praxis der Staaten nur teilweise berücksichtigt wurde. Der Autor zeigt zum Beispiel, dass nach dem IMG-Statut und dem IMGFO-Statut das Tribunal auf das Verbrechen gegen die Menschlichkeit jede ihm adäquat erscheinende Strafe anwenden konnte, die Todesstrafe eingeschlossen. Etwas Ähnliches geschieht bei den Statuten der Ad-hoc-Tribunale, die schlicht die Gefängnisstrafe erwähnen, um später für die konkrete Strafe auf die nationalen Regelungen zu verweisen. Auch das IStGH-Statut sieht zeitige und lebenslängliche Gefängnisstrafen vor, aber keine von diesen korreliert mit Tatbeständen des Besonderen Teils. 88 Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3.. Aufl., 2009, S. 79 – 80. 84
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dauert die bereits während der Nürnberger Prozesse aufgeworfene Diskussion darüber an, ob die Tat des Angriffes auf eine Zivilbevölkerung in systematischer und generalisierender Weise mit einem bewaffneten Konflikt in Verbindung stehen muss. Anfänglich forderten die Statuten für die Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg (Art. 6c.) und für den Fernen Osten (Art. 5c.) diese Verknüpfung. Die Rechtfertigung dieser Verbindung zwischen systematischem Angriff und dem Krieg fand mit folgenden Worten Raum in der Diskussion des IMG von Nürnberg: „Soweit die in der Anklage zur Last gelegten und nach dem Beginn des Krieges verübten unmenschlichen Taten keine Kriegsverbrechen darstellen, wurden all diese in Ausübung des Angriffskrieges oder in Verbindung mit dem Angriffskrieg begangen und sind folglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“89,90 Den gleichen Weg in der Gestaltung des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit hat man in der Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 1b.)91 und dem IStGH-Statut (Art. 5)92 beschritten. Jedoch bleibt diese Voraussetzung in anderen normativen Völkerrechtsinstrumenten unerwähnt, wie zum Beispiel im RStGH-Statut (Art. 3) und im IStGHStatut (Art. 7). Man muss hinzufügen, dass der Streit auch während des Kodifikationsprozesses des IStGH-Statuts anhielt, vor allem, weil die Delegationen solch repräsentativer Staaten, wie China, Indien, Russland und einiger Länder des Mittleren Ostens, sich anfangs gegen die Streichung aussprachen.93 Ein zweites Problem, welches im Hinblick auf die gewohnheitsrechtliche Konfiguration des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit aufgeworfen wird, bezieht sich auf die konkreten Merkmale der vom Tatbestand umfassten Aggressionen. Die Statuten der internationalen Militärtribunale für Nürnberg und den Fernen Osten umfassen als Tatbestandsmerkmale der Aggression Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Handlungen. Vom IStGH-Statut werden andere Merkmale mit eingegliedert, wie die schwere Freiheits89
Zitat von Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 7. Es soll trotzdem nicht unerwähnt bleiben, dass bei der konkreten Anwendung des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auf die nationalsozialistischen Täter diese Verknüpfung nicht so klar erschien und man in manchen Fällen sogar direkt darauf verzichtete. Hierüber Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 52 – 54. 91 Trotz allem weisen Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 56, darauf hin, dass während der Erarbeitung der Definition des Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission die Streichung der Verknüpfung mit der Existenz eines bewaffneten Konflikts vorschlug. 92 Trotz der Festlegungen dieses Gesetzes signalisierte der IStGH, dass die Forderung eines bewaffneten Konflikts als Voraussetzung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit über das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht hinausgehen, vgl. IStGH, (Trial Chamber), Kupreskic, 14. 2. 2000, Abs. 577. Dies auch hervorhebend Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 148. 93 Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 57 – 58. 90
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beraubung, die Folter, die Festnahme, die Verfolgung von identifizierbaren Gruppen aus religiösen, rassistischen usw. Gründen, das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen und das Verbrechen der Apartheid. Ihrerseits sehen das IStGH-Statut und das RStGH-Statut praktisch die gleichen Modalitäten wie das IStGH-Statut vor, enthalten aber keine Bezugnahme auf das Verbrechen der Apartheid und des zwangsweisen Verschwindenlassens. Das zeigt, dass kein völliges Einverständnis über die strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit herrscht. Aus den Hauptinstrumenten des Völkerstrafrechts und aus der Aktivität der Gerichte insgesamt kann gefolgert werden, dass eine internationale Praxis und eine Überzeugung von der Rechtsverbindlichkeit existiert, welche den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Verbots der Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegt. Es bestehen somit in der internationalen Gemeinschaft keine Zweifel, dass dies „schwerwiegende Gewalttaten sind, welche die Menschen in beachtlicher Weise in ihrem Wesentlichsten verletzt: ihrem Leben, ihrer Freiheit, körperlichen Integrität, Gesundheit oder Würde.“94 Ich meine trotzdem, es wäre noch etwas vorschnell anzunehmen, dass ein gewohnheitsrechtlicher Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit besteht. Denn es besteht keine international einheitliche Praxis. Deshalb ist es sehr schwierig, auf dessen tatsächlichen Anwendungsbereich zu schließen, weil die Übereinstimmung hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale fehlt und ebenso die Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit des Verknüpftseins mit einem bewaffneten Konflikt.95 b) Im internationalen case law gibt es bedeutende Versuche, den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Lehre vom Joint Criminal Enterprise (JCE) zu substantiieren.96 Nach der Konstruktion des IStGH stützt sich diese Theorie auf die Idee eines Personenzusammenschlusses, welcher, ohne notwendigerweise einer administrativen, militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Struktur anzugehören, bezüglich der gemeinsamen Begehung eines oder mehrerer Delikte übereinstimmt.97 Dass dies auf Gewohnheitsrecht gestützt wird, kommt im Urteil der Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH im Fall Tadic am deutlichsten zum Ausdruck. Dort steht: „the notion of common design (…) is firmly established in customary in94
IStGH, (Trial Chamber), Erdemovic, 26. 11. 1996, Abs. 28. Dies ist auch durch den Bundesgerichtshof Spaniens (Tribunal Supremo Español) anerkannt, wenngleich er der Frage etwas die Bedeutung abzuerkennen scheint: „Die Definition dieser Delikte [Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc.] hat nicht immer die notwendige Bestimmtheit erreicht, vor allem in Fragen bezüglich einiger ihrer Modalitäten und konkret bzgl. des Verbrechens der Aggression, aber der Kern der am meistrelevanten verbotenen Verhaltensweisen, sofern sie sich auf die Verletzung von individuellen Menschenrechten beziehen, ist ausreichend bestimmt worden“, Strafurteil (STS Penal), Nr. 798, 1. 10. 2007. 96 IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 226. 97 Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 33 – 34. 95
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ternational law“.98 Ungeachtet dessen reicht ein Blick auf den von der Rechtsprechung der Ad-hoc-Strafgerichte zurückgelegten sinusartigen Weg, um zu sehen, dass die geforderten Elemente für die Herausbildung einer gewohnheitsrechtlichen Norm unzureichend erfüllt sind. Es erweist sich tatsächlich als sehr schwierig, von einer einheitlichen, dauerhaften und verbreiteten bzw. repräsentativen internationalen Praxis zu sprechen, welche imstande wäre, das objektive Element zu begründen.99 Auch der Prozess der Beweisführung über die gewohnheitsrechtliche Natur dieser Zurechnungslehre ist fragwürdig, da die angeführten Elemente für den Nachweis der Komponenten des Gewohnheitsrechts unzureichend oder ungeeignet sind.100 Zunächst begründen die Unklarheit der Natur und der Reichweite des JCE bereits manchen Warnruf, dass es an der Einheitlichkeit der internationalen Praxis fehlt.101 Man muss daran erinnern, dass erst im Jahr 2003, ausgehend vom Urteil der Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH im Fall Milutinovic, die Antwort klarer schien, ob das JCE eine Lehre der Mittäterschaft oder anderen Naturells ist, und ob ihr ein Einheitstätersystem zugrundelegt oder ein System, das die Täterschaft von der Teilnahme unterscheidet. Auf der einen Seite ließ der bis dahin zur Bestätigung der Befolgung des JCE übliche Verweis auf die Statuten des IMG von Nürnberg und des Fernen Ostens und auf das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates vermuten, dass es sich um eine monistische Zurechnungslehre handelte.102,103 Auf der anderen Seite erscheint die Natur des Begriffs des „gemeinsamen Tatplans“ (insoweit Synonym des JCE) höchst verwirrend, wenn man die Bemerkung im Fall Tadic beachtet. In diesem Fall scheint das JCE mit der Vorstellung der Mittäterschaft verbunden, obwohl in gewissen Passagen des Urteils dessen Verknüpfung mit der Teilnahme und der akzes-
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IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 190. So auch Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 52; Bogdan, „Individual Criminal Responsibility in the Execution of a ,Joint Criminal Enterprise‘ in the Jurisprudence of the ad hoc International Tribunal for the Former Yugoslavia“, International Criminal Law Review (6), 2006, S. 119. 100 Es stellt nur die gewohnheitsrechtliche Natur der verbreiteten Form des JCE in Frage Barthe, Joint Criminal Enterprise (JCE). Ein (originär) völkerstrafrechtliches Haftungsmodell mit Zukunft?, 2009. 101 In diesem Sinne Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial Ingenuity and Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 615. 102 Olásolo, Indret (3), 2009, S. 4. 103 Zu diesem Punkt gelangen die Probleme bei der Erörterung des JCE, so dass für Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 291 – 293, diese Lehre sich in der Rechtsprechung des IStGH sehr einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei einer schlichten Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation annähert. Dies gelte in der Weise, dass die Teilnahme an einer gemeinsamen Unternehmung sich aus der Art der Mitgliedschaft an ihr ergeben würde und zudem die sekundären Beteiligten häufig eine unproportionale Strafe im Vergleich zu deren tatsächlichen Beitrag erhalten, mit der Begründung, dass es sich um „normale und vorhersehbare Konsequenzen“ der kriminellen Unternehmung handele. 99
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sorischen Verantwortlichkeit hervor scheint.104 Die spätere Rechtsprechung des IStGH verursachte ähnliche Verwirrung. Denn in manchen Fällen wurde das JCE ausschließlich wie eine Theorie der strafbaren Teilnahme behandelt.105 In anderen Fällen hingegen wurde das JCE als eine Form der Mittäterschaft oder Teilnahme angesehen, wenn der Beschuldigte die objektiven Elemente der Straftat nicht selbst verwirklicht hatte.106,107 Gerade kürzlich wurde im Fall Milutinovic die Annahme eines dualistischen Zurechnungssystems im Völkerstrafrecht klarer und somit auch deutlich, und dass es sich beim JCE um eine Form der Mittäterschaft handelt.108 Obwohl im Nachhinein der IStGH wie auch der RStGH diesen Kriterien folgte, schließt dieser „Zick-Zack-Kurs“ der Rechtsprechung es gewiss aus, von einer einheitlichen internationalen Praxis zu sprechen, welche das gewohnheitsrechtliche Fundament des JCE tragen würde. Es ist auch ausgeschlossen, mit Bezug auf das JCE von einer verbreiteten oder repräsentativen Praxis zu sprechen, welche durch die völkerrechtlichen Subjekte befolgt würde. Obwohl im Fall Tadic die Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH argumentiert, dass die Gesetzgebung zahlreicher Staaten, genauso wie die Internationale Konvention zur Verhinderung von terroristischen Bombenanschlägen und das IStGH-Statut109 den gewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Lehre stützen, ist es nicht möglich festzustellen, dass die Mehrheit der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft oder deren wichtigste Repräsentanten diese Praxis übernommen hätten. Schenkt man der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Diskurs in der Lehre von Ländern wie Australien, Kanada, Südafrika, England, Wales, der Schweiz, Deutschland, Spanien, Argentinien, Kolumbien und den Vereinigten Staaten Beachtung, kann man eine Befolgung von materiell-objektiven Kriterien ausma104
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 192, 220. IStGH (Trial Chamber), Brdanin (Entscheidung über die Haftverschonung gegen Auflagen von Momir Tadic), 28. 3. 2001, Abs. 43. 106 IStGH, (Trial Chamber), Kvocka, 2. 11. 2001, Abs. 249, 273. 107 Hinsichtlich dieser konfusen Rechtsprechung des IStGH seit dem Fall Tadic über das Wesen des JCE, vgl. Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 42 ff. 108 IStGH (Appeals Chamber), Ojdanic, Abs. 20, 31. Seitdem hielt der IStGH an diesen Kriterien in späteren Fällen fest, vgl. Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 46 – 47; ders., Indret (3), 2009, S. 4. 109 Man sagt, dass die Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH diese rechtlichen Instrumente fehlinterpretiert, Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 54. Im gleichen Sinne, weist Ambos, ¿Cómo imputar a los superiores crímenes de los subordinados en el Derecho penal internacional? Fundamentos y formas, 2008, S. 163 – 164, darauf hin, dass in keiner Weise irgendwelche Formen des JCE (im Speziellen die Formen II und III) unter den Wortlaut des Art. 25 IStGH-Statut subsumiert werden können. 105
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chen, die näher an der Tatherrschaftslehre als an der des JCE stehen mit klarem subjektiven Einschlag.110 Dieselbe Ansicht ist sogar im Fall Katanga vor dem IGH betont worden.111 Man sieht daran, dass keine allgemeine Befolgung der Zurechnungsregeln des JCE existiert. Die Praxis der internationalen Strafgerichte ist auch weit davon entfernt dauerhaft zu sein. Wie ich bereits angedeutet habe, unterlagen die Regeln des JCE in der Rechtsprechung unzähligen Fluktuationen, die erst kürzlich im Jahr 2003 im Fall Milutinovic aufzuhören schienen. Obwohl die in diesem Urteil festgelegten Kriterien danach durch den IStGH sowie den RStGH mit einer gewissen Dauerhaftigkeit fortgeführt wurden, darf man nicht übersehen, dass diese Praxis durch die vom IGH angewandten Kriterien durchbrochen wird. In der Bestätigung der Anklage (Confirmation of Charges) in den Fällen Lubanga und Katanga wird nämlich die Tatherrschaftslehre zu Grunde gelegt, und man betrachtet das JCE als Form akzessorischer Verantwortlichkeit und nicht als Form der Mittäterschaft.112 Die zeitliche Gültigkeit des JCE als Mittäterschaft währte in der völkerrechtlichen Rechtsprechung also nur vier Jahre, da schon im Jahr 2007 der IGH das vom IStGH eingeführte subjektive Kriterium zur Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme ausdrücklich zurückwies. Wie man sieht, zerstreut sich die überzeugte Annahme der Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH, wonach das JCE „fest im Völkergewohnheitsrecht etabliert“ sei, obwohl nicht ausdrücklich als Konsequenz des Fehlens des objektiven Elements. Diese Annahme erweist sich als wenig seriös, wenn man nur detailliert in den Argumenten und Beweisen dieses Tribunals zur Bestätigung der internationalen Praxis ermittelt. Es ist nicht überraschend, dass die Rechtsprechung trotz der Schwächen der Argumentation zur Begründung der gewohnheitsrechtlichen Natur des JCE im Fall Tadic später im Fall Milutinovic und in den folgenden Fällen, in denen dieselbe Überzeugung vertreten wurde, auf die Begründung im Fall Tadic verwies. Aus diesem Grunde bleibt – worauf Olásolo zutreffend hinweist – zu sagen, dass man seit Tadic in der Rechtsprechung des IStGH und des RStGH die Gründe, welche die gewohnheitsrechtliche Basis dieser Lehre stützen würden, nicht mehr überprüfte. Man beschränkte sich vielmehr auf eine Weiterentwicklung der Charakteristika der drei Formen des JCE.113 Ein gutes Beispiel findet man im Fall Milutinovic, in welchem die Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH folgendes ausführt:
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Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 61 – 62. 111 IGH, Katanga (Bestätigung der Anklage), 30. 9. 2008, Abs. 488, 485. 112 IGH, Lubanga (Bestätigung der Anklage), 27. 1. 2007, Abs. 338 – 337; IGH, Katanga (Bestätigung der Anklage), 30. 9. 2008, Abs. 483. 113 Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 49 – 50.
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„The Appeals Chamber does not propose to revisit its findings in Tadic concerning the customary status of this form of liability. It is satisfied that the state practice and opinion iuris reviewed in that decision was sufficient to permit the conclusion that such a norm existed under customary international law in 1992 when Tadic committed the crimes for which he had been charged and for which he was eventually convicted.“
Eine der größten Schwächen der Beweisführung und Argumentation zur gewohnheitsrechtlichen Natur des JCE liegt im – als eine internationale Praxis zitierten – case law. Die Berufungskammer im Fall Tadic versucht die gewohnheitsrechtliche Natur der dritten Form des JCE mit Verweisen auf die Rechtsprechung des Britischen Militärgerichtshofs (Fall Essen Lynching), des US-amerikanischen Militärgerichtshofs (Fall Borkum Island) und des Kassationsgerichtshofs Italiens (Fälle D’Ottavio, Aratano, Tossani, Ferrida etc.) zu begründen.114 Für den IStGH wiesen diese Präzedenzfälle auf eine Rechtsprechungspraxis hin, welche die Zurechnung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für jene Delikte ermögliche, die vorhersehbar waren, obwohl sie außerhalb des üblichen gemeinsamen Vorhabens der Mitglieder der kriminellen Unternehmung stehen.115 Der erste hiergegen mögliche Einwand ist – erneut nach der Ansicht Olásolos116 –, dass diese Rechtsprechungsverweise in Wirklichkeit so nur zur Rechtfertigung der Erstreckung der Strafe auf Fälle des dolus eventualis dienen. Sie dienen dagegen nicht dazu zu zeigen, dass diese Form des JCE Gewohnheitsrecht ist. Nach der Ansicht Powles erweist sich diese Rechtsprechung darüber hinaus als unfähig, den gewohnheitsrechtlichen Charakter der dritten Form des JCE in klarer und präziser Form zu substantiieren. So zeigt er zum Beispiel, dass der Fall Essen Lynching nichts darüber sagt, ob derjenige verantwortlich sein muss, der eine Tötung ohne Tötungsvorsatz begeht. Man habe nur festgelegt, dass strafrechtlich sowohl derjenige verantwortlich ist, der vorsätzlich getötet hat, als auch derjenige, der dies fahrlässig getan habe.117 Letzten Endes ist für Powles unter den vielen zitierten Fällen der Fall D’Ottavio der einzige italienische Präzedenzfall, welcher die dritte Kategorie des JCE verbürgt.118 c) Eines der Grundprinzipien des Strafrechts war seit jeher, dass das Verstreichen der Zeit hilft, die Erschütterungen der Straftat aus dem sozialen Gedächtnis zu tilgen. Folglich nimmt auch die präventive Notwendigkeit von Strafe ab.119 Daher ist die 114
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, Abs. 205 ff. IStGH (Appeals Chamber), Tadic, Abs. 204. 116 Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, S. 56 – 57. 117 Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial Ingenuity and Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 616. Gleiche Probleme bestehen im Bezug auf den Fall Borkum Island. 118 Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial Ingenuity and Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 616 – 617. 119 Mir Puig, Derecho penal. Parte general, 8. Aufl., 2008, L. 33, Rn. 24. 115
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Verjährung von Straftaten die erklärte Regel in den strafrechtlichen Ordnungen. Trotzdem beginnen allmählich einige wenige Gesetzgebungen eine Ausnahme von diesem Prinzip zu akzeptieren, also die Unverjährbarkeit von völkerrechtlichen Verbrechen anzuerkennen. So erklärt zum Beispiel Art. 131.4 des spanischen Strafgesetzbuches das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Völkermord und Kriegsverbrechen für unverjährbar. Genauso ist die Unverjährbarkeit der völkerrechtlichen Verbrechen unter anderem im schweizer Strafgesetzbuch (Art. 101) und im deutschen VStGB (§ 5) gestaltet. Diese Tendenz ist die Antwort auf eine in den sechziger Jahren initiierte internationale Entwicklung, in welcher die Verjährung sich in ein Instrument zu verwandeln schien, welches die Straflosigkeit gewisser Verbrechen des nationalsozialistischen Krieges ermöglichte.120 Doch obwohl das Thema seit diesem Zeitpunkt eine bedeutende Stellung in der Lehre eingenommen hat, ist es m. E. aktuell weder möglich, von der Existenz einer gewohnheitsrechtlichen Regel zu sprechen, welche die Unverjährbarkeit der völkerrechtlichen Verbrechen begründen würde, noch viel weniger, dass dies eine Norm des ius cogens sei.121 Auf internationaler Ebene hat es mehrere die Thematik betreffende Instrumente gegeben. Außer der Konvention von 1968 über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Europäischen Konvention von 1974 und dem IStGH-Statut (Art. 29) hatte die Generalversammlung der UNO bereits zuvor verschiedene Resolutionen angenommen, in welchen das Prinzip der Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen entwickelt wurde.122 Diese völkerrechtlichen Anstrengungen, die Straflosigkeit derjenigen zu verhindern, welche in schwerwiegender Weise Menschenrechte verletzt haben, reichen indes nicht aus, um auf eine gewohnheitsrechtliche Norm zu schließen, kraft deren die Kriegsverbrechen, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Völkermord für alle Zeiten verfolgbar sind. Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass nach Verstreichen von mehr als vier Jahrzehnten die Konvention von 1968 nur durch weniger als 50 Staaten ratifiziert wurde, während das Europäische Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen bis heute gerade einmal sieben Ratifikationen zählt.123 Bedenkt man, dass die Anzahl und der Umfang der ratifizierenden Länder ein fundamentales Kriterium des Repräsentativitätsnachweises für die internationale Praxis sind,124 muss man feststellen, dass die spärliche Zustimmung der internationalen Ge120
So Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Berichterstatters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), para 27; Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 3. 121 Trotzdem verteidigt Letzteres Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 – 169. 122 Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 2. 123 Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 159. 124 Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 381 – 382.
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meinschaft den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Unverjährbarkeit der völkerrechtlichen Verbrechen nicht belegt.125 Nach Ratner/Abrams/Bischoff126 ist es nicht möglich, einer solche Delikte für unverjährbar erklärenden Vorschrift gewohnheitsrechtlichen Charakters zuzusprechen. Im besten Falle bestünde die Möglichkeit, aus einigen nationalen Gesetzgebungen und den Verhandlungen des Vertrages von 1968 herzuleiten,127 dass eine gewohnheitsrechtliche Ermächtigung bestehe, diese schweren Straftaten für unverjährbar zu erklären. Das heißt, dass ein Staat allenfalls sein internes Regelwerk modifizieren und diese Unverjährbarkeitsregel aufnehmen könnte, ohne damit in der Völkerrechtsordnung gültige, fundamentale Prinzipien und Garantien zu verletzen. Nach meiner Meinung führt dies alles dazu, dass die Schlussfolgerung nicht möglich ist, wonach momentan in der internationalen Gemeinschaft eine ungeschriebene Norm gilt, welche alle Staaten verpflichtet, die völkerrechtlichen Verbrechen als unverjährbar zu erachten.128 Deswegen ist die Schlussfolgerung der Corte Suprema de Justica de la Nación Argentina überraschend, wenn sie im bekannten Fall Arancibia Clavel nicht nur den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Unverjährbarkeit des Verbrechens gegen die Menschlichkeit vertritt, sondern zudem annimmt, dass diese ungeschriebene Regel in der internationalen Gemeinschaft im Vorfeld der Konvention der Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gültig gewesen sei.129 Sogar die zum Nachweis verwendeten Argumente, wie das Land an dieser Praxis mitgewirkt hat, sind äußerst schwach: Man bezieht sich auf die Entscheidung der Fallsammlung 318:2130. In dieser wird bestätigt, dass die argentinische Enthaltung zum Abstimmungszeitpunkt der Resolution 3074 (XXVIII) über „Grundsätze für die internationale Zusammenarbeit zur Ermittlung, Festnahme, Auslieferung und Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben“, zusammen mit dem Fehlen einer entgegengesetzten nationalen Norm zu besagter Praxis zur Bil125 Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 3. 126 Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 160. 127 Sogar, Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 4, zeigt, dass in den Reihen der UN-Generalversammlung die bevorzugte Meinung zur Unverjährbarkeit nicht so eindeutig war, vor allem, wenn man einen Bericht dieses Organs von 1966 betrachtet, in welchem Folgendes gesagt wurde: „Some delegations suggested that, instead of establishing a rigid rule, the Prosecutor or the President should be given flexible power to make a determination on a case-by-case, taking into account the right of the accused to due process. It was suggested that an accused should be allowed to apply to the Court to terminate the proceedings on the basis of fairness, if there was lack of evidence owing to the passege of many years.“ 128 Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 558, meint, dass es sehr zweifelhaft sei, von einer gewohnheitsrechtlichen Regel zu sprechen, welche die Unverjährbarkeit der Delikte stütze. 129 Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Berichterstatters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), Abs. 32.
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dung des Gewohnheitsrechts in der Materie der Unverjährbarkeit beigetragen habe. Das ist wirklich kurios, denn die Tatsache dass sich Argentinien ausdrücklich mit dem Argument gegen Art. 1 dieses Vertrages ausgesprochen hatte, dass dessen Inhalt die Unverjährbarkeit der Delikte mit sich brächte, ist vielmehr geeignet, die Zweifel an der Teilhabe an dieser Praxis zu bestätigen.130
V. Kann das Gewohnheitsrecht Quelle des Völkerstrafrechts sein? Vermittlung zwischen der „Hysterie der Strafrechtslehre“ und dem „Imperialismus der Völkerrechtslehre“ Aktuell ist die einleitende Frage dieses Abschnitts Gegenstand einer intensiven Diskussion, welche Strafrechtslehre und Völkerrechtslehre entzweit. Beide Seiten sind nicht zu Zugeständnissen bereit. Auf der einen Seite scheint es vom Standpunkt des nationalen Strafrechts aus nicht tolerabel, eines seiner Grundprinzipien – das Gesetzlichkeitsprinzip – zu demontieren, indem eine auf ungeschriebenen Rechtsnormen basierende Bestrafung zugelassen wird. Auf der anderen Seite ist die Aufgabe einer der Hauptquellen für die Entwicklung des Völkerstrafrechts vom Standpunkt der Völkerrechtsdogmatiker aus inakzeptabel. Aus diesem Grund scheint es wahrhaft unmöglich, eine versöhnende Antwort auf die Frage zu geben, ob das Gewohnheitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts anerkannt werden kann. Es ist notwendig zu betonen, dass – obwohl die sich hier prima facie präsentierende Frage mit der Gestaltung des Quellensystems des Völkerstrafrechts zusammenhängt – im Grunde der wahre Streitpunkt darin besteht, ob die „neue Welt des Völkerstrafrechts“ durch das Strafrecht131 oder durch das Völkerrecht132 kolonialisiert ist. Von daher darf für die Strafrechtslehre das Quellensystem des Völkerstrafrechts nur aus geschriebenem Recht (den Verträgen) zusammengesetzt sein.133 Für 130 Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Berichterstatters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), Abs. 90 – 91. 131 M.E. vertritt diese Ansicht u. a. Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos del Estatuto de Roma, 2006, S. 196 ff.; Malarino, La cara represiva de la reciente jurisprudencia argentina sobre graves violaciones de los derechos humanos. Una crítica de la sentencia de la Corte Suprema de Justicia de la Nación de 14 de junio de 2005 en el caso Simón, Iura Gentium (1), 2009 (http://www.juragentium.unifi.it). 132 Meiner Ansicht nach lässt sich diese Meinung speziell im Werk von Antonio Cassese erkennen, vgl. Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 15 ff. 133 Verhoeven, „Article 21 of the Rome Statute and the ambiguities of applicable law“, in: Dekker, Ige/Hey, Ellen (Hrsg.), Netherlands Yearbook of International Law N8 33, 2002, S. 22: „Die Verpflichtungen des Staates im Völkerrecht befriedigen die Voraussetzungen des Strafrechts, (…) welche sich im bekannten Spruch nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, ausgedrückt finden, nicht ausreichend. Eine solche interstaatliche Praxis ist eindeutig unzureichend, um die elementaren Rechte der Individuen, an die der Spruch adressiert ist, zu beachten. Wie kann zum Beispiel eine Einzelperson in befriedigender Weise von der Existenz oder dem exakten Inhalt einer völkerrechtlichen Gewohnheitsregel oder einem allgemeinen
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die Völkerrechtsdogmatiker muss jenes durch die klassischen Quellen des Völkerrechts gestaltet bleiben.134 In gewissem Maße erklärt dieser Hintergrund, dass als Antwort auf diese Frage versucht wurde, die Regeln jeder dieser Rechtszweige ohne irgendeine Modifikation zu übertragen, ohne auf die Besonderheiten des Völkerstrafrechts zu achten. Wenn man hierzu die beachtlichen Differenzen beider Seiten über die Art und Weise der Inangriffnahme der Völkerrechtskriminalität summiert,135 tendiert die Diskussion dazu, sich zu polarisieren. Dies macht es praktisch unmöglich, eine Antwort auf die Frage des Gewohnheitsrechts im Völkerstrafrecht zu geben. Daher scheint sich die Debatte als Kampf des Völkerrechts gegen die „Hysterie der Strafrechtslehre“ oder als Strafrechtsbremse des „Imperialismus der Völkerrechtslehre“ selbst zu karikieren. In erster Linie scheinen mir die Besonderheiten des Völkerstrafrechts dagegen zu sprechen, sein theoretisches Terrain komplett durch das Strafrecht oder allein durch das Völkerrecht einnehmen zu lassen. Die Regeln und Prinzipien beider Ordnungen sind meiner Ansicht nach ungenügend, um die Probleme zu lösen, mit welchen das Völkerstrafrecht zu tun hat. Man berücksichtigt häufig nicht genügend, dass Völkerrechtsverbrechen im Vergleich mit den üblichen Materien des nationalen Strafrechts ganz andere Charakteristika aufweisen. Genauer gesagt sind üblicherweise die Täter dieser Verbrechen diejenigen, die selbst die Machthaber der die Strafgesetze statuierenden Staaten sind. Indem sie sich dieses Privileg zunutze machen, verschaffen sie sich Straffreiheit durch Anpassen der Gesetze oder durch Lahmlegen des Justizsystems. Wir – die üblicherweise aus der Sicht des nationalen Strafrechts schreiben – dürfen außerdem nicht übersehen, dass sich die Völkerrechtsordnung historisch zu einem bedeutenden Teil aus Gewohnheitsrecht entwickelt hat. Doch auch die Regeln des Völkerrechts lösen diese Probleme nicht, sondern führen zu eigenen Schwierigkeiten bei der Ausübung völkerrechtlicher Strafgewalt. Diese ergeben sich hauptsächlich daraus, dass das klassische Völkerrecht im Wesentlichen eine Rechtsordnung ist, welche die Beziehungen zwischen Staaten und die Aufteilung ihrer Kompetenzen sowie die Strukturierung und die Funktionsweise der völkerrechtlichen Organe regelt.136 Obwohl man in den letzten Dekaden auch naRechtsprinzip unterrichtet werden, welche sogar die Staaten selbst weitgehend ignorieren und welche weit entfernt davon sind, für die Individuen ,klare‘ und ,verständliche‘ Normen zu schaffen, welche den Voraussetzungen von nullum crimen, nulla poena genügen?“. 134 U.a. Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 25 ff. 135 Ein gutes Beispiel hierfür sind die angewandten Praktiken anlässlich von Strafen gegen Menschenrechtsbrecher: Während die Strafrechtslehre Fundamentalmaximen ihrer Disziplin verkannt sieht (Strafklageverbrauch, Rückwirkungsverbot etc.), ist dies von Seiten der Völkerrechtslehre ein wahrer Triumph, berücksichtigt man, dass hiermit letztlich eine Gattung der „universellen Gerechtigkeit“ erreicht wird. 136 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 209. In diesem Sinne verdeutlicht Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 274 – 275, dass nach aktuellem Entwick-
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türlichen oder juristischen Personen im völkerrechtlichen Umfeld zumindest in Ansätzen aktive und passive Subjektivität zuerkannt hat, bleibt diese überwiegend unsicher – vor allem wenn man die mangelnde Legitimation dieser Subjekte bedenkt, vor der völkerrechtlichen Gerichtsbarkeit Gehör zu finden. Deshalb genügt dies nicht, um das originäre Selbstverständnis des Völkerrechts für das Strafrecht ausreichend zu ändern. Pastor Ridruejo137 bemerkt zutreffend, „trotz der Transformationen, welche [die internationale Gemeinschaft] in den letzten Dekaden ausprobiert hat, bleibt dem Grunde nach eine Struktur des Nebeneinanders souveräner Staaten, in welchen diese ausschließlich die Subjekte und die entscheidenden Protagonisten sind.“ Wir sehen also, dass weder das Strafrecht noch das Völkerrecht mit geeigneten Werkzeugen ausgestattet ist, um den Bedürfnissen des Völkerstrafrechts gerecht zu werden. In diesem Sinne ist das Völkerstrafrecht weder ein internationalisiertes Nationalstrafrecht noch ein strafendes Völkerrecht. In Wirklichkeit stehen wir einer rechtlichen Ordnung mit speziellen Charakteristika gegenüber, welche Elemente beider Ordnungen übernehmen muss. Gleichzeitig konfiguriert es dabei seine eigenen Regeln.138 Aus diesem Grund – um hier nochmals das zentrale Thema dieses Beitrages aufzugreifen – sollte das Quellensystem des Völkerstrafrechts weder durch die Nationalstrafrechtsregeln bedingt werden, welche ausschließlich geschriebene Quellen zulassen, noch durch die Anordnung des Art. 38 IGH-Statut. Da das Gewohnheitsrecht seit jeher eine fundamentale Rolle im Völkerrecht eingenommen hat, wäre es nicht sachgerecht, das Quellensystem des Völkerstrafrechts auf die geschriebenen Normen zu reduzieren und folglich als ausschließliche Quelle die völkerrechtlichen Verträge heranzuziehen. M.E. bedeutet dies, dass das Gewohnheitsrecht zusammen mit den Verträgen das Quellensystem bilden kann. Tatsächlich haben die in den vorangehenden Abschnitten aufgezeigten Probleme weniger mit dessen Charakter als Quelle an sich zu tun, als vielmehr mit dem Versuch, Normen als gewohnheitsrechtlich „durchzuschleusen“, welche in Wirklichkeit nicht verbindlich sind. Oder aber die Probleme liegen in einer sehr defizitären Beweisführung zu den Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts. In dem Maße, mit der man rigorose Maßstäbe an die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Norm anlegt, kann nach meiner Meinung die Unsicherheit dieser Quelle auf ein zu tolerierendes Maß reduziert werden, in welchem das Willkürverbot gewährleistet ist.
lungsstand der internationalen Gesellschaft und internationalen Ordnung das Individuum nicht als Subjekt des Völkerrechts anerkannt werden kann, wenngleich er anmerkt, dass derzeit eine Tendenz dazu entsteht, eine gewisse rechtliche Persönlichkeit auf internationaler Ebene anzuerkennen, was gleichzeitig Gegenstand starker Restriktionen ist und sich speziell auf deren Aktivlegitimation vor internationalen rechtlichen Organen bezieht. 137 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 214. 138 Nahe dieser Ansicht Ambos, „Derechos humanos y Derecho penal internacional“, in: ders., Temas de Derecho penal internacional y europeo, 2006, S. 19 – 20.
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Diese Erweiterung der Basis von rechtlich anwendbaren Bestandteilen des Völkerstrafrechts impliziert nach meiner Ansicht nicht, dass die Verträge und das Gewohnheitsrecht denselben Rang innerhalb der Quellen hätten. Ganz im Gegenteil sollten diejenigen privilegiert werden, welche neben einer breiten Unterstützung der internationalen Gemeinschaft besser dazu geeignet sind, rechtliche Gewissheit und eine sichere Begrenzung der Ausübung judikativer Macht beizusteuern. Ohne jeden Zweifel ist die Quelle des Völkerstrafrechts, welche diese Voraussetzungen schlechthin erfüllt, der Vertrag. Dies rechtfertigt es, dass er dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht vorgeht. Danach hat das Gewohnheitsrecht eine subsidiäre Funktion. Es sollte also nur in jenen Fällen angewandt werden, in welchen die konventionellen oder geschriebenen Normen Lücken aufweisen. Dieses Verständnis steht meiner Meinung nach im Einklang mit dem im IStGH-Statut festgelegten Quellenkonzept, da dieses in Art. 21.1 festlegt, dass der Gerichtshof an erster Stelle die Normen des Statuts und subsidiär das ungeschriebene Recht anwenden soll.139
VI. Die Zukunft des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts (oder lediglich Wunschdenken?) Wenn man den Entwicklungsprozess des Völkerstrafrechts betrachtet, muss nicht nur darauf hingewiesen werden, dass das Gewohnheitsrecht noch als anwendbarer rechtlicher Bestandteil gesehen werden kann, sondern auch, dass seine Rolle im Quellensystem dazu berufen ist, in dem Maße, in welchem sich die Völkerrechtsordnung verändert, zu variieren. Folglich ist es nicht angemessen, das aktuelle Quellensystem des Völkerrechts als etwas Fixes und bereits Gefestigtes aufzufassen. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass seine Struktur sich verändert. In diesem Sinne ist die Akzeptanz des Gewohnheitsrechts im internationalen Strafsystem nach meiner Ansicht dazu berufen, in den aufeinander folgenden Entwicklungsstufen dieses Rechtszweiges zu variieren. In Anbetracht dieser Situation ist die Abgabe einer Prognose über die zukünftige Rolle dieses ungeschriebenen Rechts notwendig. Ich glaube, eine der möglichen Herangehensweisen an diese Prognose ist, auf die Beziehung zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Recht im Allgemeinen einzugehen und sich im Einzelnen der Beziehung zwischen den Verträgen und dem Gewohnheitsrecht zuzuwenden. Nach der Völkerrechtslehre gibt es Auswirkungen der Verträge auf das Gewohnheitsrecht in dreierlei Weise: deklarative, kristallisierende und konstitutive oder ge139 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 8; Bitti, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2008, S. 287 – 288; Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 38; Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 45.
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nerierende Wirkungen. Sie haben deklarative Wirkungen, da die Gesetzgebung ein Gewohnheitsrecht aufgreift und dazu beiträgt, der Praxis Bestimmtheit zu geben; herauskristallisierend, wenn man eine gewohnheitsrechtliche Norm in Entstehung widerspiegelt; und letztlich konstitutiv oder generierend, da gewisse Regeln eines Vertrages sich in zu befolgende Verhaltensmodelle für alle Völkerrechtssubjekte verwandeln können.140 Im nationalen Strafrecht werden die Gesetzgebungsauswirkungen auf das ungeschriebene Recht dagegen anders verstanden. Danach hat das Gesetz auf das Gewohnheitsrecht eine aufhebende Wirkung. Obwohl man sagen kann, dass mit der Festigung der Gesetzgebungsprozesse die Gesetzgebung dazu gelangte, gewohnheitsrechtliche Regeln widerzuspiegeln, hat es mit seiner Positivierung einen Schlusspunkt hinter dessen Gültigkeit gesetzt. Es wäre in gewissem Maße treffend zu sagen, dass sein Naturell mutiert ist.141 Aus diesem Grunde hören im Strafrecht die gewohnheitsrechtlichen Normen auf, solchen zu entsprechen, und gehen dazu über, als im Gesetz wiedergegebene, geschriebene Normen zu fungieren. Insoweit bleiben nur die positivrechtlichen Normen. Demgegenüber – und der im vorherigen Abschnitt vorgeschlagenen Methode folgend – besteht die beste Erörterung des Themas im Völkerstrafrecht nicht darin, ohne Adaptionen die anerkannten Wirkungen auf das Völkerrecht oder auf das nationale Strafrecht zu übertragen. Vielmehr ist eine Untersuchung über die einzelnen Bestimmungen angebracht, in welcher sich die Interaktion des Gewohnheitsrechts mit den Verträgen im Umfeld der völkerrechtlichen Strafgewalt zeigt. Die Rechtsprechung der völkerrechtlichen Gerichte und die Betrachtung der üblichen Staatenpraxis aus historischer Perspektive lassen die Schlussfolgerung zu, dass eine klare Tendenz zu einer größeren Bedeutung der Verträge im Völkerstrafrecht besteht. Wenngleich diese rechtlichen Instrumente die Ersetzung des Gewohnheitsrechts nicht komplett erreichen, ist sicher, dass die Positivierung vieler gewohnheitsrechtlicher Regeln dazu führt, dass die Verträge Teile des Terrains ungeschriebenen Rechts einzugliedern beginnen. Der durch das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht seit den Verfahren von Nürnberg bis hin zum IStGH-Statut eingeschlagene Weg zeugt m. E. von dieser Annäherung. Berücksichtigt man das Embryonalstadium des Völkerstrafrechts während der Aburteilung der nationalistischen Täter, ist verständlich, dass man sich mit besonderer Hingabe dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht angenommen hat, besonders um die Bestrafung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu begründen. Für einen großen Teil der Lehre142 hatte das Gewohn140
Diesbezüglich, vgl. Jiménez de Aréchaga, International Law in the Past Third of a Century, 1978, S. 14 ff.; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 97 – 100; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 129 ff. 141 Es ist trotzdem möglich, einige Ausnahmen dieser Regel anzuerkennen. Zum Beispiel vertratt in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts v. Hippel, Deutsches Strafrecht. Allgemeine Lehre, Bd. 2 (Das Verbrechen), 1930, S. 31 – 32, dass das Strafrecht als einzige Quellen das Gesetz und das Gewohnheitsrecht habe und sprach beiden die gleiche Gültigkeit zu. 142 Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 363.
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heitsrecht auch eine überragende Rolle in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale, vor allem in der Entwicklung der Zurechnungslehren (z. B. Lehre des Joint Criminal Enterprise) wie auch in Bezug auf die Behandlung nicht-internationaler bewaffneter Konflikte.143 Trotzdem kann man mit Inkrafttreten des IStGH-Statuts den eindeutigen Versuch des völkerrechtlichen Gesetzgebers beobachten, mit einer verstärkten Kodifikation das große Ausmaß der Unbestimmtheit in der Anwendung des Völkerstrafrechts zu reduzieren.144 Dies zeigt sich in der Tatsache, dass zum Rom-Statut detaillierte Regelungen der Verbrechenselemente, der allgemeinen Prinzipien der Verantwortlichkeit und der Straffreistellungsgründe zählen. Das bewirkt – neben der Tatsache, dass dies dem Bestimmtheitsgebot zugutekommt –,145 dass das Gewohnheitsrecht teilweise ersetzt wird.146 Diese Schlussfolgerung wird ebenfalls durch die Vorgaben in Art. 21.1 IStGH-Statut gestützt, kraft dessen das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht nur subsidiär anwendbar ist. Jedenfalls muss man trotz der wichtigen Fortschritte des im IStGH-Statut verkörperten völkerrechtlichen Strafsystems sagen, dass für die herrschende Lehre das Gewohnheitsrecht nicht komplett verdrängt worden ist und es noch eine wichtige Rolle behält.147 143 Mit speziellem Bezug auf den RStGH zeigt Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 11, dass „gute Gründe bestehen, weshalb der RStGH das Gewohnheitsrecht anwenden sollte: Zuerst waren die Verträge grundsätzlich für die Staaten, aber nicht für die Individuen gültig, und der RStGH hatte festzulegen, welche Vorschriften anwendbar auf die Individuen waren und nicht auf die Staaten.“ 144 Mit Recht verdeutlicht Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 124, dass mit Inkrafttreten des IStGH-Statuts ein neues Stadium in der Beziehung zwischen Gewohnheitsrecht und Verträgen erreicht wurde. 145 Dieser Umstand führt zur Verteidigung von Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 124, dass die aufgeworfenen Einwendungen in Bezug darauf, dass die Normen des Völkerstrafrechts nicht den Voraussetzungen der Bestimmtheit und Anerkennung wie im nationalen Strafrecht genügen, an Substanz verloren haben. Denn man findet die im IStGH-Statut vorgesehenen Strafnormen in gleicher Bestimmtheit reguliert wie die des nationalen Strafrechts. 146 Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 50. Ebenso lässt sich generell sagen, dass man das ungeschriebene Recht (die allgemeinen Rechtsprinzipien hier auch eingeschlossen) im Quellensystem des IStGH-Statuts klar reduziert vorfindet. Im Hinblick darauf, dass es sich bei diesem um ein subsidiäres und kein komplementäres Recht handelt, sind die allgemeinen Rechtsprinzipien und das Gewohnheitsrecht nur anwendbar, wenn das Normensystem des Statuts eine Lücke aufweist. In diesem Punkt bleibt die stark reduzierte Rolle des ungeschriebenen Rechts offensichtlich, da man in der Rechtsprechung des IGH eine recht abgeneigte Tendenz zur Anerkennung von Regelungslücken beobachtet. Bezüglich letzterem vgl. Bitti, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2008, S. 294 ff. 147 Hierunter Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 38; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 128, vor allem wenn man bedenkt, dass keine globale Institution existiert, welche die Schaffung von strafrechtlichen Vorschriften monopolisiert. Für Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 368 – 369, muss man den Grund der Wiederentdeckung des Gewohnheitsrechts im aktuellen Völkerstrafrecht, trotz des gelebten intensiven Kodifikationsprozesses, mit einem Perspektivwechsel in der Art und Weise des Verständnisses der Schöpfung der gewohnheitsrechtlichen Norm betrachten. Während man früher einer induktiven
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Man kann folglich sehen, dass in dieser momentan starken Entwicklungsphase des Völkerstrafrechts das Gewohnheitsrecht beginnt, signifikant Terrain an das geschriebene und bestimmte Recht abzugeben, ohne dessen Bedeutung komplett zu verlieren. Man kann m. E. hieraus folgern, dass die Verträge in Bezug auf das Gewohnheitsrecht im Völkerstrafrecht zwei unterschiedliche Effekte haben: Konsolidierende Effekte und verdrängende Effekte. Man kann von konsolidierenden Effekten der völkerrechtlichen Verträge auf das Gewohnheitsrecht im Völkerstrafrecht sprechen, wenn diese Instrumente dazu dienen, die Existenz einer internationalen Praxis zu belegen oder zu präzisieren.148 Dieser Effekt hat bezüglich jener Staaten eine besondere Bedeutung, welche den in Frage stehenden Vertrag nicht ratifiziert haben. Selbstverständlich gelten für die Unterzeichnerstaaten die Regeln des Vertrages als positives Recht (also geschriebenes Recht). Aber in Bezug auf Drittstaaten des Vertrages können sie dazu dienen, eine internationale Praxis zu begründen oder zu verstärken, was zur Entwicklung einer gewohnheitsrechtlichen Norm beiträgt.149 Andererseits können die Wirkungen der Verträge auf das Gewohnheitsrecht im Völkerstrafrecht auch verdrängender Art sein. Zum Beispiel sind die durch Vertrag kodifizierten strafrechtlichen Regeln für die Ratifikationsstaaten geschriebene Normen. Damit sind sie positive Normen und keine gewohnheitsrechtlichen Regeln mehr. Die in multilateralen Verträgen, wie dem IStGH-Statut, herauskristallisierten Tatbestände und allgemeinen Prinzipien der Verantwortlichkeit verdrängen die gewohnheitsrechtlichen Regeln gleichen Inhalts, welche für die Unterzeichnerstaaten vorher galten. Man löst folglich den gleichen Effekt aus, wie bei der Kodifizierung des nationalen Strafrechts, mit der Besonderheit, dass diese Verdrängungswirkung nur bezüglich der Staaten gilt, welche den Vertrag ratifiziert haben. In diesem Sinne hat für Länder wie Spanien, Deutschland, Argentinien oder Kolumbien, welche das IStGH-Statut ratifiziert haben, die gewohnheitsrechtliche Norm des Verbrechens des Völkermordes gegenwärtig bereits keine eigenständige Bedeutung mehr. Sie Methode gefolgt sei, für welche die Existenz eines Vertrages oder einer Erklärung eines völkerrechtlichen Organs als Ausgangspunkt für die Schöpfung gewohnheitsrechtlicher Normen herangezogen werden konnte, folge man aktuell einer deduktiven Methode, kraft dessen die Existenz eines Vertrages den Konsolidierungszeitpunkt eines Gewohnheitsrechts widerspiegelt. 148 M.E. spielt Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 127, mit seiner Äußerung, dass die Verträge ausdrücklich oder implizit das Gewohnheitsrecht kodifizieren, auf diesen konsolidierenden Effekt an. 149 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 4. Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 357 – 358, erklärt mit unmissverständlicher Klarheit diesen Prozess: „Auf Grund davon, dass sich das Völkerrecht mehr und mehr kodifiziert, ist die wesentlichste und offensichtlichste Bedeutung des gewohnheitsrechtlichen Charakters der Normen, dass die Norm Staaten verpflichtet, die nicht Teil des Instrumentes sind, in welchem die Norm aufgestellt wurde. Selbstverständlich ist es nicht die Norm des Vertrages, sondern die gewohnheitsrechtliche Norm mit identischem Inhalt, die die Staaten verpflichtet.“
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Juan Pablo Montiel
wurde durch den Tatbestand des Vertrages ersetzt. Die aktuelle, dem Verdrängungseffekt zukommende Bedeutung liegt darin, dass – wenn man bedenkt, dass das IStGH-Statut die zentrale Normquelle des Völkerstrafrechts ist – mit dessen Geltung große Teile des Gewohnheitsrechts, welches die Vertragsstaaten verpflichtete, komplett verdrängt worden sind. Dieser Verdrängungseffekt entspricht nach meiner Meinung einem allgemeinen Weiterentwicklungsgedanken des Rechts in den diversen Rechtszweigen. Wenn man die seit der Ausarbeitung des Gesetzlichkeitsprinzips beschrittenen Entwicklungspfade des modernen Strafrechts betrachtet, kann man erkennen, dass Kodifikationen im Strafrecht das Gewohnheitsrecht vollständig verdrängt haben, so dass dieses im strafrechtlichen Quellensystem vollkommen ersetzt wurde.150 In diesem, durch das aufgezeigte Gedankengut durchdrungene Strafrecht erlaubte es das Gesetz, die politische Freiheit der Bürger im größerem Maße zu sichern – bezüglich der Möglichkeit, abzuschätzen, welche rechtlichen Konsequenzen wegen der jeweiligen Taten zu erwarten sind.151 Und es ermöglicht das Verbot von Willkür der politischen Mächte. Auf der anderen Seite wird, so Pastor Ridruejo152, eine bedeutende Verschiebung in der Achse des Quellensystems verursacht, in welchem die Verträge einen zentralen Raum einzunehmen beginnen und so das Gewohnheitsrecht verbannen. Nach Friedman153 müssen die Gründe der Verlagerung des Gewohnheitsrechts darin gesehen werden, dass das Gewohnheitsrecht im Rahmen des aktuellen modernen Völkerrechts unangemessen ist. Im modernen Völkerrecht wird die positive Regelung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen etc. Fragen gefordert. Man sieht so, dass die Verwendung des ungeschriebenen Rechts als Quelle mit einem Embryonalstadium der Rechtsentwicklung verbunden ist, obwohl die Kodifikationsprozesse auf unterschiedlichen Gründen beruhen. Tatsächlich initiiert eine konkrete rechtliche 150 Man muss hervorheben, dass dieser Prozess nicht nur in der römisch-germanischen Rechtsfamilie gegenwärtig war. Wie Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 54 anmerkt, sind auch im islamischen Recht die ta’zir Verbrechen (von gewohnheitsrechtlichem Ursprung) kodifiziert worden und somit das besagte Strafrechtssystem mit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips in Einklang gebracht worden. 151 Im Wesentlichen muss man diese Idee im Zusammenhang mit dem von Montesquieu, Del espíritu de las leyes (Übers. Bláquez/de Vega), 2. Aufl., Madrid, 1993, S. 106 vertretenen Konzept der politischen Freiheit sehen: Die Freiheit ist „das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben, denn wenn ein Bürger alles tun könnte, was die Gesetze verbieten, hätte er keine Freiheit mehr, weil die anderen ebenfalls diese Macht hätten.“ Hierüber auch Zagrebelsky, El derecho dúctil. Ley, derechos y justicia (Übers. Gascón), Madrid, 1995, S. 28; Ferrajoli, Pasado y futuro del Estado de Derecho (Übers. Allegue), in Neoconstitucionalismo (s), Madrid, 2003, S. 16; Guastini, La „constitucionalización“ del ordenamiento jurídico: el caso italiano (Übers. Lujambio), in Neoconstitucionalismo(s), Madrid, 2003, S. 55; Calvo García, Los fundamentos del método jurídico: una revisión crítica, Madrid, 1994, S. 261. 152 Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 89. 153 Friedman, La nueva estructura del Derecho Internacional (Übers. Bárcena), México, 1967, S. 153.
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Ordnung letztlich einen Kodifikationsprozess, wenn sie ein Stadium an Reife und Entwicklung erreicht hat, in welchem ein gewisser Konsens über die Herangehensweise an die rechtlichen Hauptprobleme besteht. Letztlich werden in diesem Entwicklungsstadium diese Regeln in geschriebenen Normen wiedergegeben, welche die Tätigkeit der Rechtsanwender umschreiben. Was speziell die anwendbaren Quellen des Völkerstrafrechts betrifft, kann man mit weiterer Vertiefung des Entwicklungs- und Kodifikationsprozesses ein stufenweises Verschwinden des Gewohnheitsrechts voraussagen. Das IStGH-Statut ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung und es veranschlagt den Ausgang aus dem Embryonalstadium, in welchem sich die völkerrechtliche Strafgewalt seit deren Inkrafttreten befindet. Durch das Rom-Statut als dem Strafgesetz der Völkerrechtsgemeinschaft schlechthin154 wird jeder ratifizierende Staat das Gewohnheitsrecht weiter aus dem Quellensystem schwinden lassen. In diesem Sinne erscheint es mir nicht übertrieben, die Aussage zu wagen, dass die Verträge dessen einzige Quelle sein werden, sobald das Völkerstrafrecht ein höheres Entwicklungsniveau erreicht hat.
154
Vgl. Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 126.
Das Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeitsund Komplementaritätsprinzip Helmut Satzger*
I. Einführung Probleme mit dem Bestimmtheitsgrundsatz („lex certa“) können vor allem im Bereich des Völkerstrafrechts auftreten, was darauf zurückzuführen ist, dass die Völkerrechtsverbrechen dem Völkergewohnheitsrecht entspringen und es ihnen deshalb an der Genauigkeit einer geschriebenen Norm des nationalen Rechts fehlt. Wenn die nationalen Gesetzgeber wegen des Komplementaritätsprinzips versuchen, die Tatbestände des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs in nationales Recht umzusetzen, kann dies Konflikte mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und seinen (nationalen) Anforderungen hervorrufen, was exemplarisch anhand des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) aufgezeigt werden soll.
II. Die Hintergründe des IStGH und des VStGB 1. Der Internationale Strafgerichtshof und das Rom-Statut Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wurde 1998 in Reaktion auf die Kritik an den ad-hoc-Gerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien bzw. Ruanda gegründet, denen vor allem vorgeworfen wurde, dass ihre Strafverfolgung selektiv und lokal begrenzt war und bei weitem nicht die Gesamtheit der begangenen völkerstrafrechtlichen Verbrechen abdeckte.1 Er ist ein ständiger Strafgerichtshof und basiert mit dem sog. Rom-Statut auf einem völkerrechtlichen Vertrag, welcher nach seiner Ratifikation durch 60 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen am 1. Juli 2002 in Kraft trat. Aktuell sind in der Staatenversammlung zahlreiche Staaten vertreten, allerdings fehlen bedeutende Staaten wie etwa die USA und die Volksrepublik China. Die Funktion des IStGH be* Ich danke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Johann Melchior Raiser sowie meinen studentischen Mitarbeitern Andreas Dürr und Michael Juhas für ihre wertvolle Hilfe bei der Anfertigung dieses Artikels. 1 Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 73 ff., 330 ff.
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steht darin, Verbrechen zu verfolgen, die wegen ihrer Schwere und aufgrund ihrer Begehung im Rahmen eines ganzen Verbrechenskomplexes nicht nur die Opfer selbst, sondern die internationale Gemeinschaft als solche berühren.2 Daher ist die sachliche Zuständigkeit des IStGH auf vier Kernverbrechen beschränkt, welche allerdings von besonderer Schwere sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression. Das Statut löst diese Verbrechenskomplexe in 73 einzelne strafbare Handlungen auf. Allerdings übt der Gerichtshof seine Kompetenz hinsichtlich des Verbrechens der Aggression noch nicht aus, da das Statut gemäß Art. 5 Abs. 2 noch der Annahme einer Begriffsbestimmung bedurfte. Auf diese Definition einigte man sich auf der Überprüfungskonferenz der Vertragsstaaten im Juni 2010 in Kampala.3 Dennoch wird der IStGH seine Gerichtsbarkeit darüber nicht vor 2017 ausüben und auch nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass mehr als 30 Vertragsstaaten die Neuregelung ratifiziert haben werden, vgl. Art. 15bis/ter Abs. 3 IStGH-Statut. 2. Das Komplementaritätsprinzip, Art. 17 IStGH-Statut Neben der schon erwähnten sachlichen Zuständigkeit (Art. 5 IStGH-Statut) regelt das Statut auch die persönliche (Art. 25 Abs. 1 IStGH-Statut), die örtliche (Art. 12 Abs. 2, 3 IStGH-Statut) und die zeitliche (Art. 11 IStGH-Statut) Zuständigkeit des Gerichtshofs. Sofern die Zuständigkeit des IStGH festgestellt ist, muss man sich allerdings der Frage nach der Zulässigkeit der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit widmen, die von der bloßen Zuständigkeit zu unterscheiden ist. Der IStGH ist nämlich nicht das einzige für völkerstrafrechtliche Verbrechen zuständige Gericht, denn auch die nationalen Gerichte können jene Delikte aburteilen. Diese Überschneidung löst das sog. Komplementaritätsprinzip des Art. 17 IStGH-Statut auf. In diesem Prinzip ist der Vorrang der nationalen Strafgerichtsbarkeit vor der des IStGH festgelegt. Danach darf der IStGH seine Gerichtsbarkeit selbst bei Vorliegen schwerster Verbrechen grundsätzlich nicht ausüben, wenn ein nationales Strafverfahren stattfindet oder stattgefunden hat. Dieser Grundsatz kennt aber zwei entscheidende Ausnahmen: Trotz des Vorrangs nationaler Strafverfahren darf der IStGH seine Gerichtsbarkeit ausüben, wenn der betroffene Staat „nicht willens“ oder „nicht in der Lage“ ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben (Art. 17 Abs. 1
2
Vgl. Absatz 4 der Präambel des IStGH-Statuts. Die vereinbarte Definition befindet sich nun in Art. 8bis IStGH-Statut und lautet: „The planning, preparation, initiation or execution, by a person in a position to effectively exercise control over or direct the political and military action of a State, of an act of aggression, which, by its character, gravity and scale, constitutes a manifest violation of the Charter of the United Nations.“ 3
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IStGH-Statut) bzw. untätig bleibt. Dies wird als Grundsatz der Komplementarität bezeichnet.4 Die Komplementaritätsregel setzt bei der Unterscheidung zwischen der sachlichen Zuständigkeit des IStGH (Art. 5 IStGH-Statut) und der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit (Art. 12 IStGH-Statut) an. Sind für einen konkreten Sachverhalt sowohl die staatlichen Gerichte als auch der IStGH sachlich zuständig, entscheidet der Komplementaritätsgrundsatz darüber, welchem sachlich zuständigen Gericht der Vorrang bezüglich der Ausübung der Jurisdiktion gebührt. Der IStGH hat sich dabei in jeder Verfahrenslage darüber zu vergewissern, ob er seine Gerichtsbarkeit (noch) ausüben darf. Kommt der IStGH zu dem Ergebnis, dass ein Staat aufgrund seines nationalen Strafrechts zuständig ist und die Strafverfolgung ernstlich betreibt oder abgeschlossen hat, beschließt er die Einstellung des eigenen Verfahrens. Die Frage, wann die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH zulässig sein soll, ist für den Gerichtshof von entscheidender Bedeutung. Die rechtliche Klippe für die Praxis besteht darin, zu beurteilen, wann ein Vertragsstaat „nicht willens oder nicht in der Lage“ ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben. Der Grundsatz der Komplementarität unterscheidet die Struktur der Strafverfolgung durch den IStGH deutlich von den bisherigen Experimenten internationaler Gerichtsbarkeit. Davon geht ein entscheidender rechtpolitischer Impuls aus. Es soll politisch Druck auf die Staaten ausgeübt werden, damit sie ihre Strafrechtssysteme so ausgestalten, dass Straftaten von eigenen Staatsangehörigen bzw. im Inland begangene Taten vor ihren eigenen Gerichten abgeurteilt werden können. Ein Prozess vor dem IStGH wird nämlich immer auch eine „Rüge“ gegenüber den nach den internationalstrafrechtlichen Prinzipien zuständigen Staaten beinhalten, da sie als unfähig bzw. unwillig erachtet werden, völkerrechtliche Verbrechen abzuurteilen. 3. Gesetzgeberische Motive Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmöglichkeit des Völkerstrafrechts aus: der direkten und der indirekten. Dabei verpflichtet das Statut die Unterzeichnerstaaten allerdings nicht explizit, die dort aufgeführten Straftatbestände in nationales Strafrecht umzusetzen.5 Der Gesetzentwurf zum VStGB nennt als eines seiner Ziele „im Hinblick auf die Komplementarität der Verfolgungszuständigkeit des IStGH zweifelsfrei sicherzustellen, dass Deutschland stets in der Lage ist, in die Zuständigkeit des IStGH fallende Verbrechen selbst zu verfolgen“. Dass dies vor dem Inkrafttreten des VStGB nicht immer möglich gewesen wäre, soll anhand von einigen Beispielen verdeutlicht werden. 4 Zum Grundsatz der Komplementarität umfassend Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität – Der Internationale Strafgerichtshof im Spannungsfeld zwischen Effektivität und Staatensouveränität, 2011; Ratzesberger, The International Criminal Court. The Principle of Complementarity, 2006. 5 Werle, JZ 2001, 886.
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Wenn man die Rechtslage vor der Existenz des VStGB den – durchweg Völkergewohnheitsrecht wiedergebenden – Tatbeständen des Rom-Statuts gegenüberstellt, wies das deutsche Strafrecht „echte“ Lücken auf,6 weil etwa die Tatbestandsalternativen des Art. 8 Abs. 2 lit. b) [vi] (Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Kombattanten, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat), des Art. 8 Abs. 2 lit b) [viii] (Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet) sowie des Art. 8 Abs. 2 lit. b) [xii] (Erklärung von Kriegsführenden, es werde kein Pardon gegeben) nicht unter Strafe standen. Daneben enthielt das allgemeine deutsche Strafrecht aber auch insoweit qualitative Defizite, als es die im Rom-Statut genannten Verhaltensweisen zwar durchaus als „einfache“ Vergehen oder Verbrechen unter Strafe stellte, jedoch den eigentlichen völkerrechtlichen Unrechtsgehalt nicht spezifisch zu erfassen vermochte. So fallen die in Art. 7 Abs. 1 lit. a) – k) IStGH-Statut als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgeführten Handlungen weitgehend unter Straftatbestände des StGB.7 Die besondere Dimension des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, nämlich der funktionale Zusammenhang zwischen der Tatbegehung mit einem ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung, bleibt aber unberücksichtigt.8 Für den Bereich der Kriegsverbrechen (vgl. Art. 8 IStGHStatut) gilt Ähnliches.9 Weitere Defizite ergaben sich schließlich im Bereich des Strafanwendungsrechts, weil das Universalitätsprinzip nicht für alle Verbrechen des Rom-Statuts galt, insbesondere nicht für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.10 Diese Unzulänglichkeiten konnten auch nicht mit Hilfe einer unmittelbaren Anwendung des Völkergewohnheitsrechts ausgeglichen werden. Dieses erlangt zwar auf Grundlage von Art. 25 GG als Teil der sog. „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Eingang in die deutsche Rechtsordnung. Im Rang geht diesem Völkergewohnheitsrecht jedoch deutsches Verfassungsrecht vor, sodass es dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht genügen würde.11 Mit Erlass des IStGH-Statutsgesetzes ist dieses in deutsches Recht transformiert worden. Die Straftatbestände des IStGH-Statuts richten sich aber an die Vertragsparteien und entfalten nur gegenüber diesen Rechtswirkungen, nicht aber gegenüber
6
Zu den Defiziten s. MK-Werle, VStGB, Einleitung Rn. 25 ff. §§ 174a, 176, 176a, 176b, 177, 178, 179, 182, 211, 212, 223, 224, 226, 232, 234, 234a, 239, 240, 340, 343 StGB. 8 So auch Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 12 ff. 9 Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 10. 10 Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 11; Werle, JZ 2001, 886. 11 Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 10; Werle, JZ 2001, 889. 7
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dem Individuum.12 Darüber hinaus zeigt das dem Statut inhärente System der Komplementarität, dass die Verbrechenstatbestände des Statuts gerade nicht automatisch die nationalen Strafrechtsordnungen verändern sollen.13 4. Der Inhalt des Völkerstrafgesetzbuchs Das VStGB teilt sich in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Der Gesetzgeber griff weitgehend auf den Allgemeinen Teil des StGB zurück, sodass der des VStGB nur die nach dem IStGH-Statut unvermeidlichen Abweichungen enthält. § 2 VStGB als „zentrale Umschaltnorm“ erklärt die Regeln des StGB grundsätzlich für anwendbar, wenn nicht das VStGB Sonderregelungen trifft. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Entwurf des VStGB in § 3 noch eine Art. 31 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut entsprechende, gegenüber § 32 StGB engere Notwehrregelung enthielt14, die aber im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens „verschwand“. Wie ein möglicher Konflikt zwischen der Rechtfertigung nach § 32 StGB und Art. 31 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut aufzulösen wäre, ist noch ungeklärt.15 Der Besondere Teil des VStGB zählt die einzelnen Straftaten gegen das Völkerrecht auf: Völkermord (§ 6), der bislang im § 220a StGB verortet war, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7) und Kriegsverbrechen (§§ 8 – 12). Während die Tatbestände des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitgehend originalgetreu aus dem Rom-Statut in das VStGB übernommen wurden, weist es im Bereich der Kriegsverbrechen eine eigene – deutlich von der des Statuts abweichende – Systematik auf. Im Gegensatz zum IStGH-Statut, das im Hinblick auf die Rechtsfolgen nur allgemeine, wenig bestimmte Vorgaben bezüglich der zu verhängenden Strafen vorsieht,16 werden den einzelnen Straftatbeständen im VStGB konkrete Strafrahmen zugeordnet, die in ihrer Höhe den besonderen Unrechtsgehalt völkerrechtlicher Verbrechen erkennen lassen.17
12
Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 10. Auflage 2010, Rn. 438. 13 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 13. 14 BR-Drucks. 29/02. 15 Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2001, S. 830 f., vertritt die Ansicht, dass die sozial-normativen Einschränkungen des deutschen Notwehrrechts auch auf völkerstrafrechtliche Konstellationen übertragen werden können, sodass es i.E. zu einer Deckungsgleichheit komme. 16 Siehe dazu Art. 77 f., 110 IStGH-Statut; eine Ergänzung finden diese Vorgaben in den Verfahrens- und Beweisregeln. 17 Gropengießer, ICLR 2005, 340.
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III. Das Völkerstrafgesetzbuch und das Gesetzlichkeitsprinzip 1. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Völkerstrafrecht Das Gesetzlichkeitsprinzip (und seine besonderen Ausformungen wie der Bestimmtheitsgrundsatz, das Rückwirkungsverbot, das Analogieverbot und das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts) ist ein fundamentaler Bestandteil sowohl der deutschen als auch vieler ausländischer Rechtsordnungen. Dennoch besitzt es im Völkerstrafrecht nicht die gleiche Reichweite, d. h. es sieht sich wegen seines völkerrechtlichen Charakters verschiedenen Nuancierungen und Modifikationen ausgesetzt. Das Völkerstrafrecht entspringt grundsätzlich den allgemeinen Rechtsquellen des Völkerrechts. Zu diesen zählen die völkerrechtlichen Verträge, das Völkergewohnheitsrecht sowie die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Diese drei Rechtsquellen werden noch durch die sog. Rechtserkenntnisquellen ergänzt; hierzu zählen Gerichtsentscheidungen sowie die Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen (vgl. Art. 38 IGH-Statut). Auf Ebene des Völkervertragsrechts ist das IStGH-Statut mit den ergänzenden Vorschriften in den sog. „Elements of Crimes“ sowie den „Rules of Procedure and Evidence“ von zentraler Bedeutung. Völkerrechtliche Verträge bedürfen der Auslegung, für welche gemäß Art. 31 Abs. 1 WVRK folgende generelle Regel gilt: Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zweckes auszulegen. Grundlage für die Auslegung ist nach dem hier verankerten „objektiven Ansatz“ der Vertragstext, nicht der historische Parteiwille.18 Ausgangspunkt ist daher zunächst die übliche Bedeutung des vertraglichen Wortlauts. Zusätzlich ist bei der Auslegung die Systematik des betreffenden Vertrags heranzuziehen sowie der Sinn und Zweck der Regelung zu erforschen.19 Neben diesen auch für das innerstaatliche Recht maßgeblichen Auslegungsmethoden tritt der aus dem Europarecht bekannte Grundsatz des „effet utile“, welcher sich aus der teleologischen Auslegungsmethode entwickelt hat. Diese allgemeinen Auslegungsregeln sind im Grundsatz auch auf die völkerstrafrechtlich relevanten Verträge anwendbar, insbesondere auf das Rom-Statut. Hier sind vor allem die „Elements of Crime“ mit heranzuziehen, die dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Art. 6, 7, 8 und 8bis des IStGH-Statuts helfen (vgl. Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut).
18
Siehe dazu Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004, § 11 Rn. 4 f. Vgl. zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge Lorenzmeier/Rohde, Völkerrecht – Schnell erfasst, 2002, S. 41 ff. 19
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Die Auslegung findet im Völkerstrafrecht ihre Grenze im völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz „nullum crimen sine lege“, wonach eine Bestrafung nur dann zulässig ist, wenn zum Tatzeitpunkt bereits eine Norm feststellbar ist, die die Strafbarkeit begründet.20 Für das Völkerstrafrecht darf naturgemäß weder eine schriftliche Fixierung („lex scripta“) noch eine dem innerstaatlichen Strafrecht vergleichbare inhaltliche Bestimmtheit des strafbegründenden Rechts („lex certa“) verlangt werden. Völkerstrafrecht ist als Völkergewohnheitsrecht entstanden und Gewohnheitsrecht stellt im Bereich des Völkerrechts (anders als im innerstaatlichen Recht) eine der wichtigsten Rechtsquellen dar. Damit waren die völkerrechtlichen Verbrechenstatbestände von Anfang an auf eine schrittweise und dynamische Entwicklung angelegt. Insoweit kann man auf völkerrechtlicher Ebene von einer gewissen Relativierung des innerstaatlich bekannten Nullum-crimen-Grundsatzes sprechen.21 Folgende Konsequenzen lassen sich aus dem völkerrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip ableiten: – Bestimmtheitsgrundsatz: Es muss sich überhaupt eine Norm im Völkerstrafrecht nachweisen lassen, in deren – zumindest nach völkerrechtlichem Maßstab hinreichend bestimmbaren – Anwendungsbereich das in Frage stehende Täterverhalten fällt.22 – Analogieverbot: Wird das Verhalten nicht durch einen nachweisbaren völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestand erfasst, so darf ein existierender Tatbestand nicht zum Nachteil des Täters durch Analogieschluss auf ähnliche Fälle ausgeweitet werden. Über dieses auch aus dem nationalen Recht bekannte23 Analogieverbot hinaus bezieht Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut auch noch den Grundsatz der engen Auslegung der Verbrechensmerkmale in das Nullum-crimen-Prinzip ein, mit der Folge, dass auch Zweifel bei der Auslegung zugunsten des Täters behandelt werden. Damit geht das IStGH-Statut weiter als das deutsche Recht, das den Zweifelsgrundsatz allein auf Tatsachenfragen beschränkt. – Rückwirkungsverbot: Der völkerstrafrechtliche Verbrechenstatbestand muss bereits zum Zeitpunkt der Tat im Völkerrecht Geltung beansprucht haben. Dieser
20 Das Gesetzlichkeitsprinzip ist nicht berührt, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat nur nicht wusste, dass sein Heimatstaat dem IStGH-Statut beigetreten ist, und somit nicht davon ausging, dass seine Tat dem Anwendungsbereich der darin enthaltenen Straftatbestände unterfällt; zur (korrekten) Ablehnung dieses von der Verteidigung Lubangas vorgetragenen Einwands siehe IStGH, „Lubanga“ (PTIC), Confirmation of Charges v. 29. 1. 2007 (Rn. 302); siehe auch Weigend, JICJ 2008, 474. 21 Ausführlich dazu Satzger, JuS 2004, 943 ff; siehe auch ICTY, „Delalic´ et al.“ (TC), Urt. v. 16. 11. 1998 (Rn. 402 ff.), zu den im Völkerstrafrecht vorzunehmenden Einschränkungen und Ausflüssen des Gesetzlichkeitsprinzips. 22 An der Hürde des (weniger strengen) völker(straf)rechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips soll z. B. eine völkerstrafrechtliche Verfolgung des Genozids an den Armeniern 1915 gescheitert sein, Kittichaisaree, International Criminal Law, 2001, S. 15 f. 23 Vgl. zum deutschen Recht: Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Auflage 2010, Rn. 53 ff.
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Grundsatz ist für den IStGH in Art. 24 des Statuts niedergelegt, sodass es auf Taten vor seinem Inkrafttreten nicht anwendbar ist. Weiterhin gilt im Völkerstrafrecht – wie auch Art. 23 IStGH-Statut zeigt – der Grundsatz „nulla poena sine lege“.24 Aus denselben Gründen wie bei den Voraussetzungen der Verbrechenstatbestände dürfen an die Bestimmtheit der Strafdrohung aber keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dementsprechend nennt auch Art. 77 IStGH-Statut nur einen allgemeinen Strafrahmen, der in den einzelnen Tatbeständen nicht weiter präzisiert wird. 2. Das VStGB zwischen dem Gesetzlichkeitsund dem Komplementaritätsprinzip a) Das Dilemma Der Grundsatz der Komplementarität bedingt einen – wenn nicht rechtlichen, so doch rechtspolitischen – Zwang, die im VStGB vorgesehenen Straftatbestände so auszugestalten, dass möglichst alle in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte erfasst werden, um durchgängig eine (vorrangige) Aburteilung durch deutsche Gerichte zu ermöglichen. Dem damit vorgezeichneten Streben nach einer möglichst wörtlichen Übernahme des Textes des IStGH-Statuts, und somit nach einer extensiven Formulierung deutscher Straftatbestände, werden jedoch dadurch Grenzen gesetzt, dass das VStGB – wie jedes andere Strafgesetz auch – gewisse verfassungsrechtliche Vorgaben beachten, insbesondere also dem – im internationalen Vergleich strengen25 – Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss. Diese beiden Anforderungen – erschöpfende Erfassung der im Rom-Statut vorgezeichneten Verbrechen einerseits, Verfassungskonformität andererseits – machten die Ausarbeitung des VStGB zu einem schwierigen Drahtseilakt.26 Ein dem Grundgesetz entsprechendes VStGB muss notwendigerweise insoweit hinter den tatbestandlichen Umschreibungen des Rom-Statuts zurückbleiben, wie diese – nach deutschem Maßstab – zu vage geraten sind. Eine solche „modifizierende Umsetzung“27 des materiellen Völkerstrafrechts eröffnet aber Lücken gegenüber dem Statuts-Text, welche nach dem Grundsatz der Komplementarität wiederum die Gerichtsbarkeit des IStGH für vom deutschen Recht nicht abgedeckte Tatbestände bzw. Tatbestandsalternativen begründen – eine Folge, die durch das Projekt eines VStGB aber gerade vermieden werden soll.
24
Strittig, gegen die Anerkennung dieses Grundsatzes z. B. Cassese, International Criminal Law, 2. Auflage 2008, S. 51. 25 Vgl. auch Werle, JZ 2001, 889. 26 Potentielle verfassungsrechtliche Probleme bei der Umsetzung des Rom-Statuts beschreibt ausführlich Duffy, Duke Journal of Comparative und International Law 2001, 5 ff. 27 Werle, JZ 2001, 889; Gropengießer, ICLR 2005, 340.
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Angesichts dieser komplexen Ausgangslage ist es kaum verwunderlich, dass das VStGB nicht allen Anforderungen gleichermaßen gerecht werden kann, ja teilweise nicht einmal gerecht werden will. So enthält das VStGB zahlreiche Punkte, an denen es das selbst gesetzte Ziel, die Zuständigkeit des IStGH von vornherein auszuschalten, nicht erreicht. Andererseits ergeben sich an anderen Stellen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit. Im Folgenden sollen beispielhaft nur einige Problembereiche angesprochen werden. b) Probleme in Bezug auf das Gesetzlichkeitsprinzip – Konflikt mit dem Grundgesetz Das VStGB ist als deutsches Strafgesetz konzipiert, sodass jede einzelne darin enthaltene Vorschrift dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss. Die Klarheit und Bestimmtheit der dort niedergelegten Straftatbestände ist durchaus ein hohes Anliegen der Verfasser, da als Ziel des VStGB betrachtet wird, „durch Normierungen in einem einheitlichen Regelungswerk die Rechtsklarheit und Handhabbarkeit in der Praxis zu fördern.“28 Das VStGB hat insbesondere im Bereich der Kriegsverbrechen ein erfreuliches Maß an zusätzlicher Systematisierung erreicht. Um dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht zu werden, muss aber gewährleistet sein, dass stets „Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.“29 Aus Sicht eines verständigen Bürgers muss es also möglich sein, in zumutbarer Weise den Inhalt der Strafnorm zu erfassen.30 Der Bürger hat danach das Recht, durch klar formulierte Strafgesetze in die Lage versetzt zu werden, sein Verhalten so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeiden kann. Eine gewisse Typisierung ist dem Gesetzgeber aber zuzugestehen, sodass für die Beurteilung der Bestimmtheit nicht auf den jeweils konkret Betroffenen abzustellen ist, sondern auf einen „verständigen Rechtsunterworfenen“.31 Vor allem aber im Nebenstrafrecht fordert man dem Rechtsunterworfenen bei der Ermittlung, ob ein Verhalten unter Strafe steht oder nicht, einen kaum mehr zumutbaren „intellektuellen Aufwand“ ab. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich vielfach um „Expertenstrafrecht“ handelt. Gehört der Täter zu dem Kreis der „Experten“, an die sich die strafrechtlichen Normen richten, wird man höhere Anforderungen an seine „Verständigkeit“ stellen dürfen.32 28
Siehe die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BR-Drucks. 29/02, S. 23. 29 St. Rspr., vgl. BVerfGE 25, 285; 55, 152; 75, 340 f. 30 Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 9 Rn. 64 sowie ders., die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 241 ff. 31 Vgl. BVerfGE 78, 389. 32 Siehe auch BVerfGE 48, 57; 75, 343, 345.
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Diese Grundsätze lassen sich auch auf das Völkerstrafrecht übertragen. Daher dürfte es unproblematisch sein, dass das VStGB – häufig in Anlehnung an Formulierungen des Rom-Statuts – generalklauselartige Wendungen und ausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale verwendet. Beispiele: § 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB knüpft die Strafbarkeit wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit daran, dass der Täter „Menschenhandel betreibt, … oder … auf andere Weise einen Menschen versklavt und sich dabei ein Eigentumsrecht an ihm anmaßt.“ Ein Kriegsverbrechen liegt nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 VStGB im Zusammenhang mit einem internationalen bewaffneten Konflikt vor, wenn jemand als Angehöriger einer Besatzungsmacht „einen Teil der eigenen Zivilbevölkerung“ in das besetzte Gebiet überführt. Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG dürfen die Bestimmtheitsanforderungen nicht überspannt werden, da ohne allgemeine, normative und wertausfüllungsbedürftige Begriffe „der Gesetzgeber nicht in der Lage wäre, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden.“33 Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn der deutsche Strafgesetzgeber Pönalisierungspflichten aus dem ungeschriebenen Völkerstrafrecht Folge leisten möchte und damit an komplexe, häufig wenig klar umrissene Vorgaben anknüpft. Hier muss die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes34 zu einem gewissen Privileg für den Gesetzgeber im Hinblick auf den anzuwendenden Bestimmtheitsmaßstab führen.35 Zumindest insoweit, als der Rechtsunterworfene das Risiko einer Strafbarkeit erkennen kann und die Rechtsprechung ohne größere Probleme – auch durch Rückgriff auf völkerrechtliche Zusammenhänge – in die Lage versetzt wird, durch Auslegung eine Konkretisierung des Tatbestands zu erreichen, sollte man die Strafvorschriften des VStGB als noch hinreichend bestimmt erachten. Die Grenzen dieses Privilegs sind jedoch dort erreicht, wo die Reichweite des Tatbestandes völlig unklar ist und auch der völkerrechtliche Hintergrund keinerlei Anhaltspunkte mehr für eine Konkretisierung liefert. Starke Bedenken hinsichtlich der Konformität mit Art. 103 Abs. 2 GG bestehen daher etwa hinsichtlich der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 1 VStGB, durch die Angriffe auf Personen und verschiedene Objekte unter Strafe gestellt werden, „die an einer humanitären Hilfsmission oder an einer friedenserhaltend Mission in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind, solange sie Anspruch auf den Schutz haben, der Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem humanitären Völkerrecht gewährt wird“. Auch wenn heute im Grundsatz anerkannt ist, dass friedenserhaltende Missionen der UNO diesen Schutz genießen, wenn sie Gewalt nur zum Zwecke der „Selbstverteidigung“ anwenden, so ist gleichwohl unklar, wie weit der Begriff „Selbstverteidigung“ jeweils reicht und in welchem Umfang Personen 33
BVerfGE 11, 237. Vgl. insb. Art. 25 GG; siehe dazu z. B. auch BVerfGE 31, 75; 58, 34; 64, 20; Bleckmann, DÖV 1979, 312; Dreier-Pernice, Art. 24 GG Rn. 1. 35 Ausführlich hierzu Satzger, JuS 2004, 943 ff. 34
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und Sachen einer solchen Mission den Schutz von Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem humanitären Völkerrecht verlieren, wenn nur ein Teil davon in Feindseligkeiten verstrickt wird.“36 Weiterhin sind vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG Einwendungen gegen die Ausgestaltung des VStGB insoweit zu erheben, als dessen Straftatbestände mehr oder minder pauschal auf Völkergewohnheitsrecht verweisen. Zu nennen ist hier vor allem § 7 Abs. 1 Nr. 4 VStGB. Dieser Tatbestand bedroht denjenigen mit Strafe, der „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung einen Menschen, der sich rechtmäßig in einem Gebiet aufhält, vertreibt oder zwangsweise überführt, indem er ihn unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts durch Ausweisung oder andere Zwangsmaßnahmen in einen anderen Staat oder ein anderes Gebiet verbringt“. In seinen Voraussetzungen enthält § 7 Abs. 1 Nr. 4 VStGB damit einen klaren Verweis auf Völkergewohnheitsrecht.37 Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG erscheint dies in zweifacher Hinsicht bedenklich: – Zum einen verbietet diese Verfassungsnorm sowohl eine Strafbegründung als auch eine Strafschärfung auf Grund von Gewohnheitsrecht („nullum crimen, nulla poena sine lege scripta“).38 Mit der völkergewohnheitsrechtlichen Pflichtverletzung enthält das VStGB jedoch eine Tatbestandsvoraussetzung, die allein (völker-)gewohnheitsrechtlich geprägt ist und nicht mehr durch eine „lex scripta“ umrissen wird. – Zum anderen ist es bereits für einen Richter mit enormen Schwierigkeiten verbunden, den Inhalt des Völkergewohnheitsrechts festzustellen. Da zudem zu bedenken ist, dass das der Strafvorschrift zu Grunde liegende Verbot vom jeweiligen Stand des jederzeit formlos wandelbaren Völkergewohnheitsrechts abhängig ist, handelt es sich um eine dynamische Verweisung auf ungeschriebenes Recht. Sind dynamische Verweisungen in Strafvorschriften angesichts der verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen schon im Allgemeinen nicht unproblematisch, so ist eine Verweisung auf eine im Wesentlichen ungeschriebene und zersplitterte Rechtsquelle gänzlich inakzeptabel. Der deutsche Gesetzgeber kommt hier nicht umhin, die Voraussetzungen der Strafbarkeit genauer zu umschreiben, wenngleich dies ein schwieriges Unterfangen sein mag. Auch soweit das VStGB auf völkerrechtliche Verträge – also geschriebenes Recht – verweist, lassen sich Bestimmtheitsbedenken nicht ausschließen.39 So wird beispielsweise zur Definition des „Kernbegriffs“ der im VStGB neu geordneten 36 Zusammenfassend Triffterer-Cottier, Rome Statute, Art. 8 Rn. 53 ff.; siehe auch MKAmbos/Zimmermann/Geiß, § 10 VStGB, Rn. 11 ff. 37 Vgl. Art. 25 GG. 38 Statt aller SK-Rudolphi, § 1 StGB Rn. 17 ff. 39 Auch bei in deutsches Recht transformierten völkerrechtlichen Verträgen gelten grundsätzlich die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG, Maunz/Dürig-SchmidtAßmann, Art. 103 II GG, Rn. 251.
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Kriegsverbrechen gegen die Person für den internationalen bewaffneten Konflikt auf die „geschützte[n] Personen im Sinne der Genfer Abkommen und des Zusatzprotokolls I (Anlage zu diesem Gesetz), namentlich Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Kriegsgefangene und Zivilpersonen“ verwiesen (§ 8 Abs. 6 Nr. 1 VStGB). Die Ermittlung des geschützten Personenkreises ist aber nicht so einfach, wie diese Formulierung nahe legt. Denn die Regelungen der Genfer Abkommen und des Zusatzprotokolls I, auf die verwiesen wird, sind wesentlich differenzierter. Es werden nicht bestimmte Personengruppen per se geschützt, sondern zusätzlich müssen gewisse Situationen oder Bedingungen gegeben sein. Beispielsweise zählt das III. Genfer Abkommen in seinem Art. 4 Milizen nur dann zum geschützten Personenkreis, wenn diese u. a. bei ihren Kampfhandlungen die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ einhalten. Wann dies der Fall ist, lässt sich aus dem Abkommen selbst nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen. c) Probleme mit der Komplementarität Durch die in § 2 VStGB angeordnete grundsätzliche Übernahme des Allgemeinen Teils des StGB fließen in das VStGB auch die (deutschen) Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe ein, was zu Komplementaritätsproblemen führen kann. Das IStGH-Statut enthält in Art. 31 Straffreistellungsgründe, doch besteht hier im Verhältnis zum StGB keine durchgehende Deckungsgleichheit. Beispielsweise fehlt im Statut der Notwehrexzess, wie er in § 33 StGB, § 2 VStGB verankert ist, sodass eine Verurteilung nach deutschem Recht unmöglich sein kann, während eine Bestrafung auf Grundlage des IStGH-Statuts denkbar erscheint.40 Eine gewisse Abmilderung erfährt diese Gefahr durch die Regelung des Art. 31 Abs. 3 des Statuts, wonach der IStGH ermächtigt wird, bei der Verhandlung andere als in Art. 31 Abs. 1 IStGH-Statut genannte Gründe für die Freistellung von strafrechtlicher Verantwortung in Betracht zu ziehen, wenn diese aus dem anwendbaren Recht nach Art. 21 IStGH-Statut abgeleitet sind. Nicht auszuschließen sind Unstimmigkeiten auch im Bereich der Irrtumslehre. Sehr deutlich wird dies am Beispiel des Erlaubnistatbestandirrtums, der im Statut nicht vorgesehen ist. Wird allerdings, wie hier vorgeschlagen, Art. 32 Abs. 1 IStGH-Statut auf diese Situation analog41 angewandt, decken sich deutsches Strafrecht und das Statut wiederum. Genauso wenig kennt das Statut den unvermeidbaren Verbotsirrtum als Strafbefreiungsgrund42, was im Hinblick auf das Schuldprinzip erhebliche Kritik hervor40 MK-Weigend, § 2 VStGB, Rn. 19, der allerdings darauf verweist, dass der Gerichtshof in derartigen Fällen „kein Interesse an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit haben dürfte“; vgl. auch Triffterer-Eser, Rome Statute, Art. 31 Rn. 12, unter Anführung weiterer Beispiele. 41 Satzger, NStZ 2002, 128. 42 Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 15 Rn. 42.
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ruft.43 Allerdings wird man davon ausgehen können, dass ein solcher Irrtum im Völkerstrafrecht letztlich ohnehin nur für die Kriegsverbrechen zum Tragen kommen könnte. Selbst bei einer nur groben Übertragung der deutschen Bestimmungen zum unvermeidbaren Verbotsirrtum erscheint es z. B. nur schwer vorstellbar, dass der betroffene Täter bei „gehöriger Gewissensanspannung“44 zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass die Tötung eines Menschen in der Absicht, eine religiöse Gruppe zu vernichten, erlaubt sei. Anders ist es nur im Bereich der Kriegsverbrechen; das Dickicht der dortigen Einzelregelungen ist für den Soldaten nicht ohne Weiteres nachvollziehbar und verständlich, sodass Situationen denkbar erscheinen, in denen sich der Täter in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befindet.45 Zur Wahrung des Schuldprinzips sollte hier ein Straffreistellungsgrund in entsprechender Anwendung des Art. 32 Abs. 2 IStGH-Statut bejaht werden.46 Eine deutliche Lücke zwischen dem Statut und dem VStGB existiert auch im Hinblick auf die Verjährungsregelung, Art. 29 IStGH-Statut sieht hier einen Verjährungsausschluss für sämtliche in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte vor. Das VStGB ordnet in seinem § 5 VStGB zwar ebenfalls die Unverjährbarkeit an, allerdings beschränkt auf Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB, § 2 VStGB). Folglich gilt der Verjährungsausschluss nicht für die Verletzung der Aufsichtspflicht (§ 13 VStGB) und das Unterlassen der Meldung einer Straftat (§ 14 VStGB), die lediglich als Vergehen ausgestaltet sind. Hier greifen die Verjährungsregeln des § 78 StGB, was zu dem – unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität unerwünschten – Ergebnis führen kann, dass eine solche Straftat nicht mehr verfolgbar ist, während der IStGH dieselbe Tat – mangels Verjährbarkeit der in seine Zuständigkeit fallenden Delikte – aburteilen könnte. Dennoch entschied sich der Gesetzgeber für diese Variante, weil er offenbar einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG befürchtete, würde man Vergehen nach dem StGB und solche des VStGB in Bezug auf das Verjährungsregime unterschiedlich behandeln. Ob eine dem Rom-Statut entsprechende Regelung tatsächlich gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würde, darf jedoch bezweifelt werden, denn die Tatsache, dass es sich um völkerrechtliche Delikte – wenngleich minderer Schwere – handelt, die in die (komplementäre) Zuständigkeit des IStGH fallen und somit, auch bei Verjährung nach deutschem Recht, auf internationaler Ebene verfolgt werden können, stellt einen hinreichenden „sachlichen Grund“ dar, der die unterschiedliche Verjährungsregelung rechtfertigt.47
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Werle, Völkerstrafrecht, 2. Auflage 2007, Rn. 535. So der allgemein anerkannte Maßstab im Rahmen des § 17 StGB, vgl. Satzger/Schmitt/ Widmaier-StGB/Momsen, § 17 Rn. 45 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Auflage 2010, Rn. 466 jeweils m.w.N. 45 Die Unvermeidbarkeit eines Irrtums wird jedoch durch den IStGH nur in Einzelfällen bejaht werden; siehe z. B. „Lubanga“ (PTC I), Confirmation of Charges v. 29. 1. 2007 (Rn. 306, 312 – 314). 46 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 15 Rn. 42. 47 Kreicker, ZRP 2002, 371; a.A. MK-Weigend, § 5 VStGB Rn. 10. 44
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Ganz bewusst und ausdrücklich bleibt das VStGB schließlich in den §§ 4, 13 im Bereich der Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und sonstiger Vorgesetzter hinter der Regelung des Art. 28 des Statuts zurück. Im VStGB wird die strafrechtliche Verantwortung des (militärischen) Vorgesetzten nur für die Fälle mit der des Untergebenen gleichgesetzt, in denen der Vorgesetzte die nach dem VStGB strafbare Tat des Untergebenen vorsätzlich nicht verhindert und ihn ebenfalls Vorsatz hinsichtlich der Tat des Untergebenen trifft. Das Statut geht weit darüber hinaus und dehnt die Gleichstellung auch auf diejenigen Konstellationen aus, in denen dem Vorgesetzten nur Fahrlässigkeit hinsichtlich der Tat des Untergebenen bzw. hinsichtlich der eigenen Verhinderung vorgeworfen werden kann.48 Diese Fälle werden von § 13 VStGB zwar auch, aber nur als Vergehen erfasst. Eine Gleichbehandlung des nur fahrlässig handelnden Vorgesetzten mit dem vorsätzlich handelnden Untergebenen passt jedoch nicht in die Systematik des deutschen StGB. Im Bereich des Besonderen Teils findet sich zunächst eine Form von Abweichung, die im Hinblick auf das Komplementaritätsprinzip jedoch als unproblematisch einzustufen ist. Das VStGB beschränkt bei einer Reihe von Delikten die Strafbarkeit auf Taten von gewisser Erheblichkeit, was in den entsprechenden Tatbeständen des Statuts so keine Entsprechung findet.49 Von einem Zurückbleiben hinter dem Maßstab des Rom-Statuts lässt sich für derartige „Bagatellen“ aber schon deshalb nicht sprechen, weil sich die Zuständigkeit des IStGH gemäß Art. 5 Satz 1 des Statuts „auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“,50 sodass bereits im Statut selbst ein Erheblichkeitsfilter angelegt ist,51 den der deutsche Gesetzgeber insoweit nur – bezogen auf einzelne Tatbestände – konkretisiert. Problematischer sind hingegen einzelne Straftatbestände, die – im berechtigten Bestreben, den deutschen Bestimmtheitsanforderungen für das Strafrecht gerecht zu werden – teilweise deutlich enger als die vergleichbaren Vorschriften des Statuts formuliert wurden, sodass sich insoweit Lücken gegenüber dem Statut ergeben.52 Diese erscheinen vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG allerdings unvermeidlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass es nur marginale, weniger bedeutende Abweichungen sind. Problematisch ist hingegen, dass das VStGB nicht überall dem Bestimmtheitsgrundsatz gerecht wird, indem seine Tatbestände teilweise sehr weit gefasst sind. Vor diesem Hintergrund sind gewisse Lücken gegenüber dem Statut notwendig und akzeptabel, sodass theoretisch die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den IStGH eröffnet wäre. Das nationale Strafrecht kann nicht vollständig dem Statut 48
Siehe dazu Ambos, Criminal Law Forum 1999, 16 ff. Siehe z. B. § 8 Abs. 1 Nr. 7 und § 9 Abs. 1 VStGB. 50 Siehe auch Abs. 4 der Präambel. 51 Siehe dazu Triffterer-Zimmermann, Rome Statute, Art. 5 Rn. 8 f. 52 Beispielsweise enthält Art. 7 Abs. 1 lit. g), Abs. 2 lit. f) IStGH-Statut ein weiter gefasstes subjektives Verbrechenselement gegenüber dem entsprechenden Tatbestand des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB. 49
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folgen, sondern muss seinen eigenen Prinzipien treu bleiben, wenngleich dies die komplementäre Ausübung des Gerichtshofs auszuüben vermag.53
IV. Zusammenfassung Trotz der erhobenen Kritik löst das VStGB die Aufgabe, die deutsche Rechtsordnung in Einklang mit dem IStGH-Statut zu bringen, im Wesentlichen recht gut. Völkerrechtsverbrechen und ihr besonderer Unrechtsgehalt können nunmehr auch vom innerstaatlichen Strafrecht adäquat erfasst werden. Das rechtspolitische „Ideal“, die in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte möglichst vollständig durch deutsche Gerichte unter Zugrundelegung des nationalen Strafrechts aburteilen zu können, wird durch das VStGB zwar nicht komplett verwirklicht. Die Lücken, die nur in seltenen Ausnahmefällen zu einer Übernahme von Verfahren durch den IStGH führen könnten, erscheinen allerdings hinnehmbar und durch gute Gründe gerechtfertigt. Eine wie auch immer auszugestaltende „Voll-Umsetzung“54 des RomStatuts in das deutsche Strafrecht ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht geboten und ließe sich mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht in Einklang bringen. Das Gesetz kann somit – gerade wegen seiner gegenüber dem Statut klareren und systematischeren Ausgestaltung – durchaus Vorbildcharakter für sich in Anspruch nehmen und anderen Staaten wertvolle Anregung für die Anpassung der eigenen Rechtsordnung an das Rom-Statut bieten.55
53
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 30. Dazu Werle, JZ 2001, 887. 55 Siehe auch Wirth/Harder, ZRP 2000, 146; Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 31. 54
V. Krise des Gesetzlichkeitsprinzips und Ansätze einer Neuausrichtung
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht Enrique Bacigalupo*
I. Die Idee von Sicherheit und Freiheit ist in der politisch-juristischen Tradition eng verbunden mit der Gesetzlichkeit. Das Gesetz erlaubt es, die Grenzen staatlichen Handelns und den Rahmen, in dem individuelle Entscheidungen allein vom Willen der Person abhängen, zu erkennen. In der Rechtsordnung ist es das Strafrecht, welches sich in dieser Tradition als wichtigste Beschränkung der Freiheit dargestellt und damit am meisten zur Bedeutungsbestimmung der Gesetzlichkeit beigetragen hat. Soweit es in den modernen Verfassungen, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, erkennbar ist, spielte das Strafgesetz seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 eine entscheidende Rolle für die formale Beschränkung des ius puniendi, und garantiert so Freiheit und Rechtssicherheit. Indem es für Rechtssicherheit sorgt, macht es auch Freiheit möglich, soweit deren Reichweite nur durch die Grenzen, die das Strafgesetz festlegt, beschränkt wird. Man kann folglich feststellen, dass das Gesetzlichkeitsprinzip – „das erste und wahrscheinlich heute noch wichtigste“1 – praktisch das einzige Prinzip des Strafrechts ist, welches ausdrücklich in den Verfassungstexten auftaucht. Das andere wichtige Prinzip des modernen Strafrechts, das Schuldprinzip, ist letztlich ein von der Rechtsprechung entwickeltes dogmatisches Konstrukt, welches für gewöhnlich auf die Menschenwürde und die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (derecho al libre desarrollo de la personalidad) gestützt wird (die spanische Verfassung nimmt auf beides in Art. 10.1 Bezug). Auch wenn das Schuldprinzip gelegentlich Verfassungsrang besitzt, ist es weder in allen Mitgliedstaaten der EU in gleicher Weise anerkannt (so z. B. nicht in Frankreich), noch bildet es ein eigenes Gebiet der grund-
* Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, der am 25. März 2010 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Austral, Buenos Aires, Argentinien, gehalten wurde. Übersetzung ins Deutsche durch Diana Rodriguez. 1 J. de Figueiredo Dias, Direito Penal Português, As consequências jurídicas do crime, 1993, S. 71.
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rechtlichen Dogmatik2. Darüber hinaus wird es auch in der strafrechtlichen Lehre nicht als Ausdruck der Garantiefunktion des Strafrechts im Rechtsstaat behandelt; es wird vielmehr für ein Prinzip der Kriminalpolitik3 oder für eine Beschränkung präventiver staatlicher Eingriffe4 gehalten. Das Gesetzlichkeits- und das Schuldprinzip sind, ungeachtet ihrer Bedeutung, formelle Prinzipien: Sie bestimmen weder den Inhalt des Strafgesetzes noch der Strafbarkeit. In der aktuellen Strafrechtswissenschaft erschöpft die formelle Behandlung dieser Garantien nicht die verfassungsrechtliche Problematik des Strafrechts. In letzter Zeit haben aber auch materielle Fragen an verfassungsrechtlicher Bedeutung gewonnen, wie etwa solche danach, „wieviel“ Strafrecht mit einer demokratischen Gesellschaft kompatibel ist, solche nach den verfassungsrechtlichen Begrenzungen der Strafgesetze oder solche nach den zulässigen Grundrechtseingriffen zu Gewährleistung der Sicherheit. Gleichzeitig wurden in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in den Vertrag über eine Verfassung für Europa neue verfassungsrechtliche Garantien aufgenommen, wie die Rückwirkung der günstigsten Strafrechtsnorm, der bisher im Allgemeinen kein Verfassungsrang zukam, und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In der Rechtsprechung hat die Reduktion der Reichweite des Rückwirkungsverbots im Völkerstrafrecht und im nationalen Strafrecht bezüglich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit besondere Bedeutung erlangt. Dieser Wandel der Verfassungsprinzipien im Strafrecht ist nicht der Erste seiner jüngeren Geschichte, könnte aber der Tiefgreifendste sein. Der Erste vollzog sich nach dem zweiten Weltkrieg als Folge der Reform der Rolle der Judikative im Staat. Tatsächlich war in der Tradition des liberalen Staates, wie er aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist, eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen durch die Gerichte nicht vorgesehen. Aus diesem Grund blieben die Strafgesetze außerhalb der verfassungsrechtlichen Überlegungen, während ihre Anwendung wiederum einer Rechtsprechung vorbehalten blieb, die die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht beurteilen durfte. Dementsprechend entschied allein das Parlament über die Verfassungsmäßigkeit seiner eigenen Gesetze: Wenn das Parlament also ein Gesetz beschloss, konnte diese Entscheidung – vorausgesetzt Form und Inhalt waren so von der Verfassung vorgesehen – von den Gerichten weder 2 Vgl. J. Pérez Royo, Curso de Derecho Constitucional, 3. Aufl., 1996, S. 277 ff.; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 3. Aufl., 1987, S. 87 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 16. Aufl., 1988, S. 144 ff. 3 So H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl., 1996, S. 23 ff. Siehe auch: M. Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 71 ff. und 347 ff. In gleichem Sinne in Italien: G. Marinucci/E. Dolcini, Diritto Penale, PG [= AT], 2002, S. 13 ff.; G. Fiandaca/E. Musco, Diritto Penale, PG, 1990, S. 19 ff. und 154 ff. In Frankreich taucht das Schuldprinzip als verfassungsrechtl. Anforderung an das Strafrecht nicht auf, sondern als Begrenzung der Strafjudikative: vgl. J.-H. Robert, Droit Pénal Général, 5. Aufl., 2001, S. 120 ff.; J. Pradel, Droit Pénal Général, 12. Aufl., 1999, S. 131 ff. 4 So C. Roxin, Strafrecht, AT I, 3. Aufl., 1997, S. 59 ff.
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beurteilt noch aufgehoben werden. Diese Situation stellt den großen Unterschied zwischen der Verfassung der USA und dem politischen System der Französischen Revolution dar. Dies bringt auch Alexis de Tocqueville zum Ausdruck, wenn er den grundlegenden Unterschied zwischen den nordamerikanischen und europäischen (in Wahrheit meint er die französischen) Richtern darin sieht, dass erstere eine ausgeprägte politische Macht besitzen, und dies als Konsequenz daraus folgert, dass „die Amerikaner […] den Richtern das Recht zugestanden [haben], ihre Urteile vor allem auf die Verfassung und weniger auf die Gesetze zu stützen“5. Erst nach der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die vor allem ein Produkt der Verfassungsmodelle Italiens von 1948 und Deutschlands von 1949 ist, hat die Rechtswissenschaft begonnen, sich mit der Qualität des Gesetzes als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Strafrechts zu beschäftigen und die Grenzen ihres Inhaltes zu untersuchen. Die inhaltlichen Aspekte des Strafrechts, wie sie Art. 5, 8 und 9 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 enthalten, wurden indes allenfalls als gut gemeinte Ratschläge gegenüber dem Gesetzgeber verstanden, deren Einhaltung gerichtlich nicht überprüfbar war. Niemand kümmerte sich um die Durchsetzung des ersten Teils des Art. 8, wonach das Gesetz nur „Strafen festsetzen [soll], die unbedingt und offenbar notwendig sind“. Unklar ist auch, ob der Gesetzgeber sich jemals an Art. 5 gehalten hat, nach dem das Gesetz „nur solche Handlungen verbieten [darf], die der Gesellschaft schaden“. Beleg dafür ist die Art und Weise, wie über den möglichen Widerspruch von formeller und materieller Rechtswidrigkeit zu entscheiden war: v. Liszt vertrat, dass ein Richter, der vor einem solchen Widerspruch stand, Ersterer den Vorzug zu geben habe, soweit er „an das Gesetz gebunden [ist] und die Korrektur geltenden Rechts außerhalb seiner Kompetenz liegt“6. Auch heute noch ist es nicht die Aufgabe der Gerichte, den Gesetzgeber zu korrigieren, aber es existiert ein „negativer Gesetzgeber“7, das Verfassungsgericht, welches die Möglichkeit besitzt, ein im Widerspruch zur Verfassung stehendes Gesetz aufzuheben. Zudem war es nicht Sache der Lehre, entsprechend Art. 9 zu überprüfen, ob das Verbot von übermäßiger Härte zur Sicherung der inhaftierte Person, eine Forderung war, die nicht nur den vorläufigen, sondern auch den vollständigen Freiheitsentzug betraf. Die neue Situation hat den Gehalt des Gesetzlichkeitsprinzips nur geringfügig verändert: Es wurden keine Garantien bezüglich des Inhaltes von Strafgesetzen aufgenommen, aber es wurde wenigstens eine neue Konsequenz aus dem Gesetzlichkeitsprinzip bestimmt. Früher verlangte dies lediglich eine lex praevia, scripta und stricta. In dieser neuen historischen Phase wurde darüber hinaus die Notwendigkeit einer präzisen Festlegung von Straftatbeständen (lex certa) deutlich. Welzel 5 De la démocratie en Amérique, 1835 zitiert gem. der Ausgabe von André Jardin, Hrsg., Gallimard, Paris (1986), I, S. 166 (kursiv entsprechend des Originals). 6 F. v. Liszt, stellte fest, dass der materielle Gehalt der Straftat „metajuristischer“ Natur sei, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 140. Vgl. auch zu diesem Problem K. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972. 7 H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 1931, S. 27.
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schrieb 1956 in diesem Sinne, dass die wahre Gefahr, die dem nulla poena-Prinzip bedrohe, nicht die Analogie, sondern die Unbestimmtheit der Strafgesetze sei8. Nichtsdestotrotz meinte Maurer noch 1971, dass eine lex certa überflüssig sei, d. h. eine lex scripta ausreiche9. Zur gleichen Zeit, als die modernen europäischen Verfassungen Gerichtsbarkeiten mit der Kompetenz einführten, Gesetze auf deren Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, hat das Strafrecht eine beachtliche Entwicklung gemacht, bei der neue Tatbestände auf die modernen Formen der Kriminalität reagieren, etwa im Völker- oder Wirtschaftsstrafrecht oder bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In diesen haben aus Sicht des Rechtsstaates die Gesetzmäßigkeitsanforderungen an das Strafrecht zu neuen Problemen geführt.
II. Praktisch alles, was zum Gesetzlichkeitsprinzip erschienen ist, enthält äußerst wichtige Ansätze für die aktuelle Diskussion. Einige unter ihnen lassen einen Bedeutungsverlust dieses Prinzips in den letzten fast drei Jahrzehnten und seine Schwierigkeiten, sich ausreichend Geltung zu verschaffen, erkennen10. In der ursprünglich lateinischen Version des Gesetzlichkeitsprinzips nach Feuerbach wurde lediglich ein präexistentes Gesetz gefordert: nulla poena sine lege, nulla poena sine crimine, nullum crimen sine poena legali11. Diese Anfang des 19. Jahrhunderts aufgestellte These Feuerbachs war wahrscheinlich die erste theoretisch-juristische Formulierung der Forderungen des Art. 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Für Feuerbach war die lex praevia aber vor allem eine Voraussetzung für seine Theorie von der Strafe als psychologischer Zwang: Nur eine bekannte Gefahr kann abschrecken. Nichtsdestotrotz geht die Grundlage des Gesetzlichkeitsprinzips über die Strafzwecktheorie hinaus. Sie findet sich in einer Staatstheorie, die von der aufklärerischen Philosophie und insbesondere von der Idee von Demokratie in der Ausprägung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag beeinflusst ist12. Dementsprechend existiert die Idee, dass Freiheit allein durch den Willen der Allgemeinheit beschränkt werden kann, d. h. durch das Gesetz eines demokratischen Parlaments. Wer dieser Vertragstheorie nicht folgt, bezieht sich auf die Objek-
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Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl., 1956, S. 21. Deutsches Strafrecht, 4. Aufl., 1971, S. 95. 10 Vgl. B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978; Tiedemann, Verfassung und Strafrecht, 1991, S. 36 ff. 11 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl., 1847, § 20 (S. 41). 12 Vgl. W. Hassemer, AK-StGB, 1990, S. 142, mit weiteren Nachweisen. Siehe auch C. Roxin, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 101 ff.; H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 22 ff. 9
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tivitätsgarantie13. Beide Begründungen stehen aber nicht im Widerspruch zueinander, soweit es um die Folgerungen geht. Auch wer nicht den vertragsrechtlichen Ansatz vertritt, hält es dennoch für notwendig, dass die Norm von einem demokratisch legitimierten Legislativorgan stammt. Die Analyse der Entwicklung des Strafrechts im 20. Jahrhundert hilft zu belegen, dass das Gesetzlichkeitsprinzip – mit seinen vier aufgezeigten Aspekten – erheblich durch die historischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts beeinflusst wurde. Diese hatten eine starke Nachwirkung im öffentlichen Bewusstsein und führten letztlich über die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1950 zu einer Europäisierung des Gesetzlichkeitsprinzips, und sogar zu einer noch weiteren Internationalisierung in der UN-Menschenrechtscharta vom 10. Dezember 1948 und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (New York 1966) sowie wiederum zu einer Regionalisierung in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (San José, Costa Rica 1969) und der Arabischen Charta der Menschenrechte von 199414. Diese Verträge haben bedeutende Modifikationen in Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip eingeführt, die ohne Zweifel dessen traditionelles Fundament in seiner Idee von Rechtssicherheit erschüttert haben. So hat etwa die EMRK in ihrem Art. 7 Abs. 1 – neben dem innerstaatlichen – das internationale Recht und in ihrem Art. 7 Abs. 2 die „von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ als Quellen des Strafrechts anerkannt15. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 49), am 7. Dezember 2000 in Nizza verabschiedet, und der europäische Verfassungsvertrag (Art. II-109, 1) haben die dargelegte Linie der Konvention bestätigt, indem sie nämlich als Quelle des Strafrechts nicht nur das nationale, sondern auch internationales Recht zulassen. Sie spezifizieren jedoch nicht, ob es sich dabei um solches aus völkerrechtlichen Verträgen, denen die europäischen Mitgliedsstaaten beigetreten sind, oder um (ggf. auch ungeschriebene) Grundsätze allgemeiner Akzeptanz handelt16. Art. 9 der Amerikanischen Konvention nimmt hierbei in besonders mehrdeutiger Weise Bezug auf das „anwendbare Recht“, lässt dabei aber offen, welches Recht damit gemeint sei. Die Internationalisierung des Gesetzlichkeitsprinzips hat also eine beachtliche Ausweitung der Quellen des Strafrechts mit sich gebracht und dabei auch Quellen des Völkerrechts eingeführt, die viel weiter sind und so die Gesetzlichkeit als Idee der Rechtssicherheit und in der Konsequenz auch die Anforderungen an eine lex 13
Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, S. 73. Siehe diesbzgl. auch: M. Köhler, Strafrecht, 1996, S. 76 f. 14 Noch nicht in Kraft. 15 In diesem Sinne: Art. 15.2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, New York 1966. 16 Das französische Recht akzeptiert beispielsweise die Anwendung seiner internen Strafen auf die Fälle der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Ex-Yugoslawien und Ruanda, wie im Völkerrecht definiert. (Gesetze Nr. 95-1, vom 2. 1. 1995 und Nr. 96-432, vom 22. 5. 1996). Siehe: J.-H. Robert, Droit Pénal General, 5. Aufl. 2001, S. 109.
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scripta und lex praevia relativieren17. Auf der anderen Seite hat auch die Rechtssicherheit im innerstaatlichen Strafrecht an Bedeutung verloren, die Justiz jedoch auf Kosten der Sicherheit und Freiheit an Bedeutung dazu gewonnen, was etwa auch außerhalb des Bereichs staatlicher Kriminalität gegen Menschenrechte in einzelnen Auslegungen der Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtsprechung offenbar wird.18 Durch das Aufgreifen der allgemeinen, von den „zivilisierten Völkern“ anerkannten Rechtsgrundsätze in Art. 7 Abs. 2 EMRK, sollten bekanntermaßen die Nürnberger Prozesse legitimiert werden. Dies wird aus den Veröffentlichungen des Sachverständigengremiums vom 24. 02. 1950 deutlich19. Wahrscheinlich war es die gleiche Idee, die auch die anderen Völkerverträge über Menschenrechte inspiriert hat. In diesem Punkt bestehen enorme Unterschiede zwischen dem Umfang der internationalen und der ihnen korrespondierenden nationalen Gesetzlichkeitsprinzipien. Insbesondere hatte sich Deutschland ursprünglich ausdrücklich bezüglich des Art. 7 Abs. 2 EMRK vorbehalten, dessen Gehalt so aufzufassen, dass er nicht von den Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG abweicht, soweit Art. 7 EMRK in nationales Recht, wenn auch nur mit Gesetzesrang, überführt wurde20. Es ist schwer zu sagen, was die „von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ in der aktuellen Staatspraxis bedeuten, da die Staaten selbst sich stets als zivilisiert angesehen haben. Es kann aber nicht ignoriert werden, dass die USA – unter absurder Verweisung darauf, dass Verfassungsgarantien den Staat nur auf seinem Staatsgebiet binden würden – geheime Foltergefängnisse in einigen europäischen Staaten errichtet hatten und immer noch offensichtlich nach allen Rechtsordnungen rechtwidrig21 ein Gefängnis für mutmaßliche Terroristen in ihrer Militärbasis Guantánamo betreiben. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass anscheinend 46 % der Nordamerikaner für die Folter sind22. Es widerspricht dem juristischen 17
Vgl. G. Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 52 ff. Außerhalb dieses Bereichs ist die Entscheidung des Plenums der Sala de lo Penal del Tribunal Supremo vom 29. 11. 2005 bezeichnend, in der festgestellt wurde, dass der Wochenendarrest abzulehnen ist und für solche Delikte, für die nur diese Strafe in Betracht kam und der Gesetzgeber keine Ersatzstrafe vorgesehen hatte, eine von den Gerichten als gleichwertig bezeichnete Strafe verhängt werden konnte. Es ist nicht zu übersehen, dass das Tribunal Supremo damit eine legislative Aufgabe wahrnimmt, die mit dem in der Verfassung verankerten Prinzip der Gewaltenteilung nicht vereinbar ist. 19 Vgl. J. A. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, S. 327. 20 Vgl. A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB Kommentar, 26. Aufl., 2001, § 1 Rn. 3. Siehe auch: H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl., 1996, S. 133. Dieser Vorbehalt wurde mit Erklärung vom 1. Oktober 2001 zurückgezogen. 21 Vgl. El País (Madrid) vom 6. 12. 2005, S. 4 und 5. 12. 2005, S. 4. Siehe auch den Artikel von Ana Barón über die Untersuchungen der Washington Post, in Clarín (Buenos Aires), 19. 11. 2005, S. 50 und den von Soledad Gallego Díaz, in El País (Madrid), 18. 11. 2005, S. 19. 22 Vgl. La Nación (Buenos Aires), 18. 11. 2005. Es entspricht auch nicht dem Charakter zivilisierter Länder, wenn die Regierungen der EU mit den USA ein Abkommen geschlossen haben, Stillschweigen über die Nutzung ihrer Flughäfen und Lufträume durch die CIA zur 18
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Grundverstand, wenn im Vereinten Königreich das House of Lords im Jahre 2005 gezwungen war, das Urteil eines englischen Berufungsgerichts aufzuheben, welches die Verwertbarkeit von Beweisen bejahte, die aufgrund von Folter gewonnen wurden, solange diese nicht von Hoheitsträgern des Vereinten Königreichs ausgeführt worden war.23 Bekanntermaßen spielte diese Frage im Bereich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Zuhilfenahme des staatlichen Machtapparats eine große Rolle und relativiert damit die Garantien, etwa die der lex scripta und lex praevia. Das Gewicht der Taten hat bei dieser Form der Kriminalität eine besondere Bedeutung. Es bestehen keine Zweifel, dass es sich um Tatbestände handelt, deren Strafandrohung eindeutig im Widerspruch zur formellen Gesetzesmäßigkeit stehen kann. Staatliche Verstöße gegen die Menschenrechte sind tatsächlich moralisch höchst verwerflich, aber in der Regel formal „gerechtfertigt“, soweit sie gesetzlich oder durch einen Funktionär im Rahmen der geltenden (rechtswidrigen) Rechtsordnung eines scheinbaren Rechtsstaates angeordnet werden. Eine bedeutende Ursache dieser Tendenz ist etwa in der Relativierung des Rückwirkungsverbots bezüglich der Verjährung von Schwerstkriminalität auszumachen. Ein Beispiel dafür liefert das deutsche BVerfG in seiner Entscheidung vom 26. 02. 1969 (BVerfGE 25, 269), nach der kein Vertrauensschutz bezüglich Verjährungsfristen bestehe24, weil hinsichtlich dieser das Vertrauen in den Bestand der Rechtlage „nicht schützenswert“ sei und der Gesetzgeber im Fall der Verjährung den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zugunsten letzterer auflösen durfte. Auf diesem Wege wurde die UN-Konvention vom 26.11.98 über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Rechtsprechung rückwirkend in geltendes Recht überführt25. Desweiteren wurde in der Lehre erwogen, dass die Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips in diesem Bereich zu offensichtlich ungerechtfertigten Ergebnissen führe und mithin dort nicht gelten solle. Die weitgehendste Ansicht in diesem Problemkreis will gar einen „vierten Weg“ gehen und die Prinzipien des Gesetzlichkeitsprinzips bei Staatskriminalität außer Acht lassen26. In diesem Sinne meinte etwa Naucke, dass die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze im positivistischen Sinne angesichts dieser schweren Form der Kriminalität eine ungerechtfertigte Privilegierung sei: „Die aktuelle juristische Strafrechtsdogmatik besagt, sie sei eine Überführung mutmaßlicher Terroristen in geheime Gefängnisse zu bewahren. Die Beschwerde des Europäischen Rats über den Mangel an Informationen trotz Anfrage sagt in diesem Sinne alles (siehe El País (Madrid), 22. 1. 2006, S. 2 und 3). 23 Vgl. El País (Madrid) vom 9. 12. 2006, S. 9. 24 Das Urteil bezieht sich auf das Strafverjährungsfristengesetz vom 13. 4. 1965, wodurch die Verjährungsfrist für Mord während des Naziregimes bis zum 31. 12. 1969 verlängert wurde. 25 Im spanischen Recht legt Art. 131.4 CP diese Regel fest. 26 Vgl. W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996, S. 65 ff. und 82 ff.
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Friedensdogmatik, eine Dogmatik der Strafbarkeit von A und B. Wenn diese auf einen Täter angewandt wird, der sich des Staatsapparats bedienen kann oder zumindest diesen hinter sich weiß, befindet er sich juristisch in einer besseren Position, als er sollte“27. Das heißt: „Die Staatskriminalität ist ein Problem des Naturrechts.“28 Die europäische Rechtsprechung hat es bisher nicht geschafft, die Anwendung bestimmter Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips für diese Art der Kriminalität zu unterbinden. Der EGMR hat das Gesetzlichkeitsprinzip allgemein verstanden, also ohne es bei staatlich begangenen Delikten zu beschränken, hat es aber gleichzeitig dergestalt nuanciert, dass es ihm erlaubt war, Straflosigkeit von Taten zu vermeiden, die zwar nicht dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Recht, aber fundamentalen Werten der internationalen Gemeinschaft widersprachen. Insoweit als das hinsichtlich des Strafrechts relevante Völkerrecht dem Schutz der Menschenrechte dient, betreffen die Beschränkungen der Folgen des Gesetzlichkeitsprinzips auch die Staatskriminalität gegen Menschenrechte und nicht bloß die in der Zuständigkeit der IStGH liegenden Delikte. In der Rechtsprechung des EGMR hat sich die Notwendigkeit eines „vorher bestehenden“ Gesetzes dergestalt verändert, dass ein bestehendes Gesetz i.S.d. geltenden Völkerrechts rechtmäßig sein muss. D.h., das Strafrecht verlangt vom Bürger, dass dieser nicht nur nach den in seinem Staat geltenden Regeln handelt, sondern sich auch entsprechend der ungeschriebenen Rechtsgrundsätze und des Völkergewohnheitsrechts verhält, von denen kein Staat abweichen kann29. Kurz gesagt: Das Gesetz kann im Strafrecht nicht ohne weiteres als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden. Dabei handelt es sich um keine neue Erkenntnis. Schon die Völkerrechtskommission vertrat während ihrer zweiten Sitzungsperiode 1950 entsprechende Ansichten, als sie für die durch die Statuten und die Nürnberger Prozesse anerkannten Völkerrechtsgrundsätze plädierte. Entsprechend des Grundsatzes II dieser Stellungnahme befreit die „Tatsache, dass das innerstaatliche Recht keine Strafe für eine Tat vorsieht, die nach völkerrechtlichen Regeln verboten ist, nicht von der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit desjenigen, der die Tat begangen hat“30. Der EGMR hat unlängst diese Ansicht bestätigt und festgestellt, dass es unzulässig ist, sich zur Rechtfertigung auf die staatlichen Befehle in der ehemaligen DDR zu berufen, die den Grenzsoldaten auftrugen, Bürger festzunehmen oder zu erschießen, die ohne Erlaubnis die Grenze überqueren wollten. Solche Befehle stellten, laut EGMR, einen „Verstoß gegen die Pflicht, die Menschenrechte zu achten, und gegen andere völkerrechtliche Pflichten“ durch den Staat dar (Fälle Streletz, Kessler und Krenz, § 73 und K.-H. W., § 67, beide vom 22. 3. 2001) und „waren eine offen27
A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 26. 29 Vgl. EGMR, Fälle Streletz, Kessler und Krenz, vom 22. 3. 2001 und K. H. W. vom gleichen Tag. 30 Diese Frage war auch Gegenstand des Eichmann-Prozesses. Vgl. H. Arendt, Eichmann à Jérusalem (Übersetzung aus dem Englischen von Anne Guérin), 1997, S. 431 ff. 28
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kundige Verletzung der sich auf Art. 19 und 30 der DDR-Verfassung gründenden Menschenrechte“ (Fälle K.-H. W. ./. Deutschland, §§ 48 ff., 67; entsprechend: Fall Streletz/Kessler/Krenz ./. Deutschland, §§ 67/73).
III. Wenn man die Rechtsprechung des EGMR betrachtet, stellt man außerdem fest, dass man nur mit Zurückhaltung sagen kann, dass das geschriebene Recht die einzige Quelle des Strafrechts sei. Schon die Europäische Menschenrechtskommission31 hatte auf der Basis von Art. 7 Abs. 1 EMRK festgestellt, dass die Verschriftlichung der Tatbestandsmerkmale eines Delikts nicht entscheidend sei, und dass etwa in den Ländern des common law besagte Prinzipien nicht verletzt seien, wenn die Verurteilung aufgrund eines ungeschriebenen Delikts erfolge, dessen Voraussetzungen und Folgen sich klar aus der Rechtsprechung ergeben32. Es ist offensichtlich, dass diese Entscheidung erfolgte, um das Vereinigte Königreich nicht aus der Konvention auszuschließen. In jüngster Zeit hat der EGMR geäußert, dass das Wort „Recht“, wie es in Art. 7 Abs. 1 EMRK auftaucht, sowohl als geschriebenes, als auch als ungeschriebenes Recht verstanden werden kann.33 Damit wird ein klarer Widerspruch zwischen dem europäischen Gesetzlichkeitsprinzip und dem der europäischen Staaten, wie Deutschland34, Italien35, Spanien36 oder Portugal37 deutlich, die als Konsequenz aus dem Erfordernis einer lex scripta das Gewohnheitsrecht aus den Quellen des Strafrechts ausnehmen. Die vom EGMR vertretene Position ist schwer mit dem traditionellen politischen Fundament der Forderung nach geschriebenem Recht vereinbar, weil das ungeschriebene, insbesondere das Gewohnheitsrecht, von keiner demokratisch legitimierten Stelle stammt38. Es ist offensichtlich, dass der EGMR, wenn er von ungeschriebenem Recht spricht, stillschweigend von Gewohnheitsrecht und den „von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ ausgeht. Jedoch widerspricht die Anwendung dieser Grundsätze, die mangels gesetzlicher Regelung äußerst unpräzise sind und denen es an einer Verabschiedung durch 31
Entscheidung 8710/79. Vgl. J. A. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, S. 323. 33 Siehe die bereits in Fußnote 12 angegebenen Urteile. 34 Vgl. statt aller: A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., 2001, § 1 Rn. 9 f. 35 Vgl. M. Romano, Commentario Sistemático del Codice Penale, I, 1987, S. 39; auch: Crespi/Stella/Zuccalà, Comentario breve al Codice Penale, 2002, S. 3; G. Fiandaca/E. Musco, Diritto Penale, PG, 1990, S. 28. 36 Vgl. E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal, PG, 5. Aufl., 1998, S. 80 f.; S. Mir Puig, Derecho Penal, PG, 7. Aufl., 2004, S. 116. 37 S. J. de Figueiredo Dias, Direito Penal Português, 1993, S. 71. 38 In gleichem Sinne: G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, S. 73; H.-L. Schreiber, a.a.O., S. 217 ff. 32
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ein nationales oder supranationales demokratisch legitimiertes Organ mangelt, offensichtlich dem vertraglichen Fundament des Gesetzlichkeitsprinzips, wie auch seiner Funktion im Rahmen der Strafzwecktheorie und der Objektivitätsgarantie. Schreiber39 stellt fest, dass „bei der gegenwärtigen Verfassungslage (…) der Demokratiegedanke sicher ein ganz wesentliches Element des nulla-poena-Prinzips (bildet): Das Recht zum Erlaß von Strafgesetzen liegt allein bei der Volksvertretung.“ Leider ist der EGMR wenig klar in der Herleitung seiner Rechtsprechung bezüglich des ungeschriebenen Rechts. In den genannten Entscheidungen der Fälle Streletz, Kessler und Krenz c/Deutschland und K.-H.W. c/Deutschland vom 22. März 2001 hat das Gericht festgestellt, dass aus dem Gesetzlichkeitsprinzip bezüglich der Delikte und Strafen folgt, dass „ein Verstoß klar im Gesetz definiert“ sein muss (§§ 50 bzw. 45 des jeweiligen Urteils). Erstaunlicherweise hat ihn das nicht davon abgehalten, in eben diesen Entscheidungen festzustellen, dass „Art. 7 Abs. 1 der Konvention geschriebenes und ungeschriebenes Recht“ meint (§§ 57 bzw. 52), was vermuten lässt, dass er „ungeschriebene Gesetze“ inbegriffen wissen will. In diesem Fall hatte das Gericht als ungeschriebenes Recht die Übung angesehen, die „zum maßgeblichen Zeitpunkt die Normen des geschriebenen Rechts überlagert“ (§ 67). Dadurch, dass der EGMR die ungeschriebenen Gesetze unter den Begriff des „inländischen und internationalen Rechts“ des Art. 7 Abs. 1 der Konvention fasst, hat er es unzweifelhaft abgelehnt, auf Art. 7 Abs. 2 zurückzugreifen, bezüglich dessen der verklagte Staat (Bundesrepublik Deutschland) einen (zu diesem Zeitpunkt noch wirksamen) Vorbehalt während der Ratifizierung formuliert hatte40. Diese Entscheidungen besitzen insoweit Tragweite, als der EGMR in ihnen die Frage geklärt hat, ob eine lex praevia existiert, die eine Strafbarkeit der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 7 EMRK in der Fassung von 1950 (vergleichbar mit Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte) begründet. Eigentlich bestand die dem EGMR vorgelegte Frage darin, zu klären, ob eine Änderung der Auslegungspraxis eines Rechtfertigungsgrundes nach Begehung der Tat zuungunsten des Beklagten das Prinzip der lex praevia verletzt41. Der EGMR ist indes, anstatt sich den Problemen der Nichtrückwirkung des Gesetzes anzunehmen, bei der Lösung des Problems von seiner Vorstellung von ungeschriebenem Recht ausgegangen, was für den Fall wahrscheinlich unnötig war und darüber hinaus für Verwirrung gesorgt hat. Wenn einige Stellen des EGMR-Urteils sich auf „richterliche Auslegung“ und auf „Rechtsprechung als Rechtsquelle“ (§ 50) beziehen, so ist sicher, dass seine Schlussfolgerungen – soweit sie die ungeschriebene „Praxis“ der ehemaligen DDR meinen, gewisse Delikte nicht zu verfolgen – direkt auf Gewohnheitsrecht sowie auf der Tatsache beruhen, dass innerstaatliches Gewohnheitsrecht keine im Völkerstrafrecht gültigen Rechtfertigungsgründe schaffen kann. Es ging mithin nicht darum zu entscheiden, ob eine Tat strafbar, sondern ob 39
A.a.O., S. 218 f. Bezüglich dieser Anwendung des Art. 7 EMRK, Frowein, a.a.O. 41 Vgl. BGHSt 39, S. 27 ff.
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deren innerstaatliche Straffreiheit im Lichte des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts zulässig war. Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass innerstaatliche gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe hinter Völkerrecht inkl. internationalem Gewohnheitsrecht zurücktreten können. In diesem Punkt stimmt der EGMR mit der Doktrin des Entwurfs eines „Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ der Völkerrechtskommission von 1996, Art. 14, überein, der hinsichtlich der Strafbefreiung auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze verweist. Dennoch war aus Sicht des Völkerrechts nicht ohne Weiteres klar, welches das anwendbare Völkergewohnheitsrecht sei, und der EGMR machte keine Anstalten, diese Zweifel zu beseitigen. Betrachtet man die Urteile vom 22. März 2001 anhand der Grundsätze der Völkerrechtskommission von 1950, so stellt eine Tat nur dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wenn sie gegen den Frieden oder als ein Kriegsverbrechen begangen wird (Prinzip VI). Demgegenüber konnten diese Taten gemäß Art. 18 des Entwurfs eines „Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ von 1996 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden, wenn ihre Begehung, entsprechend Art. 18, „systematisch oder in großem Maße und angestiftet oder gelenkt von einer Regierung oder einer politischen Organisation oder Gruppe“ erfolgte. Dabei widersprachen sich nicht nur die Wortlaute, sondern der letztgenannte Entwurf enthielt in seinem Art. 13 sogar eine selbstwidersprüchliche Regel über die Nichtrückwirkung seiner Vorschriften, die später eine klarere Fassung in Art. 24 des Statuts des IGHSt erfahren hat. Diese Regelung, die einen Grundsatz des aktuellen Völkerstrafrechts darstellt, würde offensichtlich die Anwendung der neuen Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Taten vor 1996 erschweren. Auf diese Frage ist der EGMR nicht eingegangen. Andererseits war der Text von 1950 für den Beklagten günstiger, und es hätte schließlich der Grundsatz des Art. 24 Abs. 2 des Status des IGHSt Anwendung finden müssen, der besagt, dass bei Änderungen immer das günstigere Recht Vorrang hat.42 Technisch präziser, wenn auch nicht unumstritten, stellt sich die Argumentation des deutschen BGH dar, der bei der Lösung des Falles in der nationalen Rechtsprechung eine andere Perspektive eingenommen hat. Die Angeklagten (und am 3. 11. 199243 Verurteilten) dieses Prozesses haben, wie dargestellt, einen Verstoß gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) geltend gemacht, der daraus folge, dass die Normen anders ausgelegt würden, als zur Zeit der Tatbegehung. Mit anderen Worten: Die Beklagten meinten, das bei Begehung der Tat geltende Recht sei dasjenige, welches in seiner Auslegung durch die zuständigen Organen dieser Zeit galt. Der BGH meinte demgegenüber, es sei „allein entscheidend, ob 42
Es bleibt natürlich zu diskutieren, ob die Entscheidung des EGMR oder die letzte nationalgerichtliche ausschlaggebend ist. In jedem Fall stellt das Gebot der Rückwirkung des günstigeren Gesetzes zweifelsohne einen Grundsatz des Strafrechts dar. 43 BGHSt 39, 1 ff.
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die Strafbarkeit gesetzlich vor Begehung der Tat festgeschrieben“ war44, und fügte hinzu, dass „der Richter […] bei dieser Feststellung nicht an die bloß faktische Auslegung gebunden [ist], die in der staatlichen Praxis dieser Zeit zum Ausdruck kommt“45. Mit anderen Worten: Das Einzige, was das Konzept der lex praevia verlangt, sei, dass der Gesetzestext formal schon bei Begehung der Tat in Kraft war; im Gegensatz dazu könne dessen Auslegung – auch radikal – wechseln, ohne das strafrechtliche Rückwirkungsverbot zu tangieren. Diese Frage weist offenkundig Parallelen zur Frage der Rückwirkung von nachteiliger Rechtsprechungsänderung auf. Giuliano Vassalli hat kürzlich auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht, als er feststellte, dass „durch die Erhebung der Auslegungsmacht der Richter, […] die Gefahr [entsteht], das Rückwirkungsverbot allein auf die Gesetze zu beschränken, den Inhalt der Festsetzungen aber ernstlich zu vergessen“46. Das Urteil des EGMR enthält darüber hinaus auch noch andere Aspekte, die Beachtung verdienen. In der Rechtsprechung des EGMR ist die Notwendigkeit einer lex praevia im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK mit der Frage nach der Vorhersehbarkeit von Bestrafung aus der Sicht des Täters verbunden. Das zieht den Grundsatz in Zweifel, dass das Gesetz rechtmäßig sein muss, und zwar unabhängig davon, ob der Bürger aufgrund der Unbestimmtheit des Gesetzestextes tatsächlich irrte oder nicht. Das Kriterium der Vorhersehbarkeit darf nicht von der konkreten Vorstellung des Bürgers abhängen, sondern betrifft allein die Konkretisierung des Verbots im Gesetz, d. h. die Festlegung des Verbotsinhalts entsprechend der Anforderung einer lex certa. Diese Betrachtungsweise des Problems kommt in den zitierten Entscheidungen Streletz, Kessler und Krenz und K. H. W. (§§ 77 ff. bzw. 68 ff.) nicht zum Ausdruck, in denen festgestellt wurde, dass die Gesetzestexte, auf die die Verurteilung der Beschwerdeführer gestützt wurde, „allen zugänglich“ und nicht bloß „unbekannte Vorschriften“ waren, weswegen ein solcher Irrtum über die Gesetze, der zur Unvorhersehbarkeit der Verurteilung führen würde, nicht möglich war. Diese wenig plausible Mischung von Argumenten der Notwendigkeit einer lex certa und des vermeidbaren Rechtsirrtums kommt wahrscheinlich aus dem französischen Recht, wo man immer noch glaubt, dass der Spruch „nul n’est censé ignorer la loi“ das Strafrecht regiert und wo der neue Art. 122-3 des Code Pénal dazu bestimmt ist, „in der Praxis auf die Fehler, die die Unklarheit technischer Anweisungen aus dem Bau, der Umwelt, der Steuergesetzgebung, dem Konsum, dem Arbeitsrecht etc. verursacht haben, angewandt zu werden.“47 Zusammenfassend reduziert die Auslegung des europäischen Gesetzlichkeitsprinzips durch den EGMR den Grundsatz nullum crimen nulla poena sine lege des innerstaatlichen Rechts erheblich und entfernt sich von der demokratischen Grundlage, die diesem im nationalen Recht zuerkannt wird. Das Konzept der lex 44
Die Strafbarkeit der Tat war in § 90 des StGB der DDR festgeschrieben. A.a.O., S. 29. 46 Formula di Radbruch e diritto penale, 2001, S. 300. 47 J.-H. Robert, a.a.O., S. 309. 45
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praevia im Völkerstrafrecht und der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen bezieht sich, noch vor einem förmlichen Parlamentsgesetz, auf das mit universellen Werten vereinbare und aus diesen abgeleitete Recht48. Darüber hinaus hat der Begriff der lex stricta praktisch keine Bedeutung im Völkerstrafrecht. Die Bedeutung der Gesetzlichkeit erleidet demnach heutzutage beachtliche Verluste und dies unzweifelhaft im Namen der Gerechtigkeit. Aber wie Vassalli sagt: „Alles Entfliehen vom positiven Recht [im Namen der Gerechtigkeit] ist eine Flucht auf der Suche nach Gerechtigkeit oder in ihrem Namen. Es wäre vorzugswürdig, wenn diese Suche nach Gerechtigkeit ausschließlich dem Gesetze dienen würde.“49 Diese Vorstellungen, die aus der Notwendigkeit, die Nürnberger Prozesse vor den traditionellen Grundsätzen rechtfertigen zu müssen, entstanden sind,50 waren nachvollziehbar, solange der IGHSt nicht existierte. Heutzutage erweisen sie sich als äußerst bedenklich. Art. 21 des Statuts des IGHSt ist wahrscheinlich überflüssig und erscheint wie eine Legitimationsnorm der Vergangenheit, wenn doch das Statut auch die Anforderungen der lex scripta, praevia und certa erfüllen kann, mit der Einschränkung, dass es unter letzterem Aspekt offensichtlich Defizite aufweist. Konsequenterweise macht es heute wenig Sinn, auf der Ausweitung der strafrechtlichen Quellen, inklusive des Gewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu bestehen.
48 Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist die in dem Urteil des Tribunal Supremo Argentiniens vom 14. 6. 2005, Fall „Simón, Julio y otros“ aufgeworfene. Es geht in dem Urteil im Endeffekt darum, bis zu welchem Punkt ein Gesetz, welches durch dasselbe Gericht (Urteile: 310, 162) als verfassungsgemäß aufgrund des gesetzgeberischen Willens Amnestien zu ermöglichen, festgestellt wurde, durch eine lex posterior ungültig werden könne, die die Interamerikanische Konvention zum Schutz gegen das Verschwindenlassen umsetzte. Das Gericht stellte fest, dass „alle Amnestie[n]“ (…) auch die als verfassungskonform bezeichneten, „den Bestimmungen der Amerikanischen Konvention über Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte widersprechen und damit verfassungsrechtlich unerträglich sind (Art. 75, inc. 22 CN)“ (Considerando 16). Das Gericht hat sich auf keine ausdrücklichen Bestimmungen dieser Verträge gestützt, sondern auf die Auslegung der diese respektierenden Organe. Die Probleme des ne bis in idemPrinzips und des Verbots der Doppelbestrafung wurden nicht berücksichtigt. Die Tatsache, dass jeder Richter eine Begründung des Urteil abgegeben hat, sowie die eine Gegenstimme, zeigen die juristische Komplexität der Entscheidung, deren Bewertung aus Sicht der Gerechtigkeit nur positiv und moralisch tröstend ausfallen kann, wobei nicht verschwiegen werden darf, dass sie auf der anderen Seite aus juristischer Sicht gewisse Alarmglocken klingeln lässt. Zu den juristischen Fragen des argentinischen Falls siehe: M. Sancinetti/M. Ferrante, El Derecho Penal en la protección de Derechos Humanos, 1999; M. Sancinetti, in Libro de Homenaje a Enrique Bacigalupo, 2004, I, 811 ff. 49 A.a.O., S. 313. 50 Vgl. die Kritik v. L. Jiménez de Asúa a los juicios de Nürnberg, Tratado de Derecho Penal, II, 4. Aufl., 1964, S. 1217 ff.
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IV. Im Bereich der modernen Kriminalitätsformen, insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht, hat sich das Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls relativiert. Hier stellt sich das Problem im Bereich der lex certa und lex scripta. Das Strafrecht des letzten Vierteljahrhunderts zeichnet sich durch eine zunehmende Kriminalisierung verschiedenster Bereiche des wirtschaftlichen und unternehmerischen Lebens aus, in denen traditionell allein damit zu rechnen war, vor den Zivilgerichten zur Verantwortung gezogen zu werden. Als Beispiele aus dem geltenden spanischen Strafrecht können die folgenden Delikte angeführt werden: Die schwere Schädigung des Gleichgewichts eines Ökosystems (Art. 325 CP) oder die Schädigung des biologischen Gleichgewichts (Art. 333 CP) waren im klassischen Strafrecht nicht strafbar und sind nach Ansicht von Roxin51 „extrem vage“ formuliert. Die Verschmutzung eines Flusses z. B. war – wenn diesbezüglich ein ausreichendes soziales und politisches Bewusstsein existierte – hinsichtlich möglicher Vermögens- und Personalschäden dem zivilrechtlichen Haftungssystem unterworfen. Nur die Vergiftung des Wassers war ein Kriminaldelikt. Der Abschluss von verbotenen Verträgen für ein Unternehmen in rechtsmissbräuchlicher Weise (Art. 291 CP), die Kompetenzüberschreitung ihrer Geschäftsführer (Art. 295 CP) oder der Missbrauch von geheimen Informationen (Art. 285 CP) waren u. a. bloß Fragen, die die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der jeweiligen Akte betrafen und ebenfalls ausschließlich zu einer zivilrechtlichen Haftung führten, ebenso wie gewisse Verletzungen von Sicherheitsbestimmungen oder die Handhabung von gefährlichen Stoffen. Diese Bereiche wurden, neben anderen, direkt in das Strafrecht übernommen. Andere, wie z. B. die mögliche Verantwortlichkeit eines Wirtschaftsprüfers für unterlassene Pflichtenerfüllung, die nicht ausdrücklich im Strafrecht enthalten sind, können über die (widersprüchlich formulierte) Formel des Art. 11 CP pönalisiert werden, die es ermöglicht, diejenigen Unterlassungen strafrechtlich zu verfolgen, die Schäden produziert oder zu verhindernde Straftaten nicht verhindert haben. Es soll nun nicht darum gehen, den Verdienst des Strafrechts in diesem Bereich zu relativieren, sondern die Gesetzgebungstechnik zu analysieren. Diese Normen unterscheiden sich vom klassischen Strafrecht durch ihre „Unsichtbarkeit“ und „Immaterialität“. Mit Unsichtbarkeit soll Bezug genommen werden auf die Vorherrschaft der normativen Merkmale in der Struktur der Tatbestände einschließlich der traditionell nicht als normativ eingestuften Tatbestandsmerkmale, wie der Kausalität, die mit dem technischen Fortschritt derart an Komplexität gewonnen hat, dass sie sich, etwa im Umweltstrafrecht, in ein schwer überschaubares und von einer Sachverständigenprüfung abhängiges Kriterium verwandelt hat, wobei auch die Interpretation und Bewertung letztgenannter Prüfungen alles andere als einfach ist. Unter diesem Umständen entstehen für die Konsequenzen des Gesetzlichkeitsprinzips (die Erfordernisse einer lex praevia, lex scripta, lex certa und lex stricta) 51
Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 18.
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besondere Schwierigkeiten, da sie in erster Linie in Hinblick auf die „sichtbaren“ Delikte entwickelt wurden, denen ein bestimmtes Beweisstück im Sinne der Strafprozessordnung zugewiesen ist. D.h. wir nehmen nicht wahr, was v. Liszt mit dem strafrechtlichen Handlungsbegriff wie folgt als Voraussetzung für alle Delikte beschreibt: „Als Ereignis der Sinnwelt ist es die an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit erfolgende Bewirkung einer sinnfälligen Veränderung an einzelnen bestimmten Personen oder Sachen durch willkürliche Körperbewegung“52. Der klassische Prototyp eines Delikts wurde für Straftatbestände entwickelt, die aus bekannten Tatbestandsmerkmalen aufgebaut sind, deren Erfüllung anhand objektiver Feststellungen oder zumindest äußerlich wahrnehmbarer Indizien (Verletzte, Tote, Verletzungen, Fingerabdrücke, Blutflecken, Schießpulverreste, Waffen, Schäden an Wänden, Fenstern etc.) ermittelt werden kann. Beispielsweise verfügt die Geldwäsche (Art. 301. 1 CP) aber weder über ein gegenständliches Objekt, an dem sich ein wahrnehmbarer, durch die Verbotsverletzung hervorgerufener Schaden ausmachen lässt, noch existieren Anknüpfungspunkte im klassischen Sinne der Beweislehre. Das „Beweisstück“ dieser Delikte sind keine wahrnehmbaren Merkmale, sondern Dokumente, die sich nach außen nicht von denen unterscheiden, die legale Finanzoperationen verzeichnen; ihre strafrechtliche Bedeutung ist nicht durch eine sinnliche Wahrnehmbarkeit gekennzeichnet, sondern bedarf einer sachverständigen Prüfung, die ihrerseits interpretiert werden muss. Das gleiche gilt mutatis mutandis für Steuervergehen. In diesen Fällen erfolgt die Verbotsbeschreibung fast ausschließlich über den Gebrauch von normativen Tatbestandsmerkmalen. Natürlich gibt es zwei Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips, die von dieser Entwicklung nicht berührt werden. Weder die lex praevia, noch die lex scripta stehen in Beziehung zu den Tatbestandsstrukturen des Wirtschaftsstrafrechts. Folglich bedarf es hier keiner näheren Beschäftigung mit ihnen. Die bedeutendere Problematik liegt, wie bereits gesagt, in der Ausgestaltung der Tatbestände durch den Gesetzgeber (lex certa) und in der Gesetzesauslegung durch die Gerichte (lex stricta). Diese Probleme wurden im Allgemeinen bereits im Bereich des traditionellen Strafrechts mehr oder weniger klar voneinander abgegrenzt. Die Differenzierung, die in dem Verbot von Generalklauseln (lex certa) und im Verbot von Analogien (lex stricta) zum Ausdruck kam, büßt zweifelsohne durch die Gesetzgebungstendenzen an begrifflicher Präzision ein – sofern diese jemals konsequent beachtet wurde53 – und erfährt durch die Verfassungsgerichte eine Vollendung, wenn diese sich auf das Argument zurückziehen, dass es in manchen Fällen nicht möglich sei, mehr Präzision zu fordern54. In Wahrheit war aber die exakte Unterscheidung der Anforderungen einer 52
Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, I, 1905, S. 241. Eine Bemerkung Schmidhäusers ist in diesem Punkt äußerst instruktiv. Er stellt heraus, dass man nur dann eine Verletzung des Analogieverbots feststellen könne, wenn die Auslegung eine Gesetzeslücke ergibt und dieses dennoch auf Fälle angewandt wird, auf welche es sich nicht erstreckt. Strafrecht, 2. Aufl., 1975, S. 111 ff. 54 Siehe die Kritik der spanischen Verfassungsrechtsprechung bei E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal, 5. Aufl., 1998, S. 93 ff. mit besonderem Bezug auf STC 62/82 (caso 53
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lex certa und einer lex stricta nie einfach, da erstere nämlich genauso von der Gesetzesauslegung abhängig ist wie die zweite. Trotzdem handelt es sich um verschiedene Probleme: Während die Entscheidung darüber, ob die Forderungen nach einer lex certa erfüllt sind, auch getroffen werden kann, ohne dass der Text in Relation zu den Tatsachen gesetzt werden muss, auf die er angewandt werden soll, geht es bei der Frage, ob eine lex stricta vorliegt, immer darum, ob ein gewisser Sachverhalt von dem Gesetzestext erfasst wird oder nicht (bei der Auslegung im Vorfeld). Während es bei ersterem stets um die Frage geht, ob eine zu umfangreiche Übertragung der Konkretisierungsmacht auf den Richter erfolgt, besteht bei zweiterem die Frage, ob eine Auslegung über das Zulässige hinausgeht. Zu Recht meint Peters zu dieser Frage, dass es, wenn man die schwere Kriminalität mit einem Tatbestand erfassen will, nötig ist, ihr eine Formulierung zu geben, die gleichzeitig auch auf solche Taten passt, die nicht eigentlich kriminell sind oder die jedenfalls in diesem Sinne extensiv ausgelegt werden kann.55 Aus diesem Grund – so Peters weiter – stehe der Gesetzgeber vor einem Dilemma: Entweder schafft er sehr bestimmte Tatbestände, muss dabei aber in Kauf nehmen, dass schwere Straftaten aus dem Anwendungsbereich herausfallen können, und damit (bis zu einem gewissen Grad) auf seinen Gerechtigkeitsanspruch verzichten sowie gleichzeitig einen gewissen Vertrauensverlust in die staatliche Strafmacht hervorrufen, oder aber er entscheidet sich für weite Formulierungen, mit denen eine empfindliche Störung des individuellen Handelns einhergeht, weil auch Taten erfasst werden, deren strafrechtliche Verfolgung nicht adäquat erscheint56. Sicher ist aber, dass der Gesetzgeber sich im Allgemeinen weiterhin solcher Formulierungen bedient, deren Konkretisierung in der Hand der Gerichte liegt. Diese Entscheidung gibt der Rechtsprechung eine besondere Verantwortung: Die Gerichte müssen eine Definition für die Tatbestandsmerkmale aufstellen, die der Gesetzgeber nicht oder nicht in angemessenem Maße konkretisieren konnte. So entsteht eine bemerkenswerte Transformation der lex certa-Probleme in Fragen nach einer lex scripta, d. h. eine Verschiebung der originären Verantwortung der Legislative zu den Gerichten. Genau aus dieser Verknüpfung der Finalitäten folgt die Bedeutung des Bestimmtheitsgebots: Es ist nötig, dass das Gesetz (objektiv betrachtet) dem Bürger erlaubt, zu wissen, welches Verhalten verboten ist, und dass die Definition dieses Verhaltens nicht in der Hand des Richters liegt. Unter diesem letzten Gesichtspunkt ist der Zusammenhang zwischen dem Bestimmtheitsgebot und der lex praevia unbestreitbar, es scheint vielmehr offensichtlich, dass die richterliche Bestimmung des Straftateninhalts zeigt, dass das Gesetz bis zum Moment seiner richterlichen Konkretisierung nicht „existiert hat“ und dass es deshalb schwierig wäre, es als eine lex praevia anzusehen. del escándalo público) und STC 122/87 (S. 96). Kritisch bzgl. der deutschen Verfassungsrechtsprechung: B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 7 mit Bezug auf die Urteile BVerfG 4, 358 und 37, 208. 55 Festschr. für Eb. Schmidt, 1961, 488 (494). 56 Ebenda, S. 494.
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V. Die nationalen Strafrechte haben i. d. R. anerkannt, dass das günstigere Strafgesetz rückwirkenden Charakter hat und so dem Angeklagten zugutekommt (z. B. § 2 Abs. 3 deutsches Strafgesetzbuch; § 61 österreichisches Strafgesetzbuch; Art. 112-1 französisches Strafgesetzbuch; Art. 2.2 spanisches Strafgesetzbuch; Art. 2 italienisches Strafgesetzbuch; Art. 2.4 portugiesisches Strafgesetzbuch; Art. 2 Abs. 2 schweizerisches Strafgesetzbuch). Das spanische Recht ist weiter als andere, indem es die Rückwirkung einer günstigeren Norm auch noch während der Vollstreckung einer rechtskräftigen Strafe anordnet. Nichtsdestotrotz wurde dieser Rückwirkung kein Verfassungsrang verliehen. Art. 9.3 Spanische Verfassung erlaubt es, dass das günstigere Strafgesetz zurückwirken kann, schreibt dies aber nicht vor. Ungeachtet dessen hat der Art. 9 des Paktes von San José (Costa Rica 1969) die Rückwirkung des günstigeren Strafrechts als Grundrecht anerkannt. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2005 hat ebenfalls die Rückwirkung aufgenommen (Art. II-109 Abs. 1, Art. 49.1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Nizza vom 7. 12. 2000 aufnehmend). In jedem Fall wäre das Prinzip schon nach Europarecht anwendbar. Es ist aber keine Norm, die auf die nationalen Rechte der Mitgliedsstaaten (Art. II-111) von Einfluss wäre, sondern lediglich im europäischen Strafrecht von Bedeutung ist. Drei Probleme sind hier von Interesse. In allen gibt es starke Diskrepanzen. Erstens: das der rückwirkenden Anwendung von Änderungen von Gesetzen oder Vorschriften, die eine strafrechtliche Blankettnorm betreffen; zweitens: das des Ausschlusses des strafrechtlichen Rückwirkungsgebots in bonam parte in Hinblick auf Maßregeln der Sicherung; und drittens das der Rückwirkung von günstigerer Rechtsprechung, welches insbesondere in Rechtsordnungen der spanischen Tradition von Bedeutung ist, wo die Rückwirkung bis in die Vollstreckungsphase des Urteils reicht (z. B. Art. 2 Abs. 2 argentinisches Strafgesetzbuch; Art. 2 brasilianisches Strafgesetzbuch; Art. 14 panamaisches Strafgesetzbuch; Art. 6 peruanisches Strafgesetzbuch; Art. 15 Abs. 2 uruguayisches Strafgesetzbuch; anders: Art. 5 paraguayisches Strafgesetzbuch, obwohl Art. 14 der Verfassung die begünstigende Rückwirkung für den Verurteilten ebenfalls vorsieht). Bezüglich der Rückwirkung von Gesetzen oder Vorschriften, die einen Blankettstraftatbestand betreffen, etwa Steuergesetzen oder Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht, ist man geteilter Meinung. Die spanische Rechtsprechung hat festgestellt, dass die Verwaltungsvorschriften, die einen Blankettstraftatbestand konkretisieren und eine günstigere Lage für den Angeklagten bzw. Verurteilten bedeuten, rückwirkend angewandt werden müssen57. Die deutsche Rechtsprechung und Lehre ist dem57
Vgl. E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal, citado, S. 104. Die älteste Rechtsprechung des TS schloss die rückwirkende Anwendung eines Gesetzes zugunsten des Angeklagten aus, so STS vom 31. 1. 1871; demgegenüber wurde in SSTS vom 8. 11. 1963 und 25. 9. 1985 die rückwirkende Anwendung bereits anerkannt. In entsprechenden Fragen, wie der Straferhöhung bei Delikten gegen das Eigentum oder Erbe, war die alte Rspr. unentschlossen:
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gegenüber gespalten. Ein Teil meint, man müsse entsprechend der Finalität der Strafnorm unterscheiden: Manche Strafrechtsnormen wollen den Gehorsam gegenüber der ausfüllenden Norm sichern, andere deren Regelungseffekt.58 Im ersten Fall hält man das Rückwirkungsverbot für anwendbar, im zweiten nicht. Ein nicht unbedeutender Teil der Lehre vertritt dagegen – zu Recht – die Auffassung, dass das Entscheidende der Vergleich der bestehenden „juristischen Gesamtsituation“ zwischen dem Zeitpunkt der Begehung der Straftat und dem der Urteilsverkündung sei59. Wenn die Norm, die das Blankettgesetz betrifft, dergestalt modifiziert wird, dass sich eine günstigere Situation für den Angeklagten ergibt, müsse diese angewandt werden. Das Rückwirkungsverbot ist auch im Hinblick auf die Maßregeln der Sicherung problematisch. Im deutschen Recht gilt dieses Verbot für sie nicht, so dass die Maßnahmen der Besserung und Sicherung so zu verhängen sind, wie die zur Zeit der Urteilsverkündung geltenden Regeln dies vorsehen, auch wenn sie erst nach Begehung der Tat eingeführt wurden und sie die Rechte des Angeklagten stärker belasten als die vormalige Rechtslage (§ 2 Abs. 7 StGB). Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung festgestellt, da Art. 103 Abs. 2 GG nur für Strafen gelte, d. h. für die Verhängung einer Strafe aufgrund der Missbilligung und des Vorwurfs eines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens des Täters60. Ein großer Teil der Lehre aber kritisiert diese Ausnahme vom Rückwirkungsverbot bei Maßregeln. Die h.M. meint im Wesentlichen, dass „diese Regelung […] im rechtsstaatlichen Sinne nicht befriedigen [kann]; denn auch Maßregeln bedürfen einer Objektivitätsgarantie (…)“ und „dass Maßregeln keine Strafen sind, besagt nichts über das Gewicht des Eingriffs und die Gefahr des Missbrauchs, wie sich besonders deutlich bei der Anstaltsunterbringung und Sicherungsverwahrung zeigt“61. Schließlich wird auch diskutiert, ob das Rückwirkungsverbot im Hinblick auf Rechtsprechungsänderungen zu Lasten des Angeklagten gilt und ob Änderungen zu dessen Gunsten rückwirkend angewandt werden müssen. Ein Teil der Lehre lehnt das Rückwirkungsverbot bezüglich der Rechtsprechung ab, weil „die Gesetzesauslegung nicht den Sinn einer rückwirkenden Strafverschärfung hat, sondern der Verwirklichung des Gesetzeswillens dient, der immer schon existierte“62. Eine andevgl. J. R. Casabó Ruiz, in: Córdoba Roda/R. Mourullo/Toro Marzal/Casabó Ruiz, Comentarios al Código Penal, II, 1972, S. 56 f. 58 Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT. 59 Vgl. W. Hassemer, in: AK-Kommentar, 1, 1990, § 2 Rn. 36 ff. 60 Vgl. BVerfG, Urteil des zweiten Senats vom 5. 2. 2004. 61 G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., S. 95; in gleichem Sinne: M. Köhler, Strafrecht, AT,1997, S. 98; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl., S. 45; W. Hassemer, in: AKStGB, I,1990, S.193; C. Roxin, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 120. Diese Frage hat sich in Spanien nicht gestellt, wo die Differenzierung des Art. 25.1 CE zwischen „condenado“ und „sancionado“ den Ausschluss von Sicherungsmaßregeln aus der Rückwirkung der günstigeren Norm ausschließen würde. 62 C. Roxin, a.a.O., S.121; B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 27 ff.; mit Einschränkungen A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., 2001, § 2 Rn. 9.
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re Auffassung, der ich mich zurechne63, vertritt demgegenüber, dass das Vertrauensschutzprinzip durch Änderungen der Rechtsprechung genauso verletzt wird wie durch Gesetzesänderungen.64 Dies wird von der These der Einheit von Gesetzestext und dessen Auslegung gestützt. Dieser Gesichtspunkt wurde von der Florenzer Version von 2000 des für die EU geplanten Corpus Iuris aufgegriffen65. Im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip legt der C.I. fest, dass „les changements d’interprétation ne son admis que s’ils étaint raisonnablement prévisibles“. Die Grundlage dieser Norm ist die genannte Auswirkung von Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen auf die Rechtssicherheit, sowie der ergänzende Zusammenhang zwischen dem Gesetz und seiner Auslegung. Die vom C.I. festgesetzte Norm hat, ohne Zweifel, tendenziell positivistischen Charakter. Ihre Grundlage ist aber nicht treffend. Die Grenze der „vernünftigerweisen Vorhersehbarkeit“ einer Änderung ermangelt einer Rechtfertigung, denn die Grundlage der Nichtrückwirkung ist, wie gesagt, ihr Einsatz bei Gesetzesänderungen und konsequenterweise die Objektivitätsgarantie der Gesetzesanwendung. Wenn sich das Rückwirkungsverbot aber auf diese Objektivitätsgarantie gründet, die der Vorhersehbarkeit durch den Bürger nicht bedarf, so ist die durch den C.I. eingeführte Begrenzung schwer akzeptabel66. Die Übereinstimmung der Rechtsprechung eines Revisionsgerichts mit dem ausgelegten Gesetz und die Objektivitätsgarantie, die der Realisierung des Gesetzlichkeitsprinzips dient, erlauben es darüber hinaus, die Rückwirkung der günstigeren Rechtsprechung zu vertreten. Wie bereits aufgezeigt wurde, hat diese Konsequenz eine besondere praktische Bedeutung in den Ländern der spanischen Rechtsfamilie, wo die Rückwirkung des günstigeren Rechts auch den bereits Verurteilten zugutekommt.
VI. Die klassischen Fragestellungen des Gesetzlichkeitsprinzips schöpfen, wie bereits festgestellt, die verfassungsrechtliche Problematik des Strafrechts nicht aus. Zu Recht wurde gesagt, dass die Verfassungen wenig oder gar nichts über die materiellen Fragen des Rechtsstaatsprinzips im Strafrecht sagen67. Es handelt sich dabei um die bereits angesprochene Frage der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: Welches sind die zwingend notwendigen Verbote und Strafen? 63 Vgl. E. Bacigalupo, in: Ambito e Prospettive di uno Spazio Giuridico Penale Europeo, hrsg. von S. Moccia, 2004, S. 305 ff. (309 ff.). 64 U. Neumann, ZStW 101 [1991], S. 331 ff. (336, 347 ff.). 65 Verfasst durch die von der Europ. Kommission ernannte Expertengruppe (E. Bacigalupo, M. Delmas-Marty, G. Grasso, J. Spencer, D. Spinellis, K. Tiedemann, J. Vervaele, C. Van den Wyngaert). 66 Vgl. E. Bacigalupo, in: Ambito e Prospettive, zitiert in Fußnote 45, S. 310. 67 Vgl. W. Naucke, Strafrecht, Eine Einführung, 3. Aufl., 1980, S. 95.
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Das Gesetzlichkeitsprinzip gewährleistet Rechtssicherheit, garantiert aber weder die Verhältnismäßigkeit von Strafen noch die Grenzen des Gesetzgebers Verhalten zu pönalisieren68. Während das Prinzip nullum crimen sine lege sein praktisches Gewicht wegen der Relativierung einzelner Aspekte, wie oben bereits erörtert, mehr und mehr verliert, haben die materiellen Probleme des Strafrechts in den letzten zwanzig Jahren beachtlich an verfassungsrechtlicher Bedeutung gewonnen. Die Einführung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit von Strafen, erstmals durch den Corpus Iuris (Florenzer Version-2000), kurz danach in der Charta von Nizza von 2000 (Art. 49 Abs. 3) und schließlich im Europäischen Verfassungsvertrag (Art. II109, 3) eröffnet neue Perspektiven für die Neufassung wenigstens dreier anderer Fragen: die Verhältnismäßigkeit der lebenslänglichen Freiheitsstrafe und von Maßregeln, die den gleichen Effekt haben, der Charakter des Strafrechts als ultima ratio der Sozialpolitik und die Forderung nach einem Rechtsgüterschutz. Zweifellos könnte die Frage auch auf die Individualisierung von Strafe zielen, die hier aber unmöglich behandelt werden kann69. Die lebenslangen Freiheitsstrafen oder diejenigen langer Dauer stellen im modernen Recht einen Ersatz für die Todesstrafe dar und sind das Produkt einer darwinistischen Strafrechtsideologie, die Strafe als Form der „künstlichen Selektion“70 betrachtet. Ihre Rechtfertigung wurde im modernen Recht regelmäßig in Zweifel gezogen. Auch wenn die spanische Verfassung dies nicht ausdrücklich formuliert, so ist klar, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip einen Aspekt des Rechtsstaatsprinzips darstellt, soweit Art. 1 CE feststellte, dass die Gerechtigkeit eines der wichtigsten Prinzipien der Rechtsordnung ist. Es ist also unbestreitbar, dass die Verhältnismäßigkeit der Schwere der Strafe zu der des Delikts nichts anderes ist, als eine Minimalanforderung zur Realisierung von Gerechtigkeit in einem konkreten Fall. Zweifelsohne hat das spanische Verfassungsgericht stets einen weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers bezüglich der Konkretisierung der Strafschärfe anerkannt71. Es wurde in Spanien jedenfalls bis heute noch nie die Frage gestellt, bis zu welchem Punkt eine Strafe, deren Vollstreckung bis zu 30 Jahre oder sogar länger dauern kann (Art. 76 und 78 CP) und damit de facto wie eine lebenslange Freiheitsstrafe wirkt, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist. Mehr noch: es ist noch nicht einmal sicher, ob in der formalistischen und positivistischen Tendenz der Verfassungsrechtsprechung eine Verfassungsbeschwerde auf diesem Gebiet zulässig wäre. Zu68 Nur ausnahmsweise wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Grundlage von besonderen Schlussfolgerungen herangezogen: vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983, S. 210 ff. 69 Vgl. B. Schünemann, in: Tatproportionalität, hrsg. v. W. Frisch/A. von Hirsch/H.-J. Albrecht, 2003, S. 185 ff. 70 Vgl. F. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 7. 71 Trotzdem vgl. STC 136/1999 und dessen Kritik bei E. Bacigalupo, Justicia Penal y Derechos Fundamentales, S. 270 ff.
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nächst einmal erkennt das spanische Verfassungsgericht – in erklärter Abweichung von seinem genannten positivistischen Kriterium – kein Grundrecht auf Resozialisierung als Zweck jeder Bestrafung an, was eine Stütze in Art. 25 CP fände und konzeptionell jede unverhältnismäßige Strafe ausschließen müsste72. Es ist klar, dass eine unverhältnismäßige Strafe mit keinem der Verfassungsprinzipien vereinbar ist. Die umstrittensten Fälle wurden dennoch von der nationalen Rechtsprechung anerkannt, wenn auch mit Perspektive auf andere Prinzipien. Der Streit wurde damit aber nicht beendet. Dies zeigt der Fall der lebenslangen Freiheitsstrafe, die im deutschen, österreichischen, belgischen, italienischen und französischen Recht existiert. Die deutsche Verfassungsrechtsprechung hat diese Strafen für verfassungskonform erklärt. Das BVerfG hat entschieden, dass vom heutigen Kenntnisstand aus, auch in Hinblick auf die Gnadenpraxis, nicht festgestellt werden kann, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe zwingend physische oder psychische Schäden verursacht, die die Menschenwürde verletzen. Darüber hinaus fügt das BVerfG neben den Voraussetzungen eines die Menschenwürde achtenden Strafvollzugs hinzu, dass ein entsprechend Verurteilter tatsächlich die Chance haben muss, in ein freies Leben zurückzukehren, wofür allein die Möglichkeit einer Begnadigung nicht ausreicht. Daher sei es darüber hinaus nötig, dass die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitstrafe gesetzlich festgeschrieben wird73. Die gleiche Diskussion hat in Bezug auf den ergastolo des italienischen Rechts stattgefunden, dessen Verfassungsmäßigkeit ebenfalls angesichts von Art. 27.3 der italienischen Verfassung in Zweifel gezogen wurde, der festschreibt, dass die Strafen nicht in einer menschenunwürdigen Behandlung bestehen dürfen und auf die Rehabilitierung gerichtet sein müssen. Das italienische Verfassungsgericht hat einschlägige Anträge als unbegründet abgewiesen,74 weil der erste Teil des Art. 27.3 lediglich die Modalitäten des Vollzuges betreffe, nicht aber die Art der Strafe, und weil die Verfassungsnorm nicht sage, dass Resozialisierung der einzige Strafzweck sei75. Ähnlich ist die Frage der Sicherungsverwahrung im deutschen Recht (§§ 66 und 67d Abs. 3 StGB a.F.) zu behandeln, die eine Aufrechterhaltung des Freiheitsentzugs für bis zu zehn Jahre aus Sicherheitsgründen erlaubte, wenn es sich um einen Täter handelt, der vor Begehung der Tat bereits zu Strafen von mindestens einem Jahr verurteilt wurde, bereits mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe verbüßt hat und einen Hang zu erheblichen Straftaten offenbart. Ähnliche Maßnahmen sieht das österreichische StGB in §§ 23 und 25 vor, die keine Begrenzung der Dauer festlegen. Das deutsche Verfassungsgericht hatte jüngst die Verfassungsmäßigkeit dieser Maßregel
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Vgl. u. a. STC 109/2000. Vgl. BVerfGE 45, 187, vom 21. Juni 1977. 74 BVerfG 1974/264. 75 Über die Verfassungsmäßigkeit des ergastolo (lebenslange Haft) in Italien, siehe: M. Romano, Commentario Sistematico del Codice Penale, I, 1987, S. 195 ff., mit weiteren Nachweisen zu dieser Frage (S. 197). 73
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mit der Erwägung festgestellt76, dass eine langdauernde Sicherungsverwahrung dann nicht die Menschenwürde verletze, wenn diese wegen der fortdauernden Gefährlichkeit des Untergebrachten nötig ist. In diesen Fällen hält das BVerfG es für erforderlich, die Eigenständigkeit und Würde des Untergebrachten zu achten und zu schützen und den Strafvollzug darauf auszurichten, die Voraussetzungen für ein freiverantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen77.
VII. Die Konstitutionalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erlaubt es, auch eine andere bedeutende Frage in neuem Lichte zu sehen: diejenige, ob Strafgesetze, die k e i n e Rechtsgüter schützen, für ungültig erklärt werden können. Wäre die Sanktionierung von Verhalten, welches kein Rechtsgut verletzt, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar? Dabei handelt sich um die aktuelle Diskussion über die Legitimitätsfunktion der Idee des Rechtsgüterschutzes im Strafrecht und die Bedeutung der Thesen, die das Ziel des Strafrechts in der Geltungsverschaffung von Gesetzen verorten.78 Die Annahme, dass die Theorie vom Rechtsgüterschutz, neben seiner hermeneutischen und dogmatischen Bedeutung, eine legitimierende und limitierende Funktion im Strafrecht habe, ist nach meinem Dafürhalten streitbar79. Die Idee, dass die Rechtsgüter praktisch Gegenstände des täglichen Lebens unserer Gesellschaft und nicht durch den Gesetzgeber geschaffen seien, wie es etwa v. Liszt80 glaubte, beansprucht heute keine Gültigkeit mehr, weil „das Konzept des Rechtsguts in Wirklichkeit normativ“ ist und es „zu keiner Definition passt, die ein definitives Resultat liefert“81. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die Rechtsgüter Erfindungen des Gesetzgebers sind, ist es mithin schwer vertretbar, dass die Forderung nach Rechtsgütern den Gesetzgeber limitieren könnte. In Wirklichkeit war die Idee vom Rechtsgüterschutz in ihren historisch-dogmatischen Ursprüngen keine limitierende These, 76 Urteil des zweiten Senats vom 5. 2. 2004; anders nun aber die Entscheidung des BVerfG vom 04. 05. 2011. 77 Die Entscheidung aus dem Jahr 2004 wurde in der Lehre heftig kritisiert: vgl. K. Lüderssen/C. Prittwitz, in: Interpretazione e Precedente Giudiziale in Diritto Penale, hrsg. v. G. Cocco, 2005, S. 95 ff. und 81 ff. Der EGMR hat die deutsche Sicherungsverwahrung wegen der Möglichkeit der Rückwirkung in seinem Urteil vom 10. 5. 2010 als Verstoß gegen die EMRK gewertet. In bestimmten Fällen könne diese einer Doppelbestrafung gleichkommen. Anfang Dezember 2010 wurde eine neue Regelung der Sicherungsverwahrung im Therapieunterbringungsgesetz angekündigt, vgl. FAZ vom 3. 12. 2010, S. 1. Der genaue Text des neuen Gesetzes lag bei Verfassen dieses Beitrags noch nicht vor. 78 Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., S. 34 ff. 79 Vgl. meine Kritik bei E. Bacigalupo, El derecho penal y su racionalidad, in: Teoría de los Sistemas y Derecho Penal, hrsg. v. C. Díez Gómez Jara, in Druck. 80 Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 4. 81 C. Roxin, a.a.O., S. 17.
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sondern zielte darauf ab, das Strafrecht auszuweiten, welches auf dem von Feuerbach vertretenen Konzept vom Delikt als Verletzung eines subjektiven Rechts basierte, d. h. sie war gegen ein auf Rechtsverletzungen begrenztes Strafrecht82. In jedem Fall ist es nötig, einige gesetzgeberische Besonderheiten, die anderen Verfassungsrechten fremd sind, und die die deutsche Diskussion beeinflussen, zu klären: Art. 2 GG erlaubt die Rechtfertigung eines Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit durch Sittengesetze. Dies ermöglichte es dem BVerfG, den alten § 175 StGB (homosexuelle Handlungen) für verfassungskonform zu erklären83, indem es anerkannte, dass das Sittengesetz eine begrenzende Funktion auf das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit und auch auf einige Juristen ausübte, die ungeachtet der Tatsache, dass diese Norm kein Rechtsgut schützte, seine Strafbarkeit beibehalten wollten84. Aus diesem Grunde vertritt die deutsche Lehre, diese punktuelle Frage außenvorlassend, mehrheitlich, dass „bloße Verstöße gegen die Moral“ oder „ideologische Ziele“ keine Rechtsgüter sind oder sein sollten85. Dieser Schluss scheint aber wenigstens diskutabel. Die Frage muss auf andere Weise angegangen werden. Ohne Zweifel ist die Limitierung des Strafrechts eine entscheidende Voraussetzung für die freie Gesellschaft eines demokratischen Staates. Aber worum es eigentlich geht ist die Frage, ob diese Begrenzung allein über die Anforderung einer rechtsgüterschützenden Strafrechtsnorm erreichbar ist. Dabei ist es notwendig, klar zwischen dem dogmatischen und politischen Problem des Strafrechts zu unterscheiden. Es handelt sich also darum, bis zu welchem Punkt die Einschränkung von Freiheit über das Strafrecht noch als rechtmäßig bezeichnet werden kann, d. h. die Freiheit des Einzelnen und deren rechtmäßige Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft zu definieren. In diesem Sinne kommt es nicht darauf an, ob Rechtsgüter geschützt oder Normen gesichert werden sollen, sondern ob die durch das Strafrecht gesetzten Einschränkungen mit der Idee einer freien und demokratischen Gesellschaft kompatibel sind.
VIII. Die Analyse der aktuellen Situation hat positive Aspekte, wie die Konstitutionalisierung der neuen Prinzipien, aufgewiesen. Aber in der Auslegung des Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtsprechung offenbart sich auch, dass sich der Prozess des Bedeutungsverlustes des Gesetzes, den man seit der Französischen Revolution beob-
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Vgl. J. M. F. Birnbaum, in: Archiv des Criminalrechts, n. F., 1834, S. 149 ff. BVerfG, 6, 389 ff. [434]. Zu dieser Frage vgl. auch J. Baumann, Paragraph 175, 1968, S. 158 ff. 84 Siehe die Meinungen von W. Gallas, K. Lackner, H.-H. Jescheck und W. Hannack, in: J. Baumann, a.a.O., S. 159. 85 So auch Roxin, a.a.O., S. 15 f. 83
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achten kann und der von Schünemann86 1978 benannt wurde, verschärft hat. Wir haben eine Entwicklung durchlaufen, die von einem Auslegungsverbot von Strafgesetzen in der ersten Zeit der Kodifikationen des 19. Jahrhunderts zu einer Toleranz von extrem „kreativen“ Interpretationen in bestimmten Bereichen führte. Es ist offensichtlich, dass die schreckliche Geschichte der totalitären und antidemokratischen Staaten im 20. Jahrhundert und deren historische Ereignisse, die das öffentliche Bewusstsein in außerordentlicher Weise bewegt haben, ihre Spuren hinterlassen und dem Strafrecht Anfang des 21. Jahrhunderts eine politische Dimension gegeben haben, die auf der anderen Seite die Bedeutung des Gesetzes und der Sicherheit, die dieses repräsentiert, zugunsten von Gerechtigkeitserwägungen geschwächt haben. In der aktuellen Situation steht die liberale Lösung des alten Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Sicherheit in Frage, ein Hauptpunkt der traditionellen Strafrechtstheorie, den Beccaria beispielhaft dargelegt hat: „La prima conseguenza di questi principii è che le sole leggi possono decretar le pene su i delitti, e quest’autorità non può risedere che presso il legislatore, che rappresenta tutta la società unita per un contratto sociale; nessun magistrato (che è parte di società) può con giustizia infligger pene contro ad un altro membro della società medesima. Ma una pena accresciuta al di là dal limite fissato dalle leggi è la pena giusta piú un’altra pena; dunque non può un magistrato, sotto qualunque pretesto di zelo o di ben pubblico, accrescere la pena stabilita ad un delinquente cittadino“.87
Heute ist es schwierig zu wissen, in welcher Weise das wünschenswerte Gleichgewicht zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit gelingen kann. Einen vernünftigen Ausgangspunkt, um über diese Frage zu reflektieren, hat bereits Gustav Radbruch nach zwölf Jahren durchlittener Nazi-Diktatur aufgezeigt: „Angesichts des Unrechts der letzten zwölf Jahre müssen wir einen Weg finden, den Anforderungen Justitias mit dem am wenigsten möglichen Verlust von Rechtssicherheit zu genügen“88. Es ist in jedem Fall nötig, darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Tendenz, zu glauben, dass das Strafrecht, oder, besser gesagt, die Bestrafung eines Schuldigen, die einzig wahre Lösung sozialer Probleme sei, nicht der richtige Weg ist. Die Suche nach dem vernünftigen Gleichgewicht ist also die dringendste Aufgabe, derer wir (nicht nur) europäische Juristen mit demokratischen Überzeugungen uns annehmen müssen. 86
Nullum crimen sine lege?, 1978. Dei delitti e delle pene, 1764, III, entsprechend der Ausgabe der Philosophischen Gesellschaft zitiert, London 1774, S. 7. „Die erste Konsequenz dieser Grundsätze ist, dass nur die Gesetze die Strafen für die Delikte festsetzen können, und diese Befugnis kann nur von dem Gesetzgeber ausgehen, der die ganze durch den Gesellschaftsvertrag geeinigte Gesellschaft darstellt. Kein Richter (der Teil der Gesellschaft ist) kann dagegen berechtigt Strafen über ein Mitglied der Gesellschaft verhängen. Aber eine Strafe, die über das von den Gesetzen festgesetzte Maß hinaus erhöht wird, ist mehr eine andere als eine gerechte Strafe. Also kann der Richter weder unter dem Vorwand des Eifers noch des Gemeinwohls eine festgesetzte Strafe gegen einen verbrecherischen Mitbürger erhöhen.“ 88 Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung Nr. 5, 1946, zitiert gem. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. von E. Wolf, S. 347 ff., S. 355. 87
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip Eugenio C. Sarrabayrouse*
I. Problemstellung und Ziel des Beitrags Mit immer größerem Nachdruck wird behauptet, dass sich das Gesetz im Allgemeinen und das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip im Besonderen in einer tiefen Krise befinden.1 So wird – wie wir noch sehen werden – davon gesprochen, dass die Bedeutung des Gesetzes kontinuierlich abnimmt, während sich das Strafrecht unendlich ausdehnt, und zwar durch normative Aussagen, die unter anderem die dem Gesetzlichkeitsprinzip impliziten Gebote missachten. Das Bestimmtheitsgebot wurde traditionellerweise als Ausprägung der Idee verstanden, dass der Gesetzgeber die Straftatbestände auf klare und präzise Weise abfassen muss, damit die in ihnen enthaltene Nachricht für ihre Empfänger leicht verständlich ist. Dieses Korollar bildet zusammen mit den Geboten der lex praevia, scripta und stricta auch eine Grenze für das Handeln der Richter. Wie uns die gegenwärtige juristische Realität zeigt, wächst jedoch täglich die Anzahl der Straftatbestände mit unverständlichen Formeln und Gesetzesauslegungen, die weit entfernt von dem aufklärerischen Ideal sind, das – als eine natürliche Folge der Gewaltenteilung – den Richter an das Gesetz binden wollte. Angesichts dieser Aussichten konnte man in den letzten vierzig Jahren ein Wiedererstarken der Untersuchungen beobachten, die das Ziel hatten, die beschriebene Situation zu verändern und den Prozess der Gesetzesschaffung zu rationalisieren. Von einer anderen Perspektive aus (die aber, wie wir sehen werden, auf bestimmte Weise mit der vorhergehenden Beschreibung verbunden ist) wurde das in dubio pro reo-Prinzip für die Tatsachenebene entwickelt und für die Auslegung des Strafgesetzes als unanwendbar erklärt. Damit haben Lehre und Rechtsprechung auf ein wertvolles Werkzeug zur Begrenzung der Strafgewalt des Staates verzichtet. Ich versuche hier an erster Stelle unter Einbeziehung des Strafrechts kurz die Krise zu beschreiben, die das Gesetz allgemein erleidet, und die Vorschläge zu be* Übersetzt von Anna Richter, München. 1 So Palazzo, La legalidad y la determinación de la ley penal: el significado lingüístico, la interpretación y el concepto de la regla iuris, (Übersetzung von Irene Sánchez Melero und Susana Barón Quintero), RP (25), Januar 2010, S. 104.
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nennen, dieser Krise mit einer wiedererstarkenden Gesetzgebungstheorie die Stirn zu bieten. Später untersuche ich die unterschiedlichen Auslegungstheorien, wodurch wir uns in die Frage vertiefen können, ob das in dubio pro reo-Prinzip auf diesem Gebiet angewendet werden kann. Damit versuche ich zu zeigen, dass die strafrechtliche Gesetzlichkeitskrise nur mit Untersuchungen überwunden werden kann, die sowohl die Schaffung von Strafgesetzen als auch deren Auslegung berücksichtigen.
II. Die Krise des Gesetzes im Allgemeinen und die Renaissance der Gesetzgebungstheorie 1. Die Krise des Gesetzes Die Sorge um das Gesetz ist keineswegs neu, sondern besteht schon seit langer Zeit. Das Wort „Gesetz“ hat im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen2 gehabt, aber wenn wir uns in dem in der Gegenwart gebräuchlichsten Sinne darauf beziehen, dann denken wir sofort an eine geschriebene, von den Repräsentanten des Volkes mittels eines besonderen Verfahrens erlassene juristische Norm. Diese Vorstellung vom Gesetz als Manifestation eines kollektiven Willens, der durch eine allgemeine und abstrakte Regel ausgedrückt wird, besteht seit kaum mehr als zweihundert Jahren, genauer: seit der Französischen Revolution und dem Aufkommen des Rechtsstaates. Zusammen mit ihm entstand eine „legalistische“ Ideologie, die das Gesetz als höchsten Wert ansah und es – unabhängig von irgendeiner Grenze oder Kontrolle – als im Wesentlichen gerecht auffasste, allein weil es aus dem Willen des Volkes hervorgeht. So bildete sich ein im Wesentlichen legislativer Staat heraus, in dem das Gesetz in strengem Sinne vorherrschte. Letztendlich entwickelte sich der Rechtsstaat in Europa zu einem legislativen Rechtsstaat, der in seinen Anfängen nur in der
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Beim Durchblättern jeglichen Handbuchs für Philosophie oder Geschichte finden sich ständig Verweise hierauf. Siehe zum Beispiel Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 4. Aufl., 2000, wo unter Berücksichtigung verschiedener Autoren der Begriff „Gesetz“ untersucht wird; in der Umgangssprache hat dieses Konzept zwei Bedeutungen; hauptsächlich wird hiermit das vom Parlament verabschiedete Gesetz bezeichnet, das heißt, ein geschriebener Text, der nach einem bestimmten Verfahren verabschiedet wird. Eine weiterreichende Bedeutung ist die Bezeichnung jeder geschriebenen Rechtsnorm. Es gibt auch Gesetzeskonzepte für jede wissenschaftliche Disziplin (wie die Naturwissenschaften, die Soziologie und die Politikwissenschaft, um nur einige zu nennen, die ihre eigenen „Gesetze“ haben). Ich beziehe mich hier nur auf das juristische Konzept. Zu diesen Aspekten siehe Franz, Der Begriff des Gesetzes – Geschichte, Typologie und neuer Gesetzesbegriff, in: Zeitschrift für Gesetzgebung (2008), S. 140 – 141; auch Nino, Introducción al análisis del derecho, 2. Aufl., 2001, S. 148 ff.; auch Zapatero zeigt auf, dass die Sorge um gute Gesetze schon seit vielen Jahrhunderten besteht; siehe schon die Werke von Platon (Gesetze), Aristoteles (Politik), Cicero (Über die Gesetze) und Thomas von Aquin (Summa Theologica); was sich verändert hat, ist der kulturelle Kontext, denn damals gab es weder den gesetzgeberischen Staat noch die Ende des 17. Jahrhunderts auftauchende Bestimmtheitskrise (vgl. Zapatero, El arte de legislar, 2009, S. 13).
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Unterwerfung der Verwaltung und des Richters unter das Gesetz bestand.3 Auf diese Weise erlangte das Gesetz eine entscheidende Bedeutung. Parallel zur Anwendung dieser Ideen finden wir in Europa die ersten von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (durch die Werke von Voltaire, Montesquieu, Beccaria und Rousseau)4 entwickelten Abhandlungen zur Gesetzgebung und ihren Verdiensten als Grenze für die willkürliche Machtausübung. Aus dieser Epoche stammen auch einige monumentale Untersuchungen, wie „Die Wissenschaft der Gesetzgebung“ von Filangieri, der in sieben Bänden versuchte, die Regeln mit den Maßnahmen zu verbinden und die Theorie mit der Praxis, um so eine Gesetzgebungswissenschaft zu schaffen.5 Während des folgenden Jahrhunderts finden sich in der angelsächsischen Welt Arbeiten, die sowohl den Gesetzesabfassungstechniken gewidmet sind, als auch die Überlegungen der Lehre zu diesem Thema enthalten. Die Wichtigkeit dieser Untersuchungen kann allein schon an den Namen solcher großen Autoren wie Bentham, Austin, Llewellyn oder R. Pound gesehen werden, während auf dem Kontinent Ihering und dann im 20. Jahrhundert Geny, Ripert, Capitan oder Carbonier genannt werden können.6 Der auf die Politik angewandte Rationalismus und die Forderung nach größerer Gewissheit und Sicherheit angesichts des Partikularismus des Ancien Régime, sowie das Monopol der normativen Macht in Händen des Staates drückten sich auf zwei Arten aus: die Kodifizierung, um die Untersuchung des geltenden Rechts zu erleichtern, und die Kunst der Gesetzgebung, die bessere Gesetze versprach.7 3 Vgl. Gascón Abellán/García Figouaroa, La argumentación en el derecho, 2005, S. 19 – 21 ff.; zur historischen und philosophischen Entwicklung des Gesetzeskonzeptes siehe Marcilla Cordoba, Racionalidad legislativa. Crisis de la ley y nueva ciencia de la legislación, 2005, S. 29 – 248. 4 Peter Noll betont zu diesem Aspekt, dass die drei zitierten Autoren mit ihren Postulaten die Vorteile festlegten, die die Gesetzgebung der Menschheit bringen konnte, obwohl ihre empirischen Untersuchungen zum Großteil unrichtig waren und dem Vergessen anheimfielen; vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 60. 5 Das Zitat lautet: „… niemand hat bis jetzt ein vollständiges und rationales Gesetzgebungssystem vorgelegt, niemand hat diese Materie in eine sichere und ordentliche Wissenschaft umgewandelt, indem er die Maßnahmen mit den Regeln und die Theorie mit der Praxis vereint. Dies versuche ich mit diesem Werk zu tun, das folgenden Titel trägt: System der Gesetzgebung …“ (vgl. Filangieri, La scienza della legislazione, Bd. I, 1855, S. 6); auch Voß, Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, 1989, S. 8. 6 Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, in: Doxa 15 – 16 (1994), S. 770. Hans Schneider betont im Hinblick auf Deutschland, dass die Regeln, die zum Erlass guter Gesetze befolgt werden sollten, schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Universitäten von Halle und Frankfurt (Oder) Gegenstand von Untersuchungen waren; im 19. Jahrhundert ragen die Beiträge von Robert von Mohl zur Entwicklung einer juristischen Gesetzgebungstheorie hervor; zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden dann mit dem Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuches wichtige Arbeiten zu diesem Thema; weitere Details zur späteren Entwicklung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den USA, Großbritannien und Frankreich siehe Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehr- und Handbuch, 3. Aufl., 2002, S. 3 – 9. 7 Vgl. Zapatero, El arte de legislar, S. 13.
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Dieses Staatsmodell, das Ende des Mittelalters langsam zu entstehen begann, sich in der Moderne entwickelte und im 19. Jahrhundert sowie Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, stürzte jedoch bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in eine Krise. Die heutige Situation charakterisiert sich wieder durch die Zersplitterung der normativen Quellen und den ständigen Verlust staatlicher Souveränität. Auch ist sie geprägt vom Aufkommen neuer Themen in der Rechtsschöpfung und -anwendung. Dies erinnert an das Panorama, das sich den Aufklärern bot. Auf diese Weise wird die Schwierigkeit, das Recht auf staatliches Recht zu reduzieren, immer größer. Insbesondere was Europa betrifft, zwingt die Internationalisierung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens die Staaten immer stärker dazu, Normen zu importieren und Regeln auf ihre Bürger anzuwenden, die außerhalb ihrer Grenzen geschaffen wurden.8 Dieses mit der Globalisierung verbundene Phänomen führt dazu, dass Unternehmen heute auch Subjekte des Internationalen Rechts sind, was vor fünfzig Jahren noch völlig undenkbar war. Bezüglich der Schaffung von Normen haben sich die Investoren mit den Nationalstaaten auf eine Stufe gestellt, da sie Verträge mit jenen abschließen und ihre Streitigkeiten Schiedsrichtern vorlegen. Hier wiederholt sich nochmals die Diskussion darüber, wer der Schöpfer und wer der reine Anwender des Rechts ist: Obgleich die Staaten die Verträge unter Berufung auf das Internationale Recht abändern können, verbleibt deren Anwendung in den Händen von Privatpersonen – den Schiedsrichtern –, wir wohnen also einer „Entstaatlichung“ der Normauslegung bei; jedoch müssen sich die Privatpersonen zur Vollstreckung dieser Entscheidungen wiederum an den Staat wenden.9 Im Fall Argentiniens kann außerdem eine wachsende Abhängigkeit der internen Gesetzgebung von internationalen Menschenrechtsverträgen beobachtet werden, sowie von Resolutionen, die von den mit der Anwendung dieser internationalen Übereinkünfte beauftragten Organismen erlassen werden. Diese Bewegung, die mit dem Urteil der Corte Suprema de la Nación10 im Fall „Ekmekdjian“ begann, festigte sich mit der Verfassungsreform von 1994 und verstärkte und vertiefte sich seit 2004 mit aufeinanderfolgenden Urteilen des höchsten Gerichts der Republik.11 8
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 772. Vgl. Hofmann, Modernes Investitionsschutzrecht. Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht?, Vortrag vom 16. 12. 2009 in der Vortragsreihe Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, Johann Goethe-Universität, Frankfurt am Main. 10 Das höchste Gericht Argentiniens, im Folgenden: CSJN (Anm. d. Ü.). 11 Siehe das Urteil vom 07. 07. 1992 der CSJN, „Ekmekdjian, Miguel A. gegen Sofovich, Gerardo“, Dokument elDial.com AA519; zu den Spannungen zwischen den supranationalen Entscheidungen und dem innerstaatlichen Recht siehe das Urteil der CSJN im Fall E.224.XXXIX, „Espósito, Miguel Ángel wegen von der Verteidigung geltend gemachter Verjährung der Straftat“ vom 23. 12. 2004, Dokument elDial.com AA26CD. Barrera Nocholson, El despido discriminatorio por violación de la libertad sindical, Dokument elDial – DC110E, und Hitters, Control de constitucionalidad y control de convencionalidad, Zeitung 9
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Daher haben einige Autoren begonnen, von der „Konventionalität“ der internen Verfügungen zu sprechen, das heißt, ihre Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsnormen einer kritischen Beurteilung zu unterwerfen. Das Aufkommen dieser neuen Rechtsquellen führt notwendigerweise dazu, dass die Lehre von der Herrschaft des Parlaments als einzigem Normschöpfer und seine Unfehlbarkeit infrage gestellt werden und die Notwendigkeit entsteht, das gesetzgeberische Produkt zu verbessern. Weitere wichtige Elemente zur Charakterisierung der Gesetzlichkeitskrise sind die wachsende legislative Inflation, die Unklarheit der Normen und die Unsicherheit, die durch die fehlerhafte Abfassung der Gesetze entsteht. Dies zwingt die Lehre und die Gesetzgeber dazu, über andere wirkungsvollere normative Techniken sozialer Kontrolle nachzudenken, sowie die Einführung von Ausarbeitungsverfahren, die die Bürgerrechte stärker respektieren.12 Obgleich Schuppert verschiedene Gründe für dieses legislative Wachstum aufzählt (den „normativen Hunger“ der modernen Industriegesellschaften und die wachsende Güterknappheit, die mehr Regulierungen nötig macht), weist er darauf hin, dass dieser „Wasserfall an Gesetzen“ empirisch schwer zu beweisen ist. Im Fall Deutschlands kann in der 9. Legislaturperiode kein Wachstum des Gesetzeserlasses beobachtet werden, sondern vielmehr ein Ansteigen der Verordnungen der Exekutive und der verwaltungsrechtlichen Anordnungen; ebenso zeigt der Vergleich der verschiedenen Perioden bezüglich des Erlasses neuer Gesetze einen gewissen Anstieg der legislativen Tätigkeit zwischen 1990 und 1998, der hauptsächlich durch den deutschen Wiedervereinigungsprozess verursacht wurde.13 Schließlich wird als weiteres charakteristisches Element der gegenwärtigen Gesetzgebung die Vermehrung symbolischer Gesetze genannt, die dem Ideal widersprechen, nach welchem die Gesetze bei der Anwendung größtmögliche Wirkung erzeugen sollen. Diese Art von Gesetzen hat nur äußerlich Gesetzesform, das heißt, sie strebt von vornherein keine Wirksamkeit in der Praxis an. Obwohl diese Maßnahmen von ihrer Wirksamkeit her als irrational angesehen werden müssen, kann es vorkommen, dass der Gesetzgeber ihnen Sinn und Bedeutung zuspricht. So findet sich in eiLa Ley vom 27. 07. 2009, S. 1 ff., führen die „Konventionalitätskontrolle“ als Beispiel an; siehe auch die kritische Arbeit von Malarino, Activismo judicial, punitivización y nacionalización: tendencias antidemocráticas y antiliberales de la CIDH, in: Pastor (Hrsg.), El sistema penal en las sentencias recientes de los órganos interamericanos de protección de los derechos humanos, 2009, S. 21 – 61. 12 Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 773; Ulrich Karpen erklärt entschieden: „… die Klage ist allgemein, es gebe zu viele und zu schlechte Gesetze.“; vgl. ders., Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre. Beiträge zur Entwicklung einer Regelungstheorie, 1989, S. 13; Bulygin, Teoría y técnica de la legislación, in: Alchourron/ Bulygin, Análisis lógico y derecho, 1991, S. 409 – 410. 13 Vgl. Schuppert, Gute Gesetzgebung. Bausteine einer kritischen Gesetzgebungslehre, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft (2003), S. 5 – 8.
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nigen Fällen der Wert dieser Gesetze auf politischem Gebiet, da durch sie eine Bekräftigung bestimmter Werte angestrebt wird (zum Beispiel ein Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch bestraft). Sie sind an das Gewissen der sozialen Gruppe gerichtet und nicht direkt darauf, eine bestimmte Art von Verhalten hervorzurufen. In anderen Fällen handelt es sich um Gesetze mit moralischem Appell, in denen der Gesetzgeber Werturteile ausdrückt, ohne mit der Verbotsnorm Verhaltensänderungen erzielen zu wollen. Ein Beispiel hierfür ist die Strafgesetzgebung zum Umweltschutz. Im Fall Deutschlands versuchte die diesbezügliche Reform die Bedeutung der inkriminierten Verhaltensweisen als „Kriminalität gegen die Umwelt“ aufzuzeigen und gleichzeitig erzieherische und generalpräventive Effekte zu entwickeln. Diese Kategorie von Gesetzen umfasst auch die sogenannten „unvollkommenen Gesetze“, mit denen auch Wertentscheidungen deutlich gemacht werden; es sind programmatische Gesetze, deren Achtung und Einhaltung nicht durch irgendeine Sanktion garantiert wird. Eine andere Art innerhalb dieser Kategorie sind die Gesetze, die Peter Noll Ersatznormen nennt. Die Verhaltensforschung zeigt, dass einige Tiere, wenn sie angegriffen werden und (wegen ihrer physischen Unterlegenheit) unfähig sind, sich zu verteidigen oder anzugreifen, sich damit begnügen, Drohgebärden zu machen. Zu diesen „Ersatzhandlungen“ zählt man die „Zwangsgesetze“ und die „Krisengesetze“. Wie verschiedene empirische Untersuchungen gezeigt haben, können starke Emotionen der Bevölkerung den Wunsch nach gesetzgeberischen Maßnahmen wecken, welche sich durch kriminalisierende Tendenzen ausdrücken und versuchen, das Volk zu beruhigen sowie eine größere Handlungsfähigkeit zu zeigen.14 Ortiz de Urbina Gimeno beschreibt die symbolische Gesetzgebung als diejenige normative Produktion, die eher versucht, die Möglichkeiten des Wahlerfolges des Handelnden zu vergrößern, als die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, die man zu erfüllen behauptet; der Zweck des Gesetzes besteht nicht darin, die von ihm behandelte Materie angemessen zu regeln, sondern darin, das Bild der parlamentarischen Mehrheit und der Regierung als auf die sozialen Probleme bedachte und bei deren Lösung aktive Gruppen zu fördern.15 Als weiteres Problem neben der symbolischen Gesetzgebung wird auch die „gesetzgeberische Verschmutzung“ genannt, ein Ausdruck, mit dem das unkontrollierte Wachstum eines Elements (Gesetz, Dekret, Verordnung, Anordnung, etc.) beschrieben wird, das keine Möglichkeit aufweist, den Abfall (Aufhebung) zu beseitigen. Auf 14
Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 25 – 34; zur symbolischen Gesetzgebung siehe auch Hassemer, Das Symbolische am symbolischen Strafrecht, in: Schünemann u. a., Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin/New York, S. 1004. 15 Vgl. Ortiz de Urbina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, Manuskript, S. 50 – 51. Martin Führ untersucht die mögliche Verfassungswidrigkeit der Symbol- und Anscheinsgesetze und vergleicht sie mit dem Betrugstatbestand (sie seien ein Fall des „politischen Betrugs“); er meint, dass symbolische Gesetze nur verfassungswidrig seien, wenn sie eine Verletzung der Freiheit beinhalten; vgl. Führ, Symbolische Gesetzgebung: Verfassungswidrig?, in: KritV (2003), S. 5 – 7 und 19 – 20.
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diese Weise schafft das unkontrollierte Wachstum der Normen einen „legislativen Urwald“ mit nicht weggeworfenem Abfall, was zu dem so gefürchteten Ergebnis der Unkenntnis der gültigen Rechtsordnung führt.16 2. Das Wiederaufleben der Gesetzgebungstheorie Die beschriebene Situation bewirkte, dass das Interesse an der Gesetzgebung in den letzten vierzig Jahren neuen Auftrieb bekam. Es konnte ein wahres Wiederaufleben des Interesses an der Untersuchung und Verbesserung der Gesetzesschöpfungsarbeit festgestellt werden, das seinen Niederschlag in einer Gesetzgebungstheorie fand. Wie schon hervorgehoben wurde, sind nämlich die Probleme, die die Aufklärer zu lösen versuchten, zweihundert Jahre später mit ganzer Kraft wieder aufgetaucht: die Vervielfachung der normativen Quellen, die enorme Anzahl an Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen, die Prinzipien, die die Auslegung regeln sowie die der Herrschaft des Gesetzes entgegengesetzte Herrschaft der Verfassung.17 Die Gesetzgebungstheorie konzeptualisiert das Verfahren der Gesetzesschaffung als einen Entscheidungsprozess, dessen Rationalität durch die Verfolgung bestimmter Modelle des „rationalen Gesetzgebers“ gesteigert werden kann. Hierfür werden Ratschläge gegeben, wie die bestimmten Phasen des gesetzgeberischen Verfahrens und die Auswertung der erhaltenen Ergebnisse auszugestalten sind.18 Diese Theorie geht auch von einem Paradigmenwechsel aus. Der Rechtsdogmatiker hat den Ausgangspunkt seiner Arbeit immer in der verkündeten Norm gefunden, und so wesentliche Aspekte der Entstehung des Gesetzes missachtet: Was bestimmt die Ausübung der gesetzgeberischen Initiative oder des Verwaltungsrechts, wie können die Gründe für das zu lösende Problem untersucht werden, welche Ziele werden verfolgt und wie kann man erreichen, dass die Norm die linguistische, logisch-formale, pragmatische, teleologische und ethische Rationalität aufweist?19 16 Vgl. diesbezüglich Brenna, El ordenamiento de las leyes, in: Revista Electrónica de Teoría y Práctica de la Elaboración de Normas Jurídicas, 1. Jahrgang, Nr. 1, 2004, www. derecho.uba.ar/revistaceenj/, S. 17; auch Martino, El Digesto Jurídico Argentino: una obra monumental, in: Doxa 28 (2005), S. 323. 17 Vgl. Zapatero, El arte de legislar, S. 15. 18 Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 34 – 35. 19 Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 769 – 770. Im selben Sinne merkt Manuel Atienza an, dass für die traditionelle Rechtsdogmatik der Ausgangspunkt die Gesetze, also die Rechtsnormen sind, auf deren Grundlage die Probleme der Auslegung und Anwendung in Angriff genommen werden (vgl. ders., Contribución a una teoría de la legislación, Madrid, 1997, S. 17); Ortiz de Urgina Gimeno nuanciert seinerseits dieses „Vergessen“ der Arbeit des Gesetzgebers: „… das Streben nach ,Reinheit‘, das dazu geführt hat, den Normschaffungsprozess als etwas anzusehen, das dem Untersuchungsgegenstand des Juristen fern liegt, hat vielleicht einzig erreicht, dass die Erarbeitung der Gesetzgebungstheorie sich unnötig verzögert hat und dass man, anstatt eine Theorie (das heißt, einen mehr oder weniger geordneten Komplex von Kenntnissen) der Gesetzgebung zu haben, sich bis vor kurzem mit fragmentarischen und ungeordneten, mehr oder weniger intuitiven Annäherungen zufrieden
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Die Theorien der juristischen Argumentation richten ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf den Rechtsanwender, vielleicht wegen seiner Aura der Reinheit und des unvermeidlichen und immer gegenwärtigen politischen Elements, das die gesetzgeberische Aufgabe umgibt.20 Jenseits der traditionellerweise von der politischen Theorie betonten Unterschiede (der Richter löst nur die einzelnen Konflikte, die ihm vorgelegt werden), erweist es sich jedoch als schwierig, einen scharfen und absoluten Unterschied zwischen den Aufgaben des Gesetzgebers und des Richters zu finden. Diese Funktionen werden noch verschwommener, wenn wir an die Arbeit der Verfassungsgerichte und die Ausübung der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit denken.21 Ungeachtet der Diskussion zwischen den verschiedenen Schulen über die Reichweite der Gesetzesauslegung steht fest, dass sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter Recht schaffen und anwenden.22 Jedoch ist die Tätigkeit des Gesetzgebers weniger streng geregelt und er ist viel besser als der Richter imstande, die soziale Realität zu beurteilen. In neuerer Zeit wird behauptet, dass der möglicherweise klarste Unterschied zwischen Richter und Gesetzgeber das Verfahren ist, dem die Tätigkeit des Ersteren unterworfen ist, da er objektiv, unabhängig und unbestechlich sein muss, nicht willkürlich ausgetauscht werden darf und durch die prozessualen Regeln eingeschränkt ist. Dies trifft nicht auf den Gesetzgeber zu, der sogar die Normen außer Kraft setzen kann, die seine Tätigkeit einschränken.23 Die Gesetzgebungstheorie wurde als die Wissenschaft der Gesetzgebung, des Gesetzgebers, des Gesetzgebungsverfahrens und des Gesetzes als Produkt dieses Verfahrens definiert. Gegenwärtig beschränkt sie sich nicht mehr auf die formellen Gesetze, sondern umfasst schlicht und einfach Rechtsnormen; daher heißt es auch, sie sei die Wissenschaft der Rechtsschöpfung. Als solche untersucht sie das Verhalten der gesetzgebenden Organe, beschränkt sich aber nicht auf diese Prüfung, sondern versucht, Verhaltensregeln aufzustellen. Daher handelt es sich um eine Seins- und Sollens-Wissenschaft, die an der Praxis orientiert ist. Ihr Untersuchungsgegenstand beschränkt sich nicht auf die Rechtsnormen, sondern umfasst auch die soziale Wirklichkeit, auf die sich das Gesetz bezieht und in welcher es wirkt, da sich beide gegenseitig beeinflussen. geben musste …“; vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 4. Im selben Sinne weist Mainhofer darauf hin, dass Kelsen ausdrücklich eine umfassende Denkweise des Rechts ausgeschlossen hat; vgl. ders., Nachwort zur Fragestellung: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XIII, Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 404; siehe außerdem Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 20; zu den Problemen, denen sich die Gesetzgebung ausgesetzt sieht, vgl. Bulygin, Teoría y técnica de la legislación, S. 411 – 413. 20 Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 4. 21 Zu diesem Thema siehe Bulygin, Creación judicial del derecho, in: Bulygin/Atienza/ Bayon, Problemas lógicos en la teoría y práctica del Derecho, 2009, S. 75 – 94. 22 Vgl. Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, 2007, S. 225 – 230. 23 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 54 – 55 ff.; Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 5 – 6.
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Die Gesetzgebungstheorie hat fünf Arbeitszweige oder -bereiche: – Die Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen der Ausarbeitung und Vermittlung der Gesetzeskenntnisse (Gesetzlichkeitstheorie im engeren Sinn). – Die Untersuchung der Hauptkonzepte von Norm, Gesetz und Gesetzgebung (Analyse der Gesetzgebung). – Das Studium der Gesetzgebungsorgane und -verfahren („äußeres Gesetzgebungsverfahren“) sowie der Methoden, die es ermöglichen, auf diese einzuwirken und sie zu beherrschen (Gesetzgebungstaktik). – Die Erforschung der rechtspolitischen und rechtstheoretischen Vorüberlegungen, die zu der Entscheidung führen, ein Gesetz zu erlassen („inneres Gesetzgebungsverfahren“), und die Erforschung, wie „gute“, „richtige“, „vollständige“ und „wirksame“ Gesetze geschaffen werden („Gesetzgebungsmethodik“). – Die Entwicklung von allgemeinen Regeln über die Bildung von Gesetzen, ihre Struktur, Systematik, die angemessene Sprache, etc. (Gesetzgebungstechnik).24 Innerhalb dieser unterschiedlichen Zweige erlangt die Gesetzgebungsmethodik besondere Bedeutung, da sie ein gutes Mittel zur Vermeidung der bereits erwähnten symbolischen Gesetze darstellen kann. Sie versteht das Gesetzgebungsverfahren als einen Entscheidungsprozess, dessen Rationalität steigerungsfähig ist. Der erste Schritt besteht darin zu zeigen, dass es tatsächlich notwendig ist, das Gesetz zu verabschieden; der zweite – den Nachweis der Notwendigkeit der Norm vorausgesetzt –, zu zeigen, dass das Projekt eine gute Regelungsoption ist. In diesem Sinne sind viele Gesetzesreformen unnötig und entsprechen eher der Absicht, vorzugeben, dass etwas getan werde, als dem Glauben, dass die neue Vorschrift die Situation ändern könne. Daher und um diese Art von Normen zu vermeiden, betont die Gesetzgebungstheorie die Notwendigkeit, die faktische und rechtliche Situation zu bewerten, bevor man sich für eine gesetzliche Regelung entscheidet.25 Bezüglich ihrer Methode ist die Gesetzgebungstheorie per se eine interdisziplinäre Wissenschaft. In dieser Hinsicht hat Noll das klassische Beispiel dafür vorgebracht, wie auf juristischem Gebiet zusammengearbeitet werden sollte. Das Modell stammt aus der Medizin. Dort werden täglich und ohne irgendwelche Schwierigkeiten die Aufgaben der Internisten, Radiologen, Chirurgen und Anästhesisten verbunden. Vielleicht findet sich einer der Gründe für diese problemlose gemeinsame Arbeit darin, dass alle am selben Ort arbeiten und dieselben Patienten behandeln, wobei jeder eine andere Rolle hat. Außerdem ist wichtig, dass der Zweck dieser gemeinsamen Aufgabe unumstritten ist: die Bewahrung der Gesundheit und des Lebens. Hierzu gesellt sich, dass die Medizin, im Unterschied zur Rechtswissenschaft, nicht in 24
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 15 – 16; auch Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 21 – 22. 25 Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 59.
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eine rein empirisch-analytische und eine normative Wissenschaft aufgeteilt ist; vielmehr sind Diagnose und Therapie immer eng miteinander verbunden. Das gegenteilige Beispiel stellt die Rechtswissenschaft dar: Sie tendiert zu einer spezialisierten, rein normativen Wissenschaft, die überwiegend auf die Anwendung des Rechts gerichtet ist, vergleichbar mit einem Chirurgen, der ohne vorhergehende Diagnose operiert.26 Der interdisziplinäre Beitrag beschränkt sich nicht auf die Sozialwissenschaften (Rechtssoziologie, Sozialpsychologie, etc.), sondern umfasst vor allem auch den Beitrag der Naturwissenschaften und verschiedener Technologien. Es ist unumgänglich, die Biotechnologie, Biomedizin und Biosicherheit in die Normschaffungsprozesse zum Beispiel zum Umweltschutz, zur Lebensmittelsicherheit oder zum Verbraucherschutz zu integrieren. Diese Kombination aus Wissenschaft, wissenschaftlichen Beurteilungen und der Schaffung von Rechtsnormen kann zeitlich gesehen aus zwei Perspektiven untersucht werden: im Moment des Erlasses der Regel (ex ante Betrachtung) oder zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Folgen des bereits erlassenen Gesetzes ausgewertet werden (ex post Betrachtung). In diesem letzten Fall kann das Ergebnis einer wissenschaftlichen ex post Auswertung zum Erlass einer neuen oder einer anderen Norm führen, die die Erstere umfasst und ergänzt.27 Das Zusammenwirken all dieser Faktoren hat zur Institutionalisierung der gesetzgeberischen Untersuchungen geführt. In Deutschland sind neben der bereits erwähnten wegbereitenden Arbeit von Peter Noll die Arbeiten von Jürgen Rödig, Carl Böhret und Ulrich Karpen zu nennen, sowie eine ganze Reihe von gesetzgeberischen Entscheidungen, die auf die Verbesserung der Normqualität gerichtet waren. Auf akademischem Gebiet und in der Forschung wurde die Gesetzgebungstheorie in verschiedenen Hochschulen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands (Basel, Salzburg, Wien, Heidelberg, Hamburg) zu einem Forschungsgegenstand. In diesen drei Ländern wurden auch Ministerialrichtlinien zur Überwachung der Gesetzgebung erlassen;28 im Falle Deutschlands schufen die Justizministerien des Bundes und der Länder Behörden zur Beratung und Kontrolle der Gesetzgebungsprojekte bezüglich ihrer Notwendigkeit, Wirksamkeit, systematischer Kongruenz und juristischer Formulierung.29 Hierzu gesellen sich spezialisierte Zeitschriften, wie die Zeitschrift für Gesetzgebung, Zeitschrift für Rechtspolitik, Zeitschrift für Parlamentsfra26
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 16; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 66. 27 Vgl. Montoro Chiner/Casado González, Erfolgreiche Beratung der Gesetzgebung durch die Wissenschaft. Die Rolle wissenschaftlicher Ausschüsse bei der Rechtssetzung, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 2008, S. 372 – 373; ausführlicher zur Methode der Gesetzgebungstheorie: Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 23 – 27. 28 Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 22 – 23. 29 Vgl. Zypries, Bemühungen um gute Gesetzgebung stärken, Pflege der Rechtsordnung gewährleisten, Qualität im gesamten Rechtsetzungsprozess absichern, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft 2003, S. 2.
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gen, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Recht und eine große Zahl von Lehrbüchern und Monografien, die sich mit der Gesetzgebungstheorie befassen.30 Auch auf europäischem Gebiet gibt es Organismen und Institutionen für die Untersuchung der Gesetzgebung (so die Europäische Gesellschaft für Gesetzgebung), während in Großbritannien unter anderem das Royal Institute of Public Administration (RIPA) in London, das Office of Parliamentary Counsel, das Civil Service College, die Statute Law Society sowie das Zentrum für Kriminologie und rechtsphilosophische und -soziologische Studien der Universität von Edinburgh (Schottland) sowie die rechts- und sozialwissenschaftlichen Zentren der Universitäten von Sheffield und Oxford erwähnt werden können.31 In Spanien haben die von Salvador Coderch geleiteten Arbeiten des Grupo de Estudios de Técnica Legislativa (GRETEL, Gesetzgebungstechnik-Forschungsgruppe) eine besondere Bedeutung, sowie verschiedene Ministerialverfügungen zur Rationalisierung der Gesetzgebungsarbeit.32 In Argentinien ist der Master in der Erarbeitung von Rechtsnormen in Theorie und Praxis hervorzuheben, der an der Juristischen Fakultät (Nationale Universität von Buenos Aires) unter der Leitung von Prof. Dr. Miguel Ángel Ciuro Caldani angeboten wird. An derselben Fakultät wurde auch ein Forschungszentrum der Erarbeitung von Rechtsnormen geschaffen, zu dessen Zielen es unter anderem gehört, zur Verbesserung der Ausarbeitungsprozesse von Rechtsnormen beizutragen und die Implementierung von innovativen Systemen zur Verwaltung der normativen Produktion zu fördern. Zu seinen spezifischen Aufgaben zählen die Recherche und Systematisierung von Informationen über die Theorie und Praxis der Erarbeitung von Rechtsnormen sowie die aus den durchgeführten Untersuchungen und Forschungsprogrammen hervorgehende regelmäßige Ausarbeitung von analytischen Berichten, Statistiken und fachlichen Empfehlungen. Außerdem entwickelt das Zentrum Studien und Forschungsprogramme für die Beratung bei der Erarbeitung von Gesetzgebungsprojekten, wobei Prioritäten gesetzt und die notwendigen Handlungslinien festgelegt werden.33 Einen anderen wichtigen Meilenstein bildet in Argentinien das Gesetz Nr. 24.967, dessen Ziel darin besteht „… die Prinzipien und das Verfahren für ein System zur Sicherung der nationalen allgemeinen gültigen Gesetze und deren Regelung festzulegen …“ (Art. 1), das heißt, die Verabschiedung eines sogenannten Digesto Jurídico Argentino. Dieses monumentale Werk will alle seit 1853 verabschiedeten Gesetze 30 Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 23. 31 Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 775. 32 Vgl. m.w.N. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 38 – 46. 33 Vgl. www.derecho.uba.ar/academica/posgrados/centro_normas_juridicas.php, wo die Beschlüsse eingesehen werden können, die das besagte Zentrum schaffen.
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auf eine beherrschbare und bestimmbare Anzahl verringern. Als erster Teil dieser Aufgabe wurde ein Handbuch der Gesetzgebungstechnik erarbeitet, und im Mai 2009 übergab der Dekan der Juristischen Fakultät (der Universität von Buenos Aires, UBA) dem Justizminister das Projekt des Digesto Jurídico Argentino, das die (mehr als 26.000) geltenden Gesetze auf 4000 reduziert.34 Die Gesetzgebungstheorie ist damit der ernsthafteste Versuch zur Überwindung der aktuellen Gesetzeskrise.
III. Die Krise des Strafgesetzes – Überwindungsversuche Die Gesetzlichkeitskrise erfährt auf dem Gebiet des Strafrechts unterschiedliche Ausprägungen. Seit Längerem kann eine – in letzter Zeit verschärfte – wahre „Gesetzgebungsinflation“ des Strafsystems festgestellt werden, die sowohl zu dem sogenannten „Symbolischen Strafrecht“ als auch zu einer Ausweitung des Strafrechts führt.35 Ich werde die Hauptausprägungen dieses Phänomens hier nicht darlegen, sondern muss mich, insbesondere aus Platzgründen, auf den bloßen Hinweis auf sie beschränken. Ebenso kann festgestellt werden, dass die Strafe eine neue soziale Bewertung erfahren hat, die eine tiefe Spaltung zwischen der Mehrheit der Juristen und der sie umgebenden Realität markiert: Von den politischen Machthabern wird Strenge gefordert und die Fähigkeit, Strafen aufzuerlegen, anstatt Toleranz und Milde walten zu lassen. Hierzu gesellen sich die Forderungen der „Risikogesellschaft“ mit ihrer neuen Interpretation von individueller Freiheit und Gefahren sowie die Forderungen aller sozialen Bereiche nach mehr Strafrecht. Außerdem kommt das Auftauchen des Opfers hinzu, das den „Täter“ (den „Verbrecher“) aus dem Zentrum der Aufmerk34 Weitere Details siehe Martino, El Digesto Jurídico Argentino: una obra monumental, S. 321 – 328; auch Brenna, El ordenamiento de las leyes, insbes. S. 18; zur Übergabe des Projekts siehe die Information in: http://www.universia.com.ar/portada/actualidad/noticia_ac tualidad.jsp?noticia=15182. 35 Zum Konzept des Symbolstrafrechts siehe wiederum Hassemer, Das Symbolische am symbolischen Strafrecht, S. 1004; auch Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y Derecho penal, S. 31, Fn. 91 und 92. Zur Situation in Deutschland vgl. Albrecht, Kriminologie, 3. Aufl., 2005, S. 1, mit Zitat von Michael Voß, Strafe muß nicht sein, in: H. Peters (Hrsg.), Muß Strafe sein? Zur Analyse und Kritik strafrechtlicher Praxis, 1993, S. 135 ff. Bezüglich der Reformen und des strafrechtlichen Expansionsdranges in Argentinien stechen die Sammelwerke folgender Autoren hervor: Aboso, Reformas al Código penal. Análisis doctrinario y praxis judicial, 2005; Donna (Hrsg.), Reformas penales, 2004; ders. (Hrsg.), Reformas penales II, Rubinzal-Culzoni, 2006; sowie die exzellente Arbeit von Cesano, El expansionismo penal argentino en los albores del siglo XXI, Zeitschrift Pensamiento Penal del Sur, Bd. 2004/I, S. 641 – 689; sowie die Arbeit von Silva Sanchez, La expansión del Derecho penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades postindustriales, 2. Aufl., 2001. Eine vollständige und tiefgreifende Untersuchung der gegenwärtigen Situation des Strafrechts findet sich in: Pastor, Recodificación penal y principio de reserva de código, 2005, S. 15 ff.
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samkeit verdrängt und für einige einen echten Paradigmenwechsel verursacht.36 So ist die Auferlegung von Strafen zu einem standardisierten Reaktionsmodell geworden. Nicht nur die „devianten Verhaltensweisen“ sind strafbar, sondern auch die Personen am Rande der Gesellschaft und unangenehme Situationen: Im Fachjargon sind all diese Verhaltensweisen „strafbar“ geworden. Es häufen sich Klagen über die Freizügigkeit der Gesellschaft, über milde Prozesse gegen die „Jugendkriminalität“ und über die Belastung durch Obdachlose, sowie über die verfassungsrechtlichen Einwände, die verhindern, dass der populären Forderung entsprochen wird, gewalttätige Täter oder Sexualstraftäter zu eliminieren. Das Strafrecht ist hiermit zu einem „sozialen Allheilmittel“ geworden. Dies führt zu dem Paradoxon, dass es in Wirklichkeit nun nicht mehr notwendig ist, die Strafe zuzumessen und sie zu rechtfertigen. Im Gegenteil, was jetzt legitimiert und gerechtfertigt werden muss, ist Infragestellen und Kritik an der Strafe.37 Schließlich sehen sich das Gesetzlichkeitsprinzip und seine Folgen, das Gebot der Bestimmtheit des Strafgesetzes, das Analogieverbot und die daraus folgende restriktive Auslegung der Strafgesetze, von den von Naucke sogenannten „Generalklauseln“ erschüttert, die sich durch Folgendes auszeichnen: a) ihre Unbestimmtheit, wodurch die Festlegung ihres Zwecks unmöglich gemacht wird; b) die ausgeprägte Verallgemeinerung auf Grund derer ihr Regelungsbereich nicht bestimmt werden kann; c) eine große Unklarheit. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das nicht nur dem gegenwärtigen Gesetzgeber vorbehalten ist, es kann in Deutschland vielmehr mindestens schon seit dem Ersten Weltkrieg festgestellt werden.38 Die Gesetzgebungstheorie hat in der strafrechtlichen Forschung einen nebensächlichen Platz eingenommen. Auch wenn das Paradigma des Strafrechtlers, der sich allein der Lehre und der Anwendung des Strafrechts widmet und sich von dessen Gesetzgebung und der Kriminalpolitik fernhält, als überwunden angesehen werden kann, so sind jedenfalls die Wege, diese Tätigkeiten mitzuteilen, alles andere als optimal.39 36
Vgl. Hassemer/Reemstma, Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, insbes. S. 13 – 15. 37 Vgl. Kunz/Mora, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, S. 253 – 255. 38 Vgl. Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, Tübingen, 1973 S. 1; zur historischen Entwicklung dieser Gesetzgebungstechnik siehe S. 4 – 11; auch Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968, S. 249 – 257; Class, Generalklauseln im Strafrecht, in: Bockelmann/Callas, Festschrift für Eberhard Schmidt, 1971, S. 122 – 138. 39 Joachim Vogel betont, dass in Deutschland eine langjährige Tradition gemeinschaftlicher Arbeit zwischen dem Gesetzgeber und den Professoren für Strafrecht besteht; neben der unter anderem von Franz von Liszt gebildeten Kommission, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Reform des deutschen StGB untersuchte, sind die Große Kommission von 1954 und die für den „Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität“ einberufene Spezialistenkommission von 1973 zu nennen; die Strafrechtskommission konnte 1936 sogar den Erlass des Gesetzesprojektes von 1936 verhindern; jedoch wurde diese Tradition durch das im Dezember 1997
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So weist auch Monika Voß darauf hin, dass die Idee einer allgemeinen Gesetzgebungstheorie nicht bedeutet, dass diese auf eine einheitliche Behandlung von der Perspektive einer einzigen Wissenschaft aus beschränkt werden müsse; vielmehr müssen sich diese allgemeinen Untersuchungen in einen Besonderen Teil einfügen, der jeden einzelnen Rechtsbereich behandelt. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass die Aufgaben und Folgen des Steuerrechts andere sind als die des Strafrechts, dann wird klar, dass die von der Gesetzgebungstheorie erarbeiteten allgemeinen Prinzipien sich notwendigerweise an jedes Gebiet anpassen müssen, auf das diese Theorie angewandt werden soll.40 Es gibt wenige Arbeiten, die versucht haben, die Gesetzgebungstheorie mit dem Strafrecht zu verbinden. In Deutschland haben drei Autoren sich um eine umfassende Behandlung dieser Frage in ihren Werken bemüht: Monika Voß, Gregor Stächelin und Peter Lagodny.41 Zu ihnen gesellen sich verschiedene Aufsätze, unter denen der von Joachim Vogel in der Festschrift für Roxin von 2001 herausragt.42 Allgemein und ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann gesagt werden, dass diese Werke sich grundsätzlich auf die politische Theorie von Jürgen Habermas stützen. In Argentinien sind die Arbeiten von Daniel Pastor, Julio Maier und Marcelo Sancientti hervorzuheben. In einer tiefgehenden und reichhaltigen Arbeit betont Ersterer nach der Untersuchung des aktuellen Zustandes des Strafrechts, dass die Rückkehr zur strafrechtlichen Gesetzgebungswissenschaft durch die große Unordnung, das Chaos, die Ineffizienz und Manipulation sowie die mangelnde Ernsthaftigkeit der geerlassene „Sechste Strafrechtsreformgesetz“ gebrochen; zu weiteren Details, Kritiken und zusätzliche Literatur vgl. Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, in: Schünemann u. a., Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin/New York, 2001, S. 106 – 107. 40 Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 12. 41 Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat. Normative und empirische materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetzgebungspraxis, 1998; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996. 42 Vgl. Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, S. 105 – 118; Günther, Die Genese eines Straftatbestandes. Eine Einführung in Fragen der Strafgesetzgebungslehre, JuS 1978, S. 8 – 14; Hettinger, Zur Rationalität heutiger Strafgesetzgebung im Hinblick auf die Rechtsfolgenbestimmung, GA 1995 S. 399 – 429; Hobe, Umsetzung kriminalpolitischer Zielsetzungen in Gesetzgebungsverfahren, Nachwort zur Fragestellung: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XIII, Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 185 – 193; Maiwald, Dogmatik und Gesetzgebung im Strafrecht der Gegenwart, in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik. 3. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ am 29. und 30. April 1988, 1989, S. 120 – 137; Pohl, Strafgesetzgebungstheorie – Voraussetzung für die Effektivität von Strafnormen?, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung. Jürgen Rödig Gedächtnissymposion 28. – 30. Oktober 1982, 1984, S. 172 – 178; Schreiber, Ist eine Effektivitätskontrolle von Strafgesetzen möglich?, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung. Jürgen Rödig Gedächtnissymposion 28. – 30. Oktober 1982, 1984, S. 178 – 186; Waldmann, Zur Genese von Strafrechtsnormen, KrimJ 1979, S. 102 – 123.
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genwärtigen Strafgesetzgebung bedingt ist. Seine wesentlichen Thesen und Vorschläge sind die Folgenden: – Das Verfassungsrecht gebiete nicht nur einen bestimmten Inhalt der Strafrechtsgesetzgebung, sondern bestimme auch eine bestimmte Art der Gesetzgebungsmethodik: die Kodifizierung (die auf diese Weise ein Korollar des Gesetzlichkeitsprinzips sei). In diesem Sinne und mit einem Zitat von Luigi Ferrajoli behauptet er: „… jetzt ist der Zeitpunkt einer Gesetzgebungswissenschaft gekommen, die die aktuelle Entschlüsselungstendenz überwindet, die Rolle des Gesetzes im Rechtsstaat wiederherstellt und das Gesetzlichkeitsprinzip stärkt, indem sie es fest an den Schutz der Grundrechte bindet …“.43 – Damit diese Rückkehr zur Kodifizierung effektiv sein könne, müssten weitere Bedingungen erfüllt werden: die Verringerung der strafbaren Handlungen auf ein zulässiges Minimum44 und die Festlegung einer Serie von zusätzlichen Garantien: So wirke das Prinzip des Gesetzbuch-Vorbehalts als eine Metagarantie der Kodifizierungssystematik.45 Gleichzeitig schlägt Pastor vor, verschiedene Unterprinzipien aufzustellen: So sollten alle strafrechtlichen, strafprozessrechtlichen und gerichtsorganisatorischen Vorschriften in einem einzigen Gesetzbuch enthalten sein. Keine Norm, die sich außerhalb dieses Gesetzbuches befindet, solle Gültigkeit haben. Ebenso garantiere der Numerus Clausus der Straftatbestände eine rechtlich unmittelbar wirksame Beschränkung auf ein Minimalstrafrecht.46 Auch das Unterprinzip der Reformkonzentration und der Unveränderlichkeit des Numerus Clausus müsse eingehalten werden: Das neue Strafgesetzbuch, das gemäß den genannten Forderungen abgefasst wurde, könne nur ein Mal jährlich durch ein Gesetz verändert werden. Außerdem impliziere das Quorums-Unterprinzip die Forderung nach einer qualifizierten parlamentarischen Mehrheit für die Verabschiedung der Reform der kodifizierten Strafgesetzgebung. Schließlich müssen die strafrechtliche Rekodifizierung und ihre jährlichen Reformen außerhalb des Gesetzgebungsorgans diskutiert und ausgearbeitet werden. Dieses verabschiede sie ohne Veränderungsmöglichkeit, sobald die notwendige Zustimmung erzielt worden sei. Die bestausgebildeten Universitätsprofessoren für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie seien mit den Gesetzestexten zu betrauen (Unterprinzip des geschlossenen Buches).47
43 Vgl. Pastor, Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 12, 146 – 150, mit Zitat von Ferrajoli, Derecho y razón, S. 449. 44 Damit greift er die Idee eines Minimalstrafrechts auf; vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 154 – 167. 45 Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 171. 46 Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 171, 178 – 179 und 182 – 227. 47 Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 235 – 245.
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Auch Julio B. Maier hat sich in seinen neuesten Arbeiten mit der Krise des Strafrechts befasst und Vorschläge zur Lösung der aktuellen Situation formuliert.48 Er fordert nicht nur eine Verringerung der strafbaren Verhaltensweisen, sondern auch ihre Konzentration in einem einzigen Gesetzbuch (unter Abschaffung des sogenannten Ergänzungs- und Spezialstrafrechts), um so die zweckmäßige Anwendung der Strafnormen und die effektive Gültigkeit des Gesetzlichkeitsprinzips sicherzustellen. Er schlägt auch eine qualifizierte Mehrheit zur Verabschiedung von Gesetzgebungsreformen strafrechtlichen Inhalts vor und stützt sich hierfür auf die analoge Anwendung der argentinischen Verfassung für die Fälle der Bestrafung von Beamten. Marcelo Sancinetti wiederum schlägt eine Regulierung des Allgemeinen Teils des Strafrechts vor, der so kurz wie möglich sein solle, ein Mindestmaß zur Ermöglichung einer freieren Entwicklung der Forderungen der Strafrechtslehre.49 Ich teile die Vorschläge von Pastor, soweit er die Rückkehr zur Strafrechtskodifizierung als gesetzgeberische Methode vorschlägt, um dem aktuellen Strafrecht entgegenzuwirken, das inflationär und expansiv ist, sich in Untersysteme sowie „Ergänzungsnormen“ auffächert, als „soziales Allheilmittel“ dient, kurz, ein neopunitivistisches und neoinquisitorisches Strafrecht darstellt. Damit bietet es einen ähnlichen Kontext, wie das Recht, dem die Aufklärer zu ihrer Zeit gegenüberstanden. Heute hat sich das Strafrecht von den Prinzipien entfernt, die damals zu seiner Vereinigung in einem einzigen Gesetzestext führten, nämlich die Anwendung einer präzisen Technik, die Kürze, Einheitlichkeit und einzige Quelle. All diese Prinzipien dienten dazu, seine Auslegung zu erleichtern und die Willkür der Auslegenden (hauptsächlich der Richter) zu vermindern. Ich glaube jedoch, dass die Rekodifizierung alleine nicht ausreicht, hauptsächlich weil sie die Auslegungstätigkeit des Gesetzes weder beseitigen konnte noch können wird, was auch einer der von Pastor kritisierten Punkte ist. Die Lektüre jeglicher Urteilssammlung zeigt uns, dass zum Beispiel das argentinische Strafgesetzbuch von 1921, das als zivilisierter und aufgeklärter Meilenstein angesehen wird, in dem sich jene eben genannten Ideale der strafrechtlichen Kodifizierung zeigen, trotz seiner guten gesetzgeberischen Technik das Aufkommen von widersprüchlichen Auslegungen seiner Vorschriften nicht verhindern konnte. Daher muss sich jedes Programm, das versucht, das Strafrecht zu begrenzen und zu rationalisieren, gleichzeitig sowohl mit der Schaffung als auch mit der Auslegung des Strafgesetzes befassen. In dieser Hinsicht dürfen das Gesetzlichkeitsprinzip und das in dubio pro reo Prinzip nicht als zwei konkurrierende Prinzipien angesehen wer48 Vgl. seinen Vortrag Constitución y procedimiento penal, den er im August 2008 in Feuerland hielt; auch ¿Es posible todavía la realización del proceso penal en el marco de un Estado de Derecho? in der Zeitschrift ¿Más Derecho? Nr. 1, 2001; La esquizofrenia del Derecho penal, in: Rivera u. a. (Hrsg.), Contornos y pliegues del Derecho. Homenaje a Roberto Bergalli, 2006, S. 295 – 312. Zum ideologischen Fundament, das die Ausbreitung des Strafrechts bewirkt, siehe Blumbergstrafrecht; vgl. NDP, 2004/B, S. I ff.; aus neuerer Zeit: Die Zukunft des Strafrechts, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 481 – 501. 49 Vgl. Dogmática del hecho punible y ley penal – Dogmatik der Straftat und Strafgesetz (zweisprachige Ausgabe), 2003, S. 15 ff.
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den, wie weiter unten ausgeführt wird. Bei der Auslegung des Strafgesetzes leistet meiner Ansicht das in dubio pro reo Prinzip einen wichtigen Beitrag zu der Feststellung, welche Auslegung auf einen Fall anzuwenden ist. Zur Erklärung meines Vorschlages müssen jedoch vorher die verschiedenen Theorien der Gesetzesauslegung kurz untersucht werden.
IV. Die Gesetzesauslegung Gegenwärtig werden – grob gesagt – drei Theorien über die Gesetzesauslegung anerkannt, die alle durch die Art und Weise des Verständnisses des Rechtssystems geprägt sind: die „formalistische“, ihr Gegenspieler, die skeptische, und die vermittelnde, die von einigen Autoren „Theorie der offenen Struktur“ genannt wird.50 Nach der formalistischen Theorie ist die Auslegung eine objektive Erkenntnisse ermöglichende Tätigkeit, welche darin besteht, die objektive Bedeutung der gesetzgeberischen Verfügungen oder die Absicht des Gesetzgebers zu ermitteln. Ihre Verfechter vertreten die Ansicht, dass die Wörter eine eigene Bedeutung haben, dass der Gesetzgeber einen einheitlichen und erkennbaren Willen besitze und dass das Rechtssystem keine Lücken aufweise, womit jeder gesetzlichen Bestimmung eine einzige „wahre“ Auslegung entspreche. Daher bestehe das Ziel der Auslegung darin, die objektive Bedeutung der Wörter oder den Willen des Gesetzgebers zu „ermitteln“. Der Richter habe so keinen Entscheidungsspielraum.51 Der Ursprung dieser Auffassung findet sich in dem aufklärerischen Ideal, richterliche Willkür zu vermeiden, womit die Bindung des Richters an das Gesetz zum natürlichen Korollar des Gewaltenteilungsprinzips erhoben wurde. In diesem Zusam50 Vgl. Igartúa Salaverría, Teoría analitica del Derecho (La interpretación de la ley), 1994, S. 41 ff.; Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, Übersetzung von Miguel Carbonell und Pedro Salazar, 2008, S. 39 – 42; ders., Lezioni di teoría del diritto e dello Stato, 2006, S. 69 – 82 und 95 – 104. 51 Vgl. Igartúa Salaverría, Teoría analitica del Derecho, S. 42. Dieser Autor weist darauf hin, dass gemäß dem Formalismus „… die gerichtliche Entscheidung perfekt von den Gesetzen beschrieben sein [muss]. Diese bilden ein ausreichend präzises, vollständiges, geschlossenes und nicht widersprüchliches System. Wenn doch irgendein Zweifel hinsichtlich seiner Bedeutung auftaucht, wird dieser mit Hilfe des gesetzgeberischen Willens gelöst. Wenn Widersprüche zwischen den Normen auftreten, so bestehen diese nur scheinbar. Wenn Lücken entdeckt werden, werden sie bequem und zutreffend durch Analogie behoben, die nur äußerst logische Verfahren und die Rekonstruktion des Gesetzgeberwillens impliziert. Die Tatsachen, auf welche die Gesetzesvorschrift angewandt wird, werden mit der gleichen glänzenden, einfachen und wirksamen Klarheit gelöst wie jede nichtrechtliche Tatsache, zum Beispiel auf wissenschaftliche und objektive Weise. Bei der Entscheidung eines konkreten Falls benötigt der Richter also nur eine logische Schlussfolgerung, um die geltenden Normen auf eine bewiesene Tatsache anwenden zu können …“; vgl. ders., Prolog zu Ezquiaga, 1990, S. 21; zitiert nach Nieto, El arbitrio judicial, Barcelona, 2000, S. 40. Ein Beispiel für diese Ansicht ist in Argentinien das Werk von Sebastián Soler, La interpretación de la ley, 1962; zu diesem Thema siehe auch Julio B. J. Maier, Derecho procesal penal, Bd. I, 2. Aufl., 1996, S. 191 – 238.
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menhang ist der Prototyp des Richters ein reiner Vollzieher des gesetzgeberischen Willens, der in dem berühmten, Montesquieu zugesprochenen Ausspruch verkörpert wird, dass der Richter der Mund sei, der die Worte des Gesetzes spreche.52 Die Aufklärung wollte die Rationalität auf alle menschlichen Tätigkeiten, einschließlich der juristischen, ausbreiten. Daher ging man davon aus, dass die Lösung eines Konfliktes immer im Gesetz (oder zumindest in der gesamten Rechtsordnung) läge und dass die Richter nur die Aufgabe hätten, diese zu finden: „Alles ist im Gesetz und außerhalb von ihm darf nichts beachtet werden“.53 In der Gegenwart ist dieses Paradigma, das vielleicht in einem bestimmten historisch-politischen Kontext gültig war – der durch die Konfrontation und den Kampf gegen ein inquisitorisches, absolutistisches und willkürliches System gekennzeichnet war – jedoch sehr schwer vertretbar. So zeigen zum Beispiel die Existenz von widersprüchlichen Urteilen, völlig entgegengesetzten Auslegungen ein und desselben Gesetzestextes, abweichende oder widersprüchliche individuelle Sondervoten und die Aufhebung von Urteilen durch höhere Gerichte die Irrealität dieses Wunsches und die Notwendigkeit, diese Sachlage anzuerkennen und eine andere Lösung zu finden.54 Die entgegengesetzte (skeptische) Theorie vertritt die These, dass die Rechtssysteme weder vollständig noch dauerhaft sind und dass die Richter im Endeffekt echte Gesetzgeber sind. Für einige Vertreter dieses Standpunktes sind die Regeln bloß nette Spielzeuge, die nur in dem Maße wichtig sind, wie sie uns helfen, das Handeln der
52 Vgl. Fiandaca/Musco, Derecho penal. Parte General, Übersetzung von Luis Niño, 2006, S. 129; so auch Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 39. Dass dieser Satz tatsächlich von Montesquieu stammt, wurde jedoch von verschiedenen Autoren angezweifelt; vgl. Schönfeld, K. M., Rex, Lex et Judex: Montesquieu and la bouche de la loi revisited, European Constitutional Law Review, 2008/2, S. 274 – 301; zu diesem Punkt siehe auch Montiel, Juan Pablo, La analogía in bonam partem en el Derecho penal: reflexiones sobre sus fundamentos y límites, 2009 als Vortrag gehalten im Seminar von Daniel Pastor, Juristische Fakultät (Universität von Buenos Aires), S. 5, Rn. 8; ebenso Ortiz de Urbina Gimeno, La excusa del positivismo. La presunta superación del „positivismo“ y el formalismo por la dogmática penal contemporánea, 2007, S. 38 – 40; auch Ogorek, Die erstaunliche Karriere des ,Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?, in: Cornelius Prittwitz u. a., Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag am 2. Mai 2002, 2002, S. 127 – 140. 53 Vgl. Nieto, El arbitrio judicial, S. 33 – 41, insbes. S. 40. Diese Konzeption der Rolle der Richter und ihre Unterordnung unter das Gesetz beeinflusste auch andere Institutionen, zum Beispiel das Rechtsmittel der Revision; hierzu siehe Pastor, La nueva imagen de la casación penal, 001, S. 15 – 35. 54 Die Unmöglichkeit, eine einzige Lösung zu finden, beruht auf vielen Gründen: die Mehrdeutigkeit und Ungenauigkeit der juristischen Sprache, der allgemeine Charakter der Gesetze, welcher es ihnen unmöglich macht, alle Einzelfälle vorherzusehen, die eigenen Anschauungen des Richters, usw. Wie man sieht, ist die Rechtsprechung und Literatur zu der „vorläufigen Verfahrenseinstellung“ in Argentinien ein klares Beispiel für dieses Problem (vgl. den Kommentar von Bruzzone, Probation y pena de inhabilitación. Una „condena“ similar a la que surge de un juicio abreviado, Rechtsprechungsanhang, Revista La Ley, 6. 7. 2001, S. 3).
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Richter vorherzusagen.55 Gegenwärtig nimmt diese Haltung die Zweideutigkeit und Unbestimmtheit der Sprache ernst und behauptet, dass die normativen Texte vor der Auslegung jeglichen Sinnes entbehren. Sie können unterschiedlich ausgelegt werden, es gibt jedoch kein Kriterium, um zwischen der richtigen und der falschen Auslegung zu unterscheiden.56 Schließlich gibt es eine von einigen Autoren als vermittelnde Position angesehene Theorie. Gestützt auf die Theorie von Hart über die „offene Struktur“ der Sprache57, betont sie die nahezu unbeschränkbare Unbestimmtheit fast aller normativen Bestimmungen, die in natürlicher Sprache und unter Benutzung allgemeiner Gattungswörter abgefasst sind.58 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen objektiv einschätzbaren „klaren“ und „zweifelhaften“ Fällen, bestimmt der Auslegende bei Letzteren die Bedeutung eines Textes, wenn er eine Angelegenheit dieser Art löst. Auf diese Weise werden die abweichenden Sondervoten und unterschiedlichen Kriterien gerechtfertigt, die zwei Gerichte angesichts ein und desselben Sachverhaltes im Falle einer Berufung oder Revision vertreten.59 55 Nach dem Satz von Llewellyn aus seinem Werk The Bramble Bush (zitiert nach Nino, Introducción al análisis del derecho, S. 45). Der Richter Holmes verstand unter „Recht“ „… die Prophezeiungen darüber, was die Gerichte konkret tun werden, nicht mehr und nicht weniger …“ (vgl. Nino, op. cit., S. 46). 56 Vgl. Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 42. Jedoch wird behauptet, dass diese Position die objektiven Grenzen vernachlässige, denen die Möglichkeiten der Auslegenden zwangsläufig unterliegen. In einem bestimmten kulturellen Umfeld können die linguistischen Ausdrücke verschiedene Bedeutungen zulassen, nicht aber jedweden Sinn, vgl. Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 43. Außerdem wird hervorgehoben, dass die Skeptiker vergessen, dass es zumindest eine Art von Normen gibt, deren Inhalt nicht davon verschont bleibt, was die Richter „zu sagen behaupten“: diejenigen Normen, die ihnen gerade die Kompetenz erteilen, bestimmte Konflikte zu lösen und festlegen, wer diese soziale Rolle der Konfliktlösung einzunehmen hat; vgl. Nino, Introducción al análisis del derecho, S. 46 – 50; auch Hart, El concepto de derecho, Übersetzung von Genaro Carrió, 2. Aufl., 2004, S. 169 – 191. 57 Vgl. Hart, El concepto de derecho, S. 165 – 169. 58 Vgl. Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 44. 59 In diesem Punkt ist die unserer Rechtskultur Prestige verleihende Diskussion zwischen der formalistischen Position von Soler, La interpretación de la ley und Genaro R. Carrio, Algunas palabras sobre las palabras de la ley, 1971, höchst interessant; ders., Notas sobre derecho y lenguaje, Buenos Aires, 1976; zu der Ansicht von Hart siehe La decisión judicial: el debate Hart-Dworkin, insbesondere die einleitende Untersuchung von César Rodríguez, Siglo del Hombre Editores, 2000 S. 15 – 88. Zu der vermittelnden Theorie erklärt Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 45: „Diese vermittelnde Theorie nimmt an, dass die Unterscheidung zwischen ,klaren Fällen‘ (die in den Bestimmtheitsbereich fallen) und ,zweifelhaften Fällen‘ (die in den Schattenbereich fallen) eine objektive Unterscheidung ist, dass es kein Werk der Entscheidungen des Auslegenden ist. Als Korollar folge daraus, dass der Auslegende die Bedeutung eines Textes ,beschreibe‘, wenn der zu lösende Fall in den Bestimmtheitsbereich falle; hingegen ,entscheide‘ der Auslegende die Bedeutung eines Textes, wenn er sich im Schattenbereich bewege, das heißt, wenn er einen Zweifelsfall löse …“. Auch Kelsen, Teoría pura del derecho, Übersetzung von Moisés Nilve, 2. Aufl., 9. Neudruck, 1996, S. 166 – 167, lässt verschiedene mögliche Auslegungen einer Norm zu.
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In gewisser Weise diskutieren diese Theorien die umstrittene Frage danach, wer die Schöpfer des Rechts sind. Diesbezüglich unterscheidet Riccardo Guastini verschiedene Voraussetzungen, unter welchen die Auslegung der Rechtsschöpfung gleichsteht. So sei die sogenannte wissenschaftliche Auslegung (im Sinne von Kelsen und Merkl) kein Fall der Rechtsschöpfung, da sie darin bestehe, alle Normen festzulegen, die von einer Verfügung ausgedrückt werden (gemäß den unterschiedlichen Auslegungstechniken, die in der gegenwärtigen Rechtskultur angewandt werden). Hingegen wird Recht geschaffen, wenn die Richter einer Verfügung eine Bedeutung zusprechen, die sich nicht in den Rahmen der möglichen Bedeutungen einfügt. Dies ist – in starkem Sinne – die Schaffung einer impliziten Norm: ähnlich der Gesetzgebung, auch wenn sie nicht in der kanonischen Formulierung einer Verfügung besteht. Es wird auch Recht geschaffen, wenn die Richter Lücken entdecken (die sie in Wirklichkeit selbst konstruieren) und diese mittels bestimmter Techniken und impliziter Normen – das heißt, Normen, die nicht die Bedeutung irgendeiner Verfügung darstellen – schließen. In diesen Fällen handelt es sich nicht um Auslegung: Es ist die Schöpfung – in starkem Sinne – einer neuen Norm. In anderen Fällen wenden die Richter Verfügungen an, die keine „Regeln“ sondern „Prinzipien“ ausdrücken. Die Anwendung eines Prinzips erfordert normalerweise zwei Dinge: Erstens seine Konkretisierung; zweitens seine Abwägung mit anderen, entgegenstehenden Prinzipien. Die Konkretisierung eines Prinzips besteht darin, aus ihm neue Normen („Regeln“) abzuleiten, die implizit sein sollen. Die Abwägung von Prinzipien besteht wiederum darin, eine – axiologische – hierarchische Beziehung bestimmter Art zwischen den konkurrierenden Prinzipen herzustellen. Besagte (in sehr weitem Sinne Abwägungs-)Verfahren, nämlich Konkretisierung und Abwägung, sind schöpferische Tätigkeiten: von Normen (Konkretisierung) beziehungsweise von hierarchischen Beziehungen (Abwägung). Die Diskussion über die rechtlichen Prinzipien hat die rechtsphilosophische „Tagesordnung“ der letzten zwei Jahrzehnte dominiert.60 Hierbei übte sowohl das Werk von so großen Autoren wie Dworkins in seiner Polemik mit Hart Einfluss aus als auch die Arbeit der Lehre und der Rechtsprechung bei der Auslegung der Verfassung, die sich als Produkt komplexer politischer Kompromisse aus allgemeinen und mehrdeutigen Texten zusammensetzt.61 Schließlich stellen sowohl das Außerkraftsetzen von bereits existierenden Normen als auch die zusätzlichen und ersetzenden verfassungsrechtlichen Deutungsurteile Fälle echter Rechtsschöpfung dar.62
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Navarro/Bouzat/Esandi, Juez y ley penal. Un análisis de la interpretación y aplicación de normas penales, 2001, S. 16. 61 Diesbezüglich siehe Carbonell, Prólogo, in: Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 10. 62 Vgl. Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, S. 228 – 230.
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V. Die Auslegung des Strafgesetzes und ihre spezifischen Probleme – Gesetzlichkeitsprinzip, Bestimmtheitsgebot und in dubio pro reo-Prinzip Neben den gewöhnlichen Problemen sieht sich die Auslegung des Strafgesetzes besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Sancinetti wies schon mit einer gewissen Skepsis auf die Schwierigkeiten hin, das aus dem Gesetzlichkeitsprinzip abgeleitete Bestimmtheitsgebot in der Praxis anzuwenden.63 Zum Beispiel ist das argentinische Strafgesetzbuch voller Tatbestände, die nicht nur an der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der von ihm benutzten natürlichen Sprache kranken, sondern außerdem auch an Generalklauseln oder Wertungskonzepten leiden, die nur durch den Auslegenden vervollständigt werden können. Zum Beweis meiner Behauptungen werden folgende Beispiele genügen: Was bedeutet „sexueller Missbrauch in besonders schweren Fällen“ gemäß Art. 119 II Código Penal argentino (argentinisches Strafgesetzbuch, im Folgenden CP)? Oder: Umfasst der Beischlaf auf jedwedem Wege die sogenannte „fellatio in ore“? Und was versteht man unter „Waffe“? Und unter „Bande“? Ist es dasselbe wie eine kriminelle Vereinigung? Ein Phänomen unserer Zeit ist in diesem Zusammenhang die immer stärker zutage tretende Tendenz des Gesetzgebers, sich nicht klar auszudrücken64 und auf diese Weise anderen die Entscheidungen zu übertragen, die er treffen müsste; in anderen Situationen ergibt sich diese Unklarheit daraus, dass die Gesetze der Kompromiss entgegengesetzter Projekte sind.65 Außerdem unterliegen viele Bereiche, die das Gesetz regeln soll, von Natur aus Veränderungen (zum Beispiel das Steuerstrafrecht), was dazu zwingt, offene Formulierungen zu verwenden.66 Daher gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass es außerordentlich schwierig sei, die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der normativen Texte zu beseitigen. Wegen der von ihm geschützten Güter und der Gefährlichkeit des Instruments, das es anwendet (im Wesentlichen die Strafe, aber auch wegen der Folgen, die bereits die Einleitung eines Prozesses mit sich bringt) hat das Strafrecht außerdem eine spezielle 63
Vgl. Sancinetti, Casos de Derecho penal. Parte General, Bd. 1, 3. Aufl., Buenos Aires, 2005, S. 75. 64 Daniel Pastor nennt als Beispiel die Unterschiede zwischen „töten“ und „unter arglistigem Verschweigen von Tatsachen unrechtmäßigerweise Beihilfe in Anspruch nehmen“; vgl. ders., Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 74. 65 Dadurch wird die Erkenntnis, welche „Theorie“ oder welches „Konzept“ hinter ihnen stehen, erschwert. Virgilio Zapatero zeigt auf, dass oft die objektive Schwierigkeit, „… die Entwicklung eines Problems [vorherzusehen], den gelegentlichen Rückgriff…auf mehrdeutige oder ungenaue Ausdrücke erklärt, sowie darauf, die Delegierung als Instrument dafür zu benutzen, der unsicheren Zukunft zu begegnen …“, der sich der Gesetzgeber gegenüber sieht; das größte Problem entsteht, wenn die Mehrdeutigkeit absichtlich besteht; die Unbestimmtheit kann hingegen in einigen Fällen eine wertvolle Hilfe zur Erlangung politischer Vereinbarungen sein; vgl. ders., El arte de legislar, S. 87 – 88 und S. 259 – 265. 66 Vgl. hierzu Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen? Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Grawendort (Hrsg.), Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forensischen Funktion der Sprachanalyse, 1992, S. 74 – 75.
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Beziehung zur Sprache. Im Unterschied zu anderen juristischen Bereichen müssen die Strafnormen auf eine bestimmte Weise ausgedrückt werden; dabei erfüllt das nicht nur an den Gesetzgeber sondern auch an den Richter gerichtete Gesetzlichkeitsprinzip eine spezielle Funktion. Die Anwendung dieses Prinzips stellt eine der Aufgaben und Ziele der Strafgerichtsbarkeit dar.67 Die Werte, die es stützen, führen dazu, dass das Gesetzlichkeitsprinzip an zwei Fronten „handelt“: einerseits richtet es sich an den Gesetzgeber und andererseits an den Auslegenden. Im ersteren Fall ist das Bestimmtheitsgebot das stärkste, zusammen mit dem Verbot, Strafgesetze mit rückwirkender Wirkung zu schaffen; für den zweiten ist das Analogieverbot68 und das Verbot der Gewohnheit als Quelle zur Lösung eines Falles am stärksten. Aufgrund der Wichtigkeit dessen, was bei der Anwendung des Strafrechts auf dem Spiel steht, hat man auf beiden Seiten der Rechtsschöpfung Garantien gesucht. In diesem Sinne und wie im vorausgehenden Punkt erklärt wurde, steht fest, dass die Richter nicht auf die gleiche Art Recht schöpfen wie die Gesetzgeber;69 auf jeden Fall schaffen sie aber Recht bei der Entscheidung, welche Auslegung einer normativen Verfügung auf einen Fall anwendbar ist. Jedoch ist diese schöpferische Tätigkeit der Richter nach dem hier Vertretenen im Strafrecht stark begrenzt. Der Strafrichter kann nicht jedwede Auslegung wählen: Er muss dies unter Einhaltung aller Prinzipien, die diesen Rechtszweig beherrschen, tun; und hierunter befindet sich auch das in dubio pro reo-Prinzip. Zu diesem Zweck muss eine harmonische Auslegung des Gesetzlichkeitsprinzips und des in dubio pro reo-Prinzips in Betracht gezogen werden. Wenn wir akzeptieren, dass die Funktion beider Prinzipien der Schutz des Individuums gegen die Gefahr der staatlichen Strafverfolgung ist,70 (in dem Sinne, dass wir aufgrund des Ersteren erkennen können, welches die verbotenen Verhaltensweisen sind und welche Folgen uns für den Fall ihrer Durchführung erwarten, während das Zweite die Gegenseite des Schuldprinzips ist), dann sehen wir, dass sie sich in Wirklichkeit – wie bereits vorausgeschickt wurde – nicht entgegenstehen. In Wahrheit ist das in dubio pro reo-Prinzip die Grundlage der Bestimmtheitsforderung des Strafgesetzes, welches dann Wirkung entfaltet, wenn dieses Gebot übertreten wird. Außerdem ermöglicht es uns, den Disput widerstreitender Auslegungen zugunsten des Einzelnen zu lösen. Bevor kurz sowohl die Argumente derjenigen dargelegt werden können, die die Anwendung des in dubio pro reo Prinzips auf die Auslegung des Strafgesetzes stützen, als auch die Ansicht jener, die dies verneinen, müssen einige vorausgehende Prä67
Vgl. Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 74 – 77. Zum Inhalt des Analogieverbots im Strafrecht siehe Vasallli, Analogía nel diritto penale, in: Digesto delle Discipline Penalistische, Bd. I, 4. Aufl., UTET, 1992, S. 158 – 172. Zu diesem Thema siehe die exzellente Dissertation von Montiel, Fundamentos y límites de la analogía in bonam partem en el Derecho penal. 69 Ich beziehe mich wiederum auf Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, S. 228 – 230. 70 Zum Inhalt des Gesetzlichkeitsprinzips siehe Kapitel 1 der Dissertation von Montiel, op.cit.; auch Bacigalupo, El principio de legalidad como tarea inconclusa, in: Principios constitucionales de derecho penal, 1999, S. 43 – 72. 68
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zisierungen vorgenommen werden. Die Bedeutung eines normativen Textes wird nicht vor der Auslegungstätigkeit bestimmt. So muss zwischen Text und Bedeutung unterschieden werden. „… Jeder in den normativen Dokumenten – die gewöhnlich Rechtsquellen genannt werden – enthaltene strafrechtliche Text, wird von unterschiedlichen Juristen in verschiedenen Momenten und Umständen auf verschiedene, einander widersprechende Arten verstanden und benutzt. Dies bedeutet, dass die normativen Texte, die den Quellendiskurs darstellen, nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Auslegungen erlauben. Mit anderen Worten, die legislativen Verfügungen beinhalten nicht mehr nur eine einzige eindeutige Bedeutung, sondern unabhängig voneinander so viele Bedeutungen, wie es unterschiedliche Auslegungen gibt. Kurz, es ist notwendig die Texte von ihren Bedeutungen zu unterscheiden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es kein in beide Richtungen eindeutiges Verhältnis zwischen den einen und den anderen gibt …“.71 Andererseits werden allgemein gesagt bei der Gesetzesauslegung im Wesentlichen fünf Methoden angewandt: die grammatikalische, systematische, historische – subjektiv und objektiv –, teleologische und verfassungskonforme Auslegung.72 Jedoch gibt es keine Regel, die anzeigt, in welcher Situation dieser oder jener hermeneutische Kanon herangezogen werden soll; daher können die Auswahl und das Ergebnis prinzipiell einen willkürlichen oder zumindest beliebigen Inhalt haben.73 Auch wenn es nicht möglich ist, im Voraus festzulegen, welches die korrekte oder angemessene Methode für jede vom Auslegenden zu entscheidende Situation ist, so ist es doch wahrscheinlich, dass unterschiedliche Methoden zu verschiedenen Lösungen führen. Das Problem besteht also darin, wie man sich für die eine oder andere Auslegung entscheidet. Und hier nun schlage ich vor, das in dubio pro reo Prinzip so anzuwenden, dass es sich – zusätzlich zu den bereits bestehenden – in eine weitere Schranke für die Auslegung des Strafgesetzes verwandelt. Hier sollten wir nun kurz innehalten, um einige Argumente zu untersuchen, die meiner Position widersprechen. An erster Stelle wird die „dem Beschuldigten zuträgliche Auslegung“ mit der „restriktiven Auslegung“ gleichgesetzt. Es wird sogar behauptet, dass in einigen Fällen eine „weite Auslegung“ gefordert sein könnte oder die 71 Vgl. Guastini/Rebuffa, Einleitung zu Tarello, Cultura jurídica y política del derecho, Übersetzung von Isidro Rosas Alvarado, 1995, S. 12; auch Guastini, Il diritto come linguaggio, 2. Aufl., 2006, S. 141 – 142. Hiermit können die Fälle erklärt werden, bei denen zum Beispiel behauptet wird, dass eine bestimmte Auslegung verfassungswidrig sei (so die Kriminal- und Rechtsmittelkammer von Buenos Aires, Saal I, Fall „Barbará, Rodrigo Ruy wegen Haftverschonung“ vom 10. 11. 2003, Richter Donna, Bruzzone und Elbert, wo die vom Richter der vorhergehenden Instanz vorgenommene Auslegung des Art. 319 CPPN für verfassungswidrig erklärt wurde) oder wenn die CSJN erklärt, dass die für die Verfassungsmäßigkeit einer Norm vorteilhafteste Auslegung vorzugswürdig ist. 72 Diese Typologie wird von Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 78 – 79, benutzt; mit weiteren Details zu den verschiedenen Typologien der Auslegung: Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 31 – 39; auch Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 29 – 42. 73 Vgl. Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 79 – 80.
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Analogie „in bonam partem“ berechtigt sei (im Wesentlichen für die Rechtfertigungsgründe), aber niemals die Anwendung pro reo.74 Ich behaupte, dass die restriktive Auslegung nicht notwendigerweise für den Beschuldigten am vorteilhaftesten ist; im Allgemeinen kann die restriktive Auslegung darin bestehen, die unklaren Fälle auszuschließen oder in den Gesetzestext etwas einzufügen, was der Gesetzgeber nicht sagt (so bei der verfassungskonformen Auslegung), um einen Unterschied zum Ausdruck zu bringen und so den Anwendungsbereich des Textes zu verkleinern. Es kann jedoch geschehen (wie wir bereits gesehen haben), dass es notwendig ist, eine „weite Auslegung“ oder sogar eine „analoge“ Auslegung vorzunehmen, um zum Beispiel die Reichweite eines Rechtfertigungsgrundes zu erweitern. In diesem Fall so zu handeln bedeutet auch pro reo zu entscheiden. Daher bedeutet das in dubio pro reo-Prinzip nicht notwendigerweise, dass restriktiv ausgelegt werden muss. Ein gutes Beispiel für diese Fälle ist die Situation, die sich in Argentinien bezüglich der Auslegung der in den Art. 76 b ff. CP vorgesehenen vorläufigen Verfahrenseinstellung ergibt. Die dort angewandte äußerst schlechte Gesetzgebungstechnik führte dazu, dass zwei wissenschaftlich mögliche Auslegungen nebeneinander bestanden, wie auch Juan Pablo Alonso deutlich erklärt.75 Ein Kriterium zur Lösung der „Parität“ zwischen diesen Auslegungen ist die Anwendung des in dubio pro reo-Prinzips, die argentinische CSJN berief sich jedoch auf das Prinzip pro homine. Auch wird behauptet, die „historische Bedeutung“ des Prinzips verhindere seine Anwendung auf die Gesetzesauslegung, da es immer auf Tatsachen bezogen benutzt 74 Vgl. Maier, Derecho procesal penal, 2. Aufl., Bd. 1, S. 502 – 504; zum Konzept der weiten Auslegung und der Analogie vgl. Guastini, L’ interpretazione dei documenti normativi, Mailand, 2004, S. 157 – 161; kurz gesagt bestehe der Unterschied zwischen der weiten Auslegung und der Analogie in Folgendem: Erstere bestehe darin, einem Ausdruck eine weitere Bedeutung zu geben oder ihm eine Bedeutung zuzuschreiben, die auch den Schattenbereich umfasst; die Analogie sei hingegen ein normativer Schaffensakt; ich gehe davon aus, dass beide bei der Auslegung von strafrechtlichen Aussagen, die die Freiheit beschränken, verboten sind. 75 Vgl. Alonso, Interpretación de las normas y derecho penal, Buenos Aires, 2006, S. 9 – 72 und 240 ff.; nach Aufzählung der von den Richtern Magariños und García angeführten Argumente (Anhänger der Thesen, die die „weite“ beziehungsweise „restriktive“ Anwendung der vorläufigen Verfahrenseinstellung vertreten), behauptet Alonso, dass die von beiden angeführten Prinzipen „… ein ähnliches Maß an Wahrscheinlichkeit besitzen. In ihren jeweiligen Untersuchungen resümiert jeder Richter die Teile der Gesetzgebungsdebatte, die sich auf die vertretene Position beziehen. Beide Vorschläge spiegeln rivalisierende Straftheorien wider und wurden auf ähnlichen Grundlagen aufgebaut (die von den Gesetzgebern im Moment der Gesetzesverabschiedung berücksichtigten Ziele). Da beide ähnliche Wahrscheinlichkeitsgrade aufweisen, ist es äußerst schwierig, die relative Überlegenheit der einen über die andere abzuwägen … Wir sind also an die Grenzen der Kohärenz gelangt …“, vgl. S. 244 – 245; siehe auch das Urteil der CSJN, A. 2186.XLI, „Acosta, Alejandro Esteban wegen Verletzung des Art. 14 I des Gesetzes Nr. 23.737 – c.28/05 –“ vom 23. 04. 2008; vgl. außerdem den Kommentar von Díaz Cantón, Acerca de una derivación posible de la aplicación del principio „pro homine“ en el fallo „Acosta“ de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, in: Pitlevnik (Hrsg.), Jurisprudencia penal de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, Bd. 6, 2009, S. 189 – 195.
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wurde. Dieses Argument ist für die Lösung des Problems nicht entscheidend. Dass es bis heute niemand im Bereich der Gesetzesauslegung angewandt hat (auch eine bestreitbare Frage), bedeutet nicht, dass heutzutage keine guten Gründe bestehen, dies zu tun. Die Ablehnung des in dubio pro reo-Prinzips stützt sich auch auf die scharfe Trennung zwischen Tatsachen und Recht; jedoch ist diese künstliche Aufspaltung in der Gegenwart nur sehr schwer vertretbar.76 Wenn also diese Trennung unhaltbar ist, dann kann sie schlecht eine Grundlage dafür sein, die Anwendung des Prinzips auszuschließen. Daher ist keines der untersuchten Argumente überzeugend, um die Anwendung des in dubio pro reo-Prinzips auf die Auslegung des Strafgesetzes auszuschließen. Wenn wir schließlich akzeptieren, dass es unmöglich ist, die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der normativen Texte völlig zu verhindern, so werden wir sehen, dass wir auf strafrechtlichem Gebiet Prinzipien benötigen, die die Tätigkeit des Auslegenden regeln und begrenzen: Auf diese Weise funktionieren bereits unter anderem der Ausschluss der Gewohnheit, das Analogieverbot und das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen. Das in dubio pro reo-Prinzip hinzuzufügen, das harmonisch und konsequent mit dem Gesetzlichkeitsprinzip verbunden ist, bedeutet nichts anderes als die Tätigkeit der Auslegung des Strafgesetzes weiter zu beschränken. Die rechtlichen Theorien sind praktische Instrumente bezüglich derer wir uns fragen müssen, wozu sie dienen oder dienen sollen. Meine Position ist klar: Im Strafrecht müssen sie dazu dienen, seine Anwendung zu beschränken. Und dies bedeutet in der Praxis, dass das in dubio pro reo-Prinzip angewandt wird, um innerhalb der wissenschaftlich zulässigen Auslegungen diejenige Auslegung eines normativen Textes zu bestimmen, die für den Beschuldigten am vorteilhaftesten ist.
VI. Schlussfolgerung Wie wir gesehen haben, befindet sich das Gesetzlichkeitsprinzip in der Krise. Die einzige Art, dieser entgegenzutreten, besteht darin, sowohl an der Schaffung als auch an der Auslegung der Strafgesetze zu arbeiten. Auf diese Weise können wir vielleicht das Ideal eines beschränkten und rationalen Strafrechts verwirklichen.
76 Vgl. hierzu Pastor, La nueva imagen de la casación penal, 2001, S. 52 ff.; auch Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, S. 500 – 503.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes Lothar Kuhlen*
I. Der Bestimmtheitsgrundsatz als strafrechtliches und verfassungsrechtliches Prinzip 1. Grundsätze eines rechtsstaatlichen Strafrechts Im Allgemeinen Teil des Strafrechts finden sich bis heute wichtige Ansätze zur Begründung und Begrenzung des Strafrechts, die außerhalb des positiv geltenden Rechts entwickelt wurden. So versuchen die verschiedenen Straftheorien eine vom positiven Recht unabhängige Auskunft über Grund und Grenzen der staatlichen Strafbefugnis zu geben. Das gleiche beansprucht nach einem verbreiteten Verständnis die Rechtsgutslehre, nach der sich nur Straftatbestände rechtfertigen lassen, die dem Schutz eines Rechtsguts vor einer Verletzung oder Gefährdung dienen. Das Schuldprinzip besagt, daß nur wegen eines vorwerfbaren Verhaltens gestraft werden darf (subjektive Variante) und daß zudem die Strafe ihrem Ausmaß nach dem Grad des verschuldeten Tatunrechts entsprechen muß (objektive Variante). Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist Strafe als schärfste staatliche Sanktion nur als ultima ratio zulässig, darf also nicht eingesetzt werden, wo ein milderes Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks zur Verfügung steht. Nach dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege bzw. dem Gesetzlichkeitsprinzip schließlich muß die Bestrafung wegen einer Handlung auf die unmittelbare Anwendung eines Gesetzes gestützt werden, das die Strafbarkeit derartiger Handlungen bereits zuvor ausreichend bestimmt hatte. Ein Bestandteil des Gesetzlichkeitsprinzips ist der uns interessierende Bestimmtheitsgrundsatz. 2. Verfassungsrechtliche Geltung strafrechtlicher Grundsätze All diese für ein rechtsstaatliches Strafrecht fundamentalen Prinzipien lassen sich, jedenfalls im deutschen Strafrecht, heute nicht mehr nur als vorpositive – und damit * Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich im September 2009 an der Universität Buenos Aires im Rahmen des „Congreso Internacional y Nacional del Sistema Penal“ gehalten habe. Die Vortragsform wurde beibehalten. Der Text wurde, vor allem mit Blick auf den grundlegenden Beschluß des BVerfG vom 23. 6. 2010 (BVerfG NJW 2010, 3209), lediglich geringfügig ergänzt und geändert.
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in ihrer Legitimation entsprechend problematische – Grundsätze, sondern als Bestandteile des geltenden Rechts, nämlich des Verfassungsrechts betrachten. Für einige dieser Grundsätze ist das umstritten, so für die Rechtsgutslehre, der in der strafrechtlichen Literatur vielfach verfassungsrechtlicher Rang zugesprochen wird, während das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Inzest-Tatbestandes aus dem Jahr 2008 diesen verfassungsrechtlichen Geltungsanspruch der Rechtsgutslehre dezidiert zurückgewiesen hat1. Unbestritten und unbestreitbar ist demgegenüber, daß das Gesetzlichkeitsprinzip, um das es in meinem Referat geht, verfassungsrechtlichen Rang hat. Denn es ist in der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz (GG) aus dem Jahre 1949, positiviert, und zwar wortgleich mit der Formulierung, die es in § 1 Strafgesetzbuch (StGB), also im einfachen Gesetzesrecht, gefunden hat. 3. Transformation strafrechtlicher in verfassungsrechtliche Prinzipien Die Transformation ursprünglich vorpositiver oder strafrechtlicher Grundsätze in Bestandteile des positiven geltenden Verfassungsrechts ist ein komplexer und interessanter Prozeß, den ich hier aber nicht untersuchen will2. Nur auf zwei für unser Thema interessante Aspekte möchte ich hinweisen. Zum einen ist der Bestimmtheitsgrundsatz, als Teil des Gesetzlichkeitsprinzips, in Deutschland geltendes Verfassungsrecht, man kann also das Thema meines Vortrags ebensogut als verfassungsrechtliches wie als strafrechtliches auffassen. Zum anderen ist mit der Transformation vorpositiver in verfassungsrechtliche Grundsätze verbunden, daß der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte, in Deutschland also des Bundesverfassungsgerichts, eine größere Bedeutung zuwächst als zuvor. Das ist einer der Gründe dafür, daß die Argumentation, die ich Ihnen in der Folge vortrage, vergleichsweise realistisch und wohl weniger dogmatisch ist, als man das bei einem Vertreter der deutschen Strafrechtswissenschaft erwartet.
1
Das BVerfG distanziert sich von der Rechtsgutslehre als von dem verfassungsrechtlich nicht verbindlichen Versuch, die Regelungsbefugnis des Strafgesetzgebers „unter Berufung auf angeblich vorfindbare oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers anerkannte Rechtsgüter (einzuengen)“: so BVerfG NJW 2008, 1137, 1138, mit dem Zusatz, das „Konzept des Rechtsgüterschutzes“ stelle „keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen“. Vgl. dazu Greco, ZIS 2008, 234; Hörnle, NJW 2008, 2085; Zabel, JR 2008, 453; Roxin, StV 2009, 544; Kuhlen, in: Manuel da Costa Andrade u. a. (Organizadores), Estudos em homenagem ao Prof. Doutor Jorge de Figueiredo Dias, 2009, S. 401 (416 ff.). 2 Näher dazu Kuhlen (Fn. 1), S. 401 ff.
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II. Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz 1. Die vier Teilpostulate des Gesetzlichkeitsprinzips Das Gesetzlichkeitsprinzip besagt, daß „eine Tat nur bestraft werden (kann), wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“3. Dieses Prinzip wird üblicherweise in vier Teilaussagen aufgegliedert: – Rückwirkungsverbot bzw. Erfordernis einer lex praevia, – Bestimmtheitsgebot bzw. Erfordernis einer lex certa, – Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung bzw. Erfordernis einer lex scripta, – Analogieverbot bzw. Erfordernis einer lex stricta. Nach klassischem Verständnis wenden sich Rückwirkungsverbot und Bestimmtheitsgebot an den Gesetzgeber, das Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung sowie das Analogieverbot dagegen an den Richter4. 2. Ratio des Bestimmtheitsgrundsatzes Daß man das Bestimmtheitsgebot an den Gesetzgeber adressiert, leuchtet zunächst ein. Denn dieses Gebot beruht auf zwei Gründen. Zum einen soll es Orientierungssicherheit für den Bürger schaffen, dieser soll, bevor er sich für ein Verhalten entscheidet, wissen können, ob dieses strafbar ist oder nicht. Diese Orientierungsfunktion kann auch ein ausreichend präzise gefaßtes Richterrecht erfüllen. Dennoch genügt es nach herkömmlicher Auffassung dem Bestimmtheitsgebot nicht. Denn dieses will auch sicherstellen, daß die so wichtige Entscheidung über die Abgrenzung strafloser von strafbaren Verhaltensweisen nicht vom Rechtsanwender, sondern vom Gesetzgeber getroffen wird, wofür der Grundsatz der Gewaltenteilung und dort, wo der Gesetzgeber demokratisch legitimiert ist, auch das Demokratieprinzip sprechen. 3. Die Unbestimmtheit des Begriffs „Bestimmtheit“ Wie das Bestimmtheitsgebot genauer zu verstehen ist und welche Strafgesetze ihm genügen oder aber widersprechen, hängt offensichtlich davon ab, wie der Begriff der Bestimmtheit aufgefaßt wird. Dieser Begriff ist nun seinerseits sehr unbestimmt und dementsprechend kontrovers wird die Frage beantwortet, ob die derzeit geltenden Strafgesetze diesem Gebot genügen oder nicht. Nach dem praktisch maßgeblichen Verständnis von BVerfG und BGH sind die Gesetze des materiellen deutschen Strafrechts ganz überwiegend ausreichend be3 4
§ 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG. Siehe Kuhlen, in: Dannecker u. a. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 89 ff.
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stimmt. Als unbestimmt im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG wurden bislang nur ganz wenige Strafgesetze eingestuft5. In der strafrechtlichen Literatur wird das zum Teil ganz anders gesehen. Hier werden wichtige Straftatbestände wie Mord, Nötigung und Untreue und darüber hinaus ganze Deliktskategorien wie die Fahrlässigkeitsdelikte oder die unechten Unterlassungsdelikte als nicht ausreichend bestimmt betrachtet6. Dementsprechend kritisieren viele strafrechtliche Autoren die Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgebot als zu zurückhaltend. Sie nehme dieses Gebot nicht ernst genug, begünstige so eine unpräzise Strafgesetzgebung und bilde damit die Achillesferse des Gesetzlichkeitsprinzips in der deutschen Rechtswirklichkeit7. Freilich findet die zurückhaltende Handhabung der Judikatur neuerdings auch in der Literatur Anhänger. So verlangt nach Herzberg das Bestimmtheitsgebot vom Gesetzgeber lediglich, die Strafbarkeit eines bestimmten Handlungstyps festzulegen, nicht aber, dies möglichst präzise zu tun.8 Nach diesem Verständnis genügt beispielsweise der Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) dem Bestimmtheitsgebot, obwohl dieser Tatbestand im Gesetz überhaupt nicht umschrieben, sondern lediglich mit dem Begriff „Beleidigung“ benannt wird. Trotzdem hat vor einigen Jahren das BVerfG entschieden, der Beleidigungstatbestand sei ausreichend bestimmt9. Ich selbst stehe in diesem Streit auf der Seite der Rechtsprechung. Rechtstheoretisch leuchtet es zwar ein zu sagen, Strafgesetze seien dann unbestimmt, wenn sich ihre Anwendbarkeit auf einzelne Fälle vertretbarerweise unterschiedlich beurteilen läßt und damit ungewiß ist. In diesem Verständnis des Begriffs ist nun das materielle Strafrecht tatsächlich in einem erheblichen und wohl auch zunehmenden Maße unbestimmt10. Bei diesem theoretisch einleuchtenden Verständnis des Bestimmtheitsgebots können die Gerichte jedoch nicht stehen bleiben. Sie fordern daher in ständiger Rechtsprechung vom Gesetzgeber einerseits zwar, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit 5
So insbesondere § 43a StGB, also die Vermögensstrafe, von BVerfGE 105, 135, und § 370a Abgabenordnung (AO), also der Verbrechenstatbestand der gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung, von BGH NStZ 2005, 105. Zu beiden Entscheidungen siehe Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 83 ff. Weitere Rechtsprechungshinweise bei Birkenstock, Die Bestimmtheit von Straftatbeständen mit unbestimmten Gesetzesbegriffen, 2004, S. 107 ff. 6 Vgl. dazu die Hinweise bei Kuhlen (Fn. 5), S. 95 Fn. 658. 7 Mit diesem Tenor etwa Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 29 ff.; Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1986, S. 277 ff. 8 Herzberg, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 31 (49 ff.). 9 BVerfGE 93, 266 ff. 10 Dazu Kuhlen, in: Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? – Die Entformalisierung des Strafrechts, 2011, S. 26 ff.
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so genau zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind“11. Andererseits müssen sie aber doch einräumen, daß „der Gesetzgeber nicht umhin kann, Strafgesetze mit Hilfe von Begriffen zu formulieren, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen“, wobei Fälle auftreten können, in denen zweifelhaft ist, „ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht“12. 4. Kompromißcharakter des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsbegriffs Dieser verfassungsrechtliche Begriff der Bestimmtheit hat Kompromißcharakter. Daran führt für das Verfassungsrecht aus praktischen Gründen auch kein Weg vorbei. Selbst wenn man vom utopischen Ideal einer völligen Bestimmtheit der Strafgesetze absehen und vom Gesetzgeber nur verlangen wollte, Strafgesetze möglichst präzise zu formulieren, hätte das m. E. absurde Konsequenzen. Denn man wird im nachhinein immer eine Möglichkeit zu einer noch präziseren Gesetzesfassung finden. Läßt man sich aber einmal auf den praktisch unvermeidlichen Kompromißcharakter des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsbegriffs ein, so landet man bei einer mehr rhetorisch als wissenschaftlich ergiebigen Zwar-Aber-Struktur. Man kann dann genausogut argumentieren, das Strafgesetz dürfe zwar flexibel und entsprechend ungenau sein, aber es müsse doch ermöglichen, die Strafbarkeit eines Verhaltens dem Gesetz selbst zu entnehmen, wie man umgekehrt sagen kann, zwar müsse das Gesetz die Voraussetzungen der Strafbarkeit genau beschreiben, aber das schließe natürlich nicht aus, daß seine Anwendbarkeit auf einzelne Fälle zweifelhaft sein kann. Ich sehe keine Möglichkeit, die praktisch maßgebliche Handhabung dieses Kompromißbegriffs durch die Gerichte dogmatisch oder „theoretisch“ zu kritisieren. Und ich halte es auch, vor allem mit Blick auf die Gewaltenteilung, für sachlich richtig, daß die Gerichte die Kontrolle von Strafgesetzen am Maßstab des Bestimmtheitsgebots nur mit großer Zurückhaltung ausüben.
III. Das Gebot bestimmter Gesetzesauslegung 1. Der Richter als Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes Das bislang erörterte Verständnis des Bestimmtheitsgebots hat zur Folge, daß Strafgesetze trotz ihrer Unbestimmtheit im rechtstheoretischen Sinne verfassungsrechtlich ausreichend bestimmt sein können. Dieses zurückhaltende verfassungs11
BVerfGE 105, 135 (152 f.); BVerfG JR 2009, 290 (291); BVerfG NJW 2010, 3209 (3219, Rn. 72). 12 BVerfGE 71, 108 (114 f.); BVerfG JR 2009, 290 (291); BVerfG NJW 2010, 3209 (3210, Rn. 73). Aus der Rechtsprechung des BGH vgl. etwa BGHSt 38, 120 (121).
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rechtliche Verständnis der Gesetzesbestimmtheit findet seine Begründung letztlich darin, daß eine Orientierungssicherheit verbürgende Abgrenzung strafloser von strafbaren Verhaltensweisen nicht vom Gesetzgeber allein geleistet werden kann, sondern der Mitwirkung durch die Gerichte bedarf, die die Strafgesetze fallbezogen konkretisieren und so im Laufe der Zeit immer weiter präzisieren. Erkennt man einmal an, daß auch der Richter einen Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts leistet, so ist es unter dem Gesichtspunkt der Orientierungssicherheit naheliegend, entgegen dem traditionellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes diesen nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an die Gerichte zu adressieren. Diese Unterwerfung des Strafrichters unter den Bestimmtheitsgrundsatz gewinnt im deutschen Strafrecht zunehmend an Bedeutung. Dogmatisch ist sie noch wenig geklärt, was vor allem deshalb bedauerlich ist, weil sich unter dem einheitlichen Titel einer „Bindung des Strafrichters an den Bestimmtheitsgrundsatz“ in Wahrheit ganz unterschiedliche Auffassungen finden. Ich habe das an anderer Stelle analysiert13 und will es hier nicht wiederholen. Ich greife vielmehr die m. E. interessanteste Variante heraus. 2. Präzisierungsgebot Hiernach verpflichtet der Bestimmtheitsgrundsatz den Richter dazu, durch entsprechende Auslegung des Strafrechts zu dessen weiterer Präzisierung beizutragen. Dieses Präzisierungsgebot macht es der Rechtsprechung zur Pflicht, „Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen“14. Daraus folgt das Verbot, „durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen läßt“, „bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Artikel 103 Abs. 2 GG (zu) entfernen“15. Besondere Bedeutung hat das Präzisierungsgebot bei Tatbeständen, die im Rahmen des verfassungsrechtlich noch Zulässigen „verhältnismäßig weit und unscharf gefaßt“ sind16. Richterliche Gesetzesinterpretationen, die das Präzisierungsgebot verletzen, sind verfassungswidrig, ganz ebenso wie richterliche Strafgesetzinterpretationen, die gegen das Analogieverbot verstoßen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Nötigung erläutern17. Dieser Straftatbestand hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht nur die Strafgerichte, sondern 13
Kuhlen (Fn. 4), S. 100 ff. BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 81). Das „Präzisierungsgebot“ entspricht in der Sache dem „Postulat der Auslegungsbestimmtheit“ (so Kuhlen [Fn. 4], S. 102 f.). Der Ausdruck „Präzisierungsgebot“ trifft aber das Gemeinte besser und wird deshalb in der Folge übernommen. Näher zu diesem Gebot jetzt Kuhlen, JR 2011, 246. 15 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211, Rn. 81). 16 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211, Rn. 81). 17 Weitere Beispiele bei Kuhlen (Fn. 4), S. 103. Vgl. auch (zur Untreue) BVerfG JR 2009, 290; BVerfG NJW 2010, 3212. 14
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auch das BVerfG mehrfach beschäftigt, vor allem im Zusammenhang mit sog. Sitzoder Verkehrsblockaden. Dabei handelt es sich um eine Form der politischen Demonstration, mit der die Demonstranten für ihre Zielsetzung, also etwa den Protest gegen eine Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel oder auch gegen die Rüstungspolitik der NATO, öffentliche Aufmerksamkeit erreichen wollen, indem sie sich auf öffentlichen Straßen hinsetzen und so den Straßenverkehr zum Erliegen bringen. Strafrechtlich führt das zu der Frage, ob darin eine Nötigung derjenigen Verkehrsteilnehmer liegt, die durch die Demonstranten gegen ihren Willen an der Weiterfahrt gehindert werden. Der Tatbestand der Nötigung erfordert, daß eine Person durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einem bestimmten Verhalten genötigt wird (§ 240 Abs. 1 StGB). Eine rechtswidrige Nötigung setzt weiterhin voraus, daß der Einsatz des Nötigungsmittels zur Erreichung des erstrebten Zwecks verwerflich ist (§ 240 Abs. 2 StGB). Diese Verwerflichkeitsklausel wird in der Literatur zum Teil wegen ihrer Wertausfüllungsbedürftigkeit als unbestimmt und damit verfassungswidrig eingestuft18. Die Praxis der Gerichte sieht das anders. Immerhin verpflichtet sie, sozusagen als Kompensation für die dem Gesetzgeber nicht abverlangte Bestimmung des Strafrechts den Strafrichter zu einer Auslegung, die dem Begriff der Verwerflichkeit die Bestimmtheit verleiht, die der gesetzlichen Formulierung des § 240 Abs. 2 StGB noch fehlt. Dementsprechend hat der BGH eine Interpretation der Verwerflichkeitsklausel verworfen, nach der es für die Verwerflichkeit demonstrativer Verkehrsblockaden darauf ankommt, welche politischen Fernziele die Blockierer mit ihrer Aktion verfolgen, weil „unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes … eine Beschränkung auf nach außen erkennbare Umstände unverzichtbar“ sei19. Aus der Perspektive des Bestimmtheitsgrundsatzes tritt das Präzisierungsgebot als eigenständiges Gebot zu dem der Gesetzesbestimmtheit hinzu. Es beruht auf einer Rechtsfortbildung, die den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz erweitert und auf den Richter erstreckt. 3. Präzisierungsgebot und Analogieverbot Aus der Perspektive des Strafrichters tritt das Präzisierungsgebot zum Analogieverbot hinzu, dem der Richter als Adressat des Gesetzlichkeitsprinzips unbestritten unterliegt. Diese Ergänzung ist sachlich geboten. Denn das Analogieverbot, das nach herrschender Meinung Interpretationen von Strafgesetzen verbietet, die deren mög-
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Vgl. AG Hagen MDR 1985, 601; Wolter NStZ 1986, 241 (245), der selbst die Verwerflichkeitsklausel „nur“ in ihrer aktuellen Auslegung durch die Gerichte als unbestimmt ansieht. 19 BGHSt 35, 270 (279).
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lichen Wortsinn überschreiten20, bindet den Richter nur dort, wo bereits das Strafgesetz selbst ausreichend präzise formuliert ist. Wo dagegen die rechtstheoretisch verstandene Gesetzesbestimmtheit fehlt, funktioniert das Analogieverbot nicht, weil der mögliche Wortsinn des Gesetzes keine relevante Begrenzung darstellt. Lassen Sie mich auch das noch einmal am Beispiel der Nötigung verdeutlichen. Der Begriff der Gewalt in diesem Tatbestand ist umgangs- wie fachsprachlich so deutlich umrissen, daß der Richter im Bestreben nach einer sachlich angemessenen Auslegung mit dem möglichen Wortsinn in Konflikt geraten und so das Analogieverbot verletzen kann. Dies hat nach Auffassung des BVerfG die frühere Judikatur der Strafgerichte zu den Sitzblockaden getan, indem sie derartige Demonstrationen als Anwendung von Gewalt und damit regelmäßig als strafbare Nötigung einstufte21. Das BVerfG entschied, es überschreite den möglichen Wortsinn des Gesetzes und verletze daher das Analogieverbot, wenn man das bloße Sitzen auf der Straße und die damit verbundene nur psychische Nötigung von Verkehrsteilnehmern zum Anhalten als Gewalt bezeichne. Der Begriff der Verwerflichkeit ist demgegenüber so konturenlos, daß bei seiner Auslegung das Analogieverbot praktisch gar nicht verletzt werden kann. An seine Stelle tritt die Bindung des Richters durch das Präzisierungsgebot.
IV. Normative Folgeprobleme der neuen Auffassung des Bestimmtheitsgrundsatzes Die Erstreckung des Bestimmtheitsgrundsatzes auf die Gerichte und seine damit verbundene Ergänzung um das Präzisierungsgebot stellen m. E. eine Rechtsfortbildung von grundlegender Bedeutung dar. Sie ist noch keineswegs abgeschlossen, 20
Vgl. jüngst etwa OLG Koblenz NStZ-RR 2006, 218; BGH NJW 2007, 524; BVerfG StraFO 2009, 526, und dazu Kudlich/Christensen/Sokolowski, in: Müller (Hrsg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 120 – 122; Montiel/Ramirez Luduna, ZIS 2010, 618; Scheffler, Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind. Zu biologischer Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht, in: Hans-Ullrich Paeffgen u. a. (Hrsg.), Puppe-FS, 2011, S. 217 ff. (Zauberpilze als Pflanzen?); sowie BVerfG NStZ 2009, 83 mit Anmerkungen von Simon, NStZ 2009, 84 f.; Foth, NStZ-RR 2009, 138 f.; Kudlich, JR 2009, 210 ff. (Pkw als Waffe?) 21 BVerfGE 92, 1 (16 ff.) (dritte Sitzblockadenentscheidung). Nach Simon, GA 2007, 550 (552) hat das BVerfG einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot, nicht gegen das Analogieverbot angenommen. Aber ebenso wie die erste Sitzblockadenentscheidung BVerfGE 73, 206, eindeutig und ausschließlich einen Verstoß gegen das Analogieverbot erörtert, leitet die dritte Sitzblockadenentscheidung aus dem „Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit“ für die Gericht lediglich „ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung“ ab. Einen Anklang an das Präzisierungsgebot kann man immerhin darin finden, dass nach Ansicht des BVerfG die Rechtsprechung des BGH den Gewaltbegriff in einer gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßenden Weise „entgrenzt“. Auch das Verbot der „Entgrenzung“ solle man jedoch dem Analogieverbot zuordnen. Vgl. dazu BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79); Kuhlen, JR 2011, 246 (248).
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ihre Einzelheiten werden uns noch längere Zeit beschäftigen. Natürlich ist sie mit einigen normativen Folgeproblemen verbunden, deren wichtigste ich immerhin kurz aufzählen will. 1. Gewaltenteilung Das Modell einer Normbestimmtheit, die nicht vom Gesetzgeber allein, sondern „in arbeitsteiligem Zusammenwirken“22 zwischen ihm und den Gerichten hergestellt wird, steht in Konflikt zur herkömmlichen Konzeption der Gewaltenteilung, nach der die Rechtssetzung allein dem Gesetzgeber vorbehalten und der Richter auf die Anwendung des Gesetzes beschränkt ist. In einer Demokratie tritt die Frage hinzu, woher der Richter seine Legitimation zur Bestimmung des Rechts und damit auch zur Mitwirkung an dessen Gestaltung bezieht. 2. Geringe Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit Das an den Richter adressierte Präzisierungsgebot hängt eng zusammen mit dem Verzicht darauf, den Strafgesetzgeber strengen Bestimmtheitsanforderungen zu unterwerfen. Wenn die richterliche Gesetzesauslegung einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts leistet, ist es einfach unrealistisch, die für die Orientierungssicherheit des Bürgers erforderliche Bestimmtheit bereits vom Gesetzgeber zu verlangen23. Natürlich darf das nicht dazu führen, daß man dem Gesetzgeber wegen der irgendwann einmal erfolgenden richterlichen Präzisierung der Strafgesetze einen Freibrief erteilt und ihn auch von realistischen Anforderungen an die erforderliche Bestimmtheit der Strafgesetze entbindet. Wie diese Anforderungen genau zu fassen sind, ist eine sehr schwierige Frage. Zwar gibt es klare Fälle, etwa das Lehrbuchbeispiel eines Straftatbestandes mit dem schönen Wortlaut: „Wer sich unangemessen verhält, wird angemessen bestraft“. Darauf, daß diesem Tatbestand die erforderliche Bestimmtheit fehlt, kann man sich leicht einigen. Aber genügen wirkliche Strafgesetze wie der gesetzlich nicht näher umschriebene Beleidigungstatbestand oder offene Anweisungen zur richterlichen Wertung wie die Verwerflichkeitsklausel bei der Nötigung dem Postulat der Gesetzesbestimmtheit? Ich glaube nicht, daß es auf diese Frage eine informative abstrakte Antwort gibt. Sie kann m. E. vielmehr nur typologisch, d. h. mit Hilfe einer Vielzahl graduierbarer Kriterien24 entwickelt werden, und zwar in Interaktion von Rechtswissenschaft und Judikatur.
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Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 ff. So bereits Kuhlen (Fn. 4), S. 103 f. 24 Vgl. dazu Kuhlen, in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, S. 61 (69 ff.). 23
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3. Grad der Auslegungsbestimmtheit Ebenso wie beim Gebot der Gesetzesbestimmtheit stellt sich beim Präzisierungsgebot die Frage, wie streng oder zurückhaltend die Bestimmtheitsanforderungen zu fassen sind. Auch hier wird man keine überzogenen Anforderungen stellen dürfen, sondern sogar anerkennen müssen, daß die Gerichte manchmal aus materiellen Gründen genötigt sein können, die bereits erreichte Bestimmtheit des Strafrechts wieder zu vermindern25. Auch dafür bietet die Judikatur zur Nötigung durch Sitzblockaden ein gutes Beispiel. Der BGH – und mit ihm die ständige Rechtsprechung der Untergerichte – hatte seit 1969 solche Blockaden als gewaltsame Nötigung anderer Verkehrsteilnehmer betrachtet, die grundsätzlich ohne weiteres rechtswidrig sei, weil die Gewaltanwendung die Verwerflichkeit der Nötigung indiziere26. Diese „Indikationslösung“, also eine bestimmte Auslegung der gesetzlichen Verwerflichkeitsklausel, verwarf das BVerfG als nicht verfassungsgemäß, da sie die Bedeutung der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 GG) verkenne27. Die Folge war, daß über die Verwerflichkeit demonstrativer Sitzblockaden wieder einzelfallbezogen entschieden werden mußte, was vielleicht inhaltlich vorzugswürdig ist, aber die zuvor bestehende Bestimmtheit des Strafrechts in diesem Bereich erheblich verminderte. 4. Rückwirkungsverbot für den Richter? Ein weiteres dogmatisches Problem, das sich stellt, wenn man den richterlichen Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts anerkennt, betrifft das Rückwirkungsverbot. Es gilt nach herkömmlicher und bis heute herrschender Auffassung nur für den Gesetzgeber. Das ist auch plausibel, solange man annimmt, der Richter wende lediglich das ihm vorgegebene Strafgesetz auf einzelne Fälle an. Wirkt er dagegen aktiv an der Bestimmung des Strafrechts mit, so liegt es nahe, auch ihn dem Rückwirkungsverbot zu unterstellen. Theoretisch denkbar, aber unrealistisch wäre ein Verständnis des Rückwirkungsverbotes, wonach jede neuartige Gesetzesauslegung zu Lasten des Beschuldigten untersagt ist. Ernsthaft diskutiert wird demgegenüber ein Rückwirkungsverbot bei der belastenden Änderung einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wird also etwa der Tatbestand der Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) dadurch erweitert, daß der BGH die Grenze der absoluten Fahruntauglichkeit von 1,3 % auf 1,1 % Blutalkoholkonzentration (BAK) herabsetzt28, so darf diese Rechtsprechungsänderung nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung nicht zurückwirken, also nicht
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Vgl. Kuhlen (Fn. 4), S. 105. BGHSt 23, 46 (54 ff.). 27 BVerfGE 73, 206 (247 ff.). 28 So geschehen durch BGHSt 37, 89. 26
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zu Lasten von Autofahrern gehen, die vor dieser Änderung mit mehr als 1,1 %, aber weniger als 1,3 % BAK am Straßenverkehr teilgenommen haben29. Die h. M. lehnt diese Auffassung zwar noch ab. Aber das läßt sich nur schwer aufrechterhalten, wenn man einmal anerkennt, daß mit der gefestigten alten Rechtsprechung, trotz unveränderter Strafgesetze, auch das erst von den Gerichten ausreichend bestimmte Strafrecht geändert wird. Denn für die Orientierung des Bürgers kommt es auf das richterlich konkretisierte Strafgesetz an, er verdient deshalb vor dessen Änderung nicht nur dann Schutz, wenn das Gesetz, sondern auch dann, wenn dessen praktisch maßgebliche Auslegung zu seinen Ungunsten geändert wird30.
V. Faktische Einschränkungen der Strafrechtsbestimmtheit Das neue Verständnis des Bestimmtheitsgebots, das sich in dessen Erstreckung auf die richterliche Auslegung der Strafgesetze zeigt, nimmt zwar die traditionell gestellten Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit zurück. Aber es ist doch ein Fortschritt, weil es ein realistischeres Bild von der Herstellung eines für den Bürger ausreichend bestimmten Strafrechts zeichnet, an der eben auch die Gerichte durch die fallbezogene Konkretisierung der Strafgesetze beteiligt sind. Macht man mit einer realistischen Betrachtungsweise ernst, so muß man sie allerdings auch auf die aktuellen Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes erstrecken. Es werden dann Fragen erkennbar, die bei einer rein dogmatischen Analyse gar nicht als solche des Bestimmtheitsgebots erscheinen. Denn sie betreffen nicht dessen angemessenes Verständnis, um das es in der Rechtsdogmatik geht, sondern Voraussetzungen, von denen die Bedeutsamkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes in der Rechtswirklichkeit abhängt. Ich will zum Abschluß meines Vortrages auf zwei strafrechtlich wichtige Entwicklungen hinweisen, die zwar für sich genommen in den letzten Jahren viel diskutiert wurden, deren Zusammenhang mit der Bestimmtheitsfrage aber bislang nicht genügend erkannt und thematisiert wurde. Es handelt sich dabei zum einen um die zunehmende Informalisierung des Strafverfahrens, die ihren Ausdruck in Opportunitätseinstellungen sowie, besonders aktuell, in Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten findet, zum anderen um die Privatisierung von Aufgaben der Strafrechtspflege, die in Deutschland derzeit vor allem unter den englischen Titeln Corporate Governance und Compliance diskutiert und vorangetrieben wird.
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Vgl. dazu Eser, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 28. Aufl. 2010, § 2 Rn. 9 mit weiteren Hinweisen. 30 Näher dazu jetzt, in Anknüpfung an BVerfG NJW 2010, 3209, Kuhlen, JR 2011, 246 (249 f.).
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1. Absprachen im Strafprozeß Lassen Sie mich die Informalisierung des Strafprozesses exemplarisch am Beispiel der sogenannten Absprachen skizzieren. Sie haben im deutschen Strafprozeß in den letzten Jahrzehnten vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren an Bedeutung gewonnen. In der deutschen Strafprozeßordnung (StPO) waren sie bislang nicht vorgesehen, sie haben sich aber informell entwickelt, weil die Verfahrensbeteiligten sie für praktisch und interessengerecht halten. Der Sache nach bestehen solche Absprachen in einem Tauschgeschäft. Die Verteidigung bietet dabei dem Gericht ein Geständnis des Beschuldigten jedenfalls zu einem Teil der gegen ihn erhobenen Vorwürfe an. Das ist für das Gericht prozeßökonomisch interessant, weil sich so ein langes Verfahren mit einer umfangreichen Beweisaufnahme vermeiden läßt. Die Verteidigung kann dieses Interesse dadurch unterstreichen, daß sie ankündigt, durch entsprechende Beweisanträge das Verfahren in die Länge zu ziehen, wenn es nicht zu einer Einigung kommt. Als Gegenleistung für die Abkürzung des Verfahrens bietet das Gericht seinerseits für den Fall eines Geständnisses eine vergleichsweise milde Bestrafung an, etwa eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren, die nach deutschem Strafrecht noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Das Gericht kann dieses Angebot unterstreichen, indem es darauf hinweist, daß anderenfalls eine deutlich höhere Strafe, beispielsweise eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren in Betracht kommt. Kommt die Absprache zustande, wird nach dem Geständnis des Beschuldigten die zuvor in Aussicht gestellte milde Strafe verhängt. Komplettiert wird dieser Tauschhandel typischerweise dadurch, daß nach Verkündung des Urteils der Beschuldigte auf Rechtsmittel, insbesondere also auf eine Revision zum BGH verzichtet. Eine solche informelle Verfahrensgestaltung steht in Widerspruch zu tragenden Grundsätzen des deutschen Strafprozesses, wie in der Diskussion der letzten Jahrzehnte vielfach betont wurde31. Diese Prinzipien sehen vor, daß das Gericht die materielle Wahrheit über die strafrechtlichen Vorwürfe ermittelt, die dem Beschuldigten gemacht werden. Das soll in einer mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung geschehen, in der der Richter seine (gemäß § 261 StPO) maßgebliche Überzeugung davon gewinnt, was tatsächlich geschehen ist. Mit all diesen Grundsätzen ist die Absprachenpraxis nicht verträglich. Dennoch hat der BGH sie notgedrungen akzeptiert und versucht, sie durch bestimmte Regeln zu begrenzen und rechtsstaatlich erträglich zu machen32. Dem hat sich jetzt auch der Gesetzgeber angeschlossen und eine entsprechende Regelung der Absprachen in § 257c StPO getroffen33. Einzelheiten sind an dieser Stelle 31 Vgl. aktuell etwa Schünemann, ZRP 2009, 104; Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107; Kempf, StV 2009, 269. 32 Vgl. insbesondere BGHSt 50, 40. 33 In Kraft getreten am 29. 7. 2009.
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nicht zu diskutieren. Hier interessiert lediglich, daß durch Urteilsabsprachen34 die richterliche Mitwirkung an der Bestimmung des Strafrechts empfindlich gestört wird. Denn sie führen dazu, daß über wichtige Rechtsfragen, die sich gerade in komplizierten Wirtschaftsstrafverfahren häufig stellen, überhaupt nicht mehr von einem Strafgericht entschieden wird, womit diese Fragen dauerhaft ungeklärt bleiben. Auch das realistisch modifizierte Modell einer Bestimmung des Strafrechts durch Gesetzgeber und Richter stößt also mit der Informalisierung des Strafprozesses auf eine massive faktische Barriere. 2. Compliance Ähnlich wirkt sich die Privatisierung von Aufgaben der Strafrechtspflege aus, die derzeit im Bereich der Wirtschaftsunternehmen zu beobachten ist. Hier entsteht unter den Titeln Compliance und Corporate Governance ein vom Staat geduldetes, ja gefördertes soft law, durch das die Unternehmen, also private kollektive Akteure, im Wege der Selbstregulierung ihre Mitarbeiter zur Einhaltung der für sie geltenden Rechtsnormen und darüber hinaus zu einer moralisch einwandfreien Geschäftspraxis anzuhalten versuchen. Wir können aus Zeitgründen dieses strafrechtlich hochinteressante Phänomen nicht näher analysieren35. Ich will aber abschließend doch exemplarisch verdeutlichen, worum es dabei geht. Mein Beispiel ist die freiwillige Selbstkontrolle der Arzneimittelindustrie, die sich in den letzten 10 Jahren in Deutschland etabliert hat36. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die sogenannte Herzklappenaffäre, die Ende der neunziger Jahre die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte. Hier ging es um den Vorwurf, daß Ärzte an öffentlichen Krankenhäusern, insbesondere Universitätskliniken, von Arzneimittelherstellern Geld und andere Vorteile für sich oder auch für ihr Klinikum erhalten hatten, damit sie sich für die Bestellung von Herzklappen und anderen Produkte bei bestimmten Herstellerfirmen einsetzten. Im Zuge dieser Affäre kam es zu etwa 2000 Ermittlungsverfahren wegen Vorteilsannahme und Bestechlichkeit bzw. Vorteilsgewährung und Bestechung gegen beteiligte Ärzte und Unternehmensmitarbeiter. Diese Verfahren endeten zwar meist mit Einstellungen (damit ohne Bestrafung der Beschuldigten), führten aber zu einer erheblichen Verunsicherung der Betroffenen. Diese Verunsicherung wurde durch das 1997 in Kraft getretene Korruptionsbekämpfungsgesetz noch erheblich gesteigert. Denn dieses Gesetz erweiterte die Straftatbestände der Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1 StGB) und Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB) derart, daß nach ihrem 34 Ebenso wie durch die Informalisierung des Strafverfahrens, die mit Opportunitätseinstellungen, insbesondere nach §§ 153 und 153a Strafprozeßordnung (StPO), verbunden ist. 35 Näher dazu Sieber, Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht, in: Sieber u. a. (Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 449 ff.; Kuhlen, in: Maschmann (Hrsg.), Arbeitsrecht und Compliance, 2009, S. 11 ff. 36 Eingehend dazu Kuhlen, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Hassemer-FS, 2010, S. 875 ff.
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Wortlaut fast jede Form der Unterstützung öffentlicher Krankenhäuser und ihrer Ärzte durch Unternehmen der Arzneimittelindustrie als strafbares Handeln gewertet werden könnte. Das ist deshalb fatal, weil allgemeiner Konsens darüber besteht, daß diese Unterstützung angesichts angespannter öffentlicher Finanzen dringend erforderlich ist, um die Leistungsfähigkeit der deutschen Kliniken und damit auch der deutschen Hochschulmedizin zu erhalten. Es gibt deshalb eine Vielzahl strafrechtlicher Stellungnahmen zu der Frage, wie man dieses Problem lösen sollte. Die klassisch rechtsstaatliche Problemlösung wäre einfach: Man erklärt die neugefaßten Straftatbestände wegen ihrer „uferlosen Weite“37 mangels Bestimmtheit für nichtig38. Das wird gelegentlich vertreten, gilt aber überwiegend als zu weitgehend bzw. unrealistisch, so daß de lege lata verschiedene Versuche zu einer einschränkenden Auslegung der genannten Straftatbestände unternommen werden. Dieser Linie folgt auch die Rechtsprechung, die in einigen Grundsatzentscheidungen die Tatbestände der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung eingeschränkt und damit für einige Teilbereiche eine gewisse Rechtssicherheit geschaffen hat39. Das entspricht dem hier entwickelten Modell einer Bestimmung des Strafrechts im Zusammenwirken von Gesetzgeber und Strafgerichten. Aber es läßt doch viele Fragen noch offen, die die Beteiligten nicht erst durch strafgerichtliche Urteile geklärt wissen möchten. Diese Klärungsaufgabe haben nun die Pharmaunternehmen selbst übernommen, die seit 1997 verschiedene Regelwerke erstellten, in denen sehr konkret dargelegt wird, welche Kooperationsformen, etwa bei der Finanzierung ärztlicher Kongresse durch die Pharmaindustrie, zulässig und welche unzulässig sind40. Seit 2004 wird zudem die Einhaltung dieser Regeln durch eine eigene Vereinsgerichtsbarkeit überwacht, die Regelverstöße mit „Geldstrafen“ bis zu 150.000 Euro zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung sanktionieren kann. Solche vereinsgerichtlichen Sanktionen schließen eine zusätzliche Bestrafung durch staatliche Gerichte nicht aus. Aber die freiwillige Selbstkontrolle genießt doch eine gewisse staatliche Anerkennung und wird dauerhaft nur funktionieren, wenn bei Einhaltung ihrer Regeln eine staatliche Strafverfolgung unterbleibt. An dieser Stelle interessiert die freiwillige Selbstkontrolle im Bereich der Arzneimittelindustrie nur wegen ihres Zusammenhangs mit der Bestimmtheitsproblematik. Insofern kann ich mich nun kurz fassen. Die Selbstkontrolle ist entstanden als Reaktion auf die Unsicherheit des staatlichen Korruptionsstrafrechts. Sie führt durch private Regelsetzung und eine sehr differenzierte Kasuistik zu Abgrenzungen zwischen zulässigen und unzulässigen Formen der Zusammenarbeit von Industrie und öffent37
So Knauer/Kaspar, GA 2005, 385 (391). So zuletzt Kaiser, Drittmittel, Sponsoring und Fundraising – Rechtskonforme Finanzierung öffentlicher Aufgaben oder Einstieg in die Korruption?, 2008, S. 136 ff. 39 So BGHSt 47, 295 für die Einwerbung von Drittmitteln seitens der pharmazeutischen Industrie durch Hochschullehrer und BGHSt 49, 275 für die Einwerbung von Wahlkampfspenden durch Amtsträger. 40 Vgl. dazu Kuhlen (Fn. 36), S. 882 ff. 38
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lichen Kliniken, deren Bestimmtheit die des staatlichen, auch richterlich konkretisierten, Strafrechts weit übertrifft. In dem Maße, wie dieses Modell funktioniert, wird es zu einer gerichtlichen Präzisierung der für sich genommen sehr unbestimmten Strafgesetze gar nicht mehr kommen. Die Privatisierung bildet also eine ähnliche faktisch wirksame Grenze der richterlichen Strafrechtsbestimmung wie die zuvor erörterte Informalisierung des Strafverfahrens durch Absprachen.
VI. Resumée Ich fasse die wichtigsten Thesen meines Vortrags knapp zusammen. Nach klassisch rechtsstaatlichem Verständnis wird die für die Orientierungssicherheit des Bürgers erforderliche Bestimmung des Strafrechts allein vom Gesetzgeber geleistet. Dieses Verständnis ist unrealistisch, weil es den, in einem erheblichen Umfang unvermeidlichen, richterlichen Beitrag zur Konkretisierung des Strafrechts unberücksichtigt läßt. Es ist deshalb begrüßenswert, daß dieser Beitrag neuerdings anerkannt und das Bestimmtheitsgebot auch an den Richter adressiert wird. Es fordert von ihm die Präzisierung unbestimmter Strafgesetze. Dieses Präzisierungsgebot ist allerdings seinerseits ähnlich unbestimmt wie das klassische, an den Gesetzgeber adressierte Gebot der Gesetzesbestimmtheit. Zudem wirft es dogmatische Folgeprobleme auf, so die Frage, ob das Rückwirkungsverbot nicht auch für die richterliche Gesetzesauslegung gilt. Selbst das modifizierte und bescheidenere Programm einer Bestimmung des Strafrechts durch ein Zusammenwirken von Gesetzgeber und Richter stößt zudem an faktische Grenzen, wie sich aktuell an der Informalisierung des Strafverfahrens und der Privatisierung von Aufgaben der Strafrechtspflege im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts zeigt.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Enrique Bacigalupo, Instituto Universitario de Investigación Ortega y Gasset (Spanien) Dr. Dr. Ralph Christensen, Mannheim Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Universität Würzburg Prof. Dr. Kenneth S. Gallant, Universität Arkansas (USA) Prof. Dr. Matthias Jahn, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Matthias Klatt, Universität Hamburg Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Lothar Kuhlen, Universität Mannheim Wiss. Ass. Dr. Raquel Montaner Fernández, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien) Prof. Dr. Juan Pablo Montiel, z. Zt. Stipendiat der Alexander-von Humboldt-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. José Juan Moreso, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien) Prof. Dr. Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien) Prof. Dr. Pablo Sánchez Ostiz, Universität Navarra (Spanien) Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Universität Bonn Prof. Dr. Eugenio Sarrabayrouse, Universität de Ciencias Empresariales y Sociales, Río Grande (Argentinien) Prof. Dr. Jesús-María Silva Sánchez, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien) Prof. Dr. Helmut Satzger, Ludwig-Maximilians-Universität München Akad. Rat Dr. Jan C. Schuhr, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Streng, Universität Erlangen-Nürnberg