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German Pages 625 [627] Year 2017
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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von Albrecht Beutel
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Christian Nottmeier
Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890 –1930 Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik
2., durchgesehene und um ein Nachwort ergänzte Auflage
Mohr Siebeck
Christian nottmeier, geboren 1974; Studium der ev. Theologie und der Geschichte in Berlin und Halle; Promotion im Fach Geschichte 2002; theologische Diplomprüfung 2003; 2002 bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 2007 bis 2009 Pfarrer in Berlin-Nikolassee, 2009 bis 2012 in Berlin-Wilmersdorf; seit 2012 von der EKD entsandt als Pfarrer an die deutschsprachige Evangelisch-lutherische Johannesgemeinde Pretoria-Ost, Südafrika; seit 2008 zugleich Vorstand am Evangelischen Institut für Kirchenrecht an der Universität Potsdam.
e-ISBN PDF 978-3-16-152125-6 ISBN 978-3-16-151997-0 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2004. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Bembo-Antiqua gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
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Für Lilli, Jan, Jonas, Johanna und Jakob
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„Was ich gelernt habe, habe ich an der Kirchengeschichte gelernt, und wenn es mir vergönnt gewesen ist, über ihre Grenzen hinauszuschreiten, so hat sie mir die Wege gewiesen; denn nichts Menschliches ist ihr fremd.“ Adolf von Harnack: AusWissenschaft und Leben. Band 1, Gießen 1911,V.
„‚Ich habe stets den nächsten Schritt gewählt.‘ Man mag in Kontrasten denken, man soll es vielleicht; aber man soll in Nuancen handeln und stets in Bezug auf die Gegenwart aktiv sein und mittun.“ Adolf von Harnack 1927 in einem Brief an Roderich von Engelhardt (Nachlaß Harnack).
VIII
Vorwort zur 2. Auflage Das erste Erscheinen dieses Buches liegt nun schon mehr als zehn Jahre zurück. Es hat eine überaus freundliche Aufnahme gefunden, für die ich außerordentlich dankbar bin. Eine besondere Ehre war mir, dass das Buch 2006 mit dem „Hans-Rosenberg-Gedächtnis-Preis“ der Friedich-EbertStiftung ausgezeichnet wurde und der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, die Laudatio gehalten hat.1 Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Schon vor einiger Zeit ist der Verlag an mich mit der Bitte um eine zweite Auflage herangetreten. Die neuen beruflichen Herausforderungen in Südafrika haben dazu beigetragen, dass von der Bitte des Verlags bis zur Verwirklichung durch den Autor noch einmal einige Zeit verging. Dem Verlag Mohr Siebeck, vertreten durch Herrn Dr. Henning Ziebritzki, sei an dieser Stelle deshalb nicht nur für die exzellente Betreuung, sondern auch die Geduld mit dem säumigen Autor gedankt. Mein Dank gilt auch Herrn Matthias Spitzner vom Verlag Mohr Siebeck für die gewohnt professionelle Gestaltung des Satzes. Zur einer inhaltlichen Überarbeitung oder Veränderungen habe ich mich nach der Durchsicht nicht veranlasst gesehen. Lediglich einige kleinere Fehler und Versehen sind für diese durchgesehene Neuauflage korrigiert wurden. Dieser 2. Auflage ist allerdings ein Nachwort angefügt worden, in dem ich einige überblicksartige Bemerkungen zur Entwicklung der Forschungslage gebe sowie drei exemplarische Schlaglichter auf die mögliche Bedeutung einiger von Harnack angerissener Problemstellungen werfe. Jedoch ist es angebracht, an dieser Stelle einige weitere Worte des Dankes anzufügen. Für die zahlreichen Hinweise und das weiterhin anregende theologische Gespräch, zum Teil auch über die Kontinente hinweg, danke ich folgenden Freunden, Kollegen und theologischen Weggefährten der letzten Jahre: Roderich Barth, Johann Hinrich Claussen, Wilhelm Gräb, Andreas Kubik, Martin Kumlehn, Albrecht Lindemann und Claus-Dieter Osthövener.
1 Wolfgang Huber: Laudatio, in: Dieter Dowe (Hg.): Hans Rosenberg-Gedächtnispreis 2006, Bonn 2006, 11–17; auch online unter http://library.fes.de/pdf-files/historiker/03883. pdf (zuletzt abgerufen am 13.2.2017).
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Vorwort zur 2. Auflage
Für mache Anregungen, Hinweise und Begleitung danke ich ferner Ulrich Barth, Wolfgang Huber, Karl-Hinrich Manzke, Christoph Markschies, Martin Ohst, Arnulf von Scheliha und Dorothea Wendebourg. Besonders dankbar bin ich für den engen und freundschaftlichen Austausch in wissenschaftlichen, politischen und allen anderen Fragen, der mich und meine Frau mit Heinrich August Winkler und seiner Frau Dörte verbindet. Für die Mühen des Korrekturlesens ist Dr. Paul Hasse (Pretoria) zu danken. Theologie bewährt sich in ihrem praktischen Bezug – das hat mir mein Wirken als Pastor einer deutschsprachigen lutherischen Gemeinde im multikulturellen Umfeld des krisengeschüttelten Südafrika der Nach-Apartheid-Ära erneut vor Augen geführt. Dass gerade in politischen wie wirtschaftlichen Krisensituationen einer Gesellschaft im Übergang der Wunsch nach vermeintlichen politischen, weltanschaulichen und religiösen Sicherheiten, ja gleichsam unhinterfragten Wahrheiten zunimmt, ist freilich kein auf Südafrika beschränktes Phänomen, sondern lässt sich mit deutlich zunehmender Intensität auch in den Gesellschaften des transatlantischen Westens in Nordamerika und Europa beobachten. Das ist einem selbstdenkenden und aufgeklärten Verständnis protestantischen Christentums nicht immer dienlich. Selbstverantworteter Glaube ist häufig kein einfaches Unterfangen, ähnelt oft eher einer Suchbewegung, als dem Auffinden immer gültiger Wahrheiten. Ich bin deshalb dankbar, dass ich in einer Gemeinde wirken kann, in der bei aller Vielfalt der Frömmigkeitsformen und Prägungen ein in dieser Weise selbstdenkendes, aufgeklärtes Verständnis des Christentums, das zugleich seine gelebte Frömmigkeit nicht vergisst, offensichtlich einen Beitrag zur Selbstverständigung und Klärung der nicht immer einfachen privaten wie gesellschaftlichen Lebensfragen leisten kann. Diese erfreuliche Verschränkung von theologischer Theoriearbeit und pastoraler Praxis gehört zu den beglückenden Erfahrungen meines beruflichen wie privaten Lebens. Dafür sei an dieser Stelle herzlich der Johannesgemeinde Pretoria-Ost gedankt. Stellvertretend sei für diese die Vorsitzende des Kirchenvorstandes, Frau Marlise Filter, genannt. Am Schluss gilt ein letzter, aber zugleich ohne Zweifel der wichtigste Dank meiner Frau Lilli. Ohne ihre Geduld, aber auch ihren Verzicht auf eigentlich ihr und unseren Kindern zustehende zeitliche Ressourcen wäre mir wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich. Wieder kann deshalb das geschriebene Wort nur unvollkommen andeuten, wie dankbar ich dafür bin. Lilli und unseren Kindern Jan, Jonas, Johanna und Jakob ist dieses Buch deshalb in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Pretoria/Südafrika, den 18. Februar 2017
Christian Nottmeier
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2002 vom Institut für Geschichtswissenschaften an der Philosophischen Fakultät I der HumboldtUniversität zu Berlin als Dissertation angenommen. Die Disputation fand am 25. Juni 2002 statt. Dekan der Fakultät war Herr Prof. Dr. Oswald Schwemmer. Für den Druck wurde die Arbeit bis Ende 2002 geringfügig überarbeitet. Zunächst möchte ich meinen besonderen Dank Herrn Prof. Dr. Heinrich August Winkler aussprechen, der das Erstgutachten verfaßt hat. Er hat mein Interesse an der Geschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik in vielfacher Weise gefördert und mir dabei zugleich mit großer Offenheit ermöglicht, meine wissenschaftshistorischen wie meine theologiegeschichtlichen Fragestellungen in die vorliegende Studie einzubringen. Nicht nur für das Zweitgutachten, sondern für vielfältige Anregungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte bin ich Herrn Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch verpflichtet. Eine große Freude war mir, daß mein Hallenser theologischer Lehrer, Herr Prof. Dr. Ulrich Barth, sich zur Übernahme des Drittgutachtens bereit erklärt hat. Ihm sei an dieser Stelle zudem für entscheidende Anstöße für die Beschäftigung mit der protestantischen Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie die konstruktiv-kritische Begleitung der vergangenen Jahre gedankt. Für die Übernahme des Vorsitzes der Prüfungskommission danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Hardtwig. Besonders verpflichtet fühle ich mich ferner Herrn Prof. Dr. Kurt-Victor Selge, dessen kirchenhistorisches Hauptseminar im Sommersemester 1996 mich zu einer ersten intensiveren Beschäftigung mit Leben und Werk Harnacks inspirierte. Seine kritische Offenheit, die stetige Bereitschaft zum Gespräch sowie die große Freiheit zum Umgang mit den eigenen Fragestellungen, die er mir in meiner Zeit als studentischer Mitarbeiter zunächst an der Schleiermacher-Forschungsstelle, dann an seinem Lehrstuhl zu Teil werden ließ, kamen auch dieser Arbeit zugute. Ein herzlicher Dank ist zudem Herrn Prof. Dr. Wilhelm Gräb abzustatten, der mit mancher Ermunterung und in vielfältiger anderer Weise zum gelungenen Abschluß dieser Studie beigetragen hat. Dem Herausgeber der „Beiträge zur Historischen Theologie“, Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel, danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe
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Vorwort
wie auch Herrn Dr. Henning Ziebritziki für die vorzügliche verlegerische Betreuung im Verlag von Harnacks „Lehrbuch der Dogmengeschichte.“ Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle an Herrn Prof. Dr. Dr. Kurt Nowak zu erinnern, der den Abschluß dieser Arbeit nicht mehr erleben durfte. Er hat mir nicht nur die Teilnahme an den Harnack-Kongressen von 1998 und 2001 ermöglicht, sondern mit großem Interesse das Entstehen dieser Studie von Beginn an gefördert. Für manch hilfreichen Hinweis ist ferner Herrn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf zu danken. Meinen Berliner Freunden Herrn Dr. Martin Kumlehn und Herrn Andreas Kubik danke ich für ihre Bereitschaft zur inhaltlichen Kritik, zur Übernahme von formalen Korrekturen und die zahlreichen anregenden Gespräche, die mir nicht allein die Arbeit sehr erleichtert haben. Für das Lesen von Korrekturen ist zudem Herrn Michael Brückner, Herrn Albrecht Lindemann und Frau Daniela Boltres-Astner zu danken. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat mir ein Promotionsstipendium gewährt, ohne das diese Arbeit kaum in einem überschaubaren Zeitraum hätte entstehen können. Die VG Wort hat zudem einen überaus großzügigen Druckkostenzuschuß gewährt. Gedankt sei an dieser Stelle ferner den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zahlreichen Bibliotheken und Archive, in denen ich für diese Studie arbeiten konnte. Ohne die nachhaltige und mitunter auch nachsichtige Unterstützung meiner Frau Lilli wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ihr und unseren Kindern Jan, Jonas und Johanna ist diese Arbeit gewidmet. Die Widmung deutet dabei nur an, was das geschriebene Wort höchst unvollkommen zum Ausdruck bringen kann. Berlin, im August 2003
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Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Von Livland nach Leipzig: Herkunft und Werdegang des jungen Harnack . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Baltisches „Literatentum“: Familiäre und kulturelle Prägungen Harnacks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Erlanger Jahre (1853–1866) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konfessionelles Luthertum und Geschichte des frühen Christentums: Dorpater Jugend- und Studienjahre (1866–1872) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Ostseeprovinzen im weiteren Leben Harnacks . . . . . . . . .
21 30
34 55
II. Vom konfessionellen Lutheraner zum undogmatischen Dogmenhistoriker: Harnack 1872–1888 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Wendejahre: Leipzig 1872–1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1.1. Wissenschaft und Leben eines jungen Privatdozenten . . . 62 1.2. Die „kleine Leipziger Fakultät“: Harnack und die Entstehung der Schule Albrecht Ritschls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Stationen einer Karriere: Gießen und Marburg (1879–1888) . 88 2.1. „Der Kirchenhistoriker des Großherzogtums Hessen“ . . . 88 2.2. Die Überwindung der Tradition: Harnacks Dogmengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Von Marburg nach Berlin: Der Ruf in die Reichshauptstadt als (wissenschafts-) politisches Signal im Dreikaiserjahr 1888 . 104 4. „Der Fortschritt ist zum Rückschritt geworden“: Harnack, der Liberalismus und die soziale Frage bis 1890 . . . . 116 III. Liberaler Protestantismus, soziale Monarchie und die Anfänge gouvernementaler Gelehrtenpolitik: Harnacks Berliner Wirksamkeit bis zur Jahrhundertwende . . . . . 122 1. Berliner Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
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Inhaltsverzeichnis
2. Innerprotestantische Kulturkämpfe: Harnack und die kirchenpolitisch-theologischen Kontroversen nach 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gelehrtenpolitik im Berlin der 1890er Jahre . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Gelehrtenpolitik: Grundlagen und Wirkungsweise . . . . . 3.2. Persönliche Kontakte: Theodor Mommsen und Hans Delbrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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143 3.2.1. Der Meergreis und die Rose von Jericho: Harnack und Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.2.2. Politische Partner: Harnack und Delbrück . . . . . . . . . . . 146
3.3. Die „mittlere Linie“: Grundzüge der Gelehrtenpolitik Harnacks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Preußische Wissenschaftspolitik: Harnack und Althoff . . 3.5. Primat der Innenpolitik: Harnack und die gelehrtenpolitischen Aktivitäten bis 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Evangelium und soziale Frage: Der Evangelisch-soziale Kongreß bis 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Zwischen Stoecker und Harnack: Die Gründung des Kongresses 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Konsens in der Krise: Der Kongreß bis zum Ausscheiden Stoeckers 1896 . . . . . 4.3. Demokratie, Kaisertum und nationaler Sozialismus: Harnack und Friedrich Naumann im ESK . . . . . . . . . . . . 4.4. Der Kongreß nach dem Ausscheiden Stoeckers . . . . . . . . 4.5. „Gebt uns einen neuen Tyrannen an Nobbes Statt“ – Die Übernahme des Kongreßpräsidiums durch Harnack IV. Zwischen Kaiser und Kanzler: Harnack als führender Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Großbetrieb der Wissenschaft: Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik von 1900 bis 1914 . . 1.1. Harnack und Wilhelm II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. „Das Ganze ins Auge fassen“: Harnack und die preußische Wissenschaftspolitik 1900 bis 1914 . . . . . . . . .
152 158 173 189 189 199 209 219 225
233 233 233
262 1.2.1. Von der Jahrhundertwende bis zum Abschied Althoffs 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1.2.2. Der Organisator: Vom Abschied Althoffs bis zum Ausbruch des Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
1.3. Lebensführung, Theologie und Kirchenpolitik 1900 bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Inhaltsverzeichnis
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2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . 286 2.1. Kontakte zur Reichsleitung: Bülow und Bethmann Hollweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2.1.1. Harnack und die Politik Bülows bis 1906 . . . . . . . . . . . . 286 2.1.2. Reichstagswahlen und Finanzreform: Die Zeit des Bülow-Blocks 1907–1909 . . . . . . . . . . . . . 293 2.1.3. Nähe und Distanz: Harnack, Bülow und Bethmann Hollweg 1909 bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
2.2. Zwischen Polemik und Versöhnlichkeit: Harnacks Verhältnis zu Katholizismus und Zentrumspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2.2.1. Deutsche Konfessionspolitik: Ein Beitrag Harnacks zu Friedrich Naumanns „Staatslexikon“ . . . . . . . . . . . . . 313 2.2.2. Politischer und religiöser Katholizismus: Harnack und die konfessionspolitischen Debatten bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2.2.3. Harnack und das Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
2.3. Sozialpolitik als Kulturauftrag: Harnack als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses 1902–1911 . . . . . . . 331 2.4. „Von Bassermann bis Bebel“? Harnack, Naumann und die Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Deutschland und England: Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3.1. Weltpolitik, christliche Missionsarbeit und Armenierhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3.2. Die „beste Realpolitik“ – Harnack und die Bemühungen um eine deutsch-englische Verständigung . 367 V. Zwischen Kriegsbegeisterung und Reformbereitschaft: Harnack im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 1. „Augusterlebnis“ und „Krieg der Geister“: Harnack in den ersten Monaten des Weltkrieges . . . . . . . . . . . 1.1. August 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Frage der Kriegsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Der Krieg als Kulturkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Harnack und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Krieg
378 378 385 388 400
2. Gelehrtenpolitik im Weltkrieg: Grundlagen des Engagements Harnacks . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 2.1. Politische Kommunikation im Krieg: „Mittwochabend“ und „Deutsche Gesellschaft 1914“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
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Inhaltsverzeichnis
2.2. Der Beginn der Reformdiskussion: Harnack und die „Freie Vaterländische Vereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 3. Kriegsziele und Friedensfragen: Politische Kontroversen bis zum Sturz Bethmann Hollwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Harnacks Beurteilung der Kriegslage und die erste Beschäftigung mit den Kriegszielen im Frühjahr 1915 . . 3.2. Harnack und die Gegeneingabe vom 27. Juli 1915 . . . . . 3.3. Kontakte zum Kanzler: Harnack und Bethmann Hollweg 1916 . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Vermitteln zwischen den Extremen: Harnack und der „Deutsche Nationalausschuß“ . . . . . . . 3.5. „Realpolitischer Pazifismus“, U-Bootkrieg und Wahlrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Harnack und der Sturz Bethmann Hollwegs . . . . . . . . . .
410 410 416 424 432 436 445
4. Zwischen Reform und Revolution: Die Gemäßigten im letzten Kriegsjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 4.1. Kanzlerkrise und politische Polarisierung . . . . . . . . . . . . . 447 4.2. Der Sturz Valentinis und das Scheitern der gouvernementalen Gelehrtenpolitik . . . . . . . . . . . . . . 453 4.3. Anknüpfen an 1848? Harnack und die Oktoberreformen Max von Badens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 VI. Der konservative Republikaner: Harnack und die erste deutsche Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 462 1. Revolution und Friedensschluß: Harnack im ersten Jahr der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der Sinn der Geschichte: Harnacks Deutung der Revolution als Übergang zu Demokratie und Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Von der Revolution bis zur Wahl der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Entscheidung für die Republik: Von den Verfassungsverhandlungen in Weimar bis zum Kapp-Putsch . . . . . . .
462
462 467 470
2. „Eine repräsentative Persönlichkeit der deutschen Gelehrtenwelt“: Harnack als Theologe und Wissenschaftspolitiker 1920 bis 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 2.1. Notgemeinschaft, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und internationale Wissenschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . 477 2.2. „Für mich selbst bin ich nach wie vor nur theologus“ – Harnack und die Theologie nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . 484
Inhaltsverzeichnis
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3. Die Lehren des Krieges: Außenpolitik zwischen nationaler Selbstbehauptung und internationaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 4. Der Ertrag von 1914: Harnack und die deutsche Innenpolitik nach 1920 . . . . . . . . . 498 4.1. Die Krisenjahre bis 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 4.2. Harnack in der Zeit der relativen Stabilisierung der Republik von 1924 bis 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 VII. Schlußbemerkung:Vom liberalen Monarchisten zum Republikaner aus historischer Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Nachwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 1. Zum gegenwärtigen Stand der Harnack-Forschung . . . . . . . 2. Ein nicht aufgebrauchtes Erbe? Überlegungen zur bleibenden Aktualität der Theologie Harnacks . . . . . . . . . . . 2.1. Krisendiagnostik und Wesensbestimmung: Der „unendliche Wert der Menschenseele“ . . . . . . . . . . 2.2. Der unendliche Wert der Menschenseele und christliche Weltverantwortung: Protestantische Ethik und Politik . 2.3. Protestantismus und Erinnerung: Die Ambivalenz des reformatorischen Erbes und der Abschied vom „ganzen Luther“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523 530 533 536
540
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
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Einleitung
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Einleitung Am 11. Juni 1930 erschien die demokratisch orientierte Berliner Boulevardzeitung „8-Uhr-Abendblatt“ mit einer in folgender Weise gestalteten Titelseite: Neben einer groß aufgemachten Meldung zu einem Boxkampf Max Schmelings war ein Bildnis des am Vortag verstorbenen Berliner Theologen Adolf von Harnack zu sehen. Es folgten im Blattinneren drei Sonderseiten zu diesem Thema mit der Überschrift: „Ein Lebenswerk ohnegleichen: Harnack. Deutschlands größter Gelehrter.“1 Die „Vossische Zeitung“ begann ihren Gedenkartikel mit den Worten: „Ein Patriarch der deutschen Wissenschaft ist tot.“2 Auch die anderen großen Zeitungen Deutschlands meldeten in ihren Ausgaben vom 11. Juni den Tod Harnacks auf ihrer Titelseite und ließen umfangreiche Würdigungen seines Lebenswerks folgen. Freilich wurde auch die Umstrittenheit des Verstorbenen deutlich, und zwar in erster Linie nicht wegen seines theologischen Werkes, sondern wegen seines politischen Engagements der vergangenen Jahre.3 Der deutschnationale „Berliner Lokalanzeiger“ verwies auf den Umstand, daß Harnack 1918 „leider allzu rasch verurteilte, was er früher verehrte, und im parteipolitischen Kampf des Tages angriff, was ihm früher heilig gewesen war.“4 Die „Deutsche Tageszeitung“ erinnerte an das „unliebsame Aufsehen“, das Harnacks „bedauerlicher Frontwechsel gegenüber seinem Freund und Wohltäter, dem Kaiser“ erregt habe.5 Was für die politische Rechte Grund des Tadels war, zeichnete nach der Lesart der liberalen und auch der sozialdemokratischen Presse gerade die letzten Lebensjahre Harnacks aus. Der sozialdemokratische „Vorwärts“ 1
8-Uhr-Abendblatt Nr. 133 vom 11.6.1930. VZ vom 11.6.1930. Die Abkürzungen der Zeitschriften werden im Literaturverzeichnis aufgelöst. Häufig zitierte Schriften Harnacks werden gleichfalls abgekürzt zitiert. Die entsprechenden Abkürzungen sind gleichfalls im Literaturverzeichnis zu finden. Gleiches gilt für die Quellenfundorte in Archiven und Bibliotheken. Alle anderen Abkürzungen folgen Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG), Berlin/New York 21992. Titel ohne Autorenangaben beziehen sich durchgehend auf Adolf von Harnack. 3 Eine umfangreiche Sammlung von Nachrufen in: SBB-PK, Nl. Harnack, K. 3 u. 4, vgl. ferner den Überblick bei Karl Ludwig Schmidt: Zum Tode Adolf von Harnacks. Die Nekrologe der Tagespresse und ein Wort dazu, in: ThBl 9 (1930), 163–177. 4 Berliner Lokalanzeiger Nr. 270 vom 11.6.1930. 5 Deutsche Tageszeitung Nr. 270 vom 11.6.1930. 2
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kommentierte: „Nach dem Umsturz aber hat er sich nicht schmollend zurückgezogen, sondern auf dem neuen Boden weiter mitgearbeitet. Gegen Verunglimpfungen des ersten Präsidenten der Deutschen Republik, unseres Genossen Ebert, ist er mannhaft aufgetreten und er hat es erlebt, daß sein Sohn Ernst nach der Revolution der Sozialdemokratie beitrat.“6 Ähnlich urteilte auch die SPD-nahe „Rheinische Zeitung“: „Adolf von Harnacks entscheidenden geistig-wissenschaftlichen Leistungen und Erlebnisse wurzelten im alten Deutschland. Aber er spürte mit großer Regsamkeit noch im hohen Alter alles Neue und Werdende und setzte sich mit ihm auseinander. Selbst zum Sozialismus, dem er ursprünglich ganz fern stand, suchte er einen Weg des Verständnisses, und mit den sozialen Problemen, die seine Kirche dauernd in einen Unruhestand versetzten, beschäftigte er sich viel. […] Es gab für Adolf von Harnack nur eine Brücke zur jungen Generation, nie jene schroffe und vereiste Scheidewand, die so viele hohe protestantische Würdenträger dem Ringen unserer Zeit und ihren Aufgaben entgegenstellen.“7 Die Zentrumszeitung „Germania“ würdigte Harnacks politische Aktivitäten der letzten Jahre, auch wenn seine Theologie natürlich „für den Katholiken unannehmbar“ sei: „Trotz dieser starken Verwurzelung im Vorkriegsdeutschland gehörte Exzellenz von Harnack doch zu den Männern, die nach der Staatsumwälzung keinen Augenblick abseits standen, sondern die aus innerstem Drange heraus, ihre Schaffenskraft zur Konsolidierung des neuen Staates einzusetzen bereit waren.“8 Überblickt man die 79 Lebensjahre Harnacks, so ergibt sich ein wechselvolles Bild. Sein Weg führte ihn als Angehörigen der weithin noch ständisch-feudal geprägten deutschbaltischen Welt Dorpats nach Leipzig, von dort über zwei Stationen in der hessischen Provinz ins Berlin der späten Bismarckzeit, wo er die weiteren Umbrüche der deutschen Geschichte bis 1930 miterlebte und mitzugestalten versuchte. Theologisch beschritt er Wege aus einem sozialkonservativen Luthertum hin zu einer Umformung der klassischen Theologie in eine historisch-kulturwissenschaftliche Disziplin, die die bleibende Bedeutung der christlichen Religion unter den Bedingungen der Moderne ebenso reformulieren wie eine protestantisch gefärbte Bürgerkultur gesellschaftlich etablieren sollte. Harnacks Kulturideal aus christlichem Geist führte ihn in die Kreise der bürgerlichen Sozialreformer und ließ ihn zum konstruktiv-kritischen Begleiter des politischen Werdegangs Friedrich 6
Vorwärts Nr. 268 vom 10.6.1930. Harnacks Sohn Ernst war 1918 der SPD beigetreten. 1929 wurde er Regierungspräsident von Merseburg. Nach dem „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 erfolgte die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Als Mitwisser am Attentat auf Hitler im September 1944 verhaftet, wurde er am 5. März 1945 in BerlinPlötzensee hingerichtet, vgl. Gustav-Adolf von Harnack (Hg.): Ernst von Harnack. Jahre des Widerstands 1932–1945, Pfullingen 1989. 7 Rheinische Zeitung Nr. 157 vom 11.6.1930. 8 Germania Nr. 266 vom 11.6.1930.
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Naumanns werden, beförderte aber ebenso seinen Aufstieg zum Wissenschaftsorganisator, der in der Übernahme der Präsidentschaft der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911, der Vorläuferorganisation der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, gipfelte. Seit 1900 in engem Kontakt nicht nur zu hohen Ministerialbeamten, sondern auch zum Kaiser sowie zum Kanzler der Jahre 1900 bis 1909, Bernhard von Bülow, stehend, gehörte Harnack zu den führenden wissenschaftlichen Gestalten des wilhelminischen Deutschland. Im Weltkrieg nach anfänglicher Kriegsbegeisterung Befürworter von innenpolitischen Reformen und Verständigungsfrieden, zählte er nach 1918 trotz seiner Bindungen an das alte Regime zu den Verteidigern der Weimarer Republik. Er verteidigte den Reichspräsidenten Friedrich Ebert gegen Anwürfe von rechts und votierte 1925 gegen Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten. Harnack gehörte gleichwohl zeitlebens keiner Partei an, sondern pflegte einen überparteilichen, auf Konsens, Konfliktvermeidung und Interessenausgleich zielenden Politikstil, den er selbst wiederholt mit der Formel von der mittleren Linie umschrieb. Schon die Untersuchung dieses spezifischen Stils gelehrter Politik dürfte – unabhängig von der Biographie Harnacks – von besonderem Interesse sein, spiegelt er doch in konzentrierter Form die Verwerfungen und Widersprüche der politischen Ordnung des Kaiserreiches wider. Um die organische Reform des Reiches im Lichte bürgerlicher Wertideale ging es ihm vor 1918. Nach dem Ende der Monarchie versuchte er sich auf die politischen Veränderungen einzustellen und sie – trotz bleibender Verankerungen in der Vorkriegszeit – positiv zu beeinflussen. Sowohl die wissenschaftliche als auch die in den Nachrufen bereits angedeutete politische Biographie Harnacks lassen ihn als eine für die Zeit zwischen 1890 und 1933 überaus interessante Gestalt erscheinen. Die Zeitläufte nach 1930 waren einer intensiven Beschäftigung mit Harnack freilich alles andere als günstig. Die bis heute grundlegende Biographie aus der Feder der Tochter Agnes von Zahn-Harnack konnte 1936 nur dank der Bemühungen von Theodor Heuß in einem kleinen Berliner Verlag erscheinen.9 Diese Lebensbeschreibung war auch der Versuch, liberale Traditionen in Kirche und Gesellschaft unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur wenigsten im Modus der historischen Beschäftigung wach zu halten. Ein den Nationalsozialisten nahe stehender Theologe wie Erich Seeberg erblickte denn auch gerade in der Darstellung der politischen Tätigkeit Harnacks dessen große Distanz zu „den politischen und geistigen Kräften des heutigen Deutschland.“10 In der liberalprotestantischen „Christlichen Welt“ 9 Agnes von Zahn-Harnack: Adolf von Harnack, Berlin 1936 (21951); soweit nicht anders angegeben, wird die Ausgabe von 1951 benutzt (künftig: ZH). 10 Erich Seeberg: Rezension Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, in: ThLZ 62 (1937), 19–21, 20. Einen instruktiven Überblick über die Resonanz auf die Biographie bietet Ernst Rolffs: Harnacks Bild im Geiste der Nachwelt, in: ChW 51 (1937),
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rezensierte Harnacks Freund aus Leipziger Tagen, der liberale Theologe, Publizist und Politiker Martin Rade, das Buch und wies darauf hin, daß Harnacks Bild zu verblassen drohe: „Denn wie rasch kommt ein Geschlecht auf, das nichts mehr weiß von Pharao. […] Man wird das Werk durch Einzelberichte und Einzeluntersuchungen glücklich ergänzen können – genug, das Bild des Mannes ist da, für die Zukunft gerettet.“11 Nicht nur die politische, sondern auch die theologische Entwicklung der 1920er und 1930er Jahre, gekennzeichnet durch die „antihistoristische Revolution“ (Kurt Nowak) und ihre Abkehr von der kulturprotestantischen Bildungsreligion – theologisch markiert durch das Aufkommen der Dialektischen Theologie, des Religiösen Sozialismus und der national-konservativen Lutherrenaissance sowie später die Polarisierungen des „Kirchenkampfes“ seit 193312 – standen einer nachhaltigen Rezeption des Werkes Harnacks entgegen. Wirkungsgeschichtlich nicht ohne Folgen waren zweifellos auch Versuche einer theologiepolitisch motivierten Monopolisierung des Kirchenkampfs durch Karl Barth, der 1937 erklärte, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus richte sich ebenso sehr wie gegen die Deutschen Christen auch gegen den theologischen Liberalismus.13 Daß Mitarbeit in der „Bekennenden Kirche“ sich auch aus liberalprotestantischen Traditionen begründen konnte, wie das Beispiel des prominenten Harnack-Schülers Hans von Soden belegt14, ignorierte Barth freilich geflissentlich. Barths Versuche einer Delegitimation theologisch anders orientierter Entwürfe durch den Vorwurf politischen Fehlverhaltens haben zumindest teilweise auch nach dem Krieg weitergewirkt. So begründete Barth 1968 seine theologische Abkehr von seinen liberalen Lehrern Wilhelm Herrmann, Martin Rade und Adolf Harnack mit deren Verhalten bei Kriegsausbruch, wobei Harnacks Unterschrift unter das berüchtigte Manifest der 93 eine Schlüsselrolle für Barths Argumentation spielte.15 Barths These eines Scheiterns der Theologie seiner Lehrer durch ihr Verhalten 1914 findet sich denn bis heute in theologiegeschichtlichen Darstellungen – übrigens einschließlich der Barth’schen Vordatierung des 877–882.919–924, sowie ders.: Harnack und die Theologie der Krisis, in: ChW 52 (1938), 61–65. 11 Martin Rade: Die Harnack-Biographie, in: ChW 50 (1936), 293f. 12 Vgl. dazu Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 15–75. 13 Karl Barth: Der deutsche Kirchenkampf, Basel 1937, 12. 14 Vgl. Erich Dinkler/Erika Dinkler-von Schubert (Hg.): Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933–1945, Göttingen 21986; Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Kirchlichtheologischer Liberalismus und Kirchenkampf. Erwägungen zu einer Forschungsaufgabe, in: ZKG 87 (1976), 298–320. 15 Karl Barth: Nachwort, in: Heinz Bolli (Hg.): Schleiermacher-Auswahl, Gütersloh 1968, 290–312; vgl. auch Wilfried Härle: Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der liberalen Theologie, in: ZThK 72 (1975), 207–224.
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Manifests von Anfang Oktober auf Anfang August 1914.16 Harnacks politischer Weg nach 1914 einschließlich der Unterstützung der Weimarer Republik, der Barths These zumindest relativiert hätte, wurde von Barth bezeichnenderweise nicht erwähnt. Zehn Jahre nach Harnacks Tod, im Mai 1940, notierte Hermann Mulert in der „Christlichen Welt“ aus diesem Anlaß: „Hat Harnack […] es noch erlebt, daß viele junge Theologen ganz andere Wege gingen als er, so wird allmählich (oder auch rasch) die Einsicht wachsen, daß weder eine völlige Scheidung von Christentum und Kultur, noch auch die Rückkehr zur Orthodoxie möglich ist. Und nach einer Periode, da man sich einseitig den grundsätzlichen Fragen zuwandte, ohne sich viel um Gewesenes zu kümmern, wird eine Zeit wiederkommen, die, gegen kühne Behauptungen und dogmatische Machtansprüche kritisch, ernstlich aus der Geschichte zu lernen versucht. Dann wird Harnack wieder stärker wirken als heute.“17 Mulerts Prognose sollte sich freilich erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfüllen. Zwar wurde 1951 Harnacks 100. Geburtstages gedacht18, eine eingehendere Beschäftigung mit seinem Leben und Werk unterblieb aber zunächst. Daran änderte sich auch nach der allmählich einsetzenden Rückbesinnung auf liberaltheologische Traditionen seit etwa 1970 wenig.19 Die ersten größeren monographischen Studien erschienen 1967 und 1968 in den Vereinigten Staaten20 und waren wohl auch eine späte Resonanz auf Harnacks wissenschaftliche Beziehungen in die USA. Als eine solche Resonanz 16 So etwa noch Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 176, Anm. 18. 17 Hermann Mulert: Harnack, in: ChW 54 (1940), 261. 18 Kurt Aland/Walter Elliger/Otto Dibelius: Adolf von Harnack in memoriam, Berlin 1951; Wilhelm Schneemelcher: Das Problem der Dogmengeschichte. Zum 100. Geburtstag Adolf von Harnacks, in: ZThK 48 (1951), 63–89. 19 Der folgende Überblick beschränkt sich auf die wichtigsten Erscheinungen. Die Literatur bis 1985 nennt Kurt Nowak: Bürgerliche Bildungsreligion? Zur Stellung Adolf von Harnacks in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte der Moderne, in: ZKG 99 (1988), 326–353, 327f.; vgl. zur gegenwärtigen Forschungslage die Überblicke und Rezensionen von Michael Basse: Neuere Literatur zu Adolf von Harnack, in: VuF 45 (2000), 60–80; Wolfram Kinzig: Harnack heute. Neuere Forschungen zu seiner Biographie und dem „Wesen des Christentums“, in: ThLZ 126 (2001), 474–500; Manfred Weitlauff: Adolf von Harnack, Theodor Mommsen, Martin Rade. Zu drei gewichtigen Neuerscheinungen, in: ZKG 111 (2000), 210–246. Aus der Vielzahl an Lebensabrissen und Überblicksdarstellungen, die auf der Biographie von Zahn-Harnack beruhen, seien nur genannt: Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Art. Adolf von Harnack, in: TRE 14 (1985), 450–458; Lothar Burchardt: Adolf von Harnack, in: Wolfgang Treue/ Karlfried Gründer (Hg.): Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987, 215–233; Wolf-Dieter Hauschild: Adolf (von) Harnack, in: ders. (Hg.): Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, 275–300. 20 G. Wayne Glick: The Reality of Christianity. A Study of Adolf Harnack as Historian und Theologian, New York/Evanston/London 1967; William Pauck: Harnack and Troeltsch. Two Historical Theologians, New York 1968.
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wird man gleichfalls den Umstand betrachten können, daß zwei der ersten größeren deutschsprachigen Monographien von dem katholischen Theologen Karl-Heinz Neufeld verfaßt wurden21, wenngleich dessen Versuch, Harnacks Theologie ausgerechnet über den Kirchen- und Traditionsbegriff zu rekonstruieren, aus katholischer Perspektive zwar nicht überrascht, dennoch aber kaum zu überzeugen vermag. Eine Pionierstudie stellte Carl-Jürgen Kaltenborns Arbeit über Harnacks Einfluß auf Dietrich Bonhoeffer von 1973 schon deshalb dar, weil hier erstmals in einer veröffentlichten Arbeit größere Teile des umfangreichen Nachlasses eingesehen wurden.22 In den Folgejahren erschienen mehrere Detailstudien zu Einzelfragen der dogmengeschichtlichen Arbeit Harnacks.23 Den bis dahin wohl wichtigsten Forschungsbeitrag stellte Kurt Nowaks 1988 erschienener Versuch einer vorläufigen Einordnung Harnacks in die Frömmigkeitsgeschichte der Moderne dar.24 Nowak ist denn auch in den Folgejahren mit seiner ausführlichen Einleitung zur Reprint-Ausgabe der Aufsätze Harnacks von 199625 sowie als Mitinitiator der interdisziplinären Harnack-Kongresse von 1998 und 2001 hervorgetreten und so zum entscheidenden Anreger der neueren Harnack-Forschung geworden. Interdisziplinarität dürfte angesichts der leicht zu unterschätzenden Vielschichtigkeit von Harnacks Werk von entscheidender forschungsstrategischer Bedeutung sein, lassen sich hier doch wissenschafts-, kultur- und theologiegeschichtliche Aspekte fruchtbar miteinander verbinden. Anders als in der Theologiegeschichte ist Harnack in der Wissenschaftsgeschichte zumindest in seiner Eigenschaft als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft relativ gut erforscht26, während seine Stellung in den ge21 Karl-Heinz Neufeld: Adolf von Harnack. Theologie als Suche nach der Kirche, Paderborn 1977; ders.: Adolf von Harnacks Konflikt mit der Kirche. Weg-Stationen zum „Wesen des Christentums“, Innsbruck/Wien/München 1979. 22 Carl-Jürgen Kaltenborn: Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers, Berlin (Ost) 1973. 23 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Eginhard Peter Meijering: Theologische Urteile über die Dogmengeschichte. Ritschls Einfluß auf Harnack, Leiden 1978; ders.: Der „ganze“ und der „wahre“ Luther. Hintergrund und Bedeutung der Lutherinterpretation Adolf von Harnacks, Amsterdam/Oxford/New York 1983; ders.: Die Hellenisierung des Christentums im Urteil Adolf von Harnacks, Amsterdam/Oxford/New York 1985. 24 Nowak: Bildungsreligion (Anm. 19). 25 Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996, 1–99. 26 Vgl. Lothar Burchardt: Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Aufbau und Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen 1975; Günter Wendel: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911–1914. Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft, Berlin 1975; Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990.
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schichtsmethodischen Auseinandersetzungen um 1900 wie in der Auseinandersetzung mit dem Historismus noch weithin unbeleuchtet geblieben ist.27 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive stellt insbesondere Stefan Rebenichs vergleichende Studie zu Harnack und Mommsen mit ihrem Schwerpunkt auf deren Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften einen wichtigen Forschungsbeitrag dar.28 Daneben stehen Arbeiten über Harnacks Wesensschrift vom 190029 sowie zu seinem Verständnis der Entstehung des Christentums.30 Zu nennen sind ferner verschiedene Briefund Texteditionen aus dem Nachlaß, darunter der von Johanna Jantsch herausgegebene Briefwechsel mit Rade.31 Harnacks 150. Geburtstag im Mai 2001 brachte noch einmal verstärkte Bemühungen um sein Werk mit sich. Neben einer Tagung im Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, die das von Kurt Nowak und Otto Gerhard Oexle organisierte Ringberger Harnack-Symposium von 1998 fortsetzte32, wurden eine Edition der Dienstprotokolle aus seiner Zeit als Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek33 sowie eine vergleichende Studie über das Verständnis der dogmengeschichtlichen Konzeptionen Harnacks und Reinhold Seebergs vorgelegt.34
27 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Geschichtsreligion. Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in: HZ 252 (1991), 1–32; Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996. 28 Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin/New York 1997 (künftig: BwM). 29 Thomas Hübner: Adolf von Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfrage als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1990. 30 Johanna Jantsch: Die Entstehung des Christentums bei Adolf von Harnack und Eduard Meyer, Bonn 1990. 31 Johanna Jantsch (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin/New York 1996 (künftig: BwR); Uwe Rieske-Braun (Hg.): Moderne Theologie. Der Briefwechsel Adolf von Harnack – Christoph Ernst Luthardt, Neukirchen-Vluyn 1996; Christian Nottmeier: Adolf von Harnacks Briefe und Karten an Else Zurhellen-Pfleiderer, in: ZNThG/ JHMTh 8 (2001), 96–145 (künftig: BwZP). 32 Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001. 33 Friedhilde Krause (Hg.): „Auswählen, Verwalten, Dienen …“. Dienstprotokolle aus der Amtszeit Adolf von Harnacks an der Königlichen Bibliothek/Preußischen Staatsbibliothek 1905 bis 1921, Berlin 2001. 34 Michael Basse: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, Göttingen 2001.
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Die verstärkte Hinwendung zum Werk Harnacks ist auch die Folge einer verstärkten Beschäftigung mit dem „Kulturprotestantismus“, die seit etwa 1980 im Umfeld der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft einsetzte. Inzwischen liegen mehrere wichtige Arbeiten zum Kulturprotestantismus vor.35 Von Thomas Nipperdey mit viel Sympathie behandelt36, hat ihn 1995 auch HansUlrich Wehler von „der Position eines nichtgläubigen Sympathisanten der evangelischen Lebenswelt“ aus gewürdigt. Nach Wehler lag das Verdienst des Kulturprotestantismus im „Brückenschlag zwischen einem weltoffenen, unorthodoxen Christentum und der modernen Kultur und Politik. […] von seinem Erbe, nicht von der erstarrten Tradition der Orthodoxie hat der deutsche Protestantismus im 20. Jahrhundert gezehrt.“37 An Harnack wird also zweifellos gearbeitet, wenngleich mit Blick auf die theologische Harnackrezeption festzustellen ist, daß eine auch unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten zufriedenstellende Interpretation seines Werkes bislang aussteht.38 Insofern steht die Harnack-Forschung noch immer am Anfang. Dieser Umstand ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß der umfangreiche Nachlaß, der in der Berliner Staatsbibliothek verwahrt wird, erst teilweise ausgewertet worden ist. Er enthält nicht nur umfangreiche Korrespondenzen, sondern auch Unterlagen zu allen wesentlichen Tätigkeitsbereichen Harnacks, ferner die zum Teil ausgearbeiteten Vorlesungen bis zurück in die Leipziger Zeit sowie mehr als 100 unveröffentlichte Manuskripte und Konzepte für Vorträge und Predigten. Harnacks Nachlaß stellt mithin eine fast unerschöpfliche Fundgrube für verschiedenste Forschungsinteressen dar. Damit ist bereits gesagt, daß eine umfassende Biographie Harnacks die Möglichkeiten einer einzelnen Arbeit übersteigt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf Harnacks politische Biographie. Sie zeichnen vor allem seine gelehrtenpolitischen Stellungnahmen seit etwa 1890 nach. Dazu gehört in ganz erheblichem Maß seine Mitarbeit im Evangelisch-sozialen Kongreß. Aber auch auf wissenschaftspolitische Zusammen35 Vgl. neben den seit 1982 erscheinenden „Ernst-Troeltsch-Studien“ Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreiches, in: ders. (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Band 2/1: Kaiserreich, Gütersloh 1992, 12–117; Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992; Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994; Friedrich Wilhelm Graf/Hans Martin Müller (Hg.): Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996. 36 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 470–473 u. ö. 37 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: 1848–1914, München 1995, 1175. 38 Vgl. aber inzwischen die Skizze von Claus-Dieter Osthövener: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296–331.
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hänge wird aus drei Gründen einzugehen sein: So waren erstens Harnacks wissenschaftspolitische Einflußkanäle weithin dieselben, die er auch in sozial- und allgemeinpolitischen Fragen zu nutzen pflegte; zweitens bildeten sich die entscheidenden Handlungsmuster Harnacks in seinem Zusammenspiel mit dem preußischen Kultusministerium heraus; drittens schließlich führten ihn – wie wir sehen werden – die insgesamt positiven Erfahrungen auf dem Feld der Wissenschafts- und Bildungspolitik zu einer Überschätzung der Reformfähigkeit des wilhelminischen Staates. Eine ähnliche Erweiterung des Blickes gilt für das Feld des religiösen und theologischen Wirkens Harnacks. Auch dieses wird nicht allein insofern beachtet werden müssen, als sich hier bestimmte Handlungsmuster herausschälten. Es bildet vielmehr den Hintergrund für seine wissenschaftsorganisatorische wie auch seine politische Tätigkeit, da hier zentrale weltanschauliche Ideale Harnacks grundgelegt waren: die unverletzliche Würde der Persönlichkeit und ihrer Freiheit, die Pflicht zum Eintreten für sozialen Ausgleich und die Universalität des Humanitätsgedankens. Harnack wußte durchaus darum, daß die Religion nicht in der Kultur aufzugehen vermag.39 Die Kultur stellte mithin nicht das Integral der Religion dar, wohl aber sollte die Religion im Sinne eines weiten und elastisch gemachten Protestantismus das Integral der Kultur darstellen. Eine politische Biographie, die zugleich die kulturtheologischen Implikationen und die Harnacks politische Wahrnehmung entscheidend mit bestimmenden wissenschaftsorganisatorischen Erfahrungen in den Blick nimmt, ist gerade in der Verbindung von wissenschafts- und theologiegeschichtlicher Fragestellung, aber auch hinsichtlich der Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland zwischen 1890 und 1930 ein überaus loh39 Dieser wichtige Aspekt wird in der theologischen Harnack-Forschung meist übersehen, obgleich Harnack an prominenter Stelle, nämlich im Kapitel über „das Evangelium und die Kultur“ seiner Vorlesungen über das Wesen des Christentums von 1899/1900, ausdrücklich seine theologischen Vorbehalte gegenüber einem überstrapazierten Kulturideal formuliert hat (WdC 135–140). Harnack argumentiert dabei sowohl religionsgeschichtlich als auch anthropologisch. Religionsgeschichtlich verweist er auf den Umstand, daß jede Synthese von Christentum und Kultur einer bestimmten Epoche das Christentum auf einen bestimmten Kulturzustand „fest[ ]nagelt“ (WdC 137) und somit bereits für die Folgeperioden nicht mehr vermittelbar ist. Das anthropologische Argument fußt auf der Einsicht, daß sich der allgemeine Kulturfortschritt ebenso wie die individuelle Arbeit als ambivalent und bezüglich der existentiellen Grundfragen menschlichen Lebens als insuffizient erweisen. Ihre Fragmentiertheit sowie der ihnen anhaftende mechanisch-naturhafte Charakter stellen die Arbeit wie die Kulturwelt letztlich als indifferent gegenüber dem Zentrum des Personseins dar: „Aber das höchste Ideal liegt nicht in ihnen beschlossen; sie vermögen die Seele nicht mit wirklicher Befriedigung zu erfüllen. […] Der tiefer fühlende Mensch […] weiß auch, daß seine innere Situation – die Fragen, die ihn bewegen, und die Grundverhältnisse, in denen er steht – nicht wesentlich, ja kaum unwesentlich, durch das alles geändert wird. […] Man muß sich heimisch machen in dem Reiche Gottes, in dem Reiche des Ewigen und der Liebe, und man versteht es, daß Jesus Christus nur von diesem Reiche zeugen und sprechen wollte, und dankt es ihm“ (WdC 137f.).
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nendes Vorhaben. Neben den knappen Ausführungen der Biographie hat Harnacks politisches Engagement im Umfeld des Weltkriegs Beachtung gewonnen. Zu nennen sind v. a. die Ostberliner Dissertation von Erhard Pachaly sowie die Darstellung Wolfgang Hubers40 – eine Gesamtdarstellung freilich fehlt. Allerdings bedarf eine so angelegte Darstellung des spannungsreichen Verhältnisses Adolf Harnacks zur deutschen Politik noch einiger kurzer Vorüberlegungen. Das gilt für die methodische Frage biographischen Arbeitens, für das Verhältnis von Hochschullehrerschaft und „Bildungsbürgertum“, für milieutheoretische Überlegungen sowie mit Blick auf die Chancen einer religions- und theologiehistorischen Erweiterung der sozial- und kulturgeschichtlichen Methodik. Vorangeschickt sei noch eine kurze Erläuterung des Titels der Arbeit, der an Wolfgang Mommsens glänzende Studie zu Max Weber erinnert.41 Die Titelwahl ist keineswegs Ausdruck der Selbstüberschätzung eines jungen Doktoranden. Harnack war nicht Politiker, und er war auch nicht – wie Weber – ein Meister der soziologischen politischen Analyse. Schon unter diesem Gesichtspunkt wird eine Darstellung Harnacks einen anderen Charakter haben müssen. Gleichwohl reizt der – hier nicht auszuführende – Vergleich Harnack und Weber. Beide unterschieden sich weniger in der theoretischen Grundlegung ihres Wissenschaftsverständnisses als vielmehr in den damit verbunden ethischen Urteilskategorien und politischen Lageanalysen. Dies wurde besonders deutlich in der Einschätzung der Leistungsfähigkeit zumindest des lutherischen Protestantismus für die Gegenwart. Harnack schätzte Webers „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 190642, hielt aber in den für ihn ansonsten mustergültigen Arbei40 Erhard Pachaly: Adolf von Harnack als Politiker und Wissenschaftsorganisator des deutschen Imperialismus in der Zeit von 1914 bis 1920, Diss. Berlin (Ost)1964; auf Pachaly fußt weitgehend Karl Hammer: Adolf von Harnack und der Erste Weltkrieg, ZEE 16 (1972), 85–101. Dieser Aufsatz, der nach Auskunft des Verfassers „als Korrektiv gegen eine auch heute wieder aus der Woge existentialistischer Wissenschaftsvergötzung resultierende Harnack-Renaissance“ (86) dienen soll, bleibt wegen der einseitigen Orientierung an dem Urteil Barths und etlicher Ungenauigkeiten und Irrtümer unbefriedigend. Positiv hebt sich davon die Würdigung der Stellungnahmen Harnacks von 1914 bei Wolfgang Huber: Evangelische Theologie und Kirche beim Ausbruch des ersten Weltkrieges, in: ders. (Hg.): Kirche zwischen Krieg und Frieden. Historische Beiträge zur Friedensforschung, Stuttgart/München 1970, 134–215, v.a. 169–174, ab, während sich Douglas F. Tobler: Scholar Between Worlds: Adolf von Harnack and the Weimar Republic, in: ZRGG 28 (1976), 191–222, als Überblick über das theologische und politische Gesamtwerk erweist, ohne – wie auch Huber und Hammer – auf Nachlaßmaterial zurückzugreifen. 41 Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974. 42 Eine Untersuchung zu Weber und Harnack ist ein dringendes Desiderat. Dazu wäre insbesondere auf die implizite Historik Harnacks einzugehen (dazu jetzt Osthöve-
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ten Webers die Bedeutung des asketischen Protestantismus für überschätzt, wie er diesem brieflich mitteilte. Weber kritisierte daraufhin in einem Antwortbrief an Harnack im Februar 1906 die gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des Luthertums, zielte damit aber letztlich auch auf Harnacks Umformungsversuche: „Ich habe das Gefühl, in mancher Hinsicht abweichende Werthurteile zu Grunde zu legen. So turmhoch Luther über allen anderen steht – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen, der schrecklichste aller Schrecken, und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht sicher bin, wieviel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte.“43 Wegen ihrer herausgehobenen Funktion als Produzenten kultureller sowie politischer Sinndeutungen und Orientierungsmuster sind Gelehrtenbiographien spätestens im Zuge der erneuten Hinwendung der Geschichtswissenschaften zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen44 zu einer neu belebten Gattung wissenschaftlicher Arbeit geworden. Genannt seien nur die neueren, methodisch innovativen Arbeiten über die Historiker Karl Lamprecht von Roger Chickering45, Friedrich Meinecke von Stefan Meineke46 ner: Harnack [Anm. 38], 297–304), die sich aus seinen Werken durchaus rekonstruieren ließe. Dabei dürften erstaunliche Parallelen zu Webers Begriff des Idealtyps zum Vorschein kommen. Die mir bekannten drei namentlichen Bezugnahmen auf Weber in den Veröffentlichungen Harnacks nehmen durchweg positiv Bezug auf dessen religionssoziologische Studien zur Genese des modernen Kapitalismus. Webers Darstellung habe eine „Fülle von Licht über die Wirtschaftsgeschichte ausgegossen und ein bisher totes Kapital belebt“ (Andrew Carnegie, in: IW 1 [1907], 71–78, 75). Webers Studien seien ein „glänzendes Muster“ dafür, wie man die „sublime Frage der Einwirkung religiöser und sittlicher Bewußtseins-Inhalte in ihrer Tiefe und Breite aufzufassen hat“ (MAC4 958, Anm. 1). Weber habe ebenso wie Werner Sombart gezeigt, „in welchem Umfange die rein ökonomische Betrachtung durch die Anerkennung der Bedeutung der idealen Mächte als Faktoren der Bewegung bereits eingeschränkt wird. Universaler können große geschichtliche Probleme nicht behandelt werden, als der Ursprung des modernen Kapitalismus in der Beleuchtung, die ihm Weber gegeben hat“ (RÜI 27). 43 Weber an Harnack am 5.2.1906, in: M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Max-Weber-Gesamtausgabe. Band II/5: Briefe 1906–1908, Tübingen 1990, 32f.; zu den theologischen Werturteilen, die sich mit dieser Debatte zwischen Harnack und Weber verbinden, vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“, in: Volkhard Krech/Hartmann Tyrell (Hg.): Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, 209–248. 44 Vgl. nur Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996; Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997. 45 Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915), Atlantic Highlands 1993. 46 Stefan Meineke: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995.
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und Georg von Below von Hans Cymorek47 sowie über den Nationalökonomen Werner Sombart von Friedrich Lenger.48 Daß auch Biographien von Naturwissenschaftlern wertvolle Einblicke nicht nur in die Mentalitätsgeschichte deutscher Universitätslehrer, sondern ebenso in die engen Verflechtungen von Wissenschaft und Politik zwischen 1890 und 1933 zu bieten vermögen, ist durch Margit Szöllösi-Janzes Studie über Fritz Haber eindrucksvoll belegt worden.49 Diese Arbeiten zeigen, daß biographische Studien nicht nur für die Erhellung eines einzelnen Lebenslaufes von Bedeutung sind, sondern sie dokumentieren – besonders bei Lengers Ausführungen über Sombarts Lebensführung – die Chancen der Verbindung von kultur-, sozial- und politikgeschichtlichen Fragestellungen am auch exemplarisch zu untersuchenden Einzelindividuum.50 Damit sind die methodologischen Probleme des biographischen Genres freilich noch keineswegs in den Blick genommen. So wäre beispielsweise die Gewichtung von narrativen und analytischen Elementen, die Verhältnisbestimmung von Individualität und Struktur und die implizit jedenfalls immer mitschwingende geschichtsphilosophische Frage nach individueller Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit im Verlauf der Geschichte näher zu beleuchten. Ernst zu nehmen bleibt auch Pierre Bourdieus Warnung vor der „biographischen Illusion.“51 Demnach verschleiere der Biograph nicht nur Identitätsverfall und historisch-soziologische Diskontinuität nach dem Muster des bürgerlichen Entwicklungsromans, sondern werde durch eine möglichst mit Sinn erfüllte Rekonstruktion vom kontingenten Ende eines Lebens her selbst zum Produzenten von Ideologie. Tatsächlich würde die Biographie eines 1899, 1913 oder 1934 gestorbenen Harnack ein anderes Licht und eine andere Perspektive auf sein Leben werfen als im Falle des tatsächlich 1930 gestorbenen Harnack, ähnlich wie das Lenger am Beispiel Sombarts provozierend durchgespielt hat.52 Re-
47 Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998. 48 Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994. 49 Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber (1868–1934). Eine Biographie, München 1998. 50 Zu den erkenntnisfördernden Möglichkeiten eines ausgewogenen biographischen Ansatzes, der Sozialwissenschaft, Politik und Gelehrtenkultur gleichermaßen berücksichtigt: Meineke: Meinecke (Anm. 46), 42–59; Lenger: Sombart (Anm. 48), 9–23; ders.: Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der Gelehrten 1890–1933: Von der historischen Kulturwissenschaft zur Soziologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), 150–180; Andreas Gestrich: Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: ders./Peter Knoch/Helga Merkel (Hg.): Biographie – sozialgeschichtlich, Göttingen 1988, 5–28. 51 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1 (1990), 75–81. 52 Lenger: Sombart (Anm. 48), 385–387.
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lativiert man das Übergewicht einer teleologischen Perspektive, nimmt man die Voraussetzungen und Konstruktionsbedingungen biographischer wie autobiographischer Gattungen ernst und bleibt dessen eingedenk, daß individuelle Prozesse der Ausbildung von Identität und Individualität nicht abschließbar sind53, dann ist das Wagnis einer Biographie – ganz abgesehen von dem Erkenntnisgewinn, den die genannten Werke, aber auch die soziologische Lebenslaufforschung54 sowie die Versuche einer Einholung lebensgeschichtlicher Deutungsarbeit in der Praktischen Theologie55 auf verschiedenen Ebenen gezeigt haben – durchaus gut begründbar. Die Einsicht in den fragmentarischen Charakter von Identität legt nämlich mitnichten den Verzicht auf die Rekonstruktion eines auch in den Kategorien von Individualität und Identität gedeuteten Lebenszusammenhanges, des biographischen Projekts, nahe. Eine solche Rekonstruktion muß freilich um die Voraussetzungen der eigenen Deutungsarbeit ebenso wissen wie um die des biographisch behandelten Individuums. Sie muß zudem sensibel ihre Instrumentarien der spezifischen Problematik des jeweiligen Untersuchungsgegenstands anzupassen versuchen und in diesem Sinn von der Idee einer zu vereinheitlichenden biographischen Methode Abschied nehmen. Gerade eine Biographie Harnacks wird die Annahme, daß es so etwas wie ein biographisches Projekt geben kann, ernst zu nehmen haben. Harnacks starke Gelehrtenidentität speiste sich gerade aus diesem bis in die Dorpater Zeit zurückgeführten Selbstentwurf, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der Kulturbedeutung des Christentums unter den Bedingungen der Moderne stand. Von dieser Fragestellung her verstand Harnack nicht nur sein theologisches, sondern ebenso sein wissenschaftsorganisatorisches wie sein gelehrtenpolitisches Wirken als Einheit, wenngleich immer wieder das Bewußtsein um dessen Stückhaftigkeit und Gebrochenheit durchschimmerte. Diese Einsicht läßt es geboten erscheinen, auch bei einer Darstellung, die ihr Hauptaugenmerk auf Harnacks politisches Wirken richtet, dessen Selbstdeutung insofern aufzunehmen, als sie die kulturtheologischen Implikationen seiner Wirksamkeit zu beachten hat. Schon aus diesem Grund ist eine Beschäftigung mit Harnacks Theologie auch für dessen politische Biographie unerläßlich.
53 Henning Luther: Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–182. 54 Vgl. etwa Wolfgang Voges (Hg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987. 55 Vgl. Walter Sparn (Hg.): Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990; Wilhelm Gräb: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 22000.
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Analytische Schärfe gewinnt die Biographie freilich erst durch ihre Einbettung in zeithistorischen Kontext, wissenschaftliche Debattenlage, sozialgeschichtliche Milieukonstellationen und kulturelle Deutungsentwürfe. Kontextualisierung und historisch-genetische Darstellung sind dafür die geeigneten darstellerischen Instrumentarien, die die jeweiligen Hintergründe und Handlungsmotivationen offen zu legen vermögen. Auch hierfür liegen – neben den allgemeinen politischen und kulturellen Entwicklungen der Jahre 1890 bis 1930 – wichtige übergreifende Darstellungen vor. Das gilt zunächst für die soziale Gruppe der Hochschullehrer und ihr Verhältnis zur Politik. Weitgehend dem bildungsbürgerlichen Milieu entstammend, stellten die Professoren die zentrale Deutungselite einer an den Kategorien von formalisierter Bildung und gesamtgesellschaftlicher Leistungsfähigkeit orientierten Schicht dar.56 Politisches Selbstverständnis und Wertorientierungen der Gelehrtenwelt sind in der geradezu klassischen Studie von Fritz K. Ringer untersucht worden57, der schon für die 1890er Jahre eine Spaltung zwischen „Orthodoxen“ und „Modernisten“ konstatiert, die dann nach 1914 offen zu Tage trete. Doch blieb diese Einteilung als durchgängiges Unterscheidungsraster für die Zeit ab 1890 nicht unumstritten, zumal die von Ringer angeführten Hauptvertreter der beiden Lager nicht ohne weiteres als repräsentativ angesehen werden können. Schwierig bleibt mit Ringers Bezugssystem etwa die Einordnung eines Gelehrten wie Hans Delbrück, der hinsichtlich seiner Parlamentarismuskritik eher als orthodox bezeichnet werden kann, in der Kriegszieldiskussion aber früher als etwa der „moderne“ Friedrich Meinecke eine gemäßigte Position bezog. Gleichwohl kommt der Unterteilung Ringers für die Erklärung der unterschiedlichen Entwicklungslinien des politischen Engagements deutscher Hochschullehrer im letzten Jahrzehnt vor dem Krieg große Bedeutung zu.58 Detaillierten Aufschluß über politisch-mentale Differenzierungen während des Krieges und der Weimarer Republik bieten die quellennahen Studien von Klaus Schwabe59 56 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch: Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich. Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur, in: Jürgen Kocka (Hg.): Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 4, Stuttgart 1989, 119–145; vgl. ferner Ulrich Engelhardt: „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986; Reinhart Koseleck (Hg.): Bildungsgüter und Bildungswesen. Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 2, Stuttgart 1990; M. Rainer Lepsius: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hg.): Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 3, Stuttgart 1992, 8–18. 57 Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, Stuttgart 1983 (stark gekürzte Übersetzung der engl. Ausgabe von 1969), 120–133. 58 Vgl. zur Kritik an Ringer Kenneth D. Barkin: Fritz K. Ringer’s The Decline of the Mandarins, in: Journal of Modern History 43 (1971), 276–286. 59 Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969.
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und Herbert Döring.60 Für das politische Selbstverständnis sowie die spezifische Art des politischen Agierens der Hochschullehrer ist die Arbeit Rüdiger vom Bruchs grundlegend61, die – einen 1922 von Friedrich Meinecke geprägten Begriff aufnehmend – Funktionsweise und Einflußkanäle von Gelehrtenpolitik, gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial, nachzuzeichnen vermag. Der von vom Bruch rekonstruierte Typus des gouvernementalen Gelehrtenpolitikers, der auf Konfliktregulierung, Politikberatung und Artikulation einer gebildeten öffentlichen Meinung in engem Zusammenspiel mit dem reformorientierten Teil der staatlichen Funktionseliten setzt, bildet einen zentralen analytischen Schlüssel für das Verständnis des Wirkens Harnacks. Unverkennbar galt Harnacks Engagement nicht zuletzt der Etablierung einer protestantisch imprägnierten Deutung seiner Gegenwartskultur. Nimmt man die von Dieter Langewiesche, Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger weitergeführten Überlegungen von M. Rainer Lepsius zu vier die Gesellschaft des Kaiserreichs charakterisierenden sozialmoralischen Milieus auf62 – katholisches, sozialdemokratisches, protestantisch-konservatives und protestantisch bürgerlich-liberales Milieu –, dann zählte Harnack ohne Zweifel zu den wichtigsten Repräsentanten des liberalprotestantisch bürgerlichen Sozialmilieus, insofern es ihm gelang, „die Rolle des bildungsbürgerlichen Mentors, liberal-streitbar, aber über den Parteien stehend, in der Öffentlichkeit wirkungsvoll zu verkörpern.“ 63 Harnacks Geschichtsschreibung trug markante Züge einer „whig interpretation of history“ als einer auf die eigene Sozialgruppe zulaufenden Geschichtsdeutung, in der bürgerliche Emanzipation, individuelle Freiheit und nationale Identitätsfindung nicht nur zusammenfielen64, sondern aus dem breiten Fundus eines sich auf Reformation und Aufklärung gleichermaßen beziehenden liberalen Protestantismus abgeleitet und als Kulturwerte von bleibender Bedeutung für die eigene Gegenwart abgesichert wurden. Angesichts der sub60 Herbert Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975. 61 Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980; vgl. mit Blick auf Heidelberg die Studie von Christian Jansen: Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Professoren 1914–1935, Göttingen 1992. 62 M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur, in: ders.: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, 25–50; darauf aufbauend die These von der „kulturellen Versäulung“ der Gesellschaft des Kaiserreiches bei Hübinger: Kulturprotestantismus (Anm. 35), 303–313; vgl. ferner Graf: Theologie (Anm. 35), sowie Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988; vgl. zur Kritik an Hübingers Modell FrankMichael Kuhlemann: Das protestantische Milieu auf dem Prüfstand, in: ZNThG/ JHMTh 3 (1996), 303–312. 63 Hübinger: Kulturprotestantismus (Anm. 35), 173. 64 Vgl. aaO., 173–176.
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kulturellen Labilität des liberalprotestantisch bürgerlichen Sozialmilieus spielte der Bezug auf gemeinsame Kultur- und Bildungswerte für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt dieses Milieus eine herausgehobene Rolle. Nicht nur als symbolischen Repräsentanten der Nähe von liberalem Christentum und bürgerlicher Lebensführung, sondern als Produzenten gesellschaftlich-kultureller Selbstvergewisserung des bürgerlich-liberalen Sozialmilieus kam damit herausragenden Gelehrten wie Harnack eine zentrale Funktion zu. Kulturprotestantismus im weiten Sinn65 stellte eine wichtige weltanschauliche Klammer des liberalen Milieus dar, wobei die verschiedenen Spielarten wiederum Binnendifferenzierungen offenbarten. Als spezifisch bildungsbürgerlicher Bewegung ging es Teilen des Kulturprotestantismus, vertreten durch die „Freunde der Christlichen Welt“, den „Evangelisch-sozialen Kongreß“ und den „Deutschen Protestantenverein“ um die Etablierung dezidiert bürgerlicher „counter-institutions“ in Staat, Kirche und Gesellschaft gegenüber sozialkonservativen und autoritär-patriarchalischen Ordnungsmodellen66, wie sie die verschiedenen Strömungen des orthodoxkonservativen Protestantismus und seiner „positiven“ Theologien repräsentierten. Von hier aus erklärt sich auch die personelle Vernetzung von Kulturprotestantismus und politischem Liberalismus, für die Friedrich Naumann das bekannteste Beispiel darstellt, ebenso wie die relative Aufgeschlossenheit führender Vertreter dieses Milieus gegenüber Sozialdemokratie und Katholizismus, die es in ihren Augen freilich idealistisch zu vertiefen bzw. durch Kontakt mit der modernen Kultur freiheitlicher zu gestalten galt. Milieutheoretische Überlegungen sowie die Einsicht, daß Religion als Lebensmacht auch im 19. und 20. Jahrhundert eine entscheidende Funktion zukommt67, die mit einlinigen Säkularisierungsmodellen nicht erklärbar ist, haben in den letzten Jahren zu einer wachsenden Zahl von Publikationen zur Bedeutung von Religion und Konfession geführt. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert wurde gar von einem „zweiten konfessionellen Zeitalter“
65 Vgl. dazu ausführlich Friedrich Wilhelm Graf: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Müller: Kulturprotestantismus (Anm. 35), 21–77; zur Geschichte des Protestantismusbegriffs Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie, Tübingen 2000, 18–37; zum Begriff der „liberalen Theologie“ Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, Berlin/New York 1999, 29–72. 66 Hugh McLeod: Protestantism and Working Class in Imperial Germany, in: European Studies Review 12 (1985), 323–344, 335. 67 Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996.
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gesprochen.68 Die Gleichzeitigkeit von Entkirchlichung und Renaissancen des Religiösen hat etwa Hugh McLeod in einer vergleichenden Studie zu England, Frankreich und Deutschland herausgearbeitet und dabei auch auf die Bedeutung des Religiösen für die jeweiligen nationalen Selbstentwürfe verwiesen.69 Religiöse Milieubildungsprozesse in Nordwestdeutschland70 wurden ebenso analysiert wie die Bedeutung des Herz-Jesu-Kults für das Verhältnis von Katholizismus und Moderne71, freireligiöse Bewegungen72 oder nationalprotestantische Organisationen wie der Evangelische Bund.73 Inwiefern dabei gerade die kritische Bearbeitung der dogmatischen Traditionen des Christentums durch die akademische Theologie mit ihren breiten Popularisierungsbemühungen um 1900 entscheidende Beiträge zur lebensweltlichen Umformung des Christlichen unter den Bedingungen der Moderne geleistet und damit auch der weltanschaulichen Konstruktion der verschiedenen sozialmoralischen Milieus zugearbeitet hat, ist in diesen Arbeiten allerdings kaum bestimmt worden. Auch bleibt, wie Friedrich Wilhelm Graf zu Recht bemerkt hat, der analytische Begriff der Religion meist zu vage oder zu sehr auf die kirchlichen Institutionen beschränkt, ohne die besonderen ordnungsstrukturierenden Prägungen religiöser Deutungssysteme für die Weltanschauung und Lebenspraxis deutlich werden zu lassen.74 Auseinandersetzungen um die Deutung der Person Jesu, die Autorität der biblischen Schriften oder die Bekenntnisverpflichtung von Pastoren wie sie in den innerprotestantischen Kulturkämpfen um 1900 ausgefochten wurden, lassen sich wegen ihrer breiten öffentlichen Resonanz bis hin zu den Eingriffen des Kaisers auch als Diskurse über Entwicklungen kulturell-gesellschaftlicher Modernisierung und Verformungen der politischen Kultur insgesamt lesen. Harnack ist wiederholt als Initiator und Protagonist entsprechender Debatten aufgetreten. Darüber hinaus hat er als Gelehrtenpolitiker in Wissenschaft, Publizistik und Politik nicht zuletzt jene protestantisch geprägten Kulturwerte von Bildung, unverletzlicher Würde der Persönlichkeit und 68 Olaf Blaschke: Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: GG 26 (2000), 38–75. 69 Hugh McLeod: Secularisation in Western Europe 1848–1914, New York 2000. 70 Dietmar von Reeken: Kirchen im Umbruch zur Moderne. Milieubildungsprozesse im nordwestdeutschen Protestantismus, Gütersloh 1999. 71 Norbert Busch: Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Gütersloh 1997. 72 Frank Simon-Ritz: Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland, Gütersloh 1997. 73 Armin Müller-Dreier: Konfession und Politik, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1886–1914, Gütersloh 1998. 74 Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation – von Gott „erfunden“? Kritische Notizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: Gert Krumeich/
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menschlichem Fortschritt als Leitideale der Nation zu etablieren versucht. Harnacks „Bürgerreligion“ korrespondierte das Bestreben eines behutsamen Auf- und Ausbaus einer diese Werte umfassend verwirklichenden bürgerlichen Gesellschaft, für den er nicht zuletzt auf die Integrationskräfte liberalprotestantischer Geschichts- und Weltsicht setzte. Aus dieser Einsicht ergibt sich die methodische Folgerung, daß Harnacks politisches Engagement ebensowenig wie das wissenschaftsorganisatorische von dessen theologisch-religiösen Prämissen isoliert werden kann. Dieser Einsicht wird im Aufriß der Arbeit dadurch Rechnung getragen, daß zunächst zwei ausführlichere Kapitel Harnacks Jugend- und Studienzeit in Dorpat sowie seinen Jahren in Leipzig, Gießen und Marburg gewidmet werden. Harnack hat sich in dieser Zeit im Wesentlichen auf seine wissenschaftliche Arbeit beschränkt, die gleichwohl für die gelehrtenpolitischen Aktivitäten der Berliner Jahre nach 1888 von großer Bedeutung ist. Denn in dieser Zeit erfolgte die Ausprägung und Formulierung von Harnacks Kulturtheologie. Stefan Meineke hat auf die große Bedeutung der ersten 30 Lebensjahre mit Rückgriff auf die in der modernen Entwicklungspsychologie entwickelte Prägungshypothese hingewiesen, derzufolge sich mit etwa 30 Jahren wichtige weltanschauliche Orientierungen einer Person dauerhaft etabliert haben.75 Für die Biographie eines Gelehrten, dessen wesentliche Beschäftigung gerade in wissenschaftlicher und weltanschaulicher Reflexionsarbeit besteht, kommt dieser These eine besondere Bedeutung zu. Meineke hat die Vorzüge dieses Verfahrens in seiner Rekonstruktion des jungen Meinecke eindrucksvoll unter Beweis stellen können. Für Harnack bietet sich ein ähnliches Vorgehen an. Wesentliche theologische und kulturelle Grundentscheidungen schälen sich in den 1870er Jahren heraus und verfestigen sich um 1880. Mit der 1885 abgeschlossenen, aber schon seit 1878 konzeptionierten „Dogmengeschichte“ findet dieser Prozeß einen ersten Abschluß. Deshalb wird neben den kulturellen und politischen Prägungen der Dorpater Zeit besonders Harnacks Jahren in Leipzig zwischen 1872 und 1879 breiterer Raum eingeräumt. Methodisch hätte sich freilich auch eine skizzenhafte analytische Darstellung der Gesamttheologie Harnacks entlang bestimmter Zentralbegriffe angeboten wie z. B. dem evolutionstheoretischen Geschichtsbegriff, dem geisttheoretischen Kulturbegriff oder der subjektivitätstheoretischen Begründung des Religionsbegriffs. Doch hätten, ganz abgesehen von dem diesbezüglich noch unzureichenden Forschungsstand, dazu zahlreiche spätere Texte herangezogen werden müssen, während Hartmut Lehmann (Hg.): „Gott mit uns.“ Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 285–317, v.a. 296–301. 75 Meineke: Meinecke (Anm. 46), 42–59; vgl. auch Christhard Hoffmann: Die Selbsterziehung des Historikers. Zur intellektuellen Entwicklung des jungen Eduard Meyer (1855–1879), in: William M. Calder III/Alexander Demandt (Hg.): Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden/New York 1990, 208–254.
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das historisch-genetische Verfahren den Vorzug hat, die Ausbildung wichtiger theologisch-kultureller Grundlagen präziser nachzuzeichnen. Es zeigt zudem eine erstaunliche Kontinuität der Grundintention von Harnacks Denken auf. Nach diesen beiden einleitenden Kapiteln wird im dritten Kapitel Harnacks gelehrtenpolitisches Engagement bis um 1900 behandelt. Die Jahrhundertwende bildet sowohl biographisch als auch bezüglich der Geschichte der Gelehrtenpolitik einen wichtigen Einschnitt. Zunächst wird an Hand der kirchenpolitischen Debatten der Ausprägung wichtiger konfliktstrategischer Handlungsmuster Harnacks nachgegangen, anschließend sind grundlegende Begriffsklärungen zu dem für die Darstellung zentralen Begriff der Gelehrtenpolitik vonnöten. Sodann wird Harnacks Einbindung in die Berliner Kreise um Theodor Mommsen und Hans Delbrück sowie in das „System Althoff “ nachgezeichnet, um schließlich zu einer Einschätzung der Position Harnacks im Zusammenhang der politischen Stellungnahmen von Professoren zwischen dem sozialpolitischen Aufbruch von 1890 und den Flottenkampagnen von 1897 bis 1900 zu gelangen. Eingehend wird dann Harnacks sozialpolitisches Engagement sowie seine Auseinandersetzung mit Adolf Stoecker im Evangelisch-sozialen Kongreß bis 1902, dem Jahr der Wahl Harnacks zum Kongreßpräsidenten, behandelt. Das vierte Kapitel widmet sich zunächst der Bedeutung von Harnacks Kontakten zu Wilhelm II., über die er seit 1900 verfügte. Daran anschließend wird Harnacks enge Bekanntschaft mit dem Reichskanzler Bernhard von Bülow sowie sein Verhältnis zu dessen Politik und der seines Nachfolgers Bethmann Hollweg bis 1914 dargestellt. Hier bildeten das Verhältnis zum Katholizismus sowie die Sozialpolitik besondere Schwerpunkte, denen ausführlicher nachgegangen wird. Nach einer resümierenden Klärung von Harnacks Positionierung im Umfeld Friedrich Naumanns erfolgt ein Überblick zu Harnacks Beurteilung außenpolitischer Fragen, wobei das deutsch-englische Verhältnis im Mittelpunkt steht. Kapitel fünf widmet sich dem Ersten Weltkrieg, dessen Erfahrungen für Harnacks Unterstützung der Republik von grundlegender Bedeutung waren. In drei Schritten wird zunächst Harnacks Kriegspublizistik analysiert, um dann seine Beteiligung an den Reform- und Kriegszieldebatten bis Mitte 1917 darzustellen. Abschließend stehen die Aktivitäten Harnacks im letzten Kriegsjahr vom Abschied Bethmann Hollwegs bis zur Kanzlerschaft Max von Badens im Mittelpunkt. Das folgende Kapitel sechs untersucht Harnacks politisches Engagement in der Weimarer Republik. Zunächst werden seine Aktivitäten zwischen dem Ausbruch der Revolution im November 1918 und dem Kapp-Putsch vom März 1920 beleuchtet und nach den Gründen für Harnacks Hinwendung zur Republik gefragt. Ein weiterer Abschnitt skizziert knapp die Bedeutung der wissenschaftspolitischen und theologischen Arbeit Harnacks
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der 1920er Jahre, denn es fällt auf, daß er sich nun vermehrt religiöser Andachten und Texte zur politischen Gegenwartsdeutung bediente. Sodann werden Harnacks Stellung zur Verständigungspolitik der Ära Stresemann und abschließend seine Beiträge zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen 1920 und 1930 behandelt. Ein kurzes Schlußkapitel faßt die wichtigsten Ergebnisse knapp zusammen. Die Arbeit stützt sich neben den Veröffentlichungen Harnacks besonders auf den umfangreichen Nachlaß. Zudem wurden Akten der Reichskanzlei sowie des preußischen Kultusministeriums sowie die Nachlässe für Harnack wichtiger Personen wie Friedrich Althoff, Rudolf von Valentini, Bernhard von Bülow, Friedrich Loofs, Heinrich Weinel und Adolf Jülicher ausgewertet. Eine genaue Auflistung der eingesehenen Bestände findet sich im Quellen- und Literaturverzeichnis.76
76 Hervorhebungen in den zitierten Quellentexten entstammen, wenn nicht anders vermerkt, dem Original und werden durchgängig kursiv wiedergegeben.
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I. Von Livland nach Leipzig: Herkunft und Werdegang des jungen Harnack 1. Baltisches „Literatentum“: Familiäre und kulturelle Prägungen Harnacks Die Frage nach den Anfängen Harnacks führt in eine längst vergangene Welt. Wenig ist infolge der beiden Weltkriege von seiner deutschbaltischen Heimat geblieben. Eine Vergegenwärtigung der Jahre Harnacks im baltischen Dorpat von 1851 bis 1853 und dann besonders der Schul- und Studienjahre von 1866 bis 1872 ist für ein Verständnis seiner biographischen Prägung unverzichtbar. Deutschbaltischer Landespatriotismus, eine in ihren Grundlagen noch weitgehend ständisch-patriarchal geprägte Gesellschaft – zusammengehalten nicht zuletzt durch eine überkommene lutherische Kirchlichkeit – , ferner eine universitäre Geistesaristokratie sowie schließlich die Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Druck des russischen Nationalismus auf der einen und seit Beginn der 1870er Jahre auch mit den nationalen Bewegungen der estnischen und lettischen Mehrheitsbevölkerung auf der anderen Seite markieren stichwortartig die wichtigsten Faktoren, die das Leben in den Ostseeprovinzen zwischen 1850 und 1875 bestimmten. Rußlands baltische Ostseeprovinzen lagen auf dem Territorium der seit 1991 wieder selbständigen Staaten Estland und Lettland.1 Mitte des 19. Jahrhunderts gliederten sie sich in die drei Länder Estland im Norden (heute der nördliche Landesteil der Republik gleichen Namens), Livland mit der Hauptstadt Riga in der Mitte (südliche Republik Estland und nördliches Lettland) sowie Kurland (das südliche Lettland nebst einem heute litauischen Küstenstreifen). Das Land nördlich der Düna war vom 1201 gegründeten Riga aus durch den Bischof Albrecht von Riga und dem von diesem gegründeten Schwertbrüderorden, der 1237 mit dem Deutschen Orden verei1 Grundlegend hierfür: Reinhard Wittram: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180 bis 1918, München 1954. Auf dieser Arbeit fußt weitgehend Gert von Pistohlkoros (Hg.): Baltische Länder. Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1994; wichtige Beiträge enthält ferner Reinhard Wittram (Hg.): Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte der Missionierung und der Reformation, der evangelischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen Landen, Göttingen 1956.
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
nigt wurde, erobert und kolonisiert worden. Im 16. Jahrhundert überwiegend lutherisch geworden, geriet das Land 1561 unter polnisch-litauische Oberhoheit, während der nördliche Landesteil Estlands in schwedischen Besitz gelangte. Zwischen 1621 und 1629 wurde dann das gesamte Gebiet von dem schwedischen König Gustav Adolf erobert. Schwere Verwüstungen richtete der Nordische Krieg an, in dem das Land mit Ausnahme Kurlands, das bis 1795 unter polnischer Lehnhoheit verblieb, 1710 von Rußland erobert wurde. Gleichwohl blieben der deutschen Oberschicht, an ihrer Spitze die Ritterschaften der verschiedenen Länder, ebenso wie der lettischen und estnischen Mehrheitsbevölkerung die überkommene rechtliche Ordnung sowie die lutherische Konfession erhalten. Die deutsche Ritterschaft Livlands2 konnte ihre führende Position Mitte des 18. Jahrhunderts sogar noch dadurch ausbauen, daß sie sich mit der Einführung der Matrikel, einem Verzeichnis der etwa 290 ritterschaftlichen Geschlechter, ihre politischen Vorrechte vom Zaren auch sozial absichern ließ. Die Ritterschaft blieb bis zur Suspendierung der deutschbaltischen Kulturautonomie in den 1880er Jahren die politisch einflußreichste Gruppe innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges der Ostseeprovinzen und dominierte mit den Landtagen der drei Provinzen die Selbstverwaltung der baltischen Teilgebiete.3 In Livland, der eigentlichen Kernprovinz, setzte sich der Provinziallandtag bis auf zwei Vertreter Rigas, die über nur eine gemeinsame Stimme verfügten, allein aus der Ritterschaft zusammen. Von Hans Rothfels ist der Umstand, daß die Ritterschaft auch noch im 19. Jahrhundert der „eigentliche und einzige politische Stand“ war, zu Recht als „ein Stück Mittelalter, dazu verengt und konzentriert“, bezeichnet worden.4 Neben der gutsbesitzenden Ritterschaft und den Verwaltern stellte die deutsche Bevölkerung der Provinzen – sie machte wohl nie mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung aus – die lutherische Geistlichkeit, Juristen, Lehrer und alle anderen Studierten, die – ihrem eigenen Selbstverständnis entsprechend – als Stand der „Literaten“ bezeichnet wurden. Diese Besonderheit der deutschbaltischen Gesellschaftsordnung darf nicht unterschätzt werden: eine mit starkem Selbstbewußtsein ausgestattete Schicht zwischen Adel und 2 Ich konzentriere mich im folgenden auf Livland als das eigentliche Kernland der Ostseeprovinzen und lasse damit die nicht allzu gravierenden regionalen Unterschiede zu Kurland, Estland und der ebenfalls über eine eigene Ritterschaft verfügenden Insel Oesel unbeachtet. 3 Vgl. Wittram: Geschichte (Anm. 1), 133–140. 4 Hans Rothfels: Reich, Staat und Nation im deutschbaltischen Denken, in: ders.: Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960, 187f. 5 Wittram: Geschichte, 140f., sowie ders.: Drei Generationen. Deutschland – Livland – Rußland 1830–1914. Gesinnungen und Lebensformen baltisch-deutscher Familien, Göttingen 1949, 241–246. Dieses Werk bietet am Beispiel der Familiengeschichte des Autors die beste geistes-, kultur-, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Darstellung deutschbaltischen Lebens im 19. Jahrhundert.
1. Familiäre und kulturelle Prägungen
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Bürgertum, die sich am Maßstab geistiger Bildung orientierte, und sich besonders im 19. Jahrhundert mit ihrem Anspruch, Geistesaristokratie zu sein, zu einem quasi eigenständigen Stand entwickelte und so die ständische Gliederung noch verfestigte.5 Harnack hat rückblickend auf die Bedeutung dieser „Geistesaristokratie“ neben der traditionellen „Geburtsaristokratie“ hingewiesen. Der „bürgerliche Arzt, Jurist, Lehrer, Geistliche, Schriftsteller usw. steht mit dem Großgrundbesitzer auf einer sozialen Stufe.“6 Auch die Professoren – oder genauer: gerade sie, gleichsam als Spitze des „literarischen Standes“ – entsprachen „in Lebensweise, sozialem Charakter, ja bis in die Anschauungen hinein, dem Typus […], der dem baltischen Deutschtum eigentümlich ist, nämlich – ein Herrenvolk zu sein“. Harnack meinte mit dieser Formulierung nicht ein Werturteil oder gar nationale Überheblichkeit, sondern sprach von einer „soziologische[n] Beobachtung“, die die Eigenart seiner baltischen Heimat verdeutlichen sollte und dabei zugleich Kritik enthielt, indem sie auf die Imitation der Ritterschaft durch die „Literaten“ ebenso verwies wie auf die damit übernommenen Vorzüge und eben auch Schwächen dieses Standes: „Aber all’ das Eigentümliche, welches der ritterlichen gesellschaftlichen Schicht angehört, mit seinen Tugenden und Fehlern, mit seinem Freimut und Übermut, mit seinem geringen Verständnis für andere Stände, seiner Überhebung und seiner Aufopferungsfähigkeit, gab dem Leben […] das Gepräge.“7 Neben Ritterschaft und Literaten existierte die alte städtische Oberschicht in den Hansestädten wie Riga und Reval. Wichtig blieb bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ferner das deutsche Mittel- und Kleinbürgertum auf dem Lande. Von Bedeutung war dieser sogenannte landische Mittelstand nicht zuletzt deshalb, weil er unentwegt sozial aufsteigende Letten und Esten in sich aufnahm und so langsam zu Deutschen machte. Mit dem allmählichen Versiegen der deutschen Einwanderungen, dem Beginn der Russifizierungsmaßnahmen sowie dem Erstarken der nationalen Bewegung unter Esten und Letten verlor er schließlich seit etwa 1850 massiv an Bedeutung. Stellten die Deutschen Ritterschaft, Literaten und ein weit gefächertes städtisches und ländliches Bürgertum, so fanden sich Esten und Letten fast ausschließlich in der Unterschicht: Kleinbauern, Tagelöhner und nicht zuletzt Leibeigene. Die soziale Trennlinie deckte sich mithin weitgehend mit der nationalen. Immerhin kam es zwischen 1816 und 1819 zu ersten Agrarreformen seitens der Ritterschaft, bei denen die Leibeigenschaft aufgehoben wurde. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Esten und Letten von den großen Rittergütern blieb aber ungemindert bestehen. Infolgedessen wurde vor allem die ungelöste Agrarfrage zu einem Hebel der unter Zar Nikolaus I. (1825–1855) einsetzenden Russifizierungspolitik. Bis Ende der 1840er Jahre 6 7
RANF 3, 358. RANF 5, 153.
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
konvertierten mehr als 70.000 Esten und Letten zur russisch-orthodoxen Kirche, nachdem ihnen großzügige materielle Vergünstigungen in Aussicht gestellt worden waren. Als sich die Haltlosigkeit dieser Versprechungen erwies, kehrte die große Mehrzahl der Konvertiten allerdings wieder in die lutherische Kirche zurück, was eine Vielzahl von Strafprozessen gegen die lutherische Geistlichkeit zur Folge hatte.8 Die Auseinandersetzungen des baltischen Luthertums mit der russischen Orthodoxie sollten sich das ganze 19. Jahrhundert hindurchziehen. Adolf Harnacks Vater Theodosius hat sich an dieser Auseinandersetzung mit großem Engagement beteiligt, und sie hat auch bei Adolf Harnack Spuren hinterlassen. Seine insgesamt negative Darstellung der orthodoxen Kirchen wird letztlich nur vor dem Hintergrund seiner baltischen Biographie wirklich verständlich. Die Russifizierungspolitik blieb nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis der Deutschbalten: Ritterschaft und Literaten verstärkten ihr baltisches Landesbewußtsein, intensivierten aber gleichzeitig nicht nur ihr kulturelles, sondern auch nationales Zusammengehörigkeitsgefühl mit Deutschland, während die Bindung an Rußland sich immer schwieriger gestaltete. Doch zeichnete sich diese Entwicklung erst allmählich ab, zumal es in den ersten Jahren des Zaren Alexander II. (1855–1881) vorübergehend zu einem Abflauen der Russifizierungsmaßnahmen kam. Gleichwohl waren die Deutschbalten seit den 1840er Jahren politisch und kulturell in die Defensive geraten. Mit dem Entstehen der nationalen Bewegungen unter den Letten und Esten um 1870 verstärkte sich dieser Druck. Die Bemühungen von Ritterschaft, Geistlichkeit und Universität um eine institutionelle Stärkung und bekenntnisorientierte Homogenisierung der lutherischen Kirche, insbesondere der Kampf gegen den aufgeklärten Rationalismus und vor allem gegen pietistische Sondergruppen seit etwa 1840, waren eine Reaktion auf diesen zunehmenden Druck von außen. Kirche und Landesbewußtsein ergänzten einander und stabilisierten sich gegenseitig. „In meiner Heimath ist das ganze Cultursystem noch fest mit dem alten lutherischen Glauben der Väter verbunden“, so charakterisierte Harnack 1881 diese baltische Besonderheit und betonte sogleich, daß in Deutschland ein solcher Standpunkt „seit ein paar Menschenaltern“ nicht mehr möglich sei.9 Freilich war diese Verbindung von „Cultursystem und Luthertum“ erst ein Produkt der Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert übte die Aufklärung einen großen Einfluß aus. Führende Geister standen mit den baltischen Provinzen in enger Verbindung: Herder wirkte von 1764 bis 1769 als Lehrer an der Rigaer Domschule, Kant ließ seine Werke nicht in Berlin oder 8 Vgl. Gert Kroeger: Die evangelisch-lutherische Landeskirche und das griechischorthodoxe Staatskirchentum in den Ostseeprovinzen 1840–1918, in: Wittram: Kirchengeschichte (Anm. 1), 177–206. 9 Harnack an Franz Overbeck am 2.12.1881, in: ÖB Basel, Nl. Overbeck I, I, 142, Nr. 24.
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Königsberg, sondern in Riga verlegen. Im frühen 19. Jahrhundert hatte dann der Herrnhuter Pietismus im Baltikum eine Blüte erlebt10; die erneute Konfessionalisierung von Geistlichkeit, Kirche und Universität unter dem Vorzeichen einer lutherisch-orthodoxen und deutschbaltisch bestimmten Leitkultur erfolgte erst allmählich. Geistiges Zentrum der drei baltischen Provinzen war das livländische Dorpat mit seiner Universität.11 Sie konnte neben dem Adel und dem Bürgertum der großen Städte als „der dritte Pfeiler des Deutschtums in den baltischen Landen“ gelten.12 1802 wiedergegründet, hatte die Universität unter dem Rektorat von Harnacks Großvater, dem Rechtshistoriker Gustav von Ewers, eine erste Blütezeit erlebt. Für die Ausprägung eines gesamtbaltischen, die drei Provinzen Livland, Estland und Kurland übergreifenden Landesbewußtseins, ist ihre Wirkung bedeutend gewesen. Auch für die Ausbildung des bereits beschriebenen Standes der Literaten hat sie eine entscheidende Rolle gespielt. An keinem anderen Ort des Landes kam die Verschmelzung von Geburts- und Geistesaristokratie – kulturell, gesellschaftlich und nicht zuletzt auch familiär – stärker zum Ausdruck als in Dorpat. Das Urteil reichsdeutscher Professoren, ihre baltischen Kollegen seien im Grunde noch die alten Schwertbrüder, spiegelte diese eigentümliche Synthese wider.13 Die Universität prägte das Leben der Stadt, die um 1867 etwa 12.000 Einwohner hatte, davon etwas über 42% Deutsche.14 Die Erinnerungen Georg von Rauchs anläßlich des 150. Gründungstags der Universität 1952 an seine Jugendzeit in Dorpat vermitteln einen Eindruck von der besonderen akademischen Atmosphäre dieser Stadt: „Wer mit der Bahn in Dorpat ankam, brauchte nur durch die Marienhofsche Straße der Stadt zustreben, um – links in den Wallgraben einbiegend – unmittelbar vom Zauber der eigentlichen akademischen Stätte berührt zu werden. Dort, wo der Domgraben beim Oettingenschen Hause abzweigte, führten bereits Treppen hinauf zur Domruine, deren Chor nach einer Idee von Morgenstern zur Universitätsbibliothek ausgebaut war und zu deren Füßen seit altersher am 1. Mai die Feuer gelodert hatten. Verstreut im dichten Grün der Baumanlagen lagen Kliniken, Anatomikum, Institute, an der Stelle des einstigen Bischofsschlosses die Sternwarte, einst unter Struve eine der führenden Europas, während eine verträumte Allee zum stillen Gelehrtendenkmal Karl Ernst von Baers führte. Und nicht weit von hier bot sich jener unvergleichliche Blick auf die ganze Stadt am Embach, in älteren Stichen oft ungleich schöner festgehalten als in moder10 Vgl. Irene Neander: Die Aufklärung in den Ostseeprovinzen, in: Wittram: Kirchengeschichte (Anm. 1), 130–149; Otto A. Webermann: Pietismus und Brüdergemeinde, in: aaO., 149–166; Mark Nerling: Die Herrnhuterfrage in Livland im 19. Jahrhundert im Spiegel der livländischen Provinzialverhandlungen, in: aaO., 166–177. 11 Vgl. Roderich von Engelhardt: Die Deutsche Universität Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, Reval 1933 (Nachdruck Hannover 1969). 12 RANF 3, 356f. 13 RANF 5, 153. 14 Zahlen bei Wittram: Geschichte (Anm. 1), 215.
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nen Fotografien. Der Blick schweifte über die Dächer und Türme der Johannis- und Universitätskirche, des Universitätsgebäudes, des Rathauses hinunter zum Embach mit seiner wuchtigen steinernen Brücke, über die die große Zarin die stolzen Worte einmeißeln ließ: ‚Strom zähme deinen Lauf, Katharina die zweite gebot’s.‘“15
Jenseits des Embach wurden am 7. Mai 1851 die Zwillingsbrüder Adolf und Axel Harnack geboren. Der Vater Theodosius Harnack war Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität.16 1816 in St. Petersburg als Sohn eines aus Ostpreußen stammenden Schneiders, dessen Familie wiederum böhmische Wurzeln aufwies, und einer deutschbaltischen Handwerkertochter geboren, hatte Theodosius Harnack 1834 das Studium der Theologie in Dorpat aufgenommen. Die zunächst rationalistisch bestimmte theologische Fakultät war zu dieser Zeit längst in die Hände von eher pietistisch geprägten Professoren übergegangen.17 Hier wird wohl ein Grund für die Wahl Dorpats als Studienort durch Harnack gelegen haben, der zu dieser Zeit der neupietistischen Erweckungsbewegung nahe stand. Die Weigerung des jungen Theologen, sich am Dorpater Korporationswesen zu beteiligen, führte zu einer gewissen Einsamkeit des Studenten, die er durch intensives Engagement in der Herrnhuter Brüdergemeine zu kompensieren versuchte. Nach dem Ende seines Studiums und einer Zeit als Hauslehrer auf einem livländischen Rittergut ging Harnack 1840 zum Studium nach Deutschland, wo er in Bonn auch dem greisen Ernst Moritz Arndt begegnete, dem er eine lebenslange Verehrung entgegenbrachte. 1842 kehrte er nach Dorpat zurück. Inzwischen hatte sich die Zusammensetzung der Fakultät grundlegend geändert. Eine streng konfessionalistisch-lutherische Theologie war seit der Berufung des Hengstenberg-Schülers Friedrich Adolf Philippi (1842–1851 in Dorpat), des konvertierten Sohns eines jüdischen Bankiers, zur dominierenden Strömung geworden. Harnack, nach dem Urteil seines Freundes und Kollegen Alexander von Oettingen eine „impressionable Natur“18, erlebte unter dem Eindruck 15 Georg von Rauch: Dorpat: Stadt und Universität (1952), in: ders.: Aus der baltischen Geschichte. Vorträge, Untersuchungen, Skizzen aus sechs Jahrzehnten, HannoverDöhren 1980, 369. 16 Zur Biographie vgl. Alexander von Oettingen: Art. Theodosius Harnack, in: ADB 50 (1905), 7–16; Volker Drehsen: Konfessionalistische Kirchentheologie. Theodosius Harnack (1816–1889), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Band II/1: Kaiserreich, Gütersloh 1992, 146–181; Bernd Schröder: Die Wissenschaft der sich selbst erbauenden Kirche: Theodosius Harnack, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 151–206. 17 Zur Geschichte der Theologischen Fakultät vgl. neben Engelhardt: Universität (Anm. 11), 195–211, und Johannes Frey: Die Theologische Fakultät der Kais. Universität Dorpat-Jurjew. Historisch-biographisches Album, Reval 1905, auch den Abriß von Karl Girgensohn: Die Theologische Fakultät, in: Hugo Semel: Die Universität Dorpat (1802–1918). Skizzen zu ihrer Geschichte, Dorpat 1918, 39–50. 18 Oettingen: Harnack (Anm. 16), 10.
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Philippis binnen weniger Jahre seine „Bekehrung“ vom Pietisten zum strengen Lutheraner. Gleichwohl blieb die Frömmigkeit Harnacks stark pietistisch geprägt, während er das Konventikelwesen und das Amtsverständnis insbesondere der Herrnhuter Brüdergemeine einer scharfen Kritik unterzog. Für Harnack dürfte damit genau das gelten, was Reinhold Seeberg, selbst baltischer Herkunft, mit Blick auf die Frömmigkeit baltischer Professoren formuliert hat: „Zwar klagte man über die ‚Verschwommenheit‘ und ‚Gefühlsduselei‘ der Pietisten und pries mit hellen Tönen die ‚charaktervolle‘ ‚Klarheit‘ der ‚Alten‘ – das sollten die Theologen des 17. Jahrhunderts sein –, aber man lebte doch innerlich von der pietistischen Frömmigkeit und nicht von den Ideen der Orthodoxie. […]. Dem frommen Empfinden wurden unter dieser Voraussetzung die alten Probleme der Orthodoxie wieder ‚interessant‘, und ihre Formeln trachtete man in Leben umzusetzen.“19 Harnack erhielt in Dorpat 1843 eine Dozentur, 1848 eine ordentliche Professur für Praktische Theologie, von der er 1852 auf eine Professur für Systematische Theologie wechselte. Kirchenpolitisch beteiligte er sich an der Stärkung des lutherischen Kirchentums, indem er sich mit den erwähnten Konversionsbewegungen estnischer und lettischer Bauern zur Orthodoxie auseinandersetzte und mit Nachdruck den Einfluß herrnhutisch-pietistischer Gruppen bekämpfte.20 1848 heiratete Harnack die damals 19jährige Marie von Ewers, eine Tochter des 1830 verstorbenen bedeutenden Rektors der Dorpater Universität Gustav Ewers (1781–1830), der ursprünglich aus Westfalen stammte und es vom Gänse hütenden Knaben zu einem angesehenen und schließlich geadelten Rechtshistoriker gebracht hatte.21 Diese Vermählung bedeutete zugleich die endgültige Etablierung Harnacks in den führenden Kreisen der baltischen Geistesaristokratie. Da die Mutter von Marie, Dorothea Freiin von Maydell, alteingesessenem Adel angehörte, führte die Heirat den jungen Theodosius Harnack auch in die Welt der livländischen Ritterschaft ein. Aus der Ehe gingen neben den Zwillingen Adolf und Axel drei weitere Kinder hervor: Anna (1849–1868), Erich (1852–1915) und Otto (1857–1914). Mit Blick auf die Generation seiner Großeltern – „ein ostpreußischer Bürgersmann, ein westfälischer Bauernsohn, eine livländische Bürgersfrau und eine livländische Edelfrau“ hat Adolf Harnack von einer „merkwürdige[n] Mischung“ gesprochen.22 Aber diese Mischung illustriert zugleich die relative 19
Reinhold Seeberg: Alexander von Oettingen, ein baltischer Theologe, in: ders.: Aus Religion und Geschichte: Zur Systematischen Theologie. Aufsätze und Vorträge. Band 2, Leipzig 1909, 35. 20 So gehörte er seit 1852 dem „Ausschuß für die Herrnhuter Angelegenheit“ der livländischen Provinzialsynode an. 21 Zu Ewers vgl. Engelhardt (Anm. 11), 72–77 sowie die Erinnerungen Harnacks in: RANF 5, 31–45. 22 Zitiert nach ZH 4f.
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Offenheit und die sozialen Aufstiegschancen innerhalb der deutschbaltischen Bevölkerung sowie die enge Verbindung von Ritterschaft und Literatentum. Marie Harnack war schon in ihrer Jugend stark von dem bereits erwähnten Philippi geprägt worden. „Durchströmt von Religion“, nahm sie auch an den theologischen Arbeiten und den kirchenpolitischen Aufgaben ihres Mannes regen Anteil.23 Es war als Kompliment gemeint, wenn sie ihrem Mann anläßlich einer Tagung der Provinzialsynode schrieb: „Eure Beschlüsse kommen mir so normal lutherisch vor, als stammten sie aus dem 16. Jahrhundert.“24 Ihre Frömmigkeit war von einem selbstquälerischen, ja fast krankhaften Sünden- und Schuldbewußtsein bestimmt. Dieser Umstand wirkte sich auch auf die Kinder aus, die schon sehr früh eine harte orthodox-kirchliche Erziehung zu spüren bekamen. Harnacks Bemerkung über die Fehler religiöser Erziehung, die meist darin lägen, daß „man Zwerge in Kleider von Riesen stecken möchte, ihnen drohend, andere Kleider gäbe es überhaupt nicht“25, dürfte wohl auch von den eigenen Kindheitserfahrungen herrühren. Schon beim knapp einjährigen Adolf, der das Leben „von der harmlosesten und fröhlichsten Seite“ nehme, fürchtete die Mutter „Leichtsinn und Lebensbehaglichkeit“ in späteren Zeiten. Zwei Jahre später hatte sich das Bild gewandelt: Adolf erscheint in den Briefen der Mutter als ungeduldig und schlaff, er wird getadelt wegen seiner „trotzigen Passivität und schlauer Berechnung.“ Später wird der Junge als romantisch und verträumt geschildert, der sich über den Robinson halb die Augen ausweint: „ Jeder Wind rührt die Saiten seiner Seele und stimmt oder verstimmt sie.“26 Erkannte die Mutter immerhin noch die Gefahr, durch ihre Erziehung die Individualität der Kinder allzusehr zu beschränken, so richtete sich Theodosius Harnacks Pädagogik strikt nach dem Grundsatz aus: „Sie müssen eine Macht über sich fühlen, um zu Männern heranzureifen.“27 Die gelegentlichen Wanderungen und Ausflüge des Vaters mit den Kindern ähnelten Unterrichtsstunden. Wiederholt beklagte sich der kleine Adolf darüber, daß keine Zeit zum Betrachten der Landschaft oder zum Blumenpflücken bleibe. Streng überwachte der Vater die Arbeiten seiner Kinder, die Strafen selbst für kleinere Vergehen waren rigoros.28 Im Mittelpunkt des väterlichen Lebens stand, wie Adolf sich 1889 bei dessen Tode erinnerte, die Wissenschaft, verbunden mit einem strengen, bis hart an die eigenen Grenzen gehenden Arbeitsethos: ein Vorbild an Selbstdisziplin – „ich habe ihn in meinem ganzen Leben nie verstimmt oder deprimiert gesehen; einer Laune 23 24 25 26 27 28
Zu Marie Harnack vgl. ZH 6–14, 7. Ebd. ViL, 51. Alle Zitate bei ZH 16f. So Oettingen: Harnack (Anm. 16), 16. ZH 17.
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hat er sich nie hingegeben“29 –, zugleich aber auch überaus streng und humorlos. Das Leben der Familie Harnack war geprägt von dem „eigentümlichen herrschaftlichen Lebensstil“ der baltischen Oberschicht, wie er von Adolf Harnacks Großmutter mütterlicherseits, Dorothea Freiin von Maydell, auf seine Mutter übergegangen war und den dieser im Rückblick als „unabhängig von günstigen ökonomischen Bedingungen und Reichtum“ charakterisierte.30 Bescheidenheit und Sparsamkeit bestimmten diese Lebensweise ebenso sehr wie Pflichtbewußtsein und ein nicht geringes Maß an Vertrauen auf den Wert, die Notwendigkeit und letztlich die geistige und gesellschaftliche Überlegenheit des eigenen Standes. Zu diesem Leben gehörte auch der gesellige Verkehr mit Angehörigen des Adels und der Geistesaristokratie. Im Salon von Harnacks Mutter trafen sich die Spitzen der Dorpater Gesellschaft und der umliegenden Rittergüter. Höhepunkte des Familienlebens waren die Sommeraufenthalte auf den Gütern der ritterschaftlichen Verwandtschaft: „Die Gastlichkeit Alt-Livlands war ohne Grenzen; auf den vom Weltverkehr abgelegenen Herrenhöfen blühten und gediehen die menschlichen Originale in ungehemmtem und eigenwilligem Wachstum, und mit ihnen gedieh die Anekdote, die Kunst des pointierten Erzählens und der geistreich-witzigen Formulierung, eine Kunst, in der Adolf Harnack selbst ein Meister wurde.“31 Die Eigentümlichkeit dieser Kultur, so Harnack, lag gerade in der Art ihrer Verbreitung, „nämlich durch den mündlichen Austausch und den lebendigen Verkehr von Person zu Person. Sie ist keine Buchkultur, sondern hat sich durch das lebendige Wort fortgepflanzt und konnte hier und dort einen Stand von seltener Höhe erreichen.“32 Waren die Umgangsformen auch gepflegt und aristokratisch, die Gespräche nicht selten geistreich und von erheblichem geistigen Niveau, so korrespondierte diesen Formen doch auch eine gewisse Enge. Die Erwartungen an das Rollenverhalten des Einzelnen waren hoch, die soziale Kontrolle angesichts der Überschaubarkeit der gesellschaftlichen Kreise immens. In der Familie des Theologieprofessors Theodosius Harnack herrschte trotz aller Sparsamkeit und beschränkter Mittel eben „dieser Stil mit seinen hohen Vorzügen und schweren Schatten. […] Er gehört zu dem Paß, den die Geburt mir, dem ostpreußischen Bürgersohn, dem westfälischen Bauernjungen und dem livländischen Herrensohn ausgestellt hat, und er blieb bestehen, als mein Vater nach Erlangen übersiedelte, in die kleine, hochangesehene fränkische Universitätsstadt.“33 29
Zitiert nach ZH 15f. RANF 5, 33. 31 ZH 20. 32 So Harnack 1922 in: Erinnerungsblätter an die Feier des Hundertjährigen Jubiläums der Livonia Dorpati in Jena, Berlin 1922, 9. 33 RANF 5, 34. 30
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2. Die Erlanger Jahre (1853–1866) 1853, nur zwei Jahre nach Adolfs Geburt, nahm Theodosius Harnack einen Ruf als Professor der Praktischen Theologie an die Theologische Fakultät der Universität Erlangen an. Dieser Ruf war ein Zeugnis für die außerordentlich hohe Anerkennung, die Harnack inzwischen auch außerhalb des baltischen Luthertums genoß, denn Erlangen stellte das geistige und wissenschaftliche Zentrum der konfessionellen Theologie jener Zeit dar.34 Die „Erlanger Schule“ um die Theologen Adolf von Harleß, Gottfried Thomasius und Johann Christian Konrad von Hofmann zeichnete sich aus durch eine ganz eigentümliche Verbindung von Motiven der Erweckungsbewegung und dem gleichzeitigen Bemühen um eine strikte Auslegung von Bibel und lutherischen Bekenntnisschriften als der alleingültigen Norm christlicher Wahrheit. Ihre durchaus originelle Verknüpfung von Traditionsbindung und erfahrungstheologisch fundierter Modernität machten den nicht geringen Reiz dieses Theologenkreises aus, der sich damit von den bloß auf lutherische Repristination zielenden Konzepten der gleichfalls streng lutherischen Fakultäten zu Dorpat oder Rostock unterschied.35 Die Erlanger lehnten die Union von Lutheranern und Reformierten strikt ab, opponierten zugleich aber auch – bedingt durch die Minderheitenposition des Protestantismus im weithin katholischen Bayern – gegen eine christlich-konservative Staatsauffassung, wie sie etwa sonst Wilhelm Hengstenberg oder Friedrich Julius Stahl in Preußen vertraten. Einhellig fiel freilich auch die Ablehnung des – inzwischen allerdings nahezu bedeutungslos gewordenen – theologischen Rationalismus wie auch des liberal gesinnten Protestantenvereins aus.36 34 Trotz der – zum Teil großen – theologischen Unterschiede ist es sinnvoll, die in Erlangen, Rostock, Dorpat und Leipzig vertretenen Theologien unter einem einheitlichen Sammelbegriff zusammenzufassen, wobei in der Literatur die Bezeichnungen schwanken (meist Neuluthertum, restaurative Theologie oder konfessionelle Theologie), „konfessionelle Theologie“ sich aber als die brauchbarste erweist, da diese genug Spielraum für die ganz unterschiedlichen Ausprägungen dieses Theologietyps läßt und am wenigsten von wertenden Urteilen berührt ist. Diese Bezeichnung ist auch Grundlage der noch immer prägnanten und systematisch klarsten theologiegeschichtlichen Darstellung der Zeit zwischen 1830 und 1870 bei Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 51926, 49–54. 35 Zu den unterschiedlichen Ausprägungen konfessioneller Theologie vgl. Horst Stephan: Geschichte der evangelischen Theologie seit dem Deutschen Idealismus, Berlin 1938, 150–169. Stephan gebraucht als Oberbegriff die Bezeichnung „restaurative Theologie.“ 36 Zur Theologischen Fakultät in Erlangen vgl. Martin Hein: Art. Erlangen, in: TRE 10 (1982), 159–164; zur Erlanger Theologie Karlmann Beyschlag: Die Erlanger Theologie, Erlangen 1993. Eine gute theologiegeschichtliche Einführung bietet Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Band 5, Gütersloh 31964, 414–430. Knapp, aber außerordentlich ertragreich auch Kattenbusch: Theologie, 49–53.
2. Die Erlanger Jahre (1853–1866)
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Der Frühform dieser sich seit den 1830er Jahren ausbildenden konfessionellen Erfahrungstheologie war Theodosius Harnack noch während seines Studiums in Erlangen 1841/42 bei Harleß und Hofmann begegnet. Gleichwohl bewahrte er sich während seiner Erlanger Tätigkeit von 1853 bis 1866 gegenüber einzelnen Elementen dieser Theologie, insbesondere gegenüber Hofmanns Versöhnungslehre, eine kritische Distanz, die ihren Niederschlag in seinen profunden Lutherstudien jener Jahre fand.37 Die Erlanger Jahre zeigen Theodosius Harnack in einer eigentümlichen Mittelstellung innerhalb des Gesamtzusammenhangs neulutherisch-konfessioneller Theologen, nämlich zwischen bloßer Repristination auf der einen und erfahrungstheologischem Neuluthertum auf der anderen Seite. Für die Familie Harnack bedeutete die Übersiedlung nach Erlangen einen tiefen Einschnitt, ließen sich doch zwischen Dorpat und Erlangen „soziologisch […] kaum größere Gegensätze vorstellen.“38 Der trotz aller Bescheidenheit aristokratisch-baltische Lebensstil hob sich zu deutlich von dem der ganz bürgerlich geprägten Erlanger Professoren ab. So hat Marie Harnack sich dem in Erlangen durch die Professorenfrauen üblichen Erledigen der „Wäsch“ samt Bügeln und Aufhängen konsequent entzogen, was ihr den Ruf einer „unpraktischen und durch und durch untüchtigen Hausfrau“ eintrug.39 Sie hat die Trennung von der baltischen Heimat wohl am meisten geschmerzt, aber auch für den Rest der Familie galt, daß sie in Erlangen letztlich als „halbe Fremde“ lebten, denn „die Art unseres Hauses war zu verschieden“40. Die Sehnsucht der Mutter nach der alten Heimat prägte sich, so berichtet Agnes von Zahn-Harnack, tief in das Bewußtsein ihrer Kinder ein. Am 26. November 1857 ist sie mit nur 27 Jahren wenige Stunden nach der Geburt ihres Sohnes Otto verstorben.41 Der Tod der Mutter hatte zur Folge, daß Theodosius sich nun allein der Erziehung seiner Kinder widmete. 1864 heiratete er die Cousine seiner verstorbenen Frau, Helene Baronesse von Maydell: Die baltische Prägung des Hauses blieb also erhalten. Immerhin konnten Adolf und Axel die strenge Art des Vaters in den Häusern befreundeter Schulfreunde kompensieren und hier das „Eldorado alles frischen und fröhlichen Jugendlebens“ von Ritterspielen bis zum ersten Verliebtsein erleben, das ihnen im Vaterhaus verwehrt blieb. Schulisch ließen die Leistungen der Zwillinge und des ein Jahr jüngeren Erich nichts zu wünschen übrig. Unter der strengen, „weniger 37
Theodosius Harnack: Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre. Band 1: Luthers theologische Grundanschauungen (1862), München 1927 (Neuausgabe). Hirsch: Geschichte, 427f. deutet dieses Hauptwerk Harnacks als gegen Hofmann gerichtet. 38 RANF 5, 34. 39 ZH 9f. 40 RANF 5, 34. 41 ZH 13f.
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
helfend[en] als richtend[en] Aufsicht“ des Vaters brachten sie Jahr für Jahr Bestnoten nach Hause, so daß man sich am Erlanger Gymnasium noch lange an diese „Harnacksche Zeit“ erinnerte.42 Als Adolf 1866 Erlangen verließ, bescheinigte ihm das „Austrittszeugnis“ in sämtlichen Fächern eine „I“, das Gesamtprädikat lautete „Sehr gut“. Unter den 18 Schülern seiner Klasse, so hieß es weiter, habe er „den ersten Platz sich erworben.“43 Die Erlanger Jahre dürften für die weitere Entwicklung Adolf Harnacks nicht zu unterschätzen sein. Zunächst ist, besonders nach dem Tod der Mutter, die Konzentration auf die Gestalt des Vaters zu nennen. Sein strenges, nicht selten unnahbares Regiment, das wohl auch auf eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der Last der Alleinverantwortung für das Wohl der Kinder zurückzuführen ist, hat die weitere Entwicklung des jungen Harnack nachhaltig beeinflußt. Hier liegen die Wurzeln für den später vorrangig theologisch ausgetragenen Konflikt. Als bedeutsam ist ferner die beschriebene Erfahrung des baltischen Andersseins zu nennen, die für den kleinen Adolf in der Sehnsucht der Mutter nach der alten Heimat sehr deutlich zum Ausdruck kam, bedenkt man dabei die ihm ohnehin nachgesagte „romantische“ Sentimentalität. Auch im gesellschaftlichen Miteinander ist dieses Moment der Fremdheit immer wieder aufgetreten. Schließlich kann als drittes noch die Begegnung mit den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen der deutschen „Gesellschaft im Aufbruch“44 der 1850er und 1860er Jahre hinzu, die die Familie Harnack mit einer Vielzahl von Problemen konfrontierten, die sie aus ihrer Heimat nicht kannte. Dabei ist etwa an die Industrialisierung, die Entstehung der Arbeiterbewegung und die soziale Frage zu denken. Einzelheiten lassen sich zwar nicht nachweisen, doch wird die zunehmende Politisierung der Gesellschaft auch vor der deutschbaltischen Sonderwelt der Harnacks in Erlangen nicht haltgemacht haben. Das gilt natürlich besonders für die sich abzeichnende Entstehung des deutschen Nationalstaates. Gegensätzliche politische Konzeptionen begegneten sich zu diesem Thema sogar unter den direkten Kollegen Theodosius Harnacks an der Theologischen Fakultät. Hofmann war Mitglied der Fortschrittspartei, Abgeordneter des bayrischen Landtags, Anhänger Bismarcks und Verfechter der kleindeutschen Lösung, Harleß dagegen als Konservativer großdeutsch gesinnt und ein erklärter Gegner des preußischen Ministerpräsidenten.45 42
AaO., 15–19, Zitate 18 bzw. 17. Austrittszeugnis des Königlichen Studienrektorates zu Erlangen vom 5. Juni 1866, in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 27. 44 Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849–1871, Frankfurt am Main 1990. 45 Vgl. zu den politischen Gegensätzen an der Erlanger Fakultät Heinrich Hermelink: Das Christentum in der Menschheitsgeschichte. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Band 2: Liberalismus und Konservativismus 1835–1870, Tübingen/ Stuttgart 1953, 407f. 43
2. Die Erlanger Jahre (1853–1866)
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Die Traditionen der deutschen Nationalbewegung, besonders die der Freiheitskriege 1813/15, waren auch im Hause Harnack präsent, und zwar vornehmlich durch Carl Georg von Raumer und Ernst Moritz Arndt. Adolf Harnack hat beiden in seinen wenigen Äußerungen zu den Erlanger Jahren einen wichtigen Platz eingeräumt. Der Naturforscher und Pädagoge Raumer galt als Mittelpunkt des „nationalen Lebens der Universitätsstadt“ und fesselte den Schüler Adolf neben seinen Erzählungen von Goethe mit seinen wiederholt vorgetragenen Erinnerungen an seine Zeit als persönlicher Adjutant Gneisenaus und Blüchers.46 Arndt gar konnte Harnack als „bewunderte[n] Hausgenossen in unserem Leben“ bezeichnen. Theodosius, der den greisen Arndt noch in Bonn kennen gelernt hatte, bestand darauf, daß seine Kinder dessen patriotische Lieder auswendig lernten – ein nahezu unerschöpflicher Fundus, auf den Harnack dann in seinen Kriegsreden nach 1914 wiederholt zurückgreifen sollte. In abendlichen Erzählungen stellte der Vater seinen Zöglingen zudem das Bild seines Helden eindrücklich vor Augen: „Ein großes Bild von ihm hing in unseres Vaters Stube, und durch seine Erzählungen und die patriotischen Lieder, die wir auswendig lernten, wurde uns das Bild so vertraut, als lebte es. Wir empfanden es daher als einen persönlichen Verlust, als uns unser Vater eines Tages zusammenrief und sagte: ‚Kinder, ein schweres Leid: Ernst Moritz Arndt ist gestorben.‘ Nach unserer Vorstellung konnte der Mann, den uns unser Vater in ewiger Jugend vorgestellt hatte, überhaupt nicht sterben.“47 Nachdem Theodosius Harnack 1858 eine Berufung als Prediger nach St. Petersburg abgelehnt hatte, entschloß er sich 1866, einen Ruf als Ordinarius für Praktische Theologie nach Dorpat anzunehmen. Die Gründe für die Rückkehr nach Livland sind – soweit ersichtlich – weitgehend privater Natur48, stehen also nicht in Zusammenhang mit dem Krieg von 1866. Die baltische Sonderexistenz im Erlanger Exil sollte, auch nach dem Willen von Harnacks zweiter Frau, ein Ende nehmen. Hinzu kam sicher die „zweite Hochblüte“49, die die Dorpater Universität nach dem Abflauen der Russifizierungspolitik in den 1860er Jahren noch einmal erlebte. Die kirchenpolitischen Angelegenheiten der alten Heimat, in die Harnack von Erlangen aus wiederholt eingegriffen hatte, waren möglicherweise ein weiterer Beweggrund, denn in die bayerischen Verhältnisse hatte er sich auch kirchlich nie recht einfinden können.
46
RANF 5, 35. AaO., 36. 48 Vgl. Schröder (Anm. 16), 167 unter Bezugnahme auf Material aus dem Erlanger Universitätsarchiv. 49 Vgl. Engelhardt (Anm. 11), 106–165. 47
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
3. Konfessionelles Luthertum und Geschichte des frühen Christentums: Dorpater Jugend- und Studienjahre (1866–1872) Die Rückkehr nach Livland brachte besonders für die Kinder noch einmal einschneidende Veränderungen mit sich, ließen sie doch nicht nur ihre Freunde, sondern auch den bei diesen gefundenen Ersatz für die fehlende Mutter zurück. Auch das gesellschaftliche Umfeld veränderte sich natürlich, wenngleich Dorpat durch die baltische Sonderexistenz und mehrfache Besuche in der alten Heimat den Kindern vertraut war. Das Leben in der bürgerlichen Erlanger Gelehrtenwelt nahm ein Ende, die Harnacks tauchten wieder ganz ein in die baltische Geistesaristokratie und ihre enge Verquikkung mit dem Geburtsadel. Kaum etwas kann diese Verquickung besser veranschaulichen als die Familie des Theodosius Harnack. Seine zweite Frau war die Schwägerin des Theologen und Kollegen Harnacks Alexander von Oettingen, dessen Familie zu den führenden Geschlechtern der livländischen Ritterschaft gehörte. Die Familie Oettingen zählte hier zu dem eher liberal gesinnten Flügel, der für begrenzte Reformen, etwa in der Agrarfrage, eintrat und so die Grundlagen der althergebrachten Ordnung bewahren wollte.50 Alexander von Oettingens Brüder August und Nikolai waren nacheinander livländische Landmarschälle (August 1857–1862, dann bis 1868 Gouverneur von Livland, Nikolai livländischer Landmarschall von 1870 bis 1872) und setzten sich als Führer der „Liberalen“ für die Einführung einer neuen Kreisordnung ein, die auch Vertreter der estnischen und lettischen Landbevölkerung einbeziehen sollte. Sie konnten sich damit aber gegen die Mehrheit der Ritterschaft nicht durchsetzen, die bei ihrer schroffen Ablehnung jeglicher Reformen seit 1876 auch von einem Kreis junger Konservativer um den Historiker Theodor Schiemann (1847–1921) publizistisch unterstützt wurde.51 Die Güter der Oettingens in Jensel und Ludenhof waren ein ebenso häufiger Aufenthaltsort der Harnacks wie die der Blanckenhangens in Allasch und der Maydells in Pastfer. Die Konflikte um die Reformfrage dürften in den dort geführten Gesprächen immer wieder eine Rolle gespielt haben. Daraus erklärt sich auch, daß Harnack in den 1880er Jahren gegenüber seinem in Livland verbliebenen Bruder Otto immer wieder für den Geist liberaler Reformen geworben und gegen die Auffassungen der Jungkonservativen um Schiemann polemisiert hat, wenngleich letzterer namentlich nicht genannt wurde. Allein „Aufgeben der Standesvorurtheile, entschlossene Anerkennung der Berechtigung der nationalen Bewegung [der Esten und 50 Vgl. zur Bedeutung der Familie Oettingen Reinhard Wittram: Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts, Riga 1934, 28–48. 51 Vgl. Pistohlkoros (Anm. 1), 382–388 (zur Rolle Schiemanns 386f.).
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Letten, CN], soweit sie berechtigt ist, liebevolles u. aufopferndes Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Nationalen“ sei der einzige Weg, um die friedliche Zukunft der Ostseeprovinzen zu sichern, beschrieb Harnack 1883 seine Eindrücke eines längeren Aufenthaltes in Livland, mußte dabei aber sogleich bedauern, „daß die Wenigsten hier bereit sind, den Weg zu erkennen u. einzuschlagen. […] Die jungen Leute sind am falschen Ende conservativ“.52 Besonders Nikolai von Oettingen fühlte sich der junge Harnack verbunden. Nach dessen Tod 1876 in Karlsbad reiste Harnack – inzwischen Extraordinarius in Leipzig – in den böhmischen Kurort, um die Rede zur Einsargung des Verstorbenen zu halten, die seine tiefe Verehrung Oettingens bezeugt: „ Ja, man darf sagen, daß der Schmerz ob der Größe des Verlustes ein allgemeiner sein wird, soweit Baltische Herzen schlagen und soweit gute deutsche Häuser im Osten erbaut sind. […] So oft es mir vergönnt gewesen ist, mit ihm persönlich und geistig zusammen zu sein, so oft bin ich innerlich erhoben und innerlich befreit worden. Man fühlte sich in seiner Nähe selbst größer und freier und fester, und man ging nicht von ihm fort, ohne nicht einen nachhaltigen Antrieb mitzunehmen […].53 Für Harnacks politische Sozialisation scheint der adelige „Liberalismus“ der Oettingens von großer Bedeutung gewesen zu sein: die Orientierung an den großen, positiven Traditionen der Vergangenheit, verbunden mit einem erheblichen Gespür für die Forderungen der Gegenwart und der Aufgeschlossenheit für die Motive der politisch anders Denkenden sowie der Versuch, ihre berechtigten Anliegen aufzunehmen, um die Grundlagen des Überlieferten auch in der neuen Zeit zu bewahren. Der Kompromiß, der gerechte Ausgleich der verschiedenen Interessen, spielte in diesem Denken eine zentrale Rolle. Dieses auf Ausgleich und Integration zielende Denken war eines der Erfolgsgeheimnisse der späteren Karriere Harnacks. Es bewährte sich vorrangig in seiner wissenschaftsorganisatorischen Arbeit, leitete aber auch die politischen Stellungnahmen Harnacks an und schlug sich ebenso in den kirchenpolitischen Äußerungen nieder – etwa bei dem Versuch eines Ausgleiches zwischen der Notwendigkeit eines kirchlichen Bekenntnisses auf der einen, der Gewissens- und Lehrfreiheit der Pastoren auf der anderen Seite anläßlich des Falls Jatho 1911. Die Sozialisation des jungen Harnack in der Welt der baltischen Geburtsund Geistesaristokratie hat ihn mit aristokratischen Umgangsformen und – bedenkt man die eigentümliche livländische Mischung aus Adel und Literaten, die es in Deutschland gerade nicht gab – einer erheblichen geistigen Beweglichkeit im gesellschaftlichen Verkehr ausgestattet. Harnack hat sich 52 Harnack am 19./7. 9. 1883 aus Dorpat an seinen Bruder Otto, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 53 Rede, gehalten bei der Einsargung zu Carlsbad am 19./7. Juni 1876, abends 9 Uhr, in: Zur Erinnerung an Nicolai von Oettingen, Dorpat 1876, 3–10, 6.
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zweifellos nicht als Aristokrat verstanden und ausdrücklich betont, daß der eigentliche gesellschaftliche Ort des Gelehrten die „breitere, obere Bürgerschicht“ sei.54 Aber der aristokratische Stempel blieb doch zeitlebens eines der wichtigsten baltischen Erbteile, sieht man einmal von dem häufig bezeugten baltischen Akzent seiner Aussprache ab. Dieses Erbe stellte ein „soziales Kapital“55 Harnacks dar, das ihm bei seinem gesellschaftlichen Aufstieg in Deutschland zu gute gekommen ist. Der Erfolg, den Harnack im hohen Regierungsapparat, den verschiedenen Gelehrten- und Politikerkreisen in Berlin und schließlich am Hof Wilhelms II. haben sollte, ist auch dem Umstand zuzuschreiben, daß er die dafür nötigen Umgangsformen mit großer Souveränität und ohne bürgerliche Befangenheit zu meistern verstand.56 Die rasche Karriere, die nicht nur Harnack, sondern auch andere Deutschbalten wie Reinhold Seeberg, Theodor Schiemann, Johannes Haller oder Wilhelm Ostwald in Deutschland machten, ist auf diese soziologische Besonderheit zurückzuführen, für die Harnacks Weg sicherlich das beste Beispiel darstellt. So war Adolf Harnack also lebenslang geprägt von jenem merkwürdigen, milde liberal gestimmten Geist des reformorientierten Teils der Oberschicht, der nicht nur politisch, sondern auch kulturell für seine weitere Entwicklung von Bedeutung war. Dieser Geist zeichnete sich nicht zuletzt durch eine eigentümliche „Kombination von Religion und ästhetischem Empfinden, von Glauben und philosophischem Idealismus“ aus.57 Die Mischung aus lutherischer Orthodoxie und idealistischer Philosophie, besonders „die Stimmung Goethes und Schillers, der Idealismus Hegels und Schellings“58, charakterisierten das geistige Leben und die Gespräche in dieser Welt – eine complexio oppositorum, die in Deutschland schon seit Jahrzehnten nicht mehr möglich war und mit der ein Stück des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts überlebt hatte. Harnacks späterer akademischer Lehrer Alexander von Oettingen kann geradezu als Paradebeispiel dieses Geistes angesehen werden: „Er trug öffentlich Shakespeares Dramen vor, hielt Vorle54
RANF 5, 153. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheit, Göttingen 1983. 56 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung von Harnacks Schulkameraden Wilhelm Strümpell. Ohne Harnack zu nennen, aber sicher auch mit Blick auf ihn, beschreibt er in seinen Erinnerungen diesen aristokratischen Erbteil vieler Deutschbalten und bemerkt dazu: „Ich habe es öfter erlebt, daß in einer Gesellschaft in Deutschland ein zufällig anwesender Balte an Gewandtheit der Umgangsformen und der Unterhaltung unsern oft recht ungelenken jungen Leuten erheblich überlegen war. Daher kommt es auch, daß sich die jungen Balten in Deutschland so leicht eine gute gesellschaftliche Stellung erwerben“, in: Wilhelm Strümpell: Aus dem Leben eines deutschen Klinikers. Erinnerungen und Beobachtungen, Leipzig 1925, 58. 57 Seeberg: Oettingen (Anm. 19), 36. 58 AaO., 37. 55
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sungen über Goethes Faust und gab dem Lande doch zugleich die Sicherheit eines durch keinerlei weltanschauliche Kritik in Frage gestellten Bekenntnisses.“59 Harnacks lebenslange Begeisterung für die Welt Goethes, aber auch Shakespeares, hat hier einen Ursprung. Als einen charakteristischen Zug dieses deutschbaltischen Lebens hat Harnack immer wieder das auf den Gütern und ebenso bei den Literaten gepflegte Ideal der freien, sittlich hochstehenden Persönlichkeit hingewiesen. Es entstammte jenem in Livland gepflegten Geist des 18. Jahrhunderts und der Klassik, dem Harnack sich ein Leben lang verbunden fühlte, und ist – theologisch und philosophisch vertieft, aber seinen auch lebensgeschichtlich begründeten Ursprüngen verhaftet – doch so in den Fundus der Grundüberzeugungen Harnacks eingegangen, wie er selbst es für Livland formuliert hat: „Die Persönlichkeit, zu Selbständigkeit, Brüderlichkeit und freiem Schaffen erzogen, bleibt immer dieselbe. Sie kann mit diesem Erziehungskapital jeden Beruf, den sie ergreift, und jede Lage, in die sie gestoßen wird, bestreiten, sie wird sich niemals deklassiert fühlen und wird niemals deklassiert sein, denn sie bleibt, was sie ist.“60 Auch die in Harnacks Werk sich durchziehende Dialektik von Universalität und Partikularität, von Volk und Menschheit, Nationalität und Weltbürgertum, verweist ebenso wie die immer wieder auftauchende Verwendung von Begriffen wie „Richtung“ und „Kraft“ auf einen gerade im Baltikum einflußreichen Denker, auf Herder, den er in seiner 1892 erstmals gehaltenen Vorlesung „Entstehung und Bedeutung der theologischen Richtungen der Gegenwart“ wie folgt würdigte: „Sein Verdienst ist es, daß er erkennt, daß zum Verständnis des Menschen die Ideen und die Geschichte nötig ist. Aus der Geschichte hat der Mensch zu lernen, ist der Grundgedanke, den er in allen Schriften entwickelt.“61 Ebenfalls durchgängig findet sich ein emphatischer, von Hegel inspirierter Geistbegriff.62 59
So die treffende Charakterisierung bei Wittram: Generationen (Anm. 5), 179. Erinnerungsblätter (Anm. 32), 9. 61 Vorlesungsnachschrift „Entstehung und Entwicklung der theologischen Richtungen der Gegenwart“ von unbekannter Hand, 16. Dieses 158 Seiten umfassende Dokument bietet eine Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts aus der Sicht Harnacks und befindet sich im Besitz des Verfassers; das Konzept zu dieser Vorlesung in: Nl. Harnack, K. 19. Danach wurde diese Vorlesung 1892, 1894, 1898, 1900 und 1905 gehalten. Herder, der in den „Reden und Aufsätzen“ an zwölf Stellen direkt erwähnt wird, ist nach Harnack Bahnbrecher des deutschen Idealismus und „praeceptor Germaniae evangelicus im höchsten Sinne, und als s olcher das deutsche Gegenbild, Mitkämpfer und Rivale Rousseaus“ (RANF 4, 203). Besonders würdigte Harnack Herders „tiefsinnige und lebendige Betrachtung der Geschichte […], wie sie die Aufklärung nicht kannte. Diese Herder’schen Essays sind für den grossen Umschwung der historischen Auffassung epochemachend gewesen; noch heute stehen wir unter ihrem Einfluss“ (GAW I, 416). 62 Dazu Ernst Troeltsch: Adolf von Harnack und Ferd. Christ. Baur, in: Karl Holl (Hg.): Festgabe von Fachgenossen und Freunden A. von Harnack zum siebzigsten Geburtstag dargebracht, Tübingen 1921, 282–291. Eine Untersuchung zu Harnack und Hegel steht noch aus. 60
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Nicht nur die Betonung der Persönlichkeit, das aufklärerische Humanitätsideal, die Dialektik von Partikularität und Universalität oder der idealistisch imprägnierte Geistbegriff gehörten zu einem nicht unbedingt sofort erlernten, aber doch erworbenen und in späteren Jahren vertieften kulturellen Bildungskapital Harnacks, sondern auch das Ideal des Universalgelehrten stellte ein Bestandteil dieses Erbes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar, das im Baltikum zumindest in Teilen gewissermaßen konserviert und so auf Harnack übertragen worden war. Es ist kein Zufall, daß Harnack lebenslanger Bewunderer und Kenner von Leibniz und Goethe gewesen ist.63 Harnack war nicht Universalgelehrter wie sie, konnte es wegen der Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftsbetriebs im 19. Jahrhundert auch nicht mehr sein, sondern er war zunächst ein versierter Spezialist, aber doch mit einer Weite und Universalität des Blicks, die in jener besonderen baltischen Geisteswelt wurzelte. Diese Weite ermöglichte es ihm, die Grenzen seines Fachs zu überschreiten und eine Funktion zu erfüllen, die eine Analogie zum klassischen Universalgelehrtenideal darstellte: die des kundigen und weitsichtigen Wissenschaftsorganisators. Nicht als Fachmann auf allen Gebieten, aber als kundiger Laie bemühte er sich mit weitsichtigem Blick um die arbeitstechnische und organisatorische Sicherstellung wissenschaftlicher Einzelforschung. Im „Großbetrieb der Wissenschaft“ kooperierte der Theologe Harnack mit Physikern und Biologen, Juristen und Medizinern und repräsentierte als Organisator eine Einheit der Wissenschaft, die es in einer Person nicht mehr geben konnte, ja auch in der Wissenschaft selbst eigentlich nicht mehr gab. Der moderne Wissenschaftsorganisator war gleichsam die Transformation des klassischen Universalgelehrten im Zeitalter der modernen Einzelwissenschaft, Harnack gewissermaßen symbolischer Repräsentant des noch immer vorhandenen Ideals einer Einheit der Wissenschaft, die material gar nicht mehr möglich erschien.64 63 Einen aufschlußreichen Vergleich Harnacks mit Leibniz am Beispiel des Akademiegedankens bietet Kurt Nowak: Leibniz und Harnack. Kontinuität und Wandel des Akademiegedankens, in: ders./Hans Poser (Hg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April 1996 in Leipzig, Hildesheim/Zürich/New York 1999, 299–322; zu Harnacks Goethe-Rezeption vgl. Friedemann Voigt: Die Goethe-Rezeption der protestantischen Theologie in Deutschland 1890–1932, in: Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/ Dietrich Korsch (Hg.): Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 2001, 93–119, v.a. 102–111. Harnack sprach 1899 auf die Frage nach dem Einfluß Goethes auf seine Weltanschauung wie auf seine innere Entwicklung von einem „sehr bestimmenden Einfluß: ich suche von ihm die Ehrfurcht zu lernen vor dem, was über und neben und unter uns ist, dann – sicher zu beobachten, lebendig zu empfinden und durch rastlose Thätigkeit Stumpfheit und Hemmnisse zu überwinden“, in: Antwort auf die Umfrage „Goethe und unsere Zeit. Stimmen und Bekenntnisse“, in: Das Litterarische Echo 1 (1899), 1392. 64 Eine prägnante Darstellung des Wandels vom klassischen Universalgelehrtentum
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Die Schule bereitete Adolf weiterhin keine Probleme. Die erhaltenen Zeugnisse des angesehenen Dorpater Gymnasiums, das die Geschwister nun besuchten, belegen den anhaltenden schulischen Erfolg.65 Neu freilich war der Zwang, die russische Sprache zu erlernen. Adolf Harnack bewältigte auch diese Hürde mit Bravour, wobei der als ungebildet geltende russische Lehrer ein beliebtes Ziel jugendlichen Spottes darstellte, gehörte es Harnacks Klassenkameraden Wilhelm Strümpell zufolge „nun einmal zu den Grundanschauungen der Schüler in den unteren Klassen, daß die russischen Stunden nicht zum Lernen, sondern zur Ausübung alles erdenklichen Unfugs bestimmt seien.“66 Die im Abitur Ende 1868 abverlangte Prüfung in russischer Sprache, Literatur und Geschichte – sie mußte mindestens mit „Gut“ bestanden werden, um das Reifezeugnis zu erhalten – bestand Harnack problemlos mit einer „I“ für einen Aufsatz über den Einfluß Goethes auf Schiller.67 Auch in allen anderen Fächern – allein Geographie und deutsche Sprache bildeten mit einem „gut“ eine Ausnahme – wurden Harnack in seinem deutsch und russisch ausgefertigten „Maturitätszeugniss zur Aufnahme in die Universität“ vom 20. Dezember 1868 sehr gute Leistungen bescheinigt.68 Die Welt, in welcher der junge Harnack sich bewegte, war ganz überwiegend deutsch geprägt. Esten und Letten gehörten nicht in diesen Kreis; auch an der Universität begegneten sie nur vereinzelt. Die nationale Bewegung setzte verstärkt erst um 1875 ein, als Harnack Dorpat bereits verlassen hatte. Allerdings zeigten sich recht bald die Gefährdungen, die dieser Welt drohten, denn seit Ende der 1860er Jahre nahm der Druck auf die Ostseeprovinzen von Seiten der Regierung in St. Petersburg wieder zu und lastete auf all dem, „was nur irgend ein Produkt des deutschen Geistes ist, in staatlicher, gesellschaftlicher Beziehung, auf jeder deutschen Schule, jedem deutschen Gymnasium als fast unerträglich.“69 Was Harnack 1868 als Gymnasiast aussprach, sollte sich dem jungen Studenten im folgenden Jahr bestätigen, als die „Livländische Antwort“ des Dorpater Historikers Carl Schirren die Gemüter der Universitätsstadt erhitzte. Schirren verteidigte mit dieser Schrift die Autonomierechte der baltischen Provinzen gegen panslawistische Angriffe und verlor daraufhin seinen Lehrstuhl.70 Noch im gleichen Jahr mußte der Kurator der Universität, Graf hin zu den ausdifferenzierten Einzelwissenschaften bietet Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 61999, 89–119. 65 Vgl. auch das Schüleralbum des Dorpatschen Gymnasiums von 1804 bis 1879, Dorpat 1879, 202. 66 Strümpell (Anm. 56), 17. 67 RANF 3, 370f. 68 Das Zeugnis in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 30f. 69 Harnack im April 1868 an seinen Erlanger Freund Stintzing, in: ZH 21. 70 Vgl. Engelhardt (Anm. 11), 322–338.
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Keyserling, seinen Abschied nehmen. Seine Verabschiedung durch Professoren und Studenten der Universität „hatte etwas Ergreifendes, hinterließ in uns aber auch ein niederdrückendes Gefühl“, erinnerte sich später Harnacks Jugendfreund Leopold von Schroeder.71 Dem Gefühl der Bedrohung der eigenen kulturellen und nationalen Existenz entsprach besonders unter der studentischen Jugend eine emotionale Hinwendung zur Einigung Deutschlands unter Bismarck: „Wir jubelten Kaiser Wilhelm, Bismarck und Moltke zu, feierten die Einnahme von Paris auf studentische Weise, sammelten Beiträge für die durch den Krieg geschädigten Deutschen und freuten uns der großen Zukunft, die sich dem neuen Deutschen Reiche zu eröffnen schien.“72 Harnacks Äußerungen hierzu sind spärlich, doch hat er zweifellos an diesen Ereignissen große Teilnahme gezeigt. An Schirrens „Streitschrift, die einen Fichteschen Geist atmete“, erinnerte er sich noch 1916.73 Das Interesse an der nationalen Einigung Deutschlands ergab sich bereits aus der im väterlichen Hause betriebenen Verehrung Arndts. Deutlich erinnerte Harnack sich der gedoppelten Loyalität – oder mit Rothfels an „die Doppelheit der baltischen geschichtlichen Lebensform“74 –, die das Leben der Deutschbalten um 1870 kennzeichnete: die Bindung an die eigene kulturelle Besonderheit einschließlich des besonderen Interesses für die Vorgänge in Deutschland auf der einen Seite, auf der anderen aber gleichzeitig das Bemühen, sich als loyale Bürger des Zarenreiches zu erweisen – eine Loyalität, die seit der Reichsgründung von russischer Seite her immer mehr in Zweifel gezogen wurde, so daß besonders ältere Baltendeutsche die ambivalenten Folgen der Reichsgründung für die Ostseeprovinzen rasch erkannten. Der Druck der Petersburger Regierung auf die baltischen Provinzen sowie ihre damit einhergehende Infragestellung der immer wieder versicherten Loyalität der Deutschbalten gegenüber dem Zaren – „wir [waren] wohl vorbereitet, dem Reiche auch in seiner Sprache zu dienen“75 – verstärkten ohnehin schon vorhandene antirussische Ressentiments. Wenn Harnack im direkten Anschluß an Schirren 1916 schrieb, es gebe eine Russifizierung, gegen die nichts einzuwenden sei, nämlich die einer „gleichwertigen“ russischen Kultur, die „nach ehrlicher Arbeit und ehrlichem Kampf im Lauf der Generationen gleichen Schritts mit der Entwicklung des Verkehrs und der Kultur des russischen Volks in die livländischen Städte und Dörfer einziehen 71
Leopold von Schroeder: Lebenserinnerungen, Leipzig 1921, 62f. AaO., 68; vgl. auch Strümpell (Anm. 56), 55: „Daß die Gesinnung unter der gesamten Studentenschaft ausgesprochen deutsch-patriotisch war, brauche ich kaum besonders betonen. Während der Kriegszeit 1870/71 ertönten in den studentischen Konventsquartieren allabendlich ‚Die Wacht am Rhein‘ und andere deutsch-patriotische Lieder, was von niemandem beanstandet wurde.“ 73 RANF 3, 369. 74 Vgl. Rothfels (Anm. 4), 185. 75 RANF 3, 371. 72
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mag“76, dann war zugleich mit gesetzt, daß für Harnack Rußland eine solche Kultur weder 1870 noch 1916 besaß. Dieses Gefühl kultureller Überlegenheit gegenüber Rußland – in Dorpat nach Meinung der Deutschbalten lediglich repräsentiert durch korrupte Beamte, drittklassige Lehrer und die abschätzig als „Kapustniks“, „Kohlfresser“, bezeichneten Angehörigen der kleinen russischen Garnison – behielt Harnack zeitlebens bei. Es erklärt seine antirussischen Stereotypen aus den Kriegsjahren ebenso wie seine abwertende Beurteilung der russischen Orthodoxie, die allerdings im Kontext der zeitgenössischen Symbolik und Konfessionskunde nicht ungewöhnlich war. Allerdings hat Harnack die verschärfte Russifizierungspolitik der 1880er Jahre mit der Aufhebung der kulturellen Autonomie, der Russifizierung der Universität und der Umbenennung Dorpats in Jurjev nicht mehr selbst erlebt – anders etwa als sein Bruder Otto –, wenngleich er natürlich die Entwicklung mit großem Interesse verfolgt hat. Aber dieser Abstand hat ihn trotz aller antirussischen Überzeugungen vor der kulturellen und ideologischen Einkapselung, die bei vielen Baltendeutschen wie etwa Reinhold Seeberg nun zu beobachten war, bewahrt.77 So konnte er noch während des Weltkrieges für die politische Gleichberechtigung der estnischen und lettischen Mehrheitsbevölkerung gegenüber der deutschen Oberschicht eintreten. Nach bestandenem Abitur schrieb Harnack sich am 17. Januar 1869 als Student der Theologie an der Dorpater Universität ein.78 Schon 1868 hatte er in einem bemerkenswerten Brief an einen Erlanger Schulfreund diesen Entschluß damit begründet, daß er hoffe, „in dieser Wissenschaft den Weg zur Lösung der Hauptprobleme unseres Lebens zu finden.“ Die Verteidigung des Christentums im allgemeinen und der Theologie im besonderen scheint diesem Brief zufolge bereits die Sache des Schülers gewesen zu sein, der immer dort am besten zu überzeugen wußte, wo „ich am offensten aussprach, wie mir ums Herz ist.“ Deutlich ist der kritische Impuls bereits bei dem angehenden Theologen zu erkennen, der – bedingt durch die Infragestellung der christlichen Religion unter einigen seiner Mitschüler – durchaus die Möglichkeit des Christentums als „Irrtum“ zugesteht, aber dann auch noch die Geschichte dieses Irrtums für beachtenswert hält. Das bloße Repetieren der orthodoxen Schuldogmatik lehnt Harnack schon 1868 ab und insistiert auf der selbständigen Aneignung der Glaubenssätze, die er 76
AaO., 370. Reinhold Seeberg, geboren 1859 im livländischen Pastfer, war bis 1889 Dozent an der Dorpater Theologischen Fakultät und erlebte so die verschärfte Russifizierungspolitik. Die unterschiedlichen Erfahrungen der beiden Theologen dürften ihre im Ersten Weltkrieg zu Tage tretenden Differenzen über die Annexion der baltischen Provinzen durch Deutschland zumindest miterklären. 78 Die lateinische Immatrikulationsurkunde vom 17. Januar 1869 in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 32. 77
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„sich selbsttätig produzieren und zu eigen machen“ wolle.79 Dieser Brief des Oberprimaners Harnack ist deshalb von außerordentlicher Wichtigkeit, weil er bereits die grundlegenden und lebenslang beibehaltenen Motive der theologischen Fragestellungen Harnacks enthält. Es sind dies: die Erkenntnis der tiefgreifenden Krise des Christentums, die es historisch zu analysieren gilt; sodann die notwendige Abkoppelung der persönlichen Einstellung zum Christentum von der gewonnenen Geschichtseinsicht; ferner die These von der Religionszentriertheit der Kultur sowie die Bestimmung von Religion als dem Kern menschlichen Lebens; schließlich die skeptische Einstellung gegenüber den Leistungen der traditionellen Dogmatik, der die Forderung nach der individuellen Aneignung der Religion entgegengestellt wird. An der Dorpater Theologischen Fakultät belegte Harnack exegetische Lehrveranstaltungen bei dem aus Sachsen stammenden strengen Lutheraner Ferdinand Mühlau (1839–1914) sowie dem Hofmann-Schüler Wilhelm Volck (1835–1904)80. Mühlau, so erklärte Harnack im Abstand von mehr als 20 Jahren dem preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff, verdanke er viel in Bezug auf das Neue Testament, die Geographie Palästinas und die methodische Exegese, doch sei ein tieferes Verständnis für Geschichte oder gar historische Kritik bei ihm nicht zu gewinnen gewesen.81 Eigentliche Hauptlehrer Harnacks waren aber nach eigenem Bekunden „v[on] Engelhardt, weiter von Oettingen u[nd] mein Vater.“82 Bei Theodosius Harnack hat Adolf die vorgeschriebenen praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen absolviert, unter seiner strengen Aufsicht erfolgte auch das Abhalten seiner ersten Predigt am 20. August 1871.83 Systematisch-theologische Veranstaltungen belegte er bei dem bereits erwähnten Alexander von Oettingen (1827–1905), den Seeberg als „letzte[n] orthodoxe[n] Lutheraner“ bezeichnete. Oettingen galt als hart in seinen theologischen Urteilen, die er – einmal gefällt – keiner Revision mehr unterzog, so daß er unter Dorpater Studenten auch „der Papst“ genannt wurde. Folgerichtig erhielt sein Haus die Bezeichnung „Vatikan.“ Nachweisbar ist, daß Harnack nicht nur intensive Studien der orthodoxen Klassiker betrieben hat, sondern sich auch mit Werken von Autoren anderer theologischer Richtungen beschäftigt hat, darunter etwa die Dogmatik von David Friedrich Strauß, die ihn zunächst aber noch „die Consequenz und dogmatische Folgerichtig79 Alle Zitate aus einem Brief Harnacks von 1868 an Wilhelm Stintzing, zitiert nach ZH 23f. 80 Vgl. zu Mühlau und Volck die biographischen Abrisse bei Frey (Anm. 17), 120–125 bzw. 130–135. 81 Harnack an Althoff am 13.11.1894, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 82 Harnack an Rade am 14. September 1888, in: BwR 206. 83 Diese Predigt ist jetzt dokumentiert bei Peter C. Bloth: Adolf Harnacks „erste Predigt“ und sein Examen pro gradu Dorpat 1871/72, in: ZNThG/JHMTh 6 (1999), 69– 95.
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keit, mit der unsere alten kirchlichen Dogmatiker gearbeitet haben“, bewundern ließ.84 Wieweit Oettingen dieses Studium beeinflußt hat, ist unklar. Unter den Studenten galt er allerdings als etwas langweilig. Zu selbstsicher erschienen seine Antworten auf zweifelnde Fragen.85 Im Rückblick fiel Harnacks Urteil über Oettingen scharf aus: „[…] er hat nie in seinem Leben eine Ahnung davon bekommen, was es für ein Ernst ist, eine Sache zu untersuchen u[nd] wie man das eigentlich zu machen hat.“86 Doch wird dies Urteil erst aufgrund der weiteren theologischen Entwicklung Harnacks verständlich. In den 1870er Jahren konnte Harnack ihn noch als Gesprächspartner über die ihn in Leipzig mehr und mehr fesselnde Theologie Albrecht Ritschls schätzen. Höher als die Bedeutung des Dogmatikers dürfte die des Sozialethikers Oettingen für Harnack einzuschätzen sein. Mit seiner durch die Begegnung mit dem Nationalökonomen Adolph Wagner angeregten, 1868 erstmals erschienenen „Moralstatistik“ kann er als der eigentliche Begründer dieser Disziplin angesehen werden.87 Harnack hat sich in seinen späteren Beiträgen zu sozialethischen und sozialpolitischen Fragen nie explizit auf Oettingen bezogen und eine zu dem Entwurf seines Lehrers geradezu konträre Auffassung vertreten, gleichwohl dürfte im Kolleg Oettingens die erste nähere Begegnung des jungen Theologen mit Nationalökonomie, sozialer Frage sowie dem Verhältnis von Christentum und Sozialismus erfolgt sein.88 Vertieft wurden diese Eindrücke noch durch Harnacks Kommilitonen Wilfried Anders, einen Schüler Wagners, mit dem Harnack in der Studentenverbindung Livonia eng verbunden war. Belegt ist, daß Harnack die „Moralstatistik“ und die diese gleichsam ergänzende „Christliche Sittenlehre“ von 1873 relativ kritisch gelesen hat. Oettingen hielt die kritischen 84
Harnack an Bunge am 16. 7. 1871, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. Vgl. Seeberg: Oettingen (Anm. 19), 49f: „Man lernte eine fertige Wahrheit kennen und wurde angeleitet, Mißverständnisse derselben zu vermeiden, aber man wurde nicht klar über die innere Notwendigkeit dieser Wahrheit. […] Man begriff nicht, warum so viel Widerspruch gegen das Wahre, wenn es doch so einfach und klar ist, warum der Widerspruch soviel Anhänger hat, wenn er doch so schlagend widerlegt werden konnte; fast konnte es aussehen, als wenn nur Übermut und Sünde an abweichenden dogmatischen Theorien Gefallen finden könnten. Bewußt oder unbewußt haben doch alle, die, mit einigem wissenschaftlichen Interesse und Vermögen ausgerüstet, damals in Dorpat Dogmatik trieben, etwas von diesen Bedenken empfunden, zumal diejenigen, die sich selbständig etwa mit Kant oder Schleiermacher, Frank oder Ritschl beschäftigten.“ 86 Harnack am 12.2./31.1.1886 an seinen Bruder Otto, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 87 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Art. Sozialethik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel/Darmstadt 1995, 1134–1138. 88 Auch Seeberg betonte den Eindruck, den Oettingens Moralstatistik weniger wegen der systematischen Stringenz als vielmehr wegen der Fülle an angerissenen Problemen auf die Dorpater Studenten machte, vgl. Seebergs Selbstdarstellung u. d. T. Die wissenschaftlichen Ideale eines modernen Theologenlebens und die Versuche ihrer Verwirklichung, in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, v.a. 176f. 85
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Anmerkungen seines Schülers aber für unangemessen und teilte diesem mit, sie keinesfalls bei einer Neuauflage berücksichtigen zu wollen.89 Die mit Abstand größte Bedeutung unter seinen Dorpater Lehrern kommt freilich dem Kirchenhistoriker Moritz von Engelhardt (1826–1881) zu.90 Der livländischen Ritterschaft entstammend, war Engelhardt besonders von der heilsgeschichtlichen Theologie Hofmanns beeinflußt worden und hatte seit 1858 die kirchenhistorische Professur in Dorpat inne. Sein Lehrerfolg war beachtlich. Engelhardt wurde für Harnack gleichsam das Idealbild eines Professors und Kirchenhistorikers, dem er bis zu dessen Tod 1881 auf engste verbunden blieb.91 Wie kein anderer Dorpater hat er als enger „väterlicher Freund“ Verständnis und Interesse für die theologische Entwicklung des jungen Harnack gezeigt: Er hat „es mich nicht entgelten lassen, daß ich andere Wege einschlug; im Gegentheil – er war stets bereit, auf Alles sorgfältig einzugehen, was man ihm entgegenhielt […].“92 In einer kurzen biographischen Notiz hat Harnack die wichtigsten Anregungen Engelhardts knapp zusammengefaßt: „Durch Engelhardt erhielt ich die Richtung aufs Historische, auch auf den geschichtl[ichen] Christus, ferner lebte er ganz im Problem d[er] Entstehung der altkath[olischen] Kirche. Durch ihn wurde ich auf das Buch von Ritschl aufmerksam, welches ich so oft gelesen h[at]te, daß 89 Oettingen an Harnack am 10. 6. 1873, in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. A. v. Oettingen. Da Harnacks Briefe an Oettingen nicht erhalten sind, ist nicht klar, ob sich Harnacks Kritik auf die Moralstatistik oder die Sittenlehre bezog. Grob läßt sich sagen, daß die Moralstatistik sich in erster Linie gegen Wagners These von der „Gesetzmäßigkeit der scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen“ richtete und die Freiheit des Handelns des Einzelnen, aber zugleich auch seine Einbettung in die Einheit eines Gemeinschaftslebens aufzuweisen suchte (hier ist der spezifische Ort der Sozialethik, die der individualistischen Fehldeutung der Freiheit vorbeugen sollte). Dagegen wollte Oettingen die Sittenlehre als eigentliche Begründung einer christlichen Ethik verstanden wissen, in der er noch schärfer als in den sozialethischen Teilen der Moralstatistik gegen jedwede individualistische Ethik polemisierte. 90 Vgl. zu Engelhardt Nathanael Bonwetsch: Art. Moritz von Engelhardt, in: ADB 48 (1904), 371–376; Frey (Anm. 17), 159–163. 91 Vgl. die Würdigung Harnacks in seinem Aufsatz Baltische Professoren (in: RANF 5, 152): „In den etwa fünfundzwanzig Jahren (+ 1881), in denen er als Dozent gewirkt hat, hat er sich nicht nur auf die Höhe eines innerlich immer freier werdenden Gelehrten gehoben und sein Fach meisterhaft beherrscht, sondern auch als Lehrer eine Kraft der eindringlichen und überzeugenden Darstellung bewiesen, wie ich sie bei keinem anderen Professor jemals erlebt habe. Was er geschichtlich erfaßte, das erfaßte er zunächst in seinem Rechte und wußte es seinen Hörern so zu schildern, daß sie es sich innerlich anzueignen vermochten; dann erst kam die Kritik. So wurde jede große geschichtliche Erscheinung ein Erlebnis, das den Studenten innerlich bereicherte. Zu dieser eminenten Fähigkeit eines Professors von Gottes Gnaden, der das Große, mochte es wie immer beschaffen sein, groß und das Kleine klein nahm, kam der ausgeprägteste Wahrheitssinn und ein innerer Beruf zur Seelsorge im kräftigsten und tiefsten Sinn des Wortes.“ 92 So Harnack anläßlich des Todes Engelhardts in einem Brief vom 2.12.1881 an Franz Overbeck, in: ÖB Basel, Nl. Overbeck I,I, 142, Nr. 24.
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ich es fast auswendig konnte. Engelhardt stellte 1870 die Preisaufgabe über Marcion, welche ich löste, wodurch ich 1) in Tertullian mich versenkte, 2) in den Gnosticismus. Durch die marcionitisch-gnostischen Studien wurde ich i[n] dem Unterschied von positiver Religion und Theologie bestärkt.“93 Drei wesentliche Anstöße Engelhardts lassen sich daraus entnehmen: Zunächst erstens der Umstand, daß Engelhardt Harnacks Interesse an der Geschichte der Alten Kirche geweckt hat, aber auch für Fragen des historischen Jesus. Damit ist das große Lebensthema der wissenschaftlichen Arbeit Harnacks gegeben. Engelhardt hat dabei auch die erste größere Studie Harnacks angeregt, für die er 1870 die goldene Preismedaille der Universität erhielt.94 Sodann ist es zweitens Engelhardt, der die erste Berührung Harnacks mit der Theologie Ritschls vermittelt hat, wenn auch zunächst eng orientiert an dem kirchenhistorischen Spezialproblem der Ausbildung der später als altkatholisch bezeichneten Kirche des 3. Jahrhunderts. Engelhardt ist damit gleichsam die Scharniergestalt zwischen Ritschl und Harnack. Schließlich ist drittens den von Engelhardt angeregten Studien eine grundlegende theologische Einsicht Harnacks zu verdanken, nämlich die in den außerordentlich bedeutsamen Unterschied von geschichtlich gewordener und gelebter Religion und Theologie als Reflexion über Religion. Diese seit Semler und Schleiermacher grundlegende Unterscheidung für einen sachgemäßen Umgang mit der Umformungskrise des neuzeitlichen Christentums lieferte Harnack das notwendige kritische Instrumentarium historischen und systematischen Arbeitens. Denn indem Theologie als eine bestimmte Sprachund Reflexionsgestalt der christlichen Religion erkannt wird, kann die Entstehung von theologischen Lehraussagen zuallererst hinreichend verstanden werden. Diese kritische Differenzierung beleuchtet zugleich die Komplexität des Phänomens Religion, das eben nicht identisch ist mit einer bestimmten Lehrgestalt, d. h. Theologie. Engelhardt hat Harnacks kirchengeschichtliche Studien mit großer Entschiedenheit gefördert und auf den wissenschaftlichen Werdegang seines Schülers die größten Hoffnungen gesetzt. Nicht nur die erwähnte Preisarbeit über Marcion von 1870 zeugte von der Begabung Harnacks, sondern ebenso die durchweg glänzenden Benotungen, mit denen Engelhardt die kirchenhistorischen Leistungen des Studenten in den drei Teilen der theolo93
Harnack an Rade am 14.9.1888, in: BwR 206f. Harnacks Preisarbeit zu Marcion ist von ihm nie veröffentlicht worden, bildete aber den Beginn der lebenslangen Beschäftigung mit diesem bedeutenden Theologen des 2. Jahrhunderts. Inzwischen ist eine Edition der Preisarbeit samt des Gutachten Engelhardts angekündigt, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Adolf von Harnack: Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator: Die Dorpater Preisschrift (1870). Herausgegeben von Friedemann Steck, Berlin/New York 2003; vgl. zu den von der Theologischen Fakultät jährlich ausgeschriebenen Preisarbeiten Frey (Anm. 17), 55–96, zu Harnack 72. 94
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gischen Gradualprüfung bewertete.95 Im studentischen „Theologischen Verein“, dem er 1871 auch vorsaß und auf dessen rein wissenschaftliche Ausrichtung er mit Nachdruck gedrungen hat, vertiefte Harnack unter der Ägide Engelhardts seine kirchenhistorischen Kenntnisse weiter und trug in diesem Kreise unter anderem über die Gottesvorstellungen der Apologeten (II. Semester 1869) und über Melito von Sardes (I. Semester 1871) vor.96 Harnacks 1873 in Leipzig eingereichte Dissertation war konzeptionell ebenfalls eine Frucht der Dorpater Lehrzeit bei Engelhardt: Bereits im II. Semester 1872 hatte der frisch geprüfte cand. theol. eine erste Version dieser Arbeit unter der Aufsicht seines Lehrers im Theologischen Verein zur Diskussion gestellt.97 Engelhardt dürfte Harnacks Entschluß für das akademische Lehramt ausdrücklich befürwortet und unterstützt haben. Über den Zeitpunkt dieser Entscheidung läßt sich nur sagen, daß sie wohl schon sehr früh – vielleicht schon in der Schulzeit – gefallen sein muß. Den Gang ins Pfarramt scheint Harnack nicht erwogen zu haben. Neben diesen drei theologischen Lehrern sind für den Werdegang des jungen Harnack noch zwei weitere Namen von Bedeutung, deren Nennung bereits sein entspanntes Verhältnis zu den Naturwissenschaften anklingen läßt: Karl Ernst von Baer und Gustav von Bunge. Der Estländer Baer (1792–1876), „einer der bedeutendsten und vielseitigsten Naturforscher der Neuzeit“98, hatte bis 1862 an der Petersburger Akademie gewirkt und war dann nach Dorpat übergesiedelt, wo er einen Kreis von Studenten um sich sammelte, mit denen er naturwissenschaftliche und philosophische Fragen besprach. Bereits vor Darwin hatte er eine begrenzte Deszendenztheorie vertreten und die Bedeutung des Entwicklungsgedankens für die Naturwissenschaften herausgestellt. Baer betonte dabei freilich mit Nachdruck die Existenz immanenter Gesetzmäßigkeiten der organischen Entwicklung und versuchte mit dem zentralen Begriff der „Zielstrebigkeit“ die Bedeutung des Geistigen für die Entwicklungsgeschichte herauszustellen. Schon der Urzelle wohnte Baer zufolge dieses „Geistige“ 95 Vgl. die bei Bloth: Predigt (Anm. 83), 90–92 abgedruckten Zeugnisse der Gradualprüfung. 96 Vgl. die thematischen Semesterüberblicke in: Adolf Assmus (Hg.): Der Theologische Verein zu Dorpat (1867–1892). Festschrift zum 25jährigen Jubiläum, Dorpat 1892, 47–49. Neben den erwähnten Arbeiten referierte Harnack im Theologischen Verein, dessen Präses er im I. Semester 1871 auch war, im I. Semester 1870 unter dem Beirat des Exegeten Volck über Hebr 2,1–9. 97 AaO., 49. Genaues Thema des Referats war „Quellenkritik der ältesten Ketzerberichte im Anschluss an die Schrift von Lipsius: Zur Quellenkritik des Epiphanius“. Harnacks Dissertation von 1873 „Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnosticismus“ setzte sich vorrangig mit dem genannten Werk des Theologen Richard Lipsius (1830–1892) auseinander. 98 So Arthur Titius: Art. Karl Ernst von Baer, in: RGG 1 (1909), 896f; vgl. zu Baer ferner: Engelhardt (Anm. 11), 218–226.
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keimhaft inne, gleichsam als verborgene Melodie und Rhythmus des Lebens. Es war die „Nichtachtung alles Geistigen bei den echten Darwinisten“, die Baers Ablehnung der Theorien Darwins zu Grunde lag. Der Unterschied zwischen dem Menschen als geistbegabtem Wesen und den Tieren schien ihm durch eine rein mechanistische Betrachtungsweise nicht hinreichend gewahrt zu sein. Baer selbst hat sich über dieses „Geistige“, diesen Logos, nicht näher geäußert. Es stand vielmehr für die Grenzen menschlichen Erkennens, die der Naturforscher nicht zu überschreiten vermochte: „ Ja, der Naturforscher hat eine gewisse Berechtigung, vor der Grenze des Geistigen stehen zu bleiben, weil hier der sichere Weg seiner Beobachtungen aufhört und seine treuen Führer, der Masstab und die Wage und der Gebrauch der äusseren Sinne ihn hier verlassen. Nun hat er nicht das Recht zu sagen: Weil ich hier nichts sehe und nichts messen kann, so kann auch nichts da sein.“ 99 Die Geschichte der Natur konnte er sogar als „Geschichte fortschreitender Siege des Geistes über den Stoff “ bezeichnen.100 Baers grundsätzliche Kritik am Darwinismus, der auch in Dorpat um 1870 „die Köpfe und Gemüter aufs tiefste“ bewegte, imponierte Harnack gerade wegen der „größten Zurückhaltung“ und Ausgewogenheit, mit der sie vorgetragen wurde: „Der tiefe Forscher hielt mit seinen Ansichten nicht hinter dem Berge, aber zog keine Schlußstriche und Bilanzen, sondern begnügte sich damit, die ‚Beweise‘ Darwins in bezug auf die Zuchtwahl im einzelnen zu kritisieren und das Unzureichende einer bloß mechanischen Betrachtung nachzuweisen, ohne eine ‚vitalistische Theorie‘ aufzustellen.“101 Harnack hat sich in seinem Entwurf einer historischen Theologie – man kann dabei durchaus von einer impliziten Historik Harnacks sprechen – Baers Entwicklungsgedanken ebenso zu eigen gemacht wie dessen Kritik am Darwinismus und einer einseitig mechanistischen Betrachtung der Natur. So setze auch Darwins These vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl „das Rätsel einer Entwicklungsfähigkeit voraus“, das sich mit dessen Terminologie gerade nicht erklären lasse.102 Weder der Mechanismus noch die energetische Weltanschauung eines Wilhelm Ostwald und in seinem Gefolge auch der gedanklich allerdings wesentlich schlichtere Monismus eines Ernst Haeckel vermochten für Harnack, selbst wenn sich die Grundthese von der einen Kraft, auf der alles Wirkende beruhe, als richtig erweisen sollte, einen wirklichen Erkenntnisgewinn zu bringen, denn die 99
Vgl. Karl Ernst von Baer: Welche Auffassung der lebendigen Natur ist die richtige?, in: Baltische Geistesarbeit. Band 3, Riga 1908, 130–177. 100 Zitiert nach: Heinrich Hermelink: Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Band III: Nationalismus und Sozialismus 1870–1914, Stuttgart/Tübingen 1955, 476. 101 RANF 5, 38f. Zur Auseinandersetzung der protestantischen Theologie mit dem Darwinismus vgl. Hermelink, 205–216 und 469–488. 102 RANF 3, 183f.
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Frage nach dem „principium individuationis, welches das Eine zur Fülle des Vielen und dieses Vielen gemacht hat“, blieb damit gänzlich unbeantwortet.103 Wenn Harnack darauf als Haupteinwand die These folgen ließ, all diese in ihren Grenzen berechtigten, auf einer bestimmten Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis geradezu notwendigen Erklärungsversuche scheiterten, wenn sie absolut gesetzt würden, an der Komplexität des Lebens selbst, dann folgte er darin den „vitalistischen Überzeugungen“ Baers. Erst in einer den Mechanismus überbietenden Stufe der Erkenntnis kann dieses Leben wahrgenommen werden, nicht mehr in einem kausalen Schema, sondern nur durch mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen, kein „abstrahiertes mechanisches System eindeutiger Kräfte“, sondern „die Welt unserer erzogenen Sinne, transparent gemacht durch Ideen, die wir in und an ihr gefunden haben.“ Es ist die Stufe, die nicht nur die Totalität des Lebens zur Geltung bringt, sondern auch eine auf Vermutungsevidenzen basierende Erkenntnis einer aufsteigenden Richtung dieses Lebens – „eine zu Höherem strebende Richtungskraft“ – erscheinen läßt, die Baer mit dem Begriff der Zielstrebigkeit umschrieben hatte.104 Mit dem sieben Jahre älteren Gustav von Bunge (1844–1920)105, den Harnack in der Korporation Livonia und wohl auch bei den Abenden Baers kennen lernte, verband ihn bald eine enge Freundschaft. Bunge war Assistent am Chemischen Institut der Universität, beschäftigte sich vorrangig mit der Physiologie und war entschiedener noch als Baer ein Gegner von Mechanismus und Darwinismus. Harnack hat sich in seiner Ablehnung eines rein mechanischen Weltbildes wiederholt auf Bunge berufen und ihm ein Hauptverdienst für die Erkenntnis zugesprochen, daß „das Leben zwar irgendwie mit dem Mechanischen zusammenhängt, aber neben ihm ein Selbständiges darstellt.“106 Sein „Lehrbuch der Physiologie des Menschen“ hat Harnack noch 1903 den Lesern der „Christlichen Welt“ wärmstens empfohlen und wiederholt auf dessen programmatischen Vortrag „Vitalismus und Mechanismus“ hingewiesen.107 Bunge – und daneben Harnacks Brüder Axel, der 103
AaO., 181f.; vgl. zu Harnacks Auseinandersetzung mit Haeckel auch den Artikel: Noch einmal Ernst Häckel, in: ChW 13 (1899), 1157–1158. 104 RANF 3, 188f. Neben den drei Stufen der Materialsichtung und Ordnung, der Erkenntnis des Kausalzusammenhangs der Dinge (für Harnack der berechtigte Ort des Mechanismus) und der Erforschung des (unbewußten) Lebens seiner Idee, seinen verschiedenen Formen und seiner Richtung nach, kennt Harnack als vierte und höchste Stufe der Erkenntnis noch die Erkenntnis des Menschen selbst, der sich von allem Leben eben dadurch unterscheidet, daß er bewußter Geist ist. Dies ist auch der Ort, an dem nach Werten und Normen, nach dem Prinzip des Sollens, gefragt wird, das eigentlich erst Geschichte hervorbringt. Menschliches Leben ist Harnack zufolge selbstbewußtes Leben und damit Freiheit. 105 Zu Bunge, seit 1886 Professor für Physiologie in Basel, vgl. Engelhardt (Anm. 11), 293–298. 106 RANF 3, 185. 107 Die Physiologie des Menschen (Rez. von Gustav von Bunge, Lehrbuch der Phy-
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Mathematiker, und Erich, der Mediziner – haben entscheidenden Anteil an Harnacks intensiver Beschäftigung mit diesen Fragen. Die in Dorpat gleichsam naturphilosophisch grundgelegte Unterscheidung von Natur und Geist hat Harnack dann als eines der faszinierendsten Elemente in der Theologie Ritschls theologisch begründet wiedergefunden – nicht in unwissenschaftlicher Apologetik, sondern als die die Personalität des Individuums wahrende Funktion von Religion, nicht als naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern als religiöses Werturteil. Der Mechanismus behielt für Harnack jedoch seine Berechtigung als eine notwendige, aber eben nicht hinreichende Weise wissenschaftlicher Erkenntnis. Bunge zeichnete sich bereits in seiner Dorpater Zeit aber nicht nur als einer der Hauptvertreter des Neovitalismus aus, sondern auch als versierter philosophischer Kopf. Unter seiner Anleitung studierte Harnack nicht nur Kant und Schopenhauer, sondern auch die englischen Empiristen, vorrangig wohl John Stuart Mill, und erhielt erste Anregungen zur Beschäftigung mit Nietzsche. Er war der philosophische Gesprächspartner Harnacks in Dorpat108, unter dessen Anleitung die „sehr eifrig betriebenen Studien Kants u[nd] der englischen Philosophen“ den jungen Theologen „in der Erk[enntnis] der Unmöglichkeit jeder Metaphysik“ bestärkten.109 Weit auseinander gingen die Meinungen freilich über die Rolle von Religion und Christentum im menschlichen Leben. Harnack betonte trotz aller Kritik an der klassischen Lehrgestalt das kulturelle und religiöse Recht des Christentums, Bunge mochte darin nicht mehr als längst abgetane Ideen erblicken. Dieser Kritik setzte Harnack sich mit großer Intensität aus, auch wenn er sie letztlich nicht akzeptierte. Als sich die schneidende Religionskritik Bunges mit scharfen Urteilen über die Persönlichkeit Harnacks und dessen vermeintlicher Unaufrichtigkeit verband, kam es 1872/73 fast zu einem persönlichen Bruch.110 Bunges Briefe sind nicht erhalten, so daß über Einzelheiten der Auseinandersetzung sowie die konkreten Vorwürfe kaum etwas zu erfahren ist. Es scheint, daß Bunge von Harnack als Konsequenz der gemeinsamen philosophischen Studien den Abbruch des Theologiestudiums forderte, zumal auch Harnack die Fehlerhaftigkeit der klassischen Dogmatik zugegeben hatte. Bunge empfand Harnacks Weigerung als „unsiologie des Menschen), in: ChW 17 (1903), 570–571; Gustav von Bunge: Vitalismus und Mechanismus (1882), Riga 1909. 108 Neben Bunge ist noch ein Einfluß des Philosophen Gustav Teichmüller, ein Schüler Trendelenburgs, wahrscheinlich, dessen Übung über den Seelenbegriff des Aristoteles er 1871 besuchte. Teichmüller lehnte wie Baer nicht nur die Theorien Darwins ab, sondern beschäftige sich auch mit dem für Harnack so wichtigen Augustin in seiner 1874 erschienenen Arbeit „Über die Unsterblichkeit der Seele“ (Leipzig 1874), vgl. auch Hans Posselt: Die Religionsphilosophie Gustav Teichmüllers, Diss Marburg 1960. 109 Harnack an Rade am 14.9.1888, in: BwR 206f. 110 Vgl. die Briefe Harnacks an Bunge vom 30.1 und vom 13./1.2. 1873, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge (Abschriften).
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aufrichtig“ und Beleg für eine – wohl schon länger vermutete – elementare Charakterschwäche Harnacks, der sich lieber im Lager der Orthodoxie festsetze als Konsequenzen aus seinen Einsichten zu ziehen. Harnack warf demgegenüber Bunge vor, das Christentum „lediglich von intellectuellen Instanzen“ – gemeint sind die metaphysischen Lehrsysteme der Theologie – her zu beurteilen. Demgegenüber erklärte Harnack alle Metaphysik im Christentum für sekundär und warf Bunge vor, den eigentlichen Impuls des in die Geschichte getretenen Christentums, nämlich „nur auf den Willen zu wirken“, geflissentlich zu übersehen, was er auf die philosophischen Prämissen Bunges zurückführte: „Das aber erscheint Dir ganz unmöglich, dass es etwas ausser uns selbst giebt, was im Stande ist, uns zu kräftigen und aus unserm sittlichen Mangel zu befreien, weil Dir dieses selbst durchaus nicht als schlecht vorkommt“. Die Vermittlung der spezifisch religiösen, auf den Willen und die sittliche Besserung des Menschen gerichteten Erfahrung, mit anderen Erfahrungsmodi sah Harnack als seine „wissenschaftliche Lebensaufgabe“ an, so daß ihm der Vorwurf des bloßen „Festsetzens im orthodoxen Lager“ als „billige Insinuation“ erscheinen mußte.111 Zwar konnte der vollständige Bruch noch abgewendet werden, aber die „Unmittelbarkeit und Sicherheit“112 dem Freund gegenüber war damit doch dahin, so daß sich der Kontakt allmählich lockerte.113 Neben der eingehenden Beschäftigung mit der theologischen Wissenschaft markierte der Beginn des Studiums einen erheblichen Zugewinn an individueller Freiheit, gerade gegenüber dem Vater, der die Erziehung seiner Kinder nun für abgeschlossen ansah. Adolf blieb ebenso im väterlichen Haus wohnen wie seine Brüder Axel und Erich, die Mathematik bzw. Medizin studierten. Die vom Vater während der letzten Schulzeit noch mit Härte bekämpfte halbstudentische Lebensweise der drei Brüder konnte sich jetzt frei entfalten. Nicht selten begegneten die drei bei der morgendlichen Rückkehr aus der Kneipe dem Vater, der sich bereits auf dem Weg zum Kolleg an der Universität befand.114 Wichtigster Bestandteil des studentischen Lebens waren die landsmannschaftlich gegliederten studentischen Korporationen. Die Brüder Harnack traten mit Beginn des Studiums in die livländische Burschenschaft Livonia 111
Alle Zitate aus einem Brief Harnacks an Bunge vom 30.1.1873, in: aaO. Harnack an Bunge am 29./9.6. 1873, in: aaO. 113 Gleichwohl blieb Harnack sich des Werts der Freundschaft mit Bunge bewußt, dem er nach mehrjährigem Schweigen am 22./10.12.1879 schrieb: „ Ja, wenn ich nach Dorpat hinüberdenke, dann gehörst Du immer zu den Ersten, bei denen ich verweile. Ich habe Dir für mein Leben manches Gute und Bleibende zu verdanken: die Bekanntschaft und Freundschaft mit Dir ist mir immer zurückschauend als eine besondere und deutliche Stufe in meinem Dasein erschienen und es sind nicht viele ähnliche Abtheilungen in demselben. Es ist ein wirkliches Stück Leben, welches sich für mich an Dich knüpft, und kein blos vorübergegangenes: es kann mir niemals entschwinden“, in: aaO. 114 Vgl. ZH 23. 112
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ein. Die vier Burschenschaften Estonia, Curonia, Livonia und Fraternitas Rigensis beherrschten das studentische Leben, wobei die 1822 gegründete Livonia zweifellos die bedeutendste darstellte.115 Anders als etwa in der Curonia spielten Standesunterschiede kaum eine Rolle. Von den anderen Verbindungen unterschied sich die Livonia aber vor allem dadurch, daß ihre Geschicke von einem geheim gehaltenen Bruderbund bestimmt wurden, der sich aus den Kreisen der äußeren Landsmannschaft rekrutierte, aber auch vor dieser geheim gehalten wurde.116 In den 1850er Jahren hatte die Livonia ihre Blütezeit erlebt, auf die dann allerdings Jahre der Stagnation folgten, in denen der bis dahin gepflegte wissenschaftliche Ernst weitgehend verloren ging. Auch das Duellwesen nahm jetzt wieder zu, und nicht nur die Trinkfreudigkeit der Livonen gefährdete das Prestige der Livonia bei den anderen Verbindungen, die selbst keinesfalls Freunde studentischer Askese waren.117 So erklären sich die Bedenken, die der junge Harnack beim Eintritt hegte, hielt er doch „das Studium für den Hauptzweck des Studentseins“ und ließ an seiner Abscheu für alles „Unsittliche“ keinen Zweifel.118 Dabei war Harnack keineswegs prüde: Abendliche Gelage hatten bereits in der Primanerzeit den väterlichen Zorn erregt, und auch als Student konnte er einen Freund mahnen, bloß nicht die Organisation „eines kräftigen Suffs“ zu vergessen.119 Der Student fürchtete vielmehr schwere Konflikte, die er auf seine innere Verfaßtheit zurückführte, nämlich entweder zum Mitläufer zu werden und dabei den „sittlichen Maßstab“ zu verlieren, oder aber sich bestimmten Gebräuchen zu widersetzen und so des „Hochmuts“ bezichtigt zu werden.120 Harnack trat so mit seinem Zwillingsbruder Axel in die Verbindung ein und gab sich wie sein Bruder sogleich als kämpferischer Antiduellant zu erkennen.121 Rasch gewannen sie in Gustav von Bunge, Leopold von Schroeder, Wilhelm Strümpell, Burchard von Oettingen, Woldemar von Seidlitz und Wilfried Anders Gesinnungsgenossen in der Livonia, zu der 1870 auch noch Erich Harnack stieß. Diese Gruppe drängte auf „gründliches wissenschaftliches Studium und vertiefte allgemeine Bildung neben dem herkömmlichen burschikosen Leben.“122 Philosophische Lesekreise zum Stu115 Vgl. zur Livonia neben Engelhardt (Anm. 11), 418–446, der eine Gesamtdarstellung des Verbindungslebens an der Dorpater Universität gibt, auch Wittram: Generationen (Anm. 5), 180–185, sowie Schroeder: Lebenserinnerungen (Anm. 71), 64–68, Strümpell (Anm. 56), 51–56 und ZH 25–29. 116 Dazu Engelhardt, 425f. 117 AaO., 436; Wittram: Generationen (Anm. 5), 181f. 118 So ein bei ZH 24f. zitierter Brief von Ende 1868 an Stintzing. 119 Harnack an Bunge am 5.1.1873/25.12.1872, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 120 An Stintzing, in: ZH 25. 121 Zu Harnacks Zeit in der Livonia vgl. auch ZH 25–29, sowie Album DorpatoLivinorum, Dorpat 1908, 256. 122 Schroeder: Lebenserinnerungen (Anm. 71), 67.
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dium Kants und Schopenhauers wurden gebildet und mit großer Hartnäkkigkeit das Duellwesen bekämpft. Zur Durchsetzung ihrer Anliegen scheinen die Freunde auch den Geheimbund wiederbelebt zu haben.123 Harnack selbst erklomm innerhalb der Hierarchie der Livonia alle wesentlichen Ämter: Ausschußmitglied, Burschenrichter, Appellationsrichter und schließlich Senior. Daß Harnack dieses letzte Amt zum eigenem Leidwesen allerdings erst ein Semester nach seinem allseits beliebten Bruder Axel erreichte124, mag schon ein erster Hinweis auf die Umstrittenheit seiner Person innerhalb der Livonia sein. Rasch regte sich Widerstand gegen die als „Harnacksche Partei“ bezeichnete Gruppe, an deren Spitze neben den Brüdern Adolf und Axel noch Gustav von Bunge und Wilfried Anders standen, die Leopold von Schroeder als die „beiden eigentlichen Führer“ ansah.125 Anführer der Gegenpartei – meist ältere Livonen, die „die Grundlagen des Burschenlebens, das ohne Schläger und Mensur undenkbar schien“126, in Gefahr sahen – war der Historiker Hermann Baron von Bruiningk, der alsbald in den Kreisen konservativer Reformgegner um Schiemann eine gewichtige Rolle spielen sollte. Ob die Auseinandersetzungen deshalb auch als Reflex der politischen Gegensätze innerhalb der baltischen Führungsschicht zu sehen sind, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, erscheint aber möglich, ist es doch unwahrscheinlich, daß sich ausgerechnet diese Gegensätze in der Livonia, diesem „Vaterland in Konzentration“, in der „mit allen Vorzügen und allen Schatten […] der Geist und das Leben des Landes […] noch einmal gesetzt“ war127, nicht wiederfinden sollten. Harnack hat rückblickend die immense Bedeutung seiner Jahre in der Livionia für seine weitere Entwicklung hervorgehoben: „ Je älter ich geworden bin, desto deutlicher erkenne ich, was ich in der Livonia für den Kampf des Lebens, für die Fähigkeit, mit anderen Menschen umzugehen gelernt habe – die Fähigkeit, das Große groß und das Kleine klein zu nehmen, die Abschleifung des Eigensinns, die Notwendigkeit, mit Persönlichkeiten ganz verschiedener Art zusammen zu wirken, Freunde zu haben, die man liebt, und Freunde, die man nicht leiden kann.“128 Diese Worte lassen noch etwas von den Kämpfen erahnen, die sich in der Livonia abgespielt haben und von denen Harnack später auch im engsten Kreise nur äußerst selten gesprochen hat. Ganz offensichtlich waren es nicht nur die Auseinandersetzungen mit 123
Darauf jedenfalls läßt Engelhardt (Anm. 11), 436 schließen. Vgl. ZH 28. 125 Schroeder: Lebenerinnerungen (Anm. 71), 67. Die dominante Rolle Bunges betont auch Strümpell (Anm. 56), 53: Namentlich die jüngeren Mitglieder der Livonia hätten diesen „als höchste Autorität in allen Angelegenheiten ihres Studiums betrachtet.“ 126 Ebd. 127 So Harnack anläßlich des 100. Jahrestages der Gründung der Livonia 1922, in: Erinnerungsblätter (Anm. 32), 11. 128 AaO., 12. 124
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der Gruppe um von Bruiningk, die Harnack so nahe gegangen sind, sondern gerade innerhalb seines eigenen Freundeskreises. Es scheint so, als habe Harnack nicht nur den wissenschaftlichen Ernst noch vehementer als seine Freunde eingefordert, sondern auch das übliche studentische Treiben mit selbst seinen Freunden zu weit gehendem Eifer abgelehnt, sich diesem Leben aber dennoch gelegentlich hingegeben. Spott über die mangelnde Einhaltung der eigenen Prinzipien und Klagen über eine gewisse Hochnäsigkeit des Theologen waren die Folge. Hinzu kamen Vorwürfe, die mit Harnacks Studienfach zusammenhingen und auf den von ihm partiell auch zugegebenen Widerspruch „zwischen meinen theoretischen Überzeugungen und meinem Glauben einerseits und dem Thuen und Brauchen andererseits“ abzielten. Es war hier die scharfe und offenbar von einer Mehrzahl der Freunde geteilte Christentums- und Religionskritik Bunges129, die schwere persönliche Konflikte hervorgerufen hat: „Ich spreche Dir und allen denen […] das Recht ab, über einen religiösen, nicht sage ich christlichen, geschweige confessionellen Sinn zu urtheilen. […] Es kämpfen eben nicht nur Glaube und Unglaube, sondern der Glaube an die Wahrheit mit einem anderen festen Glauben. Wer aber glaubt, wie Du, mit jenem Gegner fertig werden zu können, indem man seine Anhänger im besten Fall entweder für partiell wahnsinnige, an fixen Ideen leidende oder für abgerichtete Kinder hält, über dessen Wähnen geht die Geschichte […] zur Tagesordnung über.“130 Harnacks Stellung in der Livonia war schließlich bei Abschluß seines Studiums 1872 so schwierig geworden, daß darin der Hauptgrund für den Fortgang nach Leipzig gesehen werden muß. Wachsender Druck seitens der Verbindung, fehlende Kraft, sich „dem Hochdrucke der gesellschaftlichen Zustände und Überzeugungen“ zu widersetzen, bei gleichzeitigem Bewußtsein, dazu „nach meiner Erkenntnis von Gewissens wegen verpflichtet“ zu sein und nicht zuletzt mangelnder Mut, „meine eigenen Wege zu gehen“, hat Harnack wenige Jahre später als die Belastungen jener Jahre benannt.131 Die Befürchtungen, sich zwischen angepaßtem Mitläufertum und sittlichem Hochmut zu verlieren, schienen 129 Daß diese Position von der Mehrheit der Freunde um Bunge vertreten wurde, belegt indirekt eine Äußerung Harnacks in einem Brief an Bunge vom 15. 12. 1872/5. 1. 1873. Harnack vergleicht die christliche Gesinnung der Leipziger und Dorpater Studenten und kommt zu dem Schluß, daß „das Volkstum und die Gesellschaft vielmehr nach einer christlichen Sitte sich bewegt, als bei uns. Die Eindrücke, die daraus entspringen, dass die ganze Lebenssphäre noch so viel mehr vom Christenthum durchdrungen ist, sind so bestimmte noch, dass auch in der studentischen Jugend auf dieser Seite Frivolität oder leichtfertiges Absprechen durchaus in dem Grad wie bei uns noch nicht an der Tagesordnung sind“, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 130 Alle Zitate aus einem Brief Harnacks an Gustav Bunge vom 30. 1. 1873, in: aaO. Der Brief ist bereits in Leipzig entstanden, gibt aber ein eindrückliches Bild der in Dorpat erlebten Konflikte. 131 So Harnack 1878 in einem Brief an Fanny von Anrep, zitiert nach ZH 31f.
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sich zu bestätigen. Das Verlassen der Heimat war Ausdruck der Suche nach einer neuen Position, theologisch, aber auch persönlich. Es diente der Selbstfindung und dem Identitätsgewinn und damit der Klärung von Fragen nach dem eigenen Personsein, die in ihrer Heftigkeit gerade innerhalb der Livonia aufgebrochen waren. Psychologisch gewendet kann davon gesprochen werden, daß das Verlassen der baltischen Heimat Harnack ein Moratorium bot, eine Zeit, in der Kindheit und Jugend abgeschlossen sind, „Taten und Werke aber die künftige Persönlichkeit noch nicht ausweisen.“132 Die aufbrechenden Konflikte um die eigene Identität werden zeitlich befristet aufgeschoben, indem man sich einer Sache ganz widmet, ehe man schließlich an einen Scheideweg gerät. Bei Harnack war es die in Leipzig mit außerordentlicher Intensität betriebene Versenkung in die Geschichte der Alten Kirche. Im Rückblick gewann dieser Schritt geradezu den Wert einer Lebenswende und Selbstreinigung, die als Voraussetzung einer gelungenen Existenz interpretiert wurden: „Ich habe Dorpat vor nun sechs Jahren verlassen mit dem festen Vorsatz, in mir zu reformieren, was faul war, und meinen Weg zu gehen, um die Sicherheit und Einheit zu gewinnen und zu halten, die die erste Bedingung eines wertvollen Lebens ist.“133 Nicht nur persönlich, sondern auch akademisch zeichnete sich 1872 die Notwendigkeit eines Ortswechsels ab. Im Juni hatte Harnack die das Studium abschließende Gradualprüfung mit glänzendem Erfolg abgelegt134 und damit laut der deutsch und russisch ausgefertigten „Urkunde über das Bestehen der Gradualprüfung zur Erlangung des Grads eines Candidaten der Theologie“ auch „alle Rechte und Vorzüge, die nach den im russischen Reiche geltenden Gesetzen mit diesem Grad verbunden sind, wie namentlich das Recht auf die zehnte Rangclasse bei dem Eintritt in den Civildienst“ erworben.135 Die Promotion war bereits in Aussicht genommen, doch empfahl es sich, sie an einer anderen Universität vorzunehmen. Einige Jahre in Deutschland zu verbringen, entsprach den Gepflogenheiten der baltischen Theologen. Theodosius Harnack hatte dort ebenso einige Jahre studiert wie Oettingen und Engelhardt. Die Wahl fiel – sicher im Einvernehmen mit Engelhardt und dem Vater – auf Leipzig, eine Hochburg des kon132 Vgl. zum Begriff des „psycho-sozialen Moratoriums“ Erik H. Erikson: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt am Main 1975, 43–51, 46. 133 Alle Zitate aus einem bei ZH 32f. wiedergegebenen Brief Harnacks an seine Cousine Fanny von Anrep aus dem Jahr 1878. 134 Die Prüfungsprotokolle sind abgedruckt bei Bloth: Predigt (Anm. 83), 90–92, vgl. ferner ein Testat Engelhardts vom 11./23 Dezember 1872: „In dem theologischen Gradualexamen sind dem Studiosus A. Harnack ausnahmslos die Prädikate ‚Ausgezeichnet gut‘ und ‚Sehr gut‘ ertheilt worden und namentlich in der Kirchengeschichte das Prädikat ‚Ausgezeichnet‘, in der Alttestamentlichen Exegese das Prädikat ‚Ausgezeichnet‘, in der Geschichte der Philosophie das Prädikat ‚Sehr Gut‘“, in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 35. 135 Dieses Dokument in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 33f.
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fessionellen Luthertums, weniger modern als Erlangen, aber auch nicht so orthodox wie etwa Rostock. Paßschwierigkeiten – Harnack besaß wie sein Vater nicht die russische Staatsangehörigkeit, so daß die zuständige Behörde sich weigerte, ihm einen Paß auszustellen – wurden durch Bestechung eines russischen „Vermittlers“ überwunden, der ein entsprechendes Dokument besorgte, das die erst 42 Jahre später folgende Nobilitierung des Adolf Harnack bereits vorwegnahm: Es war ausgestellt auf „den deutschen Edelmann von Harnack aus Pleskau.“136 Die Freunde aus der Livonia entließen Harnack mit der alten Sitte des „Comitat“ aus ihrer Mitte, das Harnacks Freund Strümpell anschaulich beschrieben hat: „Geführt von seinen beiden besten Freunden schritt der zu Commentierende dem langen geordneten Zuge sämtlicher ihn begleitender Landsleute voran durch die Straßen der Stadt, an dem Universitätsgebäude vorbei, unter dem Gesange des alten Studentenliedes ‚Bemooster Bursche zieh ich aus‘, und dann hinaus bis zu einem vor der Stadt gelegenen Wirtshaus, wo die Postpferde zur Weiterreise warteten. Hier wurde der letzte Abschiedstrunk gefeiert, dann bildeten alle Landsleute einen Kreis um ihren scheidenden Verbindungsbruder, der sich nun unter dem Gesange des Liedes Es naht die Abendstunde Aus unserm Freundschaftsbunde. Leb wohl, leb wohl, auf Wiedersehn! von jedem einzelnen mit Kuß und Handschlag verabschiedete.“137
Über Riga, Königsberg und Berlin erreichte Harnack im Oktober 1872 Leipzig, „den Kopf voll Pläne“ und sich danach sehnend, „mich einzuspinnen und manche Entwicklungen abbrechen zu können, die mein Gemüth und Herz bedrückten.“138
4. Die Ostseeprovinzen im weiteren Leben Harnacks „Aus Livland zurückgekehrt habe ich doch den Werth des deutschen Vaterlandes wieder zu schätzen gelernt, trotz mancher Armseligkeiten, die man gerade für das Leben des Tages in Kauf nehmen muß. Mein Herz ist wirklich getheilt zwischen dort u. hier, u. diese Theilung empfinde ich mannigfach als Hemmung in meinem Leben.“ Mit diesen Worten schilderte Harnack seinem zu dieser Zeit noch in Livland als Lehrer tätigen Bruder Otto seine ersten Eindrücke nach der Rückkehr von einem Dorpat-Aufenthalt im Sommer 1883.139 Die baltische Sozialisation hatte Harnack mit einem kulturel136
ZH 32. Strümpell (Anm. 56), 55f. 138 So Harnack im Rückblick in einem Brief an Bunge vom 20.10.1875, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 139 Harnack an Otto Harnack am 11.10./29.9.1883, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr.13. 137
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
len, aber auch einem sozialen Kapital ausgestattet, daß seinen Aufstieg in Deutschland wesentlich gefördert hat. Dieses Umstands ist Harnack sich zeitlebens bewußt gewesen, ebenso wie er die Vorgänge in seiner alten Heimat bis in die späten 1920er Jahre mit großer Aufmerksamkeit verfolgt hat, wenngleich die persönlichen Bindungen nach dem Tod des Vaters 1889 sowie der Übersiedelung aller Geschwister sowie der Stiefmutter nach Deutschland seit Mitte der 1890er Jahre lockerer wurden. Hinzu kam der theologische Konflikt mit dem Vater, aber auch den alten Dorpater Lehrern, der die Bindungen nach Dorpat erschwerte. So weilte Harnack erst drei Jahre nach seinem Weggang wieder im Herbst 1875 und dann erneut im Sommer 1876 in der alten Heimat.140 Einem Ruf nach Dorpat im gleichen Jahr kam Harnack schließlich nicht nach.141 Weitere Besuche folgten im Sommer 1878 sowie – nach der Hochzeit Harnacks – im Sommer 1880 und standen bereits ganz unter dem Eindruck der theologisch-religiösen Auseinandersetzung.142 Neben dem 1881 verstorbenen Engelhardt blieb Harnack besonders durch seine Kusine Fanny von Anrep und seinen Bruder Otto über die Zustände in Livland unterrichtet. Das galt für die theologisch-kirchlichen, aber auch die politischen Entwicklungen. Im ersteren Bereich war die Kluft bald so groß, daß Harnack nach einem erneuten Besuch 1883 eine gefährliche Beeinflussung des theologischen Nachwuchses vorgeworfen wurde143 – ein erstes Vorspiel auf den Konflikt mit dem Vater anläßlich des Erscheinens des ersten Bandes der „Dogmengeschichte“ 1886. Auch im zweiten Bereich mehrten sich in den 1880er Jahren die Sorgen Harnacks um die Zukunft seiner Heimat angesichts der sich verschärfenden Russifizierungspolitik auf der einen sowie der estnischen und lettischen Nationalbewegung auf der anderen Seite. Sah er 1882 noch keinen Anlaß zur Befürchtung, daß die „Deutschenhasser ihr Ziel erreichen“ werden144, so kritisierte er nach dem Besuch von 1883 das Verhalten vieler Deutschbalten, die sich weigerten, ihre Standesvorurteile aufzugeben und die berechtigten Forderungen der Esten und Letten anzuerkennen: „Will man heute den hohen Preis nicht zahlen, so können wir das traurige Schauspiel erleben, daß der baltische, deutsche Adel die Russen rufen wird gegen die Nationalen.“145 Ein weiterer Aufenthalt erfolgte 1885,
140 Harnack an Bunge am 20.10.1875, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge, bzw. an Ritschl am 28.10.1876, in: aaO., K. 40, Korr. Ritschl. 141 Vgl. dazu sowie zu Harnacks Distanzierung von der Theologie seiner Dorpater Lehrer das Kapitel II. 1. 142 Harnack an Ritschl am 21.10.1878 und am 3.8.1880, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 143 Vgl. ZH 69–75. 144 Harnack an Otto Harnack am 19./7.12.1882, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 145 Harnack an Otto Harnack am 19./7.9.1883, in: aaO.
4. Die Ostseeprovinzen im weiteren Leben Harnacks
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dann noch einmal im Frühjahr 1890, wenige Monate nach dem Tod des Vaters, dessen Nachricht Harnack während einer Reise in Süditalien erreichte.146 Dieser Besuch stand dann ganz unter dem Eindruck einer seit 1885 noch einmal verstärkten Russifizierungspolitik, in der 1889 – nachdem Russisch seit 1885 zur einzigen Amts- und seit 1887 auch Unterrichtssprache geworden war – schließlich die Dorpater Universität ihre Autonomie verlor. Harnack kommentierte seine Eindrücke vom mitangesehenen „Untergang meines Vaterlandes“ mit zwei Worten: „vandalische Verwüstung.“147 Offensichtlich hatte er bereits im Vorjahr kaum noch Chancen für eine gedeihliche Entwicklung in den Ostseeprovinzen gesehen, seinem Bruder Otto daher zur Übersiedelung nach Deutschland geraten und ihm eine Stelle als Redaktionsassistent der „Preußischen Jahrbücher“ seines Schwagers Hans Delbrück verschafft.148 Gleichzeitig begann Harnack seinen Einfluß bei dem für die preußischen Universitäten zuständigen Ministerialdirektor Friedrich Althoff zu nutzen, um baltische Gelehrte an deutsche Universitäten zu berufen.149 Harnack, dessen Haus in Gießen und Marburg nach Zeugnis der Tochter auch Treffpunkt zahlreicher Deutschbalten wurde150, trat nach seiner Berufung nach Berlin in Kontakt zu den dortigen Landsleuten, die sich jeden Freitagabend zu einem „Baltenabend“ im „Großen Kurfürsten“ an der Potsdamer Straße trafen. Bald gehörte er zusammen mit dem Chirurgen Ernst von Bergmann sowie dem Historiker Theodor Schiemann zu den „Koryphäen“ dieses Kreises.151 Eine Reise in die alte Heimat erfolgte indes erst wieder im Frühjahr 1902.152 Die Eindrücke dieser Reise sowie die Berichte über die Revolution in Rußland von 1905, die in Livland zu Plünderungen deutschbaltischer Besitztümer durch Esten und Letten führte, erinnerten Harnack gar an die Troerinnen des Euripides, wie er Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff schrieb: „Als ich soeben ‚Troerinn.‘ 825ff. las, sah ich meine Heimat vor mir. Buchstäblich geht dort in diesen Tagen in Flammen auf, was eine 700jährige Arbeit geschaffen hat. Soeben kommt die Nachricht, daß Schloß Allasch – Knaben-, Studentenzeit und Landleben hängt in meiner Erinnerung an diesem Ort – wie 30 andre Landsitze verbrannt ist. Die Flüchtlinge, die hierher kommen, Männer und Frauen, sind hoffnungs146
Vgl. ZH 217. Harnack an Rade am 2.4.1890, in: BwR 223. 148 Harnack an Otto Harnack am 19./7.11.1888 sowie am 28.3 und 15/3.6.1889, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 149 BwM 124. 150 ZH 111. 151 Vgl. dazu Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, 82f. 152 Erstmals seit 12 Jahren breche er nun nach Dorpat auf, so Harnack an Althoff am 13.3.1902, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 147
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
los. Wie auch die Restauration und Reaktion nach dem Greuel werden mag – für das Deutschtum ist kaum noch etwas zu erwarten.“153 Harnack beteiligte sich nun gemeinsam mit Ernst von Bergmann und Theodor Schiemann an der Organisation eines „Hilfsausschuß für die notleidenden Deutschen Rußlands,“ mit dessen Mitteln u. a. jungen Deutschbalten ein Studium in Deutschland finanziert werden sollte. Harnack gelang es, Althoff mit der Bitte, „den baltischen Studenten, die in Preußen studiren wollen, nach Kräften dieses Vorhaben zu erleichtern“, für dieses Projekt zu gewinnen.154 Der Unterstützung dieses Ausschusses galt auch ein 1906 erschienener Band über die Deutschbalten, zu dem Harnack die Einführung schrieb. Mit dieser Publikation sollten Spenden geworben als auch Vorwürfe abgewehrt werden, daß der baltische Adel eine grundlegende Germanisierungsarbeit unterlassen und damit die Katastrophe letztlich selbst heraufbeschworen habe: „Gott sei Dank! Nur im Finstern schleicht in deutschen Landen solche Rede und häuft zu dem grossen Leid noch grösseres. In seiner Gesamtheit weiss das deutsche Volk sehr wohl, dass fanatische Barbaren über die baltischen Provinzen hergefallen sind und dass es frevelhaft ist, hier von Schuld der Vergewaltigten und Gericht zu sprechen.“155 Harnack selbst bereiste nochmals im September und Oktober 1911 Livland. Zuvor hatte er im gleichfalls russischen Finnland Vorträge gehalten und sich von der angespannten innenpolitischen Lage dort überzeugen können. Als nach seinem Vortrag an der Universität von Helsingfors (Helsinki) auf dem Vorplatz das Finnland-Lied sowie „Ein feste Burg“ ertönte, marschierte russisches Militär auf.156 Seine Eindrücke von Livland waren insgesamt positiv. Viele gute Kräfte seien hier noch vorhanden, die in einem Ersatz für die verloren gegangene Universität gebündelt werden müßten. Harnack setzte damit ganz auf Kulturpolitik, um das Überleben der deutschbaltischen Minderheit zu garantieren.157 Er hat an diesem Kurs sowohl während als auch nach dem Weltkrieg festgehalten. Im Sommer 1913 weilte er aus diesem Grund noch einmal in Riga – der letzte Aufenthalt im Baltikum in Harnacks Leben –, um an den von seinem Neffen Roderich von Engelhardt organi153 Harnack an Wilamowitz-Moellendorff am 18.12.1905, in: NULB Göttingen, Cod. Ms. U. Wilamowitz 511. 154 Harnack an Althoff am 23.3.1906 auf einer zweiseitigen Denkschrift des Hilfsausschusses, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105. Althoff notierte darauf am 5.5.1908: „Herr Prof. Harnack u. Herr Prof. Schiemann fragen, was aus der Sache geworden ist. Der Hilfsausschuß sollte einmal einen Ber. veröffentlichen, wenn es noch nicht geschehen ist.“ 155 Zur Einführung, in: A. Geiser (Hg): Die deutschen Balten. Zu Hilf und Ehren eines deutschen Bruderstammes, München 1906, 2f, 2. 156 Harnack an Schmidt-Ott am 22.9.1911 aus Dorpat, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 157 Harnack an Fanny von Anrep am 18./5.10.1911 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. v. Engelhardt, Bl. 1–3.
4. Die Ostseeprovinzen im weiteren Leben Harnacks
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sierten Hochschulkursen mit einem Vortrag teilzunehmen. Harnack hatte Engelhardt nicht nur entscheidend bei der Verwirklichung dieses Vorhabens unterstützt158, sondern auch für eine hochkarätige Besetzung der Kurse gesorgt, an denen neben Harnack auch Ernst Troeltsch mitwirkte.159 Im Weltkrieg hat Harnack sich zunächst auch im Rahmen baltendeutscher Aktivitäten betätigt, dabei allerdings schon sehr früh zu bedächtigem Vorgehen geraten. Vor öffentlichen Aufrufen zur Solidarität mit den Deutschen in den Ostseeprovinzen warnte er mit dem Hinweis, das hieße, „die in Rußland lebenden Deutschen dem Messer der Russen aus[zu]liefern + die letzten Reste des Deutschtums in den baltischen Provinzen ausrotten helfen!“ Dagegen trat er für „Sammlungen in der Stille“ ein, um die bei Kriegsausbruch in Deutschland weilenden Deutschbalten mit russischer Staatsangehörigkeit zu unterstützen.160 In diesem Zusammenhang hat er mit Nachdruck einen von Otto Peterson organisierten „Baltenfonds“ unterstützt, sich dabei aber zusammen mit Peterson gleichzeitig für russische Staatsbürger orthodoxen Glaubens und ihre Betreuung durch orthodoxe Geistliche eingesetzt.161 Harnack gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Baltischen Vertrauensrates, der sich am 10. Mai 1915 in Berlin konstituierte.162 Daß er als Kriegsziel den Anschluß der Ostseeprovinzen an Deutschland durchaus für wünschenswert hielt, belegt die von der Versammlung auf seinen Vorschlag hin verabschiedete „Instruction für den Vertrauensrat“, die als sein „letztes Ziel die Wiedervereinigung dieser Provinzen mit Deutschland“ angab.163 Der Verabschiedung war allerdings eine heftige Kontroverse vorausgegangen, in der Harnack gegen den Widerstand Schiemanns dazu riet, auch den Fall in Erwägung zu ziehen, daß der Kriegsverlauf eine Angliederung der Ostseeprovinzen nicht ermöglichen sollte.164 Die Bruchlinien wurden bereits mit der im Sommer 1915 einsetzenden Kriegszieldiskussion offenbar, in der Harnack zu den Vertretern einer gemäßigten Position gehörte und daher nicht nur die vom Vorsitzenden des Vertrauensrates Otto von Veh erbetene Unterschrift unter die maßgeblich von Harnacks theologischem und kirchenpolitischem Rivalen Reinhold Seeberg unterstützte annexionistische 158 Harnack an Engelhardt am 12.2., 1.4., 17.4. und 29./16.7.1913, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. v. Engelhardt; vgl. zu den Kursen auch ZH 297f. 159 Vorträge über wissenschaftliche und kulturelle Probleme der Gegenwart aus dem Fortbildungskursus der Baltischen Literarischen Gesellschaft im Jahre 1913, Riga 1913. 160 Harnack an Carl Muth am 20.9.1914, in: BStB München, Nl. Muth, Korr. Harnack. 161 Harnack an Otto Peterson am 25. und 29.7 sowie am 31.12.1915, in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. Peterson; vgl. auch ZH 368. 162 Protokoll der Sitzung in: BA Berlin, Akten des Baltischen Vertrauensrates (R 8054), Nr. 2, Bl. 32–42. 163 AaO., Bl. 40. 164 AaO., Bl. 34f. (Harnack/Schiemann).
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I. Herkunft und Werdegang des jungen Harnack
Kriegzieleingabe verweigerte165, sondern zu den Initiatoren der für Mäßigung eintretenden Gegeneingabe gehörte. Diese Position, verbunden mit der immer größer werdenden Skepsis gegenüber einem Kriegsverlauf, der die Angliederung der Ostseeprovinzen überhaupt ermöglicht hätte, hat zu einer Art Ächtung Harnacks als Verräter der baltischen Sache bei weiten Teilen der Deutschbalten geführt. Im Baltischen Vertrauensrat, in dem seine Haltung weithin für „undeutsch“ befunden wurde166, hat Harnack seitdem nicht mehr mitgewirkt. Sein Engagement galt jetzt wieder vermehrt der kulturellen Stärkung des baltischen Deutschtums, an dessen kulturelle Leistungen er in verschiedenen Aufsätzen erinnerte. Nach der Einnahme Dorpats im Februar 1918 trat er mit Nachdruck für die Wiedererrichtung der Universität ein, wiewohl er gleichzeitig die Chancen für einen Verbleib Dorpats bei Deutschland als nur gering einschätzte.167 Die dann erfolgte Eröffnung der Universität im September 1918 begrüßte er mit einer öffentlichen Erklärung168, übte intern allerdings heftige Kritik an der estnische und lettische Interessen ignorierenden und auf völlige Angliederung an Deutschland setzenden Politik des von Wilhelm II. eingesetzten Universitätskurators Theodor Schiemann.169 Harnack hatte in einem ausführlichen Schreiben an den Kaiser vor dieser Entscheidung gewarnt, ohne sich damit durchsetzen zu können. Insofern war er auch in dieser Frage weithin isoliert. Nach dem Krieg konnte Harnack, gerade weil er stärker auf kulturpolitische Maßnahmen als auf direkte politische Beherrschung des Baltikums gesetzt hatte, die neuen politischen Verhältnisse in seiner alten Heimat erheblich leichter akzeptieren als die Mehrzahl der Deutschbalten, die die entscheidende Frage nach ihrem Verhältnis zu der estnischen und lettischen Staatsbildung „rein negativ entschieden“, während die Gegenwart doch ein „positives, friedliches Programm“ erfordere. Die Deutschbalten müßten sich damit abfinden, nicht mehr der „politisch herrschende Stand im Land zu sein.“ Das nächste Ziel für die Deutschbalten könne nur sein, daß, „wie im alten Kaiserreiche der Römer, der Lateiner regierte, aber der Grieche die ganze Kultur bestimmte.“170 Politisch war mit den Staatsgründungen von 1918 nur die Konsequenz aus einer Entwicklung gezogen worden, die Har165
Harnack an Veh am 25.6.1915, in: BA Berlin, R 8054, Nr. 35, Bl. 38. So der Dresdener Stadtrat Dr. Hopf in einem Brief an den Vertrauensrat vom 19.7.1916, in: aaO., Nr. 3, Bl. 80. 167 Die deutschen Ostseeprovinzen: Der nächste Schritt, in: PJ 172 (1918), 129–133. 168 In: Für Dorpat. Glückwünsche zur Eröffnung der Universität Dorpat. Dargebracht von den deutschen Universitäten und ehemaligen Dorpater Dozenten und Studenten, Kowno 1918, 17f. 169 Harnack an Wilhelm II. (Entwurf ) am 13. 12. 1918, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmidt-Ott. Zu Schiemanns Tätigkeit in Dorpat vgl. GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schiemann, Nr. 12. 170 Harnack an Roderich von Engelhardt am 1.2.1927, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. von Engelhardt. 166
4. Die Ostseeprovinzen im weiteren Leben Harnacks
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nack schon 1885 mit Blick auf das Verhältnis von Deutschen, Esten und Letten konstatiert hatte: „Um Privilegien, Capitulationen etc., die fast 200 Jahre alt sind, schert sich seit 1789 kein Mensch.“ Für die Zukunft der Deutschbalten sei vielmehr ein verträgliches Auskommen mit den „Nationalen“ entscheidend, die nicht zuletzt wegen des gemeinsamen Protestantismus stark von deutscher Bildung und Kultur beeinflußt seien.171 Harnacks Meinung war freilich weder in seinem deutschbaltischen Verwandtenkreis, wie ihn Roderich von Engelhardt repräsentierte, noch in den deutschbaltischen Kreisen insgesamt konsensfähig.
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Harnack an Otto Harnack am 28./16.9.1885, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2.
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
II. Vom konfessionellen Lutheraner zum undogmatischen Dogmenhistoriker: Harnack 1872–1888 1. Wendejahre: Leipzig 1872–1879 1.1. Wissenschaft und Leben eines jungen Privatdozenten Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in Leipzig schilderte Harnack seine ersten Eindrücke folgendermaßen: „Ich befinde mich hier sehr wohl und mir wachsen auf der deutschen Erde die Schwingen; wo man so viele Menschen sieht, die einem voranfliegen, oder andere, die sich aufs eifrigste zum ernsten Hochfluge rüsten, da sucht man auch, durch die ganze Strömung getrieben, sich vom Boden zu erheben und mit Anspannung aller Kräfte zu concurriren. Ich selbst lebe in einer sehr angeregten, fleißigen Gesellschaft, bin aber weit davon entfernt anzunehmen, daß hier überhaupt mehr wissenschaftlicher Ernst oder auch Bildung ist, als bei uns. Solche Exemplare, wie sie freilich bei uns noch immer ‚honorig‘ heißen, können hier nicht herumlaufen und ‚Satisfaction‘ fordern, aber im Allgemeinen ist der Gesamtzustand derselbe: wenige – natürlich sind das meine Erlebnisse – haben unter den Studenten einen wirklich wissenschaftlichen Sinn, noch wenigere wissenschaftl[iche] Bildung, da hier schwerer als in Dorpat – ich rede von Theologen –, wo noch ein wissenschaftlicher Sinn da ist, derselbe von eingreifenden u. leitenden Persönlichkeiten genährt wird.“1
Noch im Abstand mehrerer Jahrzehnte erinnerte er sich dankbar der Leipziger Jahre, in denen es „wohl noch niemals einem jungen Mann […] so glücklich ging wie mir“2. Der Vergleich mit Dorpat fiel insgesamt nicht schlecht aus, auch deshalb, weil die Zwänge der Korporation entfielen. Endlich ließ es sich ungestört von den Auseinandersetzungen innerhalb der Livonia studieren. Enttäuschend war hingegen – auch das klingt in dem zitierten Ausschnitt an – die Lehrtätigkeit der in Dorpat so gerühmten Leipziger Kollegen, insbesondere der Dogmatiker Christoph Ernst Luthardt (1825–1902) und Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888).3 Auf das völ1
Harnack an Bunge am 5.1.1873/25.12.1872, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. RANF 5, 8. 3 Vgl. zu beiden sowie zur Zusammensetzung der Leipziger Fakultät Heinrich Hermelink: Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Band II: Liberalismus und Konservativismus 1835 – 1870, Tübingen/Stuttgart 1953, 378–384. 2
1. Leipzig 1872–1879
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lige Unverständnis Harnacks stießen die besonders von Luthardt immer wieder betonten innerlutherischen Unterschiede zwischen Erlangen und Leipzig – ein Indiz für den wachsenden Abstand gegenüber der Behandlung bloß dogmatisch-lehrhafter Detailfragen innerhalb der neulutherisch-konfessionellen Theologie.4 Die Leipziger Koryphäen gaben für Harnack auch in anderer Weise ein eher abschreckendes Bild ab, das er nicht zu Unrecht auf die staatskirchlichen Verhältnisse in Deutschland zurückführte: „Rücksichten hier und Rücksichten dort, politische und kirchenpolitische Affairen stehen im Vordergrund, und der Weg, den sie einschlagen, ist in seiner Richtung durch eine Summe von Faktoren bestimmt, in denen der wirkliche Eifer um das Haus Gottes nur einer, aber nur einer ist.“5 Für Harnack offenbarte sich damit ein Vorzug des livländischen Luthertums, den er wohl zeitlebens als den größten seiner Heimat betrachtete: die aus der relativen Unabhängigkeit der lutherischen Kirche vom Staat erwachsene Freiheit von kirchenpolitischen Parteikämpfen. Damit meinte Harnack mitnichten die Abwesenheit theologischer Kämpfe – im Gegenteil, gerne ließ Harnack sich auf „einen frischen, fröhlichen und dort [in Dorpat, CN] immer offenen Krieg“ ein6 –, wohl aber die Art ihrer Austragung. Denn es bestand gar nicht erst die Versuchung, sich in der Auseinandersetzung mit einer abweichenden theologischen Auffassung der Hilfe staatlicher Behörden zu bedienen. Vor diesem besonderen baltischen Hintergrund wird man die immer wiederkehrende Ablehnung kirchenpolitischer Kämpfe bei Harnack zu verstehen haben.7 Auch als er selbst in solche gezogen wurde, hat er darauf bestanden, nicht Führer einer Partei zu sein. Der unvermeidliche Kampf der Richtungen sollte allein mit den Mitteln der Wissenschaft ausgefochten werden, wofür ein auf Dorpat gemünztes Wort gleichsam als Leitbild dienen konnte: „Regierte auch an der baltischen Universität Mars die Stunde, so war es kein Kriegsgott des Gezänkes, der Kleinlichkeiten, der Parteien, sondern ein frischer, freudiger Gott, der auf diese Weise die Wissenschaft und Wahrheit förderte.“8 4
Vgl. Harnack an Engelhardt im August 1873, zitiert nach: ZH 38f. Ebd. In deutlichem Kontrast dazu sah Harnack die Dorpater Verhältnisse: „Bei der herrschenden Verquickung von Staat, Kirche, Wissenschaft und Pastorenschulung möchte ich vor allem, da ich an Kirchenpolitik überhaupt keinen Antheil nehme, nach keiner kirchlichen oder staatlichen Richtung hin gebunden sein. Da sitze ich denn doch lieber nahe am Eismeer ohne Verwicklungen und Verlegenheiten und lasse mich dort mit Gottes Hilfe in einen frischen, fröhlichen und dort immer offenen Krieg ein, solange man mich duldet“ (Harnack an Ritschl am 19.2.1876, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl). 6 Harnack an Ritschl am 19.2.1876, in: aaO. 7 Vgl. als nur ein Beispiel die explizite Ablehnung einer solchen Position in einem Brief an Rade vom 30.8.1910, in: BwR 657–660; eine eingehende Behandlung Harnacks kirchenpolitischer Aktivitäten findet sich in Kapitel III.2. 8 RANF 5, 153f. 5
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
Die mangelnde Attraktivität des akademischen Lehrkörpers wurde aber rasch durch eine Reihe hochbegabter Promovenden und Habilitanden ausgeglichen, mit denen Harnack Freundschaft schloß. Besonders zu nennen sind der Systematische Theologe Julius Kaftan (1848–1926), die Neutestamentler Emil Schürer (1844–1910) und Oskar von Gebhardt (1844–1906) sowie der Alttestamentler Wolf Graf Baudissin (1847–1926). Zeitweise kam noch der Alttestamentler Bernhard Stade (1848–1906) hinzu. Für die theologische Entwicklung Harnacks war sicher Kaftan, zu dem er den engsten Kontakt knüpfte, am wichtigsten.9 Kaftan zwinge ihn, so Harnack gegenüber Engelhardt, seine „theologischen Anschauungen systematisch zu durchdenken und sie […] sowohl einem billigen Schematismus zu entnehmen als auch in ihre Verzweigungen zu entfalten.“10 Mit Schürer11 begegnete Harnack einem persönlichen Schüler des für die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts so bedeutsamen Richard Rothe, während Kaftan sich Mitte der 1870er Jahre Ritschl anschloß, ohne je dessen persönlicher Schüler gewesen zu sein. Baudissin war Schüler des Leipziger Lutheraners Franz Delitzsch.12 In dem acht Jahre älteren Estländer Oskar von Gebhardt gewann Harnack einen textkritisch versierten Kollegen und Freund.13 Gebhardt und Harnack organisierten bald vielbeachtete Ausgaben griechischer Kirchenväter, die maßgeblich zur ausgezeichneten Reputation des jungen Gelehrten beitrugen. 1875 erfolgte gemeinsam mit Schürer die Gründung der „Theologischen Literaturzeitung“, einem wöchentlich erscheinenden Blatt, das sich der Rezension der wichtigsten theologischen Neuerscheinungen widmete.14 Auch nach Kaftans Berufung nach Basel Ende 1873 blieb dieser äußerst aktive Kreis junger Theologen, „allen denkbaren Richtungen der Theologie angehörend und im lebendigen Verkehr täglich zum Kaffee und sonst noch häufig Meinungen und Kritik austauschend“15, in Leipzig zusammen und bildete quasi einen eigene kleine Fakultät. 9 Vgl. zu Kaftan dessen Selbstdarstellung in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Band 4, Leipzig 1928, 201–232, sowie Walter Göbell (Hg.): Kirche, Recht und Theologie in vier Jahrzehnten. Der Briefwechsel der Brüder Theodor und Julius Kaftan, 2 Bände, München 1967. 10 ZH 41. 11 Vgl. den Nachruf auf Emil Schürer, in: RANF 2, 342–344; Georg Pfleiderer: Theologie im Fachmenschenzeitalter. Eine Erinnerung an Emil Schürer, in: ThLZ 125 (2000), 3–22; vgl. ferner die zahlreichen Briefe Schürers an Harnack aus den Jahren 1888 bis 1910 (insgesamt 85 Blatt), in: Nl. Harnack, K. 42, Korr. Schürer. 12 Vgl. Erinnerungen an Wolf Grafen von Baudissin, in: RANF 5, 21–24. Briefe Baudissins an Harnack aus den Jahren 1888 bis 1925 (80 Blatt) in: aaO., K. 26, Korr. Baudissin. 13 Vgl. Harnacks Nachruf auf Gebhardt, in: RANF 2, 339–341. Zahlreiche Belege für die enge Kooperation bieten die Briefe Harnacks an Gebhardt in: SBB-PK, Sammlung Darmstaedter, 2 d 1886 (Adolf von Harnack). 14 Vgl. Gerhard Karpp: Die Theologische Literaturzeitung. Entstehung und Geschichte einer Rezensionszeitschrift (1876–1975), Köln 1978, 3–21. 15 An Bunge am 29./9.6. 1873, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge.
1. Leipzig 1872–1879
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Bereits im Mai 1873 bestand Harnack das Doktorexamen, zu Ostern 1874 folgte die Habilitation, so daß der frisch gebackene Privatdozent der Theologie zum Wintersemester 1874/75 seine erste Vorlesung aufnehmen konnte. Der ungewöhnliche Lehrerfolg, den Harnack bereits mit dieser ersten Vorlesung erzielte – 120 Hörer zur Geschichte des Gnostizismus – führte durch die mit ihr eingenommenen Kolleggelder erstmals zu einer spürbaren Entspannung seiner prekären finanziellen Situation. Unterstützung aus Dorpat gab es nicht, aber eine kleine Erbschaft half zunächst über die Runden. Doch waren die Nöte bald so groß, daß Harnack die goldene Preismedaille für seine Dorpater Marcion-Arbeit verkaufen mußte. Immerhin gelang es ihm, durch die Erteilung von Religionsunterricht an Mädchenschulen zusätzlich Geld zu verdienen.16 Insgesamt pflegte Harnack in jenen Jahren einen ausgesprochen asketischen Lebensstil, ganz der wissenschaftlichen Arbeit hingegeben. Seinem Freund Bunge schilderte er seinen Tagesablauf wie folgt: „Von 8–1 sitze ich am Schreibtisch, speise dann von 1–11/2 und gehe dann in ein bestimmtes Café, um 1/2 Stunde Zeitungen zu lesen; dann gehen wir zu Hörschelmann, mit dem ich noch immer behaglich zusammen wohne, Schürer, Gebhardt (Eston)17, Baudissin spazieren und ich setze mich um 3 Uhr wieder an meinen Schreibtisch, um ihn erst um 8 Uhr wieder zu verlassen. Häufig jedoch bin ich von 3–4 auf der Bibliothek und einmal wöchentlich kommen am Nachmittag Studenten zu mir, mit denen ich Kirchenväter lese. Um 8 Uhr trinken wir mit Hörschelmann zusammen Thé und von 9–12 Uhr ist wieder Arbeitszeit. Hin und wieder sind wir aber am Abend im Theater oder eingeladen, so dass nicht alle Abende in gleicher Weise besetzt sind.“
Die genauen text- und quellenkritischen Studien zur Geschichte des vorkonstantinischen Christentums jener Jahre, die in vielbeachtete Editionsprojekte einmündeten, galten ihm als unentbehrliche Vorarbeiten, um „in nicht allzu ferner Zeit der Sache selbst auf den Leib rücken zu können.“18 Die teilweise recht eintönige Arbeit brachte aber so manche Frustration mit sich und gab öfters Anlaß zur Klage: „Ein paar Wochen lateinische Anmerkungen geschrieben – so summt es einem um den Kopf wie lästige kleine Insecten.“19 Die zahlreichen Rezensionen der 1870er Jahre belegen zudem die überaus sorgfältige und grundlegende Vertrautheit des jungen Harnack mit 16 Vgl. zur angespannten finanziellen Situation ZH 36f., sowie zum Religionsunterricht 53f. Daß regelmäßige finanzielle Unterstützung aus der Heimat ausblieb, deutet wohl noch nicht auf einen Konflikt mit dem Vater hin. Vielmehr gehörte es zu den erzieherischen Überzeugungen Theodosius Harnacks, daß die Kinder nun selbst für ihren Unterhalt aufkommen müßten. Ferner war die finanzielle Situation in Dorpat nach dem Schlaganfall des Vaters 1872 und seiner Emeritierung 1875 wegen der ausbleibenden Kolleggelder schwieriger geworden. 17 Gebhardt war während seines Studiums Mitglied der estländischen Studentenverbindung Estonia. 18 An Bunge am 5.1.1875, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 19 An Ritschl am 19.2.1876, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl.
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der Kirchengeschichte der ersten drei Jahrhunderte und waren ein erster Wegstein hin zu einer umfassenden Gesamtsicht dieser Epoche.20
1.2. Die „kleine Leipziger Fakultät“: Harnack und die Entstehung der Schule Albrecht Ritschls Die besondere Bedeutung der Leipziger Jahre liegt nicht nur in der fachwissenschaftlichen Vertiefung der kirchenhistorischen Studien Harnacks sowie den vielfältigen Editionsvorhaben und Arbeitsprojekten, die den Grund für die spätere glänzende Karriere gelegt haben. Mindestens von gleichem Gewicht ist der Umstand, daß Harnacks theologische Anliegen und Fragestellungen sich mehr und mehr vertieften und ihnen in der Gestalt der Theologie Albrecht Ritschls eine Konzeption begegnete, die eine angemessene Bearbeitung dieser Fragen erlaubte.21 Dabei ist zu betonen, daß Harnack seine Fragen – erinnert sei an den erwähnten Brief des Oberprimaners über seine Beweggründe für das Theologiestudium – zunächst eigenständig entwickelt hat, um dann in der Theologie Ritschls gewissermaßen eine Hilfe zum eigenen Sich-selbst-verstehen zu finden. Zum besseren Verständnis der epochalen Bedeutung Ritschls für die Theologie des 19. Jahrhunderts ist ein kurzer Blick auf dessen theologiegeschichtliche Stellung zu werfen. Es lassen sich in der Zeit von 1810 bis 1870 – grob markiert durch die Hauptwirksamkeit Friedrich Schleiermachers (1768–1834) und Albrecht Ritschls (1822–1889) – drei theologische Hauptströmungen ausmachen: konfessionelle Theologie, Vermittlungstheologie und spekulative Theologie.22 Jede dieser drei Strömungen hat auf ihre 20 Vgl. beispielhaft etwa Kritische Übersicht über die kirchengeschichtlichen Arbeiten aus dem Jahr 1875, in: ZKG 1 (1876), 111–148, sowie für das folgende Jahr in: ZKG 2 (1877), 56–111. 21 Darstellungen zu Harnacks Verhältnis zu Ritschl bei Karl-Heinz Neufeld: Adolf von Harnack. Theologie als Suche nach der Kirche, Paderborn 1977, 43–65; Eginhard Peter Meijering: Theologische Urteile über die Dogmengeschichte. Ritschls Einfluß auf Harnack, Leiden 1978; beide Arbeiten werten allerdings den Briefwechsel Harnacks mit Ritschl nicht aus. 22 Dieser Überblick ist natürlich sehr schematisch. Ich folge damit der Einteilung von Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 51926, 34–58, vermeide aber den mir als zu eng erscheinenden Ausdruck „Schule.“ Die bei Kattenbusch vor allem mit Baur verbundene „liberale Theologie“ firmiert hier als „spekulative Theologie“, um die epochale Bedeutung Hegels neben Schleiermacher für die Theologie zwischen 1810 und 1870 deutlich zu machen sowie die Bandbreite dieser Strömung zu veranschaulichen. Der Begriff „liberale Theologie“ scheint mir eher angebracht für die Zeit nach 1860. Sie wäre dann gekennzeichnet durch die Verbindung von Schülern Baurs (wie Otto Pfleiderer) und Vermittlungstheologen wie Richard Rothe, wie sie vor allem im Deutschen Protestantenverein zu beobachten ist. Diese Organisation repräsentiert sowohl für Ritschl – als auch für Harnack – „liberale Theologie“ älteren Typs, von der er sich gleichermaßen absetzt wie von der konfessionellen Theologie.
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Weise bestimmte Elemente der Theologie Schleiermachers aufgenommen. Die Betonung einer wie auch immer gearteten individuellen Religiosität, ein Moment des eigenen Gotterlebens ist als dessen Erbe in diese Richtungen eingegangen, das dann durch die aufkommende Erweckungsbewegung noch einmal eigentümlich verstärkt worden ist.23 Die konfessionelle Theologie in ihren unterschiedlichen Schattierungen ist bereits im Zusammenhang der Jugendjahre Harnacks behandelt worden. Sie stellt den geistigen Hintergrund Harnacks dar, in ihr ist er groß geworden und ihr hat er sich zunächst zugehörig gefühlt. Die spekulative Theologie hat sich besonders stark an die Philosophie Hegels angelehnt. Die christliche Trinitätslehre, als Theorie der Selbstdifferenzierung des Absoluten rekonstruiert, vermag nach Hegel die These, daß Gott Geist sei, am prägnantesten zum Ausdruck zu bringen, so daß das Christentum ihretwegen als die absolute Religion zu bezeichnen ist. Für die an Hegel anschließende Theologie hatte dies zweischneidige Folgen: eine höchst artifizielle Spekulation auf der einen, ein streng konservativer Zug bei der Reformulierung des altkirchlichen Dogmas auf der anderen Seite. Bald hat auch die spekulative Theologie das Schicksal der Hegelschule geteilt und ist auseinandergebrochen. Sieht man von dem kirchlich und politisch zunehmend konservativeren Teil der Hegelianer wie Carl Daub (1765– 1836) ab, dann markieren David Friedrich Strauß (1806–1874) ebenso wie der Linkshegelianer Bruno Bauer (1809–1882) ihren Ausgang hin zu einer fundamentalen Kritik des Christentums, während Ferdinand Christian Baur (1792–1860) die konstruktiv-kritische Wendung dieser Theologie repräsentiert. Kirchenpolitisch unterdrückt, ist Baurs Tübinger Schule doch wirkmächtig geworden. So sind der Berliner Otto Pfleiderer (1839–1908) und der Jenenser Richard Lipsius (1830–1892) die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Schüler Baurs stehen zugleich für die „liberale Theologie“ jener Jahre. Die Vermittlungstheologie hat sich als die eigentliche Erbin des theologischen Denkens Schleiermachers verstanden, indem sie sich bemühte, seinen Versuch der Überbrückung des Gegensatzes von Religion und Bildung, Christentum und Kultur, Rationalismus und Supranaturalismus fortzuführen. Wie die beiden anderen Strömungen ist auch die Vermittlungstheologie in ihren Ausprägungen höchst unterschiedlich. Einige ihrer Vertreter wie Friedrich August Tholuck (1799–1877) oder der Hallenser Julius Müller (1801–1878) waren zugleich stark von der Erweckungsbewegung bestimmt; 23 Möglich wäre es, aus der Erweckungsbewegung auch eine eigentümliche Erwekkungstheologie abzuleiten, der dann Gestalten wie Tholuck oder Julius Müller zuzurechnen wären, die hier zu den Vermittlungstheologen gezählt werden. Allerdings ist der Einfluß der Erweckung wohl strömungsübergreifend. Gerade in der konfessionellen Theologie ist sie sehr wirksam geworden, wie etwa das Beispiel der Dorpater Fakultät zeigt.
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wissenschaftlich eng an Schleiermacher sich anlehnend und historischkritisch orientiert waren Gestalten wie August Twesten (1789–1876) oder Alexander Schweizer (1808–1888). Einer der wichtigsten Vertreter ist ferner Richard Rothe (1799–1867), der bereits den Übergang zum Kulturprotestantismus markiert. Rothe, der auch starke Verbindungen zur spekulativen Theologie erkennen läßt, hat maßgeblich zu einer Entschränkung des streng kirchlichen Bewußtseins beigetragen, indem er auf die Existenz eines Christentums außerhalb der Kirche in der Kultur hingewiesen hat. Seine starke Orientierung am Kulturstaatsideal Hegels prägte den von ihm 1867 ins Leben gerufenen „Deutschen Protestantenverein“, an dem sich bald auch führende Vertreter der spekulativen Theologie wie Pfleiderer beteiligt haben.24 Damit ist in wenigen Strichen die Situation bis um 1870 skizziert, mit der sich auch Harnack konfrontiert sah. Die Vermittlungstheologie hat auf Harnack keine Faszination ausgeübt. Er hielt sie für eine defizitäre „Schwebetheologie“, die „nirgends entschiedenes ‚Posto‘ fassen“ will: „Mit dem einem Bein steht sie auf dem, was man Tradition nennt und mit dem anderen beschreibt sie Kreise in der Luft.“25 Aber auch die eigene theologische Herkunft erwies sich zunehmend als problematisch, nicht nur wegen ihrer dogmatischen Erstarrung, die der Krise des Christentums nicht angemessen zu begegnen wußte, sondern auch wegen ihrer wissenschaftlichen Fruchtlosigkeit. Wissenschaftliche Produktivität zeichnete hingegen die Tübinger Schule Baurs, vertreten insbesondere durch Pfleiderer, aus. Aber ihr gegenüber teilte Harnack doch noch die Kritik, die an ihr in Dorpat geübt wurde, zumal bei ihr kein rechter Neuaufbau der zerschlagenen alten Dogmatik zu erkennen war.26 Zu groß war die Skepsis des ins historische Detail gehenden Forschers wegen ihrer Neigung zu „haltlosen Geschichtsspeculationen.“27 Im Februar 1873 teilte Harnack seinem Lehrer Engelhardt die grobe Richtung mit, die ein dogmatischer Neubau einschlagen müßte, nämlich dem System „eine solche Form zu geben, daß auch das alles wirklich zuerst behandelt wird, was das maßgebende Ursprüngliche, das Fundament ist.“ Diese Orientierung am historisch Ursprünglichen führte ihn auf das eigentliche Grunddatum des Christentum, nämlich die durch Jesus Christus geschenkte Rechtfertigung und Erlösung. Sie galt es zuerst zu entfalten, anstatt sich in Spekulationen über das Wesen Gottes, die Trinität oder die Christologie zu ergehen. Man müsse daher bemüht sein, „von Anfang an das Ge24 Vgl. zum Protestantenverein Claudia Lepp: Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der Deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfs, Gütersloh 1996. 25 Harnack an Rade am 13.11.1879, in: BwR 142. 26 Vgl. Harnacks briefliche Äußerungen gegenüber Engelhardt vom September 1873 bei ZH 63. 27 Harnack an Bunge am 24.12.1874/5.1.1875, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge.
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bäude nicht vom Abstracten zum Konkreten, sondern von der Erde zum Himmel zu bauen.“28 Mehr noch als die Dogmatik vermag es die Geschichte, einem solchen Neubau den Boden zu bereiten, denn sie leistet den unumgänglichen Rückgang auf das historisch Ursprüngliche. Damit ist die Frage nach der Person Jesu gestellt, die zunehmend ins Zentrum des Interesses rückt und die es von aller „philosophische[n] Verflüchtigung“ zu befreien gilt.29 Damit ist bereits vor der Begegnung mit der Theologie Ritschls ein Grunddatum der Überlegungen Harnacks festzuhalten, daß nämlich angesichts der fortschreitenden Krise des kirchlichen Christentums und seiner Lehrformulierungen religiöse Überzeugungen nur noch im Rückgriff auf die Historie und im Modus geschichtlicher Bildung plausibel zu machen sind. In der Konzentration der Dogmatik auf die Rechtfertigung war es denn auch begründet, daß Harnack sich 1873 noch ganz dem strengen Luthertum zurechnen konnte, wenngleich der kritische Zug nicht mehr zu übersehen war. Deutlich wird dies in einem ersten Plan für die dann allerdings erst 1875 gegründete „Theologische Literaturzeitung“, den Harnack gemeinsam mit Kaftan und Baudissin 1873 entwarf. Die neue Zeitung sollte „das feste und bestimmte Gepräge der lutherischen Theologie tragen“ und dabei sowohl die – wie immer wieder eingefordert – wissenschaftliche Leistung dieser Theologie unter Beweis stellen, als auch zur theologischen Klärung innerhalb der lutherischen Theologie beitragen, indem sie kritisch dasjenige in den Lehrbeständen aufzeigt, „was man fahren lassen muß und kann, ohne dem Glauben zu nahe zu treten oder feststehenden wissenschaftlichen Resultaten ins Gesicht zu schlagen.“30 In diese Umbruchsituation fiel 1874 das Erscheinen des dritten Bandes der „christlichen Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ aus der Feder des Göttinger Theologen Albrecht Ritschl.31 Dessen „Reich-GottesTheologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Posi28
Harnack im Februar 1873 an Engelhardt, zitiert nach ZH 57. An Engelhardt im März 1875, zitiert nach: aaO., 67. 30 So Harnack 1873 brieflich über die geplante Zeitschrift an Engelhardt, zitiert nach aaO., 58f. 31 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Band 3, Bonn 1874 (künftig: RuV); vgl. aus der Literatur Rolf Schäfer: Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems, Tübingen 1968. Die in der Theologiegeschichtsschreibung lange übersehenen stark zeitdiagnostischen Elemente des Ritschl’schen Werkes werden erschlossen bei Arnulf von Scheliha: Protestantismus und Kirche. Albrecht Ritschls ekklesiologische Interpretation von Schleiermachers Wesensformel, in: ders./Markus Schröder (Hg.): Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 78– 101; vgl. ferner Folkhart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000, 43–79. 29
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tivismus“32 stellt einen Einschnitt in der Geschichte der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts dar. In seiner doppelten Frontstellung gegen spekulative und liberale Theologie auf der einen, konfessionelle Theologie und Erweckungsbewegung auf der anderen Seite, hat Ritschl sich darin angesichts der Krise des Christentums im allgemeinen und der durch Materialismus und naturwissenschaftlichen Positivismus bedrohten personalen Individualität des Einzelnen im besonderen um einen Neueinsatz der Systematischen Theologie jenseits der überkommenen Schulbildungen bemüht. Zentralkategorie des Ritschl’schen Entwurfs ist das „Reich Gottes“, womit er Gedanken Kants und Schleiermachers über die universale Sozialisation der Menschheit bzw. die teleologische Struktur des Christentums aufnahm und mittels eines christozentrischen Offenbarungsbegriffs vertiefte. Das Reich Gottes ist überweltlich und übernatürlich.33 Mit der Stiftung der christlichen Gemeinde durch Jesus Christus ist es in die Welt getreten, ohne daß seine Abzweckung – „ein Reich erschaffener Geister in der vollkommenen geistigen Verbindung mit Gott und untereinander“34 – allerdings jemals gänzlich innerweltlich verwirklicht werden kann. Es verbürgt als religiöse Idee ethisch-religiöse Individualität, indem es „den Wert unseres geistigen Lebens innerhalb der beschränkenden Verflechtung desselben mit der Natur oder der Welt sicherstellt.“35 Trotz aller Kritik an der Philosophie Hegels – nach neuesten Forschungen dürfte sie eher den Schülern Hegels als diesem selbst gegolten haben36 – finden sich in Ritschls funktionaler Bestimmung von Religion – Religion verdeutlicht, daß „das menschliche individuelle Leben einen höheren Werth hat als die ganze Welt“37 – zentrale Motive Hegels wieder.38 Harnack hat in seiner „Dogmengeschichte“ und vor allem in 32 So der Untertitel der jetzt erschienenen Monographie von Matthias Neugebauer: Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus, Frankfurt am Main 2002. 33 Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion. Kritische Ausgabe von Cajus Fabricius, Leipzig 1924 (bietet im Haupttext die Fassung der Erstauflage von 1875), 36 (§ 8). 34 Ritschl: Unterricht § 12. 35 AaO., § 59. 36 Vgl. Arnulf von Scheliha: Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, 214–274. 37 RuV1 III, 439. 38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, 136f.: „In der christlichen Religion z. B. ist allgemeines Prinzip erstens, daß ein Geist, die Wahrheit ist, zweitens, dass die Individuen unendlichen Wert haben“, sowie ders.:Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3: Die vollendete Religion, Hamburg 1995, 153f: „Um was es zu tun ist, das ist die Subjektivität, die Gewißheit des Subjekts von der unendlichen, unsinnlichen Wesenhaftigkeit des Subjekts in sich selbst, sich unendlich wissend, sich ewig, unsterblich wissend.“ In Hegels Rechtsphilosophie ist es dieses, im Christentum vorhandene und dann vom Protestantismus zur Geltung gebrachte Prinzip der Subjektivi-
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seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums diesen Gedanken vom „unendlichen Wert der Menschenseele“ als Zentrum seiner Christentumsdeutung aufgenommen und popularisiert. Auch die von Ritschl vertretene These von der Religion als Selbstunterscheidung des Geistes von der Natur hat Harnack als Voraussetzung der im Reich Gottes als religiöser Idee sicher gestellten Individualität in den Hauptzügen rezipiert.39 Allerdings ging Harnack insofern über Ritschl hinaus, daß mehr noch als der Begriff des Geistes der der Seele zum Mittelpunkt seiner Überlegungen wurde. Erklärte Baur die Christentumsgeschichte weithin als Explikation des Geistes in der Geschichte, demgegenüber Ritschl mit diesem Schema brach und die Gemeinde als konkretisierbaren historischen Realisierungspunkt des Wirkens Jesu einführte, die damit zugleich als geschichtliche Absicherung der sich an Jesus anknüpfenden religiösen Selbstbeurteilung von Individuen fungierte40, so markierte Harnack mit dem Begriff der Seele einen deutlichen Individualisierungsschub. Insbesondere an der herausgehobenen Position, die der „unendliche Wert der Menschenseele“ im „Wesen des Christentums“ einnimmt, wird diese Überbietung Ritschls durch Harnack deutlich. Anders als in der Erstauflage der „Dogmengeschichte“ von 1886, die den Gedanken vom unendlichen Wert der Menschenseele als Zusatz zu den drei Momenten des Evangeliums Jesu – „Gottesherrschaft, Sündenvergebung und bessere Gerechtigkeit“41 – behandelt und als „Complement zur Botschaft von dem in der Liebe sich verwirklichenden Reiche Gottes“ bestimmt42, beginnt Harnack dann in den folgenden Auflagen, den religiösen Individualismus – denn eben dafür steht der unendliche Wert der Menschenseele – mit dem ReichGottes-Gedanken zu verknüpfen, und zwar so, daß das ethische Moment zunehmend vom Gottesreich losgelöst wird. In der vierten Auflage von 1909 steht der „unschätzbare Werth, den jede einzelne Menschenseele für sich besitzt, […] in innigster Verbindung mit dem Gedanken Gottes als des Herrn tät, das den Menschen vor der völligen Verzweckung durch den Staat als der institutionalisierten Gestalt des objektiven Geistes bewahren soll. 39 Vgl. Scheliha: Vorsehungsglauben (Anm. 36), 227–239. 40 Ritschls Wertschätzung der Gemeinde entspricht mithin nicht bloßem Gemeindepositivismus, sondern entspringt zwei Argumenten, nämlich einem hermeneutischen in Bezug auf die Wirkungen Jesu sowie einem religionsgeschichtlichen in Bezug auf die Anerkennung Jesu als Stifter der Gemeinde. Beide Argumente werden bezüglich des Wertes und der Bedeutung des Handelns Jesu für die Gemeinde relevant. Jesu Messianitätsbewußtsein bleibt so lange bloßer Anspruch, als es nicht durch die Adressaten in seiner Geltung verifiziert wird. Damit tritt letztlich der „Beruf Jesu“ in Abhängigkeit von der ihm nachfolgenden Gemeinde. Genau deshalb kann die Gemeinde als Anerkennungshorizont der Würde Jesu nicht übersprungen werden. 41 LDG4 1, 69. 42 LDG1 1, 53; vgl. zu dieser Akzentverschiebung und ihren Gründen jetzt auch Claus-Dieter Osthövener: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296–331, 315–317.
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und Vaters.“ 43 Der Reich-Gottes-Gedanke ist nun wie schon in der Wesensschrift, die religiösen Individualismus, Gottesherrschaft und Reichspredigt eng mit einander verknüpft hatte44, seines von Ritschl und zunächst auch von Harnack betonten ethischen Gehaltes weitgehend entkleidet und dient jetzt „lediglich als Unterstreichung des theistischen Akzents im Selbstbewußtsein des religiösen Individuums.“45 Insofern erfährt der Reich-GottesGedanke bei Harnack zunehmend eine gegenüber Ritschl deutliche Akzentverschiebung hin zum Ort des religiösen Individuums und seines frommen Selbstbewußtseins: Das Reich Gottes ist „die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen“46 und als solches ein „rein religiöses Gut.“47 Insofern wird man – bei aller Nähe des jungen Harnack zu Ritschl – feststellen müssen, daß Harnack schon sehr früh wesentlich stärker als Ritschl über die Selbstunterscheidung von Geist und Natur hinaus über den Begriff des unendlichen Werts der Menschenseele am psychologischen Ich und damit am einzelnen frommen Subjekt interessiert ist. Eben dafür steht der Begriff der „Seele“, der möglicherweise in seiner Verwendung durch Harnack auf die Begegnung mit der Philosophie Gustav Teichmüllers zurückgeht.48 Das Reich Gottes ist nach Ritschl aber nicht nur „religiöse Idee“, sondern zugleich „sittlicher Grundgedanke.“ In dieser Eigenschaft kommt ihm der Status einer regulativen Idee zu, die dem Menschen religiöse und sittliche Aktivität bei der Arbeit an der Verwirklichung des Reiches Gottes aufgibt, schließlich ist dieses auch „das gemeinschaftliche Product“ der durch die göttliche Offenbarung in Jesus Christus gestifteten Gemeinde, geht aber darin gerade nicht auf. Das Reich Gottes verbürgt zugleich Universalität, indem es die Menschheit jenseits aller sozialen und nationalen Schranken zur „gemeinschaftliche[n] Praxis der Humanität“ vereint.49 Diese universale 43
LDG4 1, 80. WdC 87–107. 45 Osthövener, 317. 46 WdC 90, vgl. auch ViL 118: „Himmelreich, das ist für Jesus die Herrschaft des lebendigen Gottes als des Vaters im Herzen.“ 47 WdC 95. Dagegen wird die Ethik, relativ losgelöst vom Reich-Gottes-Gedanken, im dritten Kreis der Verkündigung Jesu, „die bessere Gerechtigkeit oder das Gebot der Liebe“ (aaO., 101–107), entfaltet. 48 Harnack besuchte 1871 eine Übung Teichmüllers zu Aristoteles’ De anima. Teichmüller widmete dem Seelenbegriff zudem eine umfangreiche Monographie, die auf seine Dorpater Lehrveranstaltungen zurückging (Über die Unsterblichkeit der Seele, Leipzig 1874); vgl. zu Teichmüller auch Hans Posselt: Die Religionsphilosophie Gustav Teichmüllers, Diss. Marburg 1960. 49 Ritschl: Unterricht § 10; vgl. auch RuV1 III, 245: „Reich Gottes sind die an Christus Glaubenden, sofern sie ohne die Unterschiede des Geschlechtes, Standes, Volkes an einander zu beachten, gegenseitig aus Liebe handeln, und so die allen möglichen Abstufungen bis zur Gränze der menschlichen Gattung sich ausbreitende Gemeinschaft der sittlichen Gesinnung und der sittlichen Güter hervorbringen.“ 44
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Ausrichtung der Theologie Ritschls hat ihn zu einer Kritik an überzogenem Nationalismus und Patriotismus befähigt, was einer Kritik des Göttinger Gelehrten als theologischer Bismarck oder gar als Theologe des wilhelminischen Zeitalters entgegensteht, wie sie Karl Barth und vor ihm bereits Reinhold Seeberg geübt haben.50 Harnack hat eine solche Charakterisierung denn auch entschieden abgelehnt. Vielmehr seien die Religionsgeschichtliche Schule und die modern-positive Theologie Seebergs „mit der Zeit Wilhelms II. zusammenzurücken […]. Ich habe immer in der Ritschl’schen Theologie neben Anderem etwas Altpreußisches gesehen, was ja auch zur Eigenart ihres Urhebers gehörte, und spüre wohl den Geist Kants u. der Preußischen Soziologie in ihr, nicht aber den weltweiten, zugleich aber auf Facaden eingestellten Geist Wilhelm’s II. u. seines Zeitalters.“51 Neben diese Interpretation des Reiches Gottes stellte Ritschl die Rechtfertigung und Versöhnung durch Christus, vermittels derer der Mensch von der Sünde als des ihn hemmenden Schuldgefühls befreit wird, sich das Reich Gottes als göttlichen Endzweck anzueignen vermag und so zum Kind Gottes wird. Ritschl konnte in diesem Zusammenhang auch vom „Stand der christlichen Freiheit, nicht bloß der negativen Freiheit von der Schuld und der Macht der Sünde, sondern der positiven Freiheit und Herrschaft über die Welt“ sprechen.52 Im Rechtfertigungsgeschehen wird der Mensch erst befähigt, am Reich Gottes mitzuarbeiten, das aber – wie erwähnt – nicht in vollem Umfang innerweltlich verwirklicht werden kann. Ritschl hat dabei insbesondere den im Rechtfertigungsglauben fundierten Berufsgedanken Luthers vor Augen gehabt: Christlicher Glaube verwirklicht sich alltagspraktisch in verantwortlicher Bewährung. Charakteristisch für Ritschls Theologie ist, daß sie ausdrücklich an der biblischen Überlieferung sowie an Luther orientiert sein will.53 Luther galt für Ritschl als Begründer eines völlig neuen Kultur- und Frömmigkeitsideals, indem er den Glauben ganz als persönliches Gottvertrauen – als fiducia – bestimmt hat, ferner ein äußerst differenziertes Verständnis des Kirchenbegriffs eingeführt und schließlich mit dem Berufsgedanken, verstanden als alltagsorientierte Weltverantwortung, eine neue Auffassung des christlichen 50 Reinhold Seeberg: Die geistigen Strömungen im Zeitalter Wilhelms II. (1920), in: ders.: Zum Verständnis der gegenwärtigen Krisis in der europäischen Geisteskultur, Erlangen/Leipzig 1923, 1–55, 44f.; Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 41981, 598–605. 51 Harnack an Seeberg am 23.2.1920 in Reaktion auf den o. g. Vortrag, in: BA Koblenz, Nl. Seeberg, Nr. 67. 52 Ritschl: Unterricht § 54. 53 Für diese Ausführungen grundlegend Ulrich Barth: Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Beobachtungen zum Protestantismusverständnis Albrecht Ritschls, in: Martin Berger/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende, Gütersloh 1999, 80–99, v. a. 84–94.
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Ethos zur Geltung gebracht hat. Ritschls Lutherbild hat zu schweren Angriffen seitens seiner theologischen Kontrahenten geführt und ihn, wie Harnack bemerkte, zum „geschmähteste[n] Theologe[n] des Zeitalters“ gemacht.54 Ritschls Lutherinterpretation war als Grundlage eines „unkonfessionalistischen Luthertums“ (Martin Rade) ein wesentlicher Grund für die große Resonanz, die seine Theologie im Kreise junger, die Krise des Christentums sensibel wahrnehmender lutherischer Theologen fand. Das gilt für den jungen Lutheraner Harnack ebenso wie den jungen Lutheraner Martin Rade, demzufolge „Ritschl treiben und Luther kennen lernen […] ein und dasselbe“ war.55 Auch Harnack berief sich in der Auseinandersetzung um die Bedeutung der Theologie Ritschls mit dem Leipziger Lutheraner Luthardt auf das Erbe der Reformation: Es gehe um nichts geringeres als „im Namen der Reformation auf eine Revision ihrer Resultate zu dringen.“56 Ritschl hatte seine wissenschaftliche Karriere als Kirchenhistoriker begonnen.57 Mit einer Studie über die „Entstehung der altkatholischen Kirche“ war er zunächst als überzeugter Hegelianer und Anhänger Baurs hervorgetreten, hatte sich dann aber von dessen Geschichtsspekulation abgewandt, was in der Zweitauflage des besagten Buches mit einer Schärfe zum Ausdruck kam, die zum Bruch mit Baur führte.58 Es war dieser Ritschl, der auch in Dorpat rezipiert worden ist und das ausdrückliche Lob von Harnacks Vater fand.59 Besonders Harnacks Hauptlehrer Engelhardt hat sich in seiner Sichtweise des frühen Christentums eng an Ritschl angeschlossen und so seinen Schüler Harnack für Ritschl interessiert. Er war Ritschl 1851 als Student in Bonn begegnet60 und stand mit ihm spätestens nach 1870 erneut in persönlichem und brieflichem Kontakt nicht nur über kirchenhistorische, sondern auch über systematisch-theologische Fragestellungen. An dem 1870 erschienenen ersten Band von Ritschls „Rechtfertigung und Versöhnung“ – er behandelte die geschichtliche Entwicklung dieser Lehre – lobte Engelhardt besonders die Darstellung Luthers, aber auch die Kritik an den neueren Entwürfen von Baur und Dorner. Die in Ritschls Werk vorgenommene Unterscheidung der Lehre Luthers von der der lutherischen Orthodoxie 54
LDG4 3, 901. Martin Rade: Unkonfessionalistisches Luthertum, in: ZThK 45 (1937), 131–151. Das Zitat aus Martin Rade: Christliche Welt und Liberalismus, in: Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche 1 (1906/7), 169–177, 172. 56 Harnack an Luthardt am 30.3.1881, in: BwLu 35. 57 Zur Biographie ist immer noch grundlegend Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben. 2 Bände, Freiburg 1892/1896. 58 Vgl. Neugebauer (Anm. 32), 39–64. 59 So Theodosius Harnack in einem undatierten Brief (vermutlich um 1885) an seinen Sohn Adolf. Ritschls Werk über die Entstehung der altkatholischen Kirche, „das besonders gegen die Baur’sche Schule, aus der er hervorgegangen, gerichtet war“, solle ihm „unvergessen bleiben“, zitiert nach: ZH 94. 60 Ritschl: Leben. Band 1, 186. 55
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fand jedoch keine Zustimmung in Dorpat.61 Es kann als sicher gelten, daß Harnack auch dieses Werk bereits in Dorpat unter der Ägide Engelhardts studiert hat. Ihm kam zumindest anfangs eine Scharnierfunktion zwischen Harnack und Ritschl zu. Die Annäherung seines Schülers Harnack an den Göttinger hat er mit großem Interesse verfolgt und gleichzeitig engeren Kontakt zu Ritschl gesucht, bei dem er im Sommer 1874 sogar mehrere Wochen weilte und dabei möglicherweise den ersten persönlichen Kontakt Harnacks zu Ritschl vermittelte.62 Das Interesse an der Geschichte des frühen Christentums, die Übereinstimmung in der Ablehnung überzogen pietistischer Frömmigkeit sowie der Berührungspunkt in „der Entgegensetzung eines ethischen gegen einen falsch metaphysischen Gottesbegriff “ lassen sich als die wesentlichen Gründe für Engelhardts Interesse an Ritschl und das begrenzte Einverständnis beider Theologen ausmachen.63 Für Harnacks Entwicklung war die Aufgeschlossenheit Engelhardts gegenüber Ritschl ohne Zweifel von großer Wichtigkeit. Engelhardt habe, so erinnerte sich Harnack, „stets bekannt, was er in jeder Hinsicht von Ritschl gelernt hat.“ Daß Engelhardt zum Anhänger dieser Theologie geworden ist, hat er mit Recht bestritten, aber doch darauf hingewiesen, daß Engelhardt durch Ritschl in einen immer stärker werdenden Konflikt gestürzt worden sei, nämlich „den Conflict zwischen dem religiösen Glauben und der wissenschaftlichen Methode, und es war die Einsicht, daß es in unserer Zeit mit einer bloßen Repristination der alten Dogmatik nicht gethan sei.“64 61
Vgl. den Brief Engelhardts vom 2./14.12. 1871 in: Ritschl: Leben. Band 2, 95. Engelhardt zeigte sich tief beeindruckt von dieser Begegnung: „Ich habe die lebhafteste Theilnahme gewonnen für alles, was sich auf Sie und Ihr Innenleben bezieht. Selbst für den Fall, daß längeres Nachdenken und eine tiefere Erkenntnis Ihrer Denk- und Glaubensweise das Gefühl des Gegensatzes, in dem wir vielfach zueinander stehen, nährte und steigerte, würde ich nie aufhören, Ihnen für die großen Dienste dankbar zu sein, die Sie mir in meinem wissenschaftlichen Leben erwiesen haben, und zu jeder Zeit werde ich es als eine unabweisbare Pflicht ansehen, mich mit Ihren Gedanken und Lehren auseinander zu setzen. Sie haben es mir nun einmal angethan. Die Tage in Göttingen werde ich nie vergessen“ (Engelhardt an Ritschl am 28.7.1874, in: Ritschl: Leben. Band 2, 160). Ritschl äußerte sich gegenüber einem Freund gleichfalls positiv über Engelhardt. Bei ihren Gesprächen sei es ihm gelungen, „einen modus vivendi in der Art“ herzustellen, daß „die Übereinstimmung in der religiösen Ansicht alle Abweichungen über die Kirche und die technischen Mittel der Dogmatik überwog, und ich habe ihm dabei das Verständnis dafür eröffnen können, warum ich gegen diejenigen, die sich Lutheraner nennen, im Harnisch bin“ (Ritschl an Holtzmann am 8.7.1874, zitiert nach: Ritschl: Leben, Band 2, 160). 63 So Nathanael Bonwetsch: Art. Moritz von Engelhardt, in: RE 5 (1898), 374– 379, 377. 64 ThLZ 8 (1883), 90. Religiös habe Engelhardt an seinem orthodoxen Standpunkt festgehalten, als Wissenschaftler aber „die Unerbittlichkeit jener Methode“ immer mehr erkannt. 62
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Harnack war also sowohl von seinen eigenen Fragen her als auch durch die Anregungen Engelhardts auf die Begegnung mit der Theologie Ritschls vorbereitet. Die Leipziger Gespräche mit seinem Freund Kaftan und der nach dessen Weggang 1873 fortgesetzte briefliche Gedankenaustausch dienten einer weiteren systematischen Klärung. Im Kreis der Leipziger Privatdozenten Harnack, Baudissin, Schürer, Gebhardt und auch Stade war man sich einig, daß Ritschl einen bedeutenden Entwurf vorgelegt hatte. Ritschls Werk wurde in der „Kleinen Leipziger Fakultät“ eifrig studiert: „Unser Verhältnis zu Ritschl war ein ganz verschiedenes – persönlicher Schüler war keiner von uns – aber wir waren einig in der Schätzung seiner Bedeutung und Kraft, wie er sie sowohl durch sein Werk über die altkatholische Kirche als vor allem durch sein systematisches Hauptwerk bewiesen hatte.“65 In der Ablehnung der alten Dogmatik wurde Harnack zudem noch durch die praktischen Erfahrungen in Religionsunterricht und eigener Predigttätigkeit bestärkt.66 Die Ablehnung der spekulativen Geschichtsschreibung, besonders aber Ritschls Verweis auf die historische Positivität des Christentums sowie seine Zurückweisung der traditionellen Metaphysik in der Theologie, in deren Rahmen die alte Dogmatik die christliche Religion begrifflich zu explizieren versuchte, faszinierten Harnack, zumal Ritschl darüber hinaus seine Forderung eines Neubaus der Dogmatik von der lutherischen Rechtfertigungslehre her in die Tat umsetzte. In Ritschls Abkehr von der traditionellen loci-Dogmatik – also einem nach den klassischen Lehrüberlieferungen gegliederten Aufbau – wie auch in der Orientierung an der geschichtlichen Gestalt des Christentums lagen für ihn große Vorzüge des Neuansatzes Ritschls. Hinzu kam eine kritische Beschränkung des Religiösen, das nicht mehr der Erklärung des Weltganzen, sondern vielmehr der praktischen Lebensbewältigung dienen sollte.67 Religion als „die stetige Stimmung des Herzens im kindlichen Vertrauen auf Gott“ sowie „das sittliche Leben mit seinem ganzen heiligen Ernst“ als notwendiges Korrelat zur Religion waren für Harnack die „Grundgedanken des Evangeliums und der Reformation“, die Albrecht Ritschl wie kein anderer vor ihm wieder zur Geltung gebracht hatte.68 65
RANF 5, 17. Harnack predigte regelmäßig an der Leipziger Thomaskirche, vgl. ZH 54f. Diese Predigten sind im Nachlaß sämtlich erhalten, bisher aber nicht ausgewertet worden. Eine gründliche Interpretation dürfte wichtige Aufschlüsse über die Einzelheiten der theologischen Entwicklung Harnacks zwischen 1872 und 1879 geben, kann hier aber nicht geboten werden. Nicht zufällig erwähnte Harnack beim Dank für Ritschls „Unterricht“ seine eigenen Erfahrungen als Religionslehrer, vgl. Harnack an Ritschl am 23.11.1875, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 67 Vgl. Harnack an Ritschl am 6. 1. 1882, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 68 RA 2, 129–157, 151f. 66
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Den dritten, systematisch-theologisch entscheidenden Band von „Rechtfertigung und Versöhnung“ schätzte Harnack für seine theologische Entwicklung so hoch ein, daß er im Abstand von neun Jahren sogar eine zeitliche Parallelisierung von Ritschls Buch und der eigenen akademisch-theologischen Existenz vornehmen konnte: „Den 3. Band der Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre in der 2. Auflage in den Händen haltend habe ich mich alles dessen erinnert, was mir die erste Auflage für meine theologische Entwicklung gewesen ist. Am 9. Juli 1874 habe ich mich habilitiert, vom 10. Juli ist Ihre Vorrede datiert gewesen. So hat Ihr Werk, auch schon rein zeitlich, am Portale meiner theologisch-akademischen Arbeit gestanden.“69
Schon 1875 hat Ritschl seinem opus magnum einen kleinen Band mit dem Titel „Unterricht in der christlichen Religion“70 folgen lassen, der als Grundlage für den Religionsunterricht an Gymnasien konzipiert war, sich aber wegen seiner gedanklichen Dichte und Komplexität für diesen Zweck als völlig ungeeignet erwies. Dennoch war Harnack sich noch 1887 sicher, daß dieses Buch „einst in der Kirchengeschichte als ein Markstein anerkannt werden wird“, da es geradezu vorbildlich die Aufgabe einer von „der philosophisch-historischen Schulüberlieferung des Alterthums befreit[en]“ Darstellung des Christentum erfülle, ohne das spezifisch Christliche zu zerstören, sondern vielmehr evident mache, daß „die christliche Religion in evangelischer Fassung mit dem Befunde des Historikers nicht streitet.“71 Gerade dem in der Geschichte des Christentums Kundigen werde im Laufe seines Studiums „das Evangelium in einer Innerlichkeit und Hoheit entgegentreten, und ihm die Fähigkeit verleihen, die verschiedensten Formen des Denkens und der Lebensregelung zu ertragen, ohne von ihnen erdrückt zu werden. Immer wieder wird er empfinden, dass es eine Kraft ist, Gesinnung und That erweckend, die von Jesus Christus ausgegangen ist.“72 Ritschl teilte er mit, daß das Buch ihm einen „ordentlichen Ruck vorwärts“ gegeben habe.73 Seine Briefe an Engelhardt und Fanny von Anrep aus den Jahren 1874–76 belegen gleichfalls eine intensive Beschäftigung mit Ritschl, dem er 1876 anvertraute: „Ihre Dogmatik beschäftigt mich noch immer: ja sie steht im Centrum meiner eigentlich-theologischen Arbeit und die Fassung der Probleme, wie Sie sie angerathen, bildet ein Hauptthema meiner peripatetischen Unterhaltungen mit meinen Studenten. […] Sie kamen mir zur Hilfe und zeigten mir einen Weg, auf dessen Wanderung ich mich bei jedem Schritte verwundert gefragt habe […], warum ich denn diesen Weg nicht schon früher klar erkannt habe.“74 69 70 71 72 73 74
Harnack an Ritschl am 4.7.1883, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. Ritschl: Unterricht (Anm. 33). ThLZ 12 (1887), 82–86, hier 82, 83 u. 84. AaO., 85. Harnack an Ritschl am 23.11.1875, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. Harnack an Ritschl am 19.2.1876, in: aaO.
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So erfolgte 1874/75 der Anschluß an Ritschl, den er bereits im Juli 1874 kurz persönlich kennen gelernt hatte, vielleicht sogar durch die Vermittlung Engelhardts, der ja gleichfalls in diesem Monat bei Ritschl weilte. Seit November 1875 korrespondierte Harnack regelmäßig mit dem Göttinger Theologen, der sich befriedigt darüber zeigte, daß der Leipziger Privatdozent „mir ganz ergeben“ ist.75 Im April 1876 erfolgte ein erneuter, nun deutlich längerer Besuch, der das gegenseitige Einverständnis noch vertiefte.76 Die folgenden Briefe Harnacks zeigen seine lebhafte Teilnahme an der Verbreitung der Gedanken Ritschls. Rasch gehörte Harnack zusammen mit Julius Kaftan, Ferdinand Kattenbusch, Wilhelm Herrmann und Hans Hinrich Wendt zu jenem Kreis junger Privatdozenten und Professoren, die sich eng mit Ritschl verbunden fühlten – allerdings gleichzeitig auch dessen Grenzen, etwa in der exegetischen Begründung seiner Theologie, erkannten. Man kann diesen theologischen Aufbruch der zwischen 1845 und 1855 geborenen Privatdozenten ohne weiteres aus der Dynamik eines Generationenwechsels interpretieren, in dem sich der bedeutsamste Teil des theologischen Nachwuchses von den alten Schulbildungen und begrenzten Fragestellungen der Lehrergeneration emanzipierte. In den Augen Harnacks und seiner Freunde war die Theologie Ritschls nicht einfach ein mittlerer Weg zwischen Orthodoxie und liberaler bzw. spekulativer Theologie im Sinne Pfleiderers und Baurs, sondern die Überbietung der alten Schulbildungen im Geist einer wissenschaftlich und historisch exakt arbeitenden Theologie, die die wesentlichen Gehalte der christlichen Religion in der Moderne, aber nicht gegen sie, neu zur Geltung bringen wollte, ohne dabei das Christentum einfach in der modernen Kultur aufgehen zu lassen, wie es Harnack den „Kulturprotestanten“ der 1870er Jahre vorwarf. Mit diesem Überbietungsanspruch wird man auch die entschiedene Ablehnung erklären können, mit der Harnack sich über die Vertreter der Orthodoxie und der älteren liberalen Theologie äußerte. Ausgiebig kommentierte er die zunehmenden Auseinandersetzungen um Ritschls Theologie und polemisierte gegen „die Freunde Frank’s u. Dorner’s u. Pfleiderer’s und alle die kleinen u. großen GottWelt-Philosophen.“77 Mehrfach unterrichtete er Ritschl über Interna der von Luthardt herausgegebenen „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung“, einem der wichtigsten Organe der konfessionellen Ritschl-Gegner. Scharf wandte er sich zugleich gegen die Anhänger der alten liberalen Theologie. Anläßlich eines Artikels Pfleiderers – er gehörte zu den schärfsten Kritikern Ritschls auf Seiten der alten Liberalen – forderte 75 Ritschl in einem Brief vom 22.6.1876 an Ludwig Diestel, abgedruckt bei Joachim Weinhardt: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996, 300–303, 301. 76 Harnack an Ritschl am 12.4.1876, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 77 Harnack an Ritschl am 16.6.1876, in: aaO.
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Harnack etwa „eine Abfertigung directester Art“ und zeigte sich uneingeschränkt kampfbereit: „Soweit hat mich dieser Aufsatz fröhlich gestimmt; denn diese Gegensätze müssen doch einmal auf einander u. es war zu erwarten, daß schließlich sich die sog. liberale Theologie als die ‚am meisten angegriffene Parthei‘ fühlen würde. Daß sie sich aber so sehr gleich anfangs entpuppen würde als der Schlagschatten der Orthodoxie von heute, das erleichtert den Kampf und erquickt das Gemüth. Nun, die Geister werden lebendig, und ich für meine Person kämpfe lieber gegen die Wächter des neuprotestantischen Zion als gegen die von jenen geschmähten Traditionalisten – wenn’s sein muß, gegen beide.“
Einig war er sich mit Ritschl, daß es vorrangig darauf ankomme, „vom Katheder herab und im persönlichen Verkehr die neue Generation zu bilden und zu beleben.“78 Der Briefwechsel Harnack/Ritschl belegt die wichtige Rolle, die Ritschl dem jungen Harnack als seinem „lieben College[n] und Freund“ zubilligte79, darin, daß seit 1876/77 die theologischen Kämpfe um Ritschls Theorieentwurf zu einem der wichtigsten Gegenstände der Korrespondenz wurden. Harnack und Ritschl standen hier, aufs engste miteinander verbunden, auf der gleichen Seite und begannen, ihre jeweiligen Projekte miteinander abzustimmen, um die eigene Position zu untermauern. In diesem Zusammenhang ist offensichtlich auch das von Harnack seit 1877/78 avisierte Projekt einer Dogmengeschichte entstanden, das der historischen Grundlegung der neuen Theologie dienen sollte. „Allein es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen“, so Ritschl an Harnack. „Auf Gott vertrauen, Pulver trocken halten – und Lehrbücher schreiben! Fassen sie nur Ihre Absicht der Dogmengeschichte fest ins Auge.“80 Harnack erwiderte: „Das Compendium der Dogmengeschichte habe ich nicht aus den Augen verloren, wenn auch die Jahre darüber hingehen werden, bis dieser Plan realisiert werden kann. Aber ich sammle fleißig und gruppiere mir den gesammelten Stoff sofort.“81 Im Sommersemester 1877 las Harnack erstmals eine Vorlesung über „Dogmengeschichte“ und zog damit eine vorläufige Bilanz seiner kirchengeschichtlichen Studien und implizit auch seiner systematisch-theologischen Überzeugungen. Das Manuskript dieser Vorlesung ist ein eindrucksvolles Dokument des kritischen Potentials der Theologie des jungen Harnack. Es dokumentiert in den grundlegenden Passagen seinen engen Anschluß an Ritschl, enthält aber ebenso bereits im Kern die eigenständigen 78 Harnack an Ritschl am 10.6.1877, in: aaO. Vgl. zum Hintergrund Ritschl: Leben. Band 2, 301–304. 79 So die Anrede Ritschls an Harnack seit dem 12.6.1877, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 80 Ritschl an Harnack am 17.6.1878, in: aaO. 81 Harnack an Ritschl am 18.6.1878, in: aaO.
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theologischen Hauptthesen, die dann später im „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ sowie im „Wesen des Christentums“ entfaltet wurden.82 Bilanziert man Harnacks Verhältnis zu Ritschl, so müssen trotz aller Nähe auch Unterschiede und Nuancierungen hervorgehoben werden. Es sind dies erstens die stärkere Betonung des religiösen Individuums im Denken Harnacks, der mit der emphatischen Verwendung des Seelenbegriffs über Ritschls Geistbegriff ebenso hinausgeht wie er – darauf wurde bereits hingewiesen – den Reich-Gottes-Gedanken in den verschiedenen Auflagen der „Dogmengeschichte“ zwischen 1886 und 1909 und der Wesensschrift von 1900 immer mehr im Sinne der Unmittelbarkeit des individuellen Gottesverhältnisses akzentuierte und an den Seelenbegriff heranführte. Dabei ist der Begriff der Seele im Bezug auf die Geistsphäre deshalb entscheidend, weil er sowohl Individualität wie auch Innerlichkeit impliziert.83 Sodann ist zweitens auf die grundlegende Skepsis Harnacks gegenüber der traditionellen Dogmatik hinzuweisen. Diese Skepsis hat ihn in noch stärkerem Maße als Ritschl zur Hinwendung zur Historie veranlaßt. Denn Ritschls Versuch, seine Dogmatik möglichst eng an die neutestamentlichen Schriften sowie die Bekenntnisschriften anzulehnen, war in den Augen Harnacks nicht gelungen. Davon zeugte Harnacks Übereinkunft mit seinem Leipziger Kollegen und Freund Baudissin, nicht über Ritschls exegetische Grundlegung im zweiten Band von „Rechtfertigung und Versöhnung“ zu sprechen, da diese „sehr schwach war“84, ebenso wie die Bemerkung Rade gegenüber, anders als Ritschl sei er, Harnack, niemals „Biblicist“ gewesen.85 So trat nach Harnack in Ritschls Theologie „das altprotestantisch doktrinäre Element kräftig“ hervor, so daß er ihn in dieser Hinsicht auch als „letzte[n] lutherische[n] Kirchenvater“ titulieren konnte.86 Schon in Leipzig, so Harnack 1907 gegenüber Rade, habe er seine Schüler nicht nur über Ritschls „Biblizismus“ hinausführen wollen, sondern Ritschl auch dadurch zu ergänzen versucht, „daß ich den Zusammenhang der Religion mit allem Genialischen und mit der ganzen Bewegung u. Geschichte des Geistes nachzuweisen trachtete.“ 87 Nicht dogmatisch, sondern nur im Modus historischer Bildung, so Harnacks Überzeugung, lasse sich das Christentum in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart noch plausibilisieren. Gegenüber Ritschl etablierte sich Harnack mithin als Vertreter einer dezidiert histo82 Das Vorlesungsmanuskript „Christliche Dogmengeschichte“ befindet sich in: Nl. Harnack, K. 18. 83 Hinzuweisen ist allerdings darauf, daß Harnack im Zusammenhang mit der Explikation des unendlichen Wertes der Menschenseele ausdrücklich betont, daß die Religion nicht in der Innerlichkeit verharrt, sondern eine neue Sicht auf die irdischen Verhältnisse „im Licht des Ewigen“ erschließt (WdC 97). 84 RANF 5, 23. 85 Harnack an Rade am 16.4.1907, in: BwR 594f. 86 RA 2, 139. 87 Harnack an Rade am 16.4.1907, in: BwR 595.
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rischen Theologie, die damit einen anderen Typ moderner Theologie darstellt. Die Historie ist freilich nicht Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, die im Zuge der Geschichte immer wieder verformte und umgebildete Religion über sich selbst aufzuklären, indem sie die Schlichtheit und den Ernst des Evangeliums wieder zum Vorschein bringt. Erst kritische Geschichtsschreibung führt die Religion zu sich selbst: „Die Theologie muß heute die Wissenschaft sein, die die christliche Religion von der Wissenschaft befreit – aus der Paradoxie dieser Aufgabe entspringt der größte Teil der Schwierigkeiten, die sie belasten.“88 In diesem Sinn kann Harnack denn auch Bildung als „wiedergewonnene Naivität“ bezeichnen89, die mit der „volle[n] Entfaltung der Individualität“ zugleich auch die Freiheit des Individuums „gegenüber der Außenwelt“ sicher stellt90 und so „das Leben mit Ewigkeitsgehalt erfüllt.“91 In der Betrachtung der großen Persönlichkeiten in den Umbrüchen der Zeiten wird die Geschichte eben diesem Auftrag religiöser Bildung im Sinne der Schlichtheit des Evangeliums gerecht: Hier stehen neben Jesus und seinem Evangelium Luther und Augustin als der „erste moderne Mensch.“92 Harnacks lebenslange Faszination für die Gestalt Augustins ist ein eindrucksvoller Beleg für den Zusammenhang von religiöser Bildung und Geschichtsschreibung. Sie soll daher hier kurz umrissen werden. Für Harnack repräsentiert Augustin als „Reformator der Frömmigkeit“ die Rückführung der Religion auf sich selbst „in die Herzen der Einzelnen als Gabe und Aufgabe hinein“; er hielt „jeder Seele ihre Herrlichkeit und Verantwortlichkeit vor: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.“93 Zugleich aber war es Augustin, der in seiner Sakraments- und Kirchenlehre „das Lebendigste und Freieste, den Besitz Gottes, einpresste in ein gleichsam dingliches Gut, welches einer Anstalt, der Kirche, übergeben sei.“94 In dieser Doppelgesichtigkeit, Vater eines autoritätsgläubigen Vulgärkatholizismus auf der einen, Erwecker „individuelle[r] Frömmigkeit und persönliche[n] Christentum[s]“ auf der anderen Seite, repräsentiert Augustin für Harnack wohl mehr noch als Luther Religion im Sinn des Evangeliums wie auch seine Gefährdungen durch den Autoritätsglauben. Diese Doppelgesichtigkeit konnte Harnack im Zusammenhang der Kritik an Augustins Lehre von Sünde, Erbsünde und Urstand in einer Weise verdeutlichen, die einerseits seine Skepsis gegenüber einer ihre Möglichkeiten überschätzenden Dogmatik als Welterklärung markierte, die aber andererseits selbst in diesen Lehren Religion im Sinne 88 89 90 91 92 93 94
RA 2, 374. „Bildung ist wiedergewonnene Naivität. Hört! Hört!“, ebd. RA 2, 85. RA 2, 104. LDG 3, 97. LDG 3, 58. AaO., 59.
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des Evangeliums als Selbstbeurteilung des frommen Individuums zu erkennen vermochte: „Die ganze Lehrauffassung an diesem Punkte zeigt, dass die Gewissheit des Erlösten, dass er ohne Gott unselig ist und zu keinem guten Werk geschickt sei, eine Selbstbeurtheilung des Glaubens ist, die eine Grenze darstellt, niemals aber ein Princip der Betrachtung der Geschichte der Menschheit werden kann. An diesem Punkte war, eben weil die Widersprüche so ungeheure wurden, die Entwicklung der Dogmatik bei Augustin nahe daran, den colossalen Stoff, in den sie sich verwirrt hatte, abzuwerfen und sich von der Welt- und Geschichtserklärung zurückzuziehen. Aber wie Augustin auf ihn nicht verzichten wollte, so will man ihn auch heute noch nicht fahren lassen, weil man meint, dass die Bibel ihn schütze, und weil man die Demuth des Glaubens, die sich im Verzicht zeigt, Gottes Weltregierung an der Geschichte zu controliren, nicht lernen will.“95 Alle berechtigten Kritikpunkte konnten jedoch Harnack zufolge die „Größe der Erkenntnis nicht verdunkeln, dass Gott in uns Wollen und Vollbringen wirkt, dass wir nichts haben, was wir nicht empfangen haben, und dass Gott-Anhangen gut und unser Gut ist.“96 Harnack konnte deshalb mit Blick auf das hinter diesen Lehren verborgene religiöse Erleben Augustins „in jeder einzelnen bedenklichen Formulierung Augustin’s ein richtiges Moment der Selbstbeurtheilung des Christen“ erkennen, welches nur deshalb fehlerhaft ist, „weil es in die Geschichte projicirt oder zum Fundament der Construction einer ‚Geschichte‘ gemacht ist.“ Das eröffnete ihm zugleich den Weg zu einer Umformung dogmatischer Lehraussagen in Selbstauslegungen des frommen Bewußtseins: „Ist nicht die Prädestinationslehre ein Ausdruck der Bekenntnisses: Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn? liegt nicht der Lehre von der Erbsünde der Gedanke zugrunde, daß hinter allen einzelnen Sünden die Sünde als Mangel der Liebe, der Freude und des Friedens Gottes ruht? Ist sie nicht ein Ausdruck für die richtige Beobachtung, dass wir uns für alles Böse schuldig fühlen, auch dort, wo uns gezeigt wird, daß wir keine Schuld haben?“97 Daß Harnacks Bruch mit der Theologie seiner Dorpater Lehrer und der Anschluß an Ritschl um 1874/75 erfolgte, zeigen auch die Verhandlungen um einen Ruf Harnacks nach Dorpat 1875, zu dem sich die Fakultät angesichts der theologischen Entwicklung des Kirchenhistorikers erst nach eingehenden Überlegungen entschließen konnte. Harnack hat diesen Ruf nur mit schweren Bedenken und mangels Leipziger Alternativen im Dezember 1875 angenommen.98 Die Differenzen waren bei den seit Februar 1875 laufenden brieflichen Verhandlungen ebenso wie bei einem längeren Aufent95
AaO., 199. Ebd. 97 Ebd. 98 Vgl. den Dank Oettingens für Harnacks Zusage in einem Brief vom 5./17.12.1875, in: Nl. Harnack, K. 1, Bl. 40f. Weitere Einzelheiten bei Johannes Frey: Die Theologische Fakultät der Kais. Universität Dorpat-Jurjew, Reval 1905, 176, sowie in einem Brief Har96
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halt in Dorpat im Herbst 1875 deutlich geworden. Immerhin fand er bei Oettingen und besonders Engelhardt ein gewisses Verständnis für seine Beschäftigung mit der Theologie Ritschls, sah sich aber doch genötigt, sie zu warnen, „meine Heresien [sic!] nicht für Jugendsünden zu halten, wozu sie schmeichelhafter Weise geneigt sein mögen.“99 Harnack bemühte sich weiterhin um Alternativen, um den bevorstehenden Wechsel nach Dorpat zu vermeiden. Nachdem ein erwarteter Ruf nach Straßburg ausgeblieben war, gelang es der Leipziger Fakultät schließlich noch, beim Kultusministerium in Dresden ein außerordentliches Ordinariat für Harnack zu erreichen, das dieser zum 1. Juli 1876 antrat.100 Als Harnack 1876 erneut in Dorpat weilte, war die theologische Differenz so groß geworden, daß Oettingen ihm erklärte, „es sei doch besser, dass ich nicht nach Dorpat gekommen sei.“101 In Leipzig hat Harnack sich mit großem Nachdruck für die Verbreitung der Theologie Ritschls eingesetzt. Im Kreis der jungen Privatdozenten Harnack, Baudissin, Schürer und Stade herrschte weithin Einvernehmen über deren immense Bedeutung. Mit der von Schürer, Baudissin und Harnack 1875 ins Leben gerufenen „Theologischen Literaturzeitung“ wurde auch ein wissenschaftliches Organ der Ritschl nahe stehenden Theologen geschaffen – „ohne alles mit [sic!] Vorwissen u. Zuthun in meinem Fahrwasser“, wie Ritschl zufrieden feststellte.102 Harnacks besonderes Interesse galt freilich seinen Studenten. Im Wintersemester 1877/78 sammelte er einen Kreis junger Theologen in seiner kirchenhistorischen Gesellschaft um sich, mit denen er Ritschls „Unterricht“ zu studieren begann: „Für jeden Abschnitt Ihres Unterrichts habe ich einen Referenten und Correferenten eingesetzt und bezeichne diesen zugleich die betreffenden Abschnitte in Ihrer ‚Rechtfert. u. Vers.‘ […]. Zum Schlusse mache ich auf die Art der practischen Verwendung aufmerksam, da meine Studenten mich mit Fug darum gebeten haben, ich möge die Sache so einrichten, daß sie directe Anleitung für künftigen Gymnasialunterricht empfingen. […] Die ersten Paragraphen haben die Leute nicht nur interessirt, sondern, ich kann mich so ausdrücken, wahrhaft ergriffen u. über die Richtigkeit des Ausgangspunktes wurden wir alle einig.“103 Unter Harnacks Schülern benacks an Theodor Zahn vom 12.12.1875, abgedruckt bei Friedrich Hauck: Briefe Adolf Harnacks an Theodor Zahn, in: ThLZ 77 (1952), 499f. 99 Harnack an Bunge am 20.10.1875, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 100 Vgl. Kurt Nowak: Historische Einführung. Adolf von Harnack. Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996, 6, sowie zu den Straßburger Verhandlungen Harnack an Ritschl am 14.5.1876, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 101 Harnack an Ritschl am 28.10.1876, in: aaO. 102 Ritschl an Ludwig Diestel am 22.6.1876, in: Weinhardt (Anm. 75), 301. 103 Harnack an Ritschl am 15.11.1877, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl.
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
fanden sich mit Martin Rade, William Wrede, Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs, Paul Drews und Caspar René Gregory einige der dann um 1900 bedeutendsten protestantischen Theologen. Dieser Leipziger Ritschl-Kreis ist eine der Keimzellen der „Ritschl-Schule“ gewesen und hat maßgeblich zur Verbreitung dieser Theologie beigetragen. Einige seiner Schüler hat Harnack zum Studium bei Ritschl selbst in Göttingen bewegen können. „Man konnte mit ihm nicht näher in Verkehr und Gespräch kommen, ohne daß die Morgenröte von Göttingen hereinleuchtete“, beschrieb Rade seine Eindrücke vom Leipziger Harnack.104 Wöchentlich traf man sich auf Harnacks Studierstube zur Lektüre altkirchlicher Quellen sowie der neuesten Texte Ritschls, wobei stets ein Kasten Zigarren für Dozenten und Studenten bereitstand. Im Gedenken an diese Zeit, so bekannte Harnack 1927 seinem Freund Rade, sei er wieder „ein ganz junger Leipziger Dozent, dessen Leben beglückend ausgefüllt war durch seine Arbeit am Schreibtisch und durch den regsten Verkehr mit Dir und Euch, den fast gleichalterigen Studiengenossen. Ihr saht mich als Lehrer an; mir aber ward ihr liebe Kameraden. Vor uns lag, wie ein gewaltiger Ozean, das große Gebiet der alten Kirchengeschichte, eng verbunden mit der Reformationsgeschichte. Sonnenbeglänzt war dieser Ozean, und wir wussten, welches Schiff wir zu besteigen und welchen Kurs wir zu nehmen hatten. Die Sonne, welche dieses Meer beglänzte, war die evangelische Botschaft – jüngst war sie wieder von einem großen Theologen [gemeint ist Ritschl, CN] kraftvoll ans Licht gestellt worden –; das Schiff war die strenge geschichtliche Wissenschaft, der wir uns bedingungslos anvertrauten; der Kurs ging aus dem Verworrenen zum Einfachen, aus dem Mythischen zum Logos.“105
Für den jungen Rade verband sich mit dem Namen Harnack ein hoffnungsvoller Blick in eine bessere Zukunft der deutschen evangelischen Theologie. Seinem Leipziger Lehrer sagte er „eine große Zukunft“ voraus.106 Wichtig für die Leipziger Schüler war nicht allein der Historiker Harnack, sondern auch der Systematiker, d. h. der Theologe, der nicht in der Geschichte um ihrer selbst willen verharrte, sondern seine Schüler zu einer neuen Gesamtschau der christlichen Überlieferung in ihrer Relevanz für die Gegenwart zu führen vermochte. Nicht die Reproduktion von Dogmen konnte deshalb Wilhelm Bornemann als die wichtigste Frucht seines Studiums bei Harnack bezeichnen, sondern „dogmatisch zu denken, d. h. wissenschaftlich uns innerhalb des lebendigen Evangeliums zurechtzufinden
104 Rade: Luthertum (Anm. 55), 141; vgl. auch Martin Rade: Von Beck zu Ritschl. Aus Friedrich Loofs’ Studienzeit 1877ff., in: ThStKr 106 (1934/35), 469–483. 105 RANF 5, 258–261, 258f. 106 Vgl. Rades Brief an seine Eltern vom 29.10.1876, in: Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 15. Dort auch eine eindrückliche Schilderung des Leipziger Kreises um Harnack.
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und seine mannigfachen Gedankenreihen in Einheitlichkeit und Ordnung zu verstehen.“107 Die Stimmung Harnacks und seiner Schüler war – wie beschrieben – ebenso wie die der anderen überwiegend jungen Ritschl-Anhänger betont kämpferisch. Deutlich setzte man sich von alter Orthodoxie und fad erscheinendem Liberalismus ab – „es war einfach Feindschaft zwischen Göttingen und Jena“108 – in der Gewißheit, einen auf die Krise von Theologie und Kirche angemessen reagierenden, wissenschaftlichen Standards genügenden Entwurf zu vertreten, der in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart bestehen konnte. Es herrschte Aufbruchstimmung, durchaus vergleichbar mit dem Beginn der „Dialektischen Theologie“ Karl Barths Anfang der 1920er Jahre, woran kein geringerer als Martin Rade erinnert hat: „Alles Kulturchristentum lehnt Barth ab; […] In den ersten Zeiten der Ritschl’schen Theologie standen wir auch so gegen die Kulturbejahung von Biedermann, Lipsius usw. [zwei der führenden liberalen Theologen um 1875, CN], charakteristisch war für uns ein gewisser Theologendünkel, das Absprechen über die anderen Richtungen in der Theologie wie in der Religionsphilosophie.“109 Diese Parallele fußte nicht zuletzt auch auf – von Barth planmäßig verdeckten – theologischen Übereinstimmungen.110 Neben der Arbeit an der alten Kirchengeschichte, die sich neben Texteditionen besonders in einer Vielzahl von Rezensionen und Literaturberichten zur Geschichte der Alten Kirchen niederschlug, sowie der intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen theologischen Herkunft und der Theologie Ritschls läßt sich eine breitere systematisch-theologische und philosophische Beschäftigung Harnacks in Leipzig und auch in Gießen und Marburg annehmen. So hielt Harnack im Juli 1876 einen Vortrag über den „Begriff der natürlichen Religion.“111 Die Stelle, die in Dorpat Bunge als kritischem philosophischem Gesprächspartner zugekommen war, nahm nun der Philosoph Carl Göring (1841–1879) ein, nach dessen Tod Harnack bekannte: „Es ist viel mit ihm zu Grabe gegangen.“112 107
Wilhelm Bornemann: Leipzig 1877–78, in: ChW 35 (1921), 319–322, 321. So rückblickend Martin Rade: Unsre Zukunft, in: AdF Nr. 97 vom 20.8.1930, 1023–1027, 1025. Göttingen stand als Wirkungsort Ritschls für dessen Schule, Jena war Hochburg der damaligen liberalen Theologie. 109 Martin Rade: Krisis und Mission der liberalen Theologie, in: AdF Nr. 80 vom 15.6.1925, 882–884, 883. 110 Vgl. Wittekind (Anm. 31), sowie Dietrich Korsch: Art. Dialektische Theologie, in: RGG4 2 (1999), 809–815. 111 Harnack an Ritschl am 28.7.1876, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 112 Harnack an Bunge am 22./10.12.1879, in: aaO., K. 28, Korr. Bunge. Zur Rolle Carl Görings, der ihn in Leipzig in seinem rigiden Positivismus noch bestärkt habe, vgl. auch Harnack an Rade am 14.9.1888, in: BwR 207; von Carl Göring liegen u.a. vor: System der kritischen Philosophie. Theil I, Leipzig 1874; Über die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, Leipzig 1876. 108
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Wiederholt erwähnte Harnack in seiner Korrespondenz die Eindrücke einer eingehenden Beschäftigung mit Nietzsche – in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts eine absolute Seltenheit. Gegenüber Ritschl erwähnte er Nietzsches vierte „Unzeitgemäße Betrachtung“, nannte die darin vorgenommene Apotheose Wagners eine „tragische[] Spottgeburt“, gestand aber auch: „Und dabei doch andererseits, wie kläglich ist es zu sehen, welche tiefen Bedürfnisse dieser wundersame Mensch hat u. wie kläglich er sie befriedigt, zu befriedigen meint. Von der tragischen Kunst erwartet er das Heil der Welt; er sucht nach einem befreienden Gott und Herrn und klammert sich an – Wagner.“113 Einige Jahre später – nach Nietzsches Abkehr von Wagner – war Harnacks Urteil bereits wesentlich positiver. Nach der Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches“ erkundigte er sich bei Franz Overbeck: „Ist der Schluß berechtigt, daß er jetzt gesunder ist als früher?“ Zwar könne er sich Nietzsches Christentumsdeutung nicht anschließen, aber „er sagts, wie er’s meint und er hat vieles zu sagen, was Andere nicht so fein beobachtet haben und nicht so vortrefflich sagen können […].“114 1880 heißt es dann: „Auch zu Ihrem Kollegen Nietzsche bin ich ab und zu zurückgekehrt: immer denke ich gerne nach über das, was er sagt, kann mich aber doch mit den Resultaten seiner Weltbetrachtung und Ethik nicht befreunden: sie ist mir bei aller Ablehnung der Metaphysik doch zu absolut und bei aller Wertschätzung der Geschichte doch zu eng. […] Gerne würde ich hören, wie es um seine Gesundheit steht: ich bedaure es noch immer, daß es sich nie so gefügt, daß ich ihn habe sehen und für die Anregungen danken können, die ich von ihm empfangen.“115 Eine persönliche Begegnung ist in der Tat nie erfolgt, aber auch Nietzsche hat Harnacks Weg offensichtlich aufmerksam verfolgt. Dessen Ruf nach Berlin kommentierte er mit der Bemerkung, der junge Kaiser präsentiere sich damit vorteilhafter als erwartet.116 Die für einen Theologen der 1870er Jahre ungewöhnliche Auseinandersetzung mit Nietzsche belegt Harnacks wachen Blick in philosophischen Dingen. Harnacks Werk zeigt gleichfalls etliche Spuren der kritischen Auseinandersetzung – etwa seine Darstellung Jesu und seiner Verkündigung in der Wesensschrift, die auch als Kritik des Jesusbildes Schopenhauers und Nietzsches gelesen werden muß. Angenommen werden muß ferner eine Beschäftigung mit der Philosophie des für Ritschl besonders wichtigen Hermann Lotze117, sowie spätestens in der Marburger Zeit, vermittelt durch die Freundschaft 113
Harnack an Ritschl am 28.7.1876, in: aaO., K. 40, Korr. Ritschl. Harnack an Overbeck am 13.6.1878, in: ÖB Basel, Nl. Overbeck I, I, 142, Nr. 14. 115 Harnack an Overbeck am 17.7.1880, in: aaO., Nr. 15. 116 Carl A. Bernoulli/Richard Oehler (Hg.): Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck, Leipzig 1916, 433. 117 Vgl. den Briefwechsel mit Ritschl anläßlich des Todes Lotzes 1881: Ritschl an Harnack am 2.7.1881, Harnack an Ritschl am 6.7.1881,in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl; zu Lotze und Ritschl vgl. jetzt die grundlegende Studie von Neugebauer (Anm. 32). 114
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mit Wilhelm Herrmann aber wohl schon in den 1870er Jahren, mit dem dortigen Neukantianismus. Aber auch mit der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus um Wilhelm Windelband und später dann Heinrich Rickert war Harnack wohl schon früh vertraut.118 Es war der für einen vergleichsweise jungen Professor wie Harnack außergewöhnliche Lehrerfolg sowie seine beachtlichen historiographischen und editorischen Leistungen auf dem Gebiet der alten Kirchengeschichte, die ihn bald zu einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Nachwuchskräfte werden ließen. Bereits das Gutachten der Leipziger Fakultät vom Mai 1876, das für Harnacks bevorstehende Ernennung zum Extraordinarius dem Dresdner Ministerium vorgelegt wurde, bestätigte, daß der junge Privatdozent „in kurzer Zeit durch eine Anzahl erlesener Schriften, Abhandlungen und Beurtheilungen […] sich im Reiche der historischen Theologie eine in weiten Kreisen anerkannte Stellung erworben hat. Ihn charakterisiert als Schriftsteller ein glücklicher Geist Gebiete zu erwählen, die seinen Kräften entsprechen, quellenmäßige Forschung, gewandte und umfassende Benutzung der Litteratur, Schärfe und Besonnenheit des Urtheils und eine außerordentliche Arbeitskraft.“ Auch seine Vorlesungen hätten großen Erfolg gehabt: „Besondere Anerkennung aber verdient das Streben desselben, durch Leitung von wissenschaftlichen Übungen das kritische Studium der Kirchengeschichte in der Studentenwelt zu fördern.“119 So war es nur eine Frage der Zeit, bis Harnack einen Ruf auf eine ordentliche Professur erhielt. Im Dezember 1878 erging an ihn ein Ruf auf die kirchenhistorische Professur der Theologischen Fakultät in der hessischen Universitätsstadt Gießen. Das Interesse der Gießener Universität an dem erst 27jährigen Harnack war so groß, daß dieser in den Berufungsverhandlungen mit 5000 Mark ein für sein Alter ungewöhnlich hohes Jahresgehalt zugesprochen bekam – immerhin 1000 Mark mehr, als ihm ursprünglich angeboten worden waren.120
118 Briefliche Kontakte zu Rickert sind allerdings erst nach 1910 belegt, sie dokumentieren aber eine bereits auf früher zurückreichende Bekanntschaft mit dessen Werk. Harnack stellte 1914 auch einen Beitrag über die „Phänomenologie der höheren Religionen beim Ausgang der Antike“ für dessen Zeitschrift „Logos“ in Aussicht – „schon um mein Einverständniß mit dem Geiste dieser Zeitschrift zum Ausdruck zu bringen“, vgl. Harnack an Rickert am 8.6.1914, in: UB Heidelberg, Nl. Rickert, Korr. Harnack. 119 Universitätsarchiv Leipzig, Akten der Theologischen Fakultät, Nr. 73, Bl. 154f. 120 Vgl. die Zusage Harnacks an den Kurator Waschersleben vom 15.12.1878 sowie die Gehaltsbewilligung der „Grossherzoglichen academischen Administrations-Commission“ vom 17. Januar 1879, in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 63 bzw. 71; zu Harnacks Berufung nach Gießen jetzt auch Björn Biester: Adolf Harnacks Berufung an die Theologische Fakultät der Universität Gießen 1878/79, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 52 (2001), 111–132.
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2. Stationen einer Karriere: Gießen und Marburg (1879–1888) 2.1. „Der Kirchenhistoriker des Großherzogtums Hessen“ Leipzig und Gießen – größere Unterschiede zwischen zwei Städten lassen sich kaum denken: dort die stetig wachsende Großstadt mit den riesigen Neubauvierteln für die Masse der Arbeiter, in der die Universität fast den Anschein eines akademischen Fremdkörpers gewinnen konnte – hier die beschauliche Kleinstadt mit der seit 1607 bestehenden Hessischen Landesuniversität als unbestrittenem kulturellen und gesellschaftlichen Mittelpunkt.121 Das galt nicht minder für die persönlichen Lebensumstände: in Leipzig ein mit begrenzten, fast kärglichen Mitteln lebender – von den wissenschaftlichen Fähigkeiten her gewiß extraordinärer – Extraordinarius, in Gießen dagegen ein gut besoldeter ordentlicher Professor, der zwar an seinem beachtlichen Arbeitsethos festhielt, sich nun aber auch der Gründung einer eigenen Familie widmen konnte. Am 27. Dezember 1879 heiratete Harnack Amalie Thiersch, die Tochter des Mediziners Carl Thiersch und Enkeltochter des berühmten Justus von Liebig und verband sich dadurch mit einer der angesehensten akademischen Familien Deutschlands.122 Aus der Ehe gingen insgesamt sieben Kinder hervor: Anna (1881–1965), Margarete (1882–1890), die spätere Biographin und Frauenrechtlerin Agnes (1884–1950), der geistig behinderte Karl Theodosius (1886–1922), Ernst (1888–1945), der als Sozialdemokrat dem Widerstand gegen Hitler angehörte und dafür noch kurz vor Kriegsende mit dem Leben bezahlte, Elisabet (1888–1976) sowie Axel (1895–1974). Die Verhältnisse der Familie Thiersch förderten zweifellos Harnacks persönlich insgesamt entspanntes Verhältnis zum Katholizismus, schließlich war seine Schwiegermutter katholisch.123 Die Zustände an Harnacks neuer Wirkungsstätte, der Theologischen Fakultät, muteten auf den ersten Blick trostlos an. Die Fakultät war gänzlich heruntergewirtschaftet, der Lehrkörper überaltert, Studenten kaum noch vorhanden, so daß Harnack wiederholt von der Annahme des Rufes abgeraten worden war. Daß die Krise als Chance eines Neuanfangs genutzt wurde, war vorrangig das Verdienst des jungen Alttestamentlers Bernhard Stade, der 1875 nach Gießen berufen worden war.124 Stade setzte sich mit Nachdruck bei der Regierung in Darmstadt für die Erneuerung der Fakultät ein, stieß 121
Vgl. als Überblick Peter Moraw: Kleine Geschichte der Universität Gießen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Gießen 21990. 122 Vgl. Justus Thiersch: Carl Thiersch. Sein Leben, Leipzig 1922. 123 ZH 83–88. 124 Bernhard Stade: Die Reorganisation der Theologischen Fakultät zu Gießen, Thatsachen, nicht Legende, Gießen 1894; zu Stade vgl. Rudolf Smend: Bernhard Stade (1848–1906)/Theologe, in: Hans Georg Gundel/Peter Moraw/Volker Press: Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1982, 913–924.
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dabei aber auf die entschiedene Ablehnung der drei alteingesessenen Ordinarien, von denen zwei auf Betreiben Stades im Frühjahr 1878 pensioniert wurden. Stade insistierte nun darauf, junge, wissenschaftlich hervorragend ausgewiesene und zugleich in der Lehre erfahrene Theologen für die frei gewordenen Lehrstühle für Neues Testament und Systematische Theologie zu gewinnen. Dabei erinnerte er sich an zwei seiner Kollegen aus Leipziger Privatdozentenzeiten: Emil Schürer und Adolf Harnack.125 Gegen erhebliche Widerstände gelang es ihm, Schürer für Neues Testament zu gewinnen, während für Systematik der secundo loco genannte Ritschl-Schüler Kattenbusch berufen wurde. Harnack hatte bereits im Vorfeld die von Stade erwogene Möglichkeit seiner Berufung auf die systematische Professur abgelehnt, und in Konkurrenz zu Schürer bei der Besetzung der anderen vakanten Professur wollte er nicht treten.126 Als im Oktober 1878 auch noch der Kirchenhistoriker pensioniert wurde, war dann der Weg zur Berufung Harnacks frei. 1882 trat noch Johannes Gottschick als Praktischer Theologe in die Fakultät ein. Die „Reorganisation“ der Gießener Fakultät blieb nicht unumstritten, zumal insbesondere Kattenbusch, Harnack, Schürer sowie Gottschick Ritschl nahe standen und auch Leipziger Klüngel vermutet wurde. Harnack selbst sprach gelegentlich von einer „Leipziger Colonie.“127 Tatsächlich ist Gießen die erste „Pflanzstätte“ der Theologie Ritschls geworden, wie dieser mit Befriedigung feststellte.128 Kritik dagegen kam, was nochmals ein bezeichnendes Licht auf die theologischen Fronten um 1880 wirft, von Seiten der damaligen Liberalen wie Otto Pfleiderer und Friedrich Nippold, der behauptete, einziges Kriterium der Neuberufenen sei es gewesen, mit Ritschl durch dick und dünn zu gehen.129 Dennoch erwies sich das Unternehmen als durchschlagender Erfolg: Die Fakultät wuchs von 15 Studenten 1878/79 bis zu Harnacks Weggang 1886 auf 108 Studenten, ihre Lehrkräfte gehörten zudem bald zu den produktivsten und wichtigsten jüngeren Theologen der 125 Freilich legte Stade Wert auf die Feststellung, daß „ich zwar mit E. Schürer und A. Harnack während meiner Leipziger Privatdocentenzeit persönlich bekannt geworden, jedoch zu ihnen nicht in freundschaftliche Beziehungen getreten war“, Stade: Reorganisation, 48. 126 Harnack an Stade am 16. und 20.5. 1878, in: Universitätsbibliothek Gießen, Nl. Stade, Nr. 21 a (1) bzw. (2). 127 Vgl. Harnack am 23.7.1882 an Friedrich Zarncke, in: Universitätsbibliothek Leipzig, Nl. Zarncke. 128 Ritschl: Leben. Band 2 (Anm. 57), 331. 129 Vgl. Friedrich Nippold: Die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche. Ausschnitte aus der Geschichte der neuesten Theologie. Mit besonderer Rücksicht auf die jungritschl’sche Schule und die Streitigkeiten über das liturgische Bekenntnis. 1./2. Abtheilung, Braunschweig 1893; zur tendenziösen Art dieser Schrift, die vorrangig aus Verärgerung über eigene ausgebliebene Berufungen resultierte, vgl. Weinhardt (Anm. 75), 44–60; Harnack hielt es für das Beste, Nippolds Schrift, „der Vergessenheit [zu] überlassen, in die sie gleich nach ihrem Erscheinen verfallen ist“, RA 2, 349.
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
Zeit. Überaus anschaulich hat Ferdinand Kattenbusch die Arbeitsgemeinschaft und Atmosphäre der Gießener Jahre geschildert: „Nun, was trieben wir denn in jenen sieben Jahren, in denen Harnack der Gießener Fakultät angehörte und ihr in erster Linie den guten Namen erwarb, der ihr bis heute erhalten geblieben? Wir arbeiteten. Darin ist alles zusammengefaßt. Jeder von uns in seiner Weise, der eine schneller, vielseitiger fruchtbarer für die literarische Welt, der andere ruhiger, zurückhaltender. […] Wir arbeiteten damals alles, was wir für unsere Kollegien oder zum Zwecke der Veröffentlichung vornahmen, in stetigem Austausch. Wir hatten oder gönnten uns noch Zeit zu reichlichen Unterhaltungen auf Spaziergängen oder daheim in den Studierstuben. Ein Disputar ersten Ranges, nicht streitsüchtig, aber streitfroh, war Gottschick; er führte stets seine Streitkeule zur Erschlagung etwaiger Gegner seiner wissenschaftlichen Aufstellungen mit sich. Harnack stritt nicht so sehr, sondern wußte ‚wohlzutun und mitzuteilen‘, ohne magistermäßig beschwerlich zu werden. ‚Vater Schürer‘ (er war schon 34 Jahre alt, als er nach Gießen kam, und sah auf uns ‚Junge‘ mit einem Wohlwollen, das sich ‚viel gefallen ließ‘, herunter) war anerkannter arbiter, nicht zwar elegantiarum, aber disputationum. Harnack behandelte ihn als eine Art Versuchskaninchen: seine neuesten ‚Einfälle‘ trug er ihm vorsichtshalber erst mal vor, und wenn Schürer dann wohl in bayrischer Höflichkeit das Diktum tat: ‚Harnack, blamier dich nicht‘, so nahm Freund Harnack das nicht übel, sondern erwog es ernstlich.“130
Harnack hat die Gießener Zeit ebenso wie die Jahre in Leipzig zu intensiver Quellenarbeit in der alten Kirchengeschichte genutzt. Den Umstand, „der Kirchenhistoriker des Großherzogtums Hessen“ zu sein131 und damit die gesamte Kirchengeschichte vertreten zu müssen, hat er als Herausforderung empfunden und gerne angenommen. Hinzu traten die Beziehungen zur Regierung in Darmstadt, für die Harnack innerhalb der Fakultät bald zuständig war, sowie die Mitwirkung an den von ihm angeregten Pastoralkonferenzen der Landeskirche. Auch für die Belange der Inneren Mission zeigte Harnack wie schon in Leipzig reges Interesse.132 In Hessen hat Harnack auf eine Weise auf die Ausbildung junger Theologen und die Weiterbildung amtierender Pfarrer in der Kirche gewirkt, wie sie ihm später in Preußen wegen seiner umstrittenen Theologie versagt bleiben sollte. Da jeder Theologe des Großherzogtums Hessen-Darmstadt in Gießen das Examen ablegen mußte, kannte er bald eine Vielzahl der Geistlichen der Landeskirche persönlich. Harnack hat sich dem für die praktische Ausbildung der hessischen Theologen zuständigen kirchlichen Predigerseminar in Friedberg so eng verbunden gefühlt, daß er den 1890 erschienen dritten Band der „Dogmengeschichte“ sowohl der Gießener Fakultät als auch dem 130 Ferdinand Kattenbusch: Mit Harnack in Gießen, in: Kartell-Zeitung 31 (1921), 75f., 76; dort auch die genannten Zahlen. 131 So Harnack in einem Brief an Engelhardt vom November 1878, zitiert nach: ZH 80. 132 AaO., 106.
2. Gießen und Marburg (1879–1888)
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erwähnten Predigerseminar „in treuer Erinnerung an die gemeinsame Arbeit“ gewidmet hat.133 Unter den Studenten hatte der junge Professor rasch einen ausgezeichneten Ruf, wenn er auch zunächst die alten Leipziger Studenten und Freunde um Rade und Loofs vermißte, mit denen er in Leipzig gemeinsam die jungen Semester „bearbeitet“ hatte: „Das docendo discimus gilt für mich im vollsten Sinne; […] Das war das Beneidenswerthe meiner Leipziger Lage, daß ich immer eine ältere Generation hatte, die mit mir zusammen an Jüngeren arbeitete.“134 Aber auch das stellte sich bald ein. Besonders in Gustav Krüger fand Harnack einen eifrigen Schüler, „an dem er seine damals noch gärenden Gedanken über die alte Kirchen- und Dogmengeschichte auszuprobieren suchte […].“135 Der Ruf des aufsteigenden Kirchenhistorikers zog auch bald Ausländer an die Hessische Landesuniversität, darunter besonders Amerikaner. Harnack hat zahlreiche der damals geknüpften Kontakte bis an sein Lebensende weitergepflegt. Sein hoher Bekanntheitsgrad in den Vereinigten Staaten verdankte sich nicht zuletzt diesen amerikanischen Schülern. 1881 erhielt er erstmals eine Einladung zu Gastvorträgen an die Harvard-Universität, die er nach reiflichem Nachdenken jedoch zunächst absagte.136 1885 erging an ihn ein außerordentlich ehrenvoller Ruf an diese berühmte Universität, den er gleichfalls ausschlug, winkte doch bereits die Möglichkeit der Berufung an eine größere preußische Universität. Immerhin hat er die Annahme aber doch ernsthaft erwogen, da er die Befürchtung hegte, „an der Freiheit der Forschung durch protestantischen Bekenntniszwang in Zukunft gehindert zu sein.“137 Für Hessen bestand diese Gefahr jedoch nicht, allerdings war sie in Blick auf die Zukunft nicht von der Hand zu weisen, wie die Wirren um die Berliner Berufung sowie der Apostolikumstreit von 1892/93 noch zeigen sollten.
2.2. Die Überwindung der Tradition: Harnacks Dogmengeschichte Hatte Harnack in Leipzig zunächst noch im Ruf gestanden, ein Anhänger der alten konfessionellen Theologie zu sein138, der mit seinen altkirchlichen Arbeiten letztlich der Stärkung dieser Richtung diente – wie etwa Engel133
LDG 3, V. Harnack an Rade am 28.5.1879, in: BwR 135. 135 Gustav Krüger: Ein Freundesgruss zum Abschluss, in: Theologische Fakultät der Universität Basel (Hg.): Vom Wesen und Wandel der Kirche. Zum siebzigsten Geburtstag von Eberhard Vischer, Basel 1935, 377–381, 378. 136 Harnack an Overbeck am 17. 7. 1880, in: ÖB Basel, Nl. Overbeck, I, I, 142, Nr. 15. 137 Vgl. ZH 106f. Dort auch das Zitat aus einem Brief seines Schwiegervaters Carl Thiersch an Harnack. 138 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Gutachten der Berliner Theologischen Fakultät vom 7. 6. 1877, in dem beim Ministerium die Einrichtung einer außerordentlichen Professur für Kirchengeschichte beantragt wurde, die mit Harnack be134
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hardt hoffte –, so änderte sich diese öffentliche Wahrnehmung spätestens mit Harnacks Engagement in Gießen. Denn als nicht nur die Liberalen, sondern auch die Häupter des konfessionellen Luthertums Ende der 1870er Jahre gegen Ritschl Stellung bezogen – letztere hatten sich wegen Ritschls dezidierter Bezugnahme auf Luther sowie seiner Kritik an Baur zunächst zurückgehalten139 – trat auch für eine breitere Öffentlichkeit zu Tage, daß Harnack zu den jungen Theologen um Ritschl zählte, ja sogar als Autorität der Ritschlianer in historicis gelten mußte. Die Auseinandersetzung um die Gießener Fakultät tat ein übriges, auch wenn Harnack beispielsweise bei Luthardt wiederholt um Verständnis für die Theologie Ritschls geworben hat.140 Die Trennung war dennoch von Dauer. Die „pietistische Orthodoxie“, so bekannte Harnack Mitte 1881, habe ihm „ – von ihrem Standpunkt mit Recht – die Thür gewiesen.“141 Ein längerer Aufenthalt in Dorpat im Sommer 1883 führte Harnack erneut den tiefen Graben vor Augen, der ihn inzwischen von der Theologie seiner baltischen Lehrer trennte. Der verständnisvolle Engelhardt war bereits 1881 gestorben, so daß nur noch Alexander von Oettingen und der Vater Theodosius blieben. Letzterer war seit einem Schlaganfall 1875 körperlich stark beeinträchtigt, verfolgte die Entwicklung seines Sohnes aber mit größter Sorge – davon wird noch zu reden sein. Während des erwähnten Besuches hatte Harnack zahlreiche theologische Gespräche mit Verwandten und auch Studenten geführt. Sein offenes Urteil über die alte Dogmatik, die es in wesentlichen Teilen zu überwinden galt, um das Wesen der christlichen Religion wieder voll zur Geltung zu bringen, handelte ihm sogar den Vorwurf ein, zersetzend auf die religiöse Einstellung seiner Gesprächspartner zu wirken.142 Harnack nutzte zunehmend die „Theologische Literaturzeitung“ als ein Forum nicht allein für kirchenhistorische Rezensionen, sondern auch für gezielte theologiepolitische Attacken. Bestes Beispiel sind seine Rezensionen der Arbeiten des Leipziger Lutheraners Hugo Johann Bestmann. Harsetzt werden sollte. Das vom Dekan Otto Pfleiderer, also einem liberalen Theologen aus der Schule Baurs, unterzeichnete Gutachten charakterisierte Harnack als einen „in den Quellen wohl bewanderten und scharfsinnigen Forscher […], der überdieß durch ein, soviel wir wissen, bedeutendes Lehrtalent die studierende Jugend anzuziehen versteht.“ Sodann wird der theologische Standpunkt Harnacks wie folgt bestimmt: „Ist er auch in der Schule der Leipziger Theologie gebildet worden, so hat er sich doch ohne Zweifel dem dort herrschenden exklusiven Confessionalismus gegenüber eine selbständige Stellung gewahrt“, in: GStA-PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sect. 2, Tit. IV, Nr. 44, Bd. III, Bl. 122–124, 124. Der Antrag wurde abschlägig entschieden. 139 Vgl. die Darstellung bei Ritschl: Leben. Band 2 (Anm. 57), 297–315. 140 In diesem Zusammenhang aufschlußreich BwLu 5–39. 141 Harnack an Bunge am 28.6.1881, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 142 Vgl. ZH 69–75; dort auch eine eindrückliche briefliche Reaktion Harnacks darauf.
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nacks Besprechung der von Bestmann zwischen 1880 und 1885 publizierten „Geschichte der christlichen Sitte“143 fiel vernichtend aus.144 Friedrich Loofs gegenüber sprach er davon, genug davon zu haben, „diese Einfälle und Nullitäten zu behandeln.“145 Im Rückblick gestand er seinem Schüler Gustav Krüger, es sei in Sachen Bestmann darum gegangen, „das Recht und Ansehen einer theolog. Geschichtsschreibung, die nicht Tübingisch war, in foro Germaniae zu begründen und durchzusetzen […]. Kam nun so ein leichtfertiger, übermüthiger und dabei hochbegabter Geselle, wie dieser Bestmann, in die Arena, so war es die erste Pflicht, ihn hinauszuwerfen, und wäre das nicht so gründlich besorgt worden, so säße er jetzt wahrscheinlich mit einer Schar verfuselter Jünger auf einem hohen kirchenhistor. Lehrstuhl.“146 Wie eng inzwischen der Zusammenhalt Harnacks mit Ritschl war, belegt der erhaltene Briefwechsel. Regelmäßig wurde das „Wachsthum der Feindseligkeiten, die sich allem Augenscheine nach auch in Zukunft noch steigern werden“147, konstatiert und literarische oder sonstige Gegenmaßnahmen besprochen. Die Neuerscheinungen von Theologen, die Ritschl nahe standen, – also etwa Kaftan, Kattenbusch und Herrmann – wurden gleichfalls behandelt.148 Wichtigster Gegenstand der Korrespondenz war zweifellos der Austausch über die eigenen historischen Arbeiten. Ritschl berichtete von seiner Arbeit an der „Geschichte des Pietismus“, Harnack über den Fortgang der „Dogmengeschichte.“ Daß beide Projekte auch der Bewältigung der theologischen Gegenwartsprobleme und natürlich der historischen Fundierung des eigenen Entwurfs dienen sollten – oder genauer: der Überwindung der als fehlerhaft und nicht mehr gegenwartstauglich eingeschätzten Theologiekonzepte der Kontrahenten –, stand für beide außer Frage. Ihre Projekte ergänzten sich geradezu: Harnacks „Dogmengeschichte“ räumte gleichsam die dogmatischen Trümmer der Vergangenheit bei Seite, Ritschls „Geschichte des Pietismus“ kennzeichnete scharf die bereits während der Reformation einsetzenden Fehlentwicklungen, die über den Pietismus eine schleichende Rekatholisierung des protestantischen Frömmigkeitsideals zur Folge hatten, die nach Ritschl die Identität des Protestantismus in ihren Grundlagen in Frage stellte.149 143
Nördlingen 1880–1885. ThLZ 6 (1881), 148–153; ThLZ 8 (1883), 269–274; ThLZ 10 (1885), 155–159. 145 Harnack an Loofs am 28.1.1884, in: ULBSA, Nl. Loofs, Yi 19 IX 1434. 146 Harnack an Krüger am 8.1.1895, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Krüger. 147 Harnack an Ritschl am 4.5.1878, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 148 Vgl. etwa Harnack an Ritschl am 7.4.1881, in: aaO. 149 Besonders scharf konturiert in Ritschls Einleitung zur „Geschichte des Pietismus“ unter der Überschrift „Katholicismus und Protestantismus“, in: Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Erster Band: Der Pietismus in der reformirten Kirche, Bonn 1880, 36–61. 144
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Damit ist mit der „Dogmengeschichte“ bereits die wissenschaftliche Hauptbeschäftigung der Jahre in Gießen genannt. Wenn man Leipzig gleichsam als wissenschaftliches und auch persönliches Moratorium des jungen Gelehrten ansieht, geprägt von wissenschaftlicher Askese, Kärrnerarbeit an den Quellen und umfangreicher Rezensionstätigkeit, dann fällt in die Gießener Zeit, nicht minder arbeitsreich, die endgültige Ausarbeitung des eigenen theologischen Entwurfs. Naturgemäß geschah das für Harnack in Gestalt eines historischen Werkes, das zunächst einmal die geschichtliche Entwicklung der christlichen Lehre nachzeichnete, um so zugleich den Platz frei zu räumen für den notwendigen Neubau.150 Genau das leistete das Lehrbuch der Dogmengeschichte, das nicht nur als historisches, sondern auch als systematisch-theologisches Werk zu würdigen ist.151 Einen ersten Entwurf einer Dogmengeschichte hatte Harnack schon im Sommersemester 1877 seinen Leipziger Studenten vorgetragen. Ein entsprechendes Buchprojekt ist seit 1878 in Absprache mit Ritschl nachweisbar.152 Methodisch ist Harnack insbesondere den Anregungen Ritschls gefolgt, die neben dessen für Harnack vorbildlicher Monographie über die Entstehung der altkatholischen Kirche vorrangig in einem 1871 erschienenen Aufsatz über die Methode der älteren Dogmengeschichte enthalten sind.153 Ritschl hat darin mit Nachdruck eine umfassende Gesamtdarstellung der Entstehung und Entwicklung des Dogmas anstelle der bis dato üblichen Monographien über einzelne Lehrbestandteile, also etwa die Gotteslehre oder die Lehre von der Sündenvergebung, gefordert sowie die kritische Funktion der Dogmengeschichte in Bezug auf die Gegenwart betont, denn für ihn gehörte die Ausbildung eines Dogmas unverrückbar mit der darin zum Ausdruck kommenden Frömmigkeitspraxis der es formulierenden Gemeinde zusammen. Methodisch bedeutete dies die exakte Untersuchung der allgemein150 Harnack hat dieses Anliegen wiederholt ausgesprochen. Gustav von Bunge gegenüber erläuterte er seine Arbeit dahingehend, daß es ihm gemeinsam mit Ritschl nicht nur um eine einfache Reduktion, sondern einen Neubau der Dogmatik ginge: „Die ganze orthodoxe Dogmatik kann man, soweit ich sehe, nicht über Bord werfen, ohne das Christenthum zu entleeren, aber ein großer Theil ist heute ein die Fahrt hemmender Ballast. Freilich durch bloße Substractionen läßt sich auch nicht helfen; es handelt sich um einen Neubau der Glaubenslehre auf dem Grunde des Evangeliums und nach den Maßstäben, den ursprünglichen und denen Luthers. Daran arbeiten wir – damit’s aber nicht zu prätentiös aussieht – als Kärrner, denn zunächst sind Kärrnerdienste hier nöthig“, Harnack an Bunge am 28.6.1881, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. 151 So Nowak: Einführung (Anm. 100), 14. Eine umfassende Einlösung dieses Programms steht indessen noch aus. 152 Vgl. oben Anm. 81. 153 Albrecht Ritschl: Über die Methode der älteren Dogmengeschichte (1871), in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Freiburg/Leipzig 1893; vgl. zu Ritschls dogmengeschichtlicher Methode Martin Ohst: Ritschl als Dogmenhistoriker, in: Joachim Ringleben (Hg.): Gottes Reich und menschliche Freiheit. Ritschl-Kolloquium (Göttingen 1989), Göttingen 1990, 112–130.
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historischen sowie frömmigkeitsgeschichtlichen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen eines Dogmas, gegenwartspraktisch aber auch, daß ein Dogma dann seinen eigentümlichen Wert verloren hat, wenn die Verbindung mit der praktizierten Frömmigkeit verloren gegangen ist und „höchstens ein Staunen durch seine Unverständlichkeit hervorruft.“154 Harnack machte sich diese methodischen Vorschläge Ritschls zu eigen und betrieb eine konsequente Historisierung der Dogmen. In dieser kritischen Wendung der Dogmengeschichtsschreibung ist er noch über Ritschl hinausgegangen, indem er Dogmengeschichte nicht wie dieser als Theologiegeschichte, sondern als Geschichte der christologischen Lehraussagen definierte und schärfer herausarbeitete, daß dieses so verstandene Dogma seiner Lehrgestalt nach einer durchaus notwendigen, aber eben vergangenen Epoche des Christentums angehörte. Eine eingehende Werk- oder gar Rezeptionsgeschichte der „Dogmengeschichte“ kann hier trotz reichhaltigen Materials im Nachlaß nicht geboten werden.155 Hingewiesen sei aber darauf, daß schon die erste erhaltene Fassung an dem zentralen methodischen Grundgedanken Harnacks orientiert ist, nämlich das aus den geschichtlichen Quellen rekonstruierbare Evangelium Jesu als Maßstab der Beurteilung der Dogmengeschichte anzuwenden. Dieser wird dabei eine außerordentlich kritische Funktion zugeschrieben und ihre Bedeutung für die systematische Theologie betont: „Die theol[ogische] Disciplin der Dogmengesch[ichte] h[a]t die Aufgabe, die Entstehung u[nd] Entwicklung des christl[ichen] Lehrbegriffes wissenschaftlich darzustellen, um […] die Entwicklung der Kirche verständlich zu machen und der systematischen Theologie die Probleme zu liefern, welche sie zu einer bestimmten Zeit zu lösen hat“ – übrigens ein fast wörtliches RitschlZitat.156 In einem weiteren, wohl um 1881/82 entstandenen Manuskript wird dann pointierter als im ersten Entwurf als „Maßstab für die Beurtheilung der Dogmenbildung“ das „Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt“ genannt.157
154
Ritschl: RuV2 I (Anm. 31), 52. Vgl. aus der Literatur Klaus-Peter Blaser: Geschichte – Kirchengeschichte – Dogmengeschichte in Adolf von Harnacks Denken, Diss. (masch.) Mainz 1964, sowie Meijering: Urteile (Anm. 21). Diese Untersuchung widmet sich als einzige ausführlicher den Zusammenhängen zwischen Harnack und Ritschl in dogmengeschichtlichen Methodenfragen, legt aber nicht die Erstauflage der Dogmengeschichte von 1885–1889 zu Grunde, sondern die vierte Auflage von 1909/10. Auch die Arbeit von Michael Basse: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, Göttingen 2001, greift auf Nachlaßmaterial kaum zurück, noch findet sich hier ein systematischer Auflagenvergleich wichtiger Zentralkapitel. 156 Vorlesung „Christliche Dogmengeschichte“ (1877), § 2b, in: Nl. Harnack, K. 18; vgl. Ritschl: Methode (Anm. 153), 147. 157 Manuskript „Christliche Dogmengeschichte“, in: Nl. Harnack, K. 5, Bl. 2. 155
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Der Ende 1885 erschienene erste Band des Werkes schildert die Entstehung des Dogmas bis zur Wende vom 3. auf das 4. Jahrhundert. Die 1887 und 1890 – also in der Marburger bzw. zu Beginn der Berliner Zeit – erschienenen Bände bieten dann die weitere Entwicklung des Dogmas in drei Stufen, nämlich erstens seine weitere Ausarbeitung als Theologie und Christologie in der Ostkirche, sodann seinen Umbau und seine Erweiterung durch die Lehre von Sünde und Gnade, Gnadenmittel und Kirche in der lateinischen Kirche des Westens, v. a. durch Augustinus, die dann das gesamte Mittelalter bestimmt, und schließlich drittens den dreifachen Ausgang der Dogmengeschichte im römischen Katholizismus, im Socinianismus und schließlich im Protestantismus. Durch Luther und seinen das Gewissen des Einzelmenschen befreienden Rechtfertigungsglauben ist für Harnack das Dogma im Grundsatz überwunden, während er zugleich an der konkreten Fassung der Rechtfertigungslehre bei Luther ebenso wie an weiteren zentralen Bestandteilen seiner Theologie, insbesondere aus den Jahren nach 1521, scharfe Kritik übt. Harnacks Darstellung orientierte sich dabei an der zu Beginn des ersten Bandes gebotenen Darstellung und Interpretation des Evangeliums, also der Verkündigung Jesu, die – wenngleich in geschichtlich bedingten Formen – gleichsam den unveräußerlichen Grundbestand der christlichen Religion enthalte: Gottesherrschaft, Sündenvergebung und das Liebesgebot. Die Sündenvergebung stellte dabei das „rechte Hauptstück“, ein „Evangelium im Evangelium“ dar.158 Neben diesem Evangelium Jesu existierte nach Harnack aber bald noch ein weiteres, nämlich das Evangelium von Jesus als dem Messias und Retter der Menschheit, das schließlich mit dem Tode Jesu auch zur Botschaft von dem Auferstandenen wird und damit den Kern der historisch notwendigen Ausbildung des christologischen Dogmas, nämlich das Bekenntnis, daß Jesus der Herr ist, enthält. Damit ist bereits gesagt, daß Harnack die Dogmengeschichte nicht als bloße Verfallsgeschichte schreibt, sondern auch um die historischen Verdienste des Dogmas weiß. Es sicherte die Konzentration des Christentums auf seine Stiftergestalt und hat es vor dem Abgleiten in „Heteronomie und Superstition“ bewahrt. Als das „begriffene Christenthum“ barg es aber zugleich die Gefahr, die Eigenart der Religion als persönliches Gotterleben zu gefährden, Religion mit Wissen zu verwechseln und „statt auf Gott und auf 158
LDG4 1, VII. Die Abschnitte über das „Evangelium Jesu Christi“ und die „gemeinsame Verkündigung von Jesus Christus in der ersten Generation seiner Gläubigen“ gehören zu den zwischen 1885 und 1909 am stärksten bearbeiteten Abschnitten des Werkes (vgl. LDG 1, 48–55 bzw. 55–67 mit LDG4 1, 65–85 bzw. 85–111). Schon in der ersten Auflage betont Harnack aber neben der „Botschaft von dem in der Liebe sich verwirklichenden Reiche Gottes“ als „Complement“ dazu den „Gedanke[n] des unendlichen Werthes, den jede einzelne Menschenseele besitzt“ (LDG 1, 53). Die späteren Auflagen richten den Gehalt des Evangeliums dann immer stärker auf diesen Aspekt hin aus.
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lebendige Erfahrungen […] auf eine Religionslehre“ zu verweisen.159 Harnack hat mit dieser Betonung der Autonomie der Religion gegenüber jeder Form von Wissen an Einsichten Schleiermachers angeknüpft. Die christliche Religion als „Glaube an das Evangelium“ bestimmte Harnack zugleich als Welt- und Selbstdeutung, als eine „Bestimmtheit des Lebens“, in dem die Erkenntnis nur insofern eine Stelle hat, als sie „Gesinnung und That“ ist.160 Dagegen ist das Dogma an eine in der griechischen Philosophie gewonnene Welterkenntnis gebunden, in dem die Religion zu einer Lehre wurde, „welche an dem Evangelium zwar ihre Gewißheit, aber nur zum Theil ihren Inhalt hat, welche demgemäss auch von solchen angeeignet werden kann, die weder geistig Arme, noch Müheselige und Beladene sind […] Für dieses ist es charakteristisch, dass es sich in keinem Sinne als eine Thorheit, sondern als eine Weisheit darstellt, und dass es zugleich der Inhalt der Offenbarung selbst sein will.“161 Harnacks berühmte Definition bestimmte das Dogma deshalb als „ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.“162 Die ihm eigene Zweistämmigkeit – Philosophie und Evangelium, das Streben nach universaler Welterkenntnis und zugleich auch religiöser Weltdeutung im Lichte der Offenbarung, wissenschaftlicher Lehre und Leben der Menschheit aus Gott – konnte zu dem Mittel werden, „durch welches die Kirche die alte Welt erobert und die neuen Völker erzogen hat.“163 Auch damit waren zunächst die Verdienste des Dogmas hervorgehoben, um sodann aber auch die Gefahr dieser Entwicklung zu beschwören, die eben darin lag, das Evangelium mit dem Dogma als seiner zeitbedingten Form zu verwechseln, sowie – wegen seiner Forderung nach unbedingter Anerkennung – die Lebendigkeit des Glaubens zu gefährden. Zudem gestand Harnack ausdrücklich zu, daß die Dogmenbildung nicht zufällig erfolgt sei, sondern in dem „geistigen Charakter der christlichen Religion“ ihren Grund habe, die „zu allen Zeiten die Aufgabe einer wissenschaftlichen Apologetik nahe legen wird.“164 Nur konnte diese Aufgabe nicht mehr mit den Mitteln der antiken Philosophie und Metaphysik erfüllt werden, denn wie das Christentum „nicht aus der Cultur der alten Welt geboren ist, ist [es] auch nicht an sie gekettet.“165 Für Harnack war die Zeit des Dogmas mit Luthers Reformation der Sache nach beendet: „Das Evangelium arbeitet sich seit der Reformation, trotz rückläufiger Bewegungen, die nicht fehlen, doch aus den Formen heraus, die es einst annehmen mußte, und eine reine Erkenntniss seiner Geschichte wird auch dazu beitragen können, diesen Process zu beschleuni159 160 161 162 163 164 165
LDG4 1, 18. LDG 1, 16. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 17. AaO., 19.
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gen.“166 Der Dogmengeschichte kam mithin eine emanzipatorische Aufgabe zu, indem sie genau diese historische Entwicklung aufzeigte und – darin erwies sich für Harnack ihr spezifisch protestantisches Profil – an Luthers reformatorische Erkenntnis anknüpfte, derzufolge „das Christenthum nicht die biblische Theologie, nicht die Lehre der Concilien, sondern die Gesinnung, die der Vater Jesu Christi durch das Evangelium im Herzen erweckt“, darstelle.167 Mit der in dieser Weise von Harnack rekonstruierten Einsicht Luthers gelangte die Dogmengeschichte trotz aller mittelalterlichen und letztlich noch katholischen Anwandlungen Luthers im Prinzip an ihr Ende, denn ihm diente das Dogma nicht mehr als autoritativer Lehrsatz, sondern nur noch als Ausdruck eines das Gewissen befreienden, Leben stiftenden religiösen Erlebnisses. Religion ist Leben, nicht Lehre, so Harnacks Überzeugung, die er mit einem programmatischen Wort des von ihm lebenslang verehrten Goethe zum Ausdruck brachte, das er als Motto seinem Werk voranstellte und in dem die Trennung von Religion und Philosophie ebenso betont wird wie die Autonomie der Religion als ein „mächtiges Wesen für sich.“168 Im kritischen Gang durch die Geschichte legte Harnack auf dieser Grundlage die Kerngehalte christlicher Religion als Lebensmacht frei, deren Aktualität und bleibende Bedeutung für die Welt der Moderne so zur Geltung gebracht werden sollten. Die Veröffentlichung des ersten Bandes löste ein vielstimmiges Echo aus, das von begeisterter Zustimmung bei Harnacks Freunden wie etwa Martin Rade bis hin zu offener Ablehnung im konfessionellen Luthertum reichte. Eine kirchlich-konservative Zeitung wie die „Reichspost“ konnte nach dem Erscheinen des dritten Bandes 1890 sogar davon sprechen, daß eine Geschichtsschreibung wie die Harnacks nicht nur die Autorität der Kirche, sondern auch die des Staates untergrabe.169 Sicher ist: Harnacks Karriere 166 AaO., 19; in den späteren Auflagen heißt es dann schärfer: „Das dogmatische Christenthum ist eine bestimmte Stufe in der Entwicklungsgeschichte des Christenthums“, LDG4 1, 18. Auch diese Prolegomena sind gegenüber der Erstauflage stark erweitert. 167 So Harnacks prägnante Formulierung in einer knappen Zusammenfassung seines dreibändigen Werkes, das er unter dem Titel „Grundriß der Dogmengeschichte“ (Freiburg 1889/1891) veröffentlichte (Zitat 6); dort heißt es zur Aufgabe der Dogmengeschichte: „Indem die Dogmengeschichte den Prozeß der Entstehung und Entwicklung des Dogmas darlegt, bietet sie das geeignete Mittel, um die Kirche von dem dogmatischen Christenthum zu befreien“ (Zitat 5). 168 LDG 1, 2. Das Goethe-Zitat lautet: „Die christliche Religion hat nichts in der Philosophie zu thun. Sie ist ein mächtiges Wesen für sich, woran die gesunkene Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über aller Philosophie erhaben und bedarf von ihr keine Stütze.“ Aufschlußreich ist auch das zweite Motto, ein Fragment des Kirchenlehrers Marcell von Ancyra, eines Gegners der gemeinsamen origenistischen Basis von Arianismus und Orthodoxie um 320. 169 Vgl. die Besprechungen in: Deutsche Reichspost, Nr. 273–276 vom 21.–25.11. 1890.
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wäre ohne dieses Buch und den von ihm ausgelösten öffentlichen Wirbel anders verlaufen. Daß das Werk auch schwere persönliche Konflikte nach sich ziehen würde, war Harnack bereits während der Arbeit klar: „Mein Buch wird einige der mir Lieben verstimmen und schmerzen – das ist die dunkle Wolke, die auf demselben für mich lagert.“170 Tatsächlich hat das Buch zu einem schweren persönlichen und theologischen Konflikt mit dem Vater geführt, der bis zu dessen Tod 1889 nicht beigelegt werden konnte.171 Theodosius hatte die Entwicklung seines Sohnes seit der Leipziger Zeit mit Sorge verfolgt. Seitdem sein Vater 1875 schwer erkrankt war, hatte Adolf sich darum bemüht, theologischen Streitigkeiten mit ihm aus dem Weg zu gehen, um ihn nicht noch zusätzlich zu belasten. Sie ließen sich gleichwohl nicht gänzlich vermeiden. Eindringlich warnte Theodosius seinen Sohn vor der Theologie Ritschls – „sie versubjektivirt mir das Christenthum zu sehr, so daß wir auf diesem Wege wieder zum flachen Moralismus gelangen müßten“172 –, schrieb sich aber wegen mangelnder Erziehungsarbeit selbst einen Teil der Schuld an der Entwicklung Adolfs zu, den er ermahnte, „nicht dem Bewußtsein der Zeit, sondern dem der Kirche“ zu folgen.173 „Adolfs Buch hat mich gerade in den grundlegenden Paragraphen (4 u. 5) sehr betrübt“174, heißt es in einem Brief an Otto Harnack, womit die grundlegenden Ausführungen über die Verkündigung Jesu und die Glaubensüberzeugungen der ersten Christen angesprochen waren. Seine Dorpater Kollegen – daß auch ihr Urteil einhellig ablehnend war, konnte niemanden überraschen – hatte er sogar gebeten, ihn keinesfalls auf das Werk des Sohnes anzusprechen. Das Urteil des Vaters fiel denn auch gegenüber dem Sohn harsch aus.Wer sich so wie Adolf über die Trinität oder die Auferstehung äußere, der „ist in meinen Augen kein christlicher Theologe mehr“, schrieb er schließlich nach Gießen. Die Differenz zwischen ihnen sei „keine theologische, sondern eine tiefgehende, direkt christliche, so daß ich, wenn ich über sie hinwegsähe, Christum verleugnete.“175 Bei aller persönlichen Verletzung und dem „viel[en] Herzeleid“ (so Harnacks Stiefmutter)176, das diese Konfrontation auslöste, ist doch festzuhalten, daß Harnack sie ihn Kauf genommen hat, ja geradezu als unvermeidlich in Kauf nehmen mußte. Sie lag in der Konsequenz seiner theologischen Ent170
Harnack am 21./9.7.1885 an seinen Bruder Otto, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack,
Nr. 2. 171
Vgl. ZH 104–106. So Theodosius Harnack am 20.9.1882 an seinen Sohn Otto, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 1. 173 Aus einem undatierten Brief, zitiert nach: ZH 75f. 174 Brief vom 6.1.1886, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 1. 175 Theodosius Harnack an Adolf Harnack am 29.1.1886, zitiert nach: ZH 105. 176 Ebd. 172
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wicklung seit der Leipziger Zeit und brachte den endgültigen Bruch mit der konfessionellen Theologie, wie sie eben auch von seinem Vater vertreten wurde, zum Ausdruck. Seinem Freund Loofs konnte er daher von der geradezu befreienden Kraft, die dieses Buch für ihn persönlich bedeutete, berichten und diese sogar mit Luthers Bekenntnis zu seiner Lehre von 1521 vergleichen: „Und ich kann Ihnen weiter sagen, daß ich meinem Gott u[nd] Herrn danke, daß ich von Berufs wegen Gelegenheit in diesem Buch gehabt habe, zu sagen, ungeschminkt zu sagen, wie ich über entscheidende Fragen denke, ohne daß man mir vorwerfen kann, daß ich die Aussprache gesucht habe. Etwas von der Freude, die Luther gehabt hat, als er nach dem Zeugniß zu Worms fröhlich ausgesprochen ‚Ich bin hindurch, ich bin hindurch‘ bewegte mich, als mein Buch fertig vor mir lag. Vielleicht können Sie es nachempfinden, vielleicht lächeln Sie über den anmaßenden Mann. Aber die Freude, daß es mir vergönnt gewesen ist, zu sagen, wie ich denke und nicht anders zu erscheinen als ich bin, ist für mich eine so hohe, daß in ihrer Kraft alle die Peinlichkeiten schwinden werden, auf die ich gefaßt bin. […]. Sie haben von Ihrem Vater gesprochen: auch ich habe einen Vater, der so denkt wie Ihr Vater. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das für mich bedeutet. So gut ich es verstehe, ohne der Wahrheit in Schweigen u[nd] Reden etwas zu vergeben, habe ich versucht, meine Sache zu führen u[nd] an seinen Standpunkt zu denken. Aber das hat seine Grenze, die man nur mit beflecktem Gewissen überspringen könnte – das weiß mein Vater auch.“177
Wenn als Ziel des Wegganges aus Dorpat 1872 von Harnack nicht zuletzt die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit, also nicht weniger als das überaus moderne Projekt, gleichsam Autor der eigenen Biographie zu sein, angegeben worden war, so stellte die jahrelange Arbeit an der „Dogmengeschichte“ einen, wenn nicht den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Realisierung dieses Projektes dar. Dazu gehörte auch, in dieser Arbeit genau „zu sagen, wie ich denke und nicht anders zu erscheinen als ich bin“, und zwar in ausdrücklicher, wenn auch schmerzlicher Frontstellung zu der ihn prägenden Welt seiner baltischen Heimat, wie sie im konfessionellen Luthertum seines Vater zu einem ganz besonderen Ausdruck kam. Zu Recht ist auf die Problematik eines Verständnisses von Identität hingewiesen worden, das sich wesentlich an den Kriterien der Vollständigkeit, Ganzheit und durchgängiger Dauerhaftigkeit orientiert, und demgegenüber die prinzipielle Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen geltend gemacht worden.178 Das trifft zweifellos auch für die Biographie Harnacks zu. Dennoch ist es berechtigt, im Blick auf die Entstehung der „Dogmengeschichte“ davon zu sprechen, daß hier eine Zäsur erreicht war, die nicht nur die Abkehr von der Theolo177
Harnack an Loofs am 30.12.1885, in: ULBSA, Nl. Loofs, Yi 19 IX 1445. Vgl. Henning Luther: Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–182. 178
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gie des Vaters markierte, sondern zugleich das Gelingen dieses Projektes der eigenen Identität und Biographie anzeigte. Aber es können noch weitere Motive aufgezeigt werden, die in der Auseinandersetzung mit dem Vater anklangen. Indem Harnack den Konflikt als eine Frage von Wahrheit und Gewissen interpretierte, betonte er zugleich, daß mit diesem Werk gleichsam Wahrheit gegen Wahrheit stand: hier die aus wissenschaftlicher Kärrnerarbeit gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit einer kritischen Konzentration des Christentums auf sein Wesen, das Interesse, zu einer neuen Sicht des Christlichen zu gelangen, in der Gewißheit, nicht ohne ein „ikonoklastisches Moment“ auskommen zu können, um „den Protestantismus aus seinen Verklitterungen [zu] befreien und die Krisis vorbereiten [zu] wollen, die kommen muß, wenn unser christlich gebildetes Volk wieder Zutrauen […] zu dem Ganzen des evangelischen Christenthums gewinnen soll.“179 Dort das Ideal eines einheitlichen Kultursystems aus altprotestantischem Luthertum und baltischem Deutschtum, in dem der kirchlichen Lehre eine tragende Funktion zugewiesen wurde, die angesichts des Drucks von außen schon durch geringe Zugeständnisse an das Zeitbewußtsein eben diese stabilisierende Funktion im Gefüge der deutschbaltischen Gesamtgesellschaft einzubüßen drohte. Die Differenz verblieb bei genauerem Blick nicht allein im theologischen oder auch allgemein christlichen Rahmen. Sie läßt sich auch nicht allein individualpsychologisch als bloßer Vater-Sohn-Konflikt ausdeuten, in dem der schon in der Kindheit eher sanft und romantisch veranlagte, lange ohne Mutter aufgewachsene Zögling nachträglich gegen das strenge väterliche Regiment aufbegehrt, indem er mit dem Angriff auf dessen theologische Überzeugungen auf den Kern der väterlichen Selbstdeutung zielte. Vielmehr deckte diese Differenz die grundsätzlich unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Standorte beider Harnacks auf: Hier die Reaktion auf die tiefgreifende Krise des Christentums in einer sich zunehmend plural entwickelnden Gesellschaft mit großen sozialen Verwerfungen, auf die mit einem Programm theologischer Differenzierung reagiert werden sollte. Dieses Programm hielt zwar am Anspruch einer protestantischen Leitkultur fest, das aber nicht gegen das allgemeine Wahrheitsbewußtsein durchzusetzen war, sondern vielmehr dieses in sich aufzunehmen versuchte, dabei aber mit der Betonung der Autonomie der Lebensmacht Religion diese wiederum nicht vollständig in der modernen Kultur aufgehen lassen wollte. Dort ebenfalls die Reaktion auf eine – allerdings in ihrer nationalen und kulturellen Dimension gänzlich anders gearteten – Krise, auf die mit theologischer Homogenisierung und Stabilisierung einer in ihrem Bestand gefährdeten Minderheit im Zeichen einer lutherischen Einheitskultur reagiert werden sollte. In einer solchen 179
Harnack an Loofs am 21.1.1889, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 19 IX 1485.
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Konstellation mußten einige der in historisches Gewand eingekleideten Thesen Adolf Harnacks – die Auferstehung eine religiöse Deutung des frommen Subjekts, die Trinität keine offenbarte göttliche Wahrheit, sondern geschichtlich geworden, die Präexistenz Christi ein bloß philosophisches Konstrukt, der Missionsbefehl so wenig jesuanisch wie die Absicht der Kirchenstiftung – ebenso als Gefährdung dieses Programms angesehen werden wie die Konzentration der Religion auf das religiöse Erleben des Individuums, demgegenüber jede Form von Institutionalisierung als sekundär galt. Während Harnack die Kritik des Vaters persönlich schmerzte, nahm er die Ablehnung seines Entwurfes bei den übrigen Dorpater Theologen nicht sonderlich ernst, lebten sie doch „in einer Art der Absperrung oder auf einer glücklichen Insel. Niemand erschüttert sie, u[nd] was sie aus Büchern lesen, plätschert als ungefährlicher Strom an ihren vermeintlichen Felsen.“180 Aber auch die konfessionellen Theologen in Deutschland reagierten – ebenso wie der kirchliche Liberalismus spekulativer Prägung – ablehnend auf das Buch. Harnack meinte, möglicherweise werde ihm das Buch eine dauerhafte Existenz in Gießen bescheren, denn ob „sie mich noch an eine preußische Universität nehmen, ist mir fraglich.“181 Tatsächlich ist an der „Dogmengeschichte“ im folgenden Jahr eine Berufung nach Leipzig gescheitert, weil die konservative Mehrheit der Fakultät ebenso wie das Konsistorium der sächsischen Landeskirche schwerwiegende Bedenken gegen die theologischen und historischen Thesen des kontroversen Kirchenhistorikers erhob. Insbesondere ein von Luthardt veröffentlichter „Ketzereienkatalog“ machte, schließlich mit Erfolg, Stimmung gegen Harnack – „eine erste Frucht meiner Dogmengeschichte“, wie dieser daraufhin Ritschl schrieb.182 Doch die von Harnack geäußerte Befürchtung bezog sich ja in erster Linie auf Preußen, das sich jetzt erheblich großzügiger zeigen sollte als der sächsische Rivale. Die Berliner Theologische Fakultät hatte bereits 1877 Harnack als ihren Wunschkandidaten für eine zu errichtende außerordentliche Professur für Kirchengeschichte vorgeschlagen, blieb damit aber ohne Erfolg.183 Seit 1883/84 war aber auch das Interesse an Harnack bei dem wichtigsten Mann der preußischen Unterrichtsverwaltung geweckt: Friedrich Althoff.184 Wohl durch Ritschl und Bernhard Weiß – Neutestamentler in Berlin und Vortragender Rat im Unterrichtsministerium mit der Zustän180 Harnack an seinen Bruder Otto am 12.2./31.1.1886 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Kritik in Dorpat, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 181 Harnack an seinen Bruder Otto am 30.8.1885, in: aaO. 182 So Harnacks Bericht vom 16.3.1888 an Friedrich Althoff, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Friedrich Althoff (künftig: Nl. Althoff ), A II, 79 III, bzw. Harnack an Ritschl am 16.3.1886, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl; vgl. zum Vorgang auch: ZH 106f. 183 Antrag der Theologischen Fakultät vom 7.6.1877 in: GStA-PK, I. HA, Rep. 76, V a, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 44, Bd. III, Bl. 122–124. 184 Vgl. ausführlichere Angaben zu Althoff in Kap. III.3.4.
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digkeit für die Theologischen Fakultäten – auf Harnack aufmerksam geworden, hatte er sogleich dessen immense Begabung erkannt und ihn für eine Professur in Berlin vorgemerkt. Freilich waren hier alle in Frage kommenden Stellen noch besetzt, wenngleich der Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte Karl Semisch bereits recht alt war, von einer Entpflichtung aber nichts wissen wollte. So galt es, Harnack zunächst an einer anderen preußischen Universität zu „parken“. Pläne für Königsberg zerschlugen sich, doch dann wurde 1886 in Marburg eine Stelle frei – und zwar als Folge des nicht erfolgten Rufes Harnacks nach Leipzig, denn dorthin war der Marburger Kirchenhistoriker Theodor Brieger berufen worden, so daß Harnack dessen Stelle einnehmen konnte. Die Marburger Fakultät, an ihrer Spitze Harnacks Freunde Wolf Graf Baudissin und Wilhelm Herrmann, schlug Harnack am 23. Mai 1886 einstimmig als Nachfolger Briegers vor.185 Auch dieser Ruf war, trotz des Engagements Althoffs, nicht unumstritten. Der zuständige Minister Goßler zögerte und wurde erst dadurch für Harnack gewonnen, daß der greise Marburger Theologe Ernst von Ranke (1814–1888) – ein Bruder Leopold von Rankes – eigens nach Berlin reiste, um den Minister zu überzeugen, „daß und warum es eine Pflicht der Regierung sei, diese Berufung zu vollziehen.“186 Harnack wurde zum 1. Oktober 1886 nach Marburg berufen und empfand dies als „Satisfaction“ für die Leipziger Vorgänge.187 Die vom Kultusministerium bewilligten 7200 Mark Gehalt zuzüglich der Kolleggelder dokumentieren den Wert, den man in Berlin dem neuen Ordinarius beimaß. Immerhin lag Harnack damit etwa 1400 Mark über dem durchschnittlichen Verdienst eines evangelischen Theologieprofessors.188
185 Das Votum der Fakultät vom 23.5.1886 in: GStA-Pk, Rep. 76 V a, Sekt. 12, Tit. 4, Nr. 5, Bd. II, Bl.178–180. 186 Vgl. Etta Hitzig: D. Ernst Constantin von Ranke, Professor der Theologie in Marburg. Ein Lebensbild, Leipzig 1906, 63. Zitiert wird eine mündliche Äußerung Goßlers. Dort heißt es weiter: „Und da habe ich mir denn gesagt: wenn ein Mann wie Ranke sich in seinem Alter auf die Eisenbahn setzt, um mich von der Haltlosigkeit meiner Vorurteile zu überzeugen, ein Mann, von dem ich weiß, daß er auf einem ganz anderen Standpunkte steht, dann kann ich sicher sein: die Berufung ist das Richtige“ (aaO., 63f.). 187 Harnack an Althoff am 16.3.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, 79 III; vgl. auch Harnacks Brief vom 9.6.1886 an Althoff, in: aaO. 188 Vgl. die Zahlen für 1890 bei Rüdiger vom Bruch: Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, in: Klaus Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite, Boppard 1983, 109, Anm. 18.
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3. Von Marburg nach Berlin: Der Ruf in die Reichshauptstadt als (wissenschafts-) politisches Signal im Dreikaiserjahr 1888 Die genau zwei Jahre, die Harnack in Marburg vom Oktober 1886 bis zum Oktober 1888 verbrachte, sind nicht mehr als eine Zwischenstation auf dem Weg nach Berlin.189 Gut die Hälfte dieser Zeit steht bereits im Schatten der Auseinandersetzungen um diesen heiß umkämpften Ruf. Natürlich war das nicht von vornherein abzusehen und die Berufung angesichts des Wirbels um die „Dogmengeschichte“ alles andere als ausgemacht. Harnack richtete sich durchaus auf einen längeren Aufenthalt in Marburg ein, worauf nicht zuletzt der Umstand hindeutet, daß er ein großzügiges Haus erwarb. Aber der Blick richtete sich doch auf Berlin, von wo sein Freund Julius Kaftan – er lehrte seit 1883 an der dortigen Theologischen Fakultät Systematische Theologie – ihn regelmäßig über die Vorgänge an der Fakultät und den Gesundheitszustand des greisen Kirchenhistorikers Karl Semisch (1810– 1888) unterrichtete. Damit ist nicht gesagt, daß Harnack die kurze Marburger Zeit nicht als überaus angenehm empfunden hat, wirkten doch mit Wilhelm Herrmann und Wolf Graf Baudissin zwei seiner engsten Freunde an dieser Fakultät, die ähnlich wie Gießen theologisch relativ einheitlich gesinnt war. Hinzu kamen Kontakte zu Paul Natorp und Hermann Cohen, den Häuptern des Marburger Neukantianismus. Cohen las 1886 mit großer Zustimmung den ersten Band des dogmengeschichtlichen Lehrbuchs: „Meine Ansicht von dem Sinne der christlichen Weltgeschichte als der Idealisierung des Menschlichen in dem Mythus der Menschwerdung hat sich aufs erfreulichste in dieser Lectüre bestätigt.“ 190 Erneut fand Harnack mit seinen Vorlesungen großen Anklang unter den Studenten, darunter wie schon in Gießen zahlreiche Amerikaner, die teilweise sogar mit ihren Familien anreisten.191 Der damals gerade einmal 35 Jahre alte Professor stand in lebendigstem Austausch mit seinen Studenten, „sorglos bis hin zur Unvorsichtigkeit und zum Uebermut in einzelnen Aeußerungen und in seinem Gehaben auf dem Katheder, das er manchmal wie ein Turngerät gebrauchte, von einer sprudelnden Frische und ohne jede Spur zurückhaltenden Abstandsgefühls gegen die Studenten.“192 Für Erich Foerster, einen der wichtigsten Marburger Schüler Harnacks und nachmali189
Vgl. ZH 109–114. Cohen an August Stadler am 8.5.1886, in: Hermann Cohen: Briefe, Berlin 1939, 60f.; aus der Literatur zum Neukantianismus vgl. Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994. 191 So ZH 111. 192 Erich Foerster: Marburg 1887, in: ChW 35 (1921), 322–324, 323. 190
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gen Pfarrer in Frankfurt, bestand die eigentliche Leistung seines Lehrers, ähnlich wie bei Harnacks Leipziger Schülern, gerade in seiner kritischen Geschichtsschreibung, die der gegenwartspraktischen Besinnung auf das Wesen der christlichen Religion dienen sollte: „Geschichte in Abzweckung auf die Gegenwart.“193 Es sei das Verdienst Harnacks wie auch einiger anderer älterer Ritschl-Schüler gewesen, so erinnerte sich Foerster 1921, „ein Verständnis der Religion zu haben, das geeignet war, die Kirche aus der verworrenen Situation, in die sie durch den Bund zwischen Orthodoxie und Pietismus geraten war, und über die Not, in die sie die Naturwissenschaft und die geschichtliche Kritik hineingezogen hatte, herauszuführen. Eine Theologie, bei der man sich nicht mehr als Nachzügler der modernen Kultur vorkam, sondern des guten Rechts bewußt wurde, protestantischer Christ zu sein, und sich mit allen hellen Geistern der Gegenwart eins fühlte. Eine Theologie, die den Anspruch erhob und durch die Gediegenheit und den Ernst ihrer Arbeit rechtfertigte, berufene Führerin der Kirche zu sein, und sich die Kraft zutraute, das Gemeinschaftsleben des Protestantismus zu ordnen und neu zu formen. […]. Seine Art Geschichte zu lehren, mußte vielmehr den Trieb zu praktischem religiösen Wirken, wenn er irgendwo vorhanden war, mächtig anregen und entfalten.“194
Im Vordergrund der Arbeiten stand die Fortführung der Dogmengeschichte, deren zweiter Band 1887 erschien. Wie schon in Gießen hat Harnack auch in Marburg größere Vorträge zu kirchengeschichtlichen Themen gehalten, darunter den überaus erfolgreichen, mehrfach aufgelegten Vortrag über „Augustins Konfessionen“ von 1887. Große Unterstützung fand auch der nun umgesetzte, aber bereits seit 1877/78 bestehende Plan seiner ehemaligen Leipziger Schüler Rade, Drews, Loofs und Bornemann zur Gründung eines eigenen Wochenblattes. Eine Probenummer des zunächst unter dem etwas umständlichen Titel „Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für die Gebildeten aller Stände“ firmierenden Blattes erschien Ende 1886, der erste Jahrgang ab 1887 unter der Redaktion Martin Rades. Schon 1888 wurde der Titel in „Christliche Welt“ geändert. Dieses bald wohl bedeutendste Wochenblatt des deutschen Protestantismus zwischen 1886 und 1941 ist von Harnack – „ich bin in der Sache unseres Blattes Anhänger der Partei ‚Rade sans phrase‘“ – sowohl finanziell als auch konzeptionell mit großem Nachdruck unterstützt worden und wurde zu einem seiner wichtigsten Publikationsforen.195 193
A.a.O, 324. Ebd. 195 Eine Geschichte der „Christlichen Welt“ ist noch nicht geschrieben worden. Unverzichtbar bleibt noch immer: Rathje (Anm. 106); vgl. ferner BwR 21–26, sowie Reinhard Schmidt-Rost: Die Christliche Welt. Eine publizistische Gestalt des Kulturprotestantismus, in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 245–257. Das Zitat aus einem Brief Harnacks an Rade vom 16.12.1887, in: BwR 193. Harnack sagte Rade darin auch weitere finanzielle Unterstützung für das Blatt zu. 194
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Gegen Ende des Jahres 1887 zeichnete sich zusehends das Ausscheiden Semischs aus der Berliner Fakultät ab.196 Zwar hatte Kaftan seinem Freund Harnack noch am 20. November mitteilen müssen, daß „der alte Semisch […] sich wieder rappelt u[nd] gedenkt, von Weihnachten an sein Seminar wieder zu halten“, was leider zur Folge habe, daß „zunächst die Besetzung Deiner Professur nicht in Frage steht“197, doch entgegen dieser Prognose erfolgte schon wenige Tage später das Ausscheiden Semischs. Am 10. Dezember 1887 schlug die Fakultät dem Minister an erster Stelle Adolf Harnack als dessen Nachfolger vor. Mit Ausnahme Otto Pfleiderers war einhellig für diese Lösung gestimmt worden, wobei neben Kaftan der Neutestamentler Bernhard Weiß sich mit Nachdruck für den Marburger Kirchenhistoriker eingesetzt hatte.198 Harnack wurde bereits am folgenden Tag von Kaftan über die Liste der Fakultät mit der Bemerkung, die Dinge nehmen „den günstigsten Lauf “, unterrichtet.199 Der Leitung der Preußischen Landeskirche, vertreten durch den Evangelischen Oberkirchenrat (EOK), kam nun seit 1855 ein – bisher allerdings nie in Anspruch genommenes – Einspruchsrecht bei der Besetzung theologischer Professuren zu, das sich auf eventuelle Beanstandungen von Lehre und Bekenntnis des zu Berufenden bezog.200 Die routinemäßige Anfrage des Kultusministers Gustav von Goßler, ob entsprechende Bedenken in Bezug auf Harnack vorlägen, bejahte der EOK am 29. Februar 1888 mit dem Hinweis, die „Dogmengeschichte“ Harnacks habe „inbetreffs seiner Stellung 196 Vgl. zur Berufung Harnacks Walter Wendland: Die Berufung Adolf Harnacks nach Berlin im Jahre 1888, in: JBBKG 29 (1934), 103–121, der sich auf die Akten des Evangelischen Oberkirchenrats stützt; auf dieser Darstellung fußt auch weitgehend der entsprechende Abschnitt bei ZH 115–127. Die wichtigsten Dokumente finden sich auch bei Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hg.): Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Band III: Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfes bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Berlin 1983, 648–655; Einzelheiten ferner bei Bernhard Weiß: Aus neunzig Lebensjahren 1827–1918, Leipzig 1927, 198–200, sowie Paul Gennrich/Eduard von der Goltz: Hermann von der Goltz. Ein Lebensbild als Beitrag zur Geschichte der deutschen evangelischen Kirche im 19. Jahrhundert, Göttingen 1935, 111–117. Abschriften der wichtigsten Unterlagen des Unterrichtsministeriums finden sich in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I. 197 Kaftan an Harnack am 20.11.1887, in: Nl. Harnack, K. 34, Korr. J. Kaftan. Zur Geschichte des kirchenhistorischen Lehrstuhls vgl. Kurt-Victor Selge: Die Berliner Kirchenhistoriker, in: Reimar Hansen/Wilhelm Ribbe (Hg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin/New York 1992, 408–447. 198 Vgl. das Protokoll der Fakultätssitzung vom 10.12.1887 in: Humboldt-Universität zu Berlin – Universitätsarchiv, Bestand Theol. Fak. 167, Bl. 170–171. 199 Kaftan am 11.12.1887 an Harnack, in: Nl. Harnack, K. 34, Korr. J. Kaftan. 200 Dieses Recht bezog sich aber nur auf den preußischen Gebietsstand von vor 1866, so daß bei Harnacks Berufung nach Marburg 1886 ein entsprechendes Votum nicht benötigt wurde, da die Provinz Hessen kirchlich nicht zur preußischen Landeskirche gehörte.
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zum neutestamentlichen Kanon, zu mehreren grundlegenden Heilstatsachen aus dem Leben Jesu Christi und zu der Einsetzung des Sakramentes der Heiligen Taufe durch den Herrn Bedenken hervorgerufen […], welche in unserer Mitte nicht haben überwunden werden können“, freilich ohne eine detailliertere Begründung abzugeben.201 Der Umstand, daß die Antwort des EOK zwei Monate benötigte sowie eine ausführliche Begründung dieser Entscheidung nach zweimaliger Aufforderung des Ministers erst am 2. Mai 1888 vorlag202, läßt auf erhebliche Uneinigkeit innerhalb der preußischen Kirchenleitung schließen, die sich nur mit knapper Mehrheit gegen Harnack aussprach.203 Insbesondere der Berliner Propst Hermann von der Goltz hatte sich gegen das negative Votum der Mehrheit des EOK – angeführt von dem Oberhofprediger Rudolf Kögel und dem Brandenburger Konsistorialpräsidenten Immanuel Hegel, einem Sohn des Philosophen – zur Wehr gesetzt und in einem Sondervotum, das er am 6. Mai 1888 dem Ministerium vorlegte, sich für Harnack ausgesprochen. Intern hatte er bereits am 2. März sein Ausscheiden aus dem EOK angekündigt, sollte die Berufung Harnacks nicht erfolgen.204 Auch Bernhard Weiß – neben seinem Amt im Ministerium und seinem Ordinariat zugleich Präsident der Inneren Mission – legte in einem eigenen Gutachten die für Harnack sprechenden Gründe dar.205 Althoff selbst hatte sich inzwischen bei Harnack über die ganz ähnlich gelagerten Vorgänge bei der Leipziger Berufungsangelegenheit von 1886 erkundigt, um daraus mögliche Aufschlüsse für das Vorgehen gegen die Entscheidung des EOK zu gewinnen.206 Zudem errichteten Althoff und Weiß um Harnack „einen wahren Festungswall von Gutachten und Zeugnissen“207: Neben den theologischen Gutachten hochangesehener Professoren verschiedener Richtungen sammelten sie Gutachten über Harnacks kirchliche und akademische Wirksamkeit in Gießen und Marburg, die sie dem Minister vorlegten.208 Der Minister Goßler, von Althoff und Weiß endgültig für Harnack gewonnen, wollte sich nun ein persönliches Bild von diesem machen und lud 201 Schreiben des EOK an Goßler vom 29.2.1888 in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I, Bl. 11. 202 Gutachten des EOK vom 2.5.1888, in: aaO., Bl. 12v-14. 203 Vgl. den Entwurf des Schreibens des EOK an Goßler vom 29.2.1888 in: Kirchliches Archivzentrum – Evangelisches Zentralarchiv, EZA 7/4335, Bl. 158. 204 Gennrich/von der Goltz (Anm. 196), 88; das Sondervotum in: aaO., 216–219. 205 Das Gutachten von Weiß in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I, Bl. 15– 18; das von von der Goltz bei Wendland (Anm. 196), 108–110. 206 Althoff an Harnack am 14.3.1888, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff, bzw. Harnack an Althoff am 16.3.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 207 ZH 119. 208 Einen Überblick über die insgesamt 48 Bl. umfassende Aktensammlung bietet: Wendland, 111f. Die Sammlung selbst befindet sich weder in den Akten des EOK noch des Kultusministeriums.
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ihn auf Initiative Althoffs zu einer Unterredung am 10. Juni 1888 nach Naumburg ein. Althoff und Weiß schärften Harnack die Bedeutsamkeit der Unterredung ein, wobei Weiß Harnack empfahl, dieses Datum in sein Kollegheft für künftige Vorlesungen zur Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts zu notieren. Das Gespräch selbst war ein voller Erfolg, so daß Althoff am folgenden Tage bekannte, er hätte „eigentlich die Stimmung, diesen Brief mit einigen Reformationsliedern zu eröffnen.“209 Harnack, wie Althoff sicher, daß die Angelegenheit damit vom Tisch sei, sprach „von einem Sieg der guten protestantischen Sache“ und einer „kirchenhistorischen That“, die auf ewig mit den Namen Althoffs und Weiß’ verbunden bleiben werde.210 Der Minister verfaßte im Anschluß an das Gespräch einen Immediatbericht, den er am 27. Juni 1888 Bismarck als preußischem Ministerpräsidenten vorlegte. Das Gespräch mit Harnack habe bei ihm einen überaus günstigen Eindruck des jungen Gelehrten hinterlassen und ihn in der Überzeugung bestärkt, daß „unsere evangelische Landeskirche in reichem Maße Forderung und Segen von Harnacks Berufung auf den wichtigen Lehrstuhl der Kirchengeschichte gewinnen wird.“211 Den Einwand des EOK bezeichnete er als formal „zulässig, materiell aber unbegründet.“ Gleichzeitig ließ er die Motive durchblicken, die ihn, v. a. aber in seinem Hintergrund Althoff, bei der Entscheidung für Harnack bewegten, wenn er auf die politischen Hintergründe des ganzen Vorgangs einging: einen grundsätzlichen Konflikt zwischen „Unterrichtsminister und der Hofpredigerpartei.“212 Dieser prinzipielle Konflikt war in den Augen des Ministers der Kern der Auseinandersetzung. Er war auch der Grund für das ungewöhnliche Vorgehen des Ministers, der sich formal über den Einwand des EOK hätte hinwegsetzen können.213 Statt dessen wollte Goßler eine grundsätzliche Entscheidung in dieser Frage mit Rükkendeckung des preußischen Staatsministeriums und des Monarchen herbeiführen. Tatsächlich war damit der politische Hauptgesichtspunkt der Auseinandersetzung genannt, die nicht ohne die innenpolitischen Wirren des Dreikaiserjahres 1888 zu verstehen ist. Wilhelm I., schon länger krank und am 9. März 1888 gestorben, stand religiös ganz unter dem Einfluß der kirchlich-orthodoxen und politisch zugleich auf dem rechten Flügel der Deutschkonservativen Partei beheimateten Hofprediger Rudolf Kögel und Adolf Stoecker. Stoecker und sein enger politischer Freund Hammerstein – entschiedene Gegner des Kanzlers und innerparteilich in Opposition zur Kooperation ihrer Partei mit 209 210
Althoff an Harnack am 11.6.1888, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. Harnack an Althoff am 13.6.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79
III. 211 Der Immediatbericht, laut Goßler noch vor dem Ableben Friedrichs III., also vor dem 15.6.1888 fertiggestellt, findet sich in: aaO., A II, Nr. 79 I, Bl. 21v-37, Zitat: Bl. 35f. 212 Goßler an Bismarck am 27.6.1888,in: aaO., Bl. 19f. 213 So Huber/Huber: Band III (Anm. 196), 645.
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Bismarck im Rahmen des Kartells aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen befindlich – zielten möglicherweise schon jetzt nicht nur auf die Durchsetzung ihrer kirchenpolitischen Interessen, sondern auch auf Bismarck selbst, der den von Stoecker propagierten kirchenpolitischen und allgemeinpolitischen Ambitionen wiederholt entgegengetreten war. Kirchenpolitisch fügte sich die Ablehnung Harnacks genau in Stoeckers Bestrebungen ein, wie sie in den von Stoecker und Hammerstein unterstützten Kleist-Retzow’schen Anträgen vom 30. Juni 1886 zum Ausdruck kamen: Stärkung der Kirchenbehörden gegenüber den Einwirkungsmöglichkeiten von Landtag und Staatsregierung, engere Bindung der Theologischen Fakultäten an die Kirchenleitungen – wobei von einem Anhänger Stoeckers als Beispiel „bis zu welchem Grade des Abfalls die unabhängige Wissenschaft auf dem Katheder sich versteigen könne“, Harnacks „Dogmengeschichte“ genannt worden war.214 Daß Bismarck diesen Forderungen im preußischen Abgeordnetenhaus am 22. April 1887 eine offene Absage erteilt hatte – sie liefen, so Bismarck, darauf hinaus, „den Kulturkampf in die andere Konfession zu werfen“ –, ließ ihn dabei ins Visier Stoeckers und Hammersteins geraten.215 Die Betonung der Unabhängigkeit der Kirche von staatlichen Einflüssen war der unüberhörbare cantus firmus der Berichterstattung Stoeckers zum „Fall Harnack“216, während die „Kreuzzeitung“ vor einem Linksruck innerhalb der Preußischen Landeskirche durch die Berufung des nach „links abschweifenden Ritschlianers“ Harnack meinte warnen zu müssen.217 Emsigstes Agitationsorgan gegen Harnack war der wöchentlich erscheinende „Evangelisch-kirchliche Anzeiger“, der praktisch ununterbrochen Stellung bezog. Vor allem Althoff dürfte es dagegen bei der Berufung Harnacks bereits von Anfang an auch um ein Signal für eine liberale Kurskorrektur der preußischen Hochschul- und Kirchenpolitik gegangen sein, die mit dem neuen, als gemäßigt liberal geltenden Kaiser Friedrich III. verbunden werden sollte. Harnack selbst befand sich – wenn auch nur durch Vermittlung seines Schwagers, dem damals freikonservativen Parlamentarier, Historiker und Publizisten Hans Delbrück – im weiteren Umfeld der Anhänger einer politi214 Vgl. Stoeckers Resolution auf einer Versammlung der orthodoxen „Landeskirchlichen Versammlung“ vom 26.4.1887, in: Schultheß 1887, 132f. Zum Hinweis des Superintendenten Holzheuer, eines Anhängers Stoeckers, vgl. den Bericht Martin Rades über die genannte Versammlung der „Landeskirchlichen Vereinigung“ in: ChW 1 (1887), 187–189, 189. 215 Die Rede Bismarcks in: Schultheß 1887, 126–128, 127. Sollten die Bestrebungen Hammersteins und Stoeckers Erfolg haben, dann komme dabei nicht mehr heraus, als „die vielen bedauerlichen Spaltungen der evangelischen Kirche um eine neue zu vermehren. (Sehr richtig! links.) Dazu wird die Regierung nicht die Hand bieten“ (ebd.). 216 Vgl. etwa DEKZ 2 (1888), 345f. 217 Preußische Kreuzzeitung vom 23.5.1888, Abendbeilage.
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schen Kurskorrektur, die ihre Hoffnungen ganz auf den neuen Kaiser richteten. Angesichts der schweren Erkrankung Friedrichs dürfte der EOK – in seiner Mehrheit verlängertes Sprachrohr Kögels und Stoeckers – auf Zeit gespielt haben. Althoff und Weiß versuchten dagegen, nun erst recht Harnack durchzusetzen. Der erwähnte Immediatbericht des Ministers an Bismarck wurde am 16. Juni, einen Tag nach dem Tod Friedrichs beendet. Darin wurde unumwunden zugestanden, daß es „an dem Angriff nicht fehlen [wird], daß er ein Apostel der doch nur von Wenigen vollständig erfassten Rietschl’schen [!] Theologie sei. Ich verspreche mir aber gerade von der warmen, milden, begeisterten und begeisternden Persönlichkeit Harnack’s einen besonders günstigen Erfolg im Gegensatz zu der scharfen, eitrigen und oft ätzenden Persönlichkeit Ritschls.“218 Harnack wurde quasi als milder Ritschlianer präsentiert und seine Berufung zum Präzedenzfall einer liberalen Wissenschafts- und Kirchenpolitik stilisiert. In seinem Brief an Bismarck, den Goßler dem Bericht beifügte, beschwor er zugleich das Andenken des hingeschiedenen Friedrich III. mit dem Hinweis: „Wie die Entscheidung des hochseligen Königs in dem Streit zwischen dem Unterrichtsminister und dem von dem Oberhofprediger beherrschten Oberkirchenrath ausgefallen wäre, ist mir nicht zweifelhaft gewesen.“219 Sodann verdeutlichte das – vermutlich von Althoff selbst konzipierte – Schreiben des Ministers die politischen Implikationen, die ein Nachgeben gegenüber dem Votum des EOK durch den seit wenigen Tagen regierenden Wilhelm II. zur Folge haben würde: Eine solche Entscheidung werde alle Befürchtungen hinsichtlich der reaktionär-orthodoxen Haltung des jungen Monarchen – angespielt wurde wohl damit auf seine bekannte Nähe zu Stoecker – bestätigen. Für diesen Fall kündigte der Minister gar seine Demission an. Goßler versäumte nicht, auf die positiven Auswirkungen einer Entscheidung für Harnack hinzuweisen: „Fällt die Entscheidung für Harnack aus, so wird König Wilhelm auf allen Universitäten eine Fülle der innigsten Anhänger gewinnen und als ein würdiger Sproß seiner ruhmreichen, um Gewissens- und Forschungsfreiheit hochverdienten Vorfahren gefeiert werden“. Geschickt wurde auf die große Unterstützung seitens der Parteien des Kartells – also das fragile Bündnis von Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen – hingewiesen: „Zur Seite wird nur stehen der rechte Flügel der Konservativen (die Kreuzzeitungspartei), und diese würde in wenigen Jahren erkennen, welche bedeutende Kraft zum Vortheil der Kirche in Harnack gewonnen ist.“220 Mit diesem Hinweis war der inzwischen mit großer Heftigkeit ausgebrochene Disput über den „Fall Harnack“ in den wichtigsten Tageszeitungen 218 219 220
GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I, Bl. 21v-37, Zitat: Bl. 35. Goßler an Bismarck am 27.6.1888, in: aaO., Bl. 19f. Ebd.
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Deutschlands angesprochen, der – wie Kurt Nowak zu Recht festgestellt hat – einem „Kulturkampf en miniature“ gleichkam.221 Die schärfsten Gegner Harnacks stellten Hammersteins „Kreuzzeitung“ und Stoeckers „Deutsche Evangelische Kirchenzeitung“ dar, für Harnack traten gemäßigt konservative Blätter wie „Die Post“ sowie große Teile der national- und der linksliberalen Presse ein. Den Kommentatoren der verschiedenen Blätter war dabei klar, daß es um mehr als nur um eine theologische Professur ging: Zur Debatte stand vielmehr der politische Kurs des neuen Kaisers. Mochten Stoekker und Hammerstein bei ihrer Ablehnung Harnacks zu Lebzeiten Wilhelms I. noch vorrangig kirchenpolitische Ziele verfolgt haben, so drängte sich – nach einer Phase des Hinhaltens in den 99 Tagen der Regentschaft des erklärten Stoeckergegners Friedrich III. – mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. das zweite Ziel der Auseinandersetzung endgültig in den Vordergrund: Otto von Bismarck. Spätestens jetzt zielten sie mit ihrer heftigen Agitation auf den Reichskanzler selbst, ging es letztlich doch darum, ihren Einfluß bei Hofe in einer der ersten Entscheidungen des neuen Monarchen durchzusetzen, von dem Stoecker hoffen durfte, daß er ihm besonders nahe stand. Allerdings mußte auch Stoecker in einem Brief an Hammerstein vom 14. August 1888 – es handelt sich um den berühmtem „Scheiterhaufenbrief “, der nach seiner Veröffentlichung 1896 großes Aufsehen erregte – eingestehen, daß der Sturz Bismarcks nicht sofort zu erreichen sei, da der Kaiser für ihn und das Kartell zur Zeit noch ganz eingenommen sei. Der Hofprediger empfahl dagegen, das Vertrauen des Monarchen in den Kanzler durch gezielte Nadelstiche „in Dingen, wo er instinktiv auf unserer Seite steht“, allmählich zu erschüttern: „Prinzipiell wichtige Fragen wie Judenfrage, Martineum, Harnack, Reichstagswahl im sechsten Wahlkreis, die gewiß mit einem Fiasko der antisozialdemokratischen Elemente schließt, muß man, ohne Bismarck zu nennen, in der allerschärfsten Weise benutzen, um dem Kaiser den Eindruck zu machen, daß er in diesen Angelegenheiten nicht gut beraten ist, und ihm den Schluß auf Bismarck überlassen. Man muß also rings um das politische Zentrum resp. Kartell Scheiterhaufen anzünden und sie hell auflodern lassen, den herrschenden Opportunismus in die Flammen werfen und dadurch die Lage beleuchten.“222
Der Fall Harnack stellte damit nicht weniger als einen dieser Scheiterhaufen im politischen Feuerwerk der konservativen Ultras dar. Die Argumentation Goßlers – Schwächung des Einflusses der Gegner Bismarcks am Hof, Setzen eines fortschrittlichen wissenschaftspolitischen Signals und damit Sicherung des Zusammenhalts des Kartells – überzeugten Bismarck. Der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident, so die Ant221
Nowak: Einführung (Anm. 100), 19. Stoecker an Hammerstein am 14.8.1888, abgedruckt bei: Huber/Huber: Band III (Anm. 196), 620f. 222
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wort von Bismarcks Kanzleichef von Rottenberg, sei „der Ansicht, daß die Harnack’sche Angelegenheit von weittragender Bedeutung sei“ und sicherte Goßler seine Unterstützung zu, womit der Konflikt noch einmal an grundsätzlicher Schärfe gewann.223 Bismarcks Interesse galt dabei sicherlich kaum der theologischen Lehrfreiheit oder gar der Person Harnacks selbst, sondern er erkannte zweifellos die Chance zur Schwächung seiner Gegner innerhalb der Deutschkonservativen Partei, allen voran natürlich Stoeckers. Auch die Ende Oktober 1888 bevorstehenden preußischen Landtagswahlen spielten vermutlich in seinen Erwägungen eine Rolle, traten doch die wichtigsten Presseorgane der Kartellparteien für Harnack ein, dessen Berufung sie dezidiert als Niederlage des rechten Flügels der Deutschkonservativen gewertet wissen wollten. Insofern lag Stoecker mit der Einschätzung ganz richtig, daß „auch der Fall Harnack wesentlich ein dem Mittelparteigedanken günstiges Wahlmanöver“ gewesen sei.224 Nach Bismarcks eindeutigem Votum legte Goßler das gesammelte Material am 4. Juli Wilhelm II. vor, der die Berufung noch bestätigen mußte. Der junge Kaiser vermied noch eine Entscheidung und forderte seinen Minister auf, sämtliche Unterlagen nochmals dem EOK zur erneuten Stellungnahme vorzulegen – ein Indiz dafür, daß er weder das preußische Staatsministerium brüskieren, noch sich offen gegen die Orthodoxie stellen wollte.225 Bismarck allerdings ließ in einem Schreiben vom 17. Juli an Goßler an seiner Unterstützung für dessen Position keinen Zweifel und betonte nochmals die prinzipielle Bedeutung des Vorgangs: Das Staatsministerium könne sich „bei Regierungshandlungen nicht unter die Vormundschaft des Ober-Kirchenraths stellen, und sich mit letzterem auf gleichem Fuß setzen, indem es über Unterrichtssachen mit ihm verhandele; dabei würde eine ministerielle Verantwortlichkeit nicht mehr möglich sein.“226 Diese Position machte sich das preußische Staatsministerium am 24. Juli zu eigen. Nach diesen Stellungnahmen hätte ein kaiserliches Veto gegen Harnack nicht weniger als die Brüskierung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Bismarck sowie der gesamten preußischen Staatsregierung bedeutet. Der EOK seinerseits spielte erneut auf Zeit und erklärte, eine Entscheidung nicht vor Anfang September fällen zu können.227 Kögel setzte sogar auf eine Verschärfung der Konfrontation: In einem Memorandum vom 27. Juli 1888 erklärte er das Vorgehen Goßlers schlichtweg für „ungültig.“
223 Rottenberg an Goßler am 27.6.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I, Bl. 21v. 224 DEKZ 2 (1888), 383. 225 Vgl. Wendland (Anm. 196), 110–112. 226 Reichskanzlei am 17.7.1888 an Goßler, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 I, Bl. 44r. 227 EOK an Goßler am 3.8.1888, in: aaO., Bl. 45v-46r.
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Nehme man dies hin, dann falle damit auch das Recht des EOK auf Lehrbeanstandungen der zu berufenden Professoren. Kögel schlug deshalb vor, in einem Immediatgesuch den Monarchen um „Wahrung des kirchlichen Rechts“ zu bitten.228 Mit diesem Vorschlag, der einer Kriegeserklärung gegenüber den staatlichen Behörden gleichkam, konnte er sich aber nicht mehr durchsetzen, nachdem von der Goltz seinen erbitterten Widerstand gegen ein solches Gesuch, das zu einer schweren „Schädigung der Landeskirche“ führen müßte, angekündigt hatte.229 Althoff und Weiß waren sich ihrer Sache freilich noch immer nicht sicher: „Gott gebe, daß Ihre ‚Harnäckigkeit‘ wirklich dem Ziele so nahe ist“, schrieb Weiß an Althoff, und gestand, ihm selbst sei noch immer bange.“230 Die Marburger Universität hatte Harnack immerhin bereits am 1. August für das folgende akademische Jahr zum Rektor gewählt und ihm damit demonstrativ den Rücken gestärkt. Freilich war diese Entscheidung intern umstritten gewesen: Nachdem auch in der dritten Stichwahl zwischen Harnack und einem Mitbewerber keine Entscheidung gefallen war, entschied das Los und entfiel auf den kontroversen Theologen. Althoff wußte um die Risiken dieser Art von symbolischer Politik und weigerte sich, die Wahl durch das Ministerium bestätigen zu lassen, setzte aber auch keine erneute Wahl an. Beides, so notierte er auf dem Wahlprotokoll, würde nur zu weiteren Spekulationen über einen Verbleib Harnacks in Marburg führen.231 Harnack bat seinen eifrigen Förderer immer wieder um Auskunft, wann die Berufung endlich geklärt sei und gestand, daß „die Angelegenheit mir allmählich stark auf die Nerven fällt und meine Kräfte lähmt.“232 Am 6. September erklärte die Kirchenleitung, daß sie an der Ablehnung Harnacks festhalte. Damit war eine Entscheidung des Kaisers unumgänglich.233 Erst nachdem Minister Goßler dem Monarchen in einem erneuten Bericht versicherte, die Berufung Harnacks bedeute keinen Linksruck in der preußischen Berufungspolitik, unterschrieb Wilhelm II. am 17. September die Berufungsurkunde.234 In der Öffentlichkeit wurde das Placet des Monarchen als Niederlage der konservativen Bismarckgegner um Hammerstein und Stoecker interpretiert. Die von Stoecker und Hammerstein avisierte „erste Kraftprobe ihres Einflusses auf die Regierung des neuen Kaisers“ sei gründlich daneben gegan228
Vgl. EZA 7/4335, Bl. 221. Stellungnahme von von der Goltz vom 29.7.1888, in: aaO., Bl. 222. 230 Weiß an Althoff am 26.8.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, B 195, Bd. 2. 231 Vgl. den Bericht des Marburger Universitäts-Kurators an das Ministerium in Berlin vom 1.8.1888, in: GStA-PK, I. HA, Rep. 76 V a, Sekt. 12, Tit. 3, Bd. 1 (unpag.). 232 Harnack an Althoff am 12.8.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 233 EOK an Goßler am 6.9.1888, in: aaO., A II, Nr. 79 I, Bl. 47v-50r. 234 Vgl. aaO., Bl. 56v. 229
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gen, stellte das „Berliner Tageblatt“ zufrieden fest und betonte sodann die Bedeutung des Vorgangs mit Blick auf die politische Orientierung des jungen Kaisers: „Um eine neue Enttäuschung bereichert, müssen die Anhänger der äußersten Fraktion erkennen, daß sie zu früh triumphiert haben, als sie von dem Regierungsantritte des Sohnes und Erben Kaiser Friedrichs den Anbruch einer extrem konservativen Aera erhofften.“235 Die Intention des Staatsministeriums brachte zweifellos die freikonservative „Post“ zum Ausdruck, die in der Berufung Harnacks das Bemühen der Regierung um den Ausgleich zwischen konservativen und liberalen Kräften dokumentiert sah. Dabei habe sie die Extrempositionen beider Seiten in die Schranken weisen wollen: „Der Ausdeutung des Royalismus zugunsten einer extremen und politischen Richtung wird der Boden entzogen. Zugleich wird die freisinnige Opposition eines der wirksamsten Agitationsmittel beraubt.“ Die Zurückweisung der hochkirchlich-orthodoxen Bestrebungen, so hieß es dort weiter, verbreitere die Basis „einer gemäßigt liberalen, wie gemäßigt konservativen Tendenzen gleichermaßen zugänglichen Regierung.“236 Stoecker hingegen kritisierte die Entscheidung für Harnack als Willkür des Ministers, bedauerte die darin zum Ausdruck kommende „Unselbständigkeit der organisirten Kirche“ und beklagte die „Verritschelung“ der Theologischen Fakultät mit der Bemerkung: „Verritscheln ist für uns ein ähnlicher Vorgang, als wenn ein blühendes Tal vergletschert.“ Die Regierung nehme der Kirche ihre Selbständigkeit, so sein Fazit, und liefere sie einer Theologie aus, „welche die Thatsachen des Heils entleert oder verflüchtigt. Rom und Unglaube, Antichristentum und Umsturz drängen sich an die evangelische Kirche heran. Wie sollen wir dem Volk die rechten Dienste leisten, wenn die Regierung selbst die Kirche hindert, ihr eigenes Leben zu leben? Handelt der Staat so, dann muß die Kirche jede Verantwortung für den Geist der Kirche ablehnen.“237 Den Schluß aus diesen Ausführungen überließ der Hofprediger seinen Lesern, er lag aber angesichts der Erwähnung des „Umsturzes“ nahe: Eine Regierung, die so handelte, wie im Fall Harnack geschehen, schwächte die Grundlagen der bestehenden Ordnung und wurde so selbst zur Gefahr. Stoeckers Insistieren auf der „Selbständigkeit der Kirche“ griffen die offiziösen „Grenzboten“ in einem „Der Fall Harnack“ betitelten Artikel auf. Zur Selbständigkeit der Kirche gehöre auch die Freiheit der Theologischen Fakultäten gegenüber dem Kirchenregiment, woraus der anonyme Autor für den konkreten Fall die Folgerung zog: „Nicht der Oberkirchenrath, sondern der Staatsminister, der alle formell und materiell berechtigten Instanzen gehört und sich dem Urtheil der materiell berufenen angeschlossen hat, ist in diesem Falle der Vertreter der wahren Selbständigkeit der evangelischen 235 236 237
Berliner Tageblatt Nr. 479 vom 20.9.1888. Die Post vom 21.9.1888. DEKZ 2 (1888), 381–383, 382.
3. Der Ruf nach Berlin im Dreikaiserjahr 1888
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Kirche gewesen“. Der EOK dagegen habe sich „einer Partei, welche die kirchliche Alleinherrschaft beansprucht, dienstbar gemacht.“238 Auch Harnack hat im Rückblick ähnlich geurteilt und wohl an seine eigene Berufung gedacht, wenn er Bismarck bei dessen Abschied 1890 attestierte, wohl trotz aller negativen Folgen für die Kirche letztlich darin Recht gehabt zu haben, „diese Kirche zu knebeln; denn wenn er auch manches Gute niedergehalten hat, vor wie vielem Schlimmen u[nd] Schlimmsten hat er uns bewahrt, indem er es den unwissenden, raffinirten, trotzigen u[nd] verzagten Kirchenpolitikern verwehrt hat, ihren ‚positiven‘ Despotismus aufzurichten.“239 Harnacks Kollegen aus der Gießener Zeit zeigten mit einer demonstrativen Entscheidung noch einmal an, daß es sich aus ihrer Perspektive bei der Entscheidung für Harnack neben allen allgemein-, kirchen- und wissenschaftspolitischen Aspekten nicht zuletzt auch um eine wichtige Etappe im innerprotestantischen Kulturkampf zwischen kirchlicher Orthodoxie und den Vertretern eines freien, an den Bedürfnissen der Moderne orientierten Protestantismus handelte. Am 11. November 1888, dem 405. Tauftag Luthers, verlieh die Gießener Theologische Fakultät Otto von Bismarck die Würde eines Ehrendoktors der Theologie, da dieser „den evangelisch-theologischen Fakultäten theuer geworden ist durch die Entschlossenheit, mit welcher er für die Freiheit derselben eingetreten ist.“ Der Kanzler wollte sein diesbezügliches Engagement – und damit konnte nur der „Fall Harnack“ gemeint sein – als „Eintreten für ein praktisches und duldsames Christenthum“ verstanden wissen, womit er erneut heftige Angriffe der kirchlichen Rechten auf sich zog.240 Harnack hatte mit der Berufung nach Berlin nicht nur ein neues Wirkungsfeld gefunden, sondern auch einen Bekanntheitsgrad erlangt, der weit über das übliche Maß eines Kirchenhistorikers hinausging. Innerhalb weniger Monate war er wider Willen zu einer Art Gallionsfigur des liberalen Protestantismus der verschiedenen Schattierungen geworden. Denn im Eintreten für die Berufung Harnacks kamen die „Ritschlianer“ um die „Christliche Welt“ mit dem Protestantenverein als der Vertretung des alten theologischen Liberalismus überein. Eine zunächst noch fragile „liberale Ökumene“ sollte sich auch in den Auseinandersetzungen der folgenden Jahre andeuten und die Grenzen zwischen beiden Gruppierungen allmählich verwischen. Aber nicht nur innerkirchlich, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit war Harnack nun bekannt geworden. Das galt für die Leser des sozialdemokratischen „Berliner Volksblatts“ ebenso wie für den Abon238
Die Grenzboten 47 (1888), 97–104, 103. Harnack an Rade am 2.4.1890, in: BwR 222f. 240 Vgl. die Begründung der Theologischen Fakultät vom 11.11.1888, in: Schultheß 1888, 167f., sowie Bismarcks Dankschreiben vom 5.12.1888, in: aaO., 192; vgl. ferner Stoeckers Artikel „Ein neuer Doktor der Theologie“, in: DEKZ 2 (1888), 469f. 239
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nenten der „Kreuzzeitung.“ Harnack war eine öffentliche Figur geworden, deren Auftreten in der sozialdemokratischen, der liberalen und der konservativen Presse genau registriert wurde. Gerade letztere wartete nur auf weitere provokante Äußerungen des streitbaren Gelehrten, um ihn erneut der Untreue zu Kirche und Bekenntnis, ja der Ketzerei bezichtigen zu können.
4. „Der Fortschritt ist zum Rückschritt geworden“: Harnack, der Liberalismus und die soziale Frage bis 1890 Wurde bisher vor allem Harnacks Werdegang biographisch nachgezeichnet, seine theologische Entwicklung bis zum entscheidenden „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ verfolgt sowie in den zeitgenössischen Kontext von protestantischer Theologie- und Kirchengeschichte eingestellt, so ist abschließend noch auf die Frage nach der Bedeutung der Jahre bis 1890 für die politische Entwicklung Harnacks zu beantworten. Bereits in den Darlegungen zu Harnacks Dorpater Zeit wurde auf deren grundlegende Bedeutung für theologische Fragestellung und wissenschaftliches Selbstverständnis, aber auch soziale und kulturelle Prägungen verwiesen. Für Harnacks politische Orientierung dürfte seine Begegnung mit dem eher „liberal“ oder „reformkonservativ“ eingestellten Flügel der deutschbaltischen Oberschicht, wie er besonders durch Nikolai von Oettingen repräsentiert wurde, von besonderer Bedeutung sein. Mit diesen baltischen Prägungen hat Harnack die Situation im Deutschland der Reichsgründungsära wahrgenommen. Die Einheit von 1871 hatte er noch als Student begrüßt, die freiheitlichen und nationalen Traditionen der Zeit nach 1813 waren ihm aufgrund der Verehrung des Vaters für Arndt, aber auch aus der Erlanger Zeit bis 1866 vertraut. Eine intensive Beschäftigung mit politischen Fragen läßt sich allerdings weder für die Leipziger noch für die Gießener Zeit nachweisen. Besonders die Leipziger Zeit war geprägt von intensiver wissenschaftlicher Kärrnerarbeit, ohne viel Raum zu lassen für weitergehendes Engagement. Freilich lassen Harnacks Leipziger Predigten erhebliches zeitdiagnostisches Potential durchblicken und belegen eine eingehendere Beschäftigung mit der sozialen Frage. Offensichtlich besuchte der junge Harnack auch verschiedene sozialdemokratische Versammlungen in Leipzig, deren Eindrücke er mit den Worten „Steine statt Brot“ umschrieb.241 Nachweisbar ist zudem ein Engagement Harnacks bei der Leipziger Inneren Mission. 1879 veröffentlichte er in der „Monatschrift für Diakonie und innere Mission“ einen wohl auf Vorträge zurückgehenden Aufsatz über Armenpflege und Diakonie in den ersten drei Jahrhunderten des Christentums. Wenngleich Harnack hier vor allem 241
ZH 162.
4. Harnack, der Liberalismus und die soziale Frage bis 1890
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historisches Material vorführte, so war die Absicht deutlich: „Reich und mannigfaltig hat sich in der alten Kirche die Sorge für das Gesammtwohl der Christenheit und der Gemeinden bewährt. Mißverständnisse, Trübungen, hierarchische Tendenzen und kirchenpolitische Nebenabsichten haben sich allerdings schon im vorconstantinischen Zeitalter eingestellt; aber doch kann uns die Kirche der ältesten Zeit in ihrem Gemeinsinn und ihrer Bruderliebe, in ihrer Theilnahme und Energie zum Muster dienen.“242 Dieses Engagement hat Harnack auch in der Gießener Zeit fortgesetzt, so daß selbst Stoecker während der Auseinandersetzung um Harnacks Ruf nach Berlin dessen soziales Engagement ausdrücklich anerkannte. Offensichtlich las Harnack sogar ein Kolleg über Innere Mission.243 1881 äußerte er sich in einem Brief über seine Position zum Verhältnis von Christentum und sozialer Frage: „Auch ich glaube, dass das Christenthum das tiefste Interesse mit der Noth der Nothleidenden heute mehr als je zu nehmen hat, und dass es sein altes Princip ‚wer unter Euch gross sein will, der sei Diener Euer Aller‘ in der neuen Form, die die Zeit erheischt, zu bewähren hat.“244 Zugleich distanzierte er sich von Stoecker: Dieser, ein „Finten schlagender Corpsbruder“, diskreditiere durch seine Verquickung der sozialen Frage mit parteipolitischem Konservativismus und Antisemitismus „eine große und gute Sache,“ habe aber immerhin, wie die „pietistische Orthodoxie“ überhaupt und im Gegensatz zum liberalen Protestantismus alter Prägung, die Bedeutung des Themas erkannt. Der liberale Hinweis auf die Selbstverantwortung und Freiheit des Einzelnen griff Harnack zufolge bei der Behandlung der sozialen Frage zu kurz. Zwar bestünden vielfache Gefahren der Einschränkung der individuellen Freiheit im Zuge einer entschiedenen Sozialpolitik, aber „dies Opfer muß gebracht werden. Wenn ‚Leben und Leben lassen‘ zu ‚Leben und Sterben lassen‘ wird, muß jede Rücksicht auf das, was als das ‚angenehmste‘, vielleicht auch für Einzelne als das zuträgliche erscheint, aufhören.“245 Das war in der konkreten Situation der frühen 1880er Jahre, kurz vor der Aufnahme der Sozialpolitik Bismarcks, ein Votum für einen sozial engagierten Protestantismus, der frei war von den politischen Vermengungen Stoeckers, ebenso wie für eine wenigstens partielle Berechtigung des „Staatssozialismus“ eines Adolph Wagner, dessen Überlegungen Harnack wohl grob schon aus Dorpat kannte. Es war auch eine Stellungnahme zu der großen Debatte zwischen Schmoller und Treitschke von 1875 um die Berechtigung staatlicher Sozialpolitik, in der Harnack gegen den Nationalliberalen Treitschke und dessen Streitschrift „Der Socialismus und sei242 Die Sorge für arme und gefährdete Gemeinden während der drei ersten Jahrhunderte, in: Zeitschrift für Diakonie und innere Mission 4 (1879/80), 97–108. 157–167, 167. 243 ZH 108. 244 Harnack an Bunge am 28.6.1881, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge, auszugsweise bei ZH 163. 245 Ebd.
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
ne Gönner“ auf der Seite des „Kathedersozialisten“ Schmoller stand.246 In Marburg trat Harnack, wie erwähnt, in Kontakt zu den Philosophen Paul Natorp und Hermann Cohen, deren „ethischer Sozialismus“ ein wesentliches Element ihrer Tätigkeit darstellte.247 In enger Verbindung zu ihnen stand Harnacks Freund und Kollege Wilhelm Herrmann, der dann wie Harnack 1890 zu den Begründern des Evangelisch-sozialen Kongresses gehörte. Herrmann votierte bereits 1891 für eine differenzierte Wahrnehmung der Sozialdemokratie, stellte die Entwicklung eines Staatswesens von der Monarchie zur Republik der christlich-ethischen Urteilsbildung ausdrücklich frei und verweigerte sich damit einer theologischen Legitimierung der Monarchie.248 Die Sozialpolitik war zugleich der Grund für Harnacks deutliche Abgrenzung vom Linksliberalismus in dieser Zeit.249 Daß Harnack – wie jüngst Anselm Doering-Manteuffell dargelegt hat – noch entscheidend vom Liberalismus vor der großen innenpolitischen Wende von 1878/79 geprägt worden ist250, läßt sich weder für die Leipziger noch für die Gießener Zeit belegen. Hier überwog vielmehr die Ablehnung aus vornehmlich sozialpolitischen Gründen, wenn Harnack den liberalen Parteien „Manchestertum“ vorwarf und sich zugleich gegen die Gleichsetzung von theologisch-religiösem und politischem Liberalismus verwahrte: „für die Verkommenheit unserer kirchlichen Verhältnisse ist es namentlich charakteristisch, dass diejenigen, welche im grossen Publikum allein für freisinnige Theologen gelten 246 Heinrich von Treitschke: Der Socialismus und seine Gönner, in: PJ 34 (1874), 67–110, 248–301, sowie Gustav Schmoller: Über einige Grundfragen der Rechts- und der Volkswirtschaftslehre (1874/75), wieder in: ders.: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaftslehre, Leipzig 21904; vgl. zur Debatte auch Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914), Wiesbaden 1967, 85–95, v.a. 91f. Harnack hat sich zu dieser Debatte weder in den 1870er noch den 1880er Jahren direkt geäußert, nahm sie 1910 aber als Ausgangspunkt für eine positive Bilanz der bürgerlichen Sozialreform: „den Streit, den einst Schmoller gegen den großen Historiker Treitschke geführt hat, hat die Geschichte mit unmißverständlicher Deutlichkeit zu Gunsten Schmollers entschieden“, in: VESK 21 (1910), 2. 247 Vgl. Helmut Holzhey (Hg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt am Main 1994. 248 Vgl. Falk Wagner: Theologischer Neukantianismus. Wilhelm Herrmann (1846– 1922), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Band 2: Kaiserreich, Gütersloh 1992, 251–278 sowie Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Das Sozialismusproblem bei Wilhelm Herrmann, in: NZSTh 18 (1976), 22–43. 249 Als Überblick zum Verhältnis von Liberalismus und Sozialpolitik in den 1880er Jahren vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, 187–200; Wolther von Kieseritzky: Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln/Weimar 2002. 250 So Anselm Doering-Manteufell in einem bisher nicht veröffentlichten Vortrag auf dem Harnack-Kongreß 2001.
4. Harnack, der Liberalismus und die soziale Frage bis 1890
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wollen, dies durch den Anschluss an die nationalliberale oder fortschrittliche Parthei bethätigen müssen.“ Es sei eine – auch von Stoecker und seiner Agitation noch verfestigte – „entsetzliche Confusion, als müsse unbefangene, nüchterne Forschung auf dem Gebiete der Religion mit dem Liberalismus unserer Tage Hand in Hand gehen.“251 Das war nicht weniger als ein deutlicher Abgrenzungsversuch, der sich auch nach den Reichstagswahlen von 1884 fortsetzte. Mit Blick auf die Deutsche Freisinnige Partei, die zu Beginn des Jahres 1884 aus einem Zusammenschluß der linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei und den nationalliberalen Sezessionisten der Liberalen Vereinigung hervorgegangen war und die bei den Wahlen etwa ein Drittel ihrer Sitze verloren hatte, formulierte er: „Wie hat sich alles verändert: Der Fortschritt ist […] zum Rückschritt geworden […].“252 Besonders der Parteiführer der Freisinnigen, Eugen Richter (1838–1906), stieß bei Harnack offensichtlich auf Ablehnung.253 Im Blick hatte Harnack dabei ganz die Ablehnung der neugeschaffenen Sozialversicherungen von 1883 und 1884 durch die Partei, für die er Bismarck ausdrücklich lobte: „Ich freue mich mit Dir, daß wir einen Bismarck haben […].“ Die Ablehnung des Linksliberalismus bedeutete freilich noch kein Votum für die Konservativen. Diesen dämmere es zwar langsam, daß eine umfassende Sozialpolitik notwendig sei, sie hätten aber gleichfalls noch nicht die „Probe bestanden, ob sie eine ernsthafte Sozialreform wollen.“254 Ein Anhänger der Deutsch-konservativen Partei war Harnack dennoch nicht, weder ihrer preußisch-ostelbischen Mehrheit noch des Stoecker’schen Sozialkonservativismus. Am nächsten stand Harnack wohl der Freikonservativen Partei, der „Partei Bismarcks sans phrase“, die für einen Ausgleich zwischen Konservativen und Nationalliberalen stand und somit das Scharnier des Kartells von 1887 darstellte, pragmatisch und gouvernemental, kirchenpolitisch anti-orthodox, prokapitalistisch, aber aufgeschlossen für Bismarcks Sozialpolitik.255 Erst 1898 hat Harnack – nachdem die Freikonservativen sich gegen die staatliche Sozialpolitik gewandt hatten – nicht mehr konservativ gewählt.256 Eine Schlüsselfigur für die anzunehmende Präferenz der Freikonservativen ist Hans Delbrück, seit 1884 der Schwager Harnacks. Er vertrat die Freikonservativen seit 1882 zunächst im Preußischen Landtag, 251
Harnack an Bunge am 28.6.1881, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bunge. Harnack an Bunge am 10.12.1884, in: ÖB Basel, Nl. Bunge, Nr. 84, 58. 253 Harnack an Rade am 16.12.1887, in: BwR 191–193, 192. 254 Harnack an Bunge am 10.12.1884, in: ÖB Basel, Nl. Bunge, Nr. 84, 58. 255 Vgl. Volker Stalmann: Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866–1890, Düsseldorf 2000. 256 Das geht hervor aus einem von Delbrück initiierten Wahlaufruf für nichtkonservative Kandidaten 1898, an dem sich Harnack beteiligte und in dem betont wurde, daß die Unterzeichner sich bisher den beiden konservativen Parteien zugerechnet hätten; vgl. in dieser Arbeit Kapitel III.3.5. 252
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II. Harnack in den Jahren 1872 bis 1888
dann von 1884 bis 1890 im Reichstag. Von seiner Bedeutung für Harnacks Einschätzung der deutschen Politik wird noch ausführlich zu reden sein.257 Eine Annäherung Harnacks an einen sozialpolitisch aufgeschlossenen Liberalismus erfolgte dann nach 1895. Neben den gelehrten- und sozialpolitischen Erfahrungen der 1890er Jahre, den Begegnungen mit dem großen Liberalen Theodor Mommsen – er hatte seit 1863 zunächst die Fortschrittspartei im Preußischen Landtag, dann bis 1884 die Nationalliberalen im Reichstag vertreten – spielte dabei die Entwicklung Friedrich Naumanns eine entscheidende Rolle. Daß Harnack die Ideale der Revolution von 1848 keinesfalls ablehnte, belegt eine Rezension der Revolutionserinnerungen des kirchlich und politisch konservativen hessischen Theologen Gustav Schlosser (1826–1890).258 Schlosser bezeichne zutreffend etliche Mängel des Liberalismus, allen voran dessen Unverständnis für „den Werth der religiösen Güter.“ Schlosser sei auch nicht blind gegenüber „den Jämmerlichkeiten und der Misere, gegen welche sich die Revolution gerichtet hat“ und bedauere die „öde Reaction der fünfziger Jahre.“259 Der Wert des Buches lag für Harnack jedoch besonders in den persönlichen Erinnerungen, nicht in der „gründliche[n] Abneigung gegen den Liberalismus“ seitens Schlossers. Denn neben den Fehlern der Liberalen von 1848 müsse man auch die der Gegenseite in den Blick nehmen. Man solle aber „nicht den Anschein erregen, als wäre damals und heute die Situation eine einfache und die Entscheidung dem deutschen Volke leicht gemacht.“260 Eine zentrale Rolle sollte die Erinnerung an 1848 bei Harnack allerdings erst während des Weltkrieges spielen. Neben diesen verstreuten Hinweisen auf Harnacks politische Position ist noch auf seine Rede anläßlich des Lutherjahres 1883 hinzuweisen.261 Sie ließ keinen Zweifel an der Bedeutung Luthers für den jungen deutschen Nationalstaat. Seine Reformation habe zwar „unsere politische Einigung um Jahrhunderte verzögert“, aber dennoch „alles das begründet, was wir heute als unsere Eigenart und Größe schätzen dürfen.“262 Damit verband Harnack dann im Gegensatz zur Mehrzahl der Festredner des Jahres 1883 aber gerade nicht den Hinweis auf politischen Katholizismus bzw. Ultramontanismus und Sozialdemokratie als Reichsfeinde263, sondern beschränkte sich auf den Beitrag Luthers zur Entwicklung von Kultur und Wissenschaft, würdigte dessen Wirkungen auch auf den Katholizismus und betonte die Bedeutung 257
Vgl. dazu Kap. III.3.2.2. ThLZ (8) 1883, 619f. 259 AaO., 619. 260 AaO., 620. 261 RA 1, 141–169. 262 AaO., 167. 263 Vgl. den Überblick bei Hartmut Lehmann: Das Luther-Jubiläum 1883, in: Jürgen Becker (Hg.): Luthers bleibende Bedeutung, Husum 1983, 93–116. 258
4. Harnack, der Liberalismus und die soziale Frage bis 1890
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der Selbstbeschränkung der Religion durch Luther auf individuelle Frömmigkeit, Bildung der Persönlichkeit und die aus der Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses resultierende freie Verantwortung des Einzelnen. Das verband Harnacks Lutherdeutung mit der sich gleichfalls auf die Reformation berufenden republikanischen Philosophie eines Ernest Renan, auf den er sich in seine Lutherrede von 1883 an zwei entscheidenden Stellen bezog. Daß damit die Deutschen als Volk Luthers einen spezifischen, freilich nicht gänzlich nationalisierbaren Beitrag zur Weltgeschichte geleistet hatten, stand für Harnack allerdings außer Zweifel und war ein Beitrag zur nationalen Sinnstiftung, der in Harnacks Lutherdeutungen immer wieder durchleuchtete. 264 Insgesamt bleibt beim Blick auf die Zeit vor 1890 freilich festzuhalten, daß politische Themen mit Ausnahme der sozialen Frage Harnack nur am Rande beschäftigten, wenngleich mit den baltischen Prägungen und den Erfahrungen in Leipzig und Gießen wichtige Wahrnehmungsraster und Deutungsmuster für kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklungen bereits entwickelt waren. Sie sollten, bedingt durch den sozialpolitischen Aufbruch der frühen 1890er Jahre und die rasche Einbindung in die Berliner Gelehrtenpolitik, nach 1890 in vielfältiger Weise zum Tragen kommen.
264 Vgl. dazu Kurt Nowak: Was ist eine Nation? Die Antworten Ernest Renans und Adolf von Harnacks, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 311–324.
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III. Die Berliner Wirksamkeit bis zur Jahrhundertwende
III. Liberaler Protestantismus, soziale Monarchie und die Anfänge gouvernementaler Gelehrtenpolitik: Harnacks Berliner Wirksamkeit bis zur Jahrhundertwende 1. Berliner Lebensführung „Berlin ist ein Vorort von New York. Nicht mehr, nicht weniger; Alles, worauf der Berliner stolz sein kann, hat New York in zehnfachem Umfang: es ist dreimal so groß, es wächst noch rascher, es hat zehnmal soviel Theater, seine Restaurants und Vergnügungsparks sind zehnmal so groß, sein Lärm ist zwanzigmal lauter, seine Entfernungen sind noch weiter.“ So lautete die Beschreibung Berlins aus der Feder des gerade in die Reichshauptstadt berufenen Nationalökonomen Werner Sombart aus dem Jahr 1907. Sombart setzte diese umfassende Neueinschätzung seiner alten Heimatstadt mit seiner in den vergangenen zehn Jahren vollzogenen „Entwicklung zum Kulturmenschen“ gleich. Als Folge dieser Entwicklung galt seine Verachtung jetzt Berlin, seine Liebe dagegen Wien – als Inbegriff von „Schönheit und Harmonie“, als „Kultur“, „Ganzheit“, „Ausgeglichenheit.“ Die altertümlich idealisierte k.u.k.-Metropole war in Sombarts kritischer Abrechnung mit den Folgen des modernen Kapitalismus nicht weniger als ein „Symbol dessen, was wir zu erhalten, was wir wiederzugewinnen trachten müssen.“ Gegenüber der „regulative[n] Kulturidee“ Wien galt für Berlin als New York en miniature die Kennzeichnung als „Wüste. Ein großer Kulturkirchhof. Soll die Menschheit auf ihm endigen?! […] Was nützt die ganze norddeutsche (amerikanische) Kultur, wenn ich nur noch Teilmenschen, unliebenswürdige, ekelhafte Patrone um mich sehe?“1 Die massive Kulturkritik, die in Sombarts Ausführungen zu Berlin und Wien als Symbolen der deutschen Kulturentwicklung zum Ausdruck kam, war dem zehn Jahre älteren Harnack gänzlich fremd. Bei Sombart kam darin die zwischen 1904 und 1907 vollzogene Wende hin zu „aristokratische[m] 1 Werner Sombart: Wien, in: Morgen 1 (1907), 172–175. Zum biographischen Kontext vgl. Friedrich Lenger: Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, 136–170.
1. Berliner Lebensführung
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Ästhetizismus“2 und „Antipolitik“3 zum Ausdruck, während Harnack – auch hierin einer älteren Generation angehörig – eine wesentlich positivere Einschätzung der Kultur der Gegenwart vertreten konnte, die trotz der auch von ihm registrierten zunehmenden Krisenphänomene vor 1914 relativ ungetrübt blieb. So fehlte es bei ihm auch an jenen Sombartschen Kontrastierungen. Berlin blieb bis an Harnacks Lebensende sein Wirkungsfeld, ohne daß die Stadt je zur Chiffre kulturellen Unbehagens geworden wäre. Die Familie Harnack bezog zunächst eine Wohnung in einem Mietshaus in der Hohenzollernstraße am Rande des Tiergartens – einer bevorzugten Wohngegend von Professoren. Dilthey, Mommsen, Sybel, um nur einige zu nennen, wohnten hier. 1892 verließ die Familie dieses bildungsbürgerliche Umfeld und bezog ein neugebautes Haus in der Gravelottestraße in Wilmersdorf, das damals noch weit vor den Toren der Stadt lag und überwiegend ländlichen Charakter trug. Die Harnackschen Hausangestellten kündigten wegen der abgelegenen Lage gar ihre Stellung: Sie wollten nicht aufs Land ziehen.4 1910 – inzwischen war Wilmersdorf weitgehend bebaut worden – erwarb Harnack ein neues Haus in der Kuntz-Bundschuh-Straße am Berliner Grunewald, unweit des S-Bahnhofs Halensee und in direkter Nachbarschaft zu Hans Delbrück und Max Planck, wo er bis zu seinem Tod 1930 lebte.5 Berlin erschloß Harnack noch einmal ein ganz anderes Wirkungsfeld als die kleinen Universitätsstädte Gießen und Marburg. Mit der unmittelbaren Nähe der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Hof und Reichsleitung sowie den Spitzen der preußischen Verwaltung und der einzelnen Reichsämter kam der Berliner Universität eine herausragende Rolle unter den deutschen Universitäten zu.6 Sie war zweifelsohne das Zentrum gelehrtenpolitischen Engagements in Deutschland. Zahlreiche offizielle Anlässe boten ebenso wie eine ganze Reihe informeller Kreise sowie vielfältige persönliche Kontakte die Möglichkeit, durch publizistische sowie gutachterliche Tätigkeiten auf wissenschafts- und allgemeinpolitische Entscheidungen einzuwirken, aber auch von Seiten der Reichs- bzw. der preußischen Regierung politisch eingebunden oder – schärfer ausgedrückt – gezielt instrumentalisiert zu werden. 2 Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Wiesbaden 1967, 330. 3 So das Urteil Friedrich Naumanns über Sombarts Position (Friedrich Naumann: An Herrn Prof. W. Sombart, in: Morgen 1 [1907], 383–387). Zur heftigen Kontroverse, die Sombarts „Morgen“-Artikel auslösten, vgl. Lenger, 154–162, sowie Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, 185–189. 4 ZH 131–144. 5 AaO., 343f. 6 Vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 92–112.
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III. Die Berliner Wirksamkeit bis zur Jahrhundertwende
Im folgenden soll Harnacks Einbindung in die Berliner Gelehrtenpolitik der 1890er Jahre nachgezeichnet werden. Es ist dies die Phase des intensiven sozialpolitischen Engagements einer großen Zahl von Professoren in der ersten Hälfte der 1890er Jahre, die über die Zeit der sozialpolitischen Reaktion der Ära Stumm schließlich in die maßgeblich vom Reichsmarineamt initiierte professorale Flottenagitation um 1900 einmündet.7 Dazu wird zunächst der grundsätzliche Charakter von Gelehrtenpolitik skizziert, um dann die verschiedenen Zirkel vor Augen zu führen und die unterschiedlichen Weisen der Einflußnahme aufzuzeigen. Für Harnack war dabei zunächst die Bekanntschaft mit Theodor Mommsen besonders wichtig. Sodann ist auf Harnacks intensive Kooperation mit seinem engen Freund und Schwager Hans Delbrück einzugehen, dem für die politische Urteilsbildung des Kirchenhistorikers fundamentale Bedeutung zukommt. Schließlich ist drittens Harnacks zunehmende Einbindung in die preußische Wissenschaftspolitik zu behandeln. Er wurde in Berlin bald zu einer zentralen Figur im Umfeld des Ministerialdirektors Friedrich Althoff. Dabei stehen weniger die einzelnen Tätigkeitsfelder Harnacks im Mittelpunkt als vielmehr das immer dichter geknüpfte Netz persönlicher Kontakte, das verbunden mit seiner hervorgehobenen Rolle bei den Feiern zum 200. Geburtstag der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1900 ihn schließlich in das nähere Umfeld des Kaisers brachte. Schließlich soll Harnacks Anteil an den einzelnen politischen Aktionen und Einflußversuchen deutscher Professoren im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende dargestellt werden. Die Zäsur der Jahrhundertwende ist aus verschiedenen Erwägungen heraus sinnvoll. Sie bedeutet zum einen einen Einschnitt in der Geschichte der Gelehrtenpolitik, da nach der Flottenagitation ein zunehmender Rückzug der Gebildeten aus der Politik zu beobachten ist, dem sich nur wenige Gelehrte – und darunter eben Delbrück und Harnack – entzogen. Zum anderen ist für diesen Einschnitt die Einsicht leitend, daß Harnacks Kontakte und bald sein direkter Zugang zum Monarchen ab 1900 zu einer Akzentverschiebung seines Engagements führten. Den skizzierten Ausführungen zu Begriff, Funktionsweisen und konkreten Einflußnahmen der gelehrtenpolitischen Aktivitäten Harnacks folgt eine Darstellung seiner Mitwirkung am 1890 gegründeten Evangelisch-sozialen Kongreß, der sowohl inhaltlich als auch von der Intensität der Mitarbeit her den Schwerpunkt seines Engagements bis 1900 und darüber hinaus bildete. Auch hier stellt die Jahrhundertwende einen Einschnitt dar, übernahm Harnack doch 1902 die Präsidentschaft des Kongresses. Vorangestellt werden soll jedoch ein kurzer Blick auf die Bedeutung Harnacks in den theologie- und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen 1890 und 1900. Sie haben nicht nur für den Theologen, sondern auch 7
AaO., 138–156.
2. Kirchenpolitisch-theologische Kontroversen nach 1890
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für den Gelehrtenpolitiker Harnack grundlegende Bedeutung, denn es ist das Feld dieser Kontroversen, auf dem sich zuerst zentrale Handlungsmuster des Berliner Theologen herausschälten. Die Erfahrungen mit seinen kontroversen und öffentlichkeitswirksamen Vorstößen zum Apostolikumstreit von 1892 haben eine zunehmend skeptische Sicht gegenüber einer Vorgehensweise bewirkt, die in erster Linie auf die Auseinandersetzung vor dem Forum der Öffentlichkeit und der Parteien setzte. Harnack sah sich mehr und mehr – bestärkt durch die intensivierte Zusammenarbeit mit Althoff – dazu veranlaßt, direkt auf Regierung und hohe Verwaltungsbürokratie Einfluß zu nehmen.
2. Innerprotestantische Kulturkämpfe: Harnack und die kirchenpolitisch-theologischen Kontroversen nach 1890 Die heftigen Auseinandersetzungen um Harnacks Berufung nach Berlin hatten erneut die tiefe Spaltung der verschiedenen Richtungen des deutschen Protestantismus um 1890 hervortreten lassen. Neben den politischen Implikationen ging es dabei auch um die Konfrontation zweier unterschiedlicher Auffassungen von protestantischem Christentum und seiner der Gegenwart adäquaten Gestalt. Nicht zuletzt auf dieser Konfliktebene war der Name Harnack endgültig zum Programm geworden, an dem sich die Geister schieden. Und es war deshalb auch nur eine Frage der Zeit, bis um Harnack, der nun in den Augen der orthodox-konservativen Kreise gleichsam alle Übel einer ihrer Meinung nach das Christentum seiner Grundgestalt nach verfälschenden und schließlich zersetzenden Theologie in seiner Person vereinte, neue Streitigkeiten ausbrachen. War Harnacks Berufung nicht zu verhindern, so galt es, wenigstens seinen kirchlichen Einfluß zu begrenzen. Daß Harnack von der Kirche nicht – wie bei Theologieprofessoren eigentlich üblich – zur Abnahme der kirchlichen Examina für Pfarramtskandidaten herangezogen wurde, war ein erstes Signal in diese Richtung. Die ersten Berliner Eindrücke zeigten zunächst allerdings wenig von dieser Polarisierung. Das Einleben in die neuen Verhältnisse gelang Harnack schnell. Schon im November 1888 konnte er seinem Bruder Otto berichten, die Familie sei in Berlin bereits „höchst situirt“, und bemerkte, zu seiner Überraschung habe man nach all den Auseinandersetzungen um seine Berufung bisher „keine störenden Zwischenfälle zu beklagen.“ Zufrieden zeigte er sich auch mit dem großen Anklang seiner Lehrveranstaltungen, „zumal ich weiß, daß viele Studenten vor dem Besuch meiner Vorlesungen gewarnt werden.“ In der Fakultät sowie der Universität insgesamt sei er freundlich aufgenommen worden, habe zahlreiche Antrittsbesuche gemacht und neh-
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me jetzt die Gegenbesuche entgegen: „Die Herren sind mir sehr freundlich entgegengekommen; überhaupt spüre ich persönlich von dem ‚Fall Harnack‘ nichts, komme freilich auch nicht in Kreise, wo man sich über mich aufregt.“8 Zu diesen Kreisen zählte selbstverständlich der Hofprediger Stoecker, den zu besuchen Harnack strikt ablehnte. Diese Äußerung deckte zugleich die sozialen Gründe der tiefen Zerklüftung des Berliner Protestantismus auf.9 Stoeckers Anhängerschaft rekrutierte sich v. a. aus Kleinhandel und Gewerbe und war besonders in den neueren Stadtquartieren verankert, während der liberale Protestantismus, aber auch die mittelparteilichen Bestrebungen im alten Bürgertum über erheblichen Rückhalt verfügten und eher in den entsprechend geprägten Gemeinden der Innenstadt sowie der bürgerlichen Vororte im Westen der Stadt dominierten. Eine Hochburg der Orthodoxie, allerdings auch in kritischer Distanz zu den Bestrebungen Stoeckers, stellte ferner der Adel dar, doch wirkte sich das weniger in den städtischen, dafür aber um so mehr in den ländlichen Gemeinden des Umlandes aus. Es gelang Harnack sehr schnell, in den eher liberal orientierten Kreisen der Berliner Kirche Fuß zu fassen. Rasch knüpfte er freundschaftliche Beziehungen zu den Geistlichen der drei großen Innenstadtkirchen St. Marien, St. Petri und Jerusalem. Insbesondere zu Hermann Scholz von der Mariengemeinde, der auch Gelehrte wie Gustav Schmoller und Hans Delbrück sowie der Industrielle Werner von Siemens angehörten, gab es enge Kontakte.10 Angesichts des Streits um seine Berufung verhielt Harnack sich zunächst eher vorsichtig: „Ich werde zunächst mich in allen Actionen passiv verhalten u[nd] die Situationen studiren.“11 Aber schon im Februar 1889 sprach er in einer Rede anläßlich des hundertsten Geburtstages des Theologen August Neander den seiner Meinung nach wichtigsten Mißstand der kirchlichen Gegenwart an: den Gebrauch und die verbindliche Gültigkeit des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst. Indem Harnack seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß sich in Zukunft ein „festes und weites Bekenntnis“
8
Harnack an seinen Bruder Otto am 19./7.11.1888, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack,
Nr. 2. 9 Neben Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, 83–95, vgl. Joachim Rohde: Streiflichter aus der Berliner Kirchengeschichte von 1900 bis 1918, in: Günter Wirth (Hg.): Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, Berlin 1987, 217–242. 10 Vgl. zu Scholz Friedrich Wilhelm Graf: Art. Hermann Scholz, in: BBKL 9 (1995), 687–747. An St. Petri amtierte Hermann v. d. Goltz, der sich – wie gesehen – als Mitglied des EOK für Harnack eingesetzt hatte. Pfarrer an der Jerusalemkirche war Hermann von Soden. 11 Harnack an seinen Bruder Otto am 19./7.11.1888, in: SBB-KK, Nl. O. Harnack, Nr. 2.
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an Stelle des Apostolikums formulieren lasse, während man die gegenwärtige Situation nur durch „Geduld und Weisheit“ mit Blick auf das bisher gültige „enge Bekenntnis“ meistern könne12, begab er sich auf eines der brisantesten und umstrittensten Felder der kirchlichen Auseinandersetzungen im Preußen des 19. Jahrhunderts. Schon Schleiermacher hatte den Nutzen eines die Geistlichen verpflichtenden Bekenntnisses in Abrede gestellt. Versuche der Neuformulierung eines Bekenntnisses waren in den 1840er Jahren am erbitterten Widerstand der konservativ-orthodoxen Kreise um Hengstenberg und Stahl gescheitert. Lehrprozesse gegen Geistliche wurden zu einer ihrer wichtigsten Waffen im Kampf gegen Rationalismus und liberale Theologie. Emil Herrmann, der vergleichsweise liberale Präsident des EOK in der auch kulturpolitisch eher liberal gestimmten „Ära Falk“ trat 1879 von seinem Amt zurück, nachdem Wilhelm I. dessen behutsamen Umgang mit Lehrzuchtprozessen wiederholt öffentlich kritisiert hatte.13 Dabei hatten mit dem Brandenburger Konsistorialpräsidenten Hegel und dem Hofprediger Kögel eben dieselben Kirchenpolitiker auf den Sturz Herrmanns hingearbeitet, die dann neun Jahre später zu den Hauptgegnern der Berufung Harnacks gehörten. Daß Harnacks Ausführungen keine größeren Angriffe seitens seiner Gegner zur Folge hatten, lag vornehmlich daran, daß mit Julius Kaftan ein weiterer Ritschlianer der Berliner Fakultät zur Zielscheibe ihrer Kritik geworden war. Kaftan hatte sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Forderung des Protestantenvereinlers Otto Dreyer nach einem dogmenfreien Christentum für die Neuformulierung eines zeitgemäßen kirchlichen Bekenntnisses ausgesprochen und diesen Vorschlag auf die pointierte Formel eines „neuen Dogmas“ gebracht.14 Der konservative „Reichsbote“ polemisierte in zwei Leitartikeln gegen diese „leere Schale eines ProfessorenChristenthums“, das seinem Gehalt nach auch der „heidnische Hottentot“ und der „naturalistische Anarchist“ für sich beanspruchen könnten.“15 Harnack hielt Kaftans Forderung für vollkommen berechtigt, wenngleich er statt „Dogma“ lieber von „Bekenntnis“ reden wollte, und erklärte eine kritische Geschichte des Apostolikums für notwendig. Mit Blick auf seine Stellung in Berlin sei das aber zur Zeit nicht „opportun“: „Mir aber lauern sie auf, wo sie können. […]. Wenn ich nun mit dem Apost[olikum] komme, werden sie es mit mir machen wie mit Kaftan: sie werden das, was ihnen paßt, heraus-
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RA 1, 193–218, hier 218. Vgl. dazu Friedrich Michael Schiele: Art. Apostolikumstreit, in: RGG1 1, 601–
608. 14 Julius Kaftan: Glaube und Dogma. Betrachtungen über Dreyers undogmatisches Christentum, Bielefeld/Leipzig 1889; vgl. auch Otto Dreyer: Undogmatisches Christentum? Betrachtungen eines deutschen Idealisten, Braunschweig 1888. 15 So der Artikel „Professorenweisheit“ in: Der Reichsbote Nr. 50 vom 28.2.1889.
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greifen, um Stimmung i[n] d[er] Gemeinde zu machen, u[nd] das Positive verschweigen.“16 Die sozialpolitische Aufbruchsstimmung nach Bismarcks Abschied 1890 überspielte dann aber zunächst den Gegensatz Harnacks wenigstens zu einem Teil der kirchlichen Rechten, indem es für einige Jahre zur Kooperation mit der Gruppe um Stoecker im Evangelisch-sozialen Kongreß kam. Allerdings mußte Harnack auch hier einiges an Selbstbeherrschung aufbringen, um die innerprotestantischen „Ekelschranken“17 besonders Stoecker gegenüber zu überwinden. Das Jahr 1892 brachte dann „den lebhaftesten kirchlichen Kampf, den das 19. Jhd. seit dem Streit um Strauß’ Leben Jesu gesehen hatte.“18 Anlaß dieses erneuten Apostolikumstreites war die Entlassung des Württembergischen Pfarrers Christoph Schrempff durch die Kirchenleitung in Stuttgart, nachdem dieser sich 1891 aus Gewissensgründen geweigert hatte, das Apostolikum weiterhin im Gottesdienst zu gebrauchen. Der Vorfall erregte großes Aufsehen und erreichte im Sommer 1892 auch Harnack, und zwar in Form einer studentischen Anfrage, ob es ratsam sei, in einer Petition der Studierenden an den Oberkirchenrat die Entfernung des Apostolikums aus der Ordinationsverpflichtung der Geistlichen und aus dem gottesdienstlichen Gebrauch überhaupt zu fordern. Harnack antwortete Mitte Juli 1892 in seiner Vorlesung über „Entstehung und Bedeutung der theologischen Richtungen der Gegenwart“ und sandte diese Stellungnahme anschließend an Martin Rade zur Veröffentlichung in der „Christlichen Welt“, wo sie am 18. August 1892 erschienen.19 Da die Neuformulierung eines Bekenntnisses zur Zeit nicht möglich sei, empfahl Harnack die Freigabe seines Gebrauchs in den einzelnen Gemeinden und warb dafür, zumindest solange ein neues Bekenntnis noch nicht formuliert sei, sich um eine „positive Stellung zu den Grundgedanken“ des alten Bekenntnisses zu bemühen. Unmißverständlich wies er auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten eines intentionalen Glaubensbegriffs, also im Sinne von Glauben an bestimmte Tatsachen, hin. Das Bekenntnis habe ja nicht Tatsachen als solche zum Inhalt, sondern die in diesen Tatsachen aufscheinenden Bedeutungsgehalte, die „unsichtbaren Beziehungen und Werte […], die der Glaube an ihnen wahrnimmt.“20 Doch ein solches umdeutendes Verfahren sei weder hinsichtlich der Behauptung der „Auferstehung des Fleisches“, die der paulinischen Lehre widerspreche, noch im Blick auf das „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der 16
Harnack an Rade am 9.3.1889, in: BwR 213. Hübinger (Anm. 9), 6. 18 Schiele (Anm. 13), 605. Ein guten Überblick bietet Agnes von Zahn-Harnack: Der Apostolikumstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart, Marburg 1950. 19 ChW 6 (1892), 768–770; auch in: RA 1, 219–226. 20 AaO., 223. 17
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Jungfrau Maria“ möglich. Hier könnten echte Gewissensnöte entstehen, doch sei der Verbleib im Amt trotz dieser Sätze, die nicht ins Zentrum des christlichen Glaubens zielten, eine zu rechtfertigende Position. Den Studierenden selbst riet er von einer Petition ab und empfahl ihnen fleißiges Studium und die Ausarbeitung einer eigenen, auch von den Traditionen abweichenden Position, die sie im Amt dann mit Festigkeit vertreten könnten. Harnacks Ausführungen riefen vielfältige Pressestimmen hervor. Während die „Protestanten-Vereins-Korrespondenz“ Harnack „Kasuistik“ und unnötige Vermittlungsbemühungen vorwarf – das Apostolikum sowie die anderen Bekenntnisse seien nicht mehr „als merkwürdige Dokumente einer vergangenen Epoche christlicher Erkenntnis“21 –, begannen die Blätter der kirchlichen Rechten – „Kreuzzeitung“, „Reichsbote“ und die regionalen Kirchenzeitungen – eine regelrechte Kampagne gegen Harnack, dem sie nicht nur eine Attitüde professoraler Unfehlbarkeit ankreideten, sondern vor allem einen gezielten Angriff auf die Grundlagen der Kirche vorwarfen, die er damit gegenüber den Angriffen von Katholizismus und Sozialdemokratie schwäche. Die „Kreuzzeitung“ konstatierte, daß „die Kirche die Pflicht hat […] auf den tiefen Riß hinzuzeigen, der zwischen ihr und solcher Theologie besteht.“ Die Agitation der „Kreuzzeitung“ und der ihr nahestehenden Blätter verband sich zunehmend mit antisemitischen Tendenzen, indem wiederholt darauf verwiesen wurde, daß Harnack von den „ Judenblättern“ – gemeint waren „Vossische Zeitung“ und „Berliner Tageblatt“ – unterstützt werde.22 Für den Leser der Kreuzzeitung konnte es keinen Zweifel daran geben, daß ihre Berichterstattung auf nicht weniger als die Entfernung Harnacks aus seinem Amt, mindestens aber die Ergänzung der Theologischen Fakultät durch die Berufung eines positiven Theologen als Gegengewicht zu Harnack zielte. Ausführlich wurde über zahlreiche, vornehmlich ostelbische Pfarrkonvente und Gemeindeversammlungen berichtet, die forderten, Harnack „als Irrlehrer aus dem Amt zu entlassen.“23 Harnack selbst sah in dem Kirchenverständnis, das sich hinter den Angriffen der kirchlichen Orthodoxie verbarg, nicht weniger als einen Rückfall in den Katholizismus und warf ihren Repräsentanten vor, auf „dem Wege nach Rom zu sein“, denn „Rom ist zunächst nicht der Papst und die sieben Sakramente, sondern der falsche Glaubensbegriff und die sichtbare Kirche.“24 In dieser Diagnose konnte er sich noch darin bestätigt fühlen, daß sowohl die „Germania“ als auch die „Kölnische Volkszeitung“ als halboffiziöse Organe 21 Protestanten-Vereins-Korrespondenz Nr. 36 von 22.9.1892, zitiert nach: CCW 2 (1892), 345f. 22 Kreuzzeitung vom 24.8.1892. 23 Vgl. etwa den Bericht der Kreuzzeitung vom 26.9.1892 über eine Versammlung von Pfarrern in der Altmark. 24 Heilige Kirche, in: ChW 6 (1892), 911–914, 912. Dieser zunächst anonym veröffentlichte Artikel spiegelt am klarsten Harnacks Intentionen im Streit von 1892 wider.
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des politischen Katholizismus in Deutschland unmißverständlich erklärt hatten, daß „unsere Sympathieen auf den Seiten der Orthodoxen“ liegen.25 Angesichts dieser katholisch-orthodoxen Koalition ging es Harnack ganz zentral darum, das Wesen des Protestantismus anhand jener zwei Punkte – Glaubensbegriff und Kirchenverständnis – klar und präzise zu profilieren. Ersteren sah er gerade nicht auf das Fürwahrhalten bestimmter Tatsachen gegründet, wie z. B. der Wunder oder der Auferstehung, die dann einfach Anerkennung und Gehorsam forderten, sondern in der je individuellen Aneignung der Glaubensgehalte nach den in ihnen erschlossenen „Werten.“ Letzteres sollte nicht länger auf die Identifikation der gegenwärtigen Kirchen als irdischer Institutionen mit der unsichtbaren Kirche als Gemeinschaft der Christusgläubigen und die abgeleitete Auffassung, die Kirche sei als vermeintlich notwendige Heilsanstalt selbst Gegenstand des Glaubens, hinauslaufen. Vielmehr zielte das protestantische Kirchenverständnis auf die Anerkennung des Sachverhalts, daß die Kirchen – egal ob die Preußische, die Schaumburg-Lippische Landeskirche oder die römisch-katholische Kirche – nicht mehr zu sein beanspruchen können als historisch kontingente Erscheinungen. Die Agitation der kirchlichen Rechten war insofern erfolgreich, als Harnack Anfang Oktober 1892 vom preußischen Kultusminister Robert Bosse einbestellt wurde, der ihn um eine schriftliche Stellungnahme für den vom Kaiser angeforderten Immediatbericht bat. In den Augen Harnacks war entscheidend, daß Bosse sich trotz aller sachlichen Bedenken unmißverständlich für die Lehrfreiheit der Theologieprofessoren aussprach, wenngleich die Entscheidung letztlich beim Kaiser lag. Bosse schlug in seinem Bericht lediglich einen Verweis Harnacks sowie die Schaffung einer neuen Professur vor, die gleichsam als Gegengewicht zu Harnack fungieren sollte und die – unter Mitwirkung Harnacks – zunächst mit Adolf Schlatter und dann 1897 mit Reinhold Seeberg besetzt wurde. Daß das Ministerium nicht einmal den zunächst angekündigten Verweis aussprach und daß selbst der Kaiser, der religiös stark mit den Kräften der Orthodoxie sympathisierte, die Sache mit der Einrichtung eines theologisch-kirchlich „positiven“ Lehrstuhls für erledigt ansah, war für Harnack ein weiterer Beweis der relativen Fortschrittlichkeit der preußischen Wissenschaftspolitik in Fragen der Lehrfreiheit. So konnte er Althoff gegenüber im Februar 1893 das Angebot einer Berufung nach Harvard mit den Worten kommentieren: „Wegen mangelnder wissenschaftlicher Freiheit wird hoffentlich niemals ein Preuße aus seinem Vaterland auswandern müssen.“26 25
Kölnische Volkszeitung Nr. 583 vom 21.10.1892; Germania vom 22.10.1892. Notiz Harnacks auf dem Berufungsangebot der Harvard-Universität vom 2.2.1893, das er Althoff zur Kenntnisnahme übersandte, in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 109. 26
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Für die Gruppe um Harnack, Rade und die „Christliche Welt“ führte der Apostolikumstreit zu dem Entschluß, sich straffer zu organisieren. Dies geschah am 4. und 5. Oktober 1892 bei einer Versammlung in Eisenach, auf der eine Erklärung verabschiedet wurde, die sich mit Harnack solidarisierte. Es war dies die Geburtsstunde der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ als der wohl interessantesten und intellektuell anspruchsvollsten Gruppierung des liberalen Protestantismus.27 Mit dem Apostolikumstreit war Harnack also wieder in den Mittelpunkt der kirchlichen Kämpfe der 1890er Jahre gerückt. Er blieb in den Folgejahren die zentrale Figur der Auseinandersetzungen. Im folgenden Jahr schien sich die Konstellation von 1892 zu wiederholen. Gegen den Widerstand der verschiedenen liberalprotestantischen Gruppierungen verabschiedete die preußische Generalsynode eine neue Agende, die gleichsam zu „einer latenten Verewigung des gegen Harnack geführten Bekenntnisstreites“28 wurde, indem sie nicht nur am verbindlichen Gebrauch des Apostolikums festhielt, sondern auch seine zentrale Stelle im Ordinationsversprechen der Pfarrer festigte. Harnack hatte sich schon im März 1894 maßgeblich an einer Eingabe an den Oberkirchenrat beteiligt, in der eine umfassende Revision der Gottesdienstordnung gefordert wurde29 und Kollegen – darunter auch Treitschke, der eine Unterschrift jedoch ablehnte30 – um Unterschriften gebeten. Nach der Verabschiedung der neuen Agende am 10. November 1894 bezog er – wie 1892 – in seiner Vorlesung Stellung, die er sogleich Rade zum Abdruck übersandte. Schon am 13. November berichtete die „Kreuzzeitung“ über Harnacks Äußerungen, der ganz offensichtlich die „ernsten Vorhaltungen“ des Ministers vor zwei Jahren nicht beachtet habe, was bei Harnacks „hohem professoralen Selbstgefühl“ sowie seinem „geringen kirchlichen und pädagogischen Takt […] nicht Wunder nehmen“ könne.31 Indem der Artikel ausdrücklich an das ministerielle Eingreifen von 1892 erinnerte und diesen neuen „Fall Harnack“ mit heftiger Polemik gegen die Verteidigung der Lehrfreiheit an den Universitäten in der liberalen Presse verband sowie die Unsitte beklagte, „Tagesereignisse vor Studierenden in kritischer oder
27 Das Protokoll ist abgedruckt in: AdF, Nr. 82 vom 15.3.1926, 925–932; vgl. auch Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 64–74. 28 Schiele (Anm. 13), 606. 29 Die Eingabe mit Unterschriften in: CCW 4 (1894), 89–92. Zu den Unterzeichnern gehörten auch die Professoren Dilthey und Schmoller; vgl. zum Agendenstreit auch Hanna Kasparick: Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der Preußischen Agende (1892–1895), Bielefeld 1996. 30 Harnack an Treitschke am 14.2.1894, in: SBB-PK, Nl. Treitschke, K. 6. 31 Kreuzzeitung Nr. 533 vom 13.11.1894.
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gar witzelnder Weise zu besprechen“32, zeigte er zugleich an, daß man gewillt war, die Auseinandersetzung von 1892 erneut aufzunehmen. Was den Umgang mit Angriffen auf die kirchlichen Lehren vom theologischen Katheder von Seiten der „Umsturztheologie“ anging, empfahl der „Reichsbote“ ein probates Mittel, und das sicher auch mit Blick auf Harnack: Versetzung von der theologischen in die philosophische Fakultät und Ernennung weiterer positiver Ordinarien.33 Harnack reagierte auf diese neue „Professorenhetze“34 umgehend und wollte nicht „so dumm“ sein, sich „von der Kreuzzeitung provociren zu lassen“, so daß er von einer Veröffentlichung seiner Stellungnahme absah, zumal sich schon durch das bisherige Presseecho gezeigt habe, „daß wir uns nicht einfach beugen.“35 Gewichtiger bei dieser Entscheidung waren allerdings Informationen, der Minister sei ungehalten, weil Harnack die Ermahnungen von 1892 nicht hinreichend respektiert habe.36 Immerhin hatte Harnack Althoff noch am 13. November, also nachdem die ersten Angriffe der „Kreuzzeitung“ erschienen waren, über die Vorlesung in Kenntnis gesetzt, sein Vorgehen als „Gewissenspflicht“ bezeichnet und eine Veröffentlichung angekündigt. Althoff antwortete am 18. November – inzwischen hatte Harnack also bereits vom Plan der Veröffentlichung abgesehen –, erklärte sich mit Harnacks Vorgehen nicht einverstanden und riet von einer Veröffentlichung dringend ab, um „die Sache möglichst im Sande verlaufen zu lassen.“ Auch habe er in diesem Sinne auf den Chefredakteur der „Kreuzzeitung“ eingewirkt. Althoffs Antwort, die es bei einer bloßen Mißbilligung beließ, aber nicht die geringsten Anstalten zu disziplinarischen Schritten zeigte, fand die ausdrückliche Zustimmung des Ministers, womit die Sache für das Kultusministerium erledigt war.37 Für Harnack war damit klar, daß das Ministerium die Angriffe auf ihn ins Leere laufen lassen würde, zugleich aber keine weiteren „Provokationen“ seinerseits gut hieß. Er gab daher die Parole aus: „Immer langsam voran u[nd] immer trockenes Pulver.“38 Martin 32
Kreuzzeitung Nr. 535 vom 14.11.1894. Reichsbote Nr. 267 vom 13.11.1894. 34 So Martin Rade, in: ChW 8 (1894), 1169–1174. Ausdrücklich ist auf den Zusammenhang dieser Pressekampagne mit dem zunehmenden Druck auch auf die Kathedersozialisten hinzuweisen, die wie die Theologen um Harnack mit dem Nationalökonomen August Meitzen gleichfalls zu den dem „Umsturz“ zuarbeitenden Gelehrten gezählt wurden. 35 Harnack an Rade am 15.11.1894, in: BwR 308. 36 Ebd. 37 Harnack an Althoff am 13.11.1894, in: GStA-Pk I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit IV, Nr. 44, Bd. 5, Bl. 15f.; Notiz Althoffs vom 18.11.1894, in aaO., 17f, dort die zustimmende Notiz Bosses („sehr richtig“). 38 Harnack an Rade am 17.11.1894, in: BwR 313. Dieser Brief datiert zwar einen Tag vor Althoffs Antwort, doch ist anzunehmen, daß Harnack inzwischen bereits über die Vorgänge im Ministerium unterrichtet war. 33
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Rade schließlich folgte in seiner Berichterstattung zu Agendenstreit und „Professorenhetze“ weitgehend den Ratschlägen seines Freundes Harnack und lobte insbesondere das Verhalten des Staates, der in Fragen der Freiheit theologischer Forschung „mehr evangelisches Verständnis“ an den Tage lege „als die hochkirchlichen Eiferer.“39 Die Freiheit der theologischen Wissenschaft gegenüber ihrer kirchlichen Funktionalisierung und Disziplinierung zu verteidigen, blieb auch in der Folgezeit eines der Hauptanliegen Harnacks und führte zu weiteren Konflikten. Die Erfahrungen von 1892 und 1894 ließen ihn aber zunehmend auf vertrauliche Einflußnahme durch persönliche Gespräche und Gutachten setzen als auf öffentliche Aktionen, um so diejenigen Kräfte innerhalb des preußischen Kultusministeriums zu stärken, die wenigstens für eine Gleichberechtigung der verschiedenen theologischen Richtungen an den Fakultäten eintraten, allen voran natürlich Friedrich Althoff. Harnack hat diesen Kurs mit Nachdruck gegen den Vorwurf allzu großer Zögerlichkeit verteidigt, den einige Freunde, darunter auch Rade, erhoben hatten. Er machte dabei zugleich allgemeinpolitische Überlegungen geltend, die sich auf den zunehmend konservativen Kurs erst der preußischen, dann seit dem Rücktritt von Reichskanzler Caprivi 1894 auch der Reichsregierung bezogen: „Unter dem Regime Eulenburg-Köller […] gilt Alles als Umsturz, was nicht den conservativsten – so nennen sie es – Gedanken sich unterwirft“. Das gelte nicht nur für die Sozial-, sondern auch für die Hochschul- und Kirchenpolitik und werde von „positiver“ Seite auch mit Blick auf die Besetzung theologischer Professuren massiv ausgenutzt, zumal man in Kultusminister Bosse jemanden zu sehen habe, der dem „sehr zugänglich ist.“ Öffentliche Erklärungen könnten da nur schaden, vielmehr müsse man die Gegenkräfte innerhalb des Ministeriums stärken: „Gegenüber diesem Ansturm ‚kirchlicher‘ Interessenpolitik ist Althoff noch immer ein Schutz u[nd] man sollte ihm dankbar sein u[nd] nicht in Zeiten, wo das Höchste in Frage steht, ihm Schwierigkeiten bereiten.“40 Tatsächlich hat Harnack seit 1894 begonnen, kirchen- und theologiepolitisch wesentlich behutsamer zu agieren. Mit großer Beharrlichkeit setzte er sich bei Berufungen für junge liberalprotestantische Theologen bei Althoff ein.41 Gerade in Fragen der Lehrfreiheit blieb er weiter auch zu öffentlichen Stellungnahmen bereit. Als im Mai 1895 die Landeskirchliche Versammlung, eine Zusammenkunft der wichtigsten Vertreter der kirchlich-orthodoxen Gruppierungen innerhalb der preußischen Landeskirche, die Lehrtätigkeit der nicht ihr zugehörigen Theologieprofessoren als „schwere Gefährdung unserer evangelischen Kirche und unseres evangelischen Volkes“ bezeichne39 40 41
Martin Rade: Zur jüngsten Professorenhetze, in: ChW 8 (1894), 1169–1174, 1172. Harnack an Rade im April 1895, in: BwR 329f. Reiches Material dazu findet sich im Briefwechsel mit Althoff.
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te und daraus die Forderung nach einer Verstärkung der positiven Dozenten ableitete, war es Harnack, der die Berliner Theologische Fakultät zu einer eindeutigen und öffentlichen Zurückweisung dieser Anschuldigungen aufforderte und eine entsprechende Stellungnahme vorformulierte. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der Mehrheit seiner Kollegen. Nur mit Mühe gelang es ihm, wenigstens einen Brief an den Minister durchzusetzen, in dem die erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen wurden.42 Es ließen sich weitere Auseinandersetzungen um kirchliche Stellungnahmen Harnacks anführen, so etwa die scharfe Kritik seiner schonungslosen Analyse der „gegenwärtigen Lage des Protestantismus“ in einem Vortrag Ende 1896.43 Seitens des „Reichsboten“ trug sie Harnack den Vorwurf ein, sich durch die vermeintliche Leugnung „der Existenz einer über den Menschen und dem Gewissen waltenden sittlichen Weltordnung“44 auf eine Stufe mit dem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Bebel zu stellen. Prominenter noch sind die heftigen Auseinandersetzungen, die Harnacks berühmte Vorlesungen über das Wesen des Christentums im Wintersemester 1899/1900 auslösten.45 Die Reaktionen auf die Wesensschrift werfen zugleich ein Schlaglicht auf die Stellung Harnacks in Theologie und Kirche um 1900. Eindeutig war die Ablehnung auf Seiten der alten Orthodoxie und des konfessionellen Luthertums. Aber auch innerhalb des weiten Spektrums des liberalen Protestantismus zeigten sich erhebliche Differenzen in der Beurteilung des Umformungsprogramms Harnacks. Das galt insonderheit für den Kreis der „Freunde der Christlichen Welt“. Alten Ritschlianern und Weggefährten Harnacks ging dieses Programm viel zu weit, das galt für Friedrich Loofs, v. a. aber für den Freund aus Leipziger Tagen, Julius Kaftan. Er lehnte sogar eine von Harnack erwogene Kandidatur für die Brandenburgische Provinzialsynode als Vertreter der Theologischen Fakultät mit der Begründung ab, ein solcher Schritt sei „ein Affront gegen die Synode.“46 Aber auch von „links“ wurde Kritik laut, die sich weniger auf das Ziel, aber doch auf grundlegende methodische Fragen des Umformungsversuches bezog. Es waren insbesondere die Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule“ um Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset, die solche Fragen aufwarfen.47 In diesen Ausdifferenzie42 Vgl. die Unterlagen in: UA Berlin, Theol. Fak., Nr. 59, Bl. 35–40. Zur Landeskirchlichen Versammlung vom 8.5.1895 vgl. den Bericht in: CCW 5 (1895), 161–172, Zitat 172. 43 RA 2, 129–157. 44 Reichsbote vom 18.10.1896. 45 Eine umfangreiche Sammlung der Reaktionen bietet Thomas Hübner: Adolf von Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfragen als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1994, 98–157. 46 Harnack an Rade am 8.9.1902, in: BwR 484. 47 Vgl. zu den Diskussionen um die Religionsgeschichtliche Schule Rathje (Anm.
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rungen des Freundeskreises in „Alte“ und „ Junge“ geriet Harnack in eine Mittelstellung. Er widersprach den Religionsgeschichtlern und all denen, die auf eine schnellere, wesentlich radikalere Umgestaltung von Kirche und Theologie drangen, wußte sich aber doch im Ziel eher mit ihnen einig als mit etlichen der alten Freunde und förderte deshalb mit großem Nachdruck ihre akademische Karriere. Auch Rade, der sich wiederholt enttäuscht darüber gezeigt hatte, daß Harnack sich nicht zum Führer einer auch kirchenpolitischen Reformbewegung aufgeschwungen hatte, übte Kritik am zu zögerlichen Vorgehen seines Freundes. Doch bleibt demgegenüber festzuhalten, daß die nunmehr zu Tage tretenden Ausdifferenzierungen innerhalb des Freundeskreises der „Christlichen Welt“ eine Folge der maßgeblich von Harnack geführten Auseinandersetzungen der frühen 1890er Jahre waren. Sie hatten auf der einen Seite zu einem allmählichen Abflauen der Grenzen zwischen dem Gros der Ritschlianer und Anhängern des Protestantenvereins geführt und damit innerhalb der „Freunde“ einen Linksruck bewirkt, zugleich aber die erheblichen Differenzen innerhalb der Gruppe um Ritschl aufgezeigt. Harnack konnte Ritschl v. a. als kritischen Historiker der Lehrtradition lesen48, Kaftan – der wie Loofs aus der Vereinigung ausschied – in dessen Werk dagegen eher den systematischen Versuch sehen, die notwendigen Lehrumstellungen eng an die Tradition und einen stark theologisch aufgeladenen Wahrheitsbegriff anzubinden. Agnes von Zahn-Harnack hat vor dem Hintergrund dieser Beobachtung von einer inneren Umstellung im Leben ihres Vaters gesprochen, weg von den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen hin zu einem immer intensiveren wissenschaftspolitischen Engagement. Die Auseinandersetzung mit Kirchenleitung und Orthodoxie auf der einen, die zunehmende Enttäuschung über das kirchliche Desinteresse der Laien als Gegengewicht zu den klerikalen Bestrebungen von Kirchenleitungen und Gemeindeorthodoxie auf der anderen Seite, hätten ihn „innerlich Abschied [nehmen lassen] von der Kirche, wie sie sich ihm sichtbar darstellte.“49 Tatsächlich markiert die Jahrhundertwende auch von Harnacks äußeren Lebensdaten her unverkennbar eine Wende hin zum Wissenschaftsorganisator. Die Abneigung gegen Kirchenpolitik jeder Art tat ein übriges. Dennoch blieb Harnack in einem weiteren Sinn „kirchlich“ engagiert und interessiert. 27), 84–95; vgl. als Überblick auch Gerd Lüdemann (Hg.): Die „Religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs, Frankfurt/Bern/New York/Paris 1996. 48 So widersprach Harnack heftig der brieflichen Ausführung seines Schülers Gustav Krüger, Ritschl sei kein Historiker gewesen, vgl. Harnack an Krüger am 25.6.1896, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Krüger. Ritschl habe die „Geschichtsconstructionen Baur’s siegreich durchbrochen“ und „einige bleibende Grundlinien für den Neubau gezogen.“ Er werde daher „solange ein Historiker bleiben, als nicht der Freisinn allein, sondern auch Sachkenntniß und Scharfblick über die Befähigung zum Historiker entscheiden.“ 49 ZH 226–232.
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Seine Stellungnahmen zu diversen „Fällen“ wie Jatho und Traub belegen das ebenso wie sein nach 1900 verstärktes Engagement im Evangelisch-sozialen Kongreß. Unverkennbar ist allerdings, daß Harnack sich weitaus behutsamer engagierte, weniger auf Eskalation und stärker auf Interessenausgleich zielte. Daß sein Wirken mehr und mehr auf einen allmählichen Wandlungsprozeß setzte und sich dabei eher der staatlichen Berufungspolitik sowie einer gewissen Zurückhaltung bei öffentlichen Aktionen bediente, ansonsten aber auf eine sukzessive Veränderung durch eine weniger konservative Zusammensetzung der Kirchenleitung hoffte, ist bereits erwähnt worden. Hinzu kamen Vorbehalte gegenüber der vor allem für Berlin typischen Verbindung von kirchlicher und politischer Lagerbildung. Sie gab es sowohl auf Seiten der kirchlichen Rechten, die politisch mit den Konservativen verbunden war, als auch im Protestantenverein, dessen führende Berliner Repräsentanten in den verschiedenen linksliberalen Gruppierungen engagiert waren. „Die hiesige kirchlich-liberale Partei ist noch immer vollkommen mit der Hypothek des Rathaus-Freisinns belastet“50, klagte Harnack gegenüber Rade und hielt damit – gerade nach den Erfahrungen des politischen Streits um seine Berufung – an seiner bis in die Dorpater und Leipziger Zeit zurückreichenden Kritik an der politischen Funktionalisierung kirchlich-religiöser Fragen fest. Sie galt für Konservative und Liberale gleichermaßen. Noch auf einen weiteren Punkt ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen, der bereits Harnacks gelehrtenpolitisches Selbstverständnis erkennbar werden läßt. Die mangelnde „Lust“, sich kirchenpolitisch zu engagieren, hatte eine wesentliche Ursache in seiner Auffassung des Amtes eines Professors. Dieses ließ seinem Selbstverständnis nach zwar Stellungnahmen in Gewissensfragen nicht nur zu, sondern erforderte sie geradezu, ließ ihn aber zugleich davor zurückschrecken, durch konsequenten und zielstrebigen Einsatz agitativer Mittel breite Zustimmung zu mobilisieren. Es bedürfe eines wirklichen Reformators, der er nicht sei, erklärte Harnack gegenüber seinen Freunden, die ihn drängten, doch auch kirchlich als Führungsgestalt aufzutreten.51 Vom Standpunkt einer überparteilichen Wissenschaft aus beratend auf die Dinge Einfluß zu nehmen, das war nach Harnacks Überzeugung seine Aufgabe, nicht jedoch kirchenpolitische Führerschaft. Hinzu kam die Einschätzung, mit der eigenen Position zumindest kurzfristig innerkirchlich nicht mehrheitsfähig zu sein – allein schon deshalb, weil die Synodalverfassung, ursprünglich aufgrund liberaler Forderungen eingeführt, wegen der deutlichen Mehrheitsverhältnisse zu einem wichtigen Faktor der beharrenden Kräfte geworden war. Harnack beschränkte sich deshalb auf die Behebung der dringendsten Notstände sowie die Wahrung der Lehrfreiheit an den Theologischen Fakultäten. Sein langfristiges Ziel, das er nun mit Hilfe 50 51
Harnack an Rade am 3.5.1900, in: BwR 453. ZH 159.
2. Kirchenpolitisch-theologische Kontroversen nach 1890
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seines Einflusses im Kultusministerium durchzusetzen suchte, blieb unverändert. Prägnant hat er es 1902 im Zusammenhang mit dem gegen den prominenten Praktischen Theologen Otto Baumgarten gerichteten Absetzungsgesuch von beinahe 200 Pastoren aus Schleswig-Holstein formuliert. In seinem Begleitschreiben an Althoff, der Harnack um einen Entwurf für die ablehnende Antwort des Ministeriums gebeten hatte, schrieb er: „Der preußische Cultusminister (bez. der Ministerialdirektor) wird sich ein unsterbliches Verdienst um die evangelische Kirche u[nd] die evangelische Theologie erwerben, der endlich dem ungesunden u[nd] lähmenden Zustand ein Ende macht und frei bekennt: die evangelische Theologie soll, ohne Mentalreservationen und Bedingungen, dieselbe Freiheit haben wie die Wissenschaft überhaupt; wir schließen endlich auch für die evangelische Theologie die Periode des Mittelalters ab.“52 Harnacks Zurückhaltung hatte aber noch einen weiteren Grund, der mit einer veränderten Einschätzung der Lage des freien Protestantismus in Deutschland zusammenhing, dem im Gegensatz zu ähnlichen Strömungen in den USA oder in Großbritannien ein kirchlich engagiertes Laientum fehle. Die deutschen Kirchen seien als „Pastoren- und Theologen-Kirche“ nicht mehr als eine „reformierte katholische Kirche“, deren Angebot an Kasualien die frei gesinnten Laien in Anspruch nähmen, im Übrigen sich aber nach eigenem Belieben lediglich Teile der christlichen Überlieferung nach ihrer Praktikabilität für die eigene Lebensorientierung aneigneten: „Der der Kirche wohlwollende deutsch-evangelische Laie […] bewährt in der Hochschätzung der Taufe, des Religionsunterrichts seiner Kinder, der Konfirmation, der Trauung, des kirchlichen Begräbnisses und im Besuche von ein bis drei Sonntagsgottesdiensten seine Kirchlichkeit. Davon abgesehen empfindet er sich als freier Christ, der seinen Weg und seine Erbauung selbst suchen muß und sich von der kirchlichen Überlieferung so viel oder so wenig aneignet, als ihm zusagt.“ Kirchenpolitische Aktionen erwarteten sie letztlich von Theologen und Pastoren, ja ihre evangelische Freiheit zeige sich gerade darin, „daß sie nichts mit der Kirche zu tun haben brauchen.“ 53 Alle Versuche von Pietismus und Liberalismus, diese Situation zu ändern, seien gescheitert, ja hätten besonders mit der eingeführten Synodalordnung sogar noch zu einer Stärkung der konservativen Kräfte geführt, die ein breites orthodox profiliertes Laientum hinter sich wüßten, das die Synoden weithin in ihrem Sinne dominiere. „Wir haben keinen Laienstand in Bezug auf freie Kirchlichkeit“, so Harnacks Fazit54, der diesen Zustand damit aber keineswegs beklagen wollte. Denn dem Fehlen der freien Kirchlichkeit korrespon52 Harnack an Althoff am 29.11.1902, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105, Bl. 3. AaO., Bl. 4, findet sich der erwähnte Entwurf Harnacks. 53 Soll in Deutschland ein Kongreß für freies Christentum abgehalten werden? Offener Brief an D. Rade, in: AdF Nr. 23 vom 4.4.1908, 225–228, 225. 54 AaO., 227.
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III. Die Berliner Wirksamkeit bis zur Jahrhundertwende
diere doch eine wahrhaft „freie Christlichkeit“ – allerdings auf Kosten eines „gebundenen Pastorenstandes.“55 Diese „freie Christlichkeit“ in Deutschland habe Geistesgrößen wie Kant, Schiller, Goethe, Herder und Schleiermacher erst möglich werden lassen. Zu ändern sei diese spezifisch deutsche Erscheinungsweise des Protestantismus nicht: „Ich habe es 30 Jahre lang versucht und die geschichtliche Macht, die dahinter steht, für besiegbar gehalten. Es geht nicht; nur eine Revolution könnte helfen! Es ist unser Glück und Unglück, Segen und Fluch zugleich.“56 Unglück – damit sah Harnack die kirchenpolitische Schwäche des liberalen Protestantismus verbunden, aber auch das kirchenregimentliche Insistieren auf der Bekenntnisverpflichtung der Pastoren. Glück – das lag in seinen Augen in der Weite des nichtkirchlichen freien Christentums. Aus Harnacks Perspektive konnte es angesichts dieser Lage nicht um eine Verkirchlichung der Laien gehen, sondern um die allmähliche Durchsetzung der Freiheit auch für die Pastoren sowie eine differenzierte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Breite des freien Christentums. Dahinter stand die Einsicht in die Pluralisierung des Protestantismus in der Moderne, die von keiner Kirchlichkeit mehr gänzlich eingeholt werden konnte und sollte. Es ist dies eben jene von Ernst Troeltsch beschriebene Religion der gebildeten Laien, jenes „Christentum des Geistes und der Gesinnung, der humanitären Tat und völlig individueller Zurechtlegung des religiösen Gedankengehaltes“57, die aber neben sich die Fortexistenz des kirchlichen Christentums voraussetzt. Zeitlebens hat Harnack die Notwendigkeit der Fortexistenz des in der Sozialgestalt der Kirche institutionalisierten Christentums mit Nachdruck betont. Nur vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich, weshalb seine Haltung bei zahlreichen Liberalprotestanten beispielsweise angesichts des Falles Jatho umstritten war und blieb. Ausgehend von dieser Einsicht in die dauerhafte Verfaßtheit der gleichsam „gedoppelten Religion“ stand aber ab 1900 nicht so sehr die kirchliche Binnenfixierung auf Bekenntnisstreit und Pastorenfreiheit im Zentrum seines Wirkens – dies waren eben weitgehend, wenngleich zentrale, Theologenprobleme –, sondern eher die Sicherstellung jenes für die Gesamtkultur unentbehrlichen protestantischen Elementes der individuellen Freiheit und der unverletzbaren Würde jeder Einzelperson.58 Das protestantische Profil der modernen Kultur zur Geltung zu bringen, war die Grundintention aller gelehrtenpolitischen Aktivitäten Harnacks. Sie durchzieht als cantus firmus seine Aktivitäten sowohl in der Forschungs- und Bildungspolitik als auch in 55
AaO., 226. AaO., 227. 57 Ernst Troeltsch: Religion und Kirche, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften II, Tübingen 21922, 146–182, 148. 58 Vgl. RANF 3, 203–212. 56
3. Gelehrtenpolitik im Berlin der 1890er Jahre
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der Sozialpolitik. Die Mittel, derer er sich dabei bediente, lassen sich denn auch auf einen zentralen geistigen Grundbestand des Protestantismus zurückführen, auf die Ethik des Kompromisses. Als Harnack 1924 Ernst Troeltschs posthum erschienene Vorträge rezensierte, empfahl er besonders den Titel „Politik, Patriotismus und Religion.“ Die darin entfalteten Überlegungen zum „Kompromiß von Naturalismus und Idealismus, von praktischen Notwendigkeiten irdischen Menschenlebens und idealen Zielen des geistigen Lebens“59, stießen auf die ausdrückliche Zustimmung Harnacks: „Am meisten empfehle ich, über die Abschnitte nachzudenken, in denen Troeltsch den verlästerten Begriff des ‚Kompromisses‘ zu Ehren bringt.“60
3. Gelehrtenpolitik im Berlin der 1890er Jahre 3.1. Gelehrtenpolitik: Grundlagen und Wirkungsweise Der Ruf nach Berlin eröffnete Harnack neben der theologisch-kirchlichen Tätigkeit zahlreiche neue Wirkungsmöglichkeiten und ließ ihn in wenigen Jahren zu einem führenden Gelehrtenpolitiker aufsteigen. Die folgende kurze Skizze des Typus des Gelehrtenpolitikers, seiner Einflußmöglichkeiten sowie seiner Betätigungsfelder im Zusammenhang mit grundlegenden Entwicklungslinien von Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland soll die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Wirksamkeit Harnacks deutlich werden lassen.61 Als Gelehrtenpolitiker läßt sich im Anschluß an Rüdiger vom Bruch eine Gruppe von Hochschullehrern bestimmen, „die als Gelehrte den Politikern das ‚geistige Rüstzeug‘ zur Verfügung stellten.“62 Sie zeichneten sich ferner dadurch aus, daß „sie in der Beurteilung der politischen Zielsetzung und Einflußmöglichkeiten von Wissenschaft, der wesensmäßigen Anbindung an die staatlichen Entscheidungseliten, der Überzeugung einer richtungsweisenden Schiedsrichter- und Orientierungsinstanz einer Wissenschaft über den Parteien sowie einem vorwiegend publizistischen Wirkungswillen eng miteinander verbunden waren.“63 Die politische Einflußnahme der Gelehrtenpolitiker stützte sich nicht auf die Mitarbeit in Parlamenten. Kennzeichnend war vielmehr das gezielte Einwirken auf die nach professoralem Selbstverständnis in gelehrten Stellung59 Ernst Troeltsch: Politik, Patriotismus und Religion, in: ders.: Der Historismus und seine Überwindung, Berlin 1924, 84–105, 104. 60 DLZ 45 (1924), 261–263, 263. 61 Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3). 62 AaO., 385. 63 AaO., 20.
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nahmen sich gleichsam verdichtende öffentliche Meinung von Bildungsbürgertum und beamteten Entscheidungsträgern. Dabei bediente sie sich verschiedener politischer Zeitschriften64, unter denen besonders Hans Delbrücks „Preußische Jahrbücher“, Friedrich Naumanns „Hilfe“, Martin Rades „Christliche Welt“ und Johannes Grunows „Grenzboten“ zu nennen sind. Aber auch auf ein breiteres Publikum angelegte wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie die akademische Lehrtätigkeit konnten diesem Ziel dienen und auf die Gegenwartspraxis gerichtete kulturelle Leitbilder und Deutungskategorien bereitstellen. Ferner kam die Stellungnahme durch Aufrufe und Petitionen ebenso in Betracht wie die Einflußnahme auf die höhere Beamtenschaft durch sozialpolitische Fortbildungskurse, wie sie der Verein für Socialpolitik und der Evangelisch-soziale Kongreß in den 1890er Jahren abhielten. Hinzu kamen zahlreiche Kontakte auf den jährlichen Tagungen dieser beiden Organisationen sowie in verschiedenen bildungsbürgerlichen Zusammenkünften.65 Umstritten blieb freilich die Frage nach Möglichkeiten und Intensität einer gouvernementalen Anbindung von Gelehrtenpolitik, wie sie etwa Delbrück und Schmoller, aber auch Harnack vertraten – eine Konzeption, die, besonders deutlich bei Hans Delbrück, Konflikte mit Behörden und Reichsleitung nicht ausschloß. Diese Tendenz zur gouvernementalen Anbindung wohnte der Gelehrtenpolitik von Anfang an inne, intensivierte sich aber auffallend nach 1900 unter der Kanzlerschaft Bülows, der gezielt angesehene Hochschullehrer wie Schmoller und Harnack um sich scharte. „Mit der Fackel der Erkenntnis denen voranleuchten, die als Staatsmänner und Beamte, als Partei- und Klassenführer, als Beherrscher der öffentlichen Meinung direkt Politik machen wollen“66 – so brachte Schmoller die Intention dieser Gruppe auf eine Formel, die dann von Hans Delbrück in eine Theorie der verschiedenen Gewalten im Staat überführt wurde.67 Die verstärkte Gouvernementalisierung begründete die Skepsis, mit der Gelehrte aus dem näheren Umfeld Naumanns wie Lujo Brentano oder Max und Alfred Weber diesem Konzept gegenüberstanden. Ihnen zufolge waren Reformen des politischen Systems in nur geringem Maße mit der als reformunwillig eingeschätzten Bürokratie zu erreichen. Alfred Weber warnte in einem Beitrag während der Wiener Tagung des Ver-
64 Zum Begriff der „politischen Zeitschrift“ und ihrer Funktion im Kommunikationssystem des Bürgertums vgl. aaO., 32–49. 65 AaO., 63–65 u. 249ff. Zu den sozialpolitischen Kursen des ESK Max Weber: Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst diesen Jahres, in: ChW 8 (1893), 766 – 768. 66 So Schmoller in seiner Eröffnungsrede zur Nürnberger Tagung des VfS 1911, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 138 (1912), 4. 67 Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung, Berlin 1914.
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eins für Socialpolitk 1909 gar vor einer „Theokratisierung der Beamten“ seitens der Delbrück/Schmoller-Gruppe.68 Grundlegend für jede Beschäftigung mit dem Phänomen der Gelehrtenpolitik ist die Einsicht in die enge Verzahnung von sozialhistorischer und ideengeschichtlicher Arbeitsweise, von Soziokultur und Deutungskultur.69 Professoren als Träger von Gelehrtenpolitik rekrutierten sich meist aus dem sozialmoralischen Milieu des protestantisch geprägten Bildungsbürgertums, einer Schicht also, deren gesellschaftliche Legitimation zentral an den Kategorien einer formalisierten Bildung und spezialisiertem, auf gesamtgesellschaftliche Leistung ausgerichtetem Fachwissen orientiert war. Die Universität war dafür die Vermittlungsinstitution von Bildung und Wissen. Insofern repräsentierten die Hochschullehrer idealtypisch Wertvorstellungen und Selbstverständnis des Bildungsbürgertums, woraus sich das ihnen zugesprochene hohe Sozialprestige erklärte. Eben daraus resultierte zugleich ihr für die Gelehrtenpolitik grundlegender Anspruch, kulturelle und politische Deutungsmuster in zahlreichen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens bereitzustellen sowie in bedeutsamen außen- und innenpolitischen Fragen als überparteiliche und damit zugleich Normativität beanspruchende Orientierungsinstanz wahrgenommen zu werden und so Perspektiven und Handlungsrichtlinien aufzuzeigen, die sowohl von der gleichfalls bildungsbürgerlich verstandenen „öffentlichen Meinung“ als auch von den bürokratischen Eliten in Staat und Verwaltung aufgenommen und umgesetzt werden sollten. Bildungsbürgerliche Soziokultur und professorale Deutungskultur kamen nun nicht nur darin überein, daß diese Deutungsmuster Ausdruck eben jenes Sozialmilieus waren, sondern daß zum einen der Resonanzraum der öffentlichen Meinung stark von bildungsbürgerlichen Denkmustern geprägt war, zum anderen ferner die angesprochenen bürokratischen Eliten in Staat und Verwaltung größtenteils selbst diesem Milieu entstammten. Damit hing zugleich eine strukturelle Schwäche der gouvernemental orientierten Gelehrtenpolitik zusammen, die besonders während des Weltkrieges zu Tage trat und die die Systemprobleme des Kaiserreichs widerspiegelte: Besonders wichtige Teile der adeligen ostelbischen Führungsschichten am Hof, v. a. aber im Militär, blieben ihrem Einfluß nämlich weitgehend entzogen. Wichtig ist zudem ein weiteres Problem. Konkrete Einflüsse und Resonanz der verschiedenen Vorstöße sind nicht immer ohne weiteres feststellbar, was mit den publizistischen und informellen Einflußkanälen, deren sich Ge68 Vgl. zur Bürokratie-Kontroverse von 1909 die Ausführungen bei vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 278f, 279. 69 Vgl. die Hinweise bei Rüdiger vom Bruch: Gelehrtenpolitik und politische Kultur im späten Kaiserreich, in: Gustav Schmidt/Jörn Rüsen (Hg.): Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland. Referate und Diskussionsbeiträge, Bochum 1986, 77–106, v.a. 78f.
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lehrtenpolitik bediente, zusammenhängt. Sie lassen sich nur begrenzt an Hand von Briefwechseln und Notizen nachweisen, zumal in Berlin als dem Zentrum von Gelehrtenpolitik die persönlichen Kontakte auf Gesellschaften und in den verschiedenen Zirkeln im Mittelpunkt standen, die sich nur teilweise in Korrespondenzen und Akten niedergeschlagen haben. Auch schwanken die gelehrtenpolitischen Aktionen zwischen einem Vorgehen aus eigenem Antrieb, zum Teil auch gegen die offizielle Regierungspolitik, v. a. in den sozialpolitischen Kontroversen der 1890er Jahre, und der gezielten Instrumentalisierung, etwa in Fragen der Außen- und Militärpolitik, besonders deutlich bei der Flottenagitation. Geschichte und Nationalökonomie waren die Leitdisziplinen der beschriebenen Gelehrtenpolitik, repräsentiert von Gestalten wie dem Historiker Hans Delbrück oder dem Nationalökonomen Gustav Schmoller. Aber auch der evangelischen Theologie, die gleichfalls gesellschaftliche und kulturelle Sinndeutungsangebote produzierte, wird man einen gewissen, wenn auch gegenüber Nationalökonomie und Historie eher begrenzten Raum innerhalb der Gelehrtenpolitik zubilligen müssen. Harnack etwa war primär nicht nur Historiker, sondern eben auch Theologe, freilich in einem Verständnis von Theologie als historischer Kulturwissenschaft der christlichen Religion.70 Insofern waren die Grenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie fließend, doch wird man nicht ohne weiteres daraus folgern können, daß bei Harnack „kaum Bedarf an theologisch genährten Fackeln beim Beschreiten des Tunnels bestand“, da er sich ganz in „eine durch Geschichte und Nationalökonomie geprägte Lichterprozession“ eingereiht habe.71 Denn es war Harnack eben auch darum zu tun, ein theologisches Licht zum Scheinen zu bringen, das seine Leuchtkraft aus der Wertschätzung und Sicherstellung der unhintergehbaren, weil im überzeitlichen Evangelium Jesu verankerten Würde des Individuums bezog. Dieser zentrale – und historisch an die Person Jesu rückgebundene – Gehalt des Christentums stand bei Harnack etwa in den Ausführungen zur sozialen Frage gleichwertig neben nationalökonomischen und historischen Erwägungen. Auch die breite Kulturdebatte des deutschen Protestantismus um 1900, an der Harnack sich lebhaft beteiligte, zielte auf eine bestimmte Gestaltung von Kultur, Gesellschaft und Politik, so daß etliche ihrer Protagonisten aus ihren kulturtheoretischen Überlegungen direkte politische Folgerungen ableiteten und – wie etwa der liberale Theologe Otto Pfleiderer oder der konservative Kulturlutheraner Reinhold Seeberg – im Medium der Gelehrtenpolitik durchzusetzen versuchten.72 70 Vgl. nur Die evangelische Theologie (Leitsätze), in: F. Koehler (Hg.): Frei und gewiß im Glauben. Beiträge zur Vertiefung in das Wesen der christlichen Religion, Berlin 1909, 1–3. 71 Vom Bruch: Gelehrtenpolitik (Anm. 69), 98. 72 Auf die Bedeutung der protestantischen Theologie in diesem Zusammenhang ver-
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Abschließend sei darauf hingewiesen, daß das hier skizzierte Modell idealtypisch zu verstehen ist. Die zunehmende Aushöhlung des bildungsbürgerlichen Sozialmilieus, der Wandel von der klassischen Universität hin zum wissenschaftlichen Großbetrieb, die Spannungen und Polarisierungen innerhalb des Systems politischer Herrschaft führten zu einer Ausdifferenzierung von Gelehrtenpolitik insgesamt. Die erwähnte Kritik Webers an dem liberal-elitären Modell gouvernementaler Gelehrtenpolitik, wie sie Delbrück, Schmoller und Harnack repräsentierten, war darauf ebenso zurückzuführen wie die Etablierung einer neuen Form konservativ-populistischer Gelehrtenpolitik, wie sie der eng mit dem Alldeutschen Verband kooperierende Historiker Dietrich Schäfer73, v. a. aber Harnacks theologischer Widerpart Reinhold Seeberg mit seinen gleichfalls exzellenten Beziehungen sowohl zum Kultusministerium, aber auch zum kaiserlichen Hof verkörperten.74
3.2. Persönliche Kontakte: Theodor Mommsen und Hans Delbrück Bediente sich Gelehrtenpolitik nicht zuletzt der verschiedenen institutionalisierten Gesprächskreise und Vereinigungen, die das gesellschaftliche Leben der Reichshauptstadt mitprägten75, so fällt für Harnack zunächst auf, daß er zwei der wichtigsten dieser Kreise nicht angehörte, nämlich der elitär-gelehrten, tagespolitische Fragen ausschließenden, aber dennoch schon von ihrer Zusammensetzung her einen gouvernementalen Grundkonsens widerspiegelnden Mittwochsgesellschaft76 sowie der von Schmoller 1883 ins Leben gerufenen Staatswissenschaftlichen Vereinigung, die einen kleinen Zirkel von Spitzenbeamten und Universitätsprofessoren – vornehmlich Nationalökonomen und Historiker – versammelte.77 Diese zunächst auffallende Zurückhaltung Harnacks entsprach wohl auch seiner eher aufs Privat-faweist besonders pointiert Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: ders. (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2: Kaiserreich. Teil 1, Gütersloh 1992, 12–117; vgl. auch ders.: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Rüdiger vom Bruch/ders./Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, 103–131. 73 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 206–208 sowie die detaillierte Studie von Hans-Thomas Krause: Dietrich Schäfer. Vom Schüler Treitschkes zum ideologischen Wegbereiter des Ersten Weltkrieges, Diss. Phil. Halle 1968. 74 Dazu findet sich zahlreiches, bisher kaum bearbeitetes Material in dem im BA Koblenz verwahrten Nachlaß Seebergs. 75 Einen guten Überblick bietet Rüdiger vom Bruch: Gelehrtes und geselliges Berlin. Urban-elitäre Zirkel als kommunikative Schnittpunkte für Akademiemitglieder und Universitätsprofessoren, in: Jürgen Kocka (Hg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, 85–100. 76 Gerhard Besier (Hg.): Die Mittwochs-Gesellschaft im Kaiserreich. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1863–1919, Berlin 1990. 77 Rüdiger vom Bruch: Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Bestimmungsfak-
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miliäre orientierten außerakademischen Lebensführung, bedeutete aber keinesfalls den Verzicht auf Einflußnahme. Hier konzentrierte er sich ganz auf die gesellschaftlichen Kontakte mit dem ihm bald eng verbundenen Theodor Mommsen, dessen „Kränzchen“ er angehörte, sowie auf die enge persönliche und politische Freundschaft mit Hans Delbrück, der ihm mit seinen „Preußischen Jahrbüchern“ eine außerordentlich wichtige publizistische Plattform für seine Aktivitäten zur Verfügung stellte.
3.2.1. Der Meergreis und die Rose von Jericho: Harnack und Mommsen Schon im November 1888 zeichnete sich der Beginn der später engen und fast freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Theodor Mommsen ab. Mit ihm, so berichtete Harnack seinem Bruder Otto, habe er jüngst Bekanntschaft geschlossen und sich „gut unterhalten über Renan.“78 Mommsen und Harnack, der „politische Professor“ und der „Gelehrtenpolitiker“79, repräsentierten nicht nur unterschiedliche politische und gesellschaftliche Sozialisationen und Lebenserfahrungen, sondern auch verschiedene Stile gelehrter Einflußnahme auf Wissenschaft und Politik.80 Das beide verbindende Interesse an Fragen der frühen Kirchengeschichte, bald institutionalisiert in der gemeinsamen Arbeit in der Kirchenväterkommission der Berliner Akademie der Wissenschaften, führte rasch zu einem tieferen Einverständnis der beiden Gelehrten, das auf einem vergleichbaren wissenschaftlichen Ethos und der Kongenialität in forschungspolitischen Organisationsfragen beruhte. Mommsen, der große Skeptiker in Sachen Christentum, fand in Harnack nicht zuletzt einen liberalen Protestanten, der bei ihm zwar nicht eine Hinwendung zum Christentum bewirkte, aber wohl doch ein tieferes Verständnis für das Religiöse insgesamt: Das erste Gespräch über den französischen Religionsphilosophen und Historiker Ernest Renan legte das ebenso nahe wie Mommsens ausdrückliche Bitte, Harnack möge die Trauerrede auf ihn übernehmen. Auf Harnacks 50. Geburtstag 1901 hielt Mommsen die Festrede und bemerkte: „Ich alter Meergreis konnte keinen Anspruch mehr auf Freundschaften machen, daher betrachte ich es als ein unerwartetes Glück, daß ich noch meine Rose von Jericho gefunden habe in diesem Manne, der Orient und Occident verbunden hat.“81 Mommsens Tod am 1. November 1903 empfand der Kirchenhistoriker wiederum als einen
toren, Voraussetzungen und Grundzüge ihrer Entwicklung 1883–1919, in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin 1883–1983, Berlin 1983, 9–69. 78 Harnack an seinen Bruder Otto am 19./7.11.1888, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 79 So die treffende Charakterisierung von Stefan Rebenich, BwM 327 u. ö. 80 Vgl. dazu besonders BwM 223–247, 561–573; vgl. ferner ZH 193–201. 81 Zitiert nach ZH 196.
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unersetzbaren Verlust, ja „ein Stück des eigenen Lebens ist dahin.“82 In einer Gedenkrede aus Anlaß des 100. Geburtstags Mommsens konnte Harnack ihn in die eigene Vätergeneration der Gelehrten zusammen mit seinem Vater Theodosius einordnen, die als „Kämpfer“ ganz von der „Parteinahme“ und den großen Gegensätzen um die 1848er Revolution geprägt gewesen seien. Konservativ und liberal, Realismus und Idealismus, „Alte und neue Wissenschaft“ markierten diese Kontrastierungen.83 Daß Mommsen in diesem Zusammenhang fast zu einer Gegenfigur zur Gestalt des eigenen Vaters wurde, kann kaum überraschen, repräsentierte Mommsen doch gerade die „neue Wissenschaft“ im Gegensatz zur alten, die – an sich durchaus ehrenwert und in ihrem wissenschaftlichen Arbeitsethos unangreifbar – letztlich überholt erschien. Kritik mit dem Ziel, „das Echte zu finden“, den Zug zur Systematik und „aufs Ganze“ sowie die Fähigkeit zur effizienten Organisation wissenschaftlicher Arbeit waren die herausragenden Merkmale dieser neuen Wissenschaft84, die Mommsen in den Augen Harnacks verkörperte, der mit dieser Aufzählung aber zugleich das eigene Selbstverständnis von Wissenschaft artikulierte. Es war zuvörderst Mommsen, der sich – auf Empfehlung des Generaldirektors der Königlichen Museen Richard Schöne – Harnacks annahm und ihn gleichsam gesellschaftlich einführte. Schon Anfang 1889 war Harnack in das „Kränzchen“ des Ehepaars Mommsen eingeladen worden, dem außer Mommsen und Harnack noch Schöne sowie der Althistoriker Otto Hirschfeld und der Romanist Adolf Tobler mit ihren Ehefrauen angehörten. Das „Kränzchen“ traf sich alle zwei Wochen an einem Mittwochabend bei einer der Familien, wobei die Gastgeber jeweils noch weitere Gäste dazubaten, wozu häufig nicht nur Professoren, sondern auch hohe Beamte und Politiker gehörten. Insofern zählte diese Zusammenkunft zu jenen verschiedenen Berliner Gesprächskreisen, auf denen offen über wissenschaftliche und politische Fragen diskutiert wurde und die für die Einflußnahme von Gelehrten wie Mommsen und Harnack unentbehrlich waren. Hier konnten Vorhaben besprochen, Informationen ausgetauscht und Kontakte geknüpft werden. Auch über das „Kränzchen“ hinaus war Harnack ein häufiger Gast im Hause Mommsen, wo die führenden Repräsentanten des liberal gesinnten Bürgertums verkehrten: die Generaldirektoren der Königlichen Museen und Bibliothek Schöne und Wilmanns, die Historiker Heinrich von Sybel und Wilhelm Wattenbach, die Ministerialbeamten Friedrich Althoff und Adolf Wermuth und nicht zuletzt politische Weggefährten Mommsens wie Rudolf Virchow und Ludwig Bamberger.85 Auch dem späteren Reichskanzler 82
Harnack an Rade am 6.11.1903, in: BwR 527. Die Skizze zu Harnacks Ansprache vom 30.11.1917 ist abgedruckt in: BwM 995– 997, 996. 84 Ebd. 85 Vgl. BwM, 390f. 83
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Bernhard von Bülow ist Harnack erstmals auf einer Abendgesellschaft im Hause Mommsen begegnet.
3.2.2. Politische Partner: Harnack und Delbrück Die zweifellos wichtigste Bezugsperson für Harnacks gelehrtenpolitisches Engagement, aber auch für seine politische Urteilsbildung war der Historiker Hans Delbrück.86 1848 in Bergen auf Rügen als Sohn eines an den Idealen der 1848er Revolution orientierten Kreisrichters geboren, gehörte er zur weitverzweigten und einflußreichen Familie der Delbrücks, aus der Richter, Bankiers und hohe politische Beamte hervorgegangen sind, darunter auch Delbrücks Onkel Rudolf, der bis zu seinem Rücktritt 1876 einer der wichtigsten und engsten Mitarbeiter Bismarcks war. Als Greifswalder Gymnasiast und dann als Student der Geschichte in Greifswald, Heidelberg und Bonn unter dem Eindruck des preußischen Verfassungskonfliktes noch ganz ein Gegner Bismarcks, ja des monarchischen Systems überhaupt, brachten der Krieg von 1870/71 und die Reichsgründung einen grundlegenden Wandel Delbrücks mit sich, der jetzt zum Anhänger Bismarcks wurde, welcher ihm nun als Garant der inneren Festigung Preußens und Deutschlands jenseits von „Feudal-Orthodoxen“ und „verderblichen Bestrebungen der liberalen Opposition“ erschien.87 1874 wurde Delbrück Erzieher des Prinzen Waldemar, eines der Söhne des Kronprinzen und späteren Kaisers Friedrich III. Diese Stellung, die Delbrück bis zum frühen Tode seines Zöglings 1879 innehatte und um derentwillen er die Universitätslaufbahn zunächst zurückgestellt hatte, brachte ihn in engen Kontakt mit dem Thronfolger, auf den er politisch große Hoffnungen setzte. Noch in seiner kurzen Regentschaft 1888 hat Friedrich III. mehrfach den Rat Delbrücks gesucht, der auch nach 1888 in Verbindung zur Gemahlin des verstorbenen Monarchen blieb.88 86 Eine Biographie Delbrücks ist weiterhin ein dringendes Desiderat. Grundlegend ist die Darstellung von seiner Frau Lina Delbrück: Hans Delbrücks Leben, für seine Kinder aufgezeichnet von seiner Frau Lina Delbrück, in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 65–76; vgl. ferner Anneliese Thimme: Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955, sowie Hans Schleier: Hans Delbrück. Ein politischer Historiker zwischen Preußenlegende, amtlicher Militärgeschichtsschreibung und historischer Realität, in: Gustav Seeber (Hg.): Gestalten der Bismarckzeit, Berlin 1978, 378–403; vgl. zu Harnack und Delbrück jetzt auch Hartmut Lehmann: „Über vierzig Jahre kamen sie Sonntag für Sonntag, mit ihren Frauen, zusammen“: Adolf von Harnack und Hans Delbrück, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker und Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, 71–84. 87 Vgl. dazu Delbrücks autobiographische Bemerkungen in: Hans Delbrück: Constantin Rößler, in: ders.: Erinnerungen, Aufsätze und Reden, Berlin 31905, 440–442, 442. 88 Dazu Hans Delbrück: Persönliche Erinnerungen an den Kaiser Friedrich und sein Haus, sowie: Kaiserin Friedrich, beides in: aaO., 64–86 bzw. 606–625, sowie die Briefe Victorias an Delbrück, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Kaiserin Friedrich.
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Delbrücks Rezensionen und Arbeiten zur Militärgeschichte, die ab 1878 entstanden, haben ihn im über Jahrzehnte andauernden „Strategie-Streit“ in schwere Konflikte mit der offiziösen Militärgeschichtsschreibung und damit den führenden Kräften des preußischen Generalstabs gebracht. Diese Auseinandersetzungen, in denen der „Zivilstratege“ das gesamte militärische Establishment gegen sich aufbrachte, haben seine akademische Karriere – trotz Protegierung seitens des Kronprinzen – nachhaltig beeinträchtigt, da die Mehrzahl der Historiker – darunter Treitschke – sich auf die Seite der amtlichen Militärgeschichtsschreibung stellten.89 Erst 1881 erteilte die Berliner Universität dem Privatdozenten Delbrück die venia legendi, vier Jahre später wurde ihm ein Extraordinariat ohne Gehaltsanspruch zuerkannt. Nachdem ihm 1888 immerhin ein Gehalt von 3000 Mark jährlich bewilligt worden war, erfolgte die Ernennung zum etatmäßigen Ordinarius schließlich 1897. Diese Ernennung war nur möglich, weil nicht nur Friedrich Althoff, sondern auch die Kaiserinwitwe Victoria sich mit großem Engagement dafür eingesetzt hatte, die Widerstände gegen eine ordentliche Professur Delbrücks zu überwinden, die bis auf Wilhelm II. selbst zurückgingen.90 Das gespannte Verhältnis zu Wilhelm II. hatte seine Ursache nicht nur in den politischen Differenzen der 1890er Jahre, sondern ging bis auf die Zeit Delbrücks als Prinzenerzieher zurück. Dem jungen Delbrück mißfiel das unstete Wesen und das großspurige Auftreten des jugendlichen Wilhelm, und auch dieser hatte keine sonderlich hohe Meinung von dem Erzieher seines jüngeren Bruders.91 Neben der wissenschaftlichen Karriere hatte Delbrück sich seit Beginn der 1880er Jahre vorrangig politisch und publizistisch betätigt. 1882 zog er als Abgeordneter der freikonservativen Partei in das preußische Abgeordnetenhaus ein, dem er bis 1885 angehörte, von 1884 bis 1890 gehörte er der Reichstagsfraktion dieser Partei an. Eine zunehmend kritische Sicht gegenüber einer gegen die Sozialdemokraten gerichteten Politik der Repressionen hat die Distanz Delbrücks zu seiner Partei allmählich wachsen lassen, die er wegen ihrer mehr und mehr konservativen und innenpolitisch repressiven Ausrichtung schließlich 1896 verließ. Wichtigstes Arbeitsfeld Delbrücks stellte aber die politische Publizistik dar. 1883 trat er auf Anregung Heinrich von Treitschkes in die Redaktion der „Preußischen Jahrbücher“ ein, deren alleinige Herausgeberschaft er – nach dem politischen Bruch mit Treitschke – 1889 übernahm und bis 1919 89 Schleier: Delbrück (Anm. 86), 380–386 sowie – mit Blick auf die Verquickung von Militärgeschichte und politischer Position – Arden Bucholz: Hans Delbrück & the German Military Establishment, Iowa City 1985. 90 So Delbrück in dem Manuskript „Aus meinem Leben“ (in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 1, Bl. 76), in dem er detailliert seinen Weg in ein Ordinariat schilderte. 91 Vgl. dazu die aufschlußreichen Ausführungen bei Delbrück: Leben. Band 1 (Anm. 86), 102–134.
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innehatte.92 Eben diesen Bruch hat Harnack, der seit 1884 durch Delbrücks Heirat mit Harnacks Schwägerin Lina Thiersch diesem familiär verbunden war, bereits aus unmittelbarer Nähe miterlebt: „Da Treitschke immer mehr nach der conservativen u. zugleich antisemitischen Seite neigt, Delbrück das Cartell und die Bismarck-Politik vertritt, so konnten sie sich schon seit mehreren Monaten über die ‚innere Politik‘, wie solche in den Correspondenzen zum Schluß der Hefte z. Ausdruck kommen soll, nicht einigen. […] Jetzt hat endlich der Verleger Reimer eingegriffen. Die Details kenne ich nicht; aber das Resultat ist, daß Treitschke austritt, Delbrück die Redaction allein führt u. Delbrück u.Treitschke völlig auseinander sind.“93 Die „Preußischen Jahrbücher“, die Delbrück nach der Übernahme der Redaktionsgeschäfte im Heftumfang erheblich erweiterte, hatten etwa 2000–3000 Abonnenten, von denen viele wichtige Funktionen in Wissenschaft, Politik und Verwaltung ausübten. In ihrer programmatischen Verbindung von wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und politischer Urteilsbildung, wie sie zentral in Delbrücks monatlichen politischen Korrespondenzen am Ende jeder Ausgabe zum Ausdruck kam, waren sie unmittelbarer Ausdruck der gelehrtenpolitischen Konzeption ihres eigenwilligen, sich politischen Schablonen entziehenden Herausgebers. Diese Konzeption zeichnete sich durch eine spezifische Beurteilung des politischen Systems in Deutschland aus, das Delbrück – bei aller Kritik an einer restriktiven Politik gegenüber den Sozialdemokraten sowie besonders der staatlichen Drangsalierung der polnischen und dänischen Minderheiten – gegenüber den Regierungssystemen Englands oder Frankreichs prinzipiell überlegen schien. Grundmerkmal des politischen Systems in Deutschland war demnach „ein Dualismus, beruhend auf einem Zusammenwirken […] einer organisierten politischen Intelligenz mit den breiten Schichten des Volkes, die im Reichstag vertreten sind.“ Dieser „organisierten politischen Intelligenz“, wie sie für Delbrück die Beamtenschaft darstellte, kam eine Schlüsselfunktion bei der Verbindung von gouvernementalen Gelehrtenpolitikern und höherer Beamtenschaft sowie Teilen der Reichsleitung zu, da Gelehrtenpolitik vornehmlich auf diese einzuwirken hatte. Dem dienten nicht zuletzt die „Preußischen Jahrbücher“, die einen großen Teil ihrer Berliner Abonnenten in Regierungs- und Universitätskreisen hatten.94 Der Einfluß dieser Zeitschrift „war bedeutend; sie wurde gelesen und beachtet von den Geheimräten der Ministerien wie
92 Dazu grundlegend Hans Schleier: Treitschke, Delbrück und die „Preußischen Jahrbücher“ in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Geschichte 1 (1967), 134–179. 93 Harnack an seinen Bruder Otto am 15./3.6.1889, SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 94 Eine Studie zu den PJ fehlt. Zum Verhältnis Delbrück/Treitschke und dem Profil der PJ in den 1880er Jahren mit Ausblicken auf die spätere Zeit vgl. Schleier: Treitschke, 136f., 140ff. Materialien zu den Abonnenten in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 30.
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den Abgeordneten. Sie lag in den Sprechzimmern aller Universitäten und vieler höherer Schulen aus […]; sie waren eben Blätter für Vorgerückte.“95 Delbrück und Harnack waren sich seit 1884 rasch nähergekommen. Noch von Marburg her bemühte sich Harnack, seinen Schwager bei dessen Verhandlungen über eine Professur mit Althoff zu beraten. Delbrück dagegen sorgte für umfangreiche Rezensionen von Harnacks dogmengeschichtlichem Lehrbuch in seiner Zeitschrift durch den angesehenen Philosophen Adolf Lasson, die in der Sache durchaus kritisch ausfielen, insgesamt aber den herausragenden Charakter des Werkes mit Nachdruck unterstrichen.96 Angesichts der Verbreitung der „Preußischen Jahrbücher“ dürften Lassons Besprechungen auch in der interessierten höheren Beamtenschaft für ein ausgewogeneres Bild von dem aufstrebenden Kirchenhistoriker gesorgt haben. Die Zusammenarbeit zwischen beiden intensivierte sich nach Harnacks Übersiedlung nach Berlin im Herbst 1888. Nun kam es zu regelmäßigen wöchentlichen Zusammenkünften der beiden Freunde und ihrer Familien, bei denen aber nicht nur die privaten Kontakte gepflegt, sondern auch aktuelle politische Themen sowie die Koordination gelehrtenpolitischer Aktivitäten besprochen wurden. Delbrück legte seinem Schwager bei dieser Gelegenheit auch die noch ungedruckten politischen Korrespondenzen seiner Jahrbücher vor, die ebenfalls diskutiert und dabei noch häufig verändert wurden, während Harnack Delbrück über seine Korrespondenz der vergangenen Woche informierte und wichtige Schreiben verlas.97 Delbrücks zahlreiche Kontakte zu Politikern und Spitzenbeamten und natürlich auch zur Witwe Friedrichs III. kamen Harnack sehr zugute. Bei der Kaiserwitwe, die sich 1900 privatim aus dem „Wesen des Christentums“ vorlesen lies98, verkehrte er bald durch Delbrücks Vermittlung. Seit 1890 gehörte Harnack auch zu einer illustren Runde, die sich jährlich zum 1. April anläßlich des Geburtstags Bismarcks im Haus Delbrücks traf. Ihr gehörten u. a. der ehemalige Leiter des Pressebüros beim Preußischen Staatsministerium Constantin Rößler, der Chemiker Max Delbrück sowie Gustav Schmoller an.99 95 So das Urteil von Harnacks Sohn Axel von Harnack: Hans Delbrück, in: Die Neue Rundschau 63 (1952), 421. 96 Adolf Lasson: Die Entstehungsgeschichte des christlichen Dogmas, in: PJ 58 (1886), 359–398; ders.: Harnacks Dogmengeschichte, in: PJ 62 (1888), 574–613. 97 Vgl. neben der eindrücklichen Schilderung dieser Zusammenkünfte bei Zahn-Harnack 139f. auch die Erinnerungen der Delbrücktochter Emmi Bonhoeffer: Bleibende Werte. Erinnerungen an die Häuser Delbrück, Harnack und Bonhoeffer (ungedruckter Vortrag vom Oktober 1990), 10. Ich danke Herrn Prof. Dr. Gustav-Adolf von Harnack (Düsseldorf ), der mir diesen Text zugänglich gemacht hat. 98 Delbrück: Kaiserin Friedrich (Anm. 88), 621f; vgl. ferner ZH 269f. sowie RANF 2, 315–323. 99 Lina Delbrück: Hans Delbrücks Leben. Band. 2, in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 66, 245f.
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Delbrücks „Preußische Jahrbücher“ wurden – neben Martin Rades „Christlicher Welt“, mit der Harnack vorrangig auf das kirchlich interessierte liberalprotestantische Bürgertum zu wirken versuchte – zum wohl wichtigsten publizistischen Organ Harnacks, in dem er zentrale Aufsätze zur Sozial- und zur Wissenschaftspolitik ebenso veröffentlichte wie allgemeinverständliche kirchen- und theologiegeschichtliche Abhandlungen, von denen er sich Resonanz gerade bei den bürokratischen Funktionseliten versprach. Daneben spielte die enge Kooperation bei gelehrtenpolitischen Aufrufen und Aktionen seit 1890 eine entscheidende Rolle. Wenngleich Delbrück hier – mit Ausnahme der sozialpolitischen und sozialethischen Fragen – zweifellos der konzeptionell führende Kopf war, so beteiligte sich Harnack doch nicht nur an diesen Aktionen und beriet seinen Schwager in taktischen Fragen, sondern sicherte durch seine Kontakte insbesondere zu Althoff wiederholt das Vorgehen Delbrücks ab und verhinderte so zweimal staatliche Disziplinarmaßnahmen gegen den unliebsamen Publizisten. Als Delbrück im Oktober 1895 im Zusammenhang mit der Umsturzvorlage das Vorgehen der Polizei als Torheit bezeichnet hatte, stellte der preußische Innenminister Köller Strafanzeige gegen Delbrück wegen Beleidigung der Polizei. Harnack bemühte sich sogleich, über Althoff auf eine Rücknahme, mindestens aber eine vorsichtige Handhabung der Anzeige hinzuwirken, die den unvermeidlichen Eindruck erwecke, daß „der Herr Minister des Inneren […] politische Gegner seiner Maßnahmen – auch wenn sie ihre Kritik im höchsten Interesse der Monarchie und einer starken Regierung üben – durch Gewalt zum Schweigen bringen will.“100 Im Zusammenspiel mit Althoff gelang es schließlich, den Minister zur Rücknahme der Anzeige zu bewegen, zumal Delbrück den Vorgang inzwischen publik gemacht hatte – dies freilich gegen den Rat Harnacks.101 Nach einer von Althoff initiierten Besprechung Delbrücks mit Köller erklärte letzterer, daß Delbrück eine Beleidigung der preußischen Polizei nicht beabsichtigt habe.102 Als Delbrück 1899 die preußische Politik gegenüber den Dänen in Schleswig scharf kritisierte, kam es erneut zu einem Disziplinarverfahren, das vermutlich auf Wilhelm II. selbst zurückging. Wieder war es Harnack, der sich – gemeinsam mit Mommsen und Schmoller – für Delbrück bei Althoff einsetzte. Dieser bemühte sich erneut wenigstens um eine Abschwächung des Verfahrens, das immerhin von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Kultusminister Bosse eingeleitet worden war. Nachdem Delbrück im März 1899 einen scharfen Verweis und eine Geldstrafe erhalten hatte, hielt Harnack es wie Mommsen und Althoff für „wünschenswerth, daß das ausgesprochene Strafurtheil nicht vollzogen 100 Harnack an Althoff am 20.11.1895, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A I, Nr.117, Bl. 25f. 101 Vgl. auch SBB-PK, Nl. Delbrück, Aus meinem Leben, Bl. 25ff. u. 77ff. 102 Entwurf Althoffs für ein Schreiben Köllers an Delbrück vom 30.11.1895, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A I, Nr. 117, Bl. 27.
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wird“, gerade „für die Universitäten u. schließlich auch für den Staat.“103 In enger Abstimmung setzten Althoff und Harnack sich schließlich mit Erfolg für eine Rehabilitierung Delbrücks ein104, dem sein Schwager unter anderem riet, seine „Geschichte der Kriegskunst“ an den Kaiser, den Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts Lucanus, Finanzminister Miquel, Reichskanzler Hohenlohe und den neuen Kultusminister Studt zu übersenden.105 Im Gegenzug hat Delbrück Harnacks Engagement im Evangelisch-sozialen Kongreß, besonders deutlich in der Krise um den Austritt Stoeckers 1896, publizistisch flankiert.106 Bereits diese Beispiele zeigen die enge Verzahnung ihres gelehrtenpolitischen Engagements. Delbrück war dabei in innen- und außenpolitischen Fragen federführend, Harnacks Domäne waren dagegen die Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie die kirchlichen Fragen und das Verhältnis der beiden großen Konfessionen. Nicht nur die Interessenschwerpunkte ergänzten sich in dieser politischen Partnerschaft, die bis zu Delbrücks Tod 1929 unverändert Bestand haben sollte, sondern auch die jeweiligen Persönlichkeitsprofile. Delbrück war unverhohlen direkt, konnte in der sachlichen Auseinandersetzung rasch auch persönlich verletzend werden, war dabei aber zugleich von unbestechlicher Freimütigkeit und großer innerer Unabhängigkeit. Kampfeslustig und dabei nicht selten undiplomatisch, scheute er auch vor unkonventionellen, ja kühnen Thesen nicht zurück, was seine besondere wissenschaftliche Fruchtbarkeit ausmachte, wie Friedrich Meinecke sich erinnerte.107 Schon im Zusammenhang der Kontroverse mit Treitschke 1889 hatte Harnack, der mit Delbrücks Position in der Sache ganz einverstanden war, bemerkt: „er ist so unpolitisch im Verkehr mit Menschen wie ein Kind, glaubt immer das Weiseste und Beste zu thun u. handelt dabei unweise u. unüberlegt, kann sich gar nicht in andere Menschen versetzen u. bemüht eine so erschreckende Offenheit, daß es häufig unvermeidlich ist, daß ihn die Anderen für selbstsüchtig u. unausstehlich hochmuthig halten.“108 Harnacks Charakterisierung seines Schwagers ist zugleich ein implizites Selbstporträt, denn er verfügte über genau die Fähigkeit, die er an Delbrück vermißte: diplomatisches Geschick. Das bedeutete nicht übermäßige Geschmeidigkeit oder gar Opportunismus, wohl aber die Fähigkeit, um der Sache willen – an der Harnack ebenso konsequent festhalten konnte wie 103
Harnack an Althoff am 31.5.1899, in: aaO., Bl. 96f. Vgl. zur Rolle Althoffs etwa dessen Brief an Harnack vom 5.8.1899, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 105 Harnack an Delbrück am 2.7.1900, Nl. Harnack, K. 29, Korr. Delbrück. 106 Vgl. dazu Kapitel III.4. 107 Vgl. Friedrich Meinecke: Erlebtes 1862–1901, Leipzig 1941, 184f. 108 Harnack an seinen Bruder Otto am 15./3.6.1889, in: SBB-PK, Nl. O. Harnack, Nr. 2. 104
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Delbrück und in der er nicht weniger kampfesfreudig war als jener, man denke nur an den Apostolikumstreit – taktisch vorzugehen, Kompromisse zu schließen und Konflikte nicht weiter als nötig eskalieren zu lassen. Dies kam Harnack nicht nur in seinen Kontakten zu amtlichen Behörden und der hohen Bürokratie zugute, sondern nach 1900 gerade in seinen Beziehungen zum kaiserlichen Hof. Wenn Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, mit Harnack aus persönlichen und nach 1914 auch aus politischen Gründen über Kreuz liegend109, in seinen 1928 erschienenen Erinnerungen bissig bemerkte, Harnack wisse „bei Hofe Bescheid“110, dann zeugte dies von der Harnack eigenen, durchaus zielstrebigen gesellschaftlichen Gewandtheit, die wiederum eine Nachwirkung seiner baltisch-aristokratischen Prägung gewesen ist.
3.3. Die „mittlere Linie“: Grundzüge der Gelehrtenpolitik Harnacks Gerade in ihrer intensiven, stark aufeinander abgestimmten gelehrtenpolitischen Kooperation kam der Partnerschaft Delbrücks und Harnacks ein eigenes Gewicht auch gegenüber Schmoller zu, mit dem sie in ihrer hohen Einschätzung der Rolle des Beamtentums zwar übereinstimmten, dessen Hang zu übermäßigem Konservativismus sie jedoch beide gleichermaßen ablehnten. „Wenn man Intelligenz organisiert, gerinnt sie, wird starr und steif, und es entsteht die Bureaukratie oder die Hierarchie. […] Pedanterie, Formalismus, Hochmut, Kleben am Überlieferten, Strebertum, Unfähigkeit, sich in neue Aufgaben und Ausnahmezustände zu finden, das sind Eigenschaften, die sich nur zu häufig zeigen“111, so Delbrücks Überzeugung, der gerade die verfehlte Polenpolitik auf diese Mißstände zurückführte. Insofern lag hier kein blindes Vertrauen in die Bürokratie vor. Zu betonen ist ferner, daß Delbrücks These von den Vorzügen des deutschen politischen Systems ausdrücklich darauf basierte, daß neben der Beamtenschaft der nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht gewählte Reichstag stehen müsse, „weil die Organisation der politischen Intelligenz im Beamtentum immer nur in einem gewissen Maße wirklich durchgeführt sein kann, und der Monarch immer den zufälligen Schranken seiner Subjektivität unterliegt.“ Der „stete Antrieb und die Kontrolle der öffentlichen Meinung, ausgeprägt in den Wahlen der breiten Massen zu einer Volksvertretung“, sei daher unentbehrlich. Daran schloß Delbrück die ausdrückliche Warnung vor einer Einschränkung der Rechte des Parlaments oder gar einer Abänderung 109 Vgl. Stefan Rebenich: Der alte Meergreis und die Rose von Jericho und ein höchst vortrefflicher Schwiegersohn: Mommsen, Harnack und Wilamowitz, in: Nowak/ Oexle (Anm. 86), 39–70. 110 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen 1848–1914, Leipzig 21928, 258. 111 Delbrück: Regierung (Anm. 67), 156f.
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des Wahlrechts an, warnte freilich andererseits auch vor einer vollen Parlamentarisierung des Reiches.112 Diese insgesamt positive Stellung zur konstitutionellen Monarchie war ebenso wie bei Delbrück eine der Grundvoraussetzungen des gelehrtenpolitischen Engagements Harnacks: „die Bürger vor dem Gesetze gleich; alle genießen denselben Rechtsschutz; Sklaverei und Hörigkeit sind verschollene Dinge; ein respektables Maß von Kenntnissen und Bildung wird jedermann zugeführt; die Arbeit ist geachtet. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind in vieler Hinsicht nicht nur leerer Schall, sondern die wirklichen Formen unserer persönlichen und gesellschaftlichen Existenz und die Pfeiler des Gebäudes, das wir ausbauen.“113 Eine Rücknahme der so gewährten Rechte und Freiheiten hielt er weder für möglich noch für erstrebenswert: „Rückwärts können wir nicht mehr, und Schande dem, der es wollte!“114 Aus der nationalökonomischen These Gustav Schmollers, der alte gewerbliche Mittelstand werde zunehmend durch einen neuen Mittelstand, bestehend aus Verwaltungsbeamten, Facharbeitern und Freiberuflern ersetzt, von einer Zunahme des Proletariats könne dagegen keine Rede sein, vielmehr müßten die Chancen der gesellschaftlichen Integration von diesem wachsenden neuen Mittelstand her ausgelotet und dann entschlossen genutzt werden115, zog Harnack den Schluß, daß „diese bürgerliche Gesellschaft […] nicht im Absterben, sondern nur in einer Umformung begriffen“ sei116, weshalb es ihm vorrangig nicht um eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung zu tun war, sondern darum, deren Basis „im Gegensatz zu einem sei es politischen, sei es kirchlichen Aristokratismus“ gezielt zu verbreitern.117 Sein Ziel eines allmählichen Ausbaus der Gesellschaft hin zu individueller und selbständiger Freiheit, aber auch zu sozialer Verantwortung, verfolgte Harnack einmal mit Hilfe von Vorträgen und Aufsätzen, dann durch seine Tätigkeit im Evangelisch-sozialen Kongreß und schließlich in den persönlichen Kontakten zu einzelnen Funktionsträgern innerhalb von Regierung und Verwaltung. Daß „die Pflege der Gesinnung und die Umbildung der öffentlichen Meinung das Wichtigste ist und daß namentlich wir Deutsche so vorschreiten müssen“118, teilte er als Grundüberzeugung mit Hans Delbrück und Gustav Schmoller ebenso wie die Einsicht in die Notwendigkeit 112
AaO., 186f. RA 2, 23–76, 26f. 114 AaO., 28. 115 Gustav Schmoller: Was verstehen wir unter dem Mittelstand? Hat er im 19. Jahrhundert zu- oder abgenommen?, in: VESK 8 (1897), 132–161. 116 So Harnacks Votum im Anschluß an Schmollers Vortrag, in: aaO., 164–166, hier 165. 117 AaO., 166. 118 VESK 18 (1907), 5. 113
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einer engen Fühlungnahme mit den reformorientierten Teilen der staatlichen Bürokratie. Besonders deutlich tritt dieses Anliegen etwa in seiner Zeit als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses hervor, den er nicht nur noch stärker als intellektuelles Diskussionsforum ausbaute und der unter seiner Amtszeit wieder verstärkte Resonanz bei Teilen von Regierung und Verwaltung fand, sondern durch die Herausgabe der Kongreßzeitschrift „Evangelisch-sozial“ auch mit einem Organ versah, das einen eigenständigen Beitrag zu sozialpolitischen und sozialethischen Diskussionen liefern sollte. Die von Harnack betriebene Gelehrtenpolitik zeichnete sich durch ein besonnenes Abwägen und geschicktes Ausbalancieren unterschiedlicher Interessenlagen aus. Sie war außerordentlich pragmatisch, indem sie nüchtern die Kräfteverhältnisse einschätzte und das eigene Handeln daran orientierte, freilich ohne dabei das größere Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn trotz aller Sachlichkeit und bei allem Pragmatismus war für Harnack die wissenschaftliche Beratung und politische Einflußnahme an bestimmte Wertentscheidungen gebunden. Wenn Schmollers Gelehrtenpolitik ihre Grundlage in einem Wissenschaftsverständnis hatte, das die Nationalökonomie dezidiert als eine ethische Wissenschaft definierte, so galt das nicht weniger für Harnack: „Wissenschaft ist die Erkenntnis des Wirklichen zu zweckvollem Handeln.“119 Dies traf in besonderer Weise auf die Geschichtswissenschaft zu, die nicht nur antiquarische Beschäftigung mit vergangenem Leben sei, sondern zuallererst emanzipatorische und gegenwartspraktische Aufgaben zu erfüllen habe: „Wir treiben Geschichte nicht nur um zu erkennen, was gewesen ist, sondern um uns von der Vergangenheit zu befreien, wo sie uns zur Last geworden ist, ferner um in der Gegenwart das Richtige tun zu können, und drittens um die Zukunft umsichtig und zweckmäßig vorzubereiten“120. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahme wird auch verständlich, warum sich Harnack in dem 1904 von Max Weber ausgelösten Streit um die Wertfreiheit wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Seite des attackierten Schmoller stellte. Denn indem Weber im „Werturteilsstreit“ die Legitimität von aus der Wissenschaft gewonnenen normativen Aussagen bestritt, zielte er damit auf die theoretischen Grundlagen des gouvernemental-gelehrtenpolitischen Gestaltungswillens seines Hauptkontrahenten Schmoller. Es war daher auch kein Zufall, daß sich dieser Streit auf der Wiener Tagung des Vereins für Socialpolitik 1909 mit einer Kontroverse über die Reformfähigkeit der staatlichen Bürokratie verband.121 Als Schmoller 1911 im Rahmen eines Artikels im renommierten Handwörterbuch der Staatswissenschaften auf Weber ant-
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RANF 3, 173–201, 178. RANF 4, 171–195, 172. Lindenlaub: Richtungskämpfe (Anm. 2), 433–443.
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wortete122, erklärte Harnack sein grundsätzliches Einverständnis mit seinem Berliner Kollegen: „Herzlichen Dank für Ihre Verteidigung des Sollens und der objektiven Werte, die auch als werdende objektiv sind!“123 Sein Vorgehen hat Harnack wiederholt – und auch darin einig mit Schmoller und Delbrück – dahingehend charakterisiert, daß es ihm darum zu tun sei, „die mittlere Linie [zu] finden im Parallelogramm der Kräfte zwischen den Gegensätzen, zwischen den widerstreitenden sozialen Faktoren.“124 Dieses Konzept des Ausgleichs entsprach seiner Meinung nach den gesellschaftlichen und politischen Strukturen Deutschlands und orientierte sich am Ideal zielgerichteter Reformen, durch die die durch revolutionäre Entwicklungen erzeugten Friktionen vermieden werden sollten: „Die Struktur unserer Gesellschaft verträgt keinen andern Gang. Im Handeln und Vorwärtsschreiten müssen wir bedächtig und langsam sein; aber unsere Stirn soll schon erglühen von dem Scheine der Sonne, die erst unsere fernen Kinder sehen werden.“125 Wenn Weber seinerseits das mit dem Standpunkt der überparteilichen Wissenschaft verknüpfte Ideal der mittleren Linie einer ätzenden Kritik unterzog – sie sei „um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit als die extremsten Parteiideale von rechts oder links“, man müsse daher „die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren Parteiansichten praktische Normen von wissenschaftlicher Gültigkeit gewinnen, unbedingt bekämpfen“126 –, dann war es wiederum Harnack, der in einem Brief an Schmoller eben diese „mittlere Linie“ entschieden verteidigte. Ihre Vertreter müßten „sich stets alle möglichen schlimmen Dinge nachsagen lassen, weil sie dem Allgemeinen wie dem Einzelnen treu sind und weil sie das Recht konträrer Betrachtungen, von der Sache gezwungen, anerkennen. Der blinde Hödur rechts und links aber sieht darin schwächliche Kompromisse, weil er selbst nur über einen eindimensionalen Verstand verfügt. Ich glaube auch, daß der Ausdruck ‚Mittlere Linie‘ selbst von diesem Hödur stammt; denn nur so kann er sich die Sache vorstellen.“127 Diese „Politik der mittleren Linie“ hat Harnack in seiner Tätigkeit im Evangelisch-sozialen Kongreß, bei seinen Verhandlungen mit den verschiedenen Ministerialbeamten im Kultusministerium, bei seiner Mitwirkung an Gelehrtenaufrufen und auch in seinen theologie- sowie kirchenpolitischen Stellungnahmen mit einer Meisterschaft verfolgt, die ihm von Seiten Fried122 Gustav Schmoller: Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Band 8, Jena 31911, 426–501. 123 Harnack an Schmoller am 17.10.1911, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 203c, Bl. 71. 124 EvS 9 (1912), 164–170, 169. 125 AaO., 170. 126 Max Weber: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, 146–214, 154. 127 Harnack an Schmoller am 17.10.1911, in: Nl. Schmoller, Nr. 203c, Bl. 71.
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rich Meineckes das – Anfang 1914, also noch in Meineckes Freiburger Zeit, gewiß nicht als Kompliment gemeinte – Urteil eintrug, zusammen mit dem Reichskanzler Bernhard von Bülow zu den „größten Füchse[n] der Welt“ zu gehören.128 Tatsächlich dokumentierten solche Einschätzungen eine zunehmende Kritik an Harnacks Verhalten. Sie war auf dessen unbestreitbar immer stärker werdende gouvernementale Orientierung nach 1900 gemünzt. Die nach 1900 ganz offensichtlichen Erfolge haben diese Entwicklung bei Harnack, Delbrück und Schmoller befördert sowie die pragmatische und stets auf das nächste erreichbare Ziel eingestellte Vorgehensweise noch verstärkt, wie sie besonders deutlich in einem Brief an Martin Rade von 1910 zum Ausdruck kam. Harnack ließ darin erkennen, „nicht den mindesten Respekt vor allen Träumen u[nd] Zielen, die irgendwann einmal in der Zukunft verwirklicht werden können“, zu haben, und artikulierte gleichzeitig sein Interesse „lediglich [an] dem nächsten Schritt.“129 Er versuche sich „auf den zahllosen Gebieten unserer preußischen Rückständigkeit“ zuvörderst auf das zu konzentrieren, was „heute zu geschehen hat u[nd] wie diese Schritte zweckmäßig getan werden können.“130 Seine reservierte Haltung gegenüber jeder Form von Parteipolitik kam in diesem Brief nicht nur in der Ablehnung einer dezidierten Stellungnahme zur preußischen Wahlrechtsfrage zum Ausdruck, sondern besonders in seinem Beharren darauf, sich parteipolitischen Schablonen zu entziehen und nichts anderes sein zu wollen „als Kirchenhistoriker und akademischer Lehrer“, der jedes Überschreiten dieses Berufes als etwas „innerlich Fremdes“ empfinde.131 Es war dies derselbe Harnack, der in den 1890er Jahren trotz sozialpolitischer Reaktion mit Vehemenz am Evangelisch-sozialen Kongreß festgehalten hatte, der nach 1900 zu den wenigen Gelehrten gehörte, die sich an politischen Aktionen beteiligten, der noch wenige Wochen vorher die „Demokratisirung unserer Gesellschaft“132 als wichtiges Ziel des sozialen Protestantismus betont hatte und der noch kurz vor Ausbruch des Weltkrieges an seiner grundsätzlichen Sympathie für Friedrich Naumann keinen Zweifel gelassen hatte. Als eine Erklärung dieses Zögerns ist der Umstand heranzuziehen, daß Harnack mehr als Delbrück und Schmoller um die Grenzen einer auf der Kompetenz des Historikers aufbauenden politischen Beratertätigkeit wußte, die aus dem wissenschaftlichen Selbstverständnis als Historiker resultierten: 128 So Meineckes Bemerkung gegenüber seiner Frau nach einer zufälligen Begegnung mit Bülow und Harnack 1914 in den Vatikanischen Museen in Rom. Meinecke fügte jedoch zugleich hinzu, daß er Harnack damals „noch nach dem gewöhnlichen Klatsche“ beurteilt habe. „Später habe ich ihn erst richtig kennen und immer höher schätzen und verehren gelernt“ (Friedrich Meinecke: Straßburg, Freiburg, Berlin 1901–1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, 115). 129 Harnack an Rade am 30.8.1910, in: BwR 658. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Harnack an Rade am 11.6.1910, in: aaO., 650.
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„ich aber sehe mich stets zur Kritik gedrängt, d.h. des eigenen Standpunkts.“133 Die Ambivalenz der Beschäftigung mit Geschichte hat er 1903 in einem Vortrag über den „Nutzen und Schaden des Studiums der Geschichte“ dargelegt. Geschichtserkenntnis befähigt nicht nur „zum verständigen Handeln“, so der Tenor seiner Ausführungen, sondern sie „macht unsicher, muthlos, verzagt z[um] Handeln, […] sie hemmt den Fortschritt […], sie verdunkelt leicht den Blick f[ür] das Neue, Aufstrebende und macht i[m] falschen Sinn conservativ.“134 Nun soll diese Äußerung nicht als Selbstcharakterisierung Harnacks gelesen werden, zumal er im gleichen Atemzug betonte, daß es letztlich um die „Welt der Werthe“ gehe und es damit entscheidend auf „unsere Wahl“ ankomme. Wenn er aber noch 1920 erklärte, keine „Anlage zum Politiker, sondern nur zum Historiker“ zu haben, der es nicht vermöge, sich in „schwebenden Dingen“ festzulegen135, dann brachte er damit eben jene Einsicht in die Grenzen der Verbindung von historischer Forschung und politischer Stellungnahme zum Ausdruck. Faktisch hat Harnack sich trotz aller Bekundungen der eigenen Zögerlichkeit gerade zwischen 1910 und 1920 stärker als zuvor mit grundlegenden politischen Fragen beschäftigt. Dieses Verhalten hat seinen Grund in Harnacks Orientierung an einer spezifisch protestantischen Ethik von individueller Freiheit, unverletzlicher Persönlichkeit und christlicher Humanität, die sehr genau um ihre Realisierungschancen wußte und sich vor Ideologisierungen hütete. Diese sittliche Fundierung von Politik aus christlichem Geist hat Harnack etwa gegenüber Friedrich Naumann geltend gemacht, in dessen strikter Trennung von christlicher Ethik und Politik er eine inakzeptable „doppelte Lebens- und Buchführung“ erblickte.136 Mochte dem auch eine Gegensätze harmonisierende, in Aufklärung und Goethezeit wurzelnde Geschichtsbetrachtung zu Grunde liegen137, in der wohl gleichfalls der Gestus der Überparteilichkeit gründete, der doch von der Überzeugung einer prinzipiell möglichen Überwindung der gesellschaftlichen Antagonismen lebte, so hat diese ethische Fundierung Harnack weniger anfällig gegenüber den Auswüchsen eines überzogenen Nationalismus gemacht, was besonders deutlich in den Kriegsjahren hervortritt, in denen Harnacks Ablehnung einer annexionistischen Kriegszielpolitik gegenüber den Wandlungen gerade Naumanns wesentlich geradliniger erscheint. 133
Harnack an Rade am 30.8.1910, in: aaO., 658. Vortragskonzept Über den Nutzen und Schaden des Studiums der Geschichte (1903), in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 25, Bl. 3. 135 Harnack an Rade am 28.12.1920, in: BwR 762f. 136 So Harnack 1903 in einer Besprechung von Friedrich Naumann: Briefe über Religion, in: RANF 2, 73–80, 78. 137 So Kurt Nowak: Wege in die Politik: Friedrich Naumann und Adolf von Harnack, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/New York 2000, 27–48, v.a. 33f. 134
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Daß Harnack seine Versuche der Überwindung der „preußischen Rückständigkeiten“ eng an Teile der Bürokratie anband, hing mit grundsätzlichen Erwägungen über die herausragende Rolle der Institutionen in der Geschichte138 ebenso wie mit persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Teilen der Funktionseliten in Politik und Verwaltung zusammen. Er hat seine insgesamt positiven Erfahrungen mit dem preußischen Staat im Bereich der Wissenschaftspolitik vorschnell auf den Gesamtbereich staatlicher Politik übertragen und damit die konservativen Kräfte der Bürokratie weit unterschätzt. Auch konnten die Grenzen zwischen aktiver Einflußnahme und politischer Instrumentalisierung leicht verschwimmen. Der Versuch der Kooperation mit den reformorientierten Teilen der Bürokratie korrespondierte ferner mit Harnacks Hochschätzung der gebildeten Einzelpersönlichkeit. Denn es entsprach den Grundlagen gouvernementaler Gelehrtenpolitik, daß sie in ihrer Einflußnahme mehr noch als an Institutionen an solchen Einzelpersonen orientiert war. Für Harnack ist zweifellos Friedrich Althoff eine solche starke und gebildete Einzelpersönlichkeit gewesen, die ihn in entscheidender Weise von der Reformfähigkeit des konstitutionellen Systems überzeugt haben dürfte.
3.4. Preußische Wissenschaftspolitik: Harnack und Althoff Friedrich Althoff gehört zu den umstrittensten Gestalten in der Geschichte des deutschen Hochschulwesens um 1900, wenngleich sein Rang als einer der bedeutendsten preußischen Wissenschaftspolitiker in der Forschung inzwischen nahezu allgemein anerkannt ist.139 Für Harnack, aber ebenso auch für Delbrück und Schmoller galt er als Vorkämpfer der Wissenschaftsfreiheit und als eine der wichtigsten Stützen ihrer Gelehrtenpolitik. Daraus erklärte sich auch die Vehemenz, mit der sie Althoff gegen die Vielzahl seiner Kritiker, besonders deutlich 1901 im „Fall Spahn“, verteidigten.140 Max Weber hingegen bezeichnete die Wirkung des Althoffschen 138 „Vergessen Sie nicht, daß das Knochengerüst der Geschichte die Institutionen sind und daß nur sie sicher erkennbar sind!“, so Harnack 1910 vor Studenten, in: Christoph Markschies (Hg.): Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte. Thesen und Nachschrift eines Vortrages vom 19.10.1910 in Christiania/Oslo, in: ZNThG/JHMTh 2 (1995), 148–159, 154. 139 Vgl. zu Althoff Arnold Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928; ferner Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff “, in: Peter Baumgart (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, 9–118; ders.: Friedrich Althoff, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer, Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1937, 195–214; ders. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff “ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991. 140 BwM 414–462.
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Systems auf den wissenschaftlichen Nachwuchs als „direkt korrumpierend.“141 1839 geboren, hatte Althoff zunächst Jurisprudenz studiert und nach verschiedenen Tätigkeiten im preußischen Justizwesen im Mai 1871 eine Stelle als Referent für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Straßburger Civilkommissariat des von Frankreich abgetretenen Reichslandes Elsaß-Lothringen angenommen. Bald stieg er zu einem der engsten Mitarbeiter des Oberpräsidenten Eduard von Möller und des Kommissars für die Gründung der Straßburger Universität Franz von Roggenbach auf, an der er zunächst eine außerordentliche, ab 1880 dann eine ordentliche Professur für französisches und modernes Zivilrecht innehatte. Energisch betrieb er den Ausbau der Straßburger Universität, die zum Musterbeispiel einer umfassenden Reform des deutschen Universitätswesen ausgestaltet werden sollte.142 1882 verließ Althoff nach dem Scheitern dieser Pläne Straßburg und übernahm eine Stelle als Vortragender Rat für die Personalien der Universitäten im preußischen Kultusministerium. Von dieser Position aus wurde er rasch zu der dominierenden Gestalt der preußischen Hochschulpolitik. 1897 stieg er zum Leiter der ersten Unterrichtsabteilung mit der Zuständigkeit für Hochschulen, wissenschaftliche Anstalten, Bibliotheken, Kunst, Museen, Denkmalpflege, höheres Schulwesen und ab 1900 auch für das Medizinalwesen auf. Angebote, das Amt des Unterstaatssekretärs oder gar des Ministers zu übernehmen, hat er mehrfach abgelehnt und es statt dessen vorgezogen, mit immenser Sachkenntnis, unermüdlichem Fleiß, diplomatischem Geschick und nicht zuletzt auch einer vor Rücksichtslosigkeit nicht zurückschreckenden Zielstrebigkeit sich innerhalb des Ministeriums unentbehrlich zu machen, das er schließlich nahezu autokratisch als „heimlicher Kultusminister“ dominierte. Mit Hilfe eines Netzes von Vertrauensmännern an den verschiedenen Universitäten bestimmte er nicht nur nachhaltig die Berufungspolitik, sondern bemühte sich auch um eine umfassende Reform und Modernisierung des preußischen Hochschulwesens. Darüber hinaus richteten sich seine Anstrengungen auf eine Stärkung der „Weltgeltung deutscher Wissenschaft.“ Der systematische Ausbau der Hochschulen zu wissenschaftlichen Großorganisationen, die Zentralisierung und Bürokratisierung des Universitätswesens und schließlich der Versuch, „in einer Zeit wachsender Reaktion und Polarisierung die Tradition der Wissenschaftspflege des liberalen preußischen Kulturstaates fortzuführen und die Freiheit von Forschung und Lehre und ein freies und tolerantes Klima an den Hochschulen zu verteidigen gegen eine politisch und sozial konservative, sich mit dem Bismarckschen Verfassungskompromiß bescheidende Professorenschaft, gegen außer141 Rüdiger vom Bruch: Max Webers Kritik am „System Althoff “ in unversitätsgeschichtlicher Perspektive, in: Berliner Journal für Soziologie 5 (1995), 313–326. 142 Vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik (Anm. 139), 27–32.
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universitäre Einflüsse und Forderungen der Parteien, der Wirtschaft, der Kirchen, des Staates selber“143, kennzeichneten das „System Althoff.“ Gerade der letzte Aspekt ist besonders hervorzuheben, so daß an Althoffs insgesamt liberaler Orientierung kein Zweifel bestehen kann. Gegenüber dem Philosophen Friedrich Paulsen betonte er, in seinem Leben „keine Hetze mitgemacht“ zu haben, „keine Katholikenhetze und keine Judenhetze.“144 Bernhard vom Brocke hat daher Nationalstaat, Humanität und Toleranz als die politischen Leitideen Althoffs herausgestellt, in deren Dienst er besonders seine internationale Hochschulpolitik gestellt wissen wollte, die – besonders deutlich bei den Professorenaustauschprogrammen – nicht zuletzt auf Völkerverständigung zielte. In Harnack fand Althoff rasch einen seiner wichtigsten Mitstreiter, der zudem über die Fähigkeit verfügte, Althoffs Vorhaben in äußerst geschickt argumentierende Denkschriften und Memoranden fassen zu können.145 Auf diese Weise ist Harnack allmählich in die ganze Weite der Althoff ’schen Programmatik einbezogen worden und nach dessen Tod – neben Althoffs Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott – maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, daß Althoffs Idee außeruniversitärer Großforschungsinstitutionen in Gestalt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dann auch verwirklicht wurde. Dabei berührten sich die Interessen Althoffs und Harnacks nicht nur in Fragen der Wissenschafts- und Kulturpolitik, sondern auch in zwei der zentralen innenpolitischen Fragen des Kaiserreichs. Beide lehnten eine restriktive Politik gegenüber der Sozialdemokratie ab, und beide waren sich darüber einig, daß die die Politik weithin bestimmende konfessionelle Spaltung wenn nicht überwunden, so doch in ihren Folgen gemildert werden mußte. Nicht von ungefähr handelte ihr letztes Gespräch wenige Tage vor Althoffs Tod 1908 von dessen Plan „eines interkonfessionellen Toleranzbundes über allen Parteien.“146 Harnack attestierte dem umtriebigen Ministerialdirektor außerordentlich großes Interesse für die Wissenschaft, ungehemmte Tatkraft, Sachkunde und nicht zuletzt persönliche Uneigennützigkeit.147 Gegenüber der „Großmacht der Synode und der Conservativen“ habe Althoff mit Nachdruck für die Freiheit der Wissenschaft gestritten, „im Fall Arons, im Fall Delbrück hat er wie ein Löwe gekämpft gegen – seinen eigenen Minister,
143
AaO., 16. Friedrich Paulsen: Friedrich Althoff, in: Internationale Wochenschrift 1 (1907/ 08), 970. 145 Grundlegend ist neben BwM 116–129 weiterhin ZH 233–261. 146 RANF 2, 332–338, 336. 147 Vgl. Harnack an Heinrich Weinel am 3.12.1901, in: Friedrich Wilhelm Graf: Adolf Harnack zum „Fall Althoff.“ Zwei unbekannte Harnack-Briefe aus dem Dezember 1901, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), 177–204, 195. 144
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Hrn. Bosse.“148 Daß die deutsche Wissenschaft Weltgeltung errungen hatte und den Anschluß an die internationale Entwicklung, an die Ausdifferenzierung des Fächerkanons und die Entwicklung hin zum wissenschaftlichen Großbetrieb gewahrt hatte, war für Harnack fraglos Althoffs Verdienst. Äußerste Gewissenhaftigkeit im Beruf, immer arbeitend in der „unbedingten Zuversicht, daß jeder Fortschritt der Erkenntnis und Wissenschaft ein Fortschritt der Menschheit sei, und daß es sich daher um eine heilige Sache handle“, dabei beseelt vom Streben nach Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz sowie durchwaltet vom „Geist der Vaterlandsliebe und des Wohlwollens und der Güte gegen jedermann“ – das zeichnete Harnack zufolge Althoff als „starke und machtvolle Persönlichkeit“ aus. Es war der wissenschaftspolitische Modernisierer, den Harnack in Althoff verehrte und verteidigte und dessen Geschick er bewunderte, trotz des Widerstands sowohl innerhalb der Bürokratie als auch seitens der verschiedenen Parteien, die Freiheit der Wissenschaft und die gleichzeitige Präsenz unterschiedlicher wissenschaftlicher Strömungen an den preußischen Universitäten zu gewährleisten. Nicht von ungefähr konnte er den preußischen Ministerialdirektor daher mit Bismarck vergleichen. Dieser Vergleich zeigte zugleich, daß Harnack nicht taub war gegenüber der heftigen Kritik an Althoffs „persönlichem Regiment“: „Schauergeschichten, die in den Universitäten rumlaufen, kenne ich gewiß zum Theil gar nicht, zum Theil kenne ich sie. Einige sind verdrießlich und andre sind recht schlimm. Das ist bei Bismarck auch zu beklagen – Althoff ist auf seinem Gebiet mit ihm zu vergleichen; nur hat er sehr viel mehr Wohlwollen – darf sich auch mehr gestatten – als Bismarck. Daß er absichtlich Jemanden schädigen oder ihm gar das Rückgrat brechen wollte, glaube ich nicht u. werde es nie glauben. Er stellt freilich mit den Leuten oft starke Proben an, aber er freut sich, wenn ihm unabhängige Gesinnung, ein entschiedener Wille u. eine wissenschaftliche Potenz begegnet.“149 Gegenüber seinem Schüler Gustav Krüger gab Harnack sogar zu, daß Althoff „unter Umständen grob, brutal“ sein könne, auch breche er „morsche Rückgrate, hat auch einige bedenkliche, zweckwidrige Anordnungen getroffen, läßt Leute stundenlang in seinem Vorzimmer warten, hat nicht jedes Versprechen halten können, was er gegeben hat.“ Aber trotz der zugestandenen Kritikpunkte, die Harnack dem persönlichen Charakter und der chronischen Arbeitsüberlastung Althoffs zuschrieb, konnte er über die grundsätzliche Kritik am „System Althoff “ hinwegsehen, zumal dem umstrittenen Wissenschaftspolitiker „ein ungefärbtes Wohlwollen gegen Jeden, der ihm naht, wenn er ihn nicht als Ordensjäger, Geldjäger, Stellenjäger entlarvt hat“150, eigentümlich 148
Harnack an Heinrich Weinel am 5.12.1901, in: aaO., 202f. Harnack an Weinel am 5.12.1901, in: aaO., 201. 150 Harnack an Gustav Krüger am 9.12.1901, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Krüger (auch auszugsweise bei ZH 234). 149
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sei. Diese Einschätzung schloß Kritik im Einzelnen nicht aus, etwa daran, daß Angehörige der theologisch „linken“ Religionsgeschichtlichen Schule kaum Chancen hatten, an eine preußische Universität gerufen zu werden, oder an Althoffs zögerlichem Agieren in der Frage der Mädchenschulreform – davon wird noch zu reden sein. Aber insgesamt galt doch, daß in Harnacks Augen die Freiheit der Wissenschaft weniger vom Staat, sondern neben den Kirchen „von den parlamentarischen Parteien bedroht wird, und daß ihnen gegenüber die Regierungen zur Zeit Wächter und Beschützer derselben sind – soweit sie es vermögen“151 – so das Hauptargument seiner Verteidigung Althoffs im Fall Spahn 1901. Harnacks Position in dieser Aufsehen erregenden Debatte152 illustriert wohl am besten seine Stellung zum „System Althoff “. Althoffs zuletzt auch durchgesetztes Vorhaben, eine zu besetzende historische Professur an der Straßburger Universität zu teilen, um so – gegen den Willen der Fakultät – dem jungen katholischen Historiker Martin Spahn zu einer Professur zu verhelfen, löste eine intensive Debatte um die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft aus, die sich bald mit zum Teil scharfer Kritik gegen Althoffs Berufungspolitik insgesamt richtete und die u. a. von Max Weber, Ernst Troeltsch und auch Theodor Mommsen mit großem Einsatz geführt wurde. Harnack stellte sich ebenso wie Delbrück und Schmoller hinter Althoff und verteidigte ihn gegen den Vorwurf, durch die geplante konfessionelle Professur die Freiheit der Wissenschaft zu gefährden. Ausdrücklich anerkannte er die politischen Motive, die hinter dem Vorgehen der Regierung standen und über die er nicht nur von Althoff, sondern von Bülow selbst informiert worden war.153 Denn die Errichtung einer katholischen Professur für Geschichte und für Philosophie stand im Zusammenhang mit der anvisierten Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg, die in engem Zusammenspiel Althoffs und des Zentrumspolitikers Georg Freiherr von Hertling seit 1898 betrieben wurde und die schließlich 1903 gegründet werden konnte. Dieser Fakultät war ebenso wie den beiden katholischen Professuren für Philosophie und Geschichte eine doppelte Signalwirkung zugedacht. Sie sollte einmal das Zentrum enger an die Regierung binden, indem so die prinzipielle Anerkennung katholischer Gelehrsamkeit und Bildung deutlich gemacht wurde, während das Zentrum seine nationale Zuverlässigkeit unter Beweis stellte, indem es die Verhandlungen der Regierung mit der Kurie in Rom über die Straßburger Fakultät, mit denen Hertling beauftragt wurde, nachdrücklich unterstützte. Damit ist bereits das zweite, nationalpolitische Signal angesprochen. Denn dieser Beweis nationaler Zuverlässigkeit 151 Vgl. die Zuschrift Harnacks an die Redaktion der Nationalzeitung, Nr. 646 vom 29.11.1901. 152 Eine präzise Rekonstruktion des Falles Spahn unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Mommsens und Harnacks bietet BwM 414–462. 153 Harnack an Mommsen am 5.11.1901, in: BwM 848–851.
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durch die Unterstützung der Straßburger Pläne bestand darin, daß die mehrheitlich katholische Bevölkerung des Reichslandes auf diese Weise enger an das Reich gebunden werden sollte, zumal man dem dortigen bischöflichen Ausbildungsseminar profranzösische Gesinnung unterstellte. Vor diesem Hintergrund hielt zwar auch Harnack zumindest die oktroyierte Teilung der Professur „vom Standpunkt der Wissenschaft“ aus für „gefährlich“154 – eine Besetzung des vorhandenen Ordinariats mit einem Katholiken, ohne die Konfession zum entscheidenden Auswahlkriterium zu erklären, hielt er für den geeigneteren Weg – und beklagte den grundsätzlichen Versuch einzelner politischer Parteien, Berufungen zu beeinflussen – „die Nationalliberalen und die Reichspartei haben die Strafprofessuren gegen die Kathedersozialisten verlangt, das Zentrum verlangt seine Professuren, die Generalsynode will ihre Professuren“155–, erklärte aber dennoch ausdrücklich, daß die Regierung in diesem Fall nachgeben könne, „um Größeres im politischen Geschäft zu erlangen.“ Dieses Größere war für Harnack wie für die Regierung das erwähnte doppelte Signal: die bessere Integration der deutschen Katholiken, indem man konsequent fortfuhr, die katholische Kirche in die moderne Bildung „möglichst kräftig“ hineinzuziehen156, was unweigerlich eine Linderung des konfessionellen Gegensatzes zur Folge haben müßte, und sodann die Stärkung der Straßburger Universität als nationalpolitischer Klammer zwischen dem Reich und Elsaß-Lothringen, die bisher kaum habe wirken können, weil „so gut wie alle Universitätslehrer protestantisch oder jüdisch“ seien.157 Überdies war Harnack in die Planungen Althoffs spätestens seit April 1900 einbezogen.158 Noch im August 1901 hatte er in dessen Auftrag ein Gutachten über das „Projet pour l’érection d’une faculté de Théologie catholique à l’Université de Strasbourg“ verfaßt159, in welchem er für eine strikte Begrenzung des kirchlichen Einflusses auf die neue Fakultät eintrat. Im eigenen Interesse müsse der Staat diese Fakultät einrichten, dabei aber zugleich mit solchen Rechten ausstatten, die sie einer päpstlich-ultramontanen Kontrolle weitmöglichst entzögen. Insofern konnte Harnack mit einigem Recht behaupten, daß der Staat sich auch gegenüber den politischen und kirchlichen Parteien um den Schutz der Wissenschaft bemühe, denn „sofern die Glaubenslehre Gegenstand wissenschaftlicher Darstellung auf 154
AaO., 850. Harnack an Krüger am 9.12.1901, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Krüger. 156 So Harnack in einem Brief an Rade vom 3.1.1902, in: BwR 477. 157 Harnack an Mommsen am 5.11.1901, in: BwM 849. 158 Althoff an Harnack am 19.4.1900, dem er die Abschrift verschiedener Gutachten, Entwürfe und Briefwechsel zwischen Reichskanzler und Unterrichtsminister zukommen ließ, die als „höchst vertraulich“ eingestuft waren. Althoff betonte ausdrücklich seine Freude darüber, mit Harnack in der Straßburger Angelegenheit „ganz einer Ansicht“ zu sein, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 159 Dieses Gutachten in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 22. 155
164
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den staatlichen Anstalten, den Universitäten wird, unterliegt ihr Betrieb den allgemeinen wissenschaftlichen Bedingungen.“ Entäußere sich der Staat seines Aufsichtsrechtes und damit der Möglichkeit „über die Freiheit, Reinheit, Vollständigkeit etc. des wissenschaftlichen Betriebes zu wachen“, dann komme das dem „Ultramontanismus“ zugute.160 Zwar hatte Harnack in diesem Zusammenhang noch vor einer prinzipiellen Konfessionalisierung des historischen und philosophischen Lehrstuhls gewarnt, doch war die Absicht zu der „Rückenstärkung, der die Regierung bedarf “161, so groß, daß er sich schließlich über diese Bedenken hinwegsetzen konnte. Harnack unterstützte nicht nur das prinzipielle Ziel der Regierung, sondern bemühte sich, den Protest seitens der verschiedenen Universitäten zumindest abzufedern, wie besonders am Beispiel Mommsens deutlich wird, dem er vorschlug, zunächst nur mit einer internen Denkschrift, nicht aber öffentlich zu reagieren.162 Als Mommsen von seinem Vorhaben nicht absehen wollte, bat Harnack darum, dem Protest die latent kulturkämpferische Spitze durch die Ergänzung zu nehmen, „daß wir unseren katholischen Landsleuten gerne confessionsverwandte Professoren gönnen, vorausgesetzt, daß sie wirklich Männer der Wissenschaft sind.“163 Als sich nach Mommsens Erklärung der Fall Spahn zu einer grundsätzlichen Debatte über das „System Althoff “ ausweitete, setzte Harnack sich an die Spitze der Verteidiger Althoffs. Er wies in einer Zuschrift an die Berliner „Nationalzeitung“ nicht nur die Vorwürfe des Straßburger Rektors Michaelis zurück, sondern zog auch eine insgesamt positive Bilanz der Politik Althoffs, die den Herausforderungen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung weitgehend gerecht geworden sei. Der Staat diene den Wissenschaften am besten durch die Berufung ausgewiesener Persönlichkeiten an seine Universitäten und leiste ihnen dazu noch einen größeren Dienst, wenn er seine Universitäts- und Bildungspolitik „einsichtigen Räthen anvertraut“164 – daß damit niemand anders als Althoff gemeint sein konnte, war offensichtlich. Harnacks Zeitungsartikel war eng abgestimmt mit Delbrück und Schmoller und sollte zugleich eine weitere Eskalation des Konflikts durch einen geplanten Aufruf der Althoff-Anhänger Schmoller, Delbrück, Paulsen und Wilamowitz-Moellendorff verhindern, wie Harnack in einem Brief an Schmoller, dem er seine Ausführungen im Vorfeld übersandte, ausführte.165 Gleichzeitig be160 161
Alle Zitate in: aaO. So Harnacks Formulierung in einem Brief an Rade vom 24.12.1901, in: BwR
476. 162
Harnack an Mommsen am 28.10.1901, in: BwM 833–836. Harnack an Mommsen am 5.11.1901, in: aaO., 850. 164 Die Preußische Universitätsverwaltung (Zuschrift), in: Nationalzeitung Nr. 646 vom 29.11.1901. 165 Harnack an Schmoller am 28.11.1901, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 194a, Bl. 17. Harnack übersandte darin das Manuskript seiner Zuschrift an die „Na163
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mühte Harnack sich – allerdings ohne Erfolg – Mommsen wieder einzubinden, indem er ihn zur Teilnahme an einer von Schmoller in seinem Haus organisierten Solidaritätsveranstaltung zugunsten Althoffs – von der Presse spöttisch als „Liebesmahl“ tituliert – im Januar 1902 zu bewegen suchte.166 Der Fall Spahn illustriert besonders deutlich das Zusammenspiel Harnacks und Althoffs und bietet einen guten Einblick in die Funktionsweise gelehrtenpolitischer Einflußnahme. Dabei verbanden sich wissenschaftspolitische mit weitergehenden politischen Zielsetzungen. Althoffs maßgeblich konfessionspolitisch motiviertes Vorgehen fand die ausdrückliche Billigung des bereits früh vertraulich herangezogenen Harnack. Beide stimmten darin überein, daß der konfessionelle Gegensatz auch mit Hilfe der Wissenschaftsund Bildungspolitik überwunden werden mußte. Sie wirkten in diesem Sinne nicht nur im Fall Spahn, sondern in den folgenden Jahren mehrmals zusammen – etwa im Umfeld der Reichstagswahl von 1907.167 Althoffs Universitäts- und Wissenschaftspolitik fand nicht nur wegen dessen Eintreten für Wissenschaftsfreiheit und der konsequenten Überwindung überkommener Strukturen Harnacks Zustimmung, sondern auch auf Grund des damit verbundenen Versuchs, eine behutsame gesellschaftliche Modernisierung zu fördern und zugleich die politischen Zerklüftungen durch Integration der abseits stehenden gesellschaftlichen Gruppen – Katholiken, Sozialdemokraten, Juden und Polen – vorsichtig zu überbrücken. So war Althoff – trotz aller Differenzen im Einzelnen – wegen dieser gemeinsamen doppelten Zielsetzung der ideale Partner für gouvernementale Gelehrtenpolitik, wie sie Harnack, Schmoller oder Delbrück vertraten. Das Vertrauen auf eine starke, gebildete und wissenschaftlicher Beratung zugängliche Persönlichkeit, wie sie der „einsichtige Rath“ Althoff gewissermaßen idealtypisch repräsentierte, bestärkte den Glauben an die Überparteilichkeit des Staates im Sinne der von Schmoller so hochgeschätzten „überparteilichen monarchischen Beamtenregierung.“ Freilich unterschätzte Harnack dabei den Umstand, daß auf Grund der Herrschaftsstrukturen und ihrer gesellschaftlichen Rekrutierung die Bürokratie letztlich selbst Partei war. Hinzu kam – und diese Schwäche trat besonders bei Althoff zu Tage –, daß dessen „aufgeklärter Absolutismus“, wollte er mit einiger Aussicht auf Erfolg seine Projekte wenigstens halbwegs realisieren, sich der Mittel der konservativen Bürokratie und des Obrigkeitsstaats bedienen mußte: Geheimnistuerei, autokratisches Vorgehen, mangelnde Transparenz und nicht zuletzt die von den zeitgenössischen Kritikern immer wieder angesprochene Überlistung von Professoren und Fakultäten. Zu Recht hat Bernhard vom Brocke betont, daß trotz aller Liberalität Althoff tionalzeitung“ mit der Bitte, dieses bei Zustimmung an die Redaktion weiterzuleiten, andernfalls an Harnack zurückzuschicken. Wie die erfolgte Veröffentlichung belegt, stimmte Schmoller Harnacks Vorschlag zu. 166 BwM 453–462. 167 Vgl. dazu Kapitel III.2.1.2.
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sich der „Korrumpierung durch die Bürokratie des alten Obrigkeits- und Polizeystaates“ nicht gänzlich habe entziehen können.168 Harnack hat diese Mängel durchaus gesehen, glaubte aber sie als unvermeidlich hinnehmen zu müssen. Alfred Weber hat den gerade an der Beurteilung Althoffs sichtbar werdenden Dissens innerhalb der deutschen Hochschullehrerschaft anläßlich der Diskussion um die Gründung einer gegen parteipolitische und staatliche Eingriffe in die Autonomie der Hochschulen – und damit auch gegen Althoff – gerichteten „Professorengewerkschaft“ im Jahr 1907169 auf einen Generationenkonflikt zwischen zwei unterschiedlichen Auffassungen von Staat und Demokratie in der Wissenschaftspolitik zurückgeführt. Während Delbrück in Anlehnung an Harnacks Argumentation von 1901 die Notwendigkeit „großer Männer“ betonte, vor „deren Ansehen und Stimme ebensowohl hohe Regierungen wie Parteien und öffentliche Meinung Respekt haben und zurückweichen“ und die allein durch ihr Vorhandensein die beste Garantie für Wissenschaft und Lehrfreiheit seien170, wertete Weber dieses Votum für „den aufgeklärten Absolutismus auf dem Gebiet des Bildungswesens“ als den Ausdruck eines Glaubens der Generation Delbrücks und des „wohl größten Teil[s] ihrer geistigen Führer“, den die Jüngeren nicht mehr teilten: „ Jene Generation […] ist voll von Zweifeln gegenüber allem, was an die technischen Mittel der Demokratie, ihre Art der Initiative und Willensbildung appelliert“ und „glaubt dagegen inbrünstig an die Mission der starken Einzelperson, an das Segensreiche auch ihres willkürlichen Waltens, und ist im Grunde ihrer Seele Autorität.“171 Damit war in der Tat der Kern gelehrtenpolitischen Selbstverständnisses, das sich mehr an Personen, weniger an Institutionen orientierte und das sich deshalb besonders an dem Zusammenwirken mit einer Person wie Althoff fokussieren läßt, auf den Punkt gebracht. Mit dem Fall Spahn ist bereits ein Zeitpunkt erreicht, zu dem Harnack in ganzer Breite in die wissenschaftlichen und politischen Geflechte des „Systems Althoff “ eingebunden war. Es gilt nun, zumindest kurz die verschiedenen Etappen zu verdeutlichen, in denen sich diese nahezu „symbiotische[] Beziehung“172 zwischen dem kontrovers-theologischen Gelehrten und dem autoritär-liberalen preußischen Ministerialdirektor entwickelt hat. Die Zusammenarbeit zwischen Althoff und Harnack begann noch während der Auseinandersetzungen um den Berliner Ruf 1888.173 Schon als 168
Vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik (Anm. 139), 114f. Dazu vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 114–121. 170 Hans Delbrück: Eine Professorengewerkschaft, in: PJ 129 (1907), 129–142, 136. 171 Alfred Weber: Zum deutschen Hochschullehrertag, in: Frankfurter Zeitung Nr. 207 vom 28.7.1907. 172 BwM 126. 173 AaO., 119f. 169
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eine endgültige Entscheidung noch ausstand, bat Althoff um Harnacks Vorschläge für die eigene Nachfolge sowie die des mittlerweile verstorbenen Kirchenhistorikers Ernst von Ranke und signalisierte damit, daß er Harnack in das Netz seiner ihn beratenden Vertrauensleute einzubinden gedachte. Harnack selbst gab zu erkennen, daß er zur Übernahme dieser Rolle gerne bereit war und kam dem Wunsch nach entsprechenden Gutachten sofort nach, die er mit grundlegenden Überlegungen über die theologiepolitische Bedeutung einer kritischen Kirchengeschichte verband: Allein die „besser erkannte Geschichte“ vermöge „den Bann bestehender u. die Gewissen verwirrender Traditionen brechen.“174 Harnack übersandte regelmäßig seine wichtigsten Veröffentlichungen an Althoff. Das galt für die Schriften zum Apostolikumstreit ebenso wie für seine Studien zur frühchristlichen Literaturgeschichte oder für das „Wesen des Christentums“175, wenngleich bekannt war, daß Althoff Zusendungen in der Regel nicht las und Harnack bald bemerkt hatte, daß die „Theologie ihm ziemlich gleichgültig ist.“176 Dennoch ließ er ihm auch die umfangreichen Neuauflagen seines dogmengeschichtlichen Lehrbuches zukommen, das in besonderer Weise die Verbundenheit des Theologen mit dem Ministerialbeamten dokumentierte. So kommentierte Harnack die Übersendung des dritten Bandes 1890 mit der Bemerkung: „Habeant sua fata libelli – dies Wort gilt auch von diesem Buche. Für das glückliche Fatum, welches Sie demselben gewesen sind, sage ich Ihnen nochmals meinen Dank.“177 Und das Begleitschreiben der dritten Auflage 1894 betonte den Umstand, daß mit diesem Buch „ein Stück Univers.-Politik-Geschichte“ verbunden sei.178 Darüber hinaus wurden auch die privaten Kontakte gepflegt. Häufig sah man sich auf verschiedenen Gesellschaften, mehrmals wurde Harnack mit seiner Frau privat bei Althoffs eingeladen.179 Harnack wußte bald, daß Althoff sachkundige Beratung schätzte, zumal wenn sie die größeren Zusammenhänge im Blick behielt und verschiedene Handlungsalternativen aufzeigte. Entsprechend gestaltete er seine Auskünfte über mögliche Berufungskandidaten, verstand es, ihre persönlichen und wissenschaftlichen Qualitäten herauszustellen und bemühte sich in wichtigen Fällen, die politische Bedeutung einer Berufung oder der Errichtung einer 174 Harnack an Althoff am 26.9., 27.9., 3.10. und 4.10.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. In dem Brief vom 27.9.1888 finden sich die auch häufig in der Literatur zitierten grundsätzlichen Ausführungen über den Sinn des kirchengeschichtlichen Studiums (vgl. ZH 129–131). 175 Harnack an Althoff am 2.8.1893 bzw. am 28.6.1900, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79 III. 176 Harnack an Weinel am 5.12.1901, in: Graf: Harnack (Anm. 147), 202. 177 Harnack an Althoff am 11.5.1890, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 178 Harnack an Althoff am 12.5.1894, in: aaO. 179 Harnack an Althoff am 20.7.1893, in: aaO.
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Professur hervorzuheben. Ein gutes Beispiel ist Harnacks Versuch, seinem engen Mitarbeiter an der Akademie, dem Kirchenhistoriker Karl Holl180, 1898 ein eigens einzurichtendes Extraordinariat für byzantinische und orientalische Kirchen- und Literaturgeschichte zu verschaffen. Harnack lobte in seinem Gutachten nicht nur Holls wissenschaftliche Fähigkeiten in den höchsten Tönen und wies auf die zunehmende Ausdifferenzierung innerhalb des Faches alte Kirchengeschichte hin, sondern stellte die beantragte Professur auch in den Kontext der deutschen Bemühungen um einen größeren politischen und kulturellen Einfluß im Orient. Diese könne gerade die protestantische Theologie unterstützen, indem sie „in jenen Kirchen die Überzeugung erhält und verstärkt, daß man nach Deutschland kommen und deutsche theologische Werke studiren muß, um, wie über die Geschichte des Christenthums im Allgemeinen, so auch über die heimische Kirchengeschichte Belehrung zu empfangen.“181 Auch mit Blick auf Rußland warb Harnack für den Lehrstuhl, könne man doch den russischen Staat und die russische Kultur der Gegenwart in ihrer „Eigenart nur durch Rückgang auf die byzantinische Geschichte“ verstehen.182 Zwar wurde der Antrag vom Ministerium abgelehnt – Holl gelangte erst 1906, wiederum auf Anregung Harnacks, auf eine Berliner Professur –, aber er illustriert doch Harnacks Geschick, wissenschaftliche und politische Erwägungen um einer möglichst effizienten Umsetzung seiner Vorhaben willen miteinander zu verbinden – eine Weise, Argumente miteinander zu kombinieren, die sich bei der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dann als überaus erfolgreich erweisen sollte. So gab es in den folgenden Jahren kaum eine Besetzung einer theologischen Professur, bei der sich Althoff nicht des Rates Harnacks versicherte. Harnack hat so einer Reihe von Theologen vorwiegend liberalprotestantischer Couleur zu einer Professur in Preußen verholfen, mußte aber zugleich eingestehen, daß die immer wieder erforderliche Rücksichtnahme auf Kirchenleitung und konservative Parteien Berufungen von Angehörigen der „Religionsgeschichtlichen Schule“ – etwa Ernst Troeltsch oder Wilhelm Bousset – kaum zuließ. Die Berufungen von bedeutenden, zum Teil noch heute diskutierten Theologen wie Emil Schürer, Otto Ritschl, Ferdinand Kattenbusch, Adolf Jülicher, Paul Drews, William Wrede und Johannes Weiß an preußische Universitäten entsprangen auch dem Einfluß Harnacks, der Althoff immer wieder verschiedene personelle Kombinationen unterbreitete, die dieser häufig aufnahm.183 Leitlinie Harnacks blieben dabei die 180 Vgl. Dietrich Korsch: Lutherisch-nationale Gewissensreligion: Karl Holl (1866–1926), in: Graf: Profile. Band 2 (Anm. 72), 336–353. 181 Der Antrag vom 8.6.1898 in: UA Berlin, Best. Theol. Fak. Nr. 167, Bl. 224–225, Bl. 225. 182 AaO., Bl. 224. 183 Vgl. als nur ein Beispiel Harnacks Briefe an Althoff vom 20.2., 20.3 und 17.6.1895,
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schon 1888 ausgesprochenen Überlegungen, daß „allein die besser erkannte Geschichte […] den Bann bestehender u. die Gewissen verwirrender Traditionen brechen“ könne184, woraus natürlich eine Präferenz historisch-kritisch arbeitender Gelehrter resultierte. Gleichwohl achtete Althoff darauf, daß unterschiedliche theologische Richtungen an den verschiedenen Universitäten vertreten blieben, zumal Berufungen von bekanntermaßen liberalen Theologen immer wieder für Angriffe von rechts sorgten. Insofern blieb Harnacks Einfluß begrenzt, ließ Althoff sich doch auch weiterhin von Bernhard Weiß und ebenso von dem Greifswalder Theologen Hermann Cremer beraten185, Harnacks wissenschaftlichem Kontrahenten in den Auseinandersetzungen um Apostolikum und Wesensschrift. Besonders wenn die von Harnack vorgeschlagenen Theologen öffentlichkeitswirksame Angriffe der kirchlich-positiven Kräfte auf sich gezogen hatten, war es schwer, sie durchzusetzen. Trotz dieser Schwierigkeiten zeigte Harnack sich mit Althoffs Berufungspolitik zufrieden. Im Apostolikumstreit 1892 und im Streit um die Agende 1894 war es wesentlich ihm zu verdanken, daß disziplinarische Konsequenzen für Harnack ausgeblieben waren, und auch in den folgenden Jahren hatte er Einschränkungen der theologischen Lehrfreiheit immer wieder abzuwehren versucht, wobei ihn Harnack tatkräftig unterstützte. So verhinderte er 1902 im Zusammenspiel mit Althoff eine Disziplinierung des Kieler Praktischen Theologen Otto Baumgarten ebenso wie ein Einschreiten des Ministeriums gegen den von Teilen der ostpreußischen Geistlichkeit attakkierten Königsberger Kirchenhistoriker August Dorner.186 Im Fall Baumgarten hat er Althoff nicht nur mit Material über die Frequentierung der Theologischen Fakultäten versorgt, um so den Vorwurf von Orthodoxie und konservativen Abgeordneten zu parieren, der theologische Liberalismus habe zu einem Studentenschwund geführt, sondern er hat auch die ministerielle Antwort an die Ankläger Baumgartens verfaßt, die dann Grundlage der Stellungnahme des Kultusministers in den Debatten von preußischem Landtag und Herrenhaus darstellte.187 Wenngleich Harnack vorrangig liberale Theologen empfahl – was zweifellos auch Althoffs Erwartungen entsprach, schließlich ging es bei seinen Anfragen meist um Lehrstühle, die bereits vorher von eher liberal oder mittelparteilich orientierten Theologen in denen es um die Berufungen Reischles und Kattenbuschs nach Göttingen, Wredes nach Breslau und Weiß’ nach Marburg ging, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 184 Harnack an Althoff am 27.9.1888, in: aaO. 185 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz Althoffs mit Cremer und Weiß in: aaO., B, Nr. 195 Bd. 2. 186 Vgl. zu Baumgarten Harnack an Althoff am 29.11.1902, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105, zu Dorner Harnacks Vermerke für Althoff vom Dezember 1904, in: aaO., A II, Nr. 79 III. 187 Harnacks Entwurf für einen Ministerialerlaß in: aaO., A II, Nr. 105.
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besetzt gewesen waren, während Harnack etwa bei Fragen, die weitgehend positiv dominierte Fakultäten wie Greifswald betrafen, nicht konsultiert wurde – so gab es davon doch dann Ausnahmen, wenn es sich um baltische Gelehrte handelte. So sorgte er für die Berufung seines Studienfreundes Nathanael Bonwetsch nach Göttingen und empfahl seinen Lehrer Ferdinand Mühlau für Kiel.188 Die Berufung anderer Balten wie die seines Freundes Gustav von Bunge, des Physikers Arthur von Oettingen sowie seines Bruders Otto legte er gleichfalls Althoff nahe.189 Harnack als Vertrauensmann Althoffs für theologische Fakultäten – das war zunächst die wichtigste Aufgabe, die dem Kirchenhistoriker in Althoffs Netzwerk zukam und die in den 1890er Jahren weithin die Korrespondenz der beiden Männer bestimmte. Im Zusammenhang damit standen ferner gutachterliche Äußerungen über die Werke verschiedener Theologen, darunter auch katholische Forscher.190 Aber auch andere Felder rückten allmählich in den Vordergrund, darunter v. a. die Akademie der Wissenschaften, in die Harnack 1890 – als vierter Theologe nach Schleiermacher, Neander und Dillmann und besonders gefördert von Theodor Mommsen – aufgenommen worden war. Hauptaufgabe Harnacks stellte die Vorbereitung und Durchführung einer wissenschaftlichen Ausgabe der griechischen Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte dar, die er mit großem Elan anging, und die bereits ein Jahr später vom Ministerium genehmigt wurde.191 Mit der wesentlich in seinen Händen liegenden inhaltlichen Konzeption und organisatorischen Durchführung des Unternehmens, das ab 1895 endgültig dauerhaft abgesichert war, stellte Harnack seine überragenden wissenschaftsorganisatorischen Begabungen unter Beweis und bestätigte damit die in ihn gesetzten Erwartungen, zumal es ihm gelang, nicht nur angesehene Gelehrte wie Mommsen, Wilamowitz-Moellendorff, Friedrich Loofs und Eduard Schwartz für das Unternehmen zu gewinnen, sondern auch zahlreiche junge Nachwuchsforscher einzubinden. Großes Gewicht legte er darauf, sowohl ausländische Wissenschaftler an der Editionsreihe – sie trug seit Mai 1897 den Titel „Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte“ – zu beteiligen, als auch katholische Forscher zur Mitarbeit heranzuziehen. Mit seiner in der weithin protestantisch geprägten deutschen Wissenschaftslandschaft eher ungewöhnlichen Bereitschaft zu interkonfes188
Harnack an Althoff am 13.10.1890 bzw. am 13.11.1894, in: aaO., A II, Nr. 79 III. Harnack an Althoff am 14.11.1889, 10.10.1894 und 18.5.1902, in: aaO. 190 Harnack an Althoff am 20.12.1889, in: aaO. Harnack äußerte sich über einen möglichen Druckkostenzuschuß des Ministeriums für Joseph Langen, Geschichte der römischen Kirche mit der Bemerkung „dankenswerth u. brauchbar, aber unbedeutend. […] Auch ein altkatholischer Professor muß darüber so schreiben können, daß er die Ultramontanen zwingt, ihn fleißig zu lesen.“ 191 Gründung und Entwicklung der sogenannten Kirchenväterkommission sind jetzt ausführlich behandelt bei BwM 129–247. 189
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sioneller Kooperation verfolgte er freilich nicht nur wissenschaftliche Zwekke. Denn mit Albert Ehrhard und Franz Xaver Funk gewann er zwei ausgewiesene Experten, die dem innerkirchlich heftig angefeindeten Reformkatholizismus zuzurechnen waren, deren wissenschaftliches Renommée auf diese Weise ebenso wie ihre kirchliche Position gestärkt werden sollte.192 Die Etablierung der „Kirchenväterkommission“ als wissenschaftliches Großprojekt, mit dem die Preußische Akademie zudem unter Beweis stellte, daß sie eine solche Aufgabe mindestens ebenso gut zu meistern vermochte wie ihr Wiener Pendant, das bereits seit 25 Jahren die Ausgabe der lateinischen Kirchenväter betreute, und mit der sie daher auch die Weltgeltung preußisch-deutscher Wissenschaft unter Beweis gestellt hatte – Harnack hatte bereits in seinem ersten Antrag für das Projekt diesen Aspekt wenigstens unterschwellig anklingen lassen193 –, qualifizierte Harnack für weitere Aufgaben. Mommsen, inzwischen entschlossen, den Theologen gleichsam als eigenen wissenschaftspolitischen Erben zu betrachten, gelang es zwar nicht, ihn 1895 als seinen Nachfolger in der Funktion des Sekretars der Akademie durchzusetzen.194 Bedeutungsvoll für Harnacks Karriere aber wurde im folgenden Jahr der Umstand, daß die Akademie ihn mit der Abfassung der für ihr 200. Jubiläum in Aussicht genommenen Geschichte betraute. Seine auf umfangreichem Quellenstudium fußende Arbeit lag der Akademie Mitte 1899 vor und hatte den Verfasser zugleich von den Unzulänglichkeiten der bestehenden Ordnung der Akademie überzeugt. Die „fortschreitende Arbeitstheilung“ erfordere als „Grossbetrieb der Wissenschaften“ neue Organisationsformen195 sowie die Einrichtung einer von der Lehre an der Universität unabhängigen „Laufbahn für wissenschaftliche Berufsarbeiter.“196 Es war ein erneuter Beweis seines Geschicks, daß Harnack diese Forderung nicht nur programmatisch ans Ende seiner Akademiegeschichte setzte, sondern das Jubiläum selbst als Anlaß für erste Schritte in diese Richtung wählte. Es gelang ihm, eng beraten von Mommsen und unterstützt von Althoff, diese Forderung auch umzusetzen.197 Harnacks Überlegungen zu einer modernen und effizienten Organisation wissenschaftlicher Forschungsvorhaben fußten also auf den Erfahrungen in der Akademie, auch wenn ihre Umsetzung ihn schließlich über die Akademie hinausführte. 192 Zu Harnacks Beziehungen zu dem „liberalen Katholiken“ Ehrhard vgl. Friedrich Winkelmann: Albert Ehrhard und die Erforschung der griechisch-byzantinischen Hagiographie. Dargestellt an Hand des Briefwechsels Erhards mit Adolf von Harnack, Carl Schmidt, Hans Lietzmann, Walther Eltester und Peter Heseler, Berlin 1971; zur Einordnung Erhards Otto Weiß: Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995, 171–180. 193 Der Antrag vom 22.1.1891 ist abgedruckt bei BwM 134–136. 194 BwM 72–74. 195 GAW I, 982. 196 AaO., 1042. 197 BwM 75f. und 210–223.
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Seit Ende der 1890er Jahre wurde Harnack in zunehmendem Maße mit weiteren Fragen der Wissenschafts- und Bildungspolitik betraut. Seit 1898 zog Althoff ihn als Berater bei der Reorganisation des Preußischen Historischen Instituts in Rom hinzu, dessen Beirat Harnack seit 1902 vorstand. Auch in die Arbeit der Monumenta Germanica Historica band Althoff Harnack ein, der es allerdings 1903 ablehnte, den Vorsitz dieser Institution zu übernehmen.198 Eine Ausweitung seines Tätigkeitsfeld über die Universitäts- und Wissenschaftspolitik hinaus bedeutete auch Harnacks Teilnahme an der Schulkonferenz von 1900. Er unterstützte Althoffs Absicht einer vorsichtigen sozialen Öffnung des preußischen Bildungswesens, indem er für die Gleichberechtigung von Realgymnasien und Oberrealschulen gegenüber den humanistischen Gymnasien eintrat.199 Gleichwohl galt letzteren die besondere Sympathie Harnacks, da sie ihm mit ihrer Orientierung insbesondere an der griechischen Antike die beste Gewähr für die Ausbildung echter Persönlichkeit zu bieten schienen. „Patriotische Begeisterung“, so Harnack lapidar, werde der Schüler sicher „leichter an der vaterländischen Geschichte gewinnen können. Aber wenn Bildung in erster Linie Verständnis ist für alle Grundformen und Äußerungen des Menschlichen, wenn sie sich als Elastizität des Geistes, als gezügelte Phantasie und als wiedergewonnene Naivität darstellt, wenn sie Aufgeschlossenheit für das Große, Ehrfurcht und Selbstbehauptung zugleich bedeutet – wo kann man das besser lernen als bei den Griechen?“200 Harnack, der unmittelbar im Vorfeld der Schulkonferenz der „Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg“ beigetreten war201, konnte sogar Lessings Ringparabel heranziehen, indem er sie auf die drei Schultypen – die auch ihm Ausdruck der Ausdifferenzierung von Wissen und Bildung in der Moderne waren – bezog und mit einem Bekenntnis verband: „alle drei Ringe sind echt, aber der eine ist uns der liebste.“202 Einen Höhepunkt seiner bisherigen Karriere stellte Harnacks Festvortrag zur 200–Jahr-Feier der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 20. März 1900 in Gegenwart des Kaisers dar, der die wissenschaftspolitische Begabung des am Hofe bisher wenig geschätzten Harnack erkannte. Seit diesem Akademievortrag wurde Harnack immer häufiger vom Kaiser als Gesprächspartner und wissenschaftspolitischer Berater herangezogen, was 198 AaO., 120–122 sowie Harnack an Althoff am 15.10.1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 199 Vgl. dazu Christoph Führ: Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: Baumgart (Anm. 139), 189–223. 200 RANF 1, 65–82, 75. 201 Vgl. Hermann Scholz an Harnack am 2.6.1900, in. Nl. Harnack, Korr. Scholz. Der in der vorangegangenen Anmerkung zitierte Vortrag wurde 1904 im Rahmen dieser Vereinigung gehalten. 202 RANF 1, 82.
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Harnack im Zusammenspiel mit Althoff für die Umsetzung ihrer Ideen einer modernen deutschen Wissenschafts- und Bildungspolitik zu nutzen begann. Nur wenige Monate später erklomm Harnack einen weithin sichtbaren Höhepunkt seiner Karriere: Am 1. August 1900 wurde er mit 56 von 59 möglichen Stimmen zum Rektor der Berliner Universität gewählt. Einen Tag später würdigte die angesehene „Vossische Zeitung“ die Wahl des Theologen Harnack: „Die Ehre ist für ihn um so größer, als sie ihm in ungewöhnlich jungen Jahren zu Theil wird. Eine genauere Nachforschung würde vielleicht ergeben, daß es noch keinen Berliner Rektor gegeben hat, der nicht das fünfzigste Lebensjahr überschritten hätte.“203 Harnack selbst berichtete an seine Frau: „Die Töchter hatte ich bei der Kaiserin-Auguste-Statue postirt […]. Die Abmachung war: rothes seidenes Tuch-Winken bedeutet glänzende Wahl, weißes Tuch Wahl, heraustreten ohne Tuch Durchfall. Es klappte vortrefflich […].“204
3.5. Primat der Innenpolitik: Harnack und die gelehrtenpolitischen Aktivitäten bis 1900 Als Harnack Ende 1888 nach Berlin übersiedelte, zeichnete sich bereits deutlich das Ende der Ära Bismarck ab. Auch der Bismarck-Anhänger Harnack registrierte den Umschwung der öffentlichen Meinung zu Ungunsten des Kanzlers. „Wir haben alle in Deutschland z. Z. ein vorläufiges oder besser nachläufig unmaßgebliches öffentliches Leben“, notierte er im November 1889, „denn Bismarck lebt!“ Zwar hielt Harnack an seiner Bewunderung für Bismarck fest – „Wunderbar was ein Mann vermag. Vielleicht hat noch niemand vor ihm in Deutschland eine solche Macht gehabt“ –, doch ließen die folgenden Zeilen durchblicken, daß mit Bismarck wohl für die Gegenwart, nicht aber für die Zukunft wegweisende politische Zielvorstellungen verbunden waren. Der einzelne möge sich um die Zukunft sorgen, aber „die Gegenwart ist besetzt u[nd] zwar durch einen Mann auf allen Gebieten! Was würde wohl der selige Hegel sagen? Ist das die Macht der Idee des 19. Jahrh[underts] oder ist das der ganz persönliche Bismarck?“205 Noch 1908 ließ Harnack in einem Artikel aus Anlaß des 10. Todestages des Reichsgründers durchblicken, daß der späte Bismarck namentlich in Bezug auf die soziale Frage und den Umgang mit der Sozialdemokratie nicht mehr in der Lage gewesen sei, die „Konsequenzen der Verhältnisse noch zu ziehen, die er geschaffen hat“, „Maßnahmen, namentlich auf sozialem Gebiet, die er scheute, weil sie ihn gezwungen hätten, einen Teil seiner Eigenart aufzugeben.“ Letztlich sei es Bismarcks Entlassung gewesen, die ihn davor bewahrt 203 204 205
Vossische Zeitung vom 2.8.1900. Harnack an Amalie Harnack am 2.8.1900, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmoller. Harnack an Rade am 13.11.1889, in: BwR 216.
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habe, „hinter der Entwicklung seines eigenen Werkes zurückzubleiben.“206 Für Harnack bedeutete das wohl v. a. die Fortführung der Sozialpolitik und die Notwendigkeit, durch Aufhebung des Sozialistengesetzes auch die politischen Konsequenzen aus dieser Politik zu ziehen. Im folgenden Jahr 1890, das den Sturz Bismarcks, die Aufhebung des Sozialistengesetzes und die sozialpolitischen Februarerlasse Wilhelms II. brachte, beteiligte sich Harnack an der Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses, von dem noch ausführlich zu reden sein wird. Harnacks seit der Leipziger Zeit reges Interesse für die soziale Frage, die nach einem Diktum des Nationalökonomen Adolph Wagner spätestens mit dem Beginn des „Neuen Kurses“ 1890 an die Stelle der „nationalen Frage“ getreten war, fand in dem zunächst maßgeblich von Stoecker initiierten Kongreß eine Organisation, die er zunehmend in einem liberalprotestantischen Sinn umformte und die schon in dieser Zeit zum wichtigsten Forum seiner Beschäftigung mit Fragen der bürgerlichen Sozialreform wurde. Die Arbeit im Evangelisch-sozialen Kongreß stand ohne Zweifel im Mittelpunkt seiner Beschäftigung mit Politik seit 1890.207 Seine Überlegungen zur sozialen Problematik bildeten aber auch den Hintergrund weiter Teile seines übrigen gelehrtenpolitischen Engagements. Die „soziale Frage“ setzte sich dabei nach Harnack aus den drei Teilfragen „des Besitzes, des Standes und der Weltanschauung“ zusammen.208 Sie spiegelte die Zerklüftung der deutschen Gesellschaft in elementarer Weise wider, wie sie Harnack an der engen Verbindung von „gesellschaftlichen Standesunterschieden“ und politischen Parteien exemplifizierte: „Zur socialdemokratischen Partei gehört der Handarbeiter, zur fortschrittlichen und nationalliberalen Partei der mehr oder minder begüterte Städter, der Fabrikant und Kaufmann, zu den conservativen Parteien der Grundbesitzer, die Geistlichkeit u. das, was herkömmlich zu den oberen Ständen gerechnet wird. Nicht nur Interesse-, sondern nicht selten auch Standesgemeinschaft verbindet die kämpfenden Parteien, und gekämpft wird gegen die mittelalterliche sociale Gliederung, deren Ringe noch immer nicht gesprengt sind.“209 Als Theologen interessierte Harnack neben der Ebene des Verhältnisses von Arbeit und Kapital – der „Magenfrage“ – sowie der auf Sprengung der erwähnten „socialen Ringe“ zielenden Standesfrage vor allem die „Weltanschauungsfrage.“210 Sie meinte eben den Versuch einer umfassenden Weltund Sinndeutung durch die miteinander kämpfenden Gruppierungen. Har206
RANF 1, 191–196, 195. Vgl. dazu Kapitel III.4. 208 Vgl. einen unveröffentlichten, um 1895 im „Verein junger Kaufleute von Berlin“ gehaltenen Vortrag Harnacks mit dem Titel „Die Kirche und die sociale Frage“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 14, Bl. 1. 209 Ebd. 210 AaO., Bl. 2v. 207
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nack konnte von ihr sogar als „Religions- und Sittlichkeitsfrage“ sprechen, in der die „heutige Menschheit innerhalb der socialen Frage auch um die Weltanschauung und um die Feststellung der Prinzipien ihres gesamten Lebens“ ringe.211 Jede Form von Vergemeinschaftung, so Harnacks These, müsse notwendigerweise über das bloß Materielle hinausgehen und sich auf höhere Ziele und Ideale beziehen. Ganz offensichtlich kam dieser religiösweltanschauliche Zusammenhang in der Ideologie der Sozialdemokratie ans Licht, die sich eben nicht allein auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit beschränkte, sondern sich explizit zu einer Weltanschauung bekannte, die sie „an Natur und der Geschichte“212 durchführte und die deshalb gerade in ihren Endzeithoffnungen und Erlösungsvorstellungen deutliche Parallelen zur christlichen Eschatologie aufwies.213 Eine Beschäftigung mit der Sozialdemokratie allein unter dem Stichwort „Materialismus“ bedeutete Harnack zufolge eine verkürzte Sichtweise: „Es ist also nicht die Religion und eine ideelle Weltbetrachtung, die als gleichgültig in den Hintergrund gedrängt ist […], sondern es sind nur bestimmte Ausprägungen der officiellen Religion oder diese selbst, die man als abgethan zurückweist.“214 Insofern waren die Kirchen nach Harnack gerade auf diesem Feld herausgefordert, indem sie die christliche Welt- und Selbstdeutung ganz auf Jesu Evangelium von „Liebe + Freiheit, Individualismus u. Brudersinn“ einstellen sollten.215 Der Staat hatte dagegen vorrangig durch eine umfassende Sozialgesetzgebung die Fragen von Besitz und Kapital zu regeln, wobei Harnack jedoch auch Vorbehalte gegenüber dem „Staatssozialismus“ artikulierte, der immer in Gefahr stehe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu gefährden: „Wenn wir nicht in Freiheit etwas für die sociale Frage thun, so werden wir immer mehr ‚Zwänge‘ bekommen, die den Individualismus und die Freiheit bedrohen.“216 Die Standesfrage, die auf die gesellschaftliche und letztlich auch politische Gleichberechtigung aller Schichten abzielte, fiel gleichfalls organisatorisch weitgehend in die Zuständigkeit des Staates. Diese 211
Ebd. Ebd. 213 So erklärte Harnack: „Man wendet ein, es sei der Materialismus, den sie predigt, und eben deßhalb der volle Gegensatz zu jeglicher Religion. Aber das ist nicht zuzugeben: denn sie verlangt von dem Einzelnen die höchsten Opfer für die Gesammtheit, faßt gleichzeitig ein goldenes Zeitalter des Friedens und der Seligkeit ins Auge, sucht eine neue Sittlichkeit aufzustellen und glaubt an eine moralische Wiedergeburt der Menschheit, an die Möglichkeit der Austilgung des Egoismus, wie sie bisher nur von begeisterten frommen Menschen verkündigt worden ist“, ebd. Daß Harnack hier durchaus scharfsinnig auf die säkularisierte Eschatologie der Sozialdemokratie hingewiesen hat, zeigt die vergleichende Studie von Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution, Protestantische und sozialistische Zukunftshoffnungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989. 214 Ebd. 215 AaO., Bl. 3r. 216 AaO., Bl. 4v. 212
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Gleichberechtigung und gegenseitige gesellschaftliche Anerkennung wollte er freilich nicht nur auf die Arbeiterschaft bezogen wissen, sondern auch auf die nationalen und religiösen Minoritäten: „Standes- und nationale Vorurtheile müssen schwinden, nicht Haß gegen Juden. Jesus tritt dem engherzigen Nationalismus und Judenhaß entgegen.“217 Der Beitrag eines freien protestantischen Christentums zur Lösung der sozialen Frage lag nach Harnack gerade nicht in einem aus dem Evangelium einfach ableitbaren Sozialprogramm, schon gar nicht in dem Schlagwort „christlich-sozial“, sondern eben darin, ideale Kräfte zu fördern, die die gesellschaftlichen Antagonismen zwar nicht überspielen, wohl aber erträglich machen sollten. Kulturhegemonial war das insofern, als er diese Kräfte eben insbesondere einer protestantischen Deutungskultur zuschrieb, die mit den Gesinnungen der Einzelnen schließlich auch Staat und Gesellschaft formen sollte: „Sodann steht ein Gesetz fest, auf dessen Boden der Kongreß steht, daß nämlich die Kräfte, die den einzelnen gesund halten und vor Fäulnis und Untergang schützen, auch bei einem Staat und einem Volk diese Wirkung haben. Diesen Satz will der Kongreß mit verarbeiten, er will einer der Kanäle sein, die mit helfen, ihn zum Gemeingut zu machen.“218 Protestantismus und bürgerliche Gesellschaftsordnung, daran bestand für Harnack kein Zweifel, gehörten ihren Grundlagen nach zusammen und waren schon von ihrer historischen Genese her aufs engste miteinander verbunden.219 Das schloß Kritik, gerade im Interesse von individueller Freiheit und Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit nicht aus, sondern machte sie vielmehr geradezu notwendig und historisch legitim. Doch sollten die Grundlagen dieser Gesellschaft, die für Harnack v. a. durch einen kräftigen und immer breiter werdenden Mittelstand garantiert wurden, nicht angetastet werden, „denn diese bürgerliche Gesellschaft ist nicht im Absterben, sondern in der Umformung begriffen.“220 Eine reformierte evangelische Kirche, die wie die Gesellschaft selbst dann allerdings nicht mehr im Zeichen eines klerikalen und politischen „Aristokratismus“, sondern bürgerlicher Freiheit zu organisieren sei und die als „Trägerin des Heiligen und Befreienden erscheint und überall Selbständigkeit und Freiheit weckt“, gehöre notwendig neben Staat, Familie und der Pflege individueller Frömmigkeit zu einer „bürgerlichen Gesellschaft“, die sie „adeln und befestigen“ solle.221 Der liberalprotestantische Anspruch, für die religiöse und kulturelle Grundierung der Gesellschaft unverzichtbar zu sein, war damit dezidiert verbunden. 217
Ebd. So Harnack am 24.5.1899 auf dem Begrüßungsabend der 10. Tagung des Evangelisch-sozialen Kongreß in Kiel, in: Wippermann 1899, Bd. I, 42. 219 VESK 8 (1897), 165. 220 Ebd. 221 AaO., 166. 218
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Ausgehend von diesen gesellschaftspolitischen Prämissen, eingebettet in ein Geschichtsbild, das am Leitbild individueller Würde, bürgerlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit orientiert, dem zugleich aber die stetig fortschreitende „soziale Reform“ als „gemeinschaftliche und nationale Aufgabe“222 beigegeben war, hat Harnack sich über den Evangelisch-sozialen Kongreß hinaus an politischen Stellungnahmen der 1890er Jahre beteiligt. Diese galten, verbunden mit dem für Gelehrtenpolitik charakteristischen Anspruch auf überparteiliche Artikulation und Führerschaft der öffentlichen Meinung, angesichts des vielfach zitierten, nach 1895 dann immer mehr in die Defensive geratenen, „Sozialismus der Gebildeten“ vorrangig der Innenpolitik.223 Hier war es zunächst der Versuch des preußischen Kultusministers Robert von Zedlitz-Trützschler, mit dem Entwurf eines neuen Volksschulgesetzes eine Klerikalisierung des preußischen Schulwesens herbeizuführen, der auf breiten Widerstand innerhalb der deutschen Hochschullehrerschaft stieß.224 Der Kampf gegen die Vorlage richtete sich nicht zuletzt gegen die damit von Reichskanzler Caprivi verbundene Annäherung an das den Entwurf mittragende Zentrum und war daher nicht frei von kulturkämpferischen Konnotationen. Er wurde – wie die Auseinandersetzungen um die Schulfrage im Kaiserreich insgesamt – zum „Symbol für den Bestand an Liberalität, Modernität, den es im Kaiserreich gab.“225 Während Delbrück von kompromißlosem Widerstand gegen das Gesetz abriet226, gehörte Harnack – wie auch Theodor Mommsen – zu den entschiedenen Gegnern des Entwurfs und unterzeichnete eine entsprechende Eingabe der Berliner Universität vom 15. Februar 1892 an das preußische Abgeordnetenhaus.227 Trotz einer parlamentarischen Mehrheit aus Konservativen und Zentrum, die das Gesetz befürworteten, mußte der Minister den Entwurf zurückziehen und seinen Abschied nehmen. Freikonservative und Nationalliberale verweigerten wegen des erheblichen Widerstands aus den Universitäten ihre Zustimmung, von der wiederum Wilhelm II. seine Paraphierung des Gesetzes abhängig gemacht hatte. Für Delbrück – und damit sicher auch für Harnack – belegte dieser Vorgang den erheblichen Einfluß, den „die Wissenschaft“ auf die allgemeine Politik auszuüben vermochte. Gegenüber einer „ordinären“ öffentlichen 222
VESK 15 (1904), 1. Grundlegend zu den Entwicklungslinien von Gelehrtenpolitik zwischen 1890 und 1900 ist vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 138–175. 224 Vgl. als Überblick Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte. Band 4, 889–899; für die Reaktion an den Hochschulen vom Bruch: Wissenschaft, 140f. sowie, fokussiert auf das Umfeld der „Christlichen Welt“, Rathje (Anm. 27), 74–77. 225 So Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 536. 226 PJ 69 (1892), 280ff. 227 Text mit Unterschriften in: CCW 2 (1892), 73. 223
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Meinung sei es der „höhere Genius“ der Wissenschaft gewesen, der im Augenblick der Gefahr „mit sieghafter Gewalt die offizielle Volksvertretung ergreift und unter seinen Willen beugt. Immer wieder seit dem Sturm gegen das Zedlitz’sche Volksschulgesetz ist diese geheimnisvolle Macht in den drangvollen Augenblicken beobachtet worden, wie sie plötzlich erschien, den politischen Machern die Zügel aus der Hand riß, und unter dem Zujauchzen des Volkes den Wagen zum Ziel lenkte.“228 Delbrücks rückblikkende Äußerung war nicht ohne Selbsttäuschung und bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung im April 1900 längst von der Wirklichkeit überholt, sie belegt aber eindrucksvoll das weithin verbreitete gelehrtenpolitische Selbstverständnis. Daneben ist die enge Verquickung von politischen und kirchlich-theologischen Aspekten im Fall des Volksschulgesetzes unübersehbar. So unterzeichneten die Berliner Eingabe vorrangig liberale und mittelparteilich orientierte Theologen, während die streng orthodoxe Greifswalder Theologische Fakultät Zedlitz-Trützschler wenige Wochen nach seinem Rücktritt zum Dr. theol. h. c. promovierte.229 Harnack erklärte sich die Intensität des Apostolikumstreits im Herbst 1892 als „Rache“ für seine Beteiligung an der Verhinderung dieses Gesetzes im gleichen Jahr.230 Mit erstaunlicher Sensibilität registrierte Harnack den allmählichen Umschwung von sozialpolitischer Aufbruchstimmung hin zu Ernüchterung und beginnender Reaktion, der sich spätestens 1894/95 vollzog. 1895 schilderte er eindrücklich die Allgegenwart der sozialen Frage: „Die Zeitungen, die Kammerversammlungen, die Versammlungslocale und die Bühnen sind von ihr angefüllt; überall begegnet sie uns, ja sie drängt sich wie ein unheimliches Gespenst in unsere Arbeit und in unsere Erholung.“231 Damit verband er umgehend die Warnung davor, sie als bloße „Modekrankheit, die wie eine Influenza Europa durchzogen habe“ abzutun oder gar von „einer ‚socialen Hypochondrie‘, einer eingebildeten Krankheit, die zu einer wirklichen zu werden drohe, wenn man sich der Einbildung länger hingebe“, zu sprechen.232 Demgegenüber konstatierte er unmißverständlich: „Es wäre verhängnisvoll, wenn wir uns dieser Beurtheilung anschlössen! Gewiß, viele unnütze Speculationen, viele kraftlose Geschäftigkeit und viele hohle Reden sind mit dem verbunden, was als ‚sociale Frage‘ in unserer Mitte lebendig ist; aber sie bleibt deßhalb doch das vornehmste und entscheidendste Problem unserer Zeit.“233 Gegenüber Rade beklagte er die innenpolitische Wende nach dem Sturz Caprivis im Oktober 1894. Gerade in Preußen gelte schon 228 229 230 231 232 233
PJ 100 (1900), 189. Vgl. Wippermann 1892/I, 98. Vgl. Harnack an Rade am 9.10.1892, in: BwR 248. Die Kirche und die sociale Frage, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 14, Bl. 1v. Ebd. Ebd.
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seit 1892 – Harnack nannte die Namen des seit 1892 amtierenden Ministerpräsidenten Botho von Eulenburg und des Innenministers Ernst von Köller – „Alles als Umsturz, was nicht den conservativsten – so nennen sie es – Gedanken sich unterwirft. Daß auch Alles, was irgendwie mit dem Coefficienten ‚social‘ behaftet ist, argwöhnisch (um einen milden Ausdruck z[u] gebrauchen), betrachtet wird, ist Dir natürlich längst bekannt.“234 Caprivis Politik – von Wehler als „Anlauf eines aufgeklärten Konservativismus“235 charakterisiert –, zu deren eifrigsten Anhängern unter den Universitätslehrern sowohl Harnack als auch Delbrück trotz der Volksschulvorlage gehört hatten, scheiterte nicht zuletzt am Widerstand gegen eine erneute Ausnahmegesetzgebung gegen die Sozialdemokraten. Als „Umsturzvorlage“ wurde der entsprechende Entwurf schon im Dezember 1894 dem Reichstag vorgelegt.236 Die parlamentarischen Verhandlungen führten auf Druck des Zentrums gar zu einer Verschärfung der Vorlage, die nun auch Angriffe gegen die christliche Religion und gegen die Lehren der Kirchen unter Strafe stellen sollte. Der Zentrumsabgeordnete Rintelen erklärte Ende Februar 1895 in einer Sitzung der Kommission für die Umsturzvorlage, damit sollten besonders „gefährliche Excesse einer gewissen wissenschaftlichen Richtung“ getroffen werden, sein deutschkonservativer Kollege von Rooen forderte für Beschimpfung der Kirchen, Angriffe auf Gott oder das Christentum sogar bis zu drei Jahre Zuchthausstrafe.237 Harnack interpretierte diesen Vorgang nicht zuletzt als Angriff auf Mommsen, der – wie er ihm schrieb – bereits „im Himmel einen guten Platz habe und durch den Antrag Rintelen soll er auch noch polizeilich verassecurirt werden“238, doch zielte eine entsprechende Regelung, die allerdings auch auf den Widerstand des zuständigen Staatssekretärs gestoßen war, wohl mehr noch als auf Mommsen auf Harnack selbst, der ja spätestens seit 1892 zur beliebtesten Zielscheibe konservativ-orthodoxer Kritik geworden war, die sich das Zentrumsblatt „Germania“ ausdrücklich zu eigen gemacht hatte.239 Gemeinsam mit Mommsen, Virchow und Fontane unterzeichnete Harnack eine Eingabe an den Reichstag, die sich gegen die Annahme der Vorlage aussprach, welche dann am 11. Mai 1895 gegen die Stimmen von Konservativen und Zentrum zu Fall gebracht wurde.240 234
Harnack an Rade im April 1895, in: BwR 329. Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, München 1995, 1006. 236 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 707f., 712f. 237 Schultheß 11 (1895), 59f. 238 Harnack an Mommsen am 1.3.1895, in: BwM 676. 239 Vgl. etwa die Artikelfolge „Zum ‚Christenthum‘ der Berliner Hochschule“, in: Germania Nr. 56 vom 9. bzw. Nr. 57 vom 10.3.1892. 240 Vgl. BwM 398f. 235
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Die Ablehnung der Vorlage – immerhin auch ein Rückschlag für das „persönliche Regiment“ des Kaisers – verstärkte freilich noch den Druck auf die Anhänger weitgehender Sozialreformen, der seit der gegen den sich besonders in Berlin ausgebildeten „Universitätssozialismus“ gerichteten Scharfmacherrede des Freiherrn Stumm ohnehin bereits erheblich war.241 Harnack hat in dieser bis in den Sommer 1897 andauernden Auseinandersetzung den Evangelisch-sozialen Kongreß unter Einschluß Naumanns zu erhalten versucht und sich mit seinem öffentlichen Bekenntnis zu Naumanns „Nationalsocialem Verein“ – dem beizutreten er freilich schon vor der Gründung mit Hinweis auf sein neben der Wissenschaft nur „beschränktes politisches Interesse“ abgelehnt hatte242 – in einer programmatischen Rede zur „gegenwärtigen Lage des Protestantismus“ im Oktober 1896 zum wiederholten Male dem Vorwurf ausgesetzt, daß seine Theologie zu Atheismus und Materialismus führe und letztlich nichts anderes sei als „Umsturztheologie“, eine „radikale Verwerfung des Christentums.“243 Harnack hat darüber hinaus insbesondere in seinen Reden, die er auf den Volksversammlungen am Vorabend der jährlichen ESK-Tagungen von 1895 bis 1899 gehalten hat, wiederholt auf die Notwendigkeit sozialer Reformpolitik hingewiesen.244 Auf der Begrüßungsversammlung der Leipziger Tagung vom Juni 1897, auf dem Höhepunkt der Krise des Kongresses sowie der Angriffe Stumms auf die „Kathedersozialisten“, trat Harnack gemeinsam mit Hans Delbrück, Adolph Wagner – gegen letzteren hatte Stumm nur wenige Tage vorher im Herrenhaus ein Disziplinarverfahren gefordert245 – und dem umstrittenen Friedrich Naumann auf. Er bemühte sich, den Divergenzen innerhalb des Kongresses angesichts des gemeinsamen Zieles möglichst wenig Gewicht beizulegen, hätten doch „alle die Töne, die man hier hörte, einen Akkord, einen gemeinsamen Klang“ gehabt. Demonstrativ stellte er fest: „Wir lassen nicht los von der Sache, an der wir stehen: wir bleiben sozial; wir lassen nicht los von dem Optimismus, daß wir fortschreiten müssen und können. Auf diesem Weg wollen wir gehen, mit warmem Herzen, offenen Augen und klarem Kopfe.“246 1898 betonte er die bleibende Notwendigkeit der evangelisch-sozialen Bewegung. Sie sei „nicht künstlich gemacht, sondern eine aufsteigende, unverwüstliche, aus der allgemeinen wirtschaftlichen, politischen, geistigen Lage des deutschen Volks heraus mit Notwendigkeit erzeugt.“247
241 242 243 244 245 246 247
Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 144–148. Harnack an Naumann am 20.8.1896, in: BA Berlin, Nl. Naumann, Nr. 134. Reichsbote Nr. 239 vom 10.10.1896; Harnacks Vortrag in: RA 2, 129–157. Diese Reden sind in den jährlichen Verhandlungsberichten nicht dokumentiert. Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 147. Zusammenfassung der Rede in: CCW 7 (1897), 212. CCW 8 (1898), 257.
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Stand Harnack wie sein Schwager Delbrück bis Mitte der 1890er Jahre wohl der Freikonservativen Partei am nächsten, so führte spätestens das Einschwenken der Freikonservativen auf den sozialpolitischen Reaktionskurs der Ära Stumm248 – Stumm gehörte ihrer Reichstagsfraktion an – zu einer zunehmenden Distanzierung der beiden Gelehrten von dieser Partei, die sich bei Delbrück im Sommer 1895 etwa in unverhohlenen Sympathieerklärungen für die jüngeren Christlich-sozialen um Naumann niederschlug.249 Ihm traute er die Bildung einer national zuverlässigen Partei der Arbeiter in Konkurrenz zu Sozialdemokratie und Konservativen zu, deren „wirklich neue, politische, geistige Potenz“ angesichts der „geistige[n] Oede in der konservativen, nationalliberalen und freisinnigen Partei“ von erheblicher Bedeutung sei.250 Anläßlich der preußischen Landtagswahlen von 1898 zogen Delbrück und Harnack die Konsequenz aus den Entwicklungen der vergangenen Jahre: In einem Aufruf vom 22. Oktober 1898 für den Wahlkreis Teltow-Charlottenburg rieten sie – als ehemalige Wähler der Konservativen, wie es darin hieß – von der Wahl konservativer Kandidaten, die nur noch ihren „Klassenstandpunkt“ im Auge hätten, ab und empfahlen die Unterstützung der linksliberalen Kandidaten.251 Aber nicht nur die Abkehr von einer zumindest vorsichtigen Sozialpolitik in den Jahren der Ära Stumm entfremdete Harnack und Delbrück von den alten Kartellparteien, sondern auch die immer heftiger werdenden Angriffe auf die Freiheit der Wissenschaft, wie sie insbesondere Stumm selbst gegen die „Kathedersozialisten“ führte. Für Delbrück signalisierte die freikonservative und nationalliberale Unterstützung der Stumm’schen Angriffe, daß diese nicht „mehr die Parteien der Bildung, sondern bloß noch Parteien des Besitzes“ waren.252 Harnack sicherte Delbrücks öffentliches Vorgehen ab, indem er seine engen Beziehungen zu Althoff einsetzte, um die beiden Disziplinarverfahren bzw. behördlichen Strafanzeigen gegen Delbrück 1895 und 1899 abzuwenden. Er beteiligte sich wie Delbrück am mehrere Jahre andauernden Widerstand gegen die sogenannte lex Arons, die auch die Privatdozenten dem eigentlich nur für Professoren geltenden Disziplinargesetz unterwarf, um so die disziplinarrechtliche Entfernung des der SPD angehörenden Privatdozenten der Physik, Leo Arons, zu verhindern.253 Als dieses 248 Vgl. dazu Matthias Alexander: Die Freikonservative Partei 1890–1918: Gemäßigter Konservativismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf 2000. 249 Vgl. Thimme (Anm. 86), 49f.; zu Delbrücks schwankendem Verhältnis zu Naumanns Parteigründung vgl. Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München/Wien 1972, 45f. 250 PJ 81 (1895), 193–198, 197. 251 Schultheß 14 (1898), 170f. Material dazu auch in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 25. 252 PJ 80 (1895), 188; vgl. ferner Thimme (Anm. 86), 49–51. 253 Dazu Dieter Fricke: Der Fall Leo Arons, in: ZfG 8 (1960), 1069–1107, sowie mit wichtigen Ergänzungen vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 333–336.
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Engagement ohne Erfolg blieb und im gleichzeitigen Streit um die seit 1892 immer wieder vorgelegte lex Heinze – das Gesetz sah im Interesse der Erhaltung von Ordnung und Sittlichkeit Einschränkungen der wissenschaftlichen und künstlerischen Freiheit vor254 – der heftigste Widerstand im Parlament von der Sozialdemokratie ausging, mußte Delbrück sogar feststellen: „Kunst, Wissenschaft und Bildung haben sich in Deutschland unter die Fittiche der Sozialdemokratie flüchten müssen.“255 Wenn Harnack repressive Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie ablehnte, so konnte an seinen grundsätzlichen weltanschaulichen Vorbehalten gegenüber dieser Partei kein Zweifel bestehen. Die Abkehr von ihrer offenen Gegnerschaft zum Christentum, die Anerkennung der Grundlagen der bürgerlichen Ordnung sowie der monarchischen Staatsform erschienen ihm als die wichtigsten Voraussetzungen ihrer Integration in den bestehenden Staat. Die „zielbewußte“ Sozialdemokratie – damit dürfte Harnack wohl auf die antirevisionistische, auf die Verbindlichkeit des Erfurter Programms von 1891 pochende Mehrheit innerhalb der Sozialdemokratie anspielen, die in den Auseinandersetzungen der späten 1890er Jahre v. a. von dem Chefideologen Karl Kautsky gegenüber dem Reformer Eduard Bernstein repräsentiert wurde256 – bezeichnete er Anfang 1901 als „System des wohlverstandenen Egoismus und Materialismus.“ Sie sei daher der „Feind aller Güter, die wir hoch schätzen […]. So lange auf dem breiten Feld dessen, was sich sozialdemokratisch nennt, jenes System als die Hochburg erscheint, so lange giebt es für uns kein Paktieren.“257 Das war für die Gegenwart eine eindeutige Abgrenzung, ließ aber – für den Fall, daß sich der Revisionismus doch noch durchsetzen sollte – eine spätere Annäherung nicht ausgeschlossen erscheinen. Daß für Harnack „engherziger Nationalismus und Judenhaß“ grundsätzlich abzulehnen waren, ist schon erwähnt worden. Im Blick auf den Antisemitismus hat er dies insbesondere gegenüber Adolf Stoecker mehrfach hervorgehoben.258 Ähnliches gilt für den Nationalismus: Noch im Jahr vor Bismarcks Sturz hat Harnack sich an einer Aktion beteiligt, die ein Schlaglicht auf die innenpolitische Situation des Kaiserreiches und den sich radikalisierenden Nationalismus warf. Sie richtete sich gegen den 1886 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachverein, der sich die Pflege und „Reinhaltung“ der deutschen Sprache zum Ziel gesetzt hatte und schon zu den Vor254
Dazu ausführlich BwM 396–414. PJ 100 (1900), 571. 256 Vgl. Detlef Lehnert: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848–1983, Frankfurt am Main 1983, 87–99. 257 Landeskirche und sozialdemokratische Arbeiterschaft, in: ChW 15 (1901), 126f., 127. 258 Vgl. die Äußerungen von 1881 oder von 1890 im Rahmen der Gründung des ESK (Kapitel II. 4. bzw. Kapitel III.4.). 255
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läufern eines völkischen Radikalnationalismus gezählt werden kann, wie er sich dann wenige Jahre später im Deutschen Ostmarkenverein und im Alldeutschen Verband organisieren sollte.259 Es war Hans Delbrück, der nach einer Eingabe des Vereins an das preußische Kultusministerium eine Erklärung von 41 Schriftstellern und Professoren, darunter neben Harnack auch Theodor Fontane, Gustav Freytag, Ernst von Wildenbruch, Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke und Rudolf Virchow, initiierte, die in scharfem Ton „Vernichtungskriege gegen das Fremdwort“ ablehnte.260 Die in den Folgejahren v. a. von Delbrück, aber auch von Rade geäußerte Kritik an der deutschen Politik gegenüber den Polen in der Provinz Posen hat Harnack geteilt.261 Als im Zuge der Germanisierungsversuche sogar der Religionsunterricht nicht mehr in polnischer, sondern in deutscher Sprache abgehalten werden sollte und der heftige Widerstand von Lehrern und Eltern in der Kleinstadt Wreschen in einem aufsehenerregenden Prozeß mit Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren geahndet worden war, beteiligte sich Harnack an einer Eingabe an den preußischen Kultusminister Studt.262 Gegenüber Mommsen zeigte er sich empört über die „Vorgänge in Posen […], bei denen sich jedes deutsche, evangelische u. menschliche Herz umkehren muß.“263 Durch seine Kontakte zu Althoff bemühte er sich bereits im Vorfeld der Eingabe um Unterredungen Delbrücks mit Althoff sowie Minister Studt.264 Dieser stimmte Harnacks Vorschlag zu, knüpfte eine Unterredung aber an die Bedingung, daß „hoffentlich keine öffentl[ichen] Schritte“ geschehen.265 Offensichtlich gelang es Delbrück, unterstützt von Harnack und Althoff, den Minister von der Berechtigung ihres Protestes zu überzeugen, doch konnte dieser sich mit seinen Bedenken im Preußischen Staatsministerium nicht durchsetzen.266 Die Polenpolitik sollte auch während der Kanzlerschaft Bernhard von Bülows (1900–1909) ein wichtiger Kritikpunkt Harnacks bleiben. Wenngleich die politischen Stellungnahmen deutscher Gelehrter aus den Jahren nach 1890 sich vorrangig mit innenpolitischen Fragestellungen be259
Vgl. Nipperdey: Geschichte. Band 2 (Anm. 236), 601. Erklärung in: Wippermann 1889/II, 138f. 261 Dazu als Überblick Thimme (Anm. 86), 77–100. 262 Vgl. BwM 536f.; vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 331f.; Text der Eingabe in: GStA-Pk, Nl. Althoff, A II Nr. 104 II, Bl. 56. Zu den 16 Unterzeichnern der Eingabe, die hervorhob, daß „die Art, wie der Konflikt in Wreschen ausgetragen worden ist, die sittlichen Anschauungen und den sittlichen Charakter unseres Volkes im Ganzen verletzt“, gehörten neben Harnack und Delbrück u. a. die Theologen Kaftan, Pfleiderer, Rade, Seeberg und Wellhausen, die Historiker Lehmann und Wilamowitz-Moellendorff sowie der Philosoph Paulsen. 263 Harnack an Mommsen am 28.11.1901, in: BwM 898. 264 Harnack an Althoff am 29.11.1901, in: GStA-Pk, Nl. Althoff, A II, Nr. 104 II, Bl. 1f. 265 So eine Notiz Studts auf dem oben erwähnten Schreiben. 266 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 331f. 260
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schäftigten, so ist doch nicht zu übersehen, daß bereits vor den von vielen Hochschullehrern unterstützten Flottenvorlagen der Jahre 1897 bis 1900 außenpolitische Fragen Gegenstand ihrer öffentlichen Betätigung darstellten. Hier zeigte sich schon vor den großen Flottenkampagnen die für diese dann signifikante „außen- und machtpolitisch motivierte Instrumentalisierung namhafter Gelehrter“ durch die Regierung.267 So setzte die Regierung Caprivi in den heftigen Auseinandersetzungen um die Heeresvorlage seit Ende 1892 auf die Überzeugungsarbeit renommierter Akademiker. Es gelang ihr unter der Federführung des mit dieser neuen Form von Öffentlichkeitsarbeit betrauten Majors August Keim „innerhalb eines dreiviertel Jahres […] Motive und Ziele der Vorlage – aus der Sicht der Reichskanzlei – einem breiteren Publikum verständlich zu machen.“268 Dabei spielten die Professoren als Vertreter der vermeintlich unbestechlichen Wissenschaft eine Schlüsselrolle. Hans Delbrück, der in enger Abstimmung mit Caprivi versuchte, die Freisinnige Partei zur Zustimmung zu bewegen269, gehörte zu den maßgebenden Personen in einem Komitee, das für den 15. Februar 1893 zu einer Versammlung in der Berliner Victoria-Brauerei einlud. Diesem Komitee gehörten neben Adolph Wagner auch Schmoller und Harnack an. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution wurden die Reichstagsparteien zur Verabschiedung der Vorlage aufgefordert, nachdem Delbrück bereits in der Eröffnungsrede ein Verstummen der Parteigegensätze in dieser Frage gefordert hatte: „[…] wir wollen uns alle vereinigen zu einem großen Werk in einem Sinn, in den Empfindungen des Patriotismus.“270 Die Kampagne von 1893 stand zwar noch ganz im Schatten der innenund sozialpolitischen Debatten, bot aber doch einen Vorgeschmack auf die professorale Unterstützung der Flottenpropaganda nach 1897.271 Für die etwa 270 Flottenprofessoren galt bereits in erheblichem Maße Friedrich Meineckes auf die Weltkriegszeit gemünztes Diktum von den Professoren, die „mehr in als vor der Front“ standen.272 Das eigens für die Flottenpropa267
AaO., 139. So Wilhelm Deist: Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897–1914, Stuttgart 1976, 29. 269 Delbrück: Regierung (Anm. 67), 150–152. 270 Stenographischer Bericht der Versammlung vom 15.2.1893, in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 1, Bd. 1 (unpag.). Dort auch eine Liste der Komiteemitglieder. 271 Grundlegend ist Wolfgang Marienfeld: Wissenschaft und Schlachtflottenbau in Deutschland 1897–1906, Frankfurt am Main 1957; ferner Jürg Meyer: Die Propaganda der deutschen Flottenbewegung 1897–1900, Zürich 1967, vom Bruch (Anm. 3): Wissenschaft, 66–92. Zum politischen Kontext vgl. die immer noch wichtige Arbeit von Eckart Kehr: Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930, sowie Geoff Eley: Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, New Haven 1980. 272 Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: HZ 125 (1922), 249–283. 268
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ganda geschaffene Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes verstand es mit außerordentlicher Geschicklichkeit, sich das überparteiliche Selbstverständnis sowie die in weite bürgerliche Kreise hineinreichende Reputation der Gelehrten nutzbar zu machen, wobei es weniger auf Originalität der Argumente als auf die Quantität der Stellungnahmen bedacht war. Den harten Kern der Flottenprofessoren bildete freilich eine Gruppe von etwa 60 Personen, unter denen besonders Delbrück, Schmoller sowie die Nationalökonomen Ernst Francke, Max Sering und Lujo Brentano herausragten.273 Während Professoren wie Dietrich Schäfer v. a. die machtpolitische Seite der Flottenpolitik betonten274, stellte Hans Delbrück einen expliziten Zusammenhang zwischen Flottenbau und der Hoffnung auf eine fortschrittlichere Reformpolitik im Inneren unter der Parole „Gegen die Lex Heinze – für die Flotte“ her.275 Deutlicher noch formulierte Max Weber: „Und nur einem Regiment, welches in seiner inneren Politik zeigt, daß es die freien Institutionen des Vaterlandes zu erhalten und freiheitlich weiterzuentwickeln sich nicht fürchtet, wird man das Vertrauen entgegenbringen, daß ihm nicht auf dem Gebiete der äußeren Politik Kraft und Muth im entscheidenden Momente […] versagen werden, ebenso wie dies auf dem Gebiete der sozialpolitischen Arbeit im Innern der Fall zu sein scheint.“276 Nicht allein machtpolitische Argumente motivierten mithin führende „Flottenprofessoren“, sondern ebenso der Versuch, auf der einen Seite den Widerstand gegen eine Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu überwinden, die der Wandlung Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat angemessen Rechnung trug277, und auf der anderen Seite durch eine so begründete Flottenpolitik die – wie Ferdinand Tönnies rückblickend formulierte – „Nationalisierung des Sozialismus“278 voranzutreiben. Dieser in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzende Aspekt wurde durch Diskussionsabende zwischen Flottenanhängern und führenden Sozialdemokraten Anfang Februar 1900 – etwa Adolph Wagner gegen August Bebel, Hans Delbrück gegen Paul Singer279 – sowie 273
Vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 79. Vgl. dazu Krause (Anm. 73), 122–147. 275 PJ 100 (1900), 190. 276 In: Die Ergebnisse der von der Allgemeinen Zeitung veranstalteten Flottenumfrage, München 1898, Nr. 3 vom 13.1.1898, 4. 277 Neben Lujo Brentano verfocht wiederum Max Weber diesen Gedanken mit der größten Konsequenz: „Nicht eine mit antikapitalistischen Schlagworten operierende Politik der Sammlung, sondern allein eine entschlossene Durchführung der Konsequenzen unserer kraftvollen bürgerlich-gewerblichen Entwicklung – ohnehin die auf die Dauer allein mögliche Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Kapitalismus, man mag ihn nun lieben oder nicht – kann für die bürgerliche Klasse dem Verlangen nach Macht zur See einen Sinn verleihen. Zum Schutz der Grundrente bedarf es keiner Flotte“ (ebd.). 278 Tönnies an Oncken am 7.12.1919, zitiert nach vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 81. 279 Vgl. den Bericht Delbrücks in: PJ 99 (1900), 565f. 274
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Artikelreihen der Nationalökonomen Brentano und von Schulze-Gävernitz hervorgehoben, die bei jüngeren Redakteuren des wichtigen sozialdemokratischen Organs „Sozialistische Monatshefte“ auf so erhebliche Resonanz stießen, daß Kautsky ausdrücklich vor den „Sozialdemokraten von heute und Nationalsozialen von morgen“ warnen mußte.280 Wenngleich also die Intentionen dieses Teils der Flottenprofessoren erheblich von denen der Initiatoren der massiven Flottenrüstung – Marinestaatssekretär Tirpitz und schließlich der Kaiser selbst – abwichen, die unter dem Stichwort der „Sammlungspolitik“ nicht nur den berühmten deutschen „Platz an der Sonne“ erstreiten, sondern die Verbindung von Industrie und Landwirtschaft im Kampf gegen die Sozialdemokraten bewirken sollten, so konnten diese Hochschullehrer sich dennoch in den Dienst der Flottenpropaganda stellen. Freilich hielten sich Delbrück und Schmoller von dem 1898 gegründeten Deutschen Flottenverein (DFV), der rasch zu einer bedeutenden Massenorganisation anwuchs281, fern, da die beiden Bedingungen für ihre Mitwirkung – Erweiterung des Spektrums nach links durch Einbeziehung von Mitgliedern von Freisinniger Vereinigung und Nationalsozialem Verein sowie Eindämmung der unverkennbaren Dominanz der Schwerindustrie in der Vereinsführung282 – nicht erfüllt wurden. Im Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes setzte man freilich so stark auf die Wirkung dieser Gelehrten – sein Leiter August von Heeringen hatte gegenüber Tirpitz schon im Sommer 1897 von „unseren guten Freunde[n] Schmoller, Delbrück, Wagner“ gesprochen283 – daß man, als die Resonanz des Flottenvereins wegen der erwähnten schwerindustriellen Verflechtungen merklich zurückging, in Gestalt der „Freien Vereinigung für Flottenvorträge“ im November 1899 eine eigene Organisation von Gelehrten und Künstlern ins Leben rief. Weitgehend ein „Werk des Nachrichtenbureaus“ 284 waren hier insbesondere Schmoller, Wagner und Delbrück aktiv.285 Ihr am 18. November publizierter Aufruf „Für eine starke deutsche Flotte“ wurde von einer Vielzahl von Professoren, Künstlern und Schriftstellern unterzeichnet, darunter auch Max Liebermann und Wilhelm Raabe. 286 Neben
280
Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 83–89, Kautsky-Zitat 88. Vgl. als Überblick Dieter Fricke/Edgar Hartwig: Deutscher Flotten-Verein (DFV) 1898–1934, in: Dieter Fricke (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Band 2, Leipzig 1985, 63–89; Deist: Flottenpolitik (Anm. 268), 147–163. 282 Hans Delbrück an Heinrich Rippler, in: Tägliche Rundschau vom 1.12.1899. 283 Heeringen an Tirpitz am 10.9.1897, zitiert nach Deist: Flottenpolitik, 117. 284 AaO., 103. 285 Vgl. für Delbrück nur seinen Briefwechsel mit v. Heeringen bzw. Julius Lohmeyer, dem Geschäftsführer der Freien Vereinigung, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Heeringen bzw. Lohmeyer. 286 Text des Aufrufes in: Marienfeld (Anm. 271), 108f. 281
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einer umfangreichen Vortragstätigkeit schrieb die „Freie Vereinigung“ auch einen Wettbewerb für ein Flottenlied aus, den Gottfried Schwab mit seinem Beitrag „Michel, horch, der Seewind pfeift“ für sich entschied.287 Allerdings ging die „Freie Vereinigung“ bereits im Januar 1900 im DFV auf, nachdem mit dem Rücktritt des DFV-Vorsitzenden Victor Schweinburg im Dezember 1899 den Forderungen Delbrücks und Schmollers entsprochen worden war.288 Harnack gehörte zu den Gründungsmitgliedern der ‚Freien Vereinigung‘, in der er aber ansonsten nicht weiter hervortrat. Vermutlich ist er wie auch Delbrück dann in den Flottenverein übergewechselt. Weder in seiner öffentlichen Wirksamkeit noch in den zugänglichen Korrespondenzen spielt die Flottenbewegung eine Rolle. An den Flottenumfragen der „Allgemeinen Zeitung“ sowie der Berliner „Wissenschaftlichen Correspondenz“ hat er sich nicht beteiligt.289 Auch hat Harnack, so weit feststellbar, an der Resolution des Evangelisch-sozialen Kongresses vom Juni 1900, die die deutsche Seemachtbildung ausdrücklich bejahte, nicht mitgewirkt. In außenpolitischen Fragen äußerte er sich nicht selbständig, sondern schloß sich – wie die Beispiele der Militärvorlage von 1893, die Flottenbewegung und dann 1907 die Kolonialbewegung zeigen – dem Urteil Delbrücks an, dessen Aktivitäten er mit seinem Namen unterstützte. Indem er sich neben seinen immensen wissenschaftlichen Aufgaben in Universität und Akademie weitgehend sozialpolitisch engagierte, v. a. aber das mit Delbrücks Flottenengagement parallel laufende Disziplinarverfahren wegen dessen Äußerungen zur deutschen Politik in Nordschleswig aufzufangen versuchte, zeigte er sich aber dennoch eng mit dessen politischer Arbeit verbunden. Insofern änderte sich Harnacks gelehrtenpolitisches Agieren seit etwa 1895, das sich – abgesehen von den Auftritten auf den ESK-Tagungen – nun weniger durch öffentliche Kundgebungen als durch indirekte Einflußnahme wie etwa im Fall Delbrück auszeichnete. Die grundsätzliche Berechtigung deutscher Weltpolitik war für Harnack allerdings eine Selbstverständlichkeit. Als er mit Hans und Max Delbrück die Jahrhundertwende feierte, lautete der Trinkspruch im Hause Harnack: „Dem größeren Deutschland, der größeren Flotte.“290 Auch wenn die Mehrzahl der Flottenprofessoren häufig – wie Harnack – nur Resolutionen unterschrieben, ist die Bedeutung der Flottenagitation gerade für den Kreis um Delbrück, Harnack und Schmoller nicht zu unterschätzen. Auf die auch innenpolitische Motivation ihrer Zusammenarbeit 287
Vgl. aaO., 86. Vgl. Fricke: Flottenverein (Anm. 281), 72f. 289 Die Ergebnisse der von der Allgemeinen Zeitung veranstalteten Flotten-Umfrage, München 1898; Beiträge zur Beleuchtung der Flottenfrage. Sonderabdruck von Veröffentlichungen der Allgemeinen Zeitung (6 Folgen), München 1899–1900; Arthur Kirchhoff (Hg.): Deutsche Hochschullehrer über die Flottenvorlage, Berlin 1900. 290 ZH 225. 288
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mit dem Reichsmarineamt ist bereits verwiesen worden. Sie bestärkte gerade die Berliner Professoren nach den Erfahrungen der Ära Stumm und den damit verbundenen Anfeindungen, mehr als bisher auf eine gouvernementale Anbindung ihrer Aktionen zu achten, womit sie noch stärker ins Zentrum von Gelehrtenpolitik rückten. Das seit Mitte der 1890er Jahre wachsende Desinteresse an sozialen Fragen – dem sich allerdings, wie gezeigt, Harnack und Delbrück nicht ohne Erfolg widersetzten –, die verstärkte Hinwendung zu außen- und weltpolitischen Fragen sowie nicht zuletzt die strukturelle und soziale Ausdifferenzierung der civitas academica insgesamt höhlten ihren moralisch-politischen Führungsanspruch allmählich aus. Das führte seit 1895 zu einem spürbaren Abbröckeln des gelehrtenpolitischen Engagements. Bezeichnend hierfür waren die geringe Unterstützung, die Delbrück während des gegen ihn im Dezember 1898 eingeleiteten Disziplinarverfahrens seitens seiner Kollegen erfuhr, und der anfangs nur schwache Widerstand gegen die Umsturzvorlage von 1899.291 Diesen Entwicklungen entsprach es, daß nach den Flottenkampagnen, die noch einmal große Teile der Hochschullehrer erfaßten, ihr Interesse aber auf das bisher eher vernachlässigte Feld der Außenpolitik lenkte, der bis dahin festzustellende Vorrang innenpolitischer Fragestellungen gebrochen war und sich zugleich seit der Jahrhundertwende eine auffällige politische Verdrossenheit und Abstinenz politischer Stellungnahmen innerhalb der Professorenschaft konstatieren läßt, von der lediglich Delbrück, Harnack und einige wenige andere ausgenommen blieben. Daß die Marineleitung die Hochschullehrerschaft nicht ohne Geschick und in direkter Anknüpfung an den professoralen Anspruch auf Meinungsführerschaft im Sinne der nationalen Sammlung instrumentalisiert hatte, kam dabei offensichtlich weder bei Delbrück noch bei Schmoller in den Blick, markiert aber ein für die Folgezeit in seiner Bedeutung nur schwer abzuschätzendes Problem gouvernemental angebundener Gelehrtenpolitik. Die Vertreter dieser Konzeption, allen voran Delbrück, schrieben sich vielmehr gerade am Beispiel der Flottenkampagne das Verdienst zu, nicht nur bei Teilen der Sozialdemokratie Verständnis für die Flottenpolitik geweckt zu haben, sondern auch, „daß der Weg der Umsturz-Gesetzgebung, der auf die Dauer ins Verderben geführt hätte, jetzt verlassen ist.“ Für Delbrück war dies geradezu ein Beleg der Macht der Professoren, wie er unter Anspielung auf seine Kritik am schwerindustriell dominierten Flottenverein und die Vorgänge um die Freie Vereinigung deutlich zu machen versuchte: „Allen Respekt vor unserer Großindustrie, aber es ist doch kein schlechtes Zeugniß für das deutsche Volk, daß die Großindustrie mit all ihren ungeheuren Mitteln vor den Professoren hat weichen müssen. Selten hat sich die Macht der bloßen Idee, ohne jede materielle Macht dahinter, so klar bewährt wie hier. 291
Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 153–155.
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Die Geschichte des deutschen Flottenvereins ist ein wirkliches Stück deutscher Kulturgeschichte: sobald es Ernst wurde, und man ans Volk wollte, waren die deutschen Professoren, die man anfänglich mit soviel List ferngehalten hatte, nicht mehr zu entbehren.“292 Die von Delbrück konstatierte Macht der Professoren beschränkte sich indes auf eine nur noch äußerst kleine Gruppe Berliner Gelehrter, die auch in den Folgejahren überaus aktiv bleiben sollte. Neben Delbrück, Schmoller und Wagner sollte Harnack darin zu einer Schlüsselfigur werden.
4. Evangelium und soziale Frage: Der Evangelisch-soziale Kongreß bis 1902 4.1. Zwischen Stoecker und Harnack: Die Gründung des Kongresses 1890 Die sozialpolitische Aufbruchsstimmung und der „Sozialismus der Gebildeten“ des Jahres 1890 blieb auch im Protestantismus nicht ohne Wirkung. Arbeitervereine gründeten sich, Pastoren studierten Nationalökonomie und besuchten sozialdemokratische Versammlungen.293 In einer Broschüre aus der Feder des Pfarrers an der Berliner Jerusalemskirche, Hermann von Soden, hieß es etwa: „Die Zeit des Ratens ist nun vorüber, es gilt nun Thaten thun. Überall regt es sich. Nach einem großartigen Plane, mit in der Staatengeschichte unerhörten Organisationen […] sucht der Staat, zumal in unserem deutschen Vaterlande, den Notständen zu begegnen. In ameisenartigem 292
PJ 99 (1900), 374. Grundlegend ist Klaus Erich Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin/New York 1973; vgl. ferner E. I. Kouri: Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919. Zur Sozialpolitik im Bildungsbürgertum, Berlin/New York 1984, 99–154; zur Geschichte des Kongresses vgl. Paul Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele, Leipzig 1896; Johannes Herz: Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. 50 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß, Leipzig 1940; Manfred Schick: Kulturprotestantismus und soziale Frage, Tübingen 1970; Gottfried Kretschmar: Der Evangelisch-soziale Kongreß, Stuttgart 1972; Harry Liebersohn: Religion and Industrial Society. The Protestant Social Congress in Wilhelmine Germany, Philadelphia 1986; Volker Drehsen: Evangelischer Glaube, brüderliche Wohlfahrt und wahre Bildung. Der Evangelisch-soziale Kongreß als sozialethisches und praktisch-theologisches Forum des Kulturprotestantismus im Wilhelminischen Kaiserreich (1890–1914), in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 190–229; Kurt Nowak: Sozialpolitik als Kulturauftrag. Adolf von Harnack und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth (Hg.): Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 79–93. 293
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Gewirre bestrebt sich die Gesellschaft in Vereinen aller Art, an dem Werke der Heilung unserer Schäden sich zu beteiligen. Immer neue Einzelunternehmungen fassen immer neue einzelne Punkte ins Auge. Ihre ganze Autorität und Macht aber setzt die katholische Kirche ein, nach ihren Rezepten, die freilich einer lang vergangenen Zeit entstammen […], die moderne Welt zu kurieren. Und was thut die evangelische Kirche? die protestantische deutsche Christenheit als solche?“ 294 Es war zunächst vor allem der Berliner Hofprediger und Gründer der Christlich-sozialen Partei von 1878, Adolf Stoecker295, der eine Antwort auf diese Frage Sodens zu finden versuchte, zumal er seine christlich-sozialen Ansichten durch die neueste Entwicklung bestätigt sah. Als am 17. April 1890 auch der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) der Preußischen Landeskirche auf die neue Linie einschwenkte und die Geistlichen sogar ausdrücklich zur Mitarbeit an der Lösung der sozialen Frage aufforderte296, bemerkte Stoecker: „Die Welt ist über Nacht christlichsozial geworden.“ 297 Vornehmlich auf Stoecker ging denn auch die Idee einer Zusammenfassung der sozial interessierten Kräfte des Protestantismus in einem Evangelisch-sozialen Kongreß zurück. Er versprach sich davon ein wirkungsvolles Mittel im Kampf gegen die Sozialdemokratie und sah darin zugleich eine mögliche Vorstufe zur Bildung einer „sozialmonarchischen Vereinigung“, die christlich-soziale Bewegung, evangelische Arbeitervereine und andere promonarchisch-konservative Gruppierungen als „Sammelpunkt“ neben und um die „bisherigen staatserhaltenden und kirchenfreundlichen Parteien“ vereinigen sollte, um „durch eine starke Sozialreform auf christlicher und nationaler Grundlage den internationalen Umsturzbestrebungen einen Damm entgegen[zu]bauen.“298 Zunächst stellte Stoecker dieses Fernziel allerdings zurück, ohne es aus den Augen zu verlieren. Denn nur so ließ sich das Ziel der Initiatoren des Kongresses – neben Stoecker der Kathedersozialist und Nationalökonom Adolph Wagner, der Schriftleiter der „Kreuzzeitung“ Hermann Kropatschek sowie der rheinische Pfarrer Ludwig Weber – verwirklichen, auch Mitarbeiter „bis zum rechten Flügel der Mittelpartei“ zu gewinnen.“299 Der 294 Hermann von Soden: Und was thut die evangelische Kirche? Erwogen angesichts der Reichstagswahlen zumal in unseren Großstädten, Berlin 1890, 3f. 295 Günter Brakelmann/Martin Greschat/Werner Jochmann: Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982; Klaus Erich Pollmann: Adolf Stoecker, in: Gerd Heinrich (Hg.): Berlinische Lebensbilder. Theologen, Berlin 1990, 231–247. 296 Pollmann: Kirchenregiment (Anm. 293), 73–84. 297 Zitiert nach Walter Frank: Hofprediger Stöcker und die christlich-soziale Bewegung, Hamburg 21935, 216. 298 Adolf Stoecker: Sozialdemokratie und Sozialmonarchie, Leipzig 1891, 3. 299 So die Formulierung von Ludwig Weber, abgedruckt bei Dietrich von Oertzen: Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. Zweiter Band, Berlin 1910, 6–10, 9.
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Kongreß, so formulierten Stoecker und Weber in der Ende Februar 1890 verschickten Einladung zu einer ersten Tagung zu Pfingsten 1890 in Berlin, wende sich an „Männer aller politischen und kirchlichen Parteien, welche auf staatserhaltendem und kirchenfreundlichem Boden stehen.“300 Nicht nur die von der Sozialdemokratie für Kirche und Staat ausgehende Gefahr mahnte nach Stoecker und Weber den Protestantismus zu sozialpolitischer Arbeit, sondern auch die zunehmenden Aktivitäten der katholischen Kirche auf dem sozialen Gebiet. Aufgabe des Kongresses sei es, angesichts dieser Situation „für das Verhalten der positiv gerichteten Evangelischen aller Richtungen gewisse gemeinsame Grundlinien zu finden.“301 Mit der Formulierung „positiv gerichteten Evangelischen“ war eigentlich eine theologischkirchenpolitische Grenze gezogen, die einer Mitarbeit von Vertretern des Protestantenvereins, aber auch der Ritschl-Anhänger im Umfeld von Rades „Christlicher Welt“ entgegenstand. Es war Stoecker, der diese Grenze zumindest in Bezug auf Rade überschritt, indem er diesen zur Mitarbeit am Kongreß einlud. Rade zählte sich zu denjenigen, die Stoecker als „den Mann der innern Mission in Ehren hochhalten und dem christlich-sozialen Politiker oder dem Kirchenpolitiker nicht folgen können.“302 Auch Stoecker betonte, trotz großer sachlicher Differenzen auf kirchenpolitischem Gebiet könne man sich in manchen Punkten verständigen, wenn auch darin vielleicht nicht, daß „ich meinen Kampf gegen Judentum und Demokratie für wichtiger halte als alle meine andere Arbeit.“303 So boten sich trotz dieser grundlegenden Differenzen auch Anknüpfungspunkte zwischen den jüngeren Liberalprotestanten und Stoecker, zumal im Umkreis der „Christlichen Welt“ das Interesse an sozialen Fragen stark ausgeprägt war, etwa bei dem jungen Frankfurter Vereinsgeistlichen Friedrich Naumann304 und Rades Redaktionsassistenten Paul Göhre.305 Rade betonte, trotz aller Differenzen sei es notwendig, „daß jetzt alle sich die Hand zu gemeinsamer Arbeit reichen, die Herz und Gewissen für die Not unsres Volkes haben“, bedauerte aber zugleich, daß bei den bisherigen Vorbereitungen nur die Gruppe um Stoecker und Wagner beteiligt gewesen sei.306 Neben Paul Göhre empfahl Rade besonders Hermann von Soden, der der „Christlichen Welt“ nahe stand, als Mitarbeiter an der Vorbereitung des 300
Die Einladung in: VESK 1 (1890), 3f. Ebd. 302 Rade an Stoecker am 3.10.1888, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Stoecker I, Nr. 4c. 303 Stoecker an Rade am 4.10.1888, in: Martin Rade: Evangelisch-Sozialer Kongreß und Christliche Welt, in: ChW 54 (1940), 149–151, 147f. 304 Vgl. Jochen-Christoph Kaiser: Naumann und die Innere Mission, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/New York 2000, 11–26. 305 Vgl. Joachim Brenning: Christentum und Sozialdemokratie. Paul Göhre: Fabrikarbeiter – Pfarrer – Sozialdemokrat, Marburg (Diss.) 1980. 306 Rade an Stoecker am 9.3.1890, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Stoecker I, Nr. 4c. 301
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Kongresses. Von Soden erklärte sich gemeinsam mit Hermann Scholz von der Berliner Marienkirche nach der Anfrage Stoeckers zur Mitarbeit bereit, kritisierte aber, daß „vor dem ersten Schritt in die Öffentlichkeit nicht Fühlung mit anderen Richtungen gesucht“ worden war. Korrekturen waren nach von Soden nicht nur am bisher geplanten Programm des Kongresses nötig – „das „Evangelisch“ trete hinter dem „Sozial“ zu sehr zurück –, sondern auch bei der Einladung von Referenten, die bisher nur die Richtung Stoeckers repräsentierten: „Dadurch ist dem Kongreß für weite Kreise eine bestimmte Parteifarbe aufgeprägt. Dringend möchten wir wünschen, daß er keine solche trage.“307 Stoecker kam diesem Wunsch durch die Abgabe eines der Hauptreferate an von Soden nach. Nach Stoeckers Angriffen auf Harnack anläßlich des Streits um seine Berliner Berufung war dessen Mitwirkung am Kongreß zunächst kaum vorstellbar. Es war Hermann von Soden, der Harnack und dessen Kollegen Julius Kaftan ins Spiel brachte. Ihre Mitwirkung, so sein Argument, sei ein weiterer Beweis für die programmatische Weite des Unternehmens und werde auch größere Kreise für die Arbeit des Kongresses interessieren.308 Stoecker stimmte diesem Vorschlag gegen den ausdrücklichen Rat Ludwig Webers zu, der darin den Bruch einer ausdrücklichen Vereinbarung sah, Harnack nicht hinzuzuziehen.309 Die Bereitschaft Stoeckers zur Kooperation nicht nur mit Rade und von Soden, sondern auch mit dem bisher so stark bekämpften Harnack, dürfte ebenso ein Indiz für die erkannte Brisanz der sozialen Herausforderungen an den Protestantismus und seine verschiedenen Strömungen sein wie für die sozialpolitische Aufbruchstimmung des Jahres 1890, die eben diese Unterschiede zumindest zeitweilig zu überdecken schien. Gleichwohl blieb die Skepsis gerade im Umfeld von Rades „Christlicher Welt“ relativ groß. Das galt auch für Harnack, der sich im April 1890 mit einem programmatischen Artikel in den „Preußischen Jahrbüchern“ zu Wort meldete. Erst der Verlauf der für Pfingsten einberufenen Versammlung konnte nach Harnack die Bedenken gegen eine mögliche Parteifärbung des Kongresses beseitigen. Unmißverständlich auf Stoecker zielte die Warnung „vor unheiliger Geschäftigkeit in Sachen des Glaubens“310, zumal wenn sie sich in der Einberufung von Massenversammlungen äußere. Harnack bestritt nicht die Notwendigkeit einer Beteiligung der Evangelischen Kirche an der Lösung der sozialen Frage und bemühte sich dabei, eine vermittelnde Position einzunehmen zwischen einem strengen Luthertum einerseits, das diesen Beitrag vornehmlich in der in den Kirchen immer bereits sich vollzie307 308 309 310
Hermann von Soden an Stoecker am 27.3.1890, in: aaO., Nr. 16, Bl. 41f. Hermann von Soden an Stoecker am 3.4.1890, in: aaO., Bl. 51f. Vgl. die Darstellung Webers bei von Oertzen: Stöcker. Band 2 (Anm. 299), 9. RA 2, 327–343, 330.
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henden Predigt des Wortes Gottes sah – Harnack nannte hier den Namen des Hannoveraner Oberkonsistorialrates und Loccumer Abts Gerhard Uhlhorn – und den verschiedenen christlich-sozialen Bestrebungen von Stoecker bis hin zu dem jungen Friedrich Naumann. Die Kirche sei, so Harnack, zuvörderst als „Hüterin des Evangeliums“ anzusehen311, das „die Achtung der Persönlichkeit, die brüderliche Liebe und Erbarmung“ sowie die Überwindung allein weltlicher Gebundenheit „durch das Trachten nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit predige“, aber kein sozial- oder gar parteipolitisches Programm enthalte.312 Doch wollte sich Harnack damit keineswegs die Bestreitung neuer kirchlicher Mittel im Umgang mit der sozialen Frage zu eigen machen. Es bestehe durchaus die Pflicht, diese Kirche als „ein mehr oder weniger zweckmäßiges irdisches Institut, bestimmt den höchsten Zielen zu dienen, mangelhaft und schwerfällig, aber doch elastisch und einer besseren Ausgestaltung wohl fähig“ im Sinne der neu an sie herangetretenen Anforderungen der Gegenwart umzugestalten.313 „Sie muß […] den Menschen im Menschen aufsuchen und es ihm wieder zu fühlen geben, daß er geliebt und geachtet ist; sie muß den Adel jedweder rechtschaffenen Arbeit nicht nur in Worten predigen, sondern die Anerkennung dieses Adels im Leben des Tages zum Ausdruck bringen.“314 Dabei setzte Harnack gerade nicht auf eine Stärkung der kirchlichen Autorität oder gar eine schleichende Klerikalisierung, wie er sie im Katholizismus – und, so wird man hinzufügen müssen: auch im konservativen Protestantismus – ausmachte, sondern auf eine Stärkung der Einzelgemeinden. „Die evangelischen Landeskirchen werden sich entweder durch eine neue, reichere Ausgestaltung der Gemeindeorganisation auf der Basis kleiner, geschlossener Einzelgemeinden an der sozialen Arbeit beteiligen, oder sie werden sich überhaupt nicht beteiligen.“315 Damit knüpfte Harnack an das Gemeindeideal des Dresdner Pfarrers Emil Sulze an, dem sich auch Hermann von Soden verpflichtet fühlte. Am Ideal des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen orientiert, sah Sulze die Hauptaufgabe des Christentums in der Stärkung der sittlichen Einzelpersönlichkeit, die aber wiederum auf die Gemeinde als den 311
AaO., 332. Ebd. 313 AaO., 334f.: „Man wird vielmehr vom evangelischen Standpunkt nicht anders urteilen dürfen, daß, weil wir diese Kirchen besitzen, wir die Pflicht haben, sie auch in den Dienst aller der Aufgaben zu stellen, welche die christliche Liebe in der Gegenwart zu lösen hat.“ Harnacks Position fußte dabei auf einer konsequenten Entdogmatisierung des Kirchenbegriffs, die für ihn geradezu eine notwendige Voraussetzung des adäquaten kirchlichen Umgangs mit der sozialen Frage war, denn sie verhinderte sowohl eine gesellschaftlich-soziale Immobilität der Kirchen gegenüber den Herausforderungen der Moderne als auch das Bestreben, die soziale Frage quasi als Vehikel einer Rechristianisierung im Sinne einer Identifizierung von Kirche und Reich Gottes zu gebrauchen. 314 AaO., 336. 315 AaO., 338. 312
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Ort angewiesen ist, an dem persönliches Leben sich an persönlichem Leben entzündet.316 Blieben die daran anknüpfenden konkreten Vorschläge auch im Umfeld der liberalen Protestanten nicht unumstritten, so konnte Rade zu Recht den Gemeindegedanken Sulzes als religiösen Gedanken als den Zentralbegriff der liberalen Mitglieder des ESK bezeichnen.317 Abschließend formulierte Harnack vier grundlegende Bedingungen für seine Teilnahme am Kongreß318, deren Erfüllung verhindern sollte, daß der Kongreß als antisozialdemokratische Agitationszentrale im Sinne Stoeckers ausgestaltet wurde. Harnack forderte: Erstens habe der Kongreß vor allem der Information, nicht konkreter, möglicherweise unsachgemäßer Einmischung in die staatliche Sozialpolitik zu dienen. Zweitens dürfe keine schleichende Katholisierung der evangelischen Sozialethik und damit eine verdeckte Klerikalisierung der Gesellschaft angestrebt werden. Die reformatorische Entdeckung des Eigenwertes der weltlichen Sphäre gegenüber kirchlicher Bevormundung gelte es zu wahren. Drittens sei zu verhindern, daß sich der Kongreß trotz mancher berechtigter Wünsche an den Staat nicht mit der Frage der Umwandlung der Landeskirchen in Freikirchen beschäftige – damit sollten die kirchenpolitischen Bestrebungen Stoeckers abgewehrt werden. Nicht Obstruktion, sondern Kooperation bezeichnete das rechte Verhältnis zum Staat. Viertens habe der Kongreß von jeglicher Form antisemitischer Propaganda Abstand zu nehmen – eine Forderung, die sich wiederum besonders gegen Stoecker richtete. „Das aber weiß ich, daß den Antisemitismus auf die Fahnen des evangelischen Christentums zu schreiben, ein trauriger Skandal ist. […] Das heißt aber, die Macht, welche dazu in der Welt ist, die Gegensätze der Rassen und Nationen zu mildern und Menschenliebe selbst dem Feinde gegenüber zu erwecken, in entgegengesetzter Richtung mißbrauchen.“319 Harnack und auch Rade waren sich durchaus der Gefährdungen ihrer Ziele im Kongreß angesichts der für Stoecker günstigen Mehrheitsverhältnisse unter den Teilnehmern bewußt. Mißtrauen bestand weiterhin gegenüber den Absichten Stoeckers: „Man hat alle Ursache, Stöcker zu mißtrauen, auch wenn man sich überwindet, mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Dieser Mann ist auch so ein Verhängnis unsrer Kirche, man weiß nicht, ob zum Segen oder zum Zorn gesetzt“, schrieb Rade nur wenige Tage vor Tagungsbeginn an Harnack.320 So ist es erklärlich, daß sich Rade, von Soden und Harnack noch unmittelbar vor der für den Vorabend der offiziellen Tagung an316 Vgl. Emil Sulze: Die evangelische Gemeinde, Gotha 1891; vgl. zu Sulze auch Schick (Anm. 293), 63–74 und Hübinger (Anm. 9), 220–223, der zu Recht auf die antipluralistischen Elemente in Sulzes Modell verweist. 317 ChW 4 (1890), 606. 318 RA 1, 339–341. 319 AaO., 341f. 320 Rade an Harnack am 24.5.1890, in: BwR 224.
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gesetzten vertraulichen Vorbesprechung der wichtigsten Kongreßteilnehmer, die Profil und Erfolgsmöglichkeiten des Kongresses ausloten sollte, um eine genaue Abstimmung ihres Vorgehens bemühten.321 Zwei Stunden vor Beginn dieser Vorbesprechung vom 27. Mai 1890 trafen sich die wichtigsten Vertreter der Gruppe um die „Christliche Welt“ – neben Harnack, Rade und von Soden noch Julius Kaftan und der Gießener Ordinarius für Praktische Theologie Johannes Gottschick – in der Wohnung von Sodens und einigten sich darauf, daß Harnack als ihr Sprecher bei den folgenden Verhandlungen auftreten sollte und so – wie Rade im Rückblick formulierte – „das Odium der allergetreusten Opposition auf sich nahm.“322 Stoecker präsidierte der noch am gleichen Abend stattfindenden vertraulichen Besprechung.323 Nachdem zunächst gemeinsam der erste Vers des Liedes „O heil’ger Geist, kehr bei uns ein“ gesungen worden war, bot er einen kurzen Rückblick auf die Vorgeschichte des Kongresses und erklärte als Hauptzweck der Tagung, „auf dem Grund und Boden, den die beiden Tage feststellen werden, eine dauernde Arbeit christlich-sozialer Reform im evangelischen Geist herzustellen.“ Sollte dies der Fall sein, müsse man sodann zwei Fragen beantworten, nämlich ob eine entsprechende Arbeitsorganisation zu schaffen sei und ob auf diesem Grund nicht eine weitergehende Organisation angestrebt werden könne, die die Gegenkräfte zur Sozialdemokratie in ihrer ganzen Breite umfassen sollte, womit Stoecker sein eigentliches Ziel ins Auge faßte: die Etablierung einer „sozialmonarchischen Gruppe“ als überparteilicher Sammlungsbewegung.324 Direkt nach Stoecker ergriff Harnack das Wort. Die Notwendigkeit einer Arbeitsorganisation erklärte er für unbezweifelbar, erhob aber Bedenken, ob dies schon bei dieser Versammlung möglich sei, deren Art der Einberufung allein durch Stoecker und seine Freunde doch sehr bedenklich gewesen sei, zumal man deshalb wichtige Gruppen des Protestantismus bisher nicht für diese „große Sache“ habe gewinnen können. Ferner votierte Harnack dafür, erst einmal die beiden Verhandlungstage abzuwarten, um einen sicheren Eindruck von der Breite und der möglichen Gestalt des Unternehmens zu gewinnen. Aufgabe der diesjährigen Veranstaltung sei vorrangig die Information, um dann möglicherweise im folgenden Jahr eine Organisation zu bilden. Zu einer Unterstützung des Vorschlags Stoeckers sehe er sich daher nicht imstande.325 Als nächster Redner bemühte sich Ludwig Weber, die Bedenken Harnacks aufzunehmen. Man sei „zu einem Friedenswerke zusammengekom321 Vgl. Martin Rade: Evangelisch-sozialer Kongreß und Christliche Welt, in: ChW 54 (1940), 149–151. 322 AaO., 150. 323 Das Protokoll dieser Besprechung in: VESK 1 (1890), 5–12. 324 AaO., 5–7, 6. 325 AaO., 7.
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men.“ Wünschenswert erscheine es ihm aber, wenigstens die Einsetzung eines Ausschusses zur Vorbereitung der Tagung des folgenden Jahres zu beschließen. Auch der Greifswalder Theologe Martin von Nathusius erklärte, „irgend ein Aktionscomité oder so etwas“ müsse schon jetzt herauskommen, während Johannes Gottschick sich den Ausführungen Harnacks anschloß und eine breitere Basis des Kongresses anmahnte.326 Rade bezeichnete es als „eine große Misere, daß wenn dieser rufe: Hie Stöcker, jene nicht wollten, und beim Rufe: Hie Beyschlag, dieser sich abwende.“ Die Befürchtung der Liberalen, von den Orthodox-Positiven dominiert zu werden, zeigte sich an Rades Forderung nach „Garantien für ein verträgliches Zusammenwirken.“327 Stoecker bemühte sich daraufhin, auf Harnacks Bedenken einzugehen, nur dürfe die Sache nicht zu weit hinausgeschoben werden. Schließlich wurde ein Antrag auf Einsetzung eines Aktionskomitees diskutiert und – nachdem auf Drängen Harnacks auf die Worte „auf positiver Grundlage“ verzichtet worden war – verabschiedet. Damit waren die ersten Voraussetzungen für eine auf längere Dauer ausgelegte Arbeit des Kongresses geschaffen. Die Versammlung schloß mit dem Lied „Ach bleib mit deiner Treue“.328 Am 28. und 29. Mai 1890 fanden sodann die Hauptverhandlungen des Kongresses statt, an denen ungefähr 800–900 Personen teilnahmen, überwiegend Pfarrer und Theologen, in der großen Mehrzahl aus Berlin, Mitteldeutschland und dem Nordosten des Reiches.329 Der nationalökonomischen Orientierung galten die Vorträge über die Arbeiterschutzgesetzgebung, über gegenwärtige Tendenzen der Sozialgesetzgebung, die Wohnungsnot sowie die Aktivitäten der Evangelischen Arbeitervereine. Höhepunkte der Verhandlungen waren besonders die Vorträge von Sodens zur „Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung“ und Stoeckers Referat über „Unsere Stellung zur Sozialdemokratie“330, in dem er sich um einen – für seine Verhältnisse – moderaten Ton bemühte und die sonst üblichen Polarisierungen vermied. Die Sozialdemokratie bezeichnete er als den im Prinzip berechtigten, „zur Umsturzpartei verkörperten Drang, neben der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung die wirthschaftliche Gleichheit zu erringen.“ Viele ihrer Anliegen seien in einer umfassenden Sozialreform zu berücksichtigen, alle umstürzlerischen und internationalistischen Strömungen gelte es hingegen zu bekämpfen. Für das Erstarken der Sozialdemokratie machte Stoecker neben „der Zerrissenheit des nationalen Geistes und […] der Verwüstung des öffentlichen Lebens“ die innerprotestantischen Ausein326 327 328 329 330
140.
AaO., 8f. AaO., 10. AaO., 11f. Vgl. auch die Darstellung bei Göhre: Bewegung (Anm. 293), 136–141. Adolf Stoecker: Unsere Stellung zur Sozialdemokratie, in: VESK 1 (1890), 119–
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andersetzungen und den „verderblichen Einfluß gewisser Kreise des Judenthums“ verantwortlich. Während die Politik die berechtigten Anliegen der Sozialdemokratie aufzunehmen und auch in der Gesellschaft das „mangelnde Vertrauen“ zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten wiederherzustellen habe, sei es Aufgabe der Kirche als „irdische[r] Darstellung des Reiches Gottes“, die sozialen Gesichtspunkte mehr zur Geltung zu bringen. Stoecker empfahl dazu eine Verstärkung der „volksthümlichen Predigt“, in der die „sozialen Anschauungen des Neuen Testaments“ zu betonen seien, sowie eine umfassende Förderung des kirchlichen Vereinswesens – wobei die katholischen Volksvereine zweifellos als Vorbilder fungierten.331 In der anschließenden Diskussion meldete sich auch Harnack zu Wort und konstatierte trotz mancher Bedenken grundsätzliche Einigkeit: „Der Herr Hofprediger [hat] gesagt: Wir wollen uns in dieser großen Nothlage vereinigen; hier habt ihr meine Hand, gebt mir die eurige! Gut wir schlagen ein!“332 Es folgte lebhafter Beifall der Versammlung. Dennoch übte Harnack an drei Punkten Kritik an Stoeckers Rede, die sich – gleichsam auch als Minimalforderungen für die künftige Zusammenarbeit – wie folgt zusammenfassen lassen: keine Herabwürdigung von nicht-positiven Personen oder Körperschaften; keine Behandlung der Judenfrage, denn „die Schuld der Christen gegen die Juden ist nicht geringer als die Schuld, welche die Juden gegenüber den Christen haben“; trotz aller Berechtigung der Beschäftigung mit sozialen Dingen keine Überfrachtung des theologischen Studiums mit diesen Fragen, das in seinem Bildungsauftrag unveräußerliche Voraussetzung für den Erhalt der Kirche sei. Die Kirche bedürfe der Theologie auch für den Kontakt mit den Gebildeten, wenn sie nicht langfristig marginalisiert werden wolle – ein deutlicher Hinweis auf eine der Hauptintentionen der Theologie nach Harnack und Ritschl. Harnacks Bereitschaft zur Kooperation machte den Weg für den endgültigen Erfolg der Verhandlungen frei. Ein vorläufiger Ausschuß zur Vorbereitung weiterer „allgemeiner evangelisch-sozialer Verhandlungen“ wurde eingesetzt, dem Julius Kaftan, Hans Delbrück, Hermann von Soden, Stoecker sowie drei weitere Anhänger des letzteren angehörten. Weitere Zuwahlen sollten im Laufe des Jahres erfolgen. Tatsächlich war der Kongreß aus Sicht der Gruppe um Harnack und Rade ein Erfolg, bedenkt man zumal, daß sie nur eine Minderheit der Kongreßteilnehmer repräsentierten. Eine vorläufige Organisation war geschaffen, ohne daß Stoecker seine weitergehenden Absichten zu forcierter Agitation im Sinne von breit angelegten Sozialmonarchischen Vereinigungen hatte durchsetzen können. Im Gegenteil, auch seine Anhänger hatten einsehen müssen, daß ein Zusammenwirken nur in der Form eines programmatisch 331 332
Vgl. Stoeckers Thesen in: aaO., 119–122. AaO., 142f. (dort auch die Zitate des folgenden Abschnittes).
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weit gefaßten sozialethisch-theologischen Diskussionsforums möglich war. Genau dies formulierten ganz im Sinne der Vorstellungen Harnacks die auf dem Kongreß von 1891 verabschiedeten Satzungen, die dem ESK als vorrangige Aufgabe zuwiesen, „die sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie an den Maßstäben der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben wirksamer und fruchtsamer zu machen als bisher.“333 Allerdings enthielt bereits diese Aufgabenbestimmung erheblichen Sprengstoff, denn gerade die inhaltliche Bestimmung der genannten „sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums“ war zwischen den verschiedenen Protagonisten umstritten. Gleichwohl fanden sich im ESK nur Teile des deutschen Protestantismus zusammen. Die Mehrheit war der orthodox-positiven Gruppierung der „Positiven Union“ zuzurechnen, der neben Stoecker die Theologen Hermann Cremer und Martin von Nathusius angehörten. Im Aktionskomitee, das sich endgültig im Herbst 1890 konstituierte, war diese Gruppe, die politisch durchweg der konservativen Partei nahe stand, durch Stoecker – er wurde im Herbst 1890 Vizepräsident des ESK –, den Herausgeber der „Kreuzzeitung“ Kropatschek sowie drei weitere Persönlichkeiten vertreten. Den jüngeren Liberalprotestanten waren neben Harnack noch Kaftan und von Soden zuzurechnen. Die kirchliche Mittelpartei war allenfalls durch den von Delbrück für den Kongreß gewonnenen Landesökonomierat Moritz August Nobbe vertreten, der zum Präsidenten gewählt wurde. Eine Mittelstellung nahmen der Nationalökonom Adolph Wagner sowie Hans Delbrück ein, wobei ersterer kirchenpolitisch eher Stoecker, letzterer eher Harnack zugeneigt war. Lediglich ein Mitglied des Aktionskomitees gehörte dem Protestantenverein an, der sich wegen der Teilnahme Stoeckers vom Kongreß weitgehend fernhielt. Trotz aller Euphorie stieß der Kongreß auch weiterhin noch auf Skepsis. Daran scheint zunächst auch die Tatsache nichts geändert zu haben, daß es gelang, etliche bedeutende Persönlichkeiten für den weiteren Ausschuß des Kongresses – ihm kam eine beratende Funktion gegenüber dem Aktionskomitee zu – zu gewinnen, darunter Wilhelm Herrmann und der Hallenser Theologe Martin Kähler. Harnack selbst berichtete rückblickend, er sei von hervorragenden Kollegen seiner Fakultät vor einer weiteren Mitarbeit am Kongreß mit den Worten: „Hören Sie, bleiben Sie nicht dabei, das ist Sozialdemokratie!“ gewarnt worden.334 Harnack scheinen im Laufe des Jahres 1890 noch einmal Zweifel an einem stärkeren Engagement im ESK gekommen zu sein. So lehnte er einen Eintritt in das Aktionskomitee zunächst ab, und zwar ganz offensichtlich, 333 334
VESK 2 (1891), 126. So ein Redebeitrag Harnacks auf dem Kongreß von 1927, auch in: RANF 5, 108.
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weil er die Klarheit und Deutlichkeit seines eigenen theologischen Programms durch die Kooperation mit Stoecker gefährdet sah. Nur mit Mühe gelang es Nobbe, Harnack umzustimmen. Dessen verständlicher Verzicht, so Nobbe, berge die Gefahr der Mißdeutung des Kongresses als „erweiterte Manifestation christlich-socialer Bestrebungen.“335
4.2. Konsens in der Krise: Der Kongreß bis zum Ausscheiden Stoeckers 1896 Harnacks Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit Stoecker bestätigten sich zunächst nicht. Unter der umsichtigen Führung Nobbes und des ihm zur Seite stehenden Generalsekretärs Paul Göhre entwickelte sich der Kongreß zu einem beachtlichen Diskussionsforum zwischen den verschiedenen protestantischen Theologien und der Nationalökonomie. Lediglich auf der Sitzung des erweiterten Ausschusses vom 24. Oktober 1891 kam es zu einer kurzen Auseinandersetzung zwischen Stoecker und Harnack, der das Plädoyer des Hofpredigers für eine „leidenschaftslose Erörterung über die Beteiligung der Juden an der Börse“ als „nicht opportun“ ablehnte.336 Die bereits erwähnten Satzungen des Kongresses von 1891 entsprachen weitgehend den Forderungen Harnacks. Sie beinhalteten mit der Verbindung von empirisch-wissenschaftlicher Analyse des Wirtschaftslebens auf der einen und der kritisch-normativen Beurteilung dieser Zustände im Lichte der „religiösen und sittlichen Forderungen des Evangeliums“ auf der anderen Seite eine Festschreibung der Kooperation von Nationalökonomie und Theologie und schoben zugleich den Agitationsbestrebungen Stoeckers einen Riegel vor. Genau dies machte die Attraktivität des Kongresses für den jungen Max Weber aus, der zu den führenden wissenschaftlichen Köpfen in der Frühphase des Kongresses zählte, den er in einem Brief an den Freiburger Historiker Hermann Baumgarten ein „immerhin recht nützliches“ Unternehmen nannte, „gleichgültig was dabei herauskommt, schon deswegen, weil es eine Kooperation von Theologen und anderen Kategorien einschließt.“ Weber motivierte seine Mitarbeit mit der Gegnerschaft zu den sozialpolitischen und theologischen Konzeptionen Stoeckers, deren Verbreitung unter den „tatkräftigeren und idealistischen jüngeren Geistlichen“ er entgegentreten wollte. Der Hofprediger und seine Gefolgsleute könnten bei ihnen auf sozialpolitischem und dogmatischem Gebiet „das Terrain allein okkupieren, wenn man sie nicht durch Kooperation in allen den Richtungen, welche man selbst mitzumachen bereit ist, bindet, und dazu ist der gegenwärtige Moment unwiederbringlich günstig.“337 335 336 337
Nobbe an Harnack am 25.10.1890, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nobbe. Vgl. den Bericht in: Mitteilungen des ESK (künftig MESK) 1 (1891/92), 3. Weber an Hermann Baumgarten am 3.1.1891, in: Max Weber: Jugendbriefe, Ber-
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Harnack stellte bereits 1890 die Führungspersönlichkeit des Kongresses neben Stoecker und Wagner dar, so daß Rüdiger vom Bruch zu Recht von einer „Stiftertrias Harnack, Wagner und Stoecker“ gesprochen hat.338 Harnacks liberaltheologischer Sozialprotestantismus, Wagners wissenschaftlich fundierter Staatssozialismus und Stoeckers konservativ-christliche Sozialpolitik repräsentierten zweifellos die wichtigsten Strömungen in den ersten Jahren der Kongreßgeschichte. Keinesfalls kann davon gesprochen werden, daß Harnack und die anderen liberalprotestantischen Theologen in den Jahren 1890 bis 1896 nur „a subdued presence in the Protestant Social Congress“ darstellten.339 Auf den Volksabenden zu Beginn der Kongreßtagungen gehörte Harnack meist zu den prominenten Begrüßungsrednern.340 Nicht nur bei den Kongreßdiskussionen engagierte er sich intensiv, sondern hielt auch auf anderen Veranstaltungen Reden zum Verhältnis von Kirche und sozialer Frage, die er auch nach dem Abflauen der sozialpolitischen Begeisterung und gegen alle Kritik an vermeintlicher „socialer Hypochondrie“ doch als „das ernsteste und entscheidendste Problem unserer Zeit“ betrachtete.341 In seiner bis 1895 reichenden Frühphase unterstützte der Kongreß nachhaltig den vom preußischen Handelsminister von Berlepsch maßgeblich propagierten und konzipierten neuen sozialpolitischen Kurs342 und erfreute sich sowohl staatlicher als auch – allerdings verhaltenerer – kirchlicher Unterstützung.343 Nicht nur in die sozialpolitisch interessierte Pastoren- und die Studentenschaft begann er zu wirken, sondern auch in breitere Kreise der Beamtenschaft. Wirksamstes Mittel dieser Tätigkeit waren verschiedene soziale Kurse, die der Kongreß 1893 und 1896 allein, 1895 in Kooperation mit dem Verein für Socialpolitik (Vf S) durchführte.344 Mehr noch als das soziale Kurswesen dokumentierte die von ESK und VfS gemeinsam durchgeführte Landarbeiterenquête den Schulterschluß von Theologie und Nationalökonomie, der in der gleichzeitigen Mitgliedschaft führender Nationalökonomen in beiden Organisationen zum Ausdruck kam. Hans Dellin 1936, 329. Zu Weber und dem ESK vgl. auch Rita Aldenhoff: Max Weber und der ESK, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, 285–295. 338 Vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 160. 339 Liebersohn (Anm. 293), 25. 340 Vgl. CCW 3 (1893), 219; CCW 4 (1894), 178; CCW 5 (1895), 213. 341 Die Kirche und die sociale Frage, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 14, Bl. 1. 342 Hans-Jörg von Berlepsch: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890–1896, Bonn 1987. 343 Berlepsch nahm 1891 und 1892 an den Kongreßtagungen teil, vgl. CCW (1891), 179; CCW 2 (1892), 145. 344 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 3), 264–269; Kouri (Anm. 293), 123–125, sowie Max Weber: Die evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst diesen Jahres, in: ChW 8 (1893), 766–768.
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brück, der dem Aktionskomitee angehörte, war zugleich Mitglied im Vf S, Gustav Schmoller hatte schon 1890 den Mitgründer des Kongresses, Hermann Scholz konzeptionell beraten, lehnte einen Eintritt in das Aktionskomitee, für den Scholz im Auftrag der Gruppe um die „Christliche Welt“ warb, aber ab.345 Harnack, der seit Anfang der 1890er Jahre in engem Kontakt mit Schmoller stand, bemühte sich gleichfalls um das Interesse des Nationalökonomen für die Arbeit des ESK, dessen Frau ins Aktionskomitee des Kongresses eintrat. Gleichwohl wurden spätestens ab 1892/93 die ersten Bruchlinien sichtbar, an denen der Kongreß schließlich auseinanderbrechen sollte. Sie waren ansatzweise schon seit 1890 vorhanden, wirkten sich aber erst in dem Moment aus, in dem nicht nur die allgemeine sozialpolitische Euphorie sich zu legen begann, sondern auch die offizielle Unterstützung des Kongresses durch Staatsregierung und Kirchenleitung wegfiel. Genau dies geschah 1895. Doch zunächst zu den Bruchlinien. In erster Linie müssen hier die kirchenpolitischen Spannungen genannt werden. Zwar überstand der Kongreß den Apostolikumstreit von 1892 äußerlich unbeschadet. 1894 konnten mit Harnack und Cremer sogar die beiden Hauptkontrahenten dieses Streites nebeneinander als Referenten auftreten, und Stoecker ließ es sich nicht nehmen, Harnack vor den Anwürfen eines Teilnehmers – Harnack sei nicht befugt zu reden, da er noch nicht Kirchenbuße wegen seiner Verwerfung des Bekenntnisses getan habe – öffentlich in Schutz zu nehmen.346 Auch die konträren Positionen Stoeckers und Harnacks im Streit um die neue preußische Agende 1894 und die Freiheit der Universitätstheologie 1895 schienen ohne Einfluß zu sein. Gleichwohl haben diese Auseinandersetzungen der gemeinsamen Arbeit im Kongreß langfristig geschadet und die ohnehin schon geringen Verständigungsmöglichkeiten zwischen den wichtigsten Protagonisten beider Lager empfindlich eingeschränkt. Die von Stoecker angeführten Pressekampagnen von 1892 und 1894 gegen Harnacks theologische Auffassungen zielten letztlich auf dessen Entfernung aus der Theologischen Fakultät durch ein Disziplinarverfahren des Kultusministeriums. Harnack seinerseits kritisierte dessen Bestrebungen, „die freieren kirchlichen Richtungen zu discreditiren, zu verleumden und […] die Herausdrängung dieser Richtungen […] zu erreichen“. Stoecker, der mutwillig das Feuer schüre und gezielt die „Trennung der Böcke von den Schafen“ vorbereite, bezeichnete er im November 1893 in einer vertraulichen Denkschrift als „entschlossenen, verschlagenen und vor keinem Mittel zurückschrecken-
345
Hermann Scholz an Schmoller am 25.3.1890 bzw. am 28.5.1890, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 183, Bl. 112 bzw. Bl. 145. 346 Vgl. VESK 5 (1894), 174–177.
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den Agitator.“347 Auf Dauer konnte daher der offene Konflikt auch im Kongreß nicht ausbleiben. Als für den allgemeinen Konsens noch einigermaßen ungefährlich ist die Frauenfrage zu nennen. 1895 kam es zum Eklat, als erstmals eine Frau als Referentin auf dem Kongreß auftrat. Noch einmal zogen Stoecker und Harnack an einem Strang. Stoecker verteidigte das Auftreten von Frau GnauckKühne – sie habe das weitgehende Vorurteil entkräftet: „läßt man Frauen in den öffentlichen Versammlungen erst los, dann werden Weiber zu Hyänen. Und emanzipierte Hyänen gelten noch für schlimmer als afrikanische!“ Harnack sprach von einem „Gedenktag […] in der Geschichte unserer evangelischen Kirchen.“348 Aus Protest verließ bereits jetzt ein Teil des konservativ-orthodoxen Flügels um Martin von Nathusius an der Spitze den Kongreß.349 Brisanter erscheint die zunehmende Entfremdung zwischen älteren und jüngeren Christlich-sozialen um Stoecker auf der einen und dem jungen Frankfurter Vereinsgeistlichen Friedrich Naumann auf der anderen Seite. Hatte schon Naumanns Vortrag auf dem Kongreß 1892 über „Christenthum und Familie“ erste Differenzen zu Stoecker und Ludwig Weber aufblitzen lassen, so kam es 1893 im Anschluß an Kaftans Vortrag über „Christenthum und Wirtschaftsordnung“ zu einer Auseinandersetzung zwischen Naumann und Stoecker hinsichtlich der Beurteilung der Sozialdemokratie. Naumann bezeichnete die Sozialdemokratie als „die erste große evangelische Häresie“, sie sei „innerweltlicher Chiliasmus“ und historische Folgeerscheinung der unzureichenden Antwort der Reformatoren auf die Frage nach einem innerweltlichen Ideal des Christentums, das er im Glauben der Christen an den „Fortschritt ihrer Arbeit in der Herstellung irdischer Glückseligkeit“ bestimmte. Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung biete dafür nur unzureichende Lösungen, etwa in der Eigentumsfrage oder der Gliederung der Stände – und genau an diese Probleme rühre zu Recht die Sozialdemokratie, der aber noch das überweltliche Ideal abgehe.350 Harnack lehnte die historische Analyse Naumanns ab, bemühte sich aber gleichzeitig um Vermittlung, indem er die Zusammengehörigkeit von christlicher Nächstenliebe und Anerkennung der Persönlichkeit herausstellte und der Kirche dabei historische Versäumnisse bescheinigte.351 Stoecker widersprach Naumanns Analyse mit der Bemerkung, die These sei schon deshalb falsch, weil an der Spitze der Sozialdemokraten Juden stünden. Auch 347
Nl. Harnack, K. 13, Denkschrift über die Agendenfrage (17 Bl.); Auszüge bei BwR
290f. 348
VESK 6 (1895), 122. Vgl. Moritz August Nobbe: Herr Professor D. Nathusius und der Evangelischsoziale Kongreß, MESK 4 (1895), Nr. 6, 1–3. 350 VESK 4 (1893), 34–39. 351 AaO., 41f. 349
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Naumanns Ausführungen zur Eigentumsfrage lehnte Stoecker ab, bemühte sich aber gleichwohl um Verständnis für Naumann.352 Doch durchzog die Verhandlungen der Eindruck der stärker werdenden Differenz zwischen Jungen und Alten. Paul Göhre, selbst Anhänger Naumanns, hat den Unterschied zwischen Naumann und Stoecker plakativ, aber in der Zuspitzung zutreffend, auf die Formel „proletarisch“ und „konservativ-patriarchalisch“ gebracht.353 Naumann setzte auf eine innere Wandlung der Sozialdemokratie bzw. auf ihre Ablösung durch einen christlichen Sozialismus, Stoecker auf konsequente Bekämpfung bei gleichzeitigem Eingehen auf einige berechtigte Forderungen; Naumann lehnte die Verquickung mit der Judenfrage ab, anders als Stoecker setzte er auf eine Lösung der sozialen Frage nicht allein durch die Gesinnung christlicher Nächstenliebe, sondern durch Veränderungen der Sozialordnung. Auch Änderungen der Verfassung, insbesondere die Reform des Wahlrechts und eine Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten, wurden von Naumann erwogen, während Stoecker dies ablehnte. Naumann war parteipolitisch noch ungebunden, Stoecker hingegen Mitglied der Konservativen Partei, deren Anhängerschaft die Tätigkeit Naumanns, v.a. seine Äußerungen zur Eigentumsfrage, mit zunehmender Mißbilligung wahrnahm.354 Die Bindung Stoeckers an die Konservative Partei machte sich auch bei der vom ESK und dem Verein für Socialpolitik seit 1892 gemeinsam durchgeführten Erhebung zur Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland bemerkbar, deren Ergebnisse Paul Göhre und Max Weber 1894 auf dem Kongreß in Frankfurt vorstellten. Beide zeigten sich überzeugt von der Unhaltbarkeit der Arbeitsverfassung in Ostelbien. Göhre forderte eine Beseitigung der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes und eine staatliche Ansiedlungspolitik auf den frei werdenden Flächen, um die soziale Lage der Landarbeiter einschneidend zu verbessern.355 Weber teilte zwar nicht den überschäumenden Optimismus Göhres, hielt es aber wie dieser für falsch, daß sich der „Staat politisch dauernd auf einen Stand stützt, der selbst der staatlichen Stütze bedarf.“356 Die Forderungen Webers und Göhres stießen nicht nur bei Adolph Wagner und Moritz August Nobbe auf Kritik. Schärfer noch war die Ablehnung besonders durch die konservative Presse, die – wie die „Kreuzzeitung“ – dem Kongreß „ Junkerhaß“ vorwarf. Für Stoecker 352
AaO., 43f. Göhre: Bewegung (Anm. 293), 163. 354 Vgl. als Überblick Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, 19–37. 355 Paul Göhre: Die deutschen Landarbeiter, in: VESK 5 (1894), 43–61. 356 Max Weber: Die deutschen Landarbeiter, in: aaO., 61–82. Das Zitat aus Webers Schlußvotum, in: aaO., 92. 353
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war das Signal klar: Die jüngeren Christlich-sozialen begannen sich gegen den politischen Konservatismus zu stellen, und das gefährdete auf Dauer auch Stoeckers Verankerung in der Deutsch-konservativen Partei. War der Kongreß 1890 auch von größeren Teilen der Konservativen unterstützt worden, so begannen sie sich jetzt von ihm abzuwenden. Der Kongreß, so schien es aus ihrer Sichtweise, geriet in radikales Fahrwasser. In der zweiten Hälfte des Jahres 1894 veränderten sich zudem noch die politischen Rahmenbedingungen für den Kongreß schlagartig. Mit der Entlassung des Reichskanzlers von Caprivi endete der sogenannte „Neue Kurs“. Der auf systemimmanente Reform und sozialpolitische Konzessionen an die Arbeiterschaft gerichteten Politik seit dem Abschied Bismarcks folgte ein Umschlag, der sich mit der heftig umstrittenen „Umsturzvorlage“ ankündigte. Auch die Sozialpolitik wurde im Laufe des Jahres 1895 weitgehend eingefroren, der reformorientierte Minister von Berlepsch hielt sich noch bis 1896 im Amt. Stoecker selbst geriet im Herbst 1895 durch die Veröffentlichung des „Scheiterhaufenbriefes“ und die Hammersteinaffäre in Bedrängnis und wurde aus der Konservativen Partei herausgedrängt. Im Dezember schwenkte auch der EOK um und widerrief seinen sozialpolitischen Erlaß vom April 1890. Am 28. Februar 1896 folgte die Veröffentlichung des berühmten Kaisertelegramms, das Stoecker kritisierte und über die Meinung des Kaisers zu christlich-sozialen Bestrebungen keine Unklarheiten mehr aufkommen ließ: „Stoecker hat geendet, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial, christlich-sozial ist Unsinn.“357 Anfang 1895 hatte es zunächst noch so ausgesehen, als könnte ein Auseinanderbrechen des Kongresses verhindert werden. Nach den Angriffen Stumms auf Naumann und dessen „Hilfe“ konnte sich das Aktionskomitee mit Zustimmung Stoeckers auf eine Erklärung einigen, in der trotz gewisser Unterschiede „in der Beurteilung der sozialen Verhältnisse, insbesondere der Sozialdemokratie“, die Zugehörigkeit Naumanns zum Kongreß verteidigt wurde.358 Ein letztes Mal demonstrierte der Erfurter Kongreß die Einmütigkeit zwischen den Lagern um Harnack und Stoecker. Spätestens mit dem Bekanntwerden von Stoeckers Scheiterhaufenbrief im September 1895 geriet der Kongreß jedoch in eine tiefe Krise. Insbesondere für Harnack war damit auch die persönliche Grundlage einer weiteren Zusammenarbeit entfallen, trat in diesem Schreiben doch deutlich hervor, wie stark Stoeckers Wider357 Abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Band 3: Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfes bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Berlin 1983, 635. 358 MESK 4 (1895), Nr. 2, 1.
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stand gegen Harnacks Berufung 1888 nicht nur theologie- und kirchenpolitisch motiviert war, sondern darauf gezielt hatte, Bismarck und den jungen Kaiser einander zu entfremden. Dieser besondere Aspekt des Briefes dürfte neben den sachlichen Differenzen die Intensität erklären, mit der Harnack nun auf eine Trennung des Kongresses von Stoecker drang. Anfang Oktober diskutierten führende Freunde der „Christlichen Welt“ über die Zukunft des Kongresses und einigten sich – trotz Harnacks Bedenken – auf eine weitere Zusammenarbeit mit Stoecker.359 Die Situation änderte sich, als Harnack einige Tage später eine weitere Kooperation mit Stoecker für sich persönlich für unmöglich erklärte und mit seinem Austritt drohte. Nur mit Mühe konnten Kaftan, Delbrück und von Soden ihn am 25. Oktober bei einer Zusammenkunft vom sofortigen Austritt abhalten. Harnack sollte weiter im Kongreß bleiben, an den Ausschußsitzungen aber nicht mehr teilnehmen, um ein Zusammentreffen mit Stoecker, das ihm wegen „Gewissensbedenken“ unmöglich sei, zu vermeiden.360 Am 29. Oktober traf sich Harnack mit Nobbe, Delbrück, Soden, Kaftan, dem neuen Generalsekretär Voelter und Prediger Arndt – also den Mitgliedern des Aktionskomitees, die nicht zum Stoecker-Lager zählten –, um die Situation zu besprechen. Nobbe drängte auf eine weitere Mitarbeit Harnacks und kritisierte nun Naumann so scharf, daß Kaftan von einem möglicherweise auf Dauer unheilbaren Gegensatz zwischen Nobbe und Naumann sprach. Harnack, der Naumann bei der Gründung der „Hilfe“ finanziell unterstützt hatte, meldete sich daraufhin zu Wort und „führte die Frage […] von Naumann wieder auf das zurück, was mir die Hauptsache ist – die moralische Persönlichkeit Stöckers.“361 Der Kongreß sei eingeklemmt zwischen Naumann und Stoecker, die Auflösung ein möglicher Ausweg. Harnacks Bericht legt den Schluß nahe, daß dieser Vorschlag die Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf Stoecker und Naumann ausloten sollte, denn eine sofortige Auflösung wäre, wie auch Harnack erklärte, einer Kapitulation vor dem Druck der Konservativen gleichgekommen. Sichtlich zufrieden betonte Harnack, daß nur ein Anwesender sich gegen den Verbleib Naumanns ausgesprochen hätte, alle anderen wollten ihn beim Kongreß halten und dort ein Gegengewicht zu ihm bilden. Damit hatte er sich gegen Nobbe durchgesetzt, der offensichtlich zu einer Trennung des Kongresses von Stoecker und Naumann tendierte.362 359 So der Bericht Julius Kaftans in einem Brief vom 24. November 1895 an seinen Bruder, den Kieler Generalsuperintendenten Theodor Kaftan, in: Walter Göbell (Hg.): Kirche, Recht und Theologie in vier Jahrzehnten. Der Briefwechsel der Brüder Theodor und Julius Kaftan. Erster Teil 1891–1910, München 1967, 121. 360 Vgl. den Bericht Kaftans, in: aaO., 121f., sowie Harnack an Rade am 27.10.1895, in: BwR 333f. 361 Harnack in einem Bericht vom 30.10.1895 über dieses Treffen, in: BwR 337–339, 338. 362 So die Einschätzung Rades in einem Brief an Harnack vom 11.11.1895, in: BwR 349f.
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Daß Harnack Naumann auf jeden Fall dem Kongreß erhalten, Stoecker aber zum Ausscheiden bewegen wollte, erklärt auch seine Ablehnung von Göhres Vorschlag, Naumann und Stoecker sollten sich zunächst aus der aktiven Kongreßarbeit zurückziehen.363 Man einigte sich darauf, die weitere Entwicklung abzuwarten und sich in drei Wochen erneut zu treffen. Bei diesem Treffen erklärte Harnack seine Bereitschaft, im Kongreß zu bleiben, vorerst aber auf eine Teilnahme an den Sitzungen von Aktionskomitee und Vorstand zu verzichten. „Ich halte objectiv einen Congreß mit Stöcker bei denjenigen für eindruckslos (um nicht mehr zu sagen), auf die wir besonders rechnen wollen, u[nd] subjectiv ist mir das Tagen zusammen mit Stöcker ein Abscheu.“364 Deutlich ist bei diesem Votum natürlich auch die persönliche Abneigung gegenüber Stoecker zu spüren, doch Harnack trat eben deshalb nicht aus, weil er die Aufgabe des Kongresses für noch nicht erledigt ansah, ein Verbleib Stoeckers den Kongreß aber zwangsläufig in die Isolation führen mußte. „Daß es den schlechtesten Eindruck machen mußte, jetzt den Kongreß aufzuheben, sah ich ein u[nd] seine Mission kann ich noch längst nicht als erfüllt ansehen. Im Gegentheil – sie beginnt erst recht.“365 An der folgenden Aktionskomiteesitzung, auf der im Beisein Stoeckers eine gemeinsame Weiterarbeit vereinbart wurde, nahm Harnack nicht teil.366 Die Krise verschärfte sich erneut im Frühjahr 1896 nach dem erwähnten kaiserlichen Telegramm und Stoeckers Ausscheiden aus der Konservativen Partei. Am 11. April trafen sich erneut die nicht zu Stoeckers Anhängern gehörenden Mitglieder des Aktionskomitees. Harnack, Delbrück und Kaftan machten dabei den Rücktritt Stoeckers als Vizepräsident zur Bedingung ihres Verbleibs im Kongreß, „um nicht selbst unter seiner Führung stehend zu erscheinen“, wie Delbrück später anmerkte.367 Nobbe zeigte sich einverstanden und beauftragte Wagner, Stoecker zum freiwilligen Rücktritt von seinem Vizepräsidentenamt bei gleichzeitigem Verbleib im Aktionskomitee zu bewegen, „um dadurch die völlige Unabhängigkeit des Kongresses von seinem sozialpolitischen Parteiprogramm wie von den unerquicklichen politisch und persönlich zugespitzten Händeln, die sich insonderheit an seinen Austritt aus der konservativen Partei geknüpft hätten, öffentlich zu bekunden und klarzustellen.“368 Nobbe, Harnack, Kaftan und Delbrück hielten Stoeckers Austritt als Reaktion für möglich – Harnack vermutlich sogar für wünschenswert – und fühlten daraufhin beim Vorbereitungsausschuß in 363
Paul Göhre: Die Krisis der evangelisch-sozialen Bewegung, in: ChW 9 (1895), 1100–1104. Zu Harnacks Ablehnung vgl. den Brief Rades vom 12.11.1895, in: BwR 350f. 364 Harnacks Bericht an Rade am 23.11.1895, in: aaO., 354f. 365 Ebd. 366 Vgl. Delbrücks Bericht in: PJ 82 (1895), 566. 367 Hans Delbrück in: PJ 85 (1896), 198. 368 Moritz August Nobbe: Die letzten Vorgänge, in: MESK 5 (1896), Nr. 4, 1f.
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Stuttgart, dem Ort der nächsten Tagung, vor, wie man dort auf ein Ausscheiden Stoeckers reagieren werde.369 Inzwischen war der Landesgerichtsrat Wilhelm Kulemann, ein ehemaliger nationalliberaler Reichstagsabgeordneter, der den Verhandlungen der Stoecker-Gegner beigewohnt hatte, eigenmächtig tätig geworden. Ohne Rücksprache schickte er Helmut von Gerlach, Redakteur bei Stoeckers Wochenzeitung „Das Volk“, zugleich aber Sympathisant Naumanns, zu Stoecker, um diesen zum Rücktritt zu bewegen. Stoecker lehnte das Ansinnen zwar nicht rundweg ab, zeigte sich aber erbost über die Art des Vorgehens und erbat sich einige Tage Bedenkzeit.370 Das Vorgehen Kulemanns brachte die Gruppe um Delbrück und Harnack in arge Schwierigkeiten, lag die Initiative jetzt doch eindeutig bei Stoecker. „Tactlosigkeit, dein Name ist Kulemann“, notierte Harnack verärgert in einer Notiz an Delbrück.371 Nobbe klagte gegenüber Harnack, die Situation sei verfahren, man habe keine Mittel mehr, Stoecker zum Austritt aus dem Präsidium zu bewegen, wenn er nicht freiwillig abtrete, da sonst der Stuttgarter Kongreß gefährdet sei.372 Wenige Tage später erklärte Stoecker seinen Austritt und schob vor allem Harnack die Schuld an seinem Ausscheiden zu.373 Ausschlaggebendes Motiv für das Vorgehen Harnacks waren nicht die kirchenpolitischen Divergenzen, sondern der Versuch, den Kongreß teilweise aus der Schußlinie zu nehmen, ohne die Gruppe um Naumann zu verlieren, die zweifellos wesentlich zum Erfolg der vergangenen Tagungen beigetragen hatte. Immerhin blieben zwei Anhänger Stoeckers im Aktionskomitee. Gleiches galt für einen kirchenpolitischen Kontrahenten Harnacks wie den Kieler Generalsuperintendenten Theodor Kaftan. Harnack selbst bemühte sich wiederholt, seinen theologischen Widerpart Reinhold Seeberg für den Kongreß zu gewinnen, der noch im Juni 1896 seine Bereitschaft zur Kooperation signalisierte. Er bedauere zwar den „Austritt von Stöcker mit allem was drum und dran hängt, […] aber ich würde es noch mehr bedauern, wenn der Parteihader auf dieses Gebiet übertragen würde.“374 1897 beschwor Harnack Seeberg, ein Referat für die Leipziger Tagung zu übernehmen und nannte dessen Teilnahme eine „Lebensfrage“ für den Kongreß, der die Anhänger Stoeckers bei sich halten müsse.375 Erst für 1898 sagte Seeberg 369 Vgl. den Brief Nobbes an Harnack vom 19.4.1896, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Nobbe. 370 Wilhelm Kulemann: Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, 174ff. 371 Die Notiz Harnacks auf dem Brief Nobbes an Harnack vom 19.4.1896, den dieser an Delbrück weiterleitete, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Nobbe. 372 Ebd. 373 Adolf Stoecker: Die Krisis im Evangelisch-sozialen Kongreß, in: DEKZ 10 (1896), 185f.; vgl. auch von Oertzen: Stöcker. Band. 2 (Anm. 299), 193f. 374 Seeberg an Harnack am 26.6.1896, in: Nl. Harnack, K. 42, Korr. R. Seeberg. 375 Harnack an Seeberg am 11.2.1897, in: BA Koblenz, Nl. Seeberg, Nr. 68, Bl. 41.
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schließlich zu, um dann erneut zu Gunsten seines Königsberger Schülers Friedrich Lezius abzusagen. Dieser Absage war ein Brief Stoeckers vorausgegangen, in dem dieser Seeberg von einem Engagement im Kongreß abriet, der nicht mehr als „der Sammelpunkt der Ritschl’schen Schule sei.“ Statt dort mitzuarbeiten, empfahl Stoecker dem gerade nach Berlin berufenen Theologen, sich als „Mittelpunkt der positiven Bekämpfer dieser Schule“ zu positionieren.376 Der Rückzug Stoeckers hing darüber hinaus mit einem erlahmenden Interesse von Teilen seiner Anhängerschaft an den eher theoretisierenden sozialethischen und nationalökonomischen Debatten zusammen, die allmählich in den Vordergrund gerückt waren. Die positiv-orthodoxen Gruppen waren insgesamt dem intellektuellen Gewicht der liberalprotestantischen Professoren kaum gewachsen – sieht man einmal von Cremer ab, der sich aber nicht nachhaltig engagierte – und überließen diesen die theologische Klärung einer evangelisch-sozialen Position weitgehend. Das schlug sich auch in der Zusammensetzung des Kongresses nieder. Schon 1894, also zwei Jahre vor dem Ausscheiden Stoeckers, war der Anteil von Pfarrern, Theologiestudenten, Kirchenbeamten und theologischen Hochschullehrern von 67,1% 1890 auf 59,4% zurückgegangen.377 Daß das Interesse an einer eher praktisch orientierten sozialen Arbeit, die sich von nichtkonservativen Strömungen ebenso wie von den sozialethisch immer stärker hervortretenden liberalen Theologen markant unterscheiden sollte, nicht gänzlich erlahmt war, zeigte die hohe Beteiligung von Theologen an dem Aufruf Stoeckers und Nathusius’ vom 21. Juli 1896.378 Darin wurde die weitere Notwendigkeit sozialer Arbeit betont, zugleich aber an das positive Bekenntnis gebunden. Diese programmatische Verengung fand ihren Niederschlag in dem neuen Schlagwort „kirchlich-sozial“ und bildete die Grundlage der 1897 von Stoecker ins Leben gerufenen „Freien Kirchlich-sozialen Konferenz (FKSK).379 Trotz der damit auch institutionell manifestierten Spaltung wirkte die zeitweilige Annäherung der verschiedenen Protestantismen in sozialen Fragen insofern fort, als es zu einem offenen Kampf zwischen den beiden Organisationen nicht kam. Es gab sogar – ungeachtet immer wieder aufkeimender Rivalitäten – Kontakte und partielle Kooperation zwischen ESK und FKSK.380
376
Stoecker an Seeberg am 21.3.1898, in: aaO., Nr. 120, Bl. 71f. Zahlen bei Liebersohn (Anm. 293), 31–33. 378 Pollmann: Kirchenregiment (Anm. 293), 271–273. Ein überarbeiteter Entwurf sowie Reaktionen auf dieses Manifest befinden sich in: Archiv des Diakonischen Werkes Berlin, Bestand Kirchlich-sozialer Bund, Nr. 1. 379 Vgl. zur FKSK Klaus Erich Pollmann: Weltanschauungskampf an zwei Fronten. Der Sozialprotestantismus 1890–1914, in: Kaiser/Loth (Anm. 293), 56–78, v.a. 66–70. 380 Vgl. Pollmann: Kirchenregiment (Anm. 293), 269. 377
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Harnack hat die Trennung von Stoecker als endgültig angesehen und ist verschiedenen Versuchen, diesen erneut für den Kongreß zu gewinnen, wie sie 1899 der Kieler Theologe Arthur Titius und ein Jahr später Nobbe unternommen haben, entgegengetreten. Titius begründete seinen Vorstoß mit den Verdiensten Stoeckers um eine christlich geprägte Sozialpolitik381, Nobbe hoffte gar darauf, Stoecker als Vorsitzenden des Kongresses neben Naumann zu gewinnen.382 Nicht nur Harnack, sondern auch Stoecker reagierte ablehnend: Angesichts der Hetze, die Harnack gegen ihn betrieben habe, sei sein Ausscheiden eine „Ehrensache“ gewesen.383
4.3. Demokratie, Kaisertum und nationaler Sozialismus: Harnack und Friedrich Naumann im ESK Die Krise des Kongresses war mit dem Ausscheiden Stoeckers keineswegs überwunden, auch wenn die Stuttgarter Tagung von 1896 entgegen den Befürchtungen Nobbes relativ erfolgreich verlief. Zu deren Erfolg trug auch bei, daß etliche Anhänger Stoeckers wie der Stuttgarter Hofprediger Braun zunächst noch im Kongreß verblieben. Nobbe verteidigte in seiner Eröffnungsansprache die Arbeit des Kongresses und erinnerte in einem geschichtlichen Rückblick an die Februarerlasse von 1890 und die daraufhin erfolgte Gründung des ESK, der trotz der veränderten Bedingungen als „Sprechsaal zur Erörterung und Klärung sozialer Fragen und Probleme“ weiterhin notwendig sei.384 Kritik an dem neuen sozialpolitischen Erlaß des EOK übte Hermann von Soden. Keinesfalls dürfe den Geistlichen das Recht auf sozialpolitische Tätigkeit genommen werden, wenn sie dabei nicht die Pflichten ihres Amtes verletzten.385 Hans Delbrücks Referat über „Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit“ bewies schließlich mit der Forderung nach der Einführung einer Arbeitslosenversicherung, daß der Kongreß auch auf konkrete sozialpolitische Vorschläge nicht verzichten wollte.386 Die Äußerung des Kaisers, christlich-sozial sei Unsinn, wurde Zielscheibe scharfer Kritik auf einer Abendversammlung der Tagung. Adolph Wagner stellte „unter minutenlangen Beifall fest, daß ‚christlich-sozial‘ Sinn hat und nicht Unsinn ist.“387 Harnack verteidigte die Arbeit des Kongresses und erinnerte 381
Arthur Titius an Harnack am 13.6.1899, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Titius. Nobbe an Harnack am 7.7.1900, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nobbe. 383 Vgl. den bei von Oertzen: Stöcker. Band 2 (Anm. 299), 197, undatiert wiedergegebenen Brief Stoeckers an einen „verständigen Liberalen“ aus Kiel (196), womit Titius gemeint sein dürfte. 384 VESK 7 (1896), 7. 385 Hermann von Soden: Die soziale Wirksamkeit des im Amt stehenden Geistlichen, ihr Recht und ihre Grenzen, in: aaO., 15ff. 386 Hans Delbrück: Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit, in: aaO., 105ff. 387 Vgl. den Bericht in: CCW 6 (1896), 242f., Zitat 243. 382
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an den Christentumsgegner Lucian, der schon vor 1700 Jahren richtig erkannt habe, daß „christlich und sozial“ zusammengehören.388 Auch die folgende Ansprache Naumanns, der sich engagiert an den einzelnen Debatten der Kongreßtagung beteiligte, fand lebhafte Zustimmung.389 Zweifellos bewies der Kongreß Mut, „in einen offenen Gegensatz zum deutschen Kaiser zu treten“, wie die „Frankfurter Zeitung“ in ihrem Tagungsbericht vermerkte.390 Dennoch verhinderte das ein weiteres Abbrökkeln des Kongresses nicht. Allmählich zogen sich größere Teile der Geistlichkeit zurück, und auch die außerpreußischen Kirchenbehörden begannen den Kongreß zu meiden. So wurde dem ESK vom sächsischen Konsistorium die Abhaltung des Eröffnungsgottesdienstes in der Leipziger Nikolaikirche für die Tagung 1897 untersagt. Entscheidendes Moment für die anhaltende äußere und innere Krise des Kongresses wurde aber sein weiteres Verhältnis zu Naumann und den jüngeren Christlich-sozialen.391 Naumann war seit 1892 engagiert als Debattenredner und Referent auf den Kongreßtagungen aufgetreten und hatte wesentlich zur Attraktivität des Kongresses beigetragen.392 Trotz mancher Differenzen sympathisierte die Mehrheit der jüngeren Theologen (etwa Paul Göhre, Martin Rade und Arthur Titius) und Nationalökonomen (Max Weber und Gerhard von Schulze-Gävernitz) mit Naumanns Wirken. Konservativen Gegnern des Kongresses war dieser spätestens seit den Referaten Webers und Göhres von 1894 als Plattform sozialrevolutionärer Anschauungen erschienen, die – wie Stumm ausführte – gefährlicher als die Sozialdemokratie selbst seien. Diese Angriffe verschärften sich noch, als sich 1896 die Bildung einer eigenen Partei der Gruppe um Naumann abzeichnete. Göhre versuchte diese Entwicklung mit einer unmittelbar vor dem Ausscheiden Stoeckers geschriebenen Schrift über die evangelisch-soziale Bewegung voranzutreiben.393 Er unterschied zwei grundsätzliche Richtungen im Kongreß, die es auch organisatorisch klar zu trennen gelte. Die sozialethische Richtung sei unter Berücksichtigung nationalökonomischer und theologischer Aspekte an der Ausarbeitung eines evangelisch-sozialen Standpunktes interessiert und erblicke in dessen Verbreitung durch Predigt, Seelsorge und karitative Gemeindearbeit das wirksamste sozialpolitische Engagement. Repräsentan388 389 390 391
Ebd. Ebd. Zitiert nach MESK 5 (1896), Nr. 5, 1f. Dazu grundlegend Düding (Anm. 249), 22–46, sowie Theiner (Anm. 354), 13–
52. 392 Vgl. als – allerdings sehr allgemein gehaltenen – Überblick Klaus Erich Pollmann: Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: vom Bruch (Hg.): Naumann (Anm. 137), 49–62. 393 Göhre: Bewegung (Anm. 293).
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ten dieser Richtung waren für Göhre etwa Wilhelm Herrmann und Adolf Harnack. Daneben gebe es aber eine weitere Richtung um Naumann und Stoecker, denen diese Arbeit nicht ausreiche, da evangelisch-sozial für sie „auch ein politischer und sozialpolitischer Begriff “ sei.394 Nach dem Austritt Stoeckers wurde diese Gruppe vorrangig von Naumann repräsentiert. Göhre plädierte nun für eine getrennte Weiterentwicklung beider Richtungen. Die „Sozialethiker“ stellten den ESK der Zukunft dar, kirchlich, sozialethisch und sozialversöhnend395, die „Sozialpolitiker“ müßten sich in einer „christlich gerichtete[n] Reformpartei aller kleinen Leute“ neu organisieren.396 Dieser Vorschlag, den Naumann in der „Hilfe“ zustimmend kommentierte, bedeutete keineswegs den Ausschluß einer weiteren Kooperation beider Gruppierungen, sondern sollte den Kongreß aus der Schußlinie nehmen, verfehlte jedoch weithin seine Wirkung, da die enge Verbindung von Teilen des ESK mit dem sich dann im November 1896 konstituierenden „Nationalsozialen Verein“ (NSV) gerade personell unübersehbar war. Mit Naumann, Göhre, Weber, Titius, dem Leipziger Kirchenrechtler Rudolph Sohm sowie dem ebenfalls in Leipzig lehrenden Neutestamentler Caspar René Gregory gehörten denn auch wichtige Kongreßmitglieder zugleich zu den führenden Persönlichkeiten des Nationalsozialen Vereins. Das Beispiel Harnack zeigt freilich, daß sich die Trennung, die Göhre mit seinen begrifflichen Kategorien vornahm, nicht ganz so scharf ziehen ließ. Harnacks Einordnung in die Gruppe der Sozialethiker, die Göhre mit dessen Kongreßrede von 1894 rechtfertigte, traf dessen Engagement nur teilweise. Gewiß arbeitete Harnack primär sozialethisch, verlor dabei aber auch die sozialpolitischen Aspekte nicht aus dem Blick, wie sein Verhältnis zu Naumann belegt. Göhres Vorstellungen einer organisatorischen Trennung beider Richtungen machte sich Harnack deshalb nicht zu eigen, sondern er bemühte sich, Naumann trotz „aller sachlichen Anstöße[]“397, die seine Politik nach Harnack bot, im Kongreß zu halten. Naumann war Harnack bereits als Redakteur der „Christlichen Welt“ bekannt.398 Nähere Informationen zu Naumanns Wirken dürfte er darüber hinaus über seinen Freund Martin Rade, den Schwager Naumanns, erhalten haben, der wie dieser in Frankfurt am Main wirkte. Ein erstes persönliches Zusammentreffen wird spätestens auf der zweiten Kongreßtagung 1891 erfolgt sein. 1893 trat Harnack zwar Naumanns historischer Ableitung der Sozialdemokratie aus den Täuferbewegungen der Reformationszeit entgegen, zeigte aber gleichzeitig Sympathie für das sozialpolitische Engagement des 394 395 396 397 398
AaO., 159. AaO., 192–200. AaO., 177–191, 177. Harnack an Rade am 27.10.1895, in: BwR 339. Zu Harnack und Naumann vgl. Nowak: Wege (Anm. 137).
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jungen Vereinsgeistlichen.399 Die Gründung der Wochenschrift „Die Hilfe“ hat Harnack, nachdem Naumann ihm das Konzept schriftlich erläutert hatte, mit 1000 Reichsmark unterstützt.400 Dieser hatte nachdrücklich in einem ersten konzeptionellen Entwurf als Grundlagen des Blattes formuliert: „Evangelischer Standpunkt. Biblisches Bekenntnis, aber Gleichberechtigung der Gruppe Harnack in christlich-sozialer Hinsicht.“401 Den gleichen Betrag stellte Harnack 1896 für die nationalsoziale Tageszeitung „Die Zeit“ zur Verfügung.402 Harnack hat sich im Frühjahr 1896 nicht nur Nobbes Versuch, Naumann ebenso wie Stoecker vom Kongreß fernzuhalten, erfolgreich widersetzt, sondern ihn auch in der „Hilfe“ gegen die Vorwürfe des Greifswalder Theologen Martin von Nathusius verteidigt, der in seiner Broschüre „Was ist christlicher Sozialismus?“ eine geschichtliche Parallele zwischen den „heutigen sozialistischen Christen, die in der ‚Hilfe‘ ihre Vertretung finden“, und dem radikalen Flügel der Reformation um Thomas Müntzer gezogen hatte.403 Scharf kritisierte Harnack den „konservativen Politikern so geläufigen, geistlichen Übermut“ und verspottete Nathusius’ historischen Vergleich, den dieser zudem nur durch eine bedenkliche Entstellung der Anschauungen Naumanns habe ziehen können, als „luftige Abstraktion.“404 Den Vorwurf, Naumann unterscheide nicht richtig zwischen Gesetz und Evangelium und verkenne das wahre Wesen der Sünde, wenn er Jesus als Vorbild sozialen Engagements propagiere, wies Harnack als völlig unberechtigt zurück: „Nicht darum handelt es sich in den Ausführungen der ‚Hilfe‘, ob Jesus Christus der Erlöser von der Sündenschuld, oder ob er ein sozialer Reformer ist, sondern darum, welchen Umfang er selbst seinem erlösenden Werke gegeben hat, und welche Konsequenzen sich daraus für seine Jünger ergeben.“405 Die Verteidigung gipfelte in eine Einordnung Naumanns in die beiden laut Harnack großen reformatorischen Kräfte der Kirchengeschichte, die Verkündigung Jesu und die paulinische Predigt von Sünde, Gnade und Rechtfertigung. Naumann komme das Verdienst zu, an das Recht der Einheit stiftenden Herrenworte zu erinnern, die im Protestantismus gelegentlich zu Unrecht in den Schatten der paulinischen Predigt geraten seien. „Wie, wenn 399
Vgl. VESK 4 (1893), 41f. Vgl. den Dankbrief Naumanns an Harnack vom 22.11.1894, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Naumann. 401 Zitiert nach Theodor Heuß: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, München/Hamburg 31968,112. 402 Vgl. einen für Harnack ausgestellten „Antheilsschein an der Hilfskasse der Zeitung Die Zeit“, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Naumann. 403 Martin von Nathusius: Was ist christlicher Sozialismus?, Berlin 1896; Harnacks Rezension erschien u. d. T. Ein falsches Schlagwort, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 25 vom 21. 6. 1896, 2–4. 404 Schlagwort, 3. 405 Ebd. 400
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die kleine Bewegung, die durch den Herausgeber der ‚Hilfe‘ nicht begonnen, sondern den Zeichen der Zeit gemäß fortgesetzt ist, nur ein Teil ist einer sich ankündigenden, allgemeinen, kirchengeschichtlichen Bewegung, die dem Protestantismus dort zu Hilfe kommt, wo er nicht einer Korrektur, wohl aber einer Ergänzung bedarf – um des im Worte Jesu Christi gebundenen Gewissens willen?“406 Harnack verteidigte Naumann nicht nur gegen die Vorwürfe von Nathusius, sondern trug im Herbst 1895 und im Frühjahr 1896 entscheidend dazu bei, diesen beim Kongreß zu halten. Er war auch bestens informiert über die verschiedenen Bestrebungen zur Gründung einer eigenen Partei.407 So unterrichtete Naumann den Berliner Gelehrten im August 1896 über seine Pläne, „alle diejenigen Christlich-Sozialen, die nicht an Stöcker persönlich gebunden sind, zu einer einzigen Gruppe zu vereinen“, und lud Harnack zur Teilnahme an der Gründungsversammlung, die im November 1896 in Erfurt stattfand, ein.408 Harnack lehnte eine direkte Teilnahme zwar ab und begründete dies – neben den Vorbehalten gegenüber der „Devise Christl[ich]Soz[ial]“, die „eine Geschichte hinter sich hat, die nicht schön ist“ – vorrangig damit, daß er als Gelehrter „doch nur ein beschränktes politisches Interesse“ habe.409 Gleichwohl beteiligte er sich im Berliner Freundeskreis der „Hilfe“ an der intensiv geführten Debatte um den vom Vorbereitungsausschuß unter der Führung Naumanns am 1. Oktober 1896 in der „Zeit“ publizierten Programmentwurf der neuen Gruppierung.410 Harnacks Votum beschäftigte sich mit der Namensfrage sowie der Frage nach dem Verhältnis von Christentum und politischem Programm des Vereins.411 Damit leistete er einen wichtigen Beitrag zu der in der Gründungsphase des Vereins grundlegenden Debatte um das Verhältnis von Christentum und Parteipolitik.412 Harnack plädierte dabei ebenso wie Rudolph Sohm oder Max Weber für eine Trennung von Christentum und Politik, die sich besonders im Namen des Vereins niederschlagen sollte. Sprach gegen den Namen „christlich-sozial“ schon dessen Verwendung durch Stoecker, so lehnte Harnack diese Bezeichnung auch aus grundsätzlichen Erwägungen
406
AaO., 4. Zur Vorgeschichte des NSV vgl. Düding (Anm. 249), 22–47. 408 Naumann an Harnack am 12.8.1896, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Naumann. 409 Harnack an Naumann am 20.8.1896, in: BA Berlin, Nl. Naumann, Nr. 134, Bl. 5. 410 Naumanns Programmentwurf in: Die Zeit 1 (1896), Nr. 1 vom 1.10.1896, 2. 411 Vgl. Professor Harnack an Fr. Naumann, in: Die Zeit 1 (1896), Nr. 39 vom 14.11. 1896, 1. Der dort dokumentierte Brief Harnacks, in dem er einen Vortrag zu Naumanns Programmentwurf, den er als Gast der Berliner „Freunde der Hilfe“ gehalten hatte, zusammenfaßte, datiert vom 4.11.1896. 412 Zu der Diskussion um Naumanns Entwurf im Kreise der „Freunde der Hilfe“ sowie auf der Erfurter Gründungsversammlung vgl. Düding (Anm 249), 41–51, der auf Harnacks Votum nicht eingeht. 407
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ab, denn sie unterlaufe die reformatorische Scheidung von Weltlichem und Geistlichem, die ein „evangelisches Zentrum“ verbiete. Die geplante Vereinigung habe sich nationale und soziale Ziele gesetzt, die sie zu einer politischen Partei machten. „Also ist der Entschluß geboten, sich mit beiden Füßen auf den Boden zu stellen, der durch die sozialen, nationalen und politischen Bewegungen bezeichnet ist. Dann aber muß der Name ‚Christlich-Sozial‘ fallen; denn er wird immer das Mißverständnis erwecken, als sollten besondere christliche Zwecke neben denen der Wohlfahrt im weitesten und tiefsten Sinn des Wortes verfolgt werden.“ Harnack votierte deshalb mit Entschiedenheit für die Bezeichnung „National-Sozial“. Das Christliche solle zwar eine „bewegende Kraft“ des Vereins darstellen, doch dürfe es eben deshalb nicht im Namen des Vereins auftauchen, da diese universale Macht – sie sei in erster Linie „Kraft und Gesinnung“, die „Lebensluft […], die wir atmen, und zugleich die heilige Macht, die uns eine Verantwortung auferlegt“ – sonst neben partikulare Einzelinteressen gestellt werde. Auch von dem Zusatz „auf christlicher Grundlage“ riet Harnack ab, empfand er es doch „als eine Art von Anmaßung, wenn man im öffentlichen Leben als Parteibezeichnung das Christliche für sich in Anspruch nimmt.“ Statt dessen empfahl Harnack: „Weniger köstlichen Zierrat auf dem Schilde und mehr in der Gesinnung und in der That – das muß die Losung sein.“413 Sodann besprach Harnack den sechsten Punkt des Programmentwurfes, der das Verhältnis des Vereins zum Christentum behandelte. Harnacks Änderungsvorschläge liefen auf eine dogmatische Entschränkung der Formulierungen Naumanns hinaus und zielten auf eine Verbreiterung der konfessionellen Basis des Vereins. So schlug er vor, in dem Satz „Wir wollen mitarbeiten an der Stärkung der idealen Mächte, in deren Mittelpunkt uns die evangelische Wahrheit steht, und werden auch die bestehenden kirchlichen Gemeinschaften überall dort stützen und fördern, wo ihre Thätigkeit der sozialen Hebung des Volkes zu gute kommt und dem konfessionellen Frieden der Nation dient“, die Formulierung „evangelische Wahrheit“ durch „das Evangelium“ zu ersetzen. Naumanns zweiten Satz, der als Ziel des Vereins „die Belebung des evangelischen Glaubens im Sinne der Reformation“ nannte, strich er ganz. Damit votierte Harnack mit Nachdruck für eine konfessionelle Öffnung der neuen Partei: „Sie darf nun und nimmer die konfessionellen Schranken, die in unserer Nation zwischen den Volksgenossen gezogen sind, als Barrièren betrachten, über die hinweg es keine gemeinsamen idealen Kräfte und Ziele und kein gemeinsames Christentum giebt.“ Eine Belebung des christlichen Glaubens schließlich sei nicht Aufgabe einer Partei, der „jeder Deutsche willkommen sein“ muß, „der das Herz auf dem
413 Alle Zitate aus: Professor Harnack an Fr. Naumann, in: Die Zeit 1 (1896), Nr. 39 vom 4.11.1896, 1.
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rechten Fleck hat und dem Notleidenden zu Hilfe kommen will“, sondern der Kirchen.414 Harnacks Vorschlag ging zwar nicht direkt in die in Erfurt beschlossenen Grundlinien des Nationalsozialen Vereins ein, stellte aber doch eine wichtige Etappe der Diskussion um das Verhältnis von Christentum und Politik dar, indem Harnack wie Naumann und Sohm, aber auch die Kieler Delegierten Baumgarten und Titius auf eine deutliche Trennung beider Bereiche drängte.415 Titius schlug sogar die ersatzlose Streichung des ganzen Paragraphen vor.416 Naumanns schließlich akzeptierter Vorschlag „Im Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres Volkes steht nach unserer Überzeugung der Glaube an Jesus Christus, der nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit bewähren soll“417, nahm zwar Elemente der Vorschläge Harnacks auf, blieb aber mit der Betonung des Glaubens an Jesus Christus mehr der klassischen Dogmatik verhaftet als Harnacks „Evangelium.“ Dafür fehlte nun aber der Bezug auf die Kirchen als institutionalisierte Religion. Auch dies gehörte zum Kompromißcharakter der Formulierung, die die verschiedenen – auch theologischen – Positionen der Delegierten einander annähern sollte. Wie Harnack insistierte der Programmsatz auf der christlichen Gesinnung als prägender Grundlage des Vereins, ließ aber dennoch an der sachlichen Trennung von Politik und Religion keinen Zweifel aufkommen. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß der zunächst von Naumann vorgesehene Bezug auf die Reformation unterblieb, was insbesondere auf Kritik aus den Reihen der evangelischen Arbeitervereine und des Stuttgarter Pfarrers Gottfried Traub stieß, der sogar auf eine Verschärfung dieses Passus drang, hielt er doch „den Katholizismus für gefährlicher als die Sozialdemokratie.“418 Allerdings vollzog Harnack die Trennung von Christentum und Politik nicht in der Schärfe, die dann bald bei Naumann deutlich wurde. Das galt insbesondere für die Außenpolitik, die Naumann ganz an den Erfordernissen deutscher Weltmachtsinteressen ausrichten wollte, und läßt sich exemplarisch an der Diskussion um die deutsche Bündnispolitik gegenüber dem Osmanischen Reich verdeutlichen. Als Konstantinopel Mitte der 1890er Jahre mit brutalen Mitteln gegen die armenische Minderheit vorging, verteidigte Naumann das deutsche Bündnis mit Konstantinopel auch gegen massive Kritik aus den eigenen Reihen. Die Bündnispolitik mit der Türkei liege im Lebensinteresse Deutschlands, der Kampf für den Bestand des Deutschtums 414
AaO. Protokoll über die Vertreterversammlung aller National-Socialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896, Berlin 1897. 416 AaO., 46. 417 AaO., 39. 418 AaO., 47. 415
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aber stelle „ein Kapital von wahrhaft sittlicher Kraft“ dar, so Naumann 1899.419 Zwar sei auch die Solidarität mit einem bedrohten Volk eine ethische Verpflichtung, konzedierte Naumann seinen Kritikern, doch verblasse diese vor der ungleich höher zu gewichtenden „moralischen Verpflichtung für das eigene Volkswohl.“420 Mit Bezug auf Armenien konnte Naumann daraus folgern, daß „der ungeschwächte Bestand des Deutschtums in der Welt ungleich wichtiger ist als die gesamte armenische Frage.“421 Harnack hat dagegen verschiedentlich Solidarität mit den Armeniern bekundet und Naumanns um 1900 stark nationalistische und dezidiert antienglische Argumentation nicht übernommen.422 Das Christentum blieb doch insofern Bestandteil der politischen Argumentation Harnacks, indem es den allgemeinen Rahmen politischen Handelns vorgab, nicht als politisches Programm, wohl aber als ethischer Orientierungspunkt bei der Entscheidungsfindung des politisch Handelnden. Schon unmittelbar vor der Erfurter Gründungsversammlung hat Harnack sich demonstrativ mit Naumanns neuer Bewegung solidarisiert, dabei aber eine konkrete Bezugnahme auf einzelne politische Anliegen der Nationalsozialen vermieden und sein Bekenntnis ganz auf die Persönlichkeit Naumanns abgestellt und diese als Beweis der Lebensfähigkeit des Protestantismus in der Moderne ausgedeutet. Seine Bewegung sei ein Zeichen dafür, daß „auf positiver christlicher Grundlage freie und selbständige Persönlichkeiten ein großes Werk unternehmen.“ Naumann leiste mit seinem sozialen und politischen Engagement einen wesentlichen Beitrag zu einer Vertiefung des „Gewissens“ und damit der „christlichen Charakterbildung.“423 Auch wenn Harnack sich in der Frontstellung gegen einen sozialreaktionären Konservativismus mit Naumann einig wußte und das etwa in seiner Beteiligung an dem von Delbrück initiierten Wahlaufruf für einen linksliberalen Kandidaten im Wahlkreis Teltow-Charlottenburg 1898 auch offen zum Ausdruck brachte, gab es freilich einige wesentliche Differenzen. Skeptisch war Harnack zunächst gegenüber dem Anspruch der Nationalsozialen, die Sozialdemokratie als Partei überflüssig zu machen. „Das Liebäugeln mit der Sozialdemokratie, das schon jetzt hin und her wahrzunehmen ist, ist wahrlich nicht ungefährlich“, warnte Harnack – wohl besonders mit Blick auf Paul Göhre – 1894 auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt am Main.424 Nachdem es 1897 zum offenen Konflikt zwischen 419
Protokoll über die Verhandlungen des Nationalsozialen Vereins (4. Vertretertag) zu Göttingen vom 1.-4. Oktober 1899, Berlin 1899, 34. 420 Protokoll über die Verhandlungen des Nationalsozialen Vereins zu Darmstadt (3. Vertretertag) zu Darmstadt 1898 vom 25.-28. September 1898, Berlin 1898, 52. 421 Protokoll 1899 (Anm. 419), 33. 422 Vgl. dazu Kapitel IV.3.1. 423 RA 2, 129–157, 156. 424 RA 2, 74. Harnack fügte allerdings sogleich hinzu, daß damit keineswegs bestritten
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Nobbe und Göhre gekommen war, auf den noch einzugehen sein wird, stimmte Harnack sogar dem Unvereinbarkeitsbeschluß von Mitgliedschaft in der SPD und im ESK zu. 1901 ging Harnack so weit, vor einer Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie zu warnen, solange diese sich „als System des wohlverstandenen Egoismus und Materialismus“ und damit unwillkürlich als „Feind aller Güter, die wir hoch schätzen“, darstelle.425 Ein zweites Bedenken betraf die anvisierte Basis der neuen Partei. Hatte Harnack schon 1894 einen Vorbehalt gegenüber Tendenzen angemeldet, die die nichtproletarischen Schichten zu vernachlässigen drohten, so konkretisierte er seine Ausführungen auf der Leipziger Kongreßtagung von 1897 im Anschluß an Gustav Schmollers Vortrag „Was verstehen wir unter dem Mittelstande?“ Befriedigt konstatierte Harnack die optimistische Zukunftsprognose Schmollers und setzte auf eine Verbreiterung des Mittelstandes als Basis einer maßvollen Reformpolitik: „ Je breiter der Mittelstand ist, desto gesünder ist das Volksleben materiell und geistig.“426 Die daraus abgeleitete Folgerung, daß die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nicht verändert zu werden bräuchten, zeigte die gegenüber Naumann wesentlich engeren Grenzen der Reformbereitschaft, deren Ideal wiederum ganz dem Selbstverständnis seiner eigenen Gesellschaftsgruppe entnommen war.427 Ein weiterer Einwand Harnacks bezog sich auf Naumanns Analyse der Situation des Menschen in der modernen Gesellschaft und damit auch auf eine der theoretischen Grundlagen der Politik Naumanns, indem er entschieden die „darwinistische“ Weltsicht Naumanns ablehnte. Besonders eindringlich liegt dieser Einwand in Harnacks 1903 erschienener Rezension von Naumanns „Briefe über Religion“ vor.428 Bei aller persönlichen Zustimmung zu Naumanns Ausführungen über christliche Religion und Jesusfrömmigkeit, kritisierte er doch dessen Schilderung der Situation des modernen Menschen. Naumanns Antwort auf die Frage, wie man „als egoistischer Klassenkämpfer ein Christ sein kann“429, griff nach Harnack zu kurz. Wenn Naumann Geschichte und Gegenwart als bloßen Kampf ums Dasein, der mit egoistischen Mitteln geführt werde, beschreibe und behaupte, daß auch der Christ in diesen Kampf einzutreten gezwungen sei, verkenne er aufgrund seines falschen Obersatzes – die Behauptung vom Kampf ums Dasein als alles umschließende Grundsituation des Menschen – die Totalität der Wirklichkeit und erweise sich als durch „die sozialistische Geschichtsbewerde, daß die Geistlichen sich sozialpolitisch engagieren und für nationalökonomische Theorien interessieren sollten. 425 So Harnack in seinem anonym erschienen Artikel Landeskirche und sozialdemokratische Arbeiterschaft, in: ChW 15 (1901), 125–127. 426 VESK 8 (1897), 166. 427 Vgl. Hübinger (Anm. 9), 33. 428 RANF 2, 75–80. 429 AaO., 78.
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trachtung blind gemacht.“430 Harnack bestritt damit nicht, daß diese einen wichtigen Aspekt menschlicher Existenz zutreffend beschrieb, warf ihm aber Ignoranz gegenüber allen sittlichen Idealen vor, denen ein Eigenwert zukomme. „Der Kampf ums Dasein unter den Menschen der Gegenwart, ist kein Kampf von Tieren, mag er es auch einst gewesen sein. Alle Kräfte des Guten, alle Tugenden – Wahrheit, Liebe, Sozialgefühl und Selbstlosigkeit – sind Kräfte in diesem Kampfe, und es sind die stärksten Kräfte.“431 Nach Harnack lag das Problem an einer anderen Stelle, nämlich der Fortexistenz des Daseinskampfes samt seiner gnadenlosen und egoistischen Mittel und Interessen neben den sittlich-idealen Kräften und Tugenden. Harnack empfahl keine Lösung der Problems, hielt sie aber bei der von ihm skizzierten Problemstellung für wahrscheinlicher als bei Naumann.432 Hinzu kam der Unterschied zwischen Harnacks Gelehrtenpolitik, die auf Ausgleich von Interessengegensätzen über den Parteien setzte, und Naumanns bewußtem Engagement als Partei- und Berufspolitiker, der die Ausdifferenzierung des politischen Willens in unterschiedlichen Parteien ausdrücklich bejahte – das tat zwar auch Harnack, doch verband er das sofort mit dem Appell an die überparteilichen Gemeinsamkeiten – und der die Reformbereitschaft der von Harnack so geschätzten Bürokratie wesentlich skeptischer beurteilte.433 Insgesamt vermied Harnack allzu präzise programmatische Festlegungen. Naumanns Programmschrift „Demokratie und Kaisertum“ hat er mit keinem Wort kommentiert. Diese Bedenken haben Harnacks grundsätzlicher Sympathie für die Persönlichkeit Naumanns sowie für einen erheblichen Teil von dessen sozialpolitischen Überlegungen jedoch keinen Abbruch getan. Die Unterstützung für Naumann war trotz der Divergenzen in der Einschätzung der Sozialdemokratie, v. a. aber in der Verhältnisbestimmung von Christentum und Politik, mehr als der Ausdruck kulturprotestantischer „Binnenloyalitäten“434 und speiste sich schon Mitte der 1890er Jahre aus der Überzeugung, daß Naumann zumindest als Persönlichkeit, aber wohl auch mit seiner Programmatik, einen wesentlichen und unterstützenswerten Beitrag zur Profilierung und Krisenbewältigung des gegenwärtigen Protestantismus darstellte.
430 AaO., 79. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf die Auseinandersetzung des Studenten Harnack mit Darwin, die besonders durch von Baer angeregt worden war. 431 Ebd. 432 Eine systematisch-theologische Lösung dieses Problems dürfte Harnack in der „Ethik“ seines Freundes Wilhelm Herrmann erblickt haben. 433 Nowak: Wege (Anm. 137), 40f. 434 AaO., 34.
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4.4. Der Kongreß nach dem Ausscheiden Stoeckers Die Krise des Kongresses hielt auch nach der Sezession der Stoecker’schen Richtung an. Entscheidend dafür war nicht allein der Druck der Kirchenleitungen und die sozialpolitische Reaktion, sondern auch die enge personelle Verzahnung von Teilen des ESK mit Naumanns Nationalsozialem Verein. Hinzu kamen immer wieder auftretende organisatorische Schwächen des Kongresses sowie die nur geringe Bereitschaft selbst von Mitgliedern des Aktionskomitees, sich über die Jahrestagungen hinaus in der Kongreßarbeit zu engagieren. Nobbe klagte im Februar 1897 über die desolate Lage des Kongresses und äußerte Zweifel am Sinn weiterer Arbeit: „[…] und berufe ich […] an dem vorbestimmten Tage allmonatlich das hiesige Aktionskomitee, um mir das Herz zu erleichtern und mich des Zuspruchs gleichgesinnter Männer zu erfreuen, so darf ich sicher darauf rechnen, mich bis halb 10 Uhr mit den Herren Voelter u. Metzentin zu unterhalten, bevor dann meistens Prof. Wagner kommt, einige geistvolle Witze über meine ‚politischen Freunde‘, die Freikonservativen, macht und sein bekanntes Loblied auf die ‚Katholischen‘ anstimmt, die doch weit bessere Menschen seien als wir.“435 Nobbes Resümee war ernüchternd: „Kurz, die guten Tage des Kongresses wie des Aktionskomitees sind vorüber“, auch das zunächst so faszinierende am Kongreß, nämlich die Kooperation verschiedener kirchlicher Richtungen, sei langsam aber sicher dahin. Scharfe Kritik übte Nobbe an der Gruppe um Naumann und drohte mit der Niederlegung des Kongreßpräsidiums, sollte der Kongreß „in seiner Mehrheit unter der Fahne Naumanns“ stehen. Als Ausweg empfahl Nobbe entweder die Auflösung des Kongresses oder aber eine klare Abgrenzung von Naumann.436 Offensichtlich gelang es Harnack aber zunächst, Nobbe zum Abwarten der Leipziger Tagung 1897 zu bewegen und so eine Entscheidung über seine Vorschläge zu vertagen. Ein Entgegenkommen signalisierten freilich die eher allgemein ethisch, bzw. historisch-nationalökonomisch orientierten Themen des Leipziger Kongresses, die weitgehend den Vorschlägen Nobbes entsprachen, der sich davon eine „sachbezogene, klare u. unzweideutige Signatur“ des ESK versprach437, eben auch mit dem Ziel der Abgrenzung von Naumann. Doch ging Nobbe zumindest öffentlich noch nicht soweit, eine personelle Trennung des Kongresses von führenden Nationalsozialen wie Naumann und Göhre zu fordern. Ihre Kongreßmitgliedschaft hat er kurz vor der Tagung 1897 verteidigt, aber dabei seine große politische Distanz markiert.438 435
Nobbe an Harnack am 11.2.1897, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nobbe. Ebd. 437 Ebd. 438 Moritz August Nobbe: Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine Gegner, Göttingen 1897, 37–45. 436
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Inhaltlich war die Leipziger Kongreßtagung vom Juni 1897 mit Vorträgen Schmollers, des Nationalökonomen Carl Oldenberg sowie des Jenenser Theologen Hans Hinrich Wendt ein voller Erfolg. Mit Delbrück, Schmoller und Wagner traten zudem drei Redner bei den Hauptreferaten bzw. am Eröffnungsabend auf, die erst wenige Tage vorher von Stumm des demagogischen Sozialismus und der „Hetze gegen Kapital und Besitz“ bezichtigt worden waren.439 Auch auf der Begrüßungsversammlung gab man sich gerade angesichts der Schwierigkeiten mit staatlichen und kirchlichen Behörden – dem Kongreß war die Nutzung der Nikolaikirche für einen Gottesdienst untersagt worden – kämpferisch, bemühte sich aber zugleich, die Gleichsetzung des ESK mit dem NSV abzuweisen.440 Von Soden betonte das Recht zur Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen, stellte aber zugleich die monarchische Grundgesinnung heraus, Delbrück setzte den Materialismus von links mit dem von rechts gleich, machte aber ebenso auf die sozialversöhnende Intention des Kongresses aufmerksam.441 Stürmisch begrüßt wurde Adolph Wagner, dessen Konflikt mit Stumm 1895 sogar zu einer Duellaufforderung seitens des Saarbrücker Industriellen geführt hatte.442 Harnack bekräftigte: „Wir lassen nicht los von der Sache, wir bleiben sozial; wir lassen nicht los von dem Optimismus, daß wir fortschreiten müssen und können.“443 Naumann schließlich bestimmte den Zweck des Kongresses dahingehend, daß er sozialpolitisch gewonnene Einsichten „zu Willensakten verdichten“ sollte und bestimmte seine Funktion als Scharnier zwischen Wissenschaft und Politik. Der Kongreß erziehe Mitarbeiter für die praktische Politik, die die Arbeiterbewegung nicht missen könne.444 Konnte Naumann mit seiner Positionsbestimmung des Kongresses noch auf Zustimmung der Mehrheit der Teilnehmer rechnen, so dürfte die Bindung der Kongreßarbeit an die praktische Tätigkeit der Arbeiterbewegung, zu der Naumann auch die Nationalsozialen zählte, kaum auf allgemeine Zustimmung gestoßen sein, auch wenn die Differenzen am Begrüßungsabend selbst nicht offen hervortraten. An den beiden folgenden Verhandlungstagen war es jedoch ganz offensichtlich, daß die Nationalsozialen und ihre Sympathisanten die Diskussionen über die Referate weitgehend bestimmten. Naumann kritisierte das bürgerliche Eigentumsrecht, das „unter den heutigen veränderten Verhältnissen zu Unterdrückung führt und damit seine sittliche Berechtigung verliert“, Weber opponierte gegen die skeptische Beurteilung der Entwicklung 439
Vgl. Lindenlaub (Anm. 2), 66f. Die Reden sind nicht im Verhandlungsbericht abgedruckt, Kurzfassungen in: CCW 7 (1897), 210–212. 441 AaO., 211. 442 Lindenlaub (Anm. 2), 58f. 443 CCW 7 (1897), 212. 444 AaO., 211f. 440
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Deutschlands zum Industriestaat durch den Referenten Oldenberg, prangerte das Bündnis von Großgrundbesitz und Großindustrie an und forderte die Loslösung der Industrie vom feudalisierenden Einfluß der Agrarier.445 Nobbe sah sich durch den Verlauf der Leipziger Tagung in seiner Furcht vor einer Dominanz des Kongresses durch die Nationalsozialen bestätigt und forderte in einem Brief an Delbrück, den dieser umgehend an seinen Schwager Harnack weiterleitete, eine eindeutige Klärung des Verhältnisses zu den Nationalsozialen. Ansonsten drohe die Gefahr, daß der ESK nur noch als Bannerträger Naumanns und Göhres wahrgenommen werde. Ferner beeinträchtige deren weitere Mitarbeit auch Nobbes persönlichen Ruf. Angesichts dieser Situation empfahl er die Auflösung bzw. Überführung des Kongresses in den Verein für Socialpolitik.446 Nobbes Kritik verschärfte sich noch durch einen schweren sachlichen und persönlichen Konflikt mit Göhre, der in einem Bericht über seinen Besuch auf einem Gut im Oderbruch die Ausbeutung der Landarbeiter eindrucksvoll beschrieben und daraus die Forderung nach „wirtschaftliche[r] und politische[r] Vernichtung ihrer ‚Herren‘, dieses brutalen ostelbischen Herrschervolkes, das solche Zustände verschuldet und duldet“, gezogen hatte. Jeder Teilnehmer an diesem „Befreiungskampfe“ werde sich, so Göhre, „für Zeit und Ewigkeit einen Gotteslohn verdienen.“447 Nobbe reagierte mit einem scharfen Artikel in Delbrücks Jahrbüchern und bezichtigte Göhre, der immer noch dem Aktionskomitee angehörte, sozialistischer Demagogie auf niedrigstem Niveau und der völligen Diskreditierung der evangelisch-sozialen Bewegung.448 Nobbes Vorschlag – Trennung von den Nationalsozialen oder Überführung des ESK in den VfS – stieß aber auf den Widerstand Harnacks und von Sodens, die an der herkömmlichen Form des Kongresses festhalten wollten.449 Darauf reagierte Nobbe mit einer unverhohlenen Rücktrittsdrohung, sollte auf seine Vorschläge nicht eingegangen werden und bekräftigte seine Kritik an den Nationalsozialen, die „brutale Gewaltpolitik gegen landwirtschaftliche Verhältnisse empfehlen, von denen sie absolut nichts verstehen.“450 Nochmals votierte er für die Aufnahme von Verhandlungen mit Schmoller zwecks Überführung des ESK in den VfS. Offensichtlich gewann er vorübergehend in Delbrück einen Verbündeten, der sich mit Schmoller über die Modalitäten einer Fusion einigte und dies seinem Schwager Harnack brieflich mitteilte.451 Dies Vorhaben scheiterte vermutlich am Wider445
VESK 8 (1897), 64–104. Nobbe an Delbrück am 22.8.1897, in: Nl. Harnack, K. 38. 447 Paul Göhre: Ein Besuch auf einer Oderbruchdomäne, in: Die Wahrheit 8 (1897), 257–265, 265. 448 Moritz August Nobbe: Écrasez l’infame, in: PJ 89 (1897), 559–569. 449 Nobbe an Delbrück am 8.9.1897, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nobbe. 450 Ebd. 451 Delbrück an Harnack am 16.9.1898 (wohl richtig 1897), in: Nl. Harnack, Korr. 446
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stand Harnacks, der von Delbrück über jeden Schritt Nobbes durch Überlassung von dessen Briefen an Delbrück bestens unterrichtet worden war. Ganz offensichtlich bemühte Harnack sich um eine Mittellinie. Anders als Rade hielt er es für nötig, an Nobbe als Vorsitzendem festzuhalten, der doch die Gewähr bot, daß Konservative wie Theodor Kaftan oder Ernst von Dryander dem Kongreß erhalten blieben.452 Nobbe reagierte auf Harnacks Weigerung, der Auflösung zuzustimmen, mit verstärktem Druck auf Naumann und Göhre. Letzterer sollte möglichst ganz ausscheiden, ersterer öffentlich Abstand von den Äußerungen Göhres nehmen.453 Naumann lehnte es verständlicherweise ab, seinen Stellvertreter im Vorsitz des NSV öffentlich zu desavouieren und zeigte sich zutiefst enttäuscht von weiten Teilen des Kongresses, der doch „kein frei evangelisch Concilium mehr“ sei, und klagte Rade gegenüber: „Der evangelisch-soziale Kongreß ist doch wahrlich keine Schutztruppe für Großgrundbesitzer.“454 Nobbe legte dem Aktionskomitee eine Erklärung zum Verhältnis von ESK und NSV vor, deren Annahme er ebenso zur Bedingung für die Beibehaltung des Vorsitzes erklärte wie das Ausscheiden Göhres und Naumanns. Unmißverständlich erklärte er Delbrück, die Erklärung sei bewußt so formuliert, daß „die Austrittserklärung der nat.-sozialen Herren N. u. G. unvermeidlich sein [wird]; erfolgt sie nicht, so wird ein neuer Vorsitzender zu wählen sein.“455 Harnack, von Delbrück über Nobbes Vorhaben unterrichtet, scheint diese Resolution gemeinsam mit Nobbe noch einmal überarbeitet zu haben. Sie wurde am 15. Oktober im erweiterten Ausschuß, dem auch Naumann und Göhre angehörten, beraten. Harnack betonte ausdrücklich, die Erklärung solle sowohl dem Vorsitzenden als auch den Nationalsozialen den Verbleib im Kongreß ermöglichen.456 Im Wesentlichen formulierte sie Delbrück; Delbrück an Schmoller am 12.9.1897, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 189c: „Ich bin der Überzeugung, daß nach dem jüngsten Zusammenstoß zwischen Göhre und Nobbe der evangelisch-sociale Congreß nicht mehr haltbar ist. Sollte es nicht möglich sein, daß ein erheblicher Theil der Mitglieder in den Verein f. Soz. Politik überführt wird? […] Es ist nach beiden Seiten wichtig, sowohl dem evang. Soz. Congreß einen guten Abgang zu bereiten als den Verein f. Soz. Pol. zu verstärken. Nobbe schreibt mir, daß er auf jeden Fall den Vorsitz des ev. Soz. Congresses niederlege und das ist gleichbedeutend mit der Auflösung. Nennt man es nicht Auflösung, sondern Verschmelzung der beiden Vereine, so hat es ein ganz anderes Aussehen.“ 452 Zur Mitgliedschaft Kaftans und Dryanders vgl. Theodor Kaftan an seinen Bruder Julius am 29.9.1897: „Im Sommer sprach ich länger mit Dryander. Der sagte mir, er und ich wären die beiden einzigen preußischen Generalsuperintendenten, die noch zum Kongreß hielten. Ich habe ihm dann gesagt, solange ein Mann wie Nobbe an der Spitze stände, müßten wir festhalten“, in: Göbell (Anm. 359), 163. 453 Nobbe an Delbrück am 6.10.1897, in: Nl. Delbrück, Korr. Nobbe. 454 Naumann an Rade am 5.10.1897, in: BA Berlin, Nl. Naumann 126. 455 Nobbe an Delbrück am 6.10.1897, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nobbe; vgl. auch Heuß (Anm. 401), 180. 456 Vgl. den Bericht über die Ausschußsitzung in: MESK 6 (1897), Nr. 8, 2f., sowie den
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auf der Grundlage des Arbeitsprogramms von 1891 Wesen und Zielsetzung des Kongresses. Insbesondere gegen Göhre richtete sich die Feststellung, der Kongreß weise all die Tendenzen ab, „deren Vertreter den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß seines christlichen Charakters entkleiden und die Besserung der sozialen Zustände nicht auf dem gesetzlichen Boden geschichtlich-nationaler Entwicklung und monarchischer Staatsordnung erstreben wollen.“ Daraus wurde die Nichtvereinbarkeit von Kongreßzugehörigkeit, Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie oder der Verfolgung sozialrevolutionärer Bestrebungen gefolgert.457 Göhre erklärte daraufhin, wie von Nobbe erwartet, seinen Austritt, der angesichts des öffentlichen Wirbels um seine Positionen wohl kaum noch vermeidbar war, während Naumann nach längeren Debatten seine Zustimmung zur Resolution signalisierte, sollte diese erst nach vier Wochen veröffentlicht werden, wenn sich die öffentliche Erregung wieder gelegt hätte.458 Tatsächlich war die Resolution kein Ruhmesblatt für den Kongreß, stellte die darin formulierte Unvereinbarkeitserklärung doch eine Einschränkung der prinzipiellen Offenheit des Kongresses nach rechts und links dar, wie Rade zutreffend gegenüber Harnack bemerkte, der zudem persönliche Eitelkeit und Verletztheit als Motivation hinter Nobbes Vorgehen vermutete.459 Rade, der die Resolution nach wie vor als „greuliche Sache“ bezeichnete460, forderte von Harnack als Konsequenz aus den Vorgängen, nach einem Nachfolger für Nobbe Ausschau zu halten.461 Damit war aber genau der wunde Punkt des Kongresses angesprochen, denn die Mehrheit der Mitglieder des Aktionskomitees hielt Nobbe für unverzichtbar, gerade mit Blick auf die verbliebenen Konservativen. Die Übernahme der Kongreßführung durch Harnack oder Rade – er gehörte sogar dem Frankfurter Wahlverein der Nationalsozialen an462 – wäre öffentlich als Linksruck gewertet worden und hätte den Kongreß in noch schwierigeres Fahrwasser gebracht. Insofern hatte Harnack recht, wenn er mit Blick auf die Resolution von einer „Zwangslage“ sprach und beteuerte, Nobbe werde ein ähnliches „Experiment“ nicht noch einmal versuchen.463 Er bat Rade daher, in dem Kompromiß mit Nobbe vor allem einen Zeitgewinn für die weitere Existenz des kurzen Bericht von Julius Kaftan in einem Brief an seinen Bruder Theodor vom 17.10.1897, in: Göbell (Anm. 359), 167. 457 Die Resolution in: aaO., 1. Nobbes ursprünglicher Entwurf ist nicht auffindbar. 458 So Harnack an Rade am 16.10.1897, in: BwR 388f. 459 Vgl. Rade an Harnack am 1.1.1897, in: BwR 391. 460 Rade an Harnack am 25.10.1897, in: aaO., 389. 461 So in seinen Briefen an Harnack vom 16. und 25.10 sowie vom 1.11.1897, in: BwR 386–392. 462 Vgl. Anne Christine Nagel: Martin Rade – Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1996, 48. 463 Harnack an Rade am 27.10.1897, in: BwR 390.
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Kongresses zu sehen.464 Harnacks Taktik war dabei eindeutig. Er versuchte den Kongreß zwischen der drohenden Auflösung bzw. Überführung in den Vf S einerseits, sowie einer eindeutigen Identifizierung mit den Nationalsozialen andererseits auf einem mittleren Kurs zu halten. Er sollte wissenschaftlich-akademischer Sprechsaal bleiben, der auf breiter Basis über sozialpolitische Grundvorstellungen diskutierte und auch praktisch-politische Hilfestellung bot, aber ebenso die religiöse und kulturelle Dimension der sozialen Frage wach hielt und in diesem Sinn auf weitere Kreise wirkte. Für Naumann lag in einer solchen Kombination auch während der Konfrontation mit Nobbe im Oktober 1897 die Bedeutung des Kongresses. Deshalb war er im Streit um die Resolution kompromißbereit und wollte nicht durch Nobbes Ausgrenzungsversuch „den letzten Anhalt in christlich gebildeten Kreisen“ verlieren.465 Wissenschaftlichkeit und ethisch-religiöse Orientierung gehörten für Harnack aufs Engste zusammen und verboten somit ein Aufgehen des Kongresses im Verein für Socialpolitik. Sie standen aber auch einer erneuten Kooperation mit Stoecker entgegen, wie sie von Nobbe und Titius wenig später als Krisenlösung erwogen wurde. Harnack warnte davor, sich nach Stoecker als Helfer zurückzusehnen, „während ich u[nd] viele mit mir froh sind, diesen unlautren, fanatischen, im tiefsten reactionären und aller tieferen und feineren Empfindungen baren Mann los geworden zu sein.“466 Die Kritik vor allem von Seiten Rades an der Amtsführung Nobbes ist auch in der folgenden Zeit nicht verstummt. „Nobbes Nervosität verdirbt unsere besten Traditionen. […] Das ist nicht der Kongreß, den wir gegründet haben“, klagte Rade im Frühjahr 1898 und verband das mit Kritik am Stil der Gelehrtenpolitik der Berliner Kongreßmitglieder.467 Harnack hielt gleichwohl an Nobbe als Präsidenten mangels Alternative fest, freilich mit einer Äußerung, die Rades tiefer gehende Kritik am gelehrtenpolitischen Politikstil kaum befriedigt haben dürfte: „Wie vieles geschieht übrigens, was von den Außenstehenden nicht gewürdigt werden kann! Wir halten den Kurs, meine ich, so gut, als er unter diesem Präsidenten, den wir nicht entbehren können, gehalten werden kann.“468 Naumann hielt sich in den folgenden Jahren mit Auftritten auf dem Kongreß zurück, doch spielten Mitglieder des Nationalsozialen Vereins wie Arthur Titius aus Kiel und der Leipziger Theologe Caspar René Gregory – er war zeitweise zweiter Vorsitzender des Vereins – weiterhin eine führende Rolle. Harnack gelang es, Kritiker wie Rade weiter in die Kongreßarbeit 464
Rade erklärte sich mit dieser Einschätzung Harnacks am 1.11.1897 einverstanden, vgl. aaO., 391f. 465 Naumann an Rade am 5.10.1897, in: BA Berlin, Nl. Naumann 126. 466 Harnack an Rade am 23.1.1898, in: BwR 396f. 467 Rade an Harnack am 11.3.1898, in: aaO., 405f. 468 Harnack an Rade am 12.3.1898, in: aaO., 407.
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einzubinden. Dazu trug wohl auch bei, daß Harnack sich entschiedener als Nobbe zur religiösen und zur sozialpolitischen Bedeutung des Kongresses bekannte. Zu Beginn der in Berlin stattfindenden Kongreßtagung von 1898 verteidigte er in seiner Begrüßungsansprache die evangelisch-soziale Bewegung. Rade zeigte sich tief beeindruckt: Harnack habe „inmitten einer beifallslustigen Menge auf den letzten Ernst der Sache“ hingewiesen und so den Verhandlungen „unschätzbare Dienste geleistet.“469 Mit einem Anflug von verwegenem Optimismus bezeichnete der Berliner Theologe sie als eine „aufsteigende, unverwüstliche“ Kraft – die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Tagungsort sprachen allerdings eher gegen diese Einschätzung470 –, die nicht ein künstliches Produkt einiger Professoren sei, sondern vielmehr der „allgemeinen wirtschaftlichen, politischen, geistigen Lage des deutschen Volkes“ entspreche.471 Während der Tagung trat er der sozialkonservativen Lutherdeutung des Königsberger Privatdozenten für Kirchengeschichte, Friedrich Lezius, entgegen. Luther könne wegen seiner letztlich eschatologischen Weltbetrachtung nicht einfach auf die Gegenwart übertragen werden. Männer wie Denck oder Franck seien ihm in sozialen und freiheitlichen Ideen weit voraus gewesen.472
4.5. „Gebt uns einen neuen Tyrannen an Nobbes Statt“ 473 – Die Übernahme des Kongreßpräsidiums durch Harnack Gelöst war die Krise des Kongresses mit dem Versuch Harnacks, die verschiedenen Flügel auszubalancieren, allerdings noch nicht. Deutlich war ferner, daß die Kritiker Nobbes zwar zum Abwarten bereit waren, das Problem des Kongreßpräsidiums aber früher oder später wieder auf die Tagungsordnung gesetzt werden würde. Bereits die Teilnehmerzahlen an den Tagungen sprechen ein deutliche Sprache. Hatten 1897 noch etwa 650 Personen sich in die Teilnehmerliste der Leipziger Tagung eingeschrieben, so waren es ein Jahr später in Berlin nur noch 450.474 Die Kieler Tagung von 1899 war wegen eines äußerst rührigen Vorbereitungsausschusses unter Titius und Baumgarten und der Unterstützung durch die Kieler Kirchenbehörden unter dem Generalsuperintendenten Theodor Kaftan eine Ausnahme. Die Karlsruher Tagung 1900 fand noch etwas geringeren Anklang als die vorangegangen, aber immerhin trat Naumann nun erstmals wieder als Debattenredner auf. Mit etwa 200 469 Martin Rade: Vom Kieler Kongreß 3, in: ChW 13 (1899), 585; vgl. ferner Rade an Harnack am 6.7.1898, in: BwR 408f. 470 Vgl. Herz (Anm. 293), 38. 471 Vgl. CCW 8 (1898), 257. 472 VESK 9 (1898), 27–30. 473 So Rade in einem Brief an Harnack vom 18.3.1898, in: BwR 407f. 474 Zahlen bei Herz (Anm. 293), 37f.
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Teilnehmern erwies sich die Braunschweiger Tagung von 1901 als quantitativer Tiefpunkt. Schon auf der Sitzung des erweiterten Ausschusses vom 28. Mai 1901, die einen Tag vor Beginn der Tagung stattfand, stellte Nobbe die Frage nach der Zukunft des Kongresses.475 Dabei spielte er unverhohlen auf die weiter bestehende Kritik an seiner Person durch jene an, die den Kongreß „mehr als Avantgarde der auf gesetzlichem Boden stehenden sozialen Reform-Bewegung marschieren sehen“ wollten, und bot eine offene Diskussion auch über seine Person an, bezweifelte aber zugleich, daß eine „Überführung des Präsidiums auf eine Persönlichkeit seines linken Flügels“ einen dauerhaften Aufschwung bewirken könne.476 Zwar wurde in der anschließenden Diskussion die Notwendigkeit der Weiterarbeit herausgestellt, doch blieben erhebliche Zweifel an der Zukunft des Kongresses, die wiederum Nobbe artikulierte: „Ist bei uns noch ein großes gemeinsames Aufbauungsgebiet vorhanden? Bei allen ungeheuren Gegensätzen, politischen und sozialen? Haben wir noch Lebenskraft? Sind wir nicht altersschwach?“477 Sowohl sozialpolitisch als auch intellektuell war das Programm der Tagungen der Jahre zwischen 1897 und 1901 dabei durchaus anspruchsvoll. 1897 traten Gustav Schmoller478 und Max Weber auf. 1898 beschäftigte sich Rade in einem vielbeachteten, sozialempirisch innovativen Vortrag mit der „religiös-sittliche[n] Gedankenwelt unserer Industriearbeiter“479, der Nationalökonom Wilhelm Stieda referierte über Fragen der Arbeiterorganisation.480 1899 trat neben dem Philosophen Friedrich Paulsen, der sich mit den „Wandlungen des Bildungsideals in ihrem Zusammenhang mit der sozialen Entwickelung“ beschäftigte481, Julius Kaftan mit einem Vortrag über „das Verhältnis der lutherischen Kirche zur sozialen Frage“ auf482, während der Fabrikbesitzer Freese über das „konstitutionelle System im Fabrikbetriebe“ berichtete.483 Auf der Braunschweiger Tagung 1901 referierte mit dem ehemaligen preußischen Staatsminister von Berlepsch der Hauptprotagonist des „Neuen Kurses“ nach 1890, dem Delbrück als Korreferent sekundierte.484 Berlepsch zog in seinem begeistert aufgenommenen programmati475 Moritz August Nobbe: Die Frühjahrssitzung des weiteren Ausschusses, in: MESK 10 (1901), 34–36. 476 AaO., 34. 477 Protokoll der Sitzung vom 28.5.1901, in: Evangelische Versöhnungskirchengemeinde Leipzig, Archiv des Evangelisch-sozialen Kongresses (künftig: ESK-Archiv) A I 2 (unpag.). 478 Gustav Schmoller: Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im 19. Jahrhundert eher zu oder abgenommen, in: VESK 8 (1897), 132–161. 479 In: VESK 9 (1898), 66–130. 480 Wilhelm Stieda: Arbeiterorganisation, in: aaO., 30–46. 481 In: VESK 10 (1899), 95–111. 482 In: aaO., 12–32. 483 In: aaO., 56–84. 484 In: aaO., 92–116; Korreferat von Delbrück in: aaO., 116–122.
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schen Vortrag über „soziale Entwicklungen im ersten Jahrzehnt nach Aufhebung des Sozialistengesetzes“ eine insgesamt positive Bilanz der Entwicklung nach 1890 und stellte die Revisionismusdebatte sowie den zunehmenden Pragmatismus der Gewerkschaften als Erfolg der Reformpolitik dar, der durch neue Restriktionsmaßnahmen nicht gefährdet werden dürfe. Die Übersicht macht deutlich, daß neben sozialethischen und bildungspolitischen Fragen direkte nationalökonomische und sozialpolitische Themen weiter einen wichtigen Raum in den Verhandlungen einnahmen. Gerade daraus resultierte aber wohl auch die zunehmende Unattraktivität des Kongresses, denn spätestens seit 1897 nahm der „Sozialismus der Gebildeten“ spürbar ab, während weltpolitische Fragestellungen, insbesondere die Flottenagitation in den Mittelpunkt traten. Auch der Kongreß trug dieser Entwicklung auf der Karlsruher Tagung von 1900 insofern Rechnung, als er ein Referat von Karl Rathgen und Johannes Lepsius über die sittlichen und sozialen Aufgaben der Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht ansetzte.485 Mehr als bezeichnend war, daß dabei erstmals auch Naumann wieder auftrat und insbesondere mit Lepsius über die ethischen Grundlagen der Bündnispolitik gegenüber der Türkei hart aneinander geriet. Insgesamt fand diese Entwicklung aber keine größere Resonanz im Kongreß selbst, so daß er mit seinem Festhalten an Themen der Arbeitersozialpolitik außerhalb des kleiner werdenden Kreises sozialpolitisch interessierter Gebildeter als zunehmend überlebt erscheinen konnte.486 Anscheinend hat der Kongreß darauf aber immerhin insofern reagiert, daß seit 1898 neben den sozialpolitischen Themen nun vermehrt Fragen der Arbeiter- und Volksbildung diskutiert wurden. Ein deutlicher Hinweis darauf ist Harnacks Referat über „Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens“, das die alte Frontstellung Reform versus Reaktion zwar nicht ersetzte, aber doch durch den Gegensatz von Materialismus und einen die Individualität sicher stellenden Bildungsidealismus ergänzte.487 Nur wenige Wochen nach der Braunschweiger Tagung stellte Nobbe am 23. Juni 1901 auf einer Sitzung des Aktionskomitees erneut die Frage nach der Zukunft des Kongresses.488 Er konstatierte den Mißerfolg der Tagung und führte ihn neben dem Fehlen der Frauengruppe sowie der Arbeiterver485 Karl Rathgen: Welche sittlichen und sozialen Aufgaben stellt die Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht unserem Volke? in: VESK 11 (1900), 131–147; das Korreferat von Lepsius in: aaO., 147–158. 486 Solche Stimmen auch innerhalb des Kongresses werden belegt durch Nobbes erwähnte Rede vom Mai 1901. Viele sähen die eigentliche Arbeit des Kongresses, nämlich auf die soziale Gesinnung bei den gebildeten Protestanten hinzuwirken, als weitgehend erfüllt an, vgl. MESK 10 (1901), 34. 487 Harnacks Referat in: VESK 13 (1902), 12–29, sowie in: RA 2, 77–106. 488 Das Protokoll in: ESK-Archiv, A I 2 (unpag.). Dort die weiteren Zitate dieses Absatzes.
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eine auf „die Gleichgültigkeit der Freunde“ zurück und stellte die Frage „ob das Bestehenbleiben des Kongresses noch wünschenswert sei.“ Harnack betonte die weitere Notwendigkeit des Kongresses, „Auflösung dürfe erst beschlossen werden, wenn keine guten Vorträge mehr zu bekommen seien und wenn auch unter günstigen äußeren Verhältnissen der Besuch sich zu einem Mißerfolge gestalten sollte. In jedem Falle würde der Rücktritt des Vors. ein Unglück bedeuten. Kurz vor dem nächsten Kongreß müsse ein kräftiger Appell an die Mitglieder des weiteren Ausschusses gerichtet werden.“ Von Soden wandte sich gleichfalls gegen einen Rücktritt Nobbes oder die Auflösung. Man müsse die sieben mageren Jahre eben durchstehen, weiterhin auf den Zusammenhang von Evangelischem und Sozialem verweisen sowie auch nach rechts Brücken schlagen. Wagner machte das Ausscheiden Stoeckers als Hauptursache der Krise aus: „Der Kongreß sei gesunken, die kirchlich-soziale Konferenz gestiegen. Der Kongreß vertrete zu sehr eine Gruppe innerhalb der Kirche; rechts und links seien zahlreiche Elemente abgefallen […]. Die Gesammtauffassung müsse daher eher pessimistisch als optimistisch sein.“ Immerhin einigte man sich dann, wenigstens noch für das nächste Jahr unter dem Vorsitz Nobbes zu tagen, ohne über die weitere Zukunft ein Ergebnis zu erzielen. Dennoch erklärte Nobbe bei der folgenden Sitzung vom 28. November 1901 seinen Rücktritt.489 Er könne für den Kongreß nichts mehr tun, „da er das Gefühl habe, daß die Wärme, die Begeisterung für den Kongreß in starkem Abnehmen begriffen sei.“ Kaftan gelang es jedoch, Nobbe zu überreden, das Präsidium erst nach der Tagung 1902 niederzulegen, so daß Zeit für die Suche nach einem Nachfolger gewonnen wurde. Harnack schloß sich dieser Bitte an und formulierte zugleich zwei Anforderungen an einen möglichen Nachfolger, der in Berlin ansässig sein müsse, aber kein Theologe sein dürfe. Diese Kriterien entsprachen wohl zunächst praktischen Erwägungen, da sich die Geschäftsstelle des Kongresses in Berlin befand und dort auch die Mehrzahl der Mitglieder des Aktionskomitees lebte. Die Forderung nach einem Nichttheologen sollte die weitere Mitarbeit der Nationalökonomen sicher stellen. Zudem fürchtete Harnack vermutlich, daß die Übernahme des Präsidiums durch einen liberalen Theologen – etwa Titius, Baumgarten, Rade oder ihn selbst – die weitere Identifizierung von Kongreß und liberaler Theologie in der Öffentlichkeit befördern könnte. Auch war dann mit dem Ausscheiden der letzten orthodoxen Theologen wie Theodor Kaftan zu rechnen. Schließlich dürfte Harnack damit aber auch beabsichtigt haben, nicht selbst als Kandidat genannt zu werden, denn „ein Opfer sei es, wenn jemand das Präsidium habe“. Entschieden widersprach Harnack der Lageanalyse Nobbes. Er „sähe keinen Niedergang in dem Kongreß“. Auf Vor489
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schlag Harnacks wurde sodann beschlossen, die Wahl eines neuen Vorstandes auf Pfingsten 1902 zu vertagen. Schon vor der Essener Tagung von 1902 begann die Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Am 21. April beschloß das Aktionskomitee – anwesend waren u. a. Delbrück, Nobbe, Gregory, Wagner, Frau Schmoller und von Soden, Harnack hatte sich entschuldigen lassen – zunächst an den Rechtshistoriker Otto von Gierke, einem führenden Mitglied des Vf S, der aber auch dem Aktionskomitee angehörte, heranzutreten, sodann im Fall einer Absage an von Berlepsch.490 Beide Kandidaten sagten aber offensichtlich schon im Vorfeld der Tagung ab. Diese stand ganz unter dem Eindruck von Harnacks großer Rede über die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens.491 Harnack erwog offensichtlich zu diesem Zeitpunkt noch keine Kandidatur, und auch auf der Sitzung von Aktionskomitee und Ausschuß vom 21. Mai 1902 stand eine Kandidatur Harnacks nicht zur Debatte.492 Rade schlug zunächst die Auflösung des Kongresses vor und stieß damit auf einhellige Ablehnung, was vermutlich auch der Intention dieses Vorstoßes entsprach. Sodann wurde ein Ausschuß, bestehend aus Rade, Gierke und Harnack gebildet, der die Geschäfte zunächst kommissarisch führen und bis Oktober einen passenden Kandidaten für den Vorsitz ausfindig machen sollte. Nobbe wurde zum Ehrenpräsidenten des Kongresses gewählt. Nachdem im Juli 1902 der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Johannes Hieber eine Kandidatur abgelehnt hatte, traten Harnack und Rade an den Rheinländischen Theologen Albert Hackenberg heran.493 Zunächst Pfarrer in der Umgebung von Trier, gehörte Hackenberg seit 1898 für die Nationalliberalen dem Reichstag an. Neben dieser parteipolitischen Mittelstellung sprach für ihn auch seine Zugehörigkeit zur mittelparteilichen „Evangelischen Vereinigung.“ Damit gehörte er kirchenpolitisch weder der Orthodoxie noch dem Kreis um die „Christliche Welt“ an, war also der scheinbar ideale Kompromißkandidat, der allerdings das Manko aufwies, daß er „doch unsere Tradition gar nicht kenne“, wie Friedrich Naumann besorgt feststellte.494 Die „Lösung Hackenberg“ offenbarte, wie die Nachfolgediskussion insgesamt, wie dünn die Personaldecke des Kongresses inzwischen geworden war. Harnack klagte schon im Juni, er habe sich verschiedentlich unter Laien 490
Protokoll der Sitzung vom 21.4.1902 in: Archiv des ESK, A I 2. RA 2, 77–106. 492 Das Protokoll in: Archiv des ESK, A I 2. 493 Vgl. Hieber an Hermann von Soden am 23.7.1902, in: UB Marburg, Nl. Rade 136, sowie Harnack an Rade am 3.6.1902, Rade an Harnack am 4.6. und 19.7.1902, in: BwR 480f. 494 So Naumann auf der Sitzung des weiteren Ausschusses vom 13.10.1902, in: ESKArchiv A II 1 (unpag.). 491
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umgesehen, bis auf Hackenberg aber „nichts gefunden.“495 Anfang September erwog Harnack erstmals in einem Brief an Rade die eigene Kandidatur, falls Hackenberg ablehnen sollte. Allerdings machte er die volle Unterstützung des Aktionskomitees und des Ausschusses zur Bedingung, die er nicht erwartete. „Als Lückenbüßer d. h. ohne das volle Vertrauen und die sichere Zuversicht der Nächstbetheiligten die Leitung zu übernehmen, kann mir Niemand zumuthen u[nd] darf ich gar nicht wagen.“ Nach Harnack bestand dann nur noch die Möglichkeit der Wahl Rades oder von Sodens.496 Rade gelang es daraufhin, Harnack endgültig für eine Kandidatur zu gewinnen, indem er das Weiterbestehen des Kongresses an Harnacks Bereitschaft zur Übernahme des Präsidiums knüpfte.497 Als am 13. Oktober in Berlin Aktionskomitee und weiterer Ausschuß zur Wahl eines neuen Vorsitzenden schritten, war eine Antwort Hackenbergs noch nicht eingegangen.498 Harnack konnte lediglich einen Brief verlesen, in dem dieser sich wegen „schwerer Bedenken“ noch weitere Zeit für eine endgültige Entscheidung erbat. Die folgende Diskussion ergab zunächst ein zwiespältiges Bild. Nobbe etwa machte Bedenken gegen Hackenbergs politische Verbindungen geltend, in die der Kongreß nicht hineingezogen werden dürfe, schloß sich aber auch Gierke und Baumgarten an, die sich gegen die Wahl eines Theologen aussprachen. Nachdem Harnack sich nochmals für diesen Kandidaten stark gemacht hatte, schlug Delbrück die Wahl Hakkenbergs erneut vor, der nun mit dreizehn gegen drei Stimmen gewählt wurde. Auf Anregung Naumanns diskutierte die Versammlung sodann das Vorgehen für den Fall der Absage Hackenbergs. Delbrück sprach sich entschieden gegen den Vorschlag Gierkes aus, dann die weitere Führung des Kongresses einem Triumvirat unter dem Vorsitz Harnacks zu überlassen, da „dann der Zustand der Ungewißheit künstlich verlängert u. unsre Aktionskraft wesentlich beeinträchtigt werden müßte. Die Außenstehenden würden darin ein Zeichen von Schwäche erblicken“. Wagner, der schon in der vorangegangenen Diskussion „das Hineinschwenken des Kongresses in das modern-theologische Lager“ beklagt hatte, warnte vor einer exponierten Stellung Harnacks und drohte mit seinem Austritt: „Er fürchtet theologischkirchliche Parteiungen, für den Liberalismus vermag er sich nicht einzusetzen.“ Schließlich riet Baumgarten zu „einem kühnen, aber unbedingt gebo495
Harnack an Rade am 3.6.1902, in: BwR 480. Harnack an Rade am 8.9.1902, in: BwR 482–484, 483. 497 Ein entsprechender Brief Rades ist nicht erhalten, muß aber vorausgesetzt werden, da Harnack in einer Karte an Rade vom 10.9.1902 dessen Ausführungen „im negativen Theil, hoffentlich auch im positiven“ Recht gab und erklärte: „an mir soll’s nicht fehlen“ (in: BwR 484). Daß Rade für den Fall der Ablehnung Harnacks die Auflösung des ESK erwog, belegt ein Brief vom 10.2.1904 an Delbrück, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Rade. 498 Protokoll in: ESK-Archiv, A I 2. 496
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tenen Entschlusse“, nämlich Harnack schon jetzt zu wählen, falls Hackenberg ablehnen sollte. Dieser Vorschlag fand die Unterstützung Naumanns, Gierkes und von Sodens. Die folgende Abstimmung signalisierte mit der Wahl Harnacks bei nur drei Gegenstimmen, darunter Delbrück499 und Wagner, eine breite Unterstützung für den Theologen, der die Wahl annahm, weil er – wie das Protokoll vermerkt – „sich seiner Pflicht nicht entziehen will, so groß auch seine Bedenken sind.“ Nur drei Tage später erreichte Harnack die definitive Absage Hackenbergs.500 Als unmittelbare Folge der Wahl Harnacks verließ mit Theodor Kaftan einer der letzten positiven Theologen den Kongreß, der endgültig „in das Licht einer theologisch kirchlichen Partei“ getreten sei.501 Adolph Wagner verblieb weiterhin im Kongreß, nachdem Hermann von Soden ihm bereits unmittelbar nach der Wahl Harnacks für „seine bewährte Tätigkeit als Steuermann“ gedankt und um seine weitere Mitarbeit gebeten hatte.502 Tatsächlich stellte die Wahl Harnacks eine Zäsur dar, stand dem ESK damit doch nun der zweifellos bekannteste und umstrittenste Repräsentant des theologischen Liberalismus vor. Allein dieser Umstand bedeutete einen endgültigen Abschied von dem seit 1890 immer wieder beschworenen „ökumenischen Charakter“ des Kongresses, der allerdings seit dem Ausscheiden Stoeckers immer mehr zurückgegangen war, auch wenn Nobbe und Harnack sich darum bemüht hatten, wenigstens Teile der kirchlichen Rechten zu halten, was angesichts der Aktivitäten der Kirchlich-sozialen Konferenz und der restriktiven Politik der Kirchenleitungen gegenüber einem sozialpolitischem Engagement der Geistlichen immer schwieriger geworden war. So sah sich der theologische Kern des Kongresses zusehends reduziert auf den Kreis der Liberalprotestanten um die „Christliche Welt“, was schließlich auch in der Wahl des neuen Vorsitzenden zum Ausdruck kam. Von diesem Kreis hing eine Fortexistenz des Kongresses unter der Voraussetzung ab, daß er ein evangelisches Profil gewann, das ihn deutlich von den Kirchlich-sozialen unterschied und ihn – bei enger Kooperation – neben den nichtkonfessionellen Organisationen der bürgerlichen Sozialreformer als notwendig erscheinen ließ. Harnack betonte daher in einem programmatischen Artikel, mit dem er die Übernahme des Präsidiums bekanntgab, den Wert der Bezeichnung „evangelisch“ im Namen des Kongresses und konkretisierte das an der Aufgabenbeschreibung des Kongresses, „Christenthum und soziale Ethik in die rechte Verbindung zu setzen.“ Der Kongreß sollte seine Zu499 Delbrück fürchtete offensichtlich eine Arbeitsüberlastung Harnacks, vgl. dazu den rückblickenden Brief Rades an Delbrück vom 10.2.1904, in: Nl. Delbrück, Korr. Rade. Möglicherweise hielt Delbrück darüber hinaus wie schon 1897 ein Aufgehen des ESK in den VfS für die beste Krisenlösung. 500 Hackenberg an Harnack am 16.10.1902, in: Nl. Harnack, K. 32, Korr. Hackenberg. 501 Theodor Kaftan an Julius Kaftan am 31.10.1902, in: Göbell (Anm. 359), 268. 502 Protokoll der Sitzung vom 13.10.1902, in: ESK-Archiv, A I 2.
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kunft mehr als bisher in sozialethischen und sozialpolitischen Grundsatzdiskussionen von Theologen, Nationalökonomen und Vertretern anderer Wissenschaften suchen, um im Sinne sozialen Fortschritts auf „Regierung und öffentliche Meinung einzuwirken.“503 Harnacks Programmatik spiegelte dabei die seit dem Ausscheiden Stoeckers immer größer gewordene Rolle des akademisch-bildungsbürgerlichen Elements im ESK wider. Für die wissenschaftliche Interdisziplinarität des Kongresses stand kaum jemand besser als Harnack. Nobbe faßte daher zutreffend die Motivation der Wahl des umstrittenen Theologen zusammen: „Harnacks Name ist ein Programm – das Programm eines freien, wissenschaftlich unabhängigen und religiös wie sozial bedeutsam veranlagten Mannes! Einen solchen Vorsitzenden aber braucht der Kongreß, und darum glauben wir, daß der Ausschuß den rechten Mann an den rechten Platz gesetzt hat.“504 Naumann sah den Kongreß mit der Wahl Harnacks als „neu gesichert“ an. Die Wahl „des ersten wissenschaftlichen Vertreters des deutschen Protestantismus […] ist eine gute Vorbedingung für die Beziehungen zwischen dem Protestantismus und den sozialen Beziehungen an sich.“505 Rade gab seiner optimistischen Einschätzung der Zukunft Ausdruck: „Wir sind der guten Zuversicht, daß diese Tagung der Beginn sein wird einer zweiten, der ersten nicht unwürdigen Blütezeit für den Evangelisch-sozialen Kongreß.“506
503 504 505 506
MESK 12 (1903), 1. Moritz August Nobbe: Die Neuwahl des Präsidenten, in: MESK 11 (1902), 65f. Friedrich Naumann: Harnack, in: Die Zeit 2 (1902), 134–136, 134f. Martin Rade: Vom Evangelisch-sozialen Kongreß, in: ChW 16 (1902), 1076.
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IV. Zwischen Kaiser und Kanzler: Harnack als führender Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg 1. Vom Großbetrieb der Wissenschaft: Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik von 1900 bis 1914 1.1. Harnack und Wilhelm II. „Hier gilt nur ein Ansehen der Bücher, kein Ansehen der Person – meinte gestern der Generaldirektor der königl. Bibliothek, der nun v. Harnack heißt. Doch in der Mittagsstunde, da traten die Bücherschätze des gewaltigen Kuppelsaales der Königlichen Bibliothek weit gegen die Pracht, die sich in ihm entfaltete, zurück. Lange vor dem Beginn der eigentlichen Feier hatten sich in dem stolzen Bau, vor dem die Preußenfahne wehte, die Gäste in großer Zahl zusammengefunden. […] Das gesamte Staatsministerium, an seiner Spitze der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg in Dragoneruniform, sämtliche Botschafter mit Ausnahme des englischen, die Gesandten der deutschen Bundesstaaten am preußischen Hof, zahlreiche Bevollmächtigte zum Bundesrat hatten sich eingefunden. Das Reichstagspräsidium ist vertreten, ferner der Präsident des Abgeordnetenhauses Graf Schwerin v. Löwitz, den nicht wenige zum ersten Male in der Kürrasier-Uniform schauen, der Präsident des Herrenhauses. Neben den höchsten Staatsbeamten die hervorragendsten Leuchten der Wissenschaft. […] Von den ordentlichen Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften fehlt keines […]; neben dem Glanz der Uniformen die Pracht der goldgestickten Galakleider der Staatsbeamten, die mit dem Orangekragen gezierten, faltigen Mäntel der Senatoren der KaiserWilhelm-Gesellschaft. Hier eine seltene Verbindung zwischen Geistes- und Finanzaristokratie: neben dem Gesandten Dr. Krupp v. Bohlen-Halbach, Generalkonsul Franz v. Mendelssohn, Geheimer Regierungsrat Dr. v. Boettinger, der hochherzige Testamentvollstrecker Althoffs, Geh. Kommerzienrat Arnhold, der Chemiker Emil Fischer. Neben dem Oberpräsidenten von Brandenburg sieht man den Oberbürgermeister Wermuth, Bürgermeister Dr. Reicke, Polizeipräsidenten Dr. v. Jagow.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Kurz nach 11 1/2 Uhr ertönen Trommelwirbel, Fanfarenklänge folgen, und drinnen im Saal oben auf der Estrade nimmt der in mittelalterliche Tracht gekleidete Bläserchor die kurze Melodie auf. Dreimal ertönen draußen die Fanfaren, dreimal antworten die Bläser im Saal, feierliche Stille ringsum. Der Kaiser nimmt in der Vorhalle, nachdem der Kultusminister die Urkunde verlesen hat, die Schlußsteinlegung vor. […] Ein dreifaches Kaiserhoch von den Chargierten der Studenten-Korporationen schließt die Vorfeier. Unter Vorantritt des Kultusministers, des Generaldirektors und der vier ständigen Sekretare der Akademie der Wissenschaften – der schlichte Frack mit der goldenen Amtskette steht in merklichem Gegensatz zu den zahlreichen goldgestickten Galakleidern – betritt der Kaiser, der die hier zu Gast weilende Prinzessin Ferdinand von Rumänien am Arme führt, vorbei an den Ehrenwachen der Gardes du Corps, den großen Kuppelsaal, den künftigen Lesesaal der Bibliothek. Es folgen der Prinz von Rumänien und die Kronprinzessin; ferner der Kronprinz, Prinz und Prinzessin August Wilhelm, Prinz Oskar sowie die drei Chefs der Kabinette des Kaisers. Ein kurzer Chorgesang des Domchors – der Kaiser erhebt sich.“1 Die Einweihung des Neubaus der Königlichen Bibliothek Unter den Linden am 22. März 1914 war eine der letzten großen Selbstinszenierungen des wilhelminischen Kaiserreichs kurz vor Ausbruch des Weltkrieges. Harnack spielte als Generaldirektor der Bibliothek seit 1905 in dieser Feierlichkeit, wie der zitierte Bericht aus der „Vossischen Zeitung“ belegt, eine zentrale Rolle, die durch die am gleichen Tage erfolgte Verleihung des erblichen Adelstitels an Harnack honoriert und ausdrücklich unterstrichen wurde. Sieht man vom Kaiser ab, über dessen Rede der Korrespondent der „Vossischen Zeitung“ im Folgenden berichtete und die mit ihrer Beschwörung der „erhabenen Geister eines Leibniz, der Brüder Humboldt, eines Helmholtz, eines Mommsen“ unverkennbar einem Duktus folgte, der von Harnack herrührte2, dann stand Harnack ohne Zweifel im Mittelpunkt der Feierlichkeiten. Seine Festrede bot einen historischen Rückblick zur Bibliotheksgeschichte, den sie mit einer ausdrücklichen Hervorhebung der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft und Bildung verband und dabei ihre stete Förderung durch die Hohenzollerndynastie unterstrich.3 Daß Harnack den richtigen Ton traf, belegt der Zeitungsbericht: „Wiederholt riefen Harnacks feingeistige Ausführungen, aus denen mitunter ein schalkhafter Humor hervorblitzte, beim Kaiser und der übrigen Hörerschaft ein stilles Lächeln hervor, so, wenn er von den seltsamen Gebühren der 1 Die Einweihung der Königlichen Bibliothek, in: VZ Nr. 149 vom 23.3.1914. Presseberichte und sonstiges Material finden sich auch in: Nl. Harnack, K. 25, Mappe „Einweihung der Köngl. Bibliothek.“ 2 Ebd. Die Urheberschaft der Ansprache läßt sich nicht eindeutig klären, ist aber höchstwahrscheinlich auf Harnack zurückzuführen. 3 RANF 3, 263–276.
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Bibliothek oder vom Soldatenkönig, gegen den man nicht laut zu widersprechen wagte, oder von den Forderungen beim Etat, die beim dritten Male wenigstens durchgesetzt werden, sprach.“4 Die Bibliothekseinweihung belegt die herausgehobene Stellung, die Harnack im Frühjahr 1914 nicht nur als Universitätslehrer, sondern als Wissenschaftsorganisator in seinen Funktionen als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek und Präsident der 1911 ins Leben gerufenen Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften sowie als wissenschaftspolitischer Berater des Kaisers einnahm. Sucht man nach den Gründen für diese Position, dann bietet es sich an – neben Hinweisen auf Harnacks bedeutende Forscherleistungen sowie sein seit Ende der 1870er Jahre immer wieder unter Beweis gestelltes organisatorisches Talent und die in den 1890er Jahren erworbene Schlüsselstellung im „System Althoff “ –, auf das Jahr 1900 zurückzugehen, das aus drei Gründen für Harnacks Biographie von außerordentlicher Bedeutung ist. Zunächst sind die im Juli 1900 erschienenen Vorlesungen vom Wintersemester 1899/1900 über „das Wesen des Christentums“ zu nennen5, die weit über die protestantischen Teilmilieus hinaus Resonanz fanden. Die Wesensschrift stellt mit Blick auf Harnacks Versuche einer historisch begründeten Plausibilisierung des Christentums unter den Bedingungen der Moderne zweifellos sein wichtigstes Werk dar.6 An ein breites Publikum adressiert, enthält das Buch zwei Hauptteile. Im ersten Teil „Das Evangelium“ wird zunächst die Verkündigung Jesu in ihren Grundzügen – sie besteht nach Harnack in den Komplexen der Predigt Jesu vom Reich Gottes, der Botschaft von Gott als dem Vater und dem unendlichen Wert der Menschenseele und schließlich der besseren Gerechtigkeit und dem Gebot der Liebe – herausgearbeitet, um sodann die „Hauptbeziehungen“ dieses Evangeliums aufzuzeigen. Dabei wird zunächst grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis des 4
Ebd. Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900. Eine Neuausgabe hat Trutz Rendtorff besorgt (Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999), allerdings ist eine kritische Ausgabe ein dringendes Desiderat. Aus der umfangreichen Literatur sei nur genannt Thomas Hübner: Adolf von Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfragen als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte, Frankfurt/Main u.a. 1990, und Uwe RieskeBraun: Vom Wesen des Christentums und seiner Geschichte. Eine Erinnerung an Adolf von Harnacks Vorlesung (1899/1900), in: ThLZ 125 (2000), 471–488. Eine stringente Interpretation, die zugleich Harnacks impliziter Historik wie seiner weithin unterschätzten systematisch-theologischen Reflexionskraft gerecht wird, liegt jetzt vor bei ClausDieter Osthövener: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296– 331. 6 Vgl. zur Problemgeschichte der Wesensbestimmung Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. 5
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Evangeliums zur Welt behandelt. Daran schließen sich Erwägungen zur sozialen Frage, zur Frage der irdischen Ordnungen und zur Kultur an. Schließlich wird nach dem Verhältnis des Evangeliums zur Christologie sowie zu den Bekenntnissen gefragt. Im zweiten Hauptteil wird der Entwicklung des Evangeliums im Gang der Geschichte nachgegangen. Wie schon im ersten Teil werden hier die wesentlichen Erscheinungen zu „Typen“ verdichtet. Die Darstellung geht mithin in eine Wesensbestimmung von griechischem Katholizismus, römischem Katholizismus und schließlich Protestantismus über. Harnack ist wiederholt – erstmals von Ernst Troeltsch7 – der Vorwurf gemacht worden, letztlich methodisch unreflektiert zu verfahren, wenn er das erst historisch zu eruierende „Evangelium im Evangelium“ zum Maßstab der Wesensbestimmung erhebe. Gleichwohl ist festzuhalten, daß Harnack durchaus um die Relativität der eigenen Geschichtsbetrachtung weiß. So formuliert Harnack zwar zunächst: „Die Geschichte kann nur zeigen, wie es gewesen ist, und auch, wo wir das Geschehene durchleuchten, zusammenfassen und beurteilen, dürfen wir uns nicht anmaßen, absolute Werturteile als Ergebnisse einer rein geschichtlichen Betrachtung abstrahieren zu können.“8 Neben das Rankesche Motiv des Feststellens, „wie es eigentlich gewesen“, treten mithin die Operationen des Durchleuchtens, Zusammenfassens und Beurteilens als weiterer Aufgaben des Historikers, denn „als Archäologie ist alle Geschichte stumm.“9 Daten und Fakten müssen nicht allein festgestellt und geordnet, sondern bewertet werden. Dabei sind Werturteile nicht zu vermeiden, aber es ist zu verhindern, daß sie als absolute Werturteile zum alleinigen Maßstab der Historiographie werden.10 Mit 7 Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: ders.: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, 386–451. Allerdings weiß auch Troeltsch um die reflektierten Momente des Entwurfs Harnacks, wobei v. a. an dessen empirisch-induktive Methode zu denken ist, die auch nach Troeltsch für jede Wesensbestimmung unabdingbar ist. Die Wesensbestimmung muß dann aber notwendigerweise die empirisch-induktive Methode überschreiten und führt auf elementare geschichtsphilosophische Fragestellungen (aaO., 398). Troeltsch beschränkt sich denn auch ausdrücklich auf diese geschichtsphilosophisch-methodischen Voraussetzungen der Wesensbestimmung und erklärt ausdrücklich, sich von materialen Fragen fernzuhalten (390). Material läßt sich vielmehr eine Sympathie für Harnacks Entwurf feststellen (vgl. unten Anm. 16). 8 WdC 64. 9 WdC 41. 10 Neben dieser grundsätzlichen Einsicht Harnacks wäre auf weitere Theorieaspekte einzugehen. Dazu hier nur skizzenhaft folgendes: Erstens wird von Harnack am Beispiel der Person Jesu das grundsätzliche Problem des Verhältnisses von Ereignis und Wirkungsgeschichte angesprochen. Historisches Interesse ist Harnack zufolge nicht nur auf einzelne Aussagen und Handlungen einer Person aus, sondern fragt zugleich nach Ganzheit und Einheit einer historischen Persönlichkeit. Diese ist aber nicht ohne die Wirkungen der Person auf andere zu erkennen. Die Bedeutung
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Blick auf die an die Materialsichtung anschließende Wesensbestimmung läßt sich ein methodischer Dreierschritt feststellen. Der erste Schritt ist der des einer geschichtlichen Person hängt von ihrer Anerkennung durch andere ab. Diese Bedeutung ist mithin bereits Reflex der Wirkung einer Person, vgl. WdC 59: „ Ja, man darf sagen, je gewaltiger eine Persönlichkeit ist und je mehr sie in das innere Leben anderer eingreift, um so weniger läßt sich die Totalität ihres Wesens nur an ihren eigenen Worten und Taten erkennen. Man muß den Reflex und die Wirkung ins Auge fassen, die sie in denen gefunden hat, deren Führer und Herr sie geworden ist.“ Harnack weitet diese These auf die weitere Verlaufsgeschichte des Christentums mit aus. Denn dieses entfaltet seine Kräfte nicht auf einmal, sondern „fort und fort“ (ebd.), enthält im Ursprungsstadium mithin wesentliche Elemente erst im Modus der Potentialität: „Wir dürfen hinzufügen, daß Christus selbst und die Apostel davon überzeugt waren, daß die Religion, die hier gepflanzt war, in Zukunft noch Größeres erleben und Tieferes schauen werde als in der Zeit ihrer Stiftung: sie vertrauten dem Geiste, daß er von einer Klarheit zur anderen führen und höhere Kräfte entwickeln werde“ (59f.). Nicht allein die Anfänge, sondern der Entfaltungsreichtum der Folgezeit stellen die Norm einer Erscheinung dar. Zweitens ist bedeutsam, daß nach Harnack die Wesensbestimmung aneignendes Verstehen ist: „Was wir sind und haben – im höheren Sinn – , haben wir aus der Geschichte und an der Geschichte, freilich nur an dem, was eine Folge in ihr gehabt hat und bis heute nachwirkt. Davon aber eine reine Erkenntnis zu gewinnen, ist nicht nur Sache und Aufgabe des Historikers, sondern eines jeden, der den Reichtum und die Kräfte des Gewonnenen selbständig in sich aufnehmen will.“ Die „reine Erkenntnis“ als Erkenntnis des Bleibenden und Nachwirkenden ist bezogen auf die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, von „Kern und Schale.“ Als Wesen einer Erscheinung wird „das immer gültige in geschichtlich wechselnden Formen“ angegeben. Gültigkeit kann nun entweder ontologisch als essentia einer Sache oder aber temporal als das in einem historischen Prozeß Bleibende und sich Durchhaltende verstanden werden. Harnack hat sicher beide Dimensionen im Blick, faßt aber die ontologische Dimension nicht substantialistisch – wie die Kern/Schale-Metapher nahe legt – sondern werttheoretisch. „Höchste Aufgabe des Historikers“ ist es, das „Wertvolle und Bleibende festzustellen“ (61). Historisches Verstehen ist konstitutiv auf das Wesentliche einer Erscheinung bezogen. Dieses Wesentliche ist dabei dann genau dasjenige, das sich als treibendes Prinzip einer geschichtlichen Entwicklung bis auf die Gegenwart durchgehalten hat. Erkenntnis des Wesentlichen in der Geschichte ist Erkenntnis dessen, was uns als wertvoll aufgegangen ist. Das „Wesentliche“ und das „wahrhaft Wertvolle“ sind Wechselbegriffe (59). Drittens ist auf die Aufnahme lebensphilosophischer Elemente in die Geschichtsbetrachtung zu verweisen. Sie manifestiert sich am Begriff der Kraft, der für die Selbstevidenz der Bedeutsamkeit historisch relevanter Phänomene zum Stehen kommt: „Wir verstärken ihn [den Maßstab für das „Wesentliche und wahrhaft Wertvolle“, CN] – aber wir brauchen ihn nicht erst der Geschichte der Folgezeit zu entnehmen. Die Sache selbst giebt ihn an die Hand. Wir werden sehen, daß das Evangelium im Evangelium etwas so einfaches und kraftvoll zu uns sprechendes ist, daß man es nicht leicht verfehlen kann. […]. Wer einen frischen Blick für das Lebendige und wahre Empfindung für das wirklich Große besitzt, der muß es sehen und von den zeitgeschichtlichen Hüllen unterscheiden können“ (62). Der „frische Blick“ ist dabei nicht Ausdruck positivistischer Naivität, sondern bezieht sich auf die Urteilskraft des Historikers und bleibt an das zu untersuchende historische Phänomen gebunden. Harnack dürfte sich hier in der Tradition der Hermeneutik Diltheys („Einfühlungsvermögen“) und Schleiermachers („Divination“ als Begriff für die methodisch nicht einholbare Genialität) bewegen. Sein Verfahren einer „Intuition am historischen Phänomen“ trägt damit einer grundsätzlichen geschichtsmethodologischen Einsicht Rechnung, die Harnack am Beispiel der spekulativen Historiographie ver-
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gegenseitigen Vergleichs des Evangeliums und seiner Folgegeschichte.11 Aus ihm folgt als zweiter Schritt das „gesunde, am geschichtlichen Studium gereifte Urteil“12 auf der Basis des angestellten Vergleichs und schließlich drittens die Analyse allgemeiner Typen innerhalb eines geschichtlichen Zusammenhangs.13 Vergleichen, Urteilen und Typologisieren sind mithin die geschichtshermeneutischen Methodenschritte der Wesensbestimmung. Nur mit einigen Schlaglichtern ist auf die Rezeption der Wesensschrift einzugehen. Gustav Schmoller etwa sprach nach der Lektüre von einer „Offenbarung des historischen Christus, wie er allein für den Gebildeten und Gelehrten unserer Tage möglich ist.“14 Hans Delbrück wollte dieses Werk zusammen mit Schmollers „Grundriß der Volkswirtschaftslehre“ als eine Art Kompendium der Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts verstanden wissen. „Denn wenn die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ein Ergebnis gehabt hat, das alle anderen an Bedeutung übertrifft […], so ist es die eine, daß das Christentum nicht eine, sondern die Religion, die absolute Religion ist.“15 Zustimmung signalisierte trotz einiger methodischer Bedenken und Abweichungen in der Darstellung der historischen Entwicklung Ernst Troeltsch: „Es ist die Art der Behandlung, die wir brauchen, u. die gerade der Theologie entspricht, die mir als Ideal vorschwebt. Mit der Dogmatik ist es – mindestens gegenwärtig – nichts, aber solche Darstellungen packen die Sache am Hauptpunkte u. geben gerade dem inneren Menschen etwas […].“16 Auch im Ausland war die Resonanz ganz außerordentlich. Ein deutlicht: „Allein wir sind mit Recht skeptisch geworden in Bezug auf dieses Verfahren. Latet dolus in generalibus! Wir wissen heute, daß das Leben sich nicht durch Allgemeinbegriffe umspannen läßt“ (58). Alle Allgemeinbegriffe sind letztlich nur Hilfsbegriffe in Bezug auf das Verstehen des Lebendigen, die fortwährend am Material zu überprüfen sind. 11 „Das Gemeinsame in allen diesen Erscheinungen [dem Evangelium Jesu, sein Eindruck auf seine ersten Jünger und seine Wandlungen in der Geschichte, CN], kontrolliert an dem Evangelium, und wiederum die Grundzüge des Evangeliums, kontrolliert an der Geschichte, werden uns, so dürfen wir hoffen, dem Kern der Sache nahe bringen“ (WdC 62). 12 WdC 68. 13 „Wir werden endlich die Hauptwandlungen des Christlichen in der Geschichte verfolgen und die großen Typen zu erkennen suchen“ (WdC 62). 14 Schmoller an Harnack am 1.8.1900, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmoller. Harnack ließ diesen Brief umgehend seiner Frau mit der Notiz, er habe ihn noch mehr als die Wahl zum Universitätsrektor erfreut, zukommen. 15 PJ 101 (1900), 384. Harnack hat diese Ausführungen Delbrücks mit einer gewissen Ironie betrachten können. Er selbst nehme das Wort „absolute Religion“ nicht in den Mund. „Wenn ich […] sage, daß das Evangelium ‚die Religion selbst ist‘, so ist das doch cum grano salis zu verstehen u. ist gegen diejenigen gesagt, die sich an seine statutarischen u. particularen Momente hängen und auf diesem Schein bestehen. […] Bei Delbrück steht die Sache anders; der ist Hegelianer u. deßhalb mit dem Absoluten auf vertrautem Fuß“ (Harnack an Adolf Jülicher am 5.11.1901, in: UB Marburg, Nl. Jülicher, Hs 695/401). 16 Troeltsch an Harnack am 10.7.1900, in: Nl. Harnack, K. 44 Korr. Troeltsch.
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amerikanisches Baptistenblatt meinte gar, „seit Fichtes Vorlesungen an die deutsche Nation seien in Berlin keine Vorlesungen gehalten worden, wie diese.“17 Wie weit die Ausdifferenzierung innerhalb der sich Ritschl verpflichtet fühlenden Theologie inzwischen fortgeschritten war, zeigte sich an den Ausführungen Julius Kaftans zur Wesensschrift. Er kritisierte Harnacks Historisierungsprogramm, das zu sehr von den Gegenwartsinteressen bestimmt sei und damit den historisch feststellbaren Jesus verfehle.18 Zudem gehöre der Glaube an die Gottheit Christi bereits in Jesu Reich-Gottes-Predigt hinein – eine Behauptung, die Harnack für „absolut willkürlich“ hielt. Kaftans Betrachtung sei gerade da, wo sie die Historie anführe, „dogmatisch bis in die Knochen.“19 Harnacks im Vorwort formulierte Hoffnung, das Werk möge innerhalb der verschiedenen Richtungen des Protestantismus die „Einigkeit im Geist“ stärken und so dem Frieden, „nicht dem Streit“ dienen, erfüllte sich nicht. Eine Vielzahl von Streitschriften und Einwürfen aus den Reihen des konservativ-orthodoxen Protestantismus belegte vielmehr, wie tief der Graben zwischen den Richtungen noch immer war.20 Ablehnend blieben auch die Stellungnahmen des offiziellen Katholizismus. Die „Kölnische Volkszeitung“ argumentierte ähnlich wie die Presse des konservativen Protestantismus, indem sie sich der dort gleichfalls bemühten Genealogie Ritschl – Sozialdemokratie bediente.21 Auf der Seite des Reformkatholizismus setzte sich Alfred Loisy intensiv mit Harnack auseinander.22 Daß Harnacks Schrift auch in sozialdemokratischen Kreisen auf Resonanz stieß, wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, daß kein geringerer als Franz Mehring in einer umfangreichen Besprechung die Auseinandersetzung mit Harnacks „Evangelium eines modischen Sozialliberalismus“ aufnahm. Die außerordentliche Resonanz des Werkes vermochte Mehring freilich mühelos unter Zuhilfenahme der historischen Dialektik einzuordnen: „Das ist ein Zeichen der Zeit, das wir mit hoher Genugthuung notieren: je frömmer die Bourgeoisie wird, um so mehr fühlt sie sich Matthäi am Letz17 Vgl. die umfangreiche Presseübersicht in: CCW 11 (1901), 305–312. 321–331. 339– 343, auf 342 der Hinweis auf das baptistische Blatt The Collegian Nr. 3 vom Februar 1901; eine umfangreiche Bibliographie der Besprechungen bietet Hübner (Anm. 5), 214–290. 18 Julius Kaftan: Gehört Jesus in das von ihm verkündete Evangelium hinein?, in: ChW 16 (1902), 295–298; ders.: Das Evangelium vom Gottesreich, in: aaO., 314–317; ders.: Der Ursprung des Evangeliums, in: aaO., 339–342; ders.: Die Vergebung der Sünden, in: aaO., 363–366; ders.: Das Evangelium des Johannes, in: aaO., 387–389; ders.: Wer Jesus war, in: aaO., 411–415. 19 Harnack an Rade am 9.2.1902, in: BwR 478f. 20 Als ein Beispiel sei hier nur genannt Wilhelm Walther: Ad. Harnacks Wesen des Christenthums für die christliche Gemeinde geprüft, Leipzig 1901. 21 Zitiert nach CCW 11 (1901), 342 (Kölnische Volkszeitung Nr. 739 und 746). 22 Alfred Loisy: Evangelium und Kirche, München 21904; vgl. Harnacks Rezension in: ThLZ 29 (1905), 59–60, sowie Georg Wobbermin: Loisy contra Harnack, in: ZThK 15 (1905), 76–102.
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ten. Wir schließen also mit dem Wunsche, daß Herrn Harnacks Thätigkeit unter der Jugend der ‚besitzenden‘ und ‚gebildeten‘ Klassen recht gesegnet sein möge, wie es ja wohl in theologischem Stile heißt.“23 Starke Resonanz erfuhr Harnack zudem innerhalb des Judentums. Sie ist in jüngster Zeit außerordentlich kontrovers diskutiert worden, so daß darauf an dieser Stelle kurz eingegangen werden muß. Aus heutiger Sicht prominentester Rezensent war der junge Oppelner Rabbiner Leo Baeck, der sich erstmals 1901 in einer ausführlichen Besprechung mit Harnack auseinandersetzte und ihm auf Grund mangelnder Kenntnisse des Judentums zur Zeit Jesu eine Verzeichnung dessen religiöser Grundeinsichten vorwarf. Methodisch reichte Baecks Kritik tiefer: Harnack habe „das Richteramt des Geschichtsschreibers“ mit dem „Vertheidigeramt des Apologeten vertauscht.“24 Baeck nahm Harnacks Schrift denn auch zum Anlaß, eine Apologie des Judentums vorzunehmen, die er 1905 unter dem Titel „Das Wesen des Judentums“ erscheinen ließ.25 Die Wirkungen der von Harnack zweifellos erneut angestoßenen Debatte um das Wesen des Judentums sind äußerst umstritten. Stellte Harnacks Entwurf „ein klassisches Stück antijudaistischer Enterbungstheologie“ dar, das für eine „vorurteilsfreie Wahrnehmung des Judentums seiner Zeit und für einen Dialog mit den jüdischen Interpreten der neutestamentlichen Zeitgeschichte keinen Raum ließ“?26 Oder kam Harnacks Buch – unbeabsichtigt – einem „Katalysator für die geistigen und wissenschaftlichen Strukturen des Judentums“ gleich?27 Daß es Harnack, der zeitlebens nicht nur privat, sondern auch öffentlich gegen den grassierenden Antisemitismus Stellung bezog28, mit seiner Dar23
Franz Mehring: Moderne Evangelienkritik, in: Neue Zeit 19 (1901), 79–85.115–
127. 24
Leo Baeck: Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums, Breslau 1901,
11. 25
Leo Baeck: Das Wesen des Judentums, Berlin 1905. So Christian Wiese: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein „Schrei ins Leere“?, Tübingen 1999, 135; Wiese schließt damit an Uriel Tal: Theologische Debatten um das „Wesen“ des Judentums, in: Werner E. Mosse/Arnold Paucker (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Tübingen 1976, 599–632, an. 27 So Walter Homolka: Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus, Gütersloh 1994, 49, im Anschluß an Trutz Rendtorff: Das Verhältnis von liberaler Theologie und Judentum um die Jahrhundertwende, in: ders.: Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991, 59–90. 28 Vgl. dazu die Hinweise in dieser Arbeit. Grundsätzlich zu erinnern ist zudem an die noch immer wichtigen methodischen Bemerkungen von Kurt Nowak: Protestantismus und Judentum in der Weimarer Republik, in: ThLZ 113 (1988), 561–578, zum Problem des „Pan-Antisemitismus“ und einer präzisen Bestimmung des Antisemitismus im Protestantismus der Weimarer Republik; vgl. jetzt auch Kurt Nowak: Protestantismus und Judentum im Deutschen Kaiserreich (1870/71–1918). Bemerkungen zum Stand der For26
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stellung um eine „Existenzverneinung“ des Judentums seiner Gegenwart ging, wird man verneinen müssen. Er war in seiner Darstellung ausschließlich an den drei großen christlichen Konfessionen und der Fortwirkung des Evangeliums in ihnen interessiert. Im Zusammenhang mit der Darstellung des Evangeliums Jesu kritisierte Baeck Harnacks Darstellung des zeitgenössischen Judentums und darin namentlich der Pharisäer. Auch in diesem Teil seiner Vorlesung ging es Harnack zunächst allerdings allein um das Judentum als „Horizont und Rahmen“ Jesu.29 Das zeigt sich etwa an Harnacks Einordnung der jesuanischen Aufnahme des Messiastitels im Kontext der entsprechenden Vorstellungen des Judentums zur Zeit Jesu: „Erst wenn wir ihren Sinn durch geschichtliche Untersuchungen ermittelt haben, können wir fragen, ob dem Wort eine Bedeutung zukommt, die irgendwie bestehen bleibt, auch nachdem die jüdisch-politische Form und Schale zerbrochen ist.“30 Wenn Harnack hier ein jüdisches von einem christlichen Messiasverständnis unterschied, so machte er zugleich deutlich, daß es sich dabei nicht um einen Sprung vom einem zum anderen, sondern um einen Entwicklungsprozeß handelte. Bereits das Judentum der Zeitenwende ist durch starke Tendenzen zur Transzendierung, Individualisierung, Ethisierung und Universalisierung der eschatologischen Zukunftshoffnungen gekennzeichnet31, an die das Christentum dann anknüpfen konnte. In diesem Zusammenhang finden sich durchaus positive Wertungen des Judentums, etwa bezüglich des Diaspora-Judentums Alexandriens, das die „Höhe einer geistigen Weltreligion“ erreicht habe. Jesus habe in seinem Volk eine „reiche und tiefe Ethik“ vorgefunden, erklärt Harnack an anderer Stelle und fährt mit Blick auf die Pharisäer fort: „Es ist nicht richtig, die pharisäische Moral lediglich nach kasuistischen und läppischen Erscheinungen zu beurteilen, die sie aufweist.“32 Den Pharisäern kommt gleichwohl eine Schlüsselposition in Harnacks Jesusdeutung zu, die zunächst dem Sachverhalt Rechnung tragen muß, daß schon von der Quellenlage her die Person Jesu ohne ihren Bezug auf die Pharisäer unverständlich bleiben muß. Obwohl sodann auch bei ihnen die genannten Tendenzen zur Ethisierung, Individualisierung und Universalisierung des Judentums vorhanden waren – „herrliche Worte hatten sie gesproschung, in: ders.: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001, Stuttgart 2002, 164–185. 29 WdC 60. 30 AaO., 143. Harnack greift damit Wellhausens Unterscheidung von jüdischer und christlicher Messiasvorstellung auf, vgl. Julius Wellhausen: Einleitung in die ersten drei Evangelien, Berlin 21911, 79–84. Anders als Wellhausen läßt Harnack die Frage nach Jesu messianischem Bewußtsein offen, wenn er davon spricht, Jesus habe sich als „Messias designatus“ verstanden, vgl. LDG I4, 73f. 31 WdC 147–149. 32 AaO., 101.
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chen; sie könnten aus dem Munde Jesu stammen“ –, fehlte ihnen die „Reinheit“ und der „Ernst“ der Religion, wie er sich bei Jesus manifestierte, denn „sie hatten leider noch sehr viel anderes daneben. Es war bei ihnen beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht […].“33 Nicht daß Jesus bestimmte Gedanken erstmals ausgesprochen hat34, charakterisierte dessen Besonderheit, sondern erstens die „Reinheit“ seiner Verkündigung – hier trägt Jesu Verkündigung gegenüber den Pharisäern also einen reduktionistischen Charakter, indem er verschüttete Grundgedanken besonders der Propheten und Psalmisten wieder hervortreten läßt bzw. besonders prägnant zum Ausdruck bringt – und zweitens der „Ernst“ und die „Kraft seiner Persönlichkeit“, mit der er diese Grundgedanken zu Geltung bringt: „Worte thun es nicht, sondern die Kraft der Persönlichkeit, die hinter ihnen steht. Er aber predigte gewaltig, ‚nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer‘, das war der Eindruck, den seine Jünger von ihm gewannen. Seine Worte wurden ihnen zu ‚Worten des Lebens‘, zu Samenkörnern, die aufgingen und Frucht trugen – das war das Neue.“35 In der Kraft des Gottesbewußtseins Jesu verbinden sich Reduktionismus („Reinheit“) und Persönlichkeit („Ernst“). Damit verlagert sich bei Harnack das Problem der Besonderheit Jesu von der Frage nach der Herkunft einzelnen Vorstellungsmaterials auf die Ebene der Religionstheorie und der Geschichtsmethodik. Religion geht nicht in Verkündigung und Lehre auf, so notwendig sie dieser bedarf. Sie verbindet sich, um historisch wirkmächtig zu werden, vielmehr mit den großen Stiftergestalten. An ihnen und dem Eindruck, den diese Gestalten auf ihre Anhänger machen, wird Verkündigung und Lehre zu erlebter Religion. Religion ist Leben und entzündet sich an Leben. Beim Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, handelt es sich „um ein Leben, das, immer aufs neue entzündet, nun mit eigener Flamme brennt.“36 Nicht einzelne Elemente der Verkündigung Jesu allein, sondern ihre in der Verbindung mit der Person Jesu in der Geschichte ablesbare Wirkmächtigkeit37 und Fähigkeit, immer neu religiöses Leben zu 33
AaO., 84. Als methodischer Leitfaden muß folgende Bemerkung Harnacks gelten, die unmittelbar auf die von „jüdische[n] Gelehrte[n]“ gestellte Frage nach dem Neuen an Jesus anschließt: „Nun fragen Sie noch einmal: ‚Was war denn das Neue?‘ In der monotheistischen Religion ist diese Frage nicht am Platze. Fragen Sie vielmehr: ‚War es rein und war es kraftvoll, was hier verkündet wurde?‘“ (aaO., 85) Der folgende Absatz beantwortet diese Frage zunächst bezüglich der Reinheit, dann bezüglich der Kraft. 35 AaO., 85. 36 AaO., 59. 37 Vgl. dazu das oben in Anm. 10 Ausgeführte zum Prinzip der Wirkungsgeschichte. Harnack unterstreicht dieses Prinzip ausdrücklich mit Blick auf die Frage nach dem Neuen an Jesus: „Daß der eine oder andere jüdische Lehrer das Zeremoniell-Gesetzliche hinter dem Sittlichen zurücktreten ließ, kann hier nicht entscheiden, da er aus der Gesamterscheinung des jüdischen Lehrertums der damaligen Zeit doch nicht heraustrat“ (WdC 84, Anm. 23). 34
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entzünden, markieren die religionsgeschichtliche Besonderheit Jesu nach Harnack.38 Die Pharisäer stehen dabei zugleich für die grundsätzliche Gefahr des Verlustes der „Reinheit“ und des „Ernstes“ der Religion durch Lehre, Ritus und Institutionalisierung. Insofern weisen sie über die empirische Historie hinaus und stellen einen bestimmten Idealtyp der Entwicklung historischer Religion dar – eine Entwicklung, die sich in Harnacks Darstellung im römischen Katholizismus dann wiederholt. Es ist insofern aufschlußreich, wenn Harnack im Zusammenhang mit den Pharisäern sowie den offiziellen Führern des Volks von „Theokratie“ und sogar „Kirche“ reden kann.39 Harnacks Darstellung ist damit vorrangig an verallgemeinerbaren Fehlentwicklungen der Religion hin zu Ritualismus und Erstarrung interessiert, für die die Pharisäer zum Stehen kommen.40 Ein Urteil über das Judentum der Gegenwart war damit nicht gesprochen. Die bei Harnack feststellbare „symbolisch bestimmte Wahrnehmung der Pharisäer“41 läßt sich auch bei einem jüdischen Forscher wie Moriz Friedländer feststellen42, dessen Studien Harnack nachweislich zur Kenntnis genommen hat.43 In Friedländers Arbeiten zum Judentum der Zeit Jesu sind es die Pharisäer, die die Entwicklung des Judentums zur Universalreligion 38
Es ist dann Hermann Cohen gewesen, der diesen Punkt des Dissenses anläßlich seines Auftritts auf dem Berliner „Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ 1910, an dem auch Harnack teilnahm, namhaft gemacht hat: „Alle Anknüpfung der Religion aber an eine Person setzt sie der Gefahr des Mythos aus. Denn der Grundsinn des Mythos ist die Personifikation alles Unpersönlichen. Darin bewährt sich die Unterscheidung, welche das Judentum überall vom Mythos an sich durchzuführen sucht, daß sie die höchste Tat, die sie von Gott erwarten kann, die Vereinigung seiner Kinder in Eintracht und Treue, durchaus nicht von einer Person erwartet“ (Hermann Cohen: Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit, in: ders.: Jüdische Schriften. Erster Band: Ethische und religiöse Grundfragen, Berlin 1924, 18–35, 31). 39 AaO., 85. 40 Harnack schließt in einer allgemeinen Bemerkung darunter auch die Gefährdung der Religion durch die Theologie ein: „denn wie oft ist in der Geschichte die Theologie nur das Mittel, um die Religion zu beseitigen!“ (ebd.). 41 Hans Günter Waubke: Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1998, 319. Im Übrigen ist auch Baecks positive Wahrnehmung der Pharisäer als breit angelegter Laienbewegung, in der sich Weisheitstheologie und Universalismus miteinander mustergültig verbinden (vgl. dazu Leo Baeck: Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934), eine solche „symbolisch bestimmte Wahrnehmung.“ 42 Vgl. Waubke, 280–283. 43 Daß Harnack durchaus die Schriften jüdischer Gelehrter zur Kenntnis nahm, zeigt das Beispiel Friedländers, dessen „Patristische und talmudische Studien“ er 1878 anzeigte (ThLZ 3 [1878], 604–606). In der „Dogmengeschichte“ werden weitere Werke Friedländers zitiert: Die vorchristliche jüdische Gnosis (1898) in LDG I4, 122 und 166, Friedländers Geschichte der jüdischen Apokalyptik als Vorgeschichte des Christenthums in LDG I4, 128, 129 und 497 sowie in MAC4 16, Anm. 4 u. ö.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
abgeblockt haben.44 Das von Harnack rekonstruierte Evangelium Jesu wird als die Botschaft eines liberalen Reformjudentums reklamiert, das sich im hellenistischen Judentum präfiguriert findet: Jesus „war unser, und sein Evangelium ist unser.“45 Mit Blick auf die historiographische Programmatik wie auch die materiale Füllung der jeweiligen Wesensbestimmungen ließen sich denn auch aufschlußreiche Gemeinsamkeiten der Arbeiten Harnacks, Baecks und Friedländers aufweisen.46 Baeck konnte eine solche letzte Gemeinsamkeit in seinem namens der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums der Frau Harnacks übermittelten Kondolenzschreiben 1930 so formulieren: „Sein Lebenswerk ist ein Werk auch für die Arbeit und die Aufgabe geworden, die uns anvertraut ist. Auch wir dürfen ihn Lehrer und Meister nennen.“47 Bedeuteten die Vorlesungen Harnacks über das Wesen des Christentums seine endgültige Etablierung als der führende protestantische Theologe seiner Zeit – Friedrich Naumann sprach gar von Harnack als „protestantischem Nationaleigentum“48 –, dann weitete sich diese Stellung durch seine Tätigkeit als Geschichtsschreiber der Akademie auf das Gesamtfeld der Geistes- und Kulturwissenschaften aus.49 Schon die Übertragung der Aufgabe durch die Akademie 1896 war eine Ehre für den damals 45jährigen. Konzipiert als „Verbindung von Verfassungs-, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte“50, hat Harnack seine Aufgabe insgesamt mit Bravour gelöst, wohl wissend, daß damit eigentlich die Kräfte eines einzelnen überfordert wa44 Moriz Friedländer: Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeitalter Jesu, Berlin 1905. 45 AaO., XIX; vgl. auch Felix Perles: Was lehrt uns Harnack? (1902), in: ders.: Jüdische Skizzen, Leipzig 1912, 208–231. Die Wesenschrift stelle insgesamt „die glänzendste Rechtfertigung des Judentums“ dar. 46 Eine Studie zu Harnack und Baeck bleibt ein dringendes Desiderat. Die Studien von Waubke (Anm. 41) und Roland Deines: Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, zeigen allerdings die neuen Perspektiven, die sich über einen Vergleich protestantischer und jüdischer Bibelwissenschaft um 1900 gerade unter dem Gesichtspunkt der geschichtsmethodologischen Gemeinsamkeiten erschließen. 47 Baeck an Amalie von Harnack am 13.6.1930, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Baeck. Anzumerken ist noch, daß wenngleich Harnack auf die jüdische Kritik an seiner Schrift nicht eingegangen ist, er im Bibel-Babel-Streit 1903 wie die jüdischen Gelehrten öffentlich den Theorien des Assyrologen Friedrich Delitzsch widersprach (RANF 2, 63–71). Delitzsch sprach alle wesentlichen und religiös wertvollen Züge alttestamentlicher Religion und Sittlichkeit babylonischen Quellen zu. Als Delitzsch die Thesen 1920 einschließlich seiner radikalen Ablehnung des Alten Testaments erneuerte, widersprach Harnack Delitzsch erneut heftig (Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Studie zur Grundlegung der altkatholischen Kirche, Leipzig 21924, 223 Anm. 1). 48 Friedrich Naumann: Harnack, in: Die Zeit 2 (1902), 134–136, 135. 49 ZH 201–208. 50 Bericht über die Abfassung der „Geschichte der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ (1899), in: KS I, 411–420, 416.
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ren.51 Die Akademiegeschichte – dem späten Bonhoeffer zufolge hat Harnack sie für sein bestes Werk gehalten52 – stellte eindrücklich unter Beweis, daß seine Domäne nicht nur die Geschichte der Alten Kirche war. Nicht weniger gewandt wußte er sich als Geschichtsschreiber der neueren Geistesund Kulturgeschichte zu bewegen. Es war auch eine Frucht dieser Arbeit, wenn er gegenüber Friedrich Loofs die Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts als seine liebste Epoche neben der alten Kirchengeschichte bezeichnete.53 Nicht zu unterschätzen ist ferner, daß diese Arbeit ihm einen wohl einzigartigen Einblick in das Zusammenspiel von Wissenschaftsorganisation, Gelehrten und Politik gab. Durchaus programmatisch war daher ein von Harnack auf Friedrich Wilhelm III. gemünztes Urteil zu verstehen: „Ein Monarch kann der Wissenschaft durch lebendiges Interesse und thatkräftige Förderung große Dienste leisten, noch grössere, wenn er selbst die hervorragenden Geister zu schätzen und anzufeuern weiß. Aber das höchste Verdienst erwirbt er sich um sie, wenn er über ihre Unabhängigkeit wacht und ihre Pflege einsichtigen Räthen anvertraut.“54 Zur Zeit der Niederschrift, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die „lex Heinze“, war das auch eine implizite Forderung an den gegenwärtigen Monarchen. Und es konnte zugleich auf Friedrich Althoff als einen dieser „einsichtigen Räthe“ hin verstanden werden. Die Geschichte der Akademie bot gewissermaßen ein historisches Beispiel dafür – etwa in den Gestalten von Leibniz oder Humboldt –, was Gelehrte in Kooperation mit Räten und Monarchen in der Wissenschaftspolitik zu erreichen vermochten. In den Feierlichkeiten zum Akademiejubiläum spielte Harnack denn auch eine herausgehobene Rolle. Das galt weniger für den Festakt in Gegenwart des Kaisers, der am 18. März im Weißen Saal des Berliner Schlosses stattfand, ganz sicher aber für die Feierlichkeiten am folgenden Tag im Preußischen Abgeordnetenhaus, die neben dem Empfang der Delegationen der anderen in- und ausländischen Akademien ganz auf Harnacks Festrede ausgerichtet waren. Diese Rede gab nicht nur einen präzisen Überblick über die Entwicklung der Akademie, sondern bündelte noch einmal seine Reformvorschläge für eine moderne Akademie im Zeitalter der wissenschaft51 Vgl. Kurt Nowak: Historische Einführung. Adolf von Harnack. Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996, 50–52. 52 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 131985, 106: „Ich habe gerade angefangen, Harnacks Geschichte der Preußischen Akademie zu lesen, sehr schön. Ich glaube, in diesem Thema schlägt eigentlich sein Herz und er hat mehrfach gesagt, daß er sie für sein bestes Buch halte“ (29. u. 30.1.1944). 53 Harnack an Loofs am 1.2.1898, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 19 IX, 1537. 54 GAW I, 786.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
lichen Großbetriebe.55 Zwar scheint Wilhelm II. bei diesem Festakt nicht zugegen gewesen zu sein56, aber Harnack hatte sich damit zweifellos einer breiteren Öffentlichkeit als wissenschaftlicher Modernisierer präsentiert und damit auch die Aufmerksamkeit des Monarchen, dessen Bildnis den zweiten Halbband des Harnack’schen Werkes zierte, erregt. Bei den überaus zahlreichen Ordensverleihungen anläßlich des Akademiejubiläums wurde auch der bisher übergangene Harnack mit seinem ersten preußischen Orden bedacht: dem Roten-Adler-Orden dritter Klasse. Das war zwar nur der zweitniedrigste Orden, den der König zu vergeben hatte – Mommsen etwa wurde mit der 1. Klasse bedacht –, aber doch deshalb bemerkenswert, weil Harnack die 4. Klasse dieses Ordens übersprungen hatte. Engere Beziehungen zum Kaiser sollte schließlich ein weiteres Ereignis des Jahres 1900 zur Folge haben, das in der öffentlichen Wahrnehmung in engen Zusammenhang mit der Akademiegeschichte gebracht wurde, nämlich Harnacks Wahl zum Rektor der Berliner Universität für das akademische Jahr 1900/01. Die „Vossische Zeitung“ kommentierte: „Die Gründe, durch welche sich die Generalversammlung der ordentlichen Professoren bei der Rektorwahl leiten läßt, sind nicht in jedem einzelnen Falle mit Bestimmtheit zu ermitteln; in diesem Fall liegen sie klar vor Augen. Harnack hatte im Laufe dieses Jahres die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er im Auftrage der Akademie eine vierbändige Geschichte dieser Körperschaft herausgegeben hatte und dann als der erwählte Festredner der Akademie bei deren Jubelfeier in einer einstündigen Rede die leitenden Gedanken aus jener größeren Arbeit entwickelt. […] diese Ehre war eine wohlverdiente. Adolf Harnack gehört zu den großen Gelehrten des deutschen Volkes.“57 Als Geschichtsschreiber der Akademie und als Rektor der Universität – Harnack selbst sprach spöttisch von „Zeremonienmeister“ – rückte Harnack in das Blickfeld des Monarchen. Theologisch verband Harnack und den Kaiser wenig, und auch Harnacks sozialpolitisches Engagement dürfte Wilhelm in den Jahren der Ära Stumm ebensowenig gefallen haben wie das Gustav Schmollers, bei dessen Namensnennung er 1895 anläßlich der Beratungen über die Neubesetzung der Reichsarchivarstelle nur eine Grimasse gezogen hatte.58 Als Harnack in den 1890er Jahren in seiner Funktion als Dekan der Theologischen Fakultät zu einem Hofball eingeladen worden war, wurde er geradezu boykottiert.59 Immerhin hatte aber der Kaiser seiner Berufung 1888 zugestimmt und auch während des Apostolikumstreites 1892 auf ein von kirchlich-konservativen Kreisen gefordertes Disziplinarverfahren gegen 55
RA 2, 189–215. Vgl. den Bericht in: VZ Nr. 133 vom 20.3.1900. 57 VZ Nr. 357 vom 2.8.1900. 58 Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst: Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit. Herausgegeben von Karl Alexander von Müller, Berlin 1931, 88. 59 ZH 261f. 56
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Harnack verzichtet, wenngleich Harnack seine Berufung wesentlich dem Verdienst Althoffs und Bismarcks zuschrieb. Daß Harnack wie sein Schwager Delbrück am Hof von Kaiserin Viktoria, der Gemahlin Friedrichs III., verkehrte, dürfte sein Ansehen im Umfeld des Kaisers angesichts dessen gestörten Verhältnisses zu seiner Mutter auch nicht begünstigt haben.60 Die Kaiserinwitwe zeigte sich überaus aufgeschlossen gegenüber Harnacks religiösen und theologischen Positionen und hielt auch mit deutlicher Kritik an ihrem Sohn nicht zurück.61 Noch 1908 äußerte Harnack öffentlich seine Verehrung für Victoria und ihre „Liberalität des Geistes.“62 Theologisch-religiösen Einfluß konnte Harnack am Hof des Kaisers nicht geltend machen. Hatte Harnack sich mit Victoria über die Wesensschrift unterhalten können, so trug sein theologie- und kirchenpolitischer Kontrahent Reinhold Seeberg der Kaiserin und ihren Hofdamen seine als Erwiderung auf Harnack entstandenen Vorlesungen über „die Grundwahrheiten der christlichen Religion“ privatissime vor.63 Als anläßlich des „Bibel-Babel-Streits“ von 1903 – ausgelöst durch die Thesen des Assyrologen Friedrich Delitzsch, der die Religion des alttestamentlichen Judentums auf überwiegend babylonische Einflüsse zurückführte64 – der Kaiser öffentlich mit einer mindestens fragwürdigen Theorie von zwei Offenbarungsquellen hervortrat, sah sich Harnack, dem der Kaiser bereits zuvor „ausführlich“ seine Ansichten „über Religion, Offenbarung und Volk Israel“ vorgetragen hatte65, zu einer im Ton freundlichen, der Sache nach aber überaus deutlichen Abweisung der kaiserlichen Ansichten veranlaßt, die er an prominenter Stelle, nämlich in den „Preußischen Jahrbüchern“, veröffentlichte.66 Der öffentlichen Auseinandersetzung folgte ein privater Briefwechsel. In einem ausführlichen handschriftlichen Brief, den Wilhelm als „vertraulich“ kennzeichnete, beharrte er auf seiner Theorie.67 Harnack seinerseits nahm nichts von seiner Kritik zurück, versuchte aber zumindest mit Hilfe der Differenzierung von Glaube und Theologie eine Brücke zu schlagen: „Ew. Majestät 60 Zum Verhältnis Wilhelms zu seiner Mutter vgl. die zahlreichen Belege bei John C. G. Röhl: Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993; ders.: Wilhelm II. Der Ausbau der persönlichen Monarchie 1888–1900, München 2001. 61 ZH 269. 62 RANF 2, 317–323, 319. 63 Reinhold Seeberg: Die Grundwahrheiten der christlichen Religion, Leipzig 31903; zu Seebergs Beziehungen zur Kaiserin und ihrer Umgebung vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Reinhold Seeberg, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.): Profile des Luthertums, Gütersloh 1998, 617–676, 640. 64 Dazu Klaus Johanning: Der Babel-Bibel-Streit, Frankfurt am Main/New York/ Paris 1988. 65 Harnack an Althoff am 24.2.1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff B, Nr. 61, Bl. 120. 66 PJ 111 (1903), 584–589, auch in: RANF 2, 63–71; vgl. zur Reaktion des Kaisers Harnack an Rade am 27.2.1903, in: BwR 512. 67 Wilhelm II. an Harnack am 2.3.1903, in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Glaube an unseren Herrn und Heiland Jesus Christus ist auch mein Glaube, und ich würde nicht länger Theologe bleiben, wenn ich diesen Glauben verlöre. Aber die Theologie, als Wissenschaft, kann das Tiefste derselben nur als Grenze erreichen und soll und muß sich bescheiden, das Erkennbare zu erkennen. Ew. Majestät lichtvolle Darstellung habe ich in diesem Sinn verstanden und lasse sie mir freudig gesagt sein.“68 Nach dieser Auseinandersetzung, die angesichts der Widerspruch nur schwerlich duldenden Persönlichkeit Wilhelms69 durchaus das Potential zu einem persönlichen Bruch beinhaltete, war Harnack klug genug, theologisch-kirchliche Fragen im Gespräch mit dem Kaiser zu vermeiden. Dennoch scheint es 1913 zu einer zumindest kurzen Verstimmung des Monarchen über Harnacks Eintreten für den aus dem Dienst entlassenen Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub gekommen zu sein, so daß Harnack mit dem Gedanken spielte, das Amt des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft niederzulegen.70 Gleichwohl gab es insbesondere auf Seiten der konservativen Orthodoxie Befürchtungen über den möglichen Einfluß Harnacks auf die religiösen Überzeugungen des Monarchen, dem man über die Hofdamen sowie die Kaiserin zu begegnen suchte: „Der Verkehr Harnacks bei mir hat ‚orthodoxe‘ protestantische Pfarrer und Kreise arg geängstigt. Das ist unseren Damen zu verstehen gegeben worden; diese haben dann auch Soireen, wo positive Herren waren, besucht! Mein Grundsatz ‚Nur keine Voreingenommenheit‘ ist den Leuten unbequem.“71 Noch im Januar 1909 zeigte sich der „Reichsbote“ angesichts der Anwesenheit der Kaiserin bei einer Vortragsreihe Harnacks in der Singakademie besorgt über das mögliche Eindringen der Gedanken Harnacks bei „unserer geliebten, so innig gläubigen Kaiserin.“72 Insgesamt jedoch gilt, daß es Harnack gerade deshalb gelang, gemeinsam mit Althoff73 zum wichtigsten wissenschaftspolitischen Berater des Kaisers aufzusteigen, weil er sich bei Hofe in religiösen und politischen Fragen Zurückhaltung auferlegte und – wie noch zu zeigen sein wird – sich im Umgang mit dem Monarchen auf Fragen von Wissenschaftspolitik und -organisation beschränkte. Harnack selbst hat das pointiert for-
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Briefentwurf Harnacks an Wilhelm II. vom 2.3.1903, in: aaO. Dazu reichhaltiges Anschauungsmaterial bei Röhl: Wilhelm II. (Anm. 60). 70 Harnack am 28.1.1913 an Friedrich Schmidt-Ott (Abschrift), in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Nr. 12. 71 Wilhelm II. an Houston Stewart Chamberlain am 31.12.1901, in: Houston Stewart Chamberlain: Briefe 1882–1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, München 1934, 144. 72 Reichsbote Nr. 17 vom 21.1.1909. 73 Nach Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff “, in: Peter Baumgart (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, 35, hatte Althoff seit spätestens 1900 direkten Zugang zum Kaiser. 69
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muliert: Gewiß habe er großen Einfluß, aber wenn er ihn gebrauche, sei er weg.74 Harnack war kein „Hofdogmenlehrer“75 – wie Maximilian Harden 1911 bissig, aber unzutreffend formulierte – oder „Hoftheologe“76, dessen Reden wie auch sein Umgang mit dem Kaiser „alles übertrafen, was sich Beamte und Militärs bei uns je geleistet haben“77, wie der ehemalige Reichskanzler und Harnack-Freund Bernhard von Bülow in seinen Memoiren im Gefolge der antirepublikanischen Rechten und ihrer Kritik an Harnacks Unterstützung der Republik nach 1918 in seinen Memoiren behauptete. Er traute es sich durchaus, dem Kaiser – sogar öffentlich – zu widersprechen. Aber er wußte zugleich, selbst die Kritik mit geschmeidigen Worten zu verbinden, wie Harnacks erwähntes Schreiben an den Kaiser von 1903 zeigte: „Geruhen Ew. Majestät nochmals meinen aufrichtigsten und tiefgefühlten Dank allergnädigst entgegenzunehmen, den Dank aus einem Herzen, das Ew. Majestät Freiheit und Großsinn wahrhaft beglückt haben.“78 Die Behauptung der eigenen Position, die Harnack nicht aufzugeben bereit war, verband sich so mit durchaus geschickt auf die komplizierte Persönlichkeit des Kaisers zielenden Formulierungen, die dann allerdings nicht selten „die Grenze zwischen taktisch gebotener Stilkunst und Panegyrik unscharf werden ließ[]“, wie Rüdiger vom Bruch treffend formuliert hat.79 Harnack, durchaus auch fasziniert von der Persönlichkeit des Kaisers und zugleich bestens mit deren Schwierigkeiten vertraut, lernte schnell „die Kunst […], die Rede auf das zu bringen, was ich wünsche“80, und auf diese Weise ihm und Althoff wichtig erscheinende wissenschaftspolitische Anliegen vorzutragen und teilweise auch durchzusetzen. Das war nicht selten eine bedenkliche Gratwanderung, die grundsätzliche Schwierigkeiten und Deformationen des politischen Systems des Kaiserreiches dokumentierte. Harnacks Anliegen war eine behutsame Modernisierung dieses Systems. Er hielt sich dafür besonders hinsichtlich der Wissenschaftspolitik für kompetent. Und er war entschlossen, die sich ihm hier bietenden Möglichkeiten zu nutzen, einschließlich seines privilegierten Zugangs zum Monarchen. Um wissenschaftspolitisch gestalten zu können, vermochte Harnack mit erheblichem Geschick die personalen Beziehungsgefechte des „Königsmechanis74
ZH 267. Maximilian Harden: Ornamente, in: Die Zukunft 74 (1911), 171–184, 183. 76 Bernhard von Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 2, Berlin 1930, 288. 77 Bernhard von Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 1, Berlin 1930, 526. 78 Harnack an Wilhelm II. am 2.3.1903 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 79 Rüdiger vom Bruch: Adolf von Harnack und Wilhelm II., in: Kurt Nowak/ Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker und Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, 23–38, 29. 80 Harnack an Loofs am 29.5.1917, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi IX 1653a. 75
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mus“ einzusetzen.81 Im Wissen darum, wie leicht das dazu notwendige „allerhöchste Vertrauen“ verspielt werden konnte, begrenzte er seine Einflußversuche auf dieses Feld. Weitergehende Karriereabsichten oder Hoffnungen auf persönliche Vergünstigungen erstrebte er dabei offenbar nicht. Das gilt auch für die ihm in der Presse immer wieder unterstellten Ambitionen auf das Amt des preußischen Unterrichtsministers. Entsprechende Absichten lassen sich auch aus Harnacks Nachlaß nicht belegen und sind von ihm auch öffentlich dementiert worden. Persönliche Vorteile, so erklärte Harnack seinem Freund Loofs, seien vom Kaiser nicht zu erwarten: „Denn viel stärker, als das Publikum ahnt, sind für den Kaiser dienstliche Angelegenheiten (Beförderungen, Orden, Gefälligkeiten Beamten gegenüber) u. persönliche durch eine Welt geschieden, u. er verwischt sie nie. […] Für den Beamten ist Er nur der König von Preußen, u. ihm gegenüber hat Er noch immer etwas von der Empfindung Friedrich Wilhelm I.: sie sind meine Diener u. sie sind mit Mißtrauen zu betrachten, ob sie wirklich meinen Willen ausführen! Wer aber mit ihm persönlich verkehrt, der ist für ihn Mensch u. kein Beamter, steht ihm in gewissem Sinn gleich, wird aber deßhalb auch – Gott sei Dank – niemals ‚belohnt‘, niemals dienstlich bevorzugt, sondern nur durch Briefe, Bilder u. kleine interessante Zusendungen (Zeitungsausschnitte usw.) erfreut.“82 Den ersten Nachweis für ein längeres Gespräch zwischen Harnack und dem Kaiser bietet ein Brief des Berliner Theologen an Martin Rade vom 30. Oktober 1900: „Eben war ich beim Kaiser; er war außerordentlich freundlich. Ich habe über eine 1/4 Stunde mit ihm gesprochen.“ Am 11. April 1901 war Harnack erneut in seiner Eigenschaft als Rektor der Universität zu einer Hofgesellschaft geladen worden und unterhielt sich dabei ausführlich mit dem Monarchen über die Neubauten für Universität und Königliche Bibliothek, Angelegenheiten der Akademie der Wissenschaften sowie den Fortgang der Schulreform.83 Weitere Gespräche zu den Neubauten folgten auf Wunsch des Kaisers am 25. Mai 1901. Schon bei dem Gespräch vom April 1901 gelang es Harnack, der sein Vorgehen ganz offensichtlich eng mit Althoff abgestimmt hatte, den Kaiser für den „Plan, an der Dorotheenstraße einige Grundstücke zu erwerben und dort […] einen Aula-Monumentalbau errichten zu lassen“, zu gewinnen: „Nach einer Stunde, als wir im Rauchzimmer waren, kam er wieder darauf zurück und rief mir zu: ‚An Ihren Bau werde ich denken.‘“84 In einem weiteren Gespräch trat dann, so Harnacks Bericht an Althoff, „eine Wendung ein, die es mir ermöglichte, auf die drei 81 Vgl. John C. G. Röhl: Der „Königsmechanismus“ im Kaiserreich, in: ders.: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 31988, 116–140. 82 Harnack an Loofs am 29.5.1917, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi IX 1653a. 83 Vgl. BwM 545f. sowie Harnacks Bericht in einem Brief an Althoff vom 11.4.1901, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 105. 84 Harnack an Althoff am 11.4.1901, in: aaO.
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neuen deutschen Stellen an der Akademie zu kommen.“ Als Harnack sodann berichtete, daß die vom Kaiser anläßlich des Akademiejubiläums zugesicherten Stellen bislang nicht besetzt worden seien, da ihre Finanzierung noch nicht sicher gestellt sei, „rief er über das halbe Zimmer herüber ‚Lucanus, kommen Sie doch her.‘ Nun mußte ich die Sachlage wiederholen. Angenehm war mir das nicht, daß die zwanglose Unterredung so zu sagen nun geschäftlich wurde.“85 Daß Harnack in Absprache mit Althoff am Kultusminister vorbei über gewichtige hochschul- und wissenschaftspolitische Projekte verhandeln konnte, belegt, wie gefestigt seine Stellung am Hof schon im Frühjahr 1901 war. Durch die direkte Fühlungnahme mit dem Monarchen gelang es Harnack sogar, die Bedenken des Finanzministeriums gegen die Erweiterungsbauten und die Akademiestellen zu überwinden.86 Harnack, der zeitweise wöchentlich zum Kaiser gebeten wurde, dessen Abgesandte ihn nicht selten in den Räumen des kirchenhistorischen Seminars abfingen, um ihm eine dringende Einladung des Kaisers zu überbringen87, ließ seine wichtigsten Schriften Wilhelm II. zukommen. So übersandte er ihm seine Missionsgeschichte ebenso wie die gesammelten Aufsatzbände, die der Kaiser in einem Dankbrief – „mein lieber Professor Harnack“ – für „geeignet“ erachtete, „das Verständnis und Interesse für die großen Aufgaben unserer Zeit zu wecken und zu fördern. Ich rechne auch ferner auf Ihre treue und erfolgreiche Mitarbeit und verbleibe in Dankbarkeit Ihr wohlgeneigter König.“88 Die Modernisierung der preußischen Wissenschaftslandschaft stellte unbestritten den Schwerpunkt der Kontakte Harnacks und Wilhelms dar. Alle wichtigen Projekte, die Althoff und Harnack nach 1900 verfolgten, fanden sich in den Gesprächen des Theologen mit dem Monarchen wieder: die Akademie der Wissenschaften, die Erweiterung der Berliner Universität, das Preußische Historische Institut in Rom, der Neubau der Königlichen Bibliothek und die Reform des Bibliothekswesens, der deutsch-amerikanische Professorenaustausch, die Harnack besonders am Herzen liegende Mädchenschulreform und schließlich Althoffs Pläne für ein „deutsches Oxford“ auf dem Gelände der Domäne Dahlem, die schließlich nach Althoffs Tod in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911 einmündeten.89 85
Ebd. Hermann von Lucanus war Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts. So bemerkte Harnack am 28.11.1901 gegenüber Mommsen: „Ich war dabei nöthig, denn ich hatte mit dem Kaiser über die Sache gesprochen u. mußte zuletzt wieder an seine Autorität appeliren“, in: BwM 899. 87 Vgl. dazu die Erinnerungen des Harnack-Schülers und nachmaligen Berliner Bischofs Otto Dibelius: Ein Christ ist immer im Dienst. Erfahrungen und Erlebnisse in einer Zeitenwende, Stuttgart 1961, 55–58. 88 Wilhelm II. an Harnack am 1.11.1911, in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 89 Dazu ausführlich Lothar Burchardt: Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen 86
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Bei der Umsetzung dieses Projektes kam Harnack zusammen mit Althoffs letztem Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott eine Schlüsselfunktion zu. Auf Verlangen des Kaisers wurde Harnack im September 1909 mit einer Denkschrift über Althoffs Pläne für Dahlem beauftragt, die dem Preußischen Staatsministerium sowie dem kaiserlichen Zivilkabinett seit März 1909 vorlagen. Harnack verstand es, die verschiedenen Entwürfe zur Gründung naturwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen in seiner Denkschrift miteinander zu verbinden und in einer Weise zu präsentieren, die das Interesse des Kaisers weckte. Dazu trugen nicht zuletzt die geschickt gestreuten Hinweise auf den „national-politisch verhängnisvoll[en]“ „bedenklichsten Rückstand“ Deutschlands auf dem Gebiet wissenschaftlicher Großforschung gegenüber dem Ausland bei sowie die Bemerkung, daß „Wehrkraft und Wissenschaft […] die beiden Pfeiler der Größe Deutschlands“ darstellten, aber auch der historische Rückgriff auf die aus der Zeit der Befreiungskriege stammenden bildungs- und wissenschaftspolitischen Konzeptionen Wilhelm von Humboldts.90 Harnack nahm auch an den Beratungen der folgenden Monate teil, die zu einer weiteren Klärung der organisatorischen Gestalt der neuen Forschungsinstitution führten. Die Rede anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Berliner Universität vom 11. Oktober 1910, in der Wilhelm II. die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verkündete, war ganz wesentlich von Harnack verfaßt worden.91 Auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers übernahm er im Januar 1911 die Präsidentschaft der Gesellschaft, nachdem er eine entsprechende Anfrage Schmidt-Otts vom Oktober 1910 noch abgelehnt hatte.92 Neben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft fand der von Althoff und Harnack angeregte und mit Nachdruck betriebene deutsch-amerikanische Professorenaustausch das besondere Interesse des Monarchen. Als Wilhelm im September 1905 von einer amerikanischen Delegation erfuhr, daß Harnacks Vorträge, die er in St. Louis 1904 gehalten hatte, einen besonders starken Eindruck hinterlassen hätten, nahm Wilhelm „das sehr erfreut auf und wiederholte in deutscher Sprache, um auch Exz. v. Lucanus u. mir die Sache ganz klar zu machen: Hören Sie, Harnack hat in Amerika großen Erfolg gehabt; er Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen 1975; Günter Wendel: Die Kaiser-WilhelmGesellschaft 1911–1914. Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft, Berlin 1975. 90 Die Denkschrift vom 21.11.1909 in: Nl. Harnack, K. 23, Mappe „Gründung der KWG 1911“, veröffentlicht mit geringfügigen Änderungen in: RANF 1, 39–64, Zitate 43, 52 u. 57. 91 Harnacks Entwurf findet sich in: Nl. Harnack, K. 22, Mappe „ Jubiläum der Universität Berlin 1910“; vgl. ferner Harnack an Schmidt-Ott am 13.9.1910, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Nr. 12. 92 Harnack an Schmidt-Ott am 2.10.1910, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38.
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muß auch wieder hin.“93 Dagegen fand das Projekt, das Harnack mit besonderem Engagement verfolgte, nämlich die Reform des Mädchenschulwesens, nur geringes Interesse: „S. Maj. bezeichnet dieses Thema ständig als Thema ‚Säuglingsheim.‘ Ich hoffe, daß dies eine Prophezeiung ist: die Zahl der Eltern soll durch die Mädchenschule zunehmen.“ 94 Stellten die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie die Einweihung der Königlichen Bibliothek die sichtbarsten Erfolge der Einflußnahme Harnacks dar, so war diese mit den angeführten Projekten schon Anfang des Jahrhunderts deutlich zu spüren. Hatte der Kaiser um die Jahrhundertwende noch mit der „lex Heinze“ die Freiheit der Wissenschaft beschneiden wollen, so schlug er Ende November 1902 in einer in Görlitz gehaltenen Rede andere Töne an, wenn er die „Freiheit für das Denken, Freiheit in der Weiterbildung der Religion und Freiheit für unsere wissenschaftliche Forschung“ als Zielpunkte seiner Wissenschaftspolitik umriß. Das deutet der Sache nach auch auf den Einfluß Harnacks hin95, quellenmäßig sicher belegen läßt sich hier aber nicht der Einfluß Harnacks, sondern die Mitwirkung Houston Stewart Chamberlains, auf den nicht nur diese Formulierung wörtlich zurückging, sondern auch der kaiserliche Nachsatz, gemeint sei damit natürlich nicht die Freiheit, sich selber schlecht zu regieren – ein Satz, der Chamberlain zufolge den „endgültigen Bruch mit den angloamerikanischen Regierungsidealen“ zum Ausdruck bringen sollte.96 Der Kaiser übernahm diese Formulierungen nicht nur in seine Rede, sondern zeigte sich überhaupt erfreut darüber, daß Chamberlain dem, „was ich innerlich fühlte und was in mir rang, in so lapidarischer Weise Form und Wort verliehen hatte[].“97 So ist der konkrete Einfluß Harnacks letztlich nur schwer zu bestimmen. Die Görlitzer Rede zeigt, wie verschieden interpretierbar die eklektisch und sprunghaft aufgenommenen Formeln des Herrschers letztlich waren. Weder die Weiterbildung der Religion im Sinne der Rassenideologie Chamberlains noch dessen grundlegende Kritik der westlichen Regierungssysteme deckten sich mit den Überzeugungen Harnacks. Eine nähere Analyse des komplizierten Verhältnisses von Chamberlain und Harnack ist eben deshalb gerade mit Hinblick auf Harnacks Wirken im Umfeld des Kaisers überaus lohnend.
93 94
Althoff an Harnack am 4.9.1905, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. Harnack an Althoff am 14.2.1906, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79
III. 95
Vgl. vom Bruch: Harnack (Anm. 79), 31f. Chamberlain an Wilhelm II. am 20.2.1902, in: Chamberlain: Briefe. Band 2 (Anm. 71), 160. 97 Wilhelm II. an Chamberlain am 21.12.1902, in: aaO., 165 unter Bezugnahme auf die Görlitzer Rede. 96
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), der Schwiegersohn Richard Wagners, – in der Forschung als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus bewertet – spielte bereits zu Beginn des Kontaktes Harnacks zum Kaiser eine wichtige Rolle in ihren Gesprächen. Agnes von Zahn-Harnack hat ihm daher einen längeren Abschnitt in ihrer Biographie gewidmet98, Rüdiger vom Bruch jüngst gar von einer Scharnierfunktion Chamberlains in den Beziehungen Harnacks zum Kaiser gesprochen99, der von dessen rassenideologischer Geschichtsdeutung überaus beeindruckt war und Chamberlain als seinen „Streitkumpan und Bundesgenossen im Kampf für Germanen gegen Rom, Jerusalem usw.“ bezeichnete.100 Am 11. April 1901 berichtete Wilhelm Harnack ausführlich über Chamberlains „Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“, das er zur Zeit der Kaiserin und den Hofdamen vorlese und dabei „sehr streng darauf bedacht [ist], daß Alle gehörig aufmerken.“ Harnack, der das Buch offensichtlich kaum kannte, äußerte sich überaus positiv, weil es „theologisch aufklärend“ auf den Kaiser wirke, wenngleich es unter „manchen Übertreibungen und Extremitäten leidet“101 – ein Indiz dafür, daß Harnack zunächst auch theologisch auf den Kaiser einzuwirken hoffte. Der Kaiser arrangierte dann am 29. Oktober 1901 in Liebenberg eine Zusammenkunft von Harnack und Chamberlain102, die freilich so stark aneinander gerieten, daß der gleichfalls anwesende Reichskanzler schlichtend intervenieren mußte. Grund waren aber auch hier zunächst nicht Chamberlains Rassenideologie, sondern philosophiegeschichtliche Fragen über die Bedeutung Kants und Platos.103 Harnacks Bemerkung, neben Friedrich II. gehörten Rousseau und Voltaire zu den drei Männern, die man aus dem 18. Jahrhundert nicht wegdenken könne und die daran anschließende Behauptung, die französische Revolution sei „das größte Ereignis der Geschichte“, zeugten nach Chamberlains Ansicht von einer „Enormität falschen Urteilens.“104 Kritisch äußerte sich Chamberlain auch zu Harnacks Wesensschrift. Er schätze Harnack als Gelehrten, „doch geistig fühle ich mich durch eine Welt von ihm getrennt. Er ist durch und durch Professor; der Geist Luthers hat ihn nicht berührt, sondern nur der Geist Ritschls – und das sind verschiedene Dinge.“ Auch fehle ihm „jene, wenn auch noch so geringe, Beigabe an Genialität oder Genieverwandtschaft“, seine Individualität sei 98
Vgl. ZH 272–274. Vom Bruch: Harnack (Anm. 79), 31, Anm. 27. 100 Wilhelm II. an Chamberlain am 31.12.1901, in: Chamberlain: Briefe. Band 2 (Anm. 71), 143. 101 Harnack an Althoff am 11.4.1901, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105. 102 Vgl. Harnacks Bericht an Althoff am 31.10.1901, in: aaO., A II, Nr. 79 III. 103 Chamberlain an Cosima Wagner am 17.2.1902, in: Paul Pretzsch (Hg.): Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908, Leipzig 1934, 627–629. 104 Chamberlain an Cosima Wagner am 11.12.1902, in: aaO., 646–653, 652. 99
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überhaupt „streng begrenzt.“105 In seinen Berichten über die Liebenberger Zusammenkunft legte Chamberlain zudem Wert auf die Feststellung, daß der Kaiser seine Schriften keineswegs mit denen Harnacks verglichen habe. Über dessen theologische und religiöse Auffassungen habe der Kaiser sich nicht geäußert, sondern nur „von dem vortrefflichen Manne und außerordentlichen Gelehrten, sowie von dem energischen Leiter der neuen Bauten für die Universität u. dgl.“ gesprochen.106 Allerdings blieben Chamberlain und Harnack seit der Zusammenkunft von 1901 in Kontakt, ohne daß sich weitere Treffen nachweisen lassen. Noch wenige Tage vor der Begegnung in Liebenberg hatte Harnack Chamberlain eher zurückhaltend für die Übersendung von dessen „Nachwort“ zu den „Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“ gedankt: „Nicht selten aber empfinde u. beurtheile ich die Probleme noch complicirter als Sie und vermag daher nicht überall Ihren contradictorischen Urtheilen zu folgen.“107 Chamberlain übersandte Harnack wenige Wochen später sein Buch „Worte Christi“, das dieser gleichfalls eher skeptisch aufnahm108, mit ihm aber wohl seine anfänglichen Hoffnungen auf eine religiös aufklärende Wirkung Chamberlains auf den Kaiser verband. Aus diesem Grund übersandte er Chamberlain Korrekturen für eine Neuauflage des Buches.109 Der religiöse Einfluß Chamberlains auf den Kaiser war in der Tat vorhanden, aber wohl anders, als Harnack sich das erhoffte, denn hinter dem kaiserlichen Brief an Admiral Hollmann zum Bibel-Babel-Streit von 1903 stand als Anreger kein geringerer als Chamberlain, den Wilhelm als „geistigen Geburtshelfer“ dieses Briefes bezeichnete.110 Insofern war diese offene Kontroverse zwischen Harnack und dem Kaiser auch eine zwischen Harnack und Chamberlain, der in einem ausführlichen Brief gegen den Vortrag Delitzschs polemisierte.111 In der Folge übernahm Wilhelm etliche der Argumente Chamberlains. Allerdings fiel in Chamberlains Augen bei aller Zustimmung zu den kaiserlichen Ausführungen die Einschätzung des Judentums zu positiv aus. Auch fehle eine „wuchtigere Einheitlichkeit in der Behandlung des Alten Testaments.“112 Harnacks Antwort auf den Kaiser tat Chamberlain mit wenigen Worten ab. Dessen Jesus sei eine „Milch-und-Wasser-Gestalt“: „Es
105 106 107
Ebd. Chamberlain an Cosima Wagner am 15.3.1902, in: aaO., 630. Harnack an Chamberlain am 26.10.1901, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Chamber-
lain. 108
Harnack an Chamberlain am 22.11.1901, in: aaO. ZH 273 bzw. Harnack an Chamberlain am 1.12.1902, in: aaO. 110 Wilhelm II. an Chamberlain am 16.2.1903, in: Chamberlain: Briefe. Band 2 (Anm. 71), 188–192, 189. 111 Chamberlain an Wilhelm II. am 4.2.1903, in: aaO., 168–188. 112 Chamberlain an Wilhelm II. am 27.3.1903, in: aaO., 193–212, 205. 109
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
soll eben bis ans Ende der Welt sich bewahrheiten, daß das Heil der Religion niemals von Theologen ausgeht.“113 In den folgenden Jahren kam es nur zu kurzen brieflichen Kontakten, die sich seitens Harnacks auf knappe Danksagungen für übersandte Schriften beschränkten.114 Persönliche Begegnungen sind nach 1902 an Hand des Briefwechsels nicht mehr nachweisbar. In der Korrespondenz Chamberlains mit Wilhelm II. spielte er gleichfalls keine Rolle mehr. Dem Münchener Verleger Lehmann gestand Chamberlain 1905, daß ihm der Berliner Theologe Otto Pfleiderer „als Gelehrter viel sympathischer als Harnack“ sei – „und doch besitzt letzterer eine gewisse Gewalt über die Masse, und ich wünschte, Pfleiderer besäße dasselbe Geheimnis.“115 Auf kein Verständnis stieß bei Chamberlain Harnacks offenkundige und bis in die 1870er Jahre datierende Abneigung gegenüber dem Werk Richard Wagners sowie des Bayreuther Wagner-Kults, zu dessen wichtigsten Propagandisten Chamberlain, der 1908 Wagners Tochter Eva geheiratet hatte, gehörte.116 Auf Chamberlains diesbezügliche Klage reagierte Harnack umgehend. Die Quellen seiner Kraft flössen seit seiner Jugend noch so reichlich, daß „ich kein Bedürfnis fühle, mich an andere Quellen zu setzen […].“ Für seine „puritanische Veranlagung“ ließen sich Religion, Wissenschaft und Kunst allein im Subjekt verbinden, „aber im Objekt halte ich sie auseinander und schöpfe aus der Verbindung dort keine Kraft noch Klarheit.“ Bayreuth sei daher für „meine Simplizität zu sublim und komplizirt.“117 Das war eine freundliche, der Sache nach aber überaus deutliche Absage. Die in der persönlichen Begegnung schon markierte Ablehnung der Chamberlainschen Rassentheorie hatte Harnack allerdings bereits Ende 1907 in einem grundsätzlichen Artikel klar gestellt.118 Zwar wurde Chamberlain nicht namentlich genannt, er gehörte aber zu den „geistreichen, aber etwas unklaren Rassephilosophen“, die sich mit „moderner Vererbungstheorie“ und „nationale[m] oder ‚völkische[m]‘ Chauvinismus“ zusammengetan hätten, um „uns die Rassentheorie als den wichtigsten, ja einzigen Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte anzubieten.“119 Nicht nur als wissenschaftliches, sondern gerade als politisches „Kampfmittel“ werde die 113
AaO., 210. Die beiden einzigen Schreiben Harnacks aus den Jahren 1903 bis 1911 an Chamberlain datieren vom 28.10.1903 und 7.2.1908, in: RWG Bayreuth, Nl. Chamberlain, Korr. Harnack. 115 Chamberlain an J. F. Lehmann am 5.6.1905, in: Chamberlain: Briefe. Band 1 (Anm. 71), 152–154, 153. 116 Vgl. Chamberlain an Harnack am 13.6.1911, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Chamberlain. 117 Harnack an Chamberlain am 15.6.1911, in: RWG Bayreuth, Hs 93/24. 118 Rasse, Überlieferung und Individuum, in: Neue Freie Presse vom 25.12.1907, auch in: Baltische Monatsschrift 65 (1908), 26–33. 119 AaO., 27. 114
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Rassentheorie von ihren Vertretern „mit jenem Fanatismus, wie er sonst nur religiösen Eiferern eignet“, gebraucht: „Humanität und Weltbürgertum finden nur ein verächtliches Lächeln; diese Ideale unserer Großväter und Väter sollen zum alten Eisen geworfen werden!“ Dagegen erklärte Harnack es für „unsittlich“, „praktische Politik auf sie zu gründen“120, und ließ dem eine ausführliche theoretische Widerlegung folgen.121 Weder ließen sich etwa innerhalb des europäischen Kulturkreises unter Einschluß der Juden bestimmte Rassen sicher abgrenzen, noch sei – selbst wenn das gelänge – zu klären, welche der dann festgestellten Besonderheiten auf die Rasse und welche auf die Geschichte zurückzuführen seien. Schließlich sei es – für den Fall, daß auch dies möglich sei – schlechthin ethisch nicht zulässig, eine „Rasse als Rasse zu bekämpfen“, wobei er ausdrücklich auf die Menschenrechte verwies.122 So lautete Harnacks Fazit: „Ich muß bemerken, daß schon das Wort ‚Rasse‘, in den Verbindungen, in denen es heute vielfach gebraucht wird, inhuman und beleidigend lautet, als hätten wir es mit dem Tierreich zu tun. Was die ‚Rasse‘ bewirkt, das können wir weder ergründen noch durch zornige Worte verändern, darum dürfen wir in dem Wettkampfe der Geister wie der Völker nur unseren geschichtlichen Erwerb einsetzen. […] das geistig gemeinsame wird sich stärker erweisen, als alle durch die ‚Rasse‘ herbeigeführten Modifikationen, und allein in dieser Gewißheit wurzelt die Hoffnung auf den Fortschritt und die zunehmende geistige Einheit des Menschengeschlechts.“123 An dieser grundsätzlichen Ablehnung vermochte auch Harnacks Begeisterung für Chamberlains 1912 erschienenes Goethe-Buch nichts zu ändern, dessen Lektüreeindrücke er dem Verfasser in fünf ausführlichen Briefen im November 1912 mitteilte.124 Auf scharfe Kritik stieß Chamberlains „antijüdische Polemik vom Standpunkt der Rasse! Sie sind wirklich von einem antijüdischen Dämon beseßen [!], der Ihnen den Blick trübt und Ihr herrliches Buch mit einem Flecken entstellt.“ Weder könne er, so Harnack, „scharfe Rassen-Charakterlinien“ zwischen Ariern und Semiten erkennen, noch vergessen, daß „wir Jesajas, Jeremias und die Psalmen und vor allem Jesus Christus selbst quod naturam den Juden verdanken.“ Zwar gestand auch Harnack zu, daß es „schlimme Juden“ gebe, die heute „eine furchtbare Kalamität“ seien, aber „um so größer muß unsere Weisheit u. Liebe gegen sie sein.“ Diesem Volk sei es durch die Geschichte „furchtbar schwer gemacht worden, sich zu edler Menschlichkeit emporzufinden. Aber schon jetzt kenne ich mehrere Juden, die mir auf verschiedenen Linien Ehrerbietung abnö120
Ebd. AaO., 27–31. 122 AaO., 27. 123 AaO., 30f. 124 Harnack an Chamberlain am 13., 17., 19., 21. und 24.11.1912, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Chamberlain. 121
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
tigen. Wollen wir dem Volke doch hoffen, daß es vorwärts komme.“125 Harnacks Ausführungen markierten noch einmal deutlich seine Ablehnung von Rassentheorie und Antisemitismus, zeigten aber dabei zugleich die Grenzen seines protestantisch dominierten Humanitätsideals auf, in dem eine protestantisch imprägnierte Kultur zum Maßstab der Entwicklung auch des Judentums erklärt wurde. Trotz aller Ablehnung hat Harnack die Gefahr, die von den Gedanken Chamberlains ausging, insgesamt unterschätzt, so daß sie etwa an seiner Bewunderung für dessen Goethe-Buch keinen grundlegenden Abbruch taten. Dessen „Polemik gegen die Goethe-Philologen und die Juden“ sei der „Höhe des Werkes nicht würdig […], aber man kann darüber hinwegsehen.“126 Auch in der Folgezeit blieb der Kontakt zu Chamberlain bestehen, allerdings in unregelmäßigen Abständen. So übersandte Chamberlain Harnack seine Kriegsaufsätze, für die Harnack dankte127 und die er in einem – nur im Entwurf erhaltenen – Brief an den Kaiser überaus deutlich lobte, um dann mit Blick auf Chamberlain fortzufahren: „Die Metamorphose, die aus einem Engländer einen Deutschen gemacht hat, ist eine gute Schöpfung.“128 Nimmt man den Umstand hinzu, daß Chamberlain in Harnacks wissenschaftlicher und privater Korrespondenz mit Freunden und Kollegen keine Rolle spielt129, so wird man in dieser Wendung wohl den Versuch Harnacks sehen, durch die ausdrückliche Erinnerung an Chamberlain an die Kontakte zum Kaiser aus der Vorkriegszeit anzuknüpfen, die mit dem Ausbruch des Krieges und der Abreise des Kaisers an die Front nicht gänzlich unterbrochen, aber doch so lose geworden waren, daß von einem Einfluß Harnacks auf den Kaiser keine Rede mehr sein konnte. Dieser Umstand erklärt die gerade an diesem Entwurf und seiner Bearbeitung deutliche „stilistische Geschmeidigkeit, auf den Adressaten berechnet, sich selbst fortreißend, dann aber in kühler Neudurchsicht dem kritischen Urteil unterworfen.“130 Insofern kam Chamberlain hier in den Augen Harnacks wohl tatsächlich eine Scharnierfunktion zu. Über politische oder wissenschaftliche Fragen erfolgte nach 1912 kein Austausch mit Chamberlain mehr.131 Ob sein Bildnis, das Chamberlain Harnack 1925 übersandte, zu denen gehörte, „die ihm die liebsten waren“, wie 125 126
Harnack an Chamberlain am 24.11.1912, in: aaO. Harnack an Bülow am 29.12.1912, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83, Korr. Har-
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Harnack an Chamberlain am 24.11.1914 und am 13.4.1915, in: RWG Bayreuth, Nl. Chamberlain, Korr. Harnack. 128 Harnack an Wilhelm II. am 26.9.1915, in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 129 So findet Chamberlain in der eingesehenen Korrespondenz Harnacks nur in wenigen Briefen an Althoff, Bülow und Wilhelm II. Erwähnung. 130 Vom Bruch: Harnack (Anm. 79), 30. 131 Neben drei kurzen Schreiben und einer Visitenkarte aus der Kriegszeit (1914/15) ist lediglich ein kurzes Schreiben Harnacks an Chamberlain vom 17.9.1925 sowie an des-
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Agnes von Zahn-Harnack berichtet, mag dahingestellt bleiben.132 Immerhin muß erwogen werden, inwieweit ihre Darstellung gerade in diesem Abschnitt nicht auch den Zeitumständen ihrer Biographie geschuldet war133, die freilich gleichfalls betonte, daß Harnack „Chamberlains Standpunkt in der Rassenfrage auf das Entschiedenste“ ablehnte. In der Rezeption der 1936 erschienen Biographie kam dem Verhältnis Harnacks zu Chamberlain eine wichtige Bedeutung zu. Für einen den Deutschen Christen nahestehenden Theologen wie Erich Seeberg – den Sohn von Harnacks Fakultätskollegen Reinhold Seeberg – war neben Harnacks politischer Stellung während und nach dem Weltkrieg seine Geringschätzung der Chamberlainschen Rassentheorie ein Beleg dafür, daß Harnack „in deutlicher Distanz zu den politischen und geistigen Kräften des heutigen Deutschland“ stand.134 In der Neuauflage von 1951 blieb das Chamberlain-Kapitel dann selbst unverändert, aber der 1936 noch ausführlich zitierte Briefentwurf an den Kaiser von 1915 fehlte.135 Wilhelm II. äußerte sich noch nach dem Krieg fasziniert von der Persönlichkeit Harnacks: „Was für eine gebietende Stellung in der Geisteswelt hat er sich errungen! Welchen Nutzen und wieviel Wissen hat mir der rege und intime Verkehr mit diesem feurigen Geist gebracht! Was hat er als Leiter der Königlichen Bibliothek und als Dekan des Senats der Kaiser-WilhelmGesellschaft geleistet, in der er, der Theologe, die geistvollsten und inhaltsreichsten Reden über die exakten Wissenschaften, über Forschungen und Erfindungen auf dem Gebiet der Chemie usw. hielt.“136 Es war der naturwissenschaftlich interessierte, vor allem aber organisatorisch versierte wissenschaftspolitische Modernisierer Adolf Harnack, an dem der Kaiser Gefallen fand. Politische Dinge wurden hingegen allenfalls in kaiserlichen Monologen behandelt, Harnack selbst verbot sich hier offensichtlich jegliche Stellungnahme. Ein Aufsatz, den er anläßlich des 10. Todestages Bismarcks veröffentlichte, wurde nicht von Harnack – anders als bei seinen wissenschaftspolitischen Arbeiten –, sondern von Reichskanzler Bernhard von Bülow dem Kaiser vorgelegt.137 Wilhelm gab seiner Zustimmung durch Randsen Frau vom 2.11.1927 erhalten, in dem er die Erlaubnis für den Abdruck eines an ihn gerichteten Briefs Chamberlains erteilte. 132 ZH 274. 133 Vgl. dazu den Vergleich der Ausgaben von 1936 und 1951 bei: Björn Biester: Kritische Notizen zu Agnes von Zahn-Harnacks „Adolf von Harnack“, in: Quaderni di storia 54 (2001), 223–235, der auch auf die durch die Hilfe von Theodor Heuß überwundenen Schwierigkeiten hinweist, einen Verlag für die Biographie zu finden. 134 Erich Seeberg: Rez. Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, in: ThLZ 62 (1937), 19–21, 20. 135 Vgl. ZH (1951), 368. 136 Kaiser Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Leipzig/Berlin 1922, 165. 137 Vgl. Bülow an Harnack am 5.8.1908, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow; Adolf Harnack: Bismarck, in: Neue Freie Presse vom 26.7.1908, wieder in: RANF 1, 189–196.
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bemerkungen Ausdruck138, Folgen hatte dies aber für einen über Wissenschaft und Bildungsfragen hinausgehenden Einfluß Harnacks nicht. Daß Harnack es geradezu meisterhaft verstand, den endlos monologisierenden und die Gesprächsgegenstände sprunghaft wechselnden, nur schwer berechenbaren Monarchen trotz aller Schwierigkeiten für die eigenen Anliegen zu interessieren, ist bereits erwähnt worden. Harnack war sich der Widersprüche und Abgründe der Persönlichkeit des Kaisers durchaus bewußt, kannte seine Sprunghaftigkeit und seine Neigung zur Oberflächlichkeit. In bezug auf seine Lektüregewohnheiten sprach er gar von einem „Geheimnis der göttlichen Weltleitung, herbeizuführen, was der Kaiser liest und was auf ihn Einfluß macht.“139 Insgesamt beurteilte er die Gestalt des Kaisers zweifellos positiv, stand aber dem näheren Umfeld des Kaisers in den konservativen Kreisen der Hofgesellschaft außerordentlich kritisch gegenüber, die freilich ihrerseits der Baronin Spitzemberg zufolge Harnack mißtrauten. Der Umgang mit Dichtern, Künstlern und Gelehrten wie Harnack habe „S.M.“ „allmählich diesen Fähnrichston abgewöhnt, was aber wiederum den Hofleuten und Adjutanten unangenehm“ und „unbehaglich“ geworden sei.140 Neben der Wissenschaftspolitik fanden sich freilich auch andere Gesprächsthemen. So wurde Harnack am 29. Oktober 1901 schon vormittags nach Liebenberg, dem Gut des Kaiserfreundes Philipp von Eulenburg, gerufen: „Ich war den ganzen Tag dort und fuhr abends mit dem Kaiser zurück, der sehr gnädig und sehr guter Dinge war. Anstrengend war es freilich – 2 3/4 Stunden habe ich auf einem Fleck vor ihm gestanden am Nachmittag: er schien gar nicht zu ermüden.“141 Gegenstand der Unterredungen, „die dadurch besonders interessant waren, daß sie fast einseitig waren“142, stellten, wie Harnack Althoff am 26. November 1901 mündlich berichtete, die Umstände des Rücktritts Bismarcks dar. Dieser habe ihm, dem Kaiser, „die Veranstaltung eines Straßenputsches und in Folge davon die Abschaffung des allg. Wahlrechts vorgeschlagen […]; sonst ginge Preußen od. die Monarchie zu grunde; das könne S. M. aber nicht veröffentlichen, um dem deutschen Volke nicht seinen Bismarck zu nehmen.“143 138 Ein Exemplar des Aufsatzes mit Notizen in: aaO., K. 45, Korr. Wilhelm II. Dem Kaiser gefielen besonders die Stellen, in denen Harnack auf die Grenzen Bismarcks verwies sowie dessen Abschied 1890 behandelte. 139 Harnack an Loofs am 29.5.1917, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 19 IX, 1653a, auszugsweise auch bei ZH 267f. 140 Rudolf Vierhaus (Hg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen 1960, 564 (Eintrag vom 6.12.1913). 141 Harnack an Althoff am 31.10.1901, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79 III. 142 Ebd. 143 So eine Notiz Althoffs auf einer Abschrift des oben zitierten Harnackbriefes, in: aaO.
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Harnack gewann somit durch seine Kontakte zum kaiserlichen Hof einen tiefgehenden Einblick in die deutsche Politik, wie sie sich aus der Sicht des Monarchen darstellte. Bei aller Sympathie für diesen beunruhigten ihn, wie er im privaten Kreise äußerte, große Teile der Umgebung des Kaisers144, aber auch der unwägbare Regierungsstil Wilhelms selbst. Nach Agnes von ZahnHarnack konnte Harnack sich mit Blick auf den Kaiser als „den Mann, der die Geschicke Deutschlands in der Hand hielt, […] mancher Sorge nicht entschlagen.“145 Die Krisen in der Umgebung des Kaisers konnte er aus nächster Nähe beobachten. Althoff berichtete er über die Aufnahme der Enthüllungen über die angebliche oder tatsächliche Homosexualität des Kaiserfreundes und Hauptes der „Liebenberger Tafelrunde“, Philipp von Eulenburg.146 Die Daily-Telegraph-Affäre vom November 1908 war nach Harnack für den Kaiser und „sein Temp[e]rament freudigen Selbstvertrauens ein furchtbarer Schlag“, auch habe er sein Vertrauen zu Bülow ganz verloren.147 Mehrfach wurde Harnack zudem aufgefordert, Wilhelm auf dessen Reisen zu begleiten. So ließ Wilhelm durch Althoff, der ihn auf einer Kreuzfahrt durch das Mittelmeer begleitete, Harnack am 26. März 1905 übermitteln, er möge sich am 5. April für einige Tage in Neapel einfinden – eine Einladung, der Harnack aus Zeitmangel nicht nachkam.148 1913 erhielt er auf ausdrücklichen Wunsch des Monarchen von dem Reeder und Kaiservertrauten Albert Ballin eine Einladung zur Probefahrt des Kreuzfahrtschiffes „Imperator.“149 Es dürfte freilich zu kurz gegriffen sein, Harnacks Aufstieg zu einem der führenden deutschen Wissenschaftsorganisatoren nach 1900 allein dem Einfluß des Kaisers zuzuschreiben. Zwar vermochte er es, auf diesem Feld etliche Ideen so zu formulieren, daß der Kaiser sie sich zu eigen machte und damit bei Schwierigkeiten mit einzelnen Behörden eingeschaltet werden konnte. Indem es Harnack gelang, gemäß dem „Königsmechanismus“ Problemlagen und Entscheidungen zu personalisieren, konnte er wissenschaftspolitisch gestaltend wirken und Entscheidungen herbeiführen, die ohne die ausdrückliche Billigung Wilhelms erheblich schwieriger gewesen wären. Zweifellos hätte Harnack ohne den Kontakt zu Wilhelm wohl nicht eine so herausgehobene, gleichsam offiziell-repräsentative Rolle im Beziehungsgeflecht von Staat, Gesellschaft und Wissenschaft spielen können. Seine wis144 Vgl. Isabel V. Hull: The Entourage of Kaiser Wilhelm II, Cambridge 1982. Harnack wird in Hulls grundlegender Studie nicht erwähnt. 145 ZH 263. 146 Harnack an Althoff am 31.5.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79 III. Zur Affäre um „Phili“ Eulenburg vgl. John C. G. Röhl: Graf Philipp zu Eulenburg – des Kaisers bester Freund, in: ders.: Kaiser (Anm. 81), 35–77. 147 Harnack an Kehr am 23.12.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Kehr A I 5 Ha. 148 Althoff an Harnack am 26.3.1905, in: Nl. Harnack, K. 26. 149 Ballin an Harnack am 1.4.1913, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Ballin.
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senschaftliche Reputation blieb davon jedoch ebenso unberührt wie seine herausragende organisatorische und gutachterliche, die Dinge systematisch verdichtende und auf den Punkt bringende Begabung. Sie wäre wohl auch allein im Zusammenspiel mit Althoff zum Zuge gekommen, wenngleich nicht in der ersten Reihe stehend, sondern mehr noch im Hintergrund wirkend. Zudem baute Harnack auf weitere gesellschaftliche Kontakte, die er gleichfalls auch wissenschaftspolitisch zu nutzen versuchte. So wird nun zunächst überblicksweise auf Harnacks Beziehung zur Preußischen Unterrichtsverwaltung bis 1914 einzugehen sein.
1.2. „Das Ganze ins Auge fassen“: Harnack und die preußische Wissenschaftspolitik 1900 bis 1914 1.2.1. Von der Jahrhundertwende bis zum Abschied Althoffs 1907 Die Vertrauensposition, die Harnack seit 1900 beim Kaiser genoß, veränderte seine Stellung innerhalb der preußisch-deutschen Wissenschaftspolitik und erweiterte zugleich sein Aktionsfeld. Bis zur Jahrhundertwende vorrangig in Fragen der Theologischen Fakultäten sowie der Akademie der Wissenschaften herangezogen, kamen seit 1900 die Schul- und Bildungspolitik, die Reorganisation des Preußischen Historischen Instituts, das Bibliothekswesen, die internationale Wissenschaftspolitik und schließlich Althoffs umfassende Pläne für wissenschaftliche Institutsgründungen in Dahlem hinzu. Damit verstärkte sich zudem die gouvernementale Anbindung von Harnacks Agieren, der nun noch stärker zwischen dem Glauben an die unbedingte Freiheit der Wissenschaft auf der einen sowie gesamtstaatlichen Interessenlagen auf der anderen Seite abzuwägen hatte – besonders deutlich etwa anläßlich des Falles Spahn, dessen Berufung auf eine konfessionell gebundene Professur er gleichfalls für problematisch, mit Blick auf die national- und konfessionspolitischen Erwägungen der Regierung aber letztlich als hinnehmbar erachtete. Auch seine Amtsführung als Rektor der Berliner Universität zeugt von solchen Abwägungen. Als am 1. Dezember 1900 eine Delegation des „Vereins Deutscher Studenten“ an Harnack mit der Bitte herantrat, anläßlich der erwarteten Ankunft des Präsidenten der BurenrepublikTransvaal, Paul Krüger, in Berlin eine Feier zu dessen Ehren zu veranstalten, wandte er sich angesichts der Brisanz des Vorgangs an das Ministerium: Ein Empfang Krügers hätte unweigerlich als antienglischer Affront wirken müssen, so daß die Reichsleitung, schließlich mit Erfolg, bemüht war, Krüger von einem Besuch in Berlin abzuhalten.150 Da Althoff 150 Vgl. Harnacks Bericht an Mommsen am 1.12.1900, in: BwM 798–800; zum politischen Kontext Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Frankfurt am Main 1999, 208–212.
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nicht zugegen war, trat Harnack sogleich an den Minister heran, der wiederum nicht ohne Rücksprache mit dem Reichskanzler und dem Innenminister über die Anfrage entscheiden wollte.151 Angesichts dieses Vorgangs lehnte Harnack die Beteiligung an einer von Theodor Mommsen geplanten Sympathieerklärung für Krüger ab.152 Als Mommsen dann – trotz weiterhin unverkennbarer Sympathie für die Buren – das Verhalten der deutschen Regierung, Krüger nicht zu empfangen, auch öffentlich verteidigte153, lobte Harnack den Dienst, den der greise Althistoriker damit dem Vaterland geleistet habe: „Ich empfinde mit Ihnen, wie bitter schwer es Ihnen gewesen ist, dies Wort zu sprechen, u. doch mußte es gesagt werden.“154 Harnack befand sich damit nicht nur in Einklang mit der Reichsregierung, sondern auch mit seinem Schwager Delbrück, dessen Kommentierung der deutschen Burenpolitik seit 1899 eng mit Außenamtschef bzw. seit 1900 Reichskanzler von Bülow abgestimmt war.155 Daß Harnack es verstand, mit Althoff abgestimmte Projekte der Unterstützung des Kaisers zu versichern, ist bereits ausführlich behandelt worden. Daneben gelang es ihm, Althoffs wissenschaftspolitische Projekte unter dem Stichwort „wissenschaftlicher Großbetrieb“ zu bündeln und damit zugleich einen Begriff zu entwickeln, der sich auf die unterschiedlichen Arbeitsgebiete anwenden ließ. Zunächst im Zusammenhang mit Harnacks Reformvorschlägen für die Akademie entstanden, diente er – programmatisch 1905 in einem ausführlichen Aufsatz entfaltet156 – sowohl der Begründung der Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebes, wie sie im deutsch-amerikanischen Gelehrtenaustausch vorangetrieben werden sollte, als auch der Bibliothekspolitik sowie dann insbesondere der Propagierung von Althoffs Plänen für Dahlem, die schließlich in die Gründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft einmündeten. Dazu trat als großes, dann aber wegen des politischen Widerstands nicht verwirklichtes Vorhaben, der Plan zu einer Neuordnung der staatlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik durch eine Teilung des zuständigen Ministeriums, in den Harnack an entscheidender Stelle involviert war. War Harnack spätestens mit der Übernahme des Rektorats sowie mit seiner Beratungstätigkeit für die Gründung einer katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg über die protestantische Theologie hinaus in die preußi151 Ebd. Nach dem Verzicht Krügers auf einen Empfang in Berlin erübrigte sich dann wohl die Angelegenheit. Eine Burenkundgebung des Vereins Deutscher Studenten fand erst am 1.3.1901 mit etwa 4000 Teilnehmern statt, vgl. den Bericht in: Akademische Blätter 15 (1901), 377–380. 152 Ebd. 153 Dazu ausführlich BwM 490–499. 154 Harnack an Mommsen am 8.12.1900, in: aaO., 800. 155 Dazu Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, 241f. 156 PJ 119 (1905), 193–201, auch in: RANF 1, 10–20.
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sche Hochschulpolitik einbezogen, so gilt gleiches für die Bibliothekspolitik.157 Eine tiefgreifende Reform des preußischen Bibliothekswesens gehörte seit den 1880er Jahren zu den wichtigsten Anliegen Althoffs, darunter eine Verwissenschaftlichung der Bibliothekarsausbildung sowie die Einrichtung des Gesamtkataloges der Preußischen Bibliotheken.158 1898 bat Althoff Oskar von Gebhardt, den engen Freund Harnacks, der inzwischen der Leipziger Universitätsbibliothek vorstand, um Auskunft über die Anforderungen an einen Neubau der Berliner Königlichen Bibliothek. In seiner Antwort gab Gebhardt zu erkennen, daß ein solcher Neubau eigentlich eine Erweiterung der Königlichen Bibliothek hin zu einer deutschen Nationalbibliothek darstellen müßte.159 Harnack, sicher über Gebhardts Gutachten orientiert, griff erstmals im April 1901 in einer Unterhaltung mit dem Kaiser den geplanten Neubau der Königlichen Bibliothek auf. Als im März 1903 das preußische Abgeordnetenhaus einen repräsentativen Neubau Unter den Linden bewilligt hatte, in dem auch Räumlichkeiten für die Akademie der Wissenschaften bereitstehen sollten, gratulierte Harnack Althoff zur Verwirklichung seiner Pläne.160 Als der bisherige Direktor der Bibliothek Wilmanns signalisierte, sein Amt aus Altersgründen niederlegen zu wollen, votierte Althoff für Harnack als dessen Nachfolger, um sowohl dessen organisatorische Fähigkeiten als auch seine wissenschaftliche Reputation für die Reorganisation der Bibliothek zu gewinnen, besonders aber um seine „administrative Geschicklichkeit, auch in Vertretung der Mehrbedürfnisse der Königl. Bibliothek bei den beteiligten Ministerien, die sich auf eine autoritative Position stützt“161, zu nutzen. Anfang November 1904 signalisierte Harnack Althoff seine Einwilligung, für den Fall des Rücktritts Wilmanns das Amt zu übernehmen, machte aber zur Bedingung, weiter 157 Zu Harnacks Rolle als Bibliothekspolitiker vgl. Emil Jacobs: Adolf von Harnack, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 47 (1930), 365–376; ZH 248–261; Klaus-Dieter Dorsch: Adolf von Harnacks Ernennung zum Generaldirektor der Königlichen Bibliothek zu Berlin, in: Bibliothek und Wissenschaft 21 (1987), 160–188, sowie Friedhilde Krause (Hg.): „Auswählen, Verwalten, Dienen …“. Dienstprotokolle aus der Amtszeit Adolf von Harnacks an der Königlichen Bibliothek/Preußischen Staatsbibliothek 1905 bis 1921, Berlin 2001. 158 Vgl. vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik (Anm. 73), 60f., Bernhard Fabian: Die Reform des preußisch-deutschen Bibliothekswesens in der Ära Althoff: Fortschritt oder Weichenstellung in eine Sackgasse?, in: Bernhard vom Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff “ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991, 425–451. 159 Vgl. Nowak: Einführung (Anm. 51), 53, unter Rückgriff auf das in der UB Leipzig verwahrte Gutachten Gebhardts vom 3.6.1898. 160 Harnack an Althoff am 20.3.1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 161 So Althoff in einem Brief an den tief enttäuschten Wilhelm Erman, der sich gleichfalls Hoffnungen auf das Amt gemacht hatte, zitiert nach ZH 252; vgl. auch die Sicht bei Wilhelm Erman: Erinnerungen, Köln/Wien/Weimar 1994, 249–253.
1. Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik
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hauptberuflich an der Universität zu lehren, darin aber durch einen zweiten Ordinarius für Kirchengeschichte entlastet zu werden.162 Am 8. März beschied Harnack auch die offizielle Anfrage des Ministers positiv163, am 2. Oktober 1905 erfolgte die Einführung Harnacks in sein neues Amt durch Kultusminister Studt.164 Zwischenzeitlich hatte Harnack, dessen Berufung als Nichtbibliothekar in Fachkreisen zunächst zu erheblicher Verstimmung geführt hatte, neben der Berufung eines weiteren Kirchenhistorikers – dieser Ruf erging 1906 an den von Harnack favorisierten Karl Holl – eine Stärkung der Kompetenzen des Generaldirektors innerhalb wie außerhalb der Bibliothek durch „eine gewisse Centralisirung des staatlich-wissenschaftlichen Bibliothekswesens in der Hand des Generaldirektors“165 gefordert, denn „weder möchte ich mich mit allen Details belasten, noch weniger möchte ich ein bloßer Scheindirektor sein.“166 Harnacks Vorschlag – von Althoff unterstützt und sachlich schließlich auch vom Kaiser selbst ausdrücklich befürwortet167 – wurde 1907 mit der Schaffung des Beirats für Bibliotheksangelegenheiten erfüllt, der Harnack als dessen Vorsitzendem die Oberaufsicht über die preußischen Bibliotheken sicherte. Schon die Umstände der Übernahme der Königlichen Bibliothek belegen, daß Harnack in diesem Amt wissenschaftspolitisch zu gestalten dachte, weniger als Bibliothekar, sondern als „Organisator“, wie er Rade mitteilte.168 Mit einer für Harnack typischen Wendung hieß es dann weiter: „Ich freue mich durch meinen neuen Beruf – ‚Nebenberuf‘ – ein neues Eisen im Feuer zu haben. Man lernt die Welt nur so weit kennen, als man auf sie wirkt.“169 An Gustav Schmoller, der sich besorgt über mögliche Konflikte und damit einhergehende Einschränkungen der Freiheit, wie sie einem Universitätsprofessor zukomme, äußerte, schrieb Harnack über sein Verständnis der neuen Aufgabe, die er ausdrücklich als Nebenamt – „das Hauptamt bleibt die Professur“ – betrachtete: „Konflikte, die meine Freiheit beschränken, 162
Harnack an Althoff am 2.11.1904, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79
III. 163 Harnack am 8.3.1905 an Minister Studt (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 1, Personalpapiere, Bl. 126, auszugsweise auch bei ZH 249. 164 Vgl. den Bericht in: VZ Nr. 463 vom 3.10.1905. 165 Harnack an Althoff am 11.6.1905, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff A II, Nr. 79 III. 166 Harnack an Althoff am 6.9.1905, in: aaO. 167 Vgl. Althoff an Harnack am 4.9.1905: „Bei dem Vortrage, den ich Exz. v. Lucanus erstattete, kam auch die Übernahme der Bibliotheksleitung durch Sie zur Sprache. Der Kaiser war davon in hohem Grade befriedigt und erklärte sich auch mit den weiteren Darlegungen wegen einheitlicher Leitung des ganzen Bibliothekswesens und der allmählichen Schaffung eines Bibliotheksamtes ganz einverstanden“, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 168 Harnack an Rade am 27.8.1905, in: BwR 576f. 169 Harnack an Rade am 29.8.1905, in: aaO., 577.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
kann ich mir bei der Natur des Amtes nicht vorstellen; sollten sie kommen, so wäre die Entscheidung augenblicklich getroffen. […] Eine Stellung im Ministerium mit dem Amte zu verbinden […], habe ich nicht gewünscht und würde sie gegebenen Falls ablehnen. Ausschlag gebend war für mich einfach die Erwägung, daß an die Spitze der Bibliothek u. des Bibliothekswesens ein Professor und Akademiker gehört, damit diese wichtigste Institution unter den wissenschaftlichen Instituten des Staats nicht zurückbleibe und damit sie die Mittel erhalte und das Ansehen bewahre (oder wieder gewinne), die ihr gebühren. Ich fasse die Thätigkeit an der Spitze der Bibliotheken als eine doppelte auf, (1) als eine rein wissenschaftliche u. wissenschaftlich-organisatorische und (2) als Geldmittel beschaffende. Mit dem Kleinkram werde ich mich, nachdem ich ihn kennen gelernt, nicht befassen.“170 Harnacks Anspruch, mit der Leitung der Bibliothek einen gewichtigen Beitrag zur effizienten Wissenschaftsorganisation zu leisten, markierte er bereits anläßlich seiner Amtseinführung, stelle die Bibliothek doch nicht ein „isoliertes Institut, sondern den Mittelpunkt eines großen Systems, welches unser ganzes Vaterland umspannt“, dar.171 Harnacks Zielpunkt war die Schaffung einer großen deutschen Nationalbibliothek: „es gehört […] einfach wie zur nationalen Existenz so auch zur vollen Ausgestaltung der nationalen Würde, daß das geistige Leben der Nation, wie es sich in der Bücherproduktion ausspricht, in einer nationalen Bibliothek gesammelt wird […].“172 Bei der Beschaffung der Mittel, die Harnack zufolge seit 1889 nicht wesentlich erhöht worden waren, konnte der neue Generaldirektor in der Tat beachtliche Erfolge aufweisen, auch deshalb, weil er es verstand, in den Verhandlungen mit den Behörden die Bibliothek als unentbehrliches Mittel deutscher Weltgeltung mit Argumenten zu empfehlen, die wenige Jahre später auch für die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft entscheidend sein sollten. So heißt es in einem Gutachten Harnacks von 1906, das um zusätzliche Mittel für die Bibliothek zwecks Verbesserung ihrer Bestände an technischer, medizinischer und naturwissenschaftlicher Fachliteratur warb: „Was wir im Kreise der Kulturvölker bedeuten, das liegt alles beschlossen in unserer Wehrkraft und unserer Wissenschaft, mit welch letzterer unsere Technik und Industrie auf engste verbunden sind, weil sie – im Unterschied von anderen Völkern – mehr und mehr angewandte Wissenschaft bei uns geworden sind. Unterstützen wir nicht unsere Wissenschaft mit allen Kräften und in rastlosem Fortschritt, so fällt unsere Größe dahin. Die Wehrkraft al170
Harnack an Schmoller am 11.10.1905, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 197b, Bl. 87f. 171 Ansprache bei der Übernahme der Generalverwaltung der Königlichen Bibliothek (1905), in: RANF 5, 3–6, 4. 172 Die Benutzung der Königlichen Bibliothek und die deutsche Nationalbibliothek (1912), in: RANF 3, 227–261, 248.
1. Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik
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lein kann sie nicht tragen!“173 Harnacks Pläne in bezug auf die Bibliothek freilich erfüllten sich insgesamt nicht, wie er schon 1912 – im Jahr der Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig – zugeben mußte, wenngleich er die Bibliothek weiter wenigstens auf dem Weg zur Nationalbibliothek sehen wollte.174 Spielte die Betonung der Wissenschaft als ein neben der militärischen Stärke fast gleichrangiges Instrument deutscher Weltpolitik in Harnacks wissenschaftspolitischen Gutachten eine ganz entscheidende Rolle, so darf doch nicht übersehen werden, daß dem Hinweis auf die zunehmende Internationalität der Wissenschaften gleichfalls ein hoher Stellenwert in seiner Argumentation zukam. So wies auch das erwähnte Gutachten von 1906 auf die Anziehungskraft der Königlichen Bibliothek für ausländische Studenten und Forscher hin, und die Antrittsrede von 1905 verband mit dem Hinweis auf den „nationalen Beruf “ der Deutschen, „zu unserer eigenen Arbeit auch noch alles aufnehmen und doppelt wiedergeben [zu müssen], was wir empfangen“, den Anspruch, ein umfassendes Bild außerdeutscher Wissenschaft und Kultur in den Beständen der Bibliothek bieten zu können.175 Der wichtige Aufsatz „Vom Großbetrieb der Wissenschaft“ hatte die Verteidigung des seit 1905 institutionalisierten deutsch-amerikanischen Professorenaustausches zum zentralen Thema176, kritisierte „kurzsichtige Patrioten und kurzsichtige Politiker“ und bemerkte zur über die Einzelwissenschaften hinausgehenden Bedeutung des Projektes: „Die Humanität und die Verbrüderung der Völker ist in unseren Tagen, da sie sich im Raume immer härter zu stoßen beginnen, mehr bedroht, als die meisten noch ahnen. Der wissenschaftliche Austausch, der sachliche und der persönliche, und der friedliche Wettbewerb der Wissenschaft vermögen hier viel aufzuhalten und viel zu verbessern! […] Die Fragen um den Besitz der Erde und die mit ihnen zusammenhängenden vermag die Wissenschaft nicht zu beschwichtigen, und nicht alle brutalen Instinkte der Menschheit vermag sie zu bannen. Aber wie sie imstande ist, durch Entdeckungen und Erfindungen die Hilfsquellen zu vermehren, Erleichterungen zu schaffen und dadurch Krisen zu verzögern, so vermag sie auch – und das ist nicht das Geringere – in den Arbeitenden 173 Das Gutachten in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, B XXXXVI, Nr. 9, in Auszügen bei Wendel (Anm. 89), 280. 174 RANF 5, 247: „Vergeblich waren selbst die Bemühungen des verewigten Ministerialdirektors Althoff, der seine ganze Kraft für den seinem Geiste kongenialen Plan einsetzte, und vergeblich bemühte auch ich mich, sobald ich die Generalverwaltung der Kgl. Bibliothek übernommen hatte, das große Projekt zu verwirklichen.“ 175 RANF 5, 5. 176 Vgl. besonders Bernhard vom Brocke: Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftspolitik und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 31 (1981), 128–182.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
einen ganzen Chor von Tugenden zu schaffen und Ungeduld, Kleinsinn und Engherzigkeit, Frivolität und Leichtsinn auszutreiben. Wenn sie die Entfernten einander persönlich näherbringt, führt sie auch die Verbrüderung der zivilisierten Nationen um einen Grad der Verwirklichung näher.“177 Als Harnack im Herbst 1910 die Kaiserrede zum Jubiläum der Universität entwarf, erläuterte er dem zuständigen Ministerialdirektor Schmidt-Ott seine Vorstellungen: „Am liebsten sähe ich in der Rede noch den Gedanken ausgedrückt, daß die großen Erkenntnisse der Wissenschaften, die ‚Wahrheiten‘ ein gemeinsames Band um die Völker schlingen und die Völker so viel Kraft haben, als sie diese Wahrheiten erkennen und pflegen […].“178 Insofern verbanden sich in Harnacks wissenschaftspolitischem Wirken, aber auch darüber hinaus – pointiert formuliert und einen berühmten Buchtitel Friedrich Meineckes aufnehmend – Weltbürgertum und Nationalstaat. Bei diesen Überlegungen standen zweifellos Harnacks zahlreiche Kontakte ins Ausland, etwa nach Frankreich und Italien, Holland und Schweden, v. a. aber nach England und Amerika – in diesen beiden Länder hatte Harnack seit seiner Gießener Zeit eine Reihe von Schülern, die inzwischen Lehrstühle inne hatten – im Hintergrund. Sämtliche wichtigen Werke Harnacks erlebten meist unmittelbar nach ihrem Erscheinen englische Übersetzungen.179 In Schweden pflegte Harnack besondere Kontakte zu dem Religionshistoriker und späteren Primas der lutherischen Staatskirche Nathan Söderblom. Bei aller Sympathie für Frankreich und Italien – ersteres hatte er besonders in den 1870er und 1880er Jahren auf der Suche nach Kirchenväterhandschriften für seine Editionsprojekte besucht und dabei auch Kontakte zu französischen Theologen geknüpft180, letzteres war auch nach 1900 häufiger dienstliches und privates Reiseziel Harnacks, wobei er sich besonders über die Resonanz, welche die Wesensschrift dort erzielte, erfreut zeigte181 – galt sein Interesse doch den mehrheitlich protestantisch geprägten Ländern. Harnack konnte gar von einer Affinität zwischen Protestantismus und „germanischen“ Nationen ausgehen: „möge der Pangermanismus – im guten, nicht im chauvinistischen Sinn des Wortes – in den engen Beziehungen der schwedischen, dänischen, norwegischen, niederländischen und deutschen Gelehrten immer stärker zum Ausdruck kommen! Ich nehme die englischen und amerikanischen hinzu. Zwar gilt die wissenschaftliche wie die religiöse Botschaft allen hominibus bonae voluntatis, und sie sind alle 177
RANF 1, 16f. Harnack an Schmidt-Ott am 13.9.1910, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Nr. 12. 179 Vgl. für Einzelnachweise die Harnack-Bibliographie von Friedrich Smend. 180 Vgl. Harnacks Bericht an Ritschl vom 18.10.1887 über einen Aufenthalt in Paris in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Ritschl. 181 Vgl. Harnack an Althoff am 3.4.1903 aus Rom, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105. 178
1. Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik
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willkommen, aber die Wissenschaft u. die Religion haben auch ihre ‚Heimlichkeiten‘ der Race.“182 In Althoffs Pläne zur Internationalisierung des Wissenschaftsaustausches dürfte Harnack gleichfalls spätestens seit der Jahrhundertwende einbezogen worden sein, zunächst vorrangig im Zusammenhang mit der Reorganisation des Preußischen Historischen Instituts in Rom von 1898 bis 1903.183 Auf ausdrücklichen Wunsch Althoffs und des Kaisers reiste Harnack im April 1903 auf den Internationalen Historiker-Kongreß in Rom.184 Im September des folgenden Jahres gehörte Harnack zu den deutschen Gelehrten – unter ihnen auch Max Weber und Ernst Troeltsch –, die den Internationalen Gelehrtenkongreß besuchten, der in Verbindung mit der Weltausstellung in St. Louis in den USA stattfand.185 Bei einem Besuch in Harvard kam die Sprache auch auf den von Althoff und dem Harvard-Präsidenten Eliot seit längerem verfolgten Plan eines Austausches von Professoren zwischen Harvard und Berlin, was – nachdem Harnack Althoff über die Gespräche informiert hatte – die Überlegungen so sehr voranbrachte, daß es bereits im Dezember 1904 zu einer entsprechenden Vereinbarung kam. Unterstützt von Wilhelm II. und dem US-Präsidenten Theodore Roosevelt begann der Austausch zum Wintersemester 1905. Ähnliche Vereinbarungen mit der Columbia-Universität – ihr Präsident Nicolas Butler wurde im September 1905 von Wilhelm II. in Wilhelmshöhe empfangen und verwies bei dem Gespräch ausdrücklich auf die Resonanz von Harnacks Vorträgen in St. Louis186 – sowie mit der Universität Chicago folgten. Harnack, von Althoff im Dezember 1904 mehrfach um seinen Rat für Zeitraum und Modalitäten des Austausches gebeten187, kam die Aufgabe zu, für die Idee des Professorenaustausches zu werben und gegen die besonders an der Berliner Universität einflußreichen Kritiker – darunter Dietrich Schäfer, Eduard Meyer und 182
Harnack an Söderblom am 23.12.1909, in: UB Uppsala, Nathan Söderbloms sam-
ling. 183 Vgl. Lothar Burchardt: Gründung und Aufbau des Preußischen Historischen Instituts in Rom, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 59 (1979), 334–391. Unterlagen zu Harnacks Tätigkeit auch in: Nl. Harnack, K. 21, Mappe „Preußisches Historisches Institut in Rom 1903ff.“ 184 Vgl. Harnack an Althoff am 3.4.1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105; in derselben Akte auch eine Notiz Althoffs über ein Gespräch Harnacks von Anfang März mit Wilhelm II. über den römischen Historikerkongreß. 185 Vom Brocke: Professorenaustausch (Anm. 176), 139f; ausführliche Informationen bietet ferner Hugo Münsterberg: Der Internationale Gelehrtenkongreß, in: ders.: Aus Deutsch-Amerika, Berlin 1909, 196–210. Dem Philosophen und Psychologen Münsterberg (1863–1916), ursprünglich Extraordinarius in Freiburg und seit 1892 Professor in Harvard, kam eine Schlüsselfunktion bei der Konzeption des Austausches zu, über die er ausführlich mit Althoff korrespondierte; zur Teilnahme Harnacks vgl. ZH 294–296. 186 Vgl. Althoff an Harnack am 4.9.1905, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 187 Harnack an Althoff am 18.12.1904, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A I, Nr. 309 I, Bl. 86.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – zu verteidigen. Auch nach Althoffs Abschied blieb Harnack mit dem Professorenaustausch beschäftigt. So bemühte er sich im Dezember 1908 Reichskanzler von Bülow und Innenminister von Loebell für den Plan zu gewinnen, den Harvard-Präsidenten Eliot 1909 nach Berlin zu holen.188 Wichtigen Anteil nahm Harnack an der Reform des preußischen Mädchenschulwesens. Mit dieser Reform war die bis dahin nicht mögliche generelle Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium eng verbunden.189 In Althoffs Zuständigkeitsbereich fiel die Reform freilich nicht, denn das Mädchenschulwesen war der Unterrichtsabteilung 2 unter dem konservativen Ministerialdirektor Philipp Schwartzkopff zugeordnet. Wieder spielten Harnacks Beziehungen zum Hof eine wichtige Rolle. Am 4. Januar 1905 wurde er von der Kaiserin Auguste Viktoria auf die Notwendigkeit einer Reform angesprochen. Harnack verstand es, den Vorschlag der Kaiserin aufzunehmen, daß die Lehrerinnen selbst an der Reform, die zu einer umfassenden beruflichen Qualifikation der Frauen führen sollte, zu beteiligen seien, und empfahl ihr, mit Althoff Rücksprache zu nehmen.190 Althoff wurde daraufhin am 10. Januar 1905 zu einer Besprechung mit der Kaiserin geladen, welche dann den Anstoß zum ernsthaften Angriff der Reform gab.191 Daß sich die Kaiserin so lebhaft für die Reform interessierte, lag nicht zuletzt an einer Denkschrift der Frauenrechtlerin und Lehrerin Marie Martin mit dem Titel „Die Kulturaufgabe der höheren Mädchenbildung“, die sie im Dezember 1904 an die Kaiserin sowie den Reichskanzler übersandte und die von Harnack redigiert worden war.192 Marie Martin, die in den folgenden Jahren eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen Althoff, Harnack und der Kaiserin einnehmen sollte, hatte Harnack dazu gedrängt, die Kaiserin für das Vorhaben zu gewinnen. Eine hochkarätig besetzte Konferenz – neben Harnack nahmen u. a. der Breslauer Kardinal Kopp, Reinhold Seeberg und Friedrich Paulsen sowie führende Frauenrechtlerinnen, darunter neben Marie Martin auch Helene Lange und Gertrud Bäumer, daran teil – beriet unter 188 Harnack an Schmidt-Ott am 12.12.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 189 Vgl. zur Mädchenschulreform James C. Albisetti: The Reform of female Education in Prussia 1899–1908, in: German Studies Review 8 (1985), 11–41, sowie zum weiteren Kontext Margret Kraul: Höhere Mädchenschulen, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band IV: 1870–1910: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, 279–303; zur Rolle Althoffs bzw. Harnacks vgl. Arnold Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, 339– 354 bzw. ZH 245–248; Material zu Harnacks Engagement in: Nl. Harnack, K. 22, Mappe „Mädchenschulreform 1905ff.“ 190 Harnack an Althoff am 5.1.1905, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 18 I, Bl. 2–3. 191 Vgl. Sachse (Anm. 189), 342f. 192 Exemplar in Nl. Harnack, K. 22.
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Althoffs Leitung am 25. und 26. Januar 1906 Einzelheiten der Reform und sprach sich für die Umgestaltung des Mädchenschulwesens nach Vorbild des Knabenschulwesens – einschließlich des Erwerbs der Hochschulreife – sowie für eine Leitung der Mädchenschulen durch Frauen aus. Eine längere Erkrankung Althoffs, zunehmende Widerstände innerhalb und außerhalb des Ministeriums sowie nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Zuständigkeit für die Reform innerhalb des Ministeriums hatten dann einen schweren Rückschlag zur Folge: „Ob die Mädchenschulfrage auf den todten Punkt gekommen ist oder ob man sie schon begraben hat oder ob sie langsam erstirbt werden soll, weiß ich nicht“, klagte Harnack resigniert im Juni 1906 über die „Verschleppung und den bösen Willen gegenüber der Reform“, die auch im Ministerium kaum Anhänger habe.193 Schon im April 1906 war durch die Versetzung von Marie Martin nach Posen versucht worden, eine der wichtigsten Protagonistinnen der Reform aus Berlin zu entfernen.194 Harnack, der das Vorgehen der vorgesetzten Behörde als „Infamie“ bezeichnete195, wandte sich umgehend an Althoff, der – unterstützt von der Gräfin Brockdorff aus der Umgebung der Kaiserin – die Versetzung schließlich verhindern konnte.196 Gleichwohl machte Harnack nicht zuletzt Althoffs zögerliches Vorgehen für die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer adäquaten Mädchenschulreform verantwortlich. Ende 1907 sprach er gar von einem „Versagen Althoffs“, das zusammen mit seinem Abgang am 23. September 1907, dem Ministerwechsel, Unstimmigkeiten seitens der verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Frauenbewegung sowie der mangelnden parlamentarischen Unterstützung zu einem Scheitern der Reform geführt habe: „Hier hat übrigens Althoff eine mir unverständliche Politik gemacht. Er hat sich schon vor 11/2 Jahren von der Sache zurückgezogen und sie ihren Feinden im Ministerium überlassen.“197 Dennoch versuchte Harnack, mit Hilfe seiner Kontakte eine Wiederaufnahme der Reformbemühungen zu erreichen, indem er den Reichskanzler auf die Bedeutung des Vorhabens hinwies, bei dem Preußen gegenüber den anderen Bundesstaaten sich in bedenklichem Rückstand befinde. Ende März 1907 besprach er die Angelegenheit mit diesem anläßlich eines gemeinsamen Aufenthalts in Rapallo und bat ihn, „in unserem Sinne sein Gewicht in
193
Harnack an Althoff am 15.6.1906, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79
III. 194 Vgl. Marie Martin an Harnack am 8.4.1906, in: Nl. Harnack, K. 22, Mappe „Mädchenschulreform 1905ff.“ 195 So Harnacks Notiz auf dem o.g. Brief Marie Martins, den er an Althoff weiterleitete. 196 Vgl. Sachse (Anm. 189), 351f. 197 Harnack an Kehr am 30.12.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Kehr, AI 5 Ha, Bl. 269f.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
die Wagschale zu werfen. Ich darf hoffen, daß er es tun wird.“198 Im April 1908 konnte Harnack Althoff über ein erneutes Gespräch mit Bülow berichten. Die Reform komme als Vorlage ins Staatsministerium, werde es laut Bülow dort aber schwer haben: „Er und Tirpitz sind auch zuverlässig in dieser Sache, aber andere Minister halten das schöne Geschlecht für das stärkere und fürchten jede Concurrenz.“199 Die Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses im Juni 1908 in Dessau nutzte Harnack gleichfalls dazu, für die Mädchenschulreform zu werben, der auf seine Anregung hin ein ganzer Verhandlungstag gewidmet war.200 Tatsächlich kam es im Sommer 1908 zu einer Reform, die auch die generelle Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium beinhaltete und trotz etlicher Abweichungen von den Verhandlungen der Konferenz des Jahres 1906 die grundsätzliche Zustimmung Harnacks fand – „die Hauptsache ist, daß die Reform da ist und daß sie im Wesentlichen gut ist.“201 In einem mit Althoff abgesprochenen Aufsatz in der „Internationalen Wochenschrift“ bemängelte er allerdings, daß mit der nicht vollständig vollzogenen Angleichung der höheren Mädchenschulen an die entsprechenden Knabenschulen das Ziel der Berufsfähigkeit und Selbständigkeit der Absolventinnen nur unzureichend erfüllt sei und die Quotierung der weiblichen Lehrkräfte an den Mädchenschulen auf höchstens zwei Drittel die Gefahr eines völligen Ausschlusses akademisch gebildeter Lehrerinnen in den oberen Klassen in sich berge.202 Daß Althoff gewillt war, Harnacks Kontakte nicht nur zum Kaiser, sondern auch zu Reichskanzler von Bülow gezielt für die eigenen wissenschaftspolitischen Vorhaben einzusetzen, zeigte sich an Althoffs Projekt einer umfassenden Neuorganisation der preußischen Unterrichts-, Wissenschaftsund Kulturpolitik durch eine effiziente Teilung des Ministeriums. Entsprechende Pläne hatte Althoff im September 1905 dem Kaiser vorgetragen. Die Teilung müsse, so erläuterte Althoff dem Monarchen, nicht sofort erfolgen, sondern allmählich vorbereitet werden. Erster Schritt sei der Aufbau einer „Zentralstelle für Bibliothekswesen, ein Bibliotheksamt, sodann eine eigene Abtheilung für Wissenschaft u. Kunst.“203 Harnacks Ernennung zum Bibliotheksdirektor, so schrieb er diesem 1907, sei ein „Schritt auf diesem Wege“ 198
Harnack an Althoff am 10.4.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79
III. 199
Harnack an Althoff am 24.4.1908, in: aaO. Als Referent trat mit Jakob Wychgram einer der engagiertesten Reformbefürworter auf, der über „Die soziale Bedeutung der Mädchenschulreform“ sprach, vgl. VESK 19 (1908), 84–95. An der Diskussion beteiligten sich neben Harnack auch Hans Delbrück, Marie Martin, Lydia Stoecker und Wilhelm Rein. 201 Harnack an Althoff am 9.9.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 202 IW 2 (1908/9), 109–121, auch in: RANF 1, 109–121. 203 Althoff an Harnack am 6.9.1905, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 200
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gewesen.204 Als sich im Frühjahr 1907 der Abschied des Unterrichtsministers Studt abzeichnete und weder eine von Althoff favorisierte Ministerkandidatur Harnacks in Frage kam noch die von Althoff inzwischen gutachterlich ausgearbeitete und auch mit Harnack diskutierte Teilung des Ministeriums in Aussicht genommen wurde, legte Althoff seine Pläne in zwei ausführlichen Briefen Harnack dar205, welcher zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Reichskanzler in Rapallo weilte, ganz offensichtlich mit der Absicht, daß Harnack die Zustimmungsbereitschaft des Kanzlers ausloten sollte. Die Teilung sollte in ein Unterrichtsministerium mit der Zuständigkeit für Schulen und Universitäten auf der einen sowie ein Ministerium für Wissenschaft und Kunst mit Zuständigkeit für allgemeine Wissenschaftsfragen, Bibliotheken, Akademien, Museen und Technische Hochschulen erfolgen. Kandidaten für die Leitung des Ministeriums hatte Althoff bereits im Blick: „Harnack und noch einmal Harnack und zum drittenmal Harnack, Schmoller etc.“206 Auch für das Unterrichtsministerium konnte sich Althoff einen Gelehrten vorstellen und warb mit innenpolitischen Erwägungen um Harnacks Zustimmung und Unterstützung: „Wie wichtig und heilsam es aber wäre, wenn es im Staatsministerium 2 Minister des Geistes gäbe, von denen doch mindestens einer ein ganz liberal denkender Mann (ich rede hier von liberal nicht im Fraktions-, sondern im wissenschaftlichen Sinn) notwendig sein würde, das brauche ich nicht auszuführen.“207 Bei entsprechenden Signalen Bülows sei er bereit, gemeinsam mit Harnack eine Immediateingabe in dieser Sache beim Kaiser einzureichen.208 Harnack bemühte sich während seines Aufenthaltes darum, das Gespräch auf die Teilung zu bringen und konnte Bülow auch die beiden Briefe Althoffs überreichen209, ohne daß es zu einer ausführlicheren Behandlung kam.210 Aus einer Unterredung mit dem Vertrauten und Arzt des Kanzlers von Renvers gewann er freilich den Eindruck, daß die Teilung angesichts des noch fragilen Blocks aus Konservativen und Liberalen, auf den Bülow sich seit den Wahlen vom Januar 1907 stützte, nicht durchsetzbar sei. Vielmehr vermeide der Kanzler 204 Althoff an Harnack (Abschrift) am 24.3.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A I, Nr. 314, Bd. 1, Bl. 151–153. 205 Althoff an Harnack am 23. und 24.3.1907 (Abschriften), in: aaO., Bl. 138–142 bzw. 151–153. 206 Althoff an Harnack am 23.3.1907, in: aaO., Bl. 141. 207 Ebd. 208 Althoff berief sich dabei auf sein Gespräch mit dem Kaiser vom September 1905, doch habe er die kaiserliche Aufforderung zu einer Denkschrift noch nicht befolgt, da er noch keine Gelegenheit zu einem Gespräch mit Bülow darüber gehabt habe, ohne den er aber nichts tun wolle, vgl. Althoff an Harnack am 24.3.1907, in: aaO., Bl. 151. 209 Harnack an Althoff am 28.3.1907, in: aaO., Bl. 116–118. 210 Harnack an Althoff am 5.4.1907, in: aaO., Bl. 126–128: „Aber mit mir hat der Fürst die Frage nur einmal ganz beiläufig gestreift, als das Gespräch durch eine zufällige Wendung auf diese Frage geriet.“
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alles, „was die konservativ-liberale Freundschaft auf die Probe stellen oder ihr irgend eine Schwierigkeit schaffen könnte.“ Der neue Minister werde daher bloßer „Geschäftsminister“ und „durch keinen Charakter belastet“ sein.211 Eine eigene Kandidatur schied für Harnack damit aus.212 Zugleich machte er Bedenken gegenüber dem Einfluß des neuen Ministeriums geltend: „Aber davon bin ich noch nicht ganz überzeugt, daß es im Kreise der übrigen Ministerien das nötige Schwergewicht haben und dem betreffenden Minister eine befriedigende Tätigkeit gestatten wird. Die großen Fragen der deutschen Kultur werden nach wie vor in dem Ministerium gelöst werden müssen, welches über die Volksschulen und Universitäten verfügt, und aller Fortschritt wird von dort ausgehen müssen.“213 Harnacks Antwort verdeutlichte dabei zugleich, daß ein bloßes Ministerium für Kunst und Bauten mit nur nachgeordneten und erst allmählich erweiterbaren wissenschaftspolitischen Kompetenzen ihm nicht attraktiv erschien: „Ich fürchte, daß das neue Ministerium seinen Schwerpunkt in der Kunst und den Bauten erhalten wird. Das ist auch etwas sehr wichtiges, aber nach der Eigenart des deutschen Geistes muß es hinter der Wissenschaft zurücktreten.“214 Nachdem Harnack in einem weiteren Gespräch mit Renvers seinen Eindruck bestätigt fand, daß Bülow „die Frage für noch nicht spruchreif “ halte, riet er zunächst von weiteren Schritten sowie einer Immediateingabe an Wilhelm II. ab.215 „Daß die Teilung des Ministeriums hinausgeschoben wird, ist gewiß von Vorteil, da sie unter dem Druck einer noch nicht gesicherten innerpolitischen Lage leicht von augenblicklichen Stimmungen beeinflußt werden könnte.“216 Mit der Ablehnung der Teilungspläne durch Bülow, der nach dem erwarteten Abgang des Ministers Studt am 24. Juni 1907 Ludwig Holle zum neuen Minister ernannte, war letztlich auch der endgültige Abschied Althoffs verbunden, dessen Entlassungsgesuch aus gesundheitlichen Gründen von dem neuen Minister diesmal nicht wie noch von seinem Vorgänger abgelehnt wurde.217 Daß Bülow aus machtpolitischen Gründen Althoffs Pläne nicht umzusetzen bereit war, hatte Harnack somit durchaus realistisch erkannt. Althoffs Hoffnung auf einen „liberalen Vertreter des Geistes“ im 211
Harnack an Althoff am 26.3.1907, in: aaO., Bl. 113–115. „Ich brauche Ihnen, hochverehrte Excellenz, nicht erst zu sagen, wie sehr ich mich aus egoistischen Gründen u. aus Rücksicht auf meine Arbeit freuen werde, wenn der Kelch an mir vorübergeht, den ich mir nie gewünscht habe und den ich um meiner Familie willen doppelt fürchte“ (ebd.). 213 Harnack an Althoff am 28.3.1907, in: aaO., Bl. 117. 214 Ebd. 215 Harnack an Althoff am 5.4.1907, in: aaO. 216 Harnack an Althoff am 10.4.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 217 Vgl. Sachse (Anm. 189), 55f. 212
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Staatsministerium erfüllte sich nicht. Unter Holle verstärkten sich vielmehr die konservativen Tendenzen im Ministerium noch. Ein Minister Harnack, unter dem Althoff, wie er diesem schrieb, trotz seiner Krankheit weiter im Amt geblieben wäre218, war zu keinem Zeitpunkt durchsetzbar. Darauf deutete nicht allein die von Althoff selbst als „apodiktisch“ bezeichnete Mitteilung des gerade auch in tagespolitischen Fragen mit dem Kaiser eng verbundenen Theodor Schiemann hin, Harnack werde nicht Minister werden219, sondern auch die Fragilität des Bülow-Blocks: Ein Minister Harnack wäre gegenüber den Konservativen allein schon aus kirchlich-theologischen Gründen eine Provokation gewesen, die das Bündnis schwerlich überlebt hätte. Auch innerhalb des Ministeriums waren die Widerstände erheblich. „Die Gefahr ist vorüber“, meinte einer der Ministerialdirektoren, als mit der Ernennung Ludwig Holles endgültig klar war, daß Harnack trotz aller Pressespekulationen nicht Minister werden würde.220
1.2.2. Der Organisator: Vom Abschied Althoffs bis zum Ausbruch des Weltkrieges „Ein Minister, der Alles erst lernen muß, ein Ministerialdirektor-Regent, der seinen Namen Schwartzkopff mit Recht führt und Vertreter des unaufgeklärten Despotismus ist, Schmidt an die Wand drückt, so daß man immer noch nicht weiß, welches Ressort neben der Kunst man ihm konzediren wird, Mut und produktive Phantasie erloschen – was soll daraus werden! Daß ich vom Laufe der Dinge fast nichts mehr erfahre, ist mir nur recht; denn helfen könnte ich doch nichts!“221 So lautete Harnacks Klage über die Verhältnisse im Ministerium wenige Wochen nach dem Abschied Althoffs. Zweifellos bedeutete das Ausscheiden des langjährigen „heimlichen Kultusministers“ Althoff auch für Harnack einen schweren Rückschlag, der in der Feststellung, kaum noch etwas zu erfahren und damit auch Einflußmöglichkeiten verloren zu haben, seinen Niederschlag fand. Zwar ließ Harnack in 218 Vgl. Althoffs ausführliches Schreiben über die Umstände seines Abschiedes an Harnack vom 21.4.1908, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Althoff. 219 Vgl. Althoff an Harnack am 23.3.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A I, Nr. 314, Bd. 1, Bl. 138: „Nun erhalte ich gestern einen Brief (ganz vertraulich bemerkt von Schiemann) worin mir mitgeteilt wird, daß Excellenz von Studt in nächster Zeit abgehen würde, es noch nicht bekannt sei, wer sein Nachfolger werden solle, dabei aber leider Harnack nicht in Betracht genommen sei. Diese Nachricht ist so apodiktisch gehalten, daß ich sie nicht einfach in den Wind schlagen kann.“ 220 So der Bericht des Bibliothekars Johannes Luther in seinen „Erinnerungen an Harnack“, in: UB Greifswald, Nl. Luther, Erinnerungen an Harnack, Bl. 66. Entsprechende Spekulationen entzündeten sich besonders nach Harnacks Kaisergeburtstagsrede von 1907, vgl. dazu Kap. IV. 2.1.2. 221 Harnack an Paul Kehr am 30.12.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Kehr, Korr. Harnack.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
seinen Ausführungen sofort wieder optimistischere Töne anklingen – „In guten Tagen zu schiffen ist keine Kunst; wir wollen auch bei schlimmen segeln“ – aber Anlaß zum Optimismus gab es kaum, wie seine besorgten Äußerungen über das Schicksal der Mädchenschulreform belegen. Althoffs Zuständigkeitsbereich wurde aufgeteilt: Das Hochschulwesen ging an Otto Naumann, der höhere Unterricht an Hermann Wever, Wissenschaft und Kunst an Althoffs engen Vertrauten Friedrich Schmidt-Ott, die Mädchenschulreform fiel wieder ganz in den Zuständigkeitsbereich des Ministerialdirektors Philipp Schwartzkopff. Lediglich zu Schmidt-Ott konnte Harnack ein Vertrauensband knüpfen, daß dem zu Althoff einigermaßen vergleichbar war.222 In Schulfragen, aber auch der Hochschulpolitik konnte Harnack kaum noch größeren Einfluß ausüben. Das läßt sich etwa am Beispiel der theologischen Berufungen des Jahres 1909 belegen, in denen es Harnack weder gelang, den von der Mehrheit der Berliner Theologischen Fakultät favorisierten Ernst Troeltsch, noch den zweitplazierten Wilhelm Bousset als Nachfolger des verstorbenen Otto Pfleiderer durchzusetzen. Ein zweiter Versuch schlug 1913 fehl.223 1908 scheiterte er mit dem Versuch, den Neutestamentler Adolf Jülicher nach Berlin zu holen, für den eine Mehrheit der Fakultät votierte. Allein die noch unter Althoff eingefädelte Besetzung einer praktisch-theologischen Professur in Halle mit Paul Drews konnte Harnack als Erfolg verbuchen. Bei der Besetzung der vakanten Berliner praktisch-theologischen Professur 1909 konnte Seeberg gegen den Willen der gesamten Fakultät mit einem Separatvotum seinen Kandidaten Friedrich Mahling durchsetzen.224 Auch insgesamt wurde der Charakter der preußischen Berufungspolitik für theologische Fakultäten in den nächsten Jahren wesentlich konservativer. Die ohnehin nicht zu überschätzenden Wirkungen des Harnack’schen Einflusses, der doch zumindest eine gewisse Gleichberechtigung liberalprotestantischer Gelehrter bei den Berufungen hatte erreichen können, waren schnell dahin. Hier löste Seebergs Einfluß unverkennbar denjenigen Harnacks ab. Anders verhielt es sich mit der Wissenschaftspolitik. Auf internationaler Ebene trat Harnack weiter als wichtiger Repräsentant deutscher Wissenschaft auf, etwa während des 1908 in Berlin tagenden Internationalen Historikerkongresses.225 Gemeinsam mit Schmidt-Ott rückte er ferner in die Po222 Vgl. zu Schmidt-Ott Wolfgang Treue: Friedrich Schmidt-Ott, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.): Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987, 235–250. 223 Vgl. die Unterlagen in: UA Berlin, Theologische Fakultät, Nr. 168, Bl. 153ff. Troeltsch wurde dann, wiederum maßgeblich durch Harnacks Bemühungen, zum Sommersemester 1915 an die Philosophische Fakultät berufen. 224 Vgl. zu Einzelheiten BwZP 118–120 (Brief vom 17.7.1909). 225 Der vierte Internationale Kongreß für historische Wissenschaften zu Berlin (6.-12. August 1908), in: IW 2 (1908), 513–520.
1. Harnack, Wilhelm II. und die preußische Wissenschaftspolitik
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sition eines Nachlaßverwalters Althoffs, der am 20. Oktober 1908 verstarb, ein. Noch im April 1908 hatte er Althoff jedwede Unterstützung für die Umsetzung seiner Dahlemer Pläne zugesichert.226 In dem komplizierten Prozeß ihrer Umsetzung sowie im Zusammenhang der Diskussion um ihre genaue Finanzierung von Seiten des Staates wie von Seiten finanzkräftiger privater Stifter, die schließlich in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) Anfang 1911 einmündete, spielte Harnack eine Schlüsselrolle.227 Seine Denkschrift vom November 1909 wird man durchaus als Zäsur betrachten können, weniger konzeptionell, um so mehr aber als wichtiger Anstoß für die Durchsetzung des Projektes bei Kaiser und Reichsleitung.228 Es waren nicht einzelne Detailkenntnisse, sondern die generalistischen Fähigkeiten sowie die Kunst der präzisen Zusammenfassung der notwendigen Maßnahmen, die Harnacks Bedeutung als Wissenschaftsorganisator auf dem Feld vorwiegend naturwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen noch stärker wachsen ließen. Harnack wurde damit auf ein Feld geführt, das ihm als Laie aufgrund seiner Biographie nicht gänzlich fern lag, aber doch über die bisher betriebene Konzentration auf Hochschul-, Bildungs- und Kulturpolitik hinausging. Rade gegenüber begründete Harnack im September 1909 seine Aktivitäten mit seinem wissenschaftspolitischen Überblick: „Seit Althoffs Tode werde ich vom Ministerium u[nd] von noch höherer Stelle zu vielen allgemein-wissenschaftlichen Fragen, Maßnahmen, Gutachten u[nd] Entscheidungen herangezogen, die sich auf z. T. recht fremde Gebiete erstrecken u[nd] die ich doch nicht ablehnen kann, weil seit Mommsen’s + Althoffs Tode eigentlich Niem[a]nd da ist, dem das Ganze ins Auge zu fassen zugetraut wird.“ 229 Die Übernahme der KWG-Präsidentschaft im Januar 1911 auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers brachte Harnack in ein drittes Hauptamt neben der Professur und dem Generaldirektoriat der Königlichen Bibliothek. Grundlegend für sein Selbstverständnis in dieser Funktion war wiederum nicht wissenschaftliche Facharbeit in einzelnen Bereichen, sondern der Wille zur Gestaltung und Sicherstellung eines adäquaten Verhältnisses von Staat, 226
Harnack an Althoff am 18.4.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79
III. 227
Dazu Burchardt: Wissenschaftspolitik (Anm. 89), 31–94. Zur Gründungsgeschichte der KWG vgl. die bereits erwähnten Arbeiten von Wendel (Anm. 89) und Burchardt: Wissenschaftspolitik (Anm. 89), 31–52. Nicht ohne Selbstwiderspruch ist Burchardts Bemerkung, Harnacks Denkschrift bedeute „kaum eine Zäsur“, da sie „schon Gesagtes nochmals zusammen“ gefaßt habe, der sich dann die Vermutung anschließt, daß sie gerade durch ihre sprachliche Gewandtheit „nicht unwesentlich“ dazu beigetragen haben möge, „das Projekt am Hof und in der Industrie populärer zu machen“ (34). Gerade darin dürfte aber eben ihre kaum zu unterschätzende Bedeutung liegen, die es dann allerdings nur allzu berechtigt erscheinen läßt, doch von einer Zäsur zu reden. 229 Harnack an Rade am 24.9.1909, in: BwR 632. 228
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Wissenschaft und Industrie unter den Bedingungen des modernen Industriekapitalismus. Die neue Forschungsinstitution wollte er dabei ausdrücklich als „energisches Gegenmittel“ verstanden wissen, das – analog zur Verkirchlichung der Wissenschaft im Mittelalter – einer Unterwerfung der Wissenschaft unter Großbanken und Industrie vorbeugen sollte, zugleich aber in Betracht zog, daß der Staat die notwendigen Mittel für aufwendige naturwissenschaftliche Großprojekte allein nicht mehr zur Verfügung stellen konnte. Behalte der Staat jedoch nicht die Oberaufsicht, dann werde „der Wissenschaftsbetrieb unrettbar und sicher dem Kapitalismus und der mit ihm verbundenen rohen Interessenpolitik verfallen.“ Die KWG versuche genau dies zu verhindern, gleichzeitig aber durch ihre neuartige Organisationsform den angewandten Wissenschaften die nötigen Mittel bereitzustellen. Dabei kam nicht zuletzt das bei aller Einzelkritik ungebrochene, hart an Naivität grenzende Vertrauen Harnacks in den bestehenden Staat als vermittelnder Instanz zwischen reiner Wissenschaft und wirtschaftlichen bzw. politischen Umsetzungsinteressen zum Ausdruck: „Von unsrem Staat kann man wirklich noch sagen, daß er in bezug auf d[ie] Wissenschaft reinlich ist.“230 Sowohl die enge Verzahnung privatwirtschaftlicher Interessen mit einzelnen Institutsgründungen sowie die dann im Weltkrieg erfolgende Indienstnahme des KaiserWilhelm-Instituts für physikalische Chemie für die Gaskriegführung zeigten, wie wenig haltbar diese Prämissen Harnacks letztlich waren. Harnacks Amtsführung als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden.231 Das für die Institutsgründungen bis in die Gegenwart immer wieder bemühte „Harnack-Prinzip“ ist dabei aber als besonders wichtig hervorzuheben.232 Seine Amtsführung ist zweifellos von dem konfliktträchtigen Versuch der Sicherstellung wissenschaftlicher Freiheit unter gleichzeitiger Ausnutzung der bereitstellbaren Ressourcen von Staat und Privatwirtschaft gekennzeichnet gewesen. Die KWG sei „kein wissenschaftlicher Flottenverein, der den letzten Mann in der Nation zur Förderung seiner Zwecke aufruft […], sondern sie ist ein Verein solcher Bürger, welche in der Lage und willens sind, größere Kapitalien im Interesse der Wissenschaft aufzubringen.“ Ziel bleibe aber: „Reine Wissenschaft und nichts anderes soll hier gepflegt werden: praktische Gesichtspunk230
Harnack an Rade am 26.11.1911, in: aaO., 686f. Dazu als guter Überblick neben Burchardt: Wissenschaftspolitik (Anm. 89), und Wendel (Anm. 89) Bernhard vom Brocke: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm/ Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, 17–162. 232 Vgl. Bernhard vom Brocke/Hubert Laitko (Hg.): Die Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das HarnackPrinzip, Berlin/New York 1996. 231
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te als solche sollen fernbleiben.“233 Die äußerlichen Erfolge waren dabei schon bis zum Kriegsausbruch beachtlich. Innerhalb von drei Jahren etablierte sich die Gesellschaft als wichtige deutsche Forschungsinstitution. Die Briefe Harnacks an Schmidt-Ott aus dem Gründungsjahr 1911 belegen aber auch die Schwierigkeiten, die sich für Harnack in seiner neuen Rolle ergaben. „Als man mich zum Präsidenten des Evangelisch-sozialen Kongresses machte und als man mich in die Bibliothek setzte, war ich – ich gestehe es kühn – nicht zweifelhaft, daß ich es machen könnte, auch wenn manches schief gehen würde. Hier aber habe ich von vornherein mir gesagt, daß ich einen Sprung ins Dunkle nicht nur einmal, sondern wiederholt werde riskieren müssen und daß ich leicht nicht nur mich, sondern auch die große Sache ins Unglück bringen kann.“ Auch die Delbrücks, Krupps und Arnholds – also die Vertreter von Banken und Industrie im Senat der Gesellschaft – vertrauten ihm nicht, so daß er häufig nur auf „ressortmäßige Unterstützung“ rechnen könne, so Harnacks Klage.234 Hinzu kamen Schwierigkeiten mit der Akademie der Wissenschaften, die – angeführt von WilamowitzMoellendorff und dem neu gewählten Sekretar der geisteswissenschaftlichen Klasse Gustav Roethe – Harnacks seit längerem gehegte Reformbemühungen sowie seinen Versuch einer engeren Verbindung von KWG und Akademie entschieden zurückwiesen. So berichtete Harnack nach einer Sitzung der Akademie, in der neben dieser Frage die Besetzung von drei zusätzlichen ordentlichen Akademiemitgliedern mit Institutsdirektoren der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kontrovers diskutiert worden war, von einem „Sturm der Entrüstung, aus welchem der tiefe Unwille über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Mißtrauen gegen meine Stellung“ hervortrat. „[…] keine Stimme erhob sich, um mir zu sagen, daß man kein Mißtrauen gegen mich hätte und daß das, was ich für die Wissenschaft in der Sorge für die Forschungsinstitute getan hätte, den Interessen der Akademie entspreche.“235 Der Vorfall belegt die erheblichen Vorbehalte, die in der Akademie inzwischen gegenüber den wissenschaftlichen Modernisierungsversuchen Harnacks – sie waren ja immerhin auf dem Boden der Akademie entstanden –, aber auch gegenüber seiner Person virulent waren, wobei die persönlich angespannten Beziehungen zu Wilamowitz-Moellendorff eine wichtige Rolle gespielt haben dürften.236
233 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften am Schluß ihres ersten Jahres, in: IM 6 (1912), 1–14. 234 Harnack an Schmdit-Ott am 24.10.1911, in: GStA-Pk, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 235 Harnack an Schmidt-Ott am 21.7.1911, in: aaO.; vgl. zum Kontext ausführlich Wendel (Anm. 89), 122–134. 236 Vgl. Stefan Rebenich: Der alte Meergreis, die Rose von Jericho und ein höchst vortrefflicher Schwiegersohn: Mommsen, Harnack und Wilamowitz, in: Nowak/Oexle (Anm. 79), 39–69.
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1.3. Lebensführung, Theologie und Kirchenpolitik 1900 bis 1914 Nicht zu unterschätzen sind die enormen Belastungen, die die drei Hauptämter für Harnack mit sich brachten, der 1911 immerhin am Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts stand, ungeachtet der weiteren Mitarbeit in der Kirchenväterkommission der Akademie und der Kommission zur Herausgabe der Werke Luthers sowie der dann Ende 1911 abgegebenen Präsidentschaft des Evangelisch-sozialen Kongresses. Klagen über die zunehmende Arbeitsbelastung häuften sich in Harnacks Briefen schon seit der Jahrhundertwende. Bereits vor der Übernahme des Rektorats der Universität im Jahr 1900 klagte Harnack: „Ich bin etwas arbeitsmüde u. halte meine Vorlesungen u. Übungen nur noch aus Pflicht, was ja nach Kant der eigentlich moralische Zustand ist; ich aber empfinde ihn als sehr bedenklich.“237 Dabei nahm Harnack gerade seine Professur weiterhin überaus ernst und empfand sie als die eigentliche Kraftquelle seiner Arbeit, wie er im Vorwort zu seiner 1911 erschienen Aufsatzsammlung ausführte: „Was ich gelernt habe, habe ich an der Kirchengeschichte gelernt, und wenn es mir vergönnt gewesen ist, über ihre Grenzen hinauszuschreiten, so hat sie mir die Wege gewiesen; denn nichts Menschliches ist ihr fremd.“238 Harnacks Seminare sowie seine Vorlesungen gehörten zu den akademischen Höhepunkten an der Universität und wurden – z. T. wie die Wesensvorlesung für Studierende aller Fakultäten konzipiert – trotz ihres ungewöhnlichen Beginns am frühen Vormittag rege besucht. So erlaubte sich der junge Viktor Klemperer als „Privatgenuß“ Harnacks 1904 gehaltene Vorlesung „Über die Glaubwürdigkeit der Evangelien“: „Das prachtvolle Kolleg war ein gesellschaftliches Ereignis. Es wurde im Sommer um sieben Uhr morgens im Auditorium Maximum gelesen, und trotz der zeitigen Stunde war es derart besucht, daß ich meist nur einen Stehplatz fand.“239 Ebenso blieb Harnack auch mit innovativen wissenschaftlichen Publikationen überaus aktiv. In den Jahren 1900 bis 1914 legte er neben einer Vielzahl von kleineren exegetischen und kirchenhistorischen Aufsätzen eine voluminöse Geschichte der Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten vor240, den zweiten Band der Chronologie der altchristlichen Literatur, eine Geschichte der Entstehung von Kirchenrecht und Kirchenverfassung in der Alten Kirche241 sowie eine weitere Überarbeitung
237 Harnack an Otto Hirschfeld am 10.7.1900, in: SBB-PK, Nl. Hirschfeld, K. 10, Korr. Harnack. 238 RANF 1, Vorwort (unpag.). 239 Victor Klemperer: Curriculum Vitae. Jugend um 1900 I, Berlin 1989, 359. 240 MAC1 (1902). 241 Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten, Leipzig 1910.
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der „Dogmengeschichte.“242 Hinzu traten sieben Bände mit neutestamentlichen Studien, die der exegetischen Fundierung seiner Theologie dienen sollten243, sowie bis 1916 fünf Bände mit gesammelten Reden und Aufsätzen, die für ein breiteres Publikum bestimmt waren. Nach wie vor entfaltete er eine ausgedehnte Vortragstätigkeit, die sich in den zahlreichen erhaltenen Notizen und Entwürfen im Nachlaß widerspiegelt und die er – trotz wiederholter Ankündigung, sie aufzugeben – bis in den Weltkrieg hinein aufrechterhielt.244 Diese Harnacks Selbstverständnis nach dezidiert theologische Arbeit blieb bis zum Lebensende der eigentliche Kern seines Wirkens und zugleich die Basis, von der aus er die seit der Dorpater Zeit ihn bewegende Frage nach der Kulturbedeutung des Christentums in der Moderne bearbeitete. Sie bewahrte ihn auch vor der wiederholt empfundenen Gefahr, sich in der Vielzahl der Aufgaben zu verlieren. Dennoch – und das macht die Modernität der Biographie Harnacks aus – empfand er das Fragmentarische der eigenen Existenz, trotz und neben dem immer festgehaltenen Ideal der einheitlichen, sich stetig weiterbildenden Persönlichkeit. Das galt für die Ämter – „In toto aber, wenn man zurückblickt, viel Arbeit u[nd] eigentlich Alles Stückwerk!“ – ebenso wie für die gesamte akademisch-wissenschaftliche Lebensführung, in der er von „anderen Pflichten schlechterdi[n]gs nichts wissen [wolle], als von solchen, die sich mir ungezwungen aus meiner Arbeit ergeben. Im anderen Fall würde ich noch mehr ‚Fragment‘ werden, als ich es ohnehin schon bin.“245 Insofern wird Harnacks Wirken über sein eigentliches Fach hinaus nicht einfach als Abschied von Theologie und Kirche gedeutet werden dürfen. Insbesondere die Ausbildung junger Theologen hat er zeitlebens als seine wichtigste Tätigkeit für die Kirche angesehen. Die Ablehnung, die er von Seiten der Kirchenleitung bis nach 1900 immer wieder erfahren hat, aber auch der geringe kirchenpolitische Einfluß des liberalen Protestantismus, verbunden mit dem bewußten Willen zum Wirken, haben ihn auf die anderen Felder seiner Tätigkeit geführt: „Unter nichts habe ich in meinem Leben mehr gelitten als unter dem Bewußtsein, daß meine u[nd] meiner Freunde Gesinnung in jämmerlichem Kontrast stehen zu unseren Taten, d. h. Tatenlosigkeit. Ich bin schließlich in die Bibliothek gegangen, um etwas zu fördern u[nd] zu tun. […] Niederschlagend ist es, wenn die Tatenlustigen u[nd] -kräftigen einfach aus der Religion in die Politik abwandern (aus der Kirche in den Staat), um wirksam zu sein. Auch an mich ist das oft herangetreten; 242
LDG4 1–3 (1909). Vgl. zu der bisher weithin vernachlässigten neutestamentlichen Begründung der Theologie Harnacks jetzt Christoph Markschies: Adolf von Harnack als Neutestamentler, in: Nowak/Oexle (Anm. 79), 365–395. 244 In: Nl. Harnack, K. 13. Dort befinden sich 122 Vortragskonzepte von der Leipziger Zeit bis ins Jahr 1922. 245 Harnack an Rade am 30.8.1910, in: BwR 660. 243
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aber ich hatte immerhin noch die Wissenschaft, u[nd] so ist es – wahrscheinlich war es gut so – nichts daraus geworden.“246 So hat Harnack auch nach 1900 regen Anteil am theologischen Fachgespräch genommen. Trotz seiner Kritik etwa an der „Religionsgeschichtlichen Schule“ der ihm folgenden Theologengeneration um Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel und Ernst Troeltsch – sie ging nicht zuletzt auf Anregungen Harnacks zurück, so daß Gunkel Harnack und Julius Wellhausen zu den eigentlichen Vätern dieser Richtung zählen konnte247 – hat er gerade den akademischen Weg dieser Theologen im Zuge von Berufungsverfahren zu unterstützen versucht. Es war ein Beweis für die Liberalität des akademischen Lehrers Harnack, wenn ihm sein ehemaliger Gießener Schüler Gunkel anläßlich der Übersendung der dritten Auflage seines Harnack gewidmeten Genesiskommentars 1910 schrieb, diese Widmung drücke „meine stets gleich bleibende Dankbarkeit gegen den einzigen meiner früheren Lehrer“ aus, „der sich, als ich begann, eigene Wege einzuschlagen, von mir nicht abgewandt hat.“248 Der Briefwechsel mit Rade belegt Harnacks bleibende Anteilnahme an der Arbeit der „Freunde der Christlichen Welt“ sowie an den kirchenpolitischen Debatten und Fällen, die er sehr genau verfolgte. Das zeigte sich im Zusammenhang des Falles des Berliner Pfarrers Fischer 1905249 und, dann wieder besonders prominent, anläßlich der Fälle Jatho und Traub 1911 und 1912250, wobei Harnacks Argumentation im Fall Jatho mit dem Versuch der Vermittlung zwischen kirchlichem Spruchkollegium und Gewissensfreiheit innerhalb des Freundeskreises umstritten blieb und auch in der Presse Anlaß zu spöttischer Verwunderung gab.251 Harnack gehörte – sein erstes kirchliches Amt in der Preußischen Landeskirche – als stellvertretendes Mitglied dem 1910 eingerichteten Spruchkollegium an, das über Lehrvergehen der Pastoren zu befinden hatte.252 Seine Berufung in dieses Amt spiegelte nicht nur eine allmähliche Entspannung des Verhältnisses der Kirchenleitung zu Harnack wider, sondern war mehr noch Ausdruck des Bemühens der gemäßigten Kräfte innerhalb der Kirchenleitung um Julius Kaftan, Ernst Dryander und Wilhelm Kahl, die theologischen und kirchenpolitischen Zerklüftungen innerhalb der Landeskirche im Zeichen einer vorsichtigen Liberalisierung zu überbrücken. Dieses An246
Harnack an Rade am 11.6.1910, in: BwR 651. Hermann Gunkel: Gedächtnisrede auf Wilhelm Bousset, in: Evangelische Freiheit 20 (1920), 141–162, 146. 248 Gunkel an Harnack am 14.3.1910, in: Nl. Harnack, Korr. Gunkel, K. 32. 249 Harnack an Rade am 26. und 30.12.1905, in: BwR 584–589. 250 Vgl. neben ZH 303–316 und Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 179–211 die umfangreichen Unterlagen in: Nl. Harnack, K. 24, Mappe „Fall Jatho 1911“ bez. K. 25, Mappe „Fall Traub.“ 251 Kladderadatsch Nr. 33 vom 13.8.1911. 252 Vgl. Harnack an EOK-Präsident Voigts am 22.5.1910, in: EZA 7/2601, Bl. 167. 247
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liegen kam auch bei den anderen Kandidaten für das Spruchkollegium zum Ausdruck: Der Greifswalder Theologe Johannes Haußleiter, „ein milder und besonnener Vertreter der lutherischen Orthodoxie“, der – auch das ein Signal –, von Harnacks theologischem Kontrahenten Seeberg vertreten werden sollte, wie Harnacks Hallenser Schüler Friedrich Loofs, der „dem rechten Flügel der modernen Theologie zuzuzählen“ war, standen nach Meinung des EOK für „eine weitherzige und verständnisvolle Beurteilung der zu verhandelnden Fälle.“253 Gewinne man durch Seeberg „das Vertrauen großer positiv gerichteter Kreise“, so würden die theologische Bedeutung und das allgemeine Ansehen Harnacks „das Gewicht des Spruchkollegiums bei den freier gerichteten Kreisen der Landeskirche“ vermehren.254 Die Kritik an Harnacks Berufung in dieses Amt – das er dann nie ausüben sollte – galt damit nicht nur seiner Person, sondern der Politik des EOK insgesamt, die von „einem Berliner Theologen“ in der „Vossischen Zeitung“ als „liberale Kirchenpolitik der mittleren Linie“ charakterisiert wurde.255 Daß Harnack gerade eine solche Linie zu unterstützen bereit war, konnte angesichts seiner Vorliebe für eine vorsichtige, freilich das Fernziel einer umfassenden Liberalisierung der Kirche nicht aus den Augen verlierenden Politik des nächsten Schrittes nicht überraschen. So argumentierte er sowohl in der Diskussion um die Einrichtung des Spruchkollegiums 1909 und 1910 als auch während dessen erster Tätigkeit im Fall Jatho 1911 mit dem relativen Fortschritt, den dieses Gremium gegenüber der alten Rechtslage darstelle, sparte aber nicht mit Verbesserungsvorschlägen und mit Kritik an der Aufnahme des Verfahrens ausgerechnet gegen einen verdienten Pfarrer wie Carl Jatho, dessen Theologie allerdings auf seine entschiedene Ablehnung stieß. Wie im Staat, so setzte Harnack auch hier auf die allmähliche, nur durch mühsame Arbeit – „Einzelwirken und geräuschlos“256 – zu erreichende Entwicklungsfähigkeit der Landeskirche, worin er sich durch die „geschichtliche Evolution“ zwischen 1870 und 1910 bestätigt sah: „Wenn die Preußische Landeskirche 1870 noch bei Hengstenberg, 1890 bei Kögel stand, um jetzt nach weiteren 20 Jahren bei Dryander, Scholz und Kaftan zu stehen, so ist das doch ein eminenter Fortschritt!“257 Eine grundlegende und schnelle Veränderung der Landeskirche sei wegen des Staatskirchentums nur durch „eine große innerpolitische Umwälzung“ herbeizuführen. „Die pro253
So die Begründungen des EOK für die Auswahl der Professoren in einem Schreiben vom 26.5.1910 an Wilhelm II., in: aaO., Bl. 162. 254 Ebd. 255 Die mittlere Linie. Von einem Berliner Theologen, in: VZ vom 30.10.1910 (MA); vgl. auch Hermann Scholz: Die Professorenernennungen zum Spruchkollegium, in: Tägliche Rundschau vom 10.11.1910. 256 Harnack an Weinel am 14.11.1900, in: ThULB Jena, Nl. Weinel, 5a. 257 Harnack an Weinel am 2.3.1911, in: ThULB Jena, Nl. Weinel, 5a.
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videntes werden nicht daran denken, irgend etwas aufzugeben bez. große organische Veränderungen zuzulassen, wenn nicht der innerpolitische Zustand geändert ist u. sie zwingt. Unter solchen Umständen müssen wir unsre Pflüge doch so ziehen, daß wir die gegebenen Landeskirchen zu erweitern und freier zu gestalten suchen, u. müssen vor allem darüber nachdenken, wie wir die nächsten Schritte zu wählen haben. Daß wir übrigens in einer entschränkenden Bewegung schon mitten drinnen sind, kann nur der Ungeduldige – zur Ungeduld ist freilich Grund genug vorhanden – bezweifeln u. verkennen.“258 Dennoch hatte Harnacks Verständnis für den zögerlichen Kurs der Kirchenleitung durchaus Grenzen. Als im Jahr 1912 der Dortmunder Pfarrer und Verteidiger Jathos Gottfried Traub wegen seiner heftigen Kritik an der Landeskirche in einem wohl auf höchste Anordnung zurückgehenden Disziplinarverfahren seines Amtes enthoben wurde – „unsere Preußische Kirchengeschichte ist um ein dunkles Blatt vermehrt worden“, heißt es in einem Brief Harnacks an Traub259 –, veröffentlichte der Berliner Theologe eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Vorgehen des Oberkirchenrats, dem er bescheinigte, „den schwärzesten Schein nicht nur der Parteilichkeit, sondern des Rechtsbruchs auf sich zu laden.“260 Im Kern ging es nach Harnack um die Klärung des Verhältnisses der Kirche zum neuzeitlichen Welt- und Selbstverständnis: „Der Zusammenprall einer neuen Zuständigkeit des Geistes, einer neuen, oder besser einer nunmehr wirklich durchgeführten Art das Wirkliche zu erkennen, mit der Kirche in ihrer alten Rüstung – das ist die kirchliche Krisis der Gegenwart.“261 Die alte Praxis, die „strengstens auf die Gültigkeit von Formeln hält, aber seit alters in der Auslegung die größte Latitude nachsichtig zuläßt“, sei unter den Bedingungen der Moderne – Harnack nannte namentlich die modernen Naturwissenschaften, die kritische Erkenntnistheorie Kants sowie das moderne Geschichtsverständnis – „eine Verunreinigung unsres intellektuellen Gewissens.“262 Bei allen Fortschritten müsse die Kirche auch ihren Pastoren endlich nicht nur stillschweigend, sondern auch öffentlich zugestehen, Kritik an den Bekenntnissen zu üben, und von ihnen, wo es ihnen ihr Gewissen vorschreibe, auch abzuweichen. Dabei hatte Harnack nach wie vor insbesondere den liturgischen Zwang zum Gebrauch des Apostolikums im Gottesdienst im Auge. Kirchlich-theologische Fragestellungen blieben also auch weiter ein Schwerpunkt seines Interesses, nur trat, wie in der Politik, so auch hier die 258 259 260 261 262
Harnack an Weinel am 5.11.1911, in: aaO. Harnack an Traub am 6.9.1912, in: BA Koblenz, Nl. Traub, Korr. Harnack. Die Dienstentlassung des Pfarrers Lic. G. Traub, Leipzig 1912, 10. AaO., 21. AaO., 20.
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mehr und mehr charakteristische Eigenart Harnacks zu Tage, der vor allzu stürmischem Reformeifer warnte und auf die Kooperation mit der Kirchenleitung setzte. Immerhin unterhielt Harnack ein gutes Verhältnis zu führenden Vertretern der kirchlichen Mittelpartei Preußens wie beispielsweise Julius Kaftan, Wilhelm Kahl und Hermann Scholz, wenngleich sich diese Beziehungen aus Anlaß des Falles Traub, besonders bei Kaftan, merklich abkühlten. Harnack zog auch hier das indirekte Wirken vor, freilich nicht ohne dessen Schwächen zu übersehen, wie er 1902 gestand: „Auch habe ich, je älter ich werde, auf religiös-kirchlichem Gebiet eine immer größere [Lesart unsicher] Abneigung gegen alle Polemik u. gegen alles – ich möchte sagen – direkte Wirken. Ich habe zu oft gesehen, daß das Gegentheil aus solchem Thun herausspringt. Daß bei indirektem Wirken nicht reiner Tisch gemacht wird, empfinde ich sehr stark – so stark, daß ich es fast als mein schwerstes Kreuz bezeichnen könnte –, aber ich weiß es nicht zu ändern.“263 Die freiheitliche „Umbildung“ der preußischen Kirche blieb das unbestrittene Fernziel: „Seit dem Apostolikum-Streit des Jahres 1892 sehe ich mich in dieser großen Frage für dauernd verpflichtet an und hinter allem, was ich tue u. schaffe, ja in allem was ich theologisch u. kirchlich tue u. schaffe, zieht sich für mich dieser rote Faden. Ich glaube aus den Erfahrungen jenes ‚ersten schlesischen Kriegs‘ und nach denselben nicht nur die obligate Geduld, sondern auch Besseres, nämlich die Kenntniß von der Natur des kirchlichen Lebens, von der Soziologie der kirchlichen Parteien, von den tauglichen und untauglichen Mitteln usw. gelernt zu haben. Aus dieser Kenntniß habe ich mir meine Strategie gebildet und darf sie mir auch von den Freunden nicht stören lassen. […]. Wir haben seit 18 Jahren viel erreicht, gemessen an den früheren Zuständen. Gemessen an dem, was wir wünschen müssen, fehlt noch viel, u. daher ist noch viel ruhige, zähe und zielbewußte Arbeit nötig; aber zu dieser rechne ich nicht Apostolikums-Versammlungen u. warne ausdrücklich vor ihnen. […]. Für sehr bedenklich halte ich es auch, irgendwelche Ordnungen eigenmächtig u. als Einzelner zu durchbrechen. […] Ein zweiter ‚schlesischer Krieg‘ wird uns nicht erspart bleiben; aber wir wollen den Zeitpunkt wählen u. so wählen, daß uns der Sieg auf der ganzen Linie – ein friedlicher Sieg! – gewiß ist. Dieser Sieg soll keinen Standpunkt vergewaltigen, aber Alles in der Landeskirche anerkennen, was Jesum einen Herrn heißt.“264
263 264
Harnack an Weinel am 6.10.1902, in: ThULB Jena, Nl. Weinel, Nr. 5a. Harnack an Traub am 25.11.1910, in: BA Koblenz, Nl. Traub, Korr. Harnack.
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2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik Als Harnack 1911 unter dem Titel „Aus Wissenschaft und Leben“ zwei weitere, für ein breites Publikum angelegte Aufsatzbände herausgab, sammelte er im zweiten Teilband die theologisch-kirchengeschichtlichen Beiträge, während der erste Band Reden und Aufsätze unter den Stichworten „Wissenschaft, Schule und Bibliothek“, „Soziales und Politisches“ und „Katholische Kirche“ aus Harnacks über den akademisch-theologischen Bereich hinausgehenden Arbeitsgebieten vereinigte. Die Dreiteilung in Wissenschafts- und Bildungspolitik, Sozialpolitik und Konfessionspolitik ließ sich durchaus programmatisch verstehen und markierte in besonderer Weise Harnacks politische Hauptinteressen. Nachdem die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit bereits im Zusammenhang mit Friedrich Althoff und Wilhelm II. dargestellt worden ist, soll nun zunächst Harnacks differenziertes Verhältnis zu katholischer Kirche und politischem Katholizismus dargestellt werden, und zwar mit Schwerpunkt auf dem konfessionspolitischen Aspekt. Eine erschöpfende Behandlung dieses Themas kann schon wegen der Materialfülle – allein der dritte Band der „Dogmengeschichte“ enthält eine kenntnisreiche Skizze der Geschichte der katholischen Kirche von der Reformation bis zur Gegenwart – hier nicht geboten werden.265 Sodann folgt ein Abschnitt über Harnacks Tätigkeit als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses, um so den sozialpolitischen Tätigkeitsbereich angemessen darzustellen. Am Schluß steht eine Würdigung seines Verhältnisses zu Sozialdemokratie und politischem Liberalismus zwischen 1900 und 1914. Zunächst muß freilich Harnacks enges Beziehungsgeflecht zu den Entscheidungseliten des Reiches nach 1900 geklärt werden.
2.1. Kontakte zur Reichsleitung: Bülow und Bethmann Hollweg 2.1.1. Harnack und die Politik Bülows bis 1906 „Auch ich halte eine Kenntniß der intimen Vorgänge, die hier spielen, für eine Zeitschrift wie die Deinige, trotz ihres superpolitischen Charakters nahezu für notwendig“, so Harnack Anfang 1898 in einem Brief an Martin Rade, dem er mit diesem Argument eine Übersiedlung von Frankfurt nicht nach Marburg – wie Rade sie dann vornahm –, sondern nach Berlin empfahl. Auch müsse, so ein weiteres Argument des Berliner Theologen, die „Christliche Welt“, wolle sie in ganz Deutschland als „universale Macht […] durchdringen“, sich „neben und gegen die mächtigen Factoren, die hier 265 Vgl. als Überblick Gottfried Maron: Harnack und der römische Katholizismus, in: ZKG 80 (1969), 176–193; neben der Dogmengeschichte wären Harnacks im Nachlaß verwahrten Vorlesungen zur Symbolik sowie zur Geschichte der katholischen Kirche heranzuziehen.
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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spielen, in ipso loco behaupten können – sei es auch nach dem Psalmistenspruch: Herrsche inmitten Deiner Feinde.“ Sodann kam Harnack auf eine grundsätzliche Beobachtung zu sprechen, die nicht nur als Resultat seiner kirchen-, sondern auch seiner gelehrtenpolitischen Erfahrungen der 1890er Jahre gelesen werden darf: „Preußen, das alte Preußen, steht nun einm[a]l an der Spitze der Bewegungen in Deutschland, auch der kirchlichen. Über das, was außerhalb desselben geschieht, in Darmstadt, Weimar oder München – auch in kirchlicher u[nd] theologischer Hinsicht –, regt sich die öffentliche Meinung wenig auf. […] Auf märkischem Sande werden die Schlachten geschlagen und die Niederlagen erlebt; ein inneres, aus stetiger Anschauung gewonnenes Verständniß der Prussiaca scheint mir daher werthvoll, u[nd] so gottverloren ist doch dieses Berlin nicht, daß man sich nicht in ihm zu behaupten vermöchte.“266 Rade ist Harnacks Rat nicht gefolgt, auch gerade weil in Berlin „alles Rücksicht, Taktik, Politik“ sei. Freilich kam darin unumwunden zum Ausdruck, daß Berlin sich in zunehmendem Maße auf Grund der dort möglichen Verbindungen zum dominierenden Zentrum der politischen Einflußnahme von Professoren entwickelte, ebenso wie in Rades Reaktion sich die gleichfalls stärker werdende Kritik am Politikstil der Berliner Gelehrten ablesen läßt.267 Gegen Ende der 1890er Jahre weiteten sich Harnacks Kontakte zu den administrativen und politischen Eliten des Kaiserreiches nochmals aus. Durch Mommsen lernte er nicht nur dessen alten liberalen Weggefährten Ludwig Bamberger kennen, sondern auch den inzwischen in die kaiserliche „Entourage“ aufgestiegenen Bernhard von Bülow268, der seit 1897 Staatssekretär des Äußeren war und im Jahr 1900 das Amt des Kanzlers übernahm. Im Dezember 1898 war Harnack etwa gemeinsam mit Mommsen zu Gast bei Anna von Helmholtz. Weitere Gäste waren Marinestaatssekretär Tirpitz, Gustav Schmoller, Wilhelm Dilthey, die Baronin Spitzemberg und Georg Siemens. Gesprächsgegenstand war auch der von Tirpitz forcierte Flottenbau.269 Spätestens seit 1898 stand Harnack zudem in Kontakt mit Bismarcks Sohn Herbert, dem ehemaligen Außenstaatssekretär, mit dem er wiederholt in Berlin und Friedrichsruh zusammentraf.270 Otto von Bismarck hatte er noch wenige Wochen vor dessen Tod einen ausführlichen Brief geschrieben, den Herbert von Bismarck seinem Vater vorlas. Dieser ließ Harnack ausrich266
Harnack an Rade am 2.3.1898, in: BwR 404. Vgl. dazu vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 278–293. 268 Zu Bülow Gerd Fesser: Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Eine Biographie, Berlin 1991. 269 Vierhaus (Hg.): Tagebuch (Anm. 140), 181. 270 Vgl. die fünf Briefe Bismarcks an Harnack von 1898 bis 1904 in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bismarck, sowie die drei Briefe Harnacks an Bismarck von 1900 bis 1903 sowie ein Kondolenzschreiben an Herbert von Bismarcks Frau vom 31.12.1905, in: Otto von Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, Bismarck-Archiv, OBS, B 50. 267
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
ten, „er hätte von Ihnen niemals eine andere als eine freundliche Gesinnung erwartet“271 – eine deutliche Anspielung auf die entscheidende Rolle, die Bismarck bei der Berufung Harnacks nach Berlin gespielt hatte. Durch die spätestens seit dem Winter 1903/4 geradezu freundschaftlichen Beziehungen zu Bülow272 – schon auf einem Bankett zu dessen 50. Geburtstag 1899 hielt Harnack die Tischrede auf den Jubilar273 – gelangte Harnack in Kontakt zu führenden Politikern auf Reichsebene, etwa zu dem auch für die Sozialpolitik zuständigen Innenstaatssekretär Posadowsky, aber auch zu Tirpitz, den er 1908 für die Mädchenschulreform zu gewinnen versuchte. Einladungen bei Bülow führten ihn auch mit Theobald von Bethmann Hollweg – seit 1907 Innenstaatssekretär, dann 1909 Bülows Nachfolger als Kanzler – sowie mit Walter Rathenau zusammen.274 Enge Verbindungen pflegte er auch zu Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg, der Harnack im Juni 1910 für „die schönen Beziehungen, welche ich in den letzten Jahren zu Ihnen und Ihrem Hause knüpfen durfte“, dankte und zugleich ankündigte, sich mit ihm über „die Gründe moralischer Ordnung auszusprechen, die mich zu meinem Rücktritt veranlaßt haben.“275 Von besonderer Bedeutung wurde aber rasch das Verhältnis Harnacks zu Bernhard von Bülow und seiner Frau. Hinzu kam, daß Bülow es sich zur Gewohnheit machte, Professoren der Berliner Universität zu Abendgesellschaften einzuladen, um mit ihnen aktuelle politische Fragen zu besprechen. Außerordentlich geschickt verstand er es dabei, sich mit dem wissenschaftlichen Renommee der Gelehrten sowie ihrer öffentlichen Reputation zu umgeben, ohne ihren Ratschlägen einfach zu folgen.276 Insbesondere Gustav von Schmoller und Harnack, dann auch noch Adolph Wagner und Hans Delbrück sowie der in Bern lehrende Philosoph Ludwig Stein standen auf diese Weise in engem Kontakt zu Bülow, den sie als natürlichen Bündnispartner für die von ihnen verfochtene mittelparteiliche Politik einer maßvollen Sozialreform nach innen und gleichzeitiger deutscher Weltpolitik nach außen ansahen. Dies trat bei Bülows Versuch einer liberal-konservativen Sammlung deutlich hervor, der nach den Wahlen von 1907 im Zusammengehen der liberalen und der konservativen Parteien im „Bülow-Block“ einmündete, schloß freilich Kritik an einzelnen Maßnahmen der Regierung 271
Herbert von Bismarck an Harnack am 11.6.1898, in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bis-
marck. 272 Dieses Datum nennt Lina Delbrück: Hans Delbrücks Leben, Bd. 5 (1901–1905), 108, in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 69. 273 Vgl. Harnack an Bülow am 1.5.1928, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Bd. 83: „Lebhaft ist mir in der Erinnerung der 50ste Geburtstag Ew. Durchlaucht, an welchem ich beim Festessen Ihnen die Glückwünsche der Anwesenden aussprechen durfte.“ 274 Vgl. eine Dinnerkarte einer Zusammenkunft bei Bülow am 12.3.1909, auf deren Rückseite sich Harnack die Gäste notierte, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 275 Dernburg an Harnack am 12.6.1910, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Dernburg. 276 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 100f.
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wie der repressiven Politik gegenüber der dänischen und der polnischen Minderheit nicht aus, wie sie in besonderer Schärfe Hans Delbrück übte, der freilich gleichzeitig die außenpolitische Linie Bülows während des Burenkrieges unterstützt, im Sommer 1900 bei einem gemeinsamen Ferienaufenthalt mit Bülow mit diesem ausführlich über eine Fortführung der Sozialpolitik sprach277 und der zu den wichtigsten Verfechtern des Bülow-Blocks von 1907 zählte. Der welterfahrene Bülow, von erstaunlicher Geschmeidigkeit, mit besten Umgangsformen und schon durch seinen Umgang mit dem Kaiser ein Meister der abwägenden Gesprächsführung und indirekten Beeinflussung seines Gegenübers, übte – gerade im Vergleich mit der Mehrzahl der eher steifen preußischen Ministerialbeamten – eine beachtliche Anziehungskraft auf die Berliner Gelehrtenpolitiker aus. Schmoller wies Bülow ausdrücklich darauf hin, daß er besonders unter den Professoren viele Anhänger habe278, und Bülow versäumte es nicht, solche Vertrauensbekundungen in einer Weise zu beantworten, die dem gelehrtenpolitischen Selbstverständnis eines Schmoller, Delbrück oder Harnack entsprach. „Der Politiker, der mit dem spröden Stoff der Wirklichkeit zu ringen hat, wird für vieles entschädigt durch das Bewußtsein, daß die Besten der Zeitgenossen seiner Arbeit nicht gleichgültig gegenüberstehen“, heißt es in einem Brief Bülows an Harnack vom Januar 1906.279 Bülow verstand es, Schmoller, Harnack, Wagner und Delbrück durch den vertraulichen Umgang, in dem er auch Einblick in die politischen Entscheidungsprozesse der Reichsleitung gewährte, für sich zu gewinnen, ohne sich in irgendeiner Weise den Ratschlägen und Gutachten der Professoren zu verpflichten – man denke etwa an die behandelten Versuche Harnacks vom März 1907, Bülow für eine Teilung des Kultusministerium zu gewinnen, denen dieser konsequent auswich und seine Ablehnung nicht direkt, sondern durch seinen Vertrauten Rudolf von Renvers Harnack mitteilen ließ. Bülow gelang es so, Delbrück, Harnack und Schmoller nicht zuletzt als ein wichtiges Instrument seiner Einwirkung auf die öffentliche Meinung in sein politisches Wirken einzubinden. Insofern markierte die Kanzlerschaft Bülows einen entscheidenden Schritt hin zu einer zunehmenden Gouvernementalisierung der Gelehrtenpolitik, die mit einer gleichzeitigen personellen Einengung auf die wenigen einflußreichen Berliner Ordinarien einherging.280 Diese Entwicklung zeigte sich besonders in der Außenpolitik, beginnend mit den Flottenkampagnen von 1897 bis hin zur Unterstützung der Kolonialpolitik im Wahlkampf von 1907, während innenpolitisch durchaus Dif277 278 279 280
Vgl. Rudolf Martin: Deutsche Machthaber, Berlin/Leipzig 1910, 183. Schmoller an Bülow am 10.4.1910, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 46, Bl. 73. Bülow an Harnack am 4.1.1906, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. Vgl. den Überblick bei vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 175–185.
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ferenzen – erwähnt wurde bereits die Politik gegenüber den Minderheiten, hinzufügen lassen sich der Streit um Geschwindigkeit und Intensität der Sozialpolitik sowie der Umgang mit dem Katholizismus – bestehen blieben. Seine Kontakte zu Bülow nutzte Harnack ähnlich wie beim Kaiser zunächst zur Umsetzung seiner wissenschafts- und bildungspolitischen Vorstellungen, auch hier wiederum in enger Abstimmung mit Althoff, der gleichfalls von Bülow geschätzt wurde, aber nicht in so enger Fühlungnahme wie Harnack mit dem Kanzler stand. Neben zahlreichen Treffen auf Abendgesellschaften und zu offiziellen Anlässen korrespondierten Harnack und Bülow anläßlich von Geburtstagen und zum Jahreswechsel miteinander. Harnack setzte sich bei Bülow insbesondere für die Mädchenschulreform ein281, versuchte darüber hinaus aber auch, den Kanzler für archäologische Expeditionen oder die Reform des Orientalischen Seminars der Berliner Universität zu gewinnen.282 Im Frühjahr 1907 lud Bülow Harnack zu einem gemeinsamen Aufenthalt in Rapallo ein, den Harnack dazu nutzte, Bülow die Pläne Althoffs zur Teilung des Kultusministeriums vorzutragen.283 Auf ausdrücklichen Wunsch Bülows engagierte sich Harnack bei der Vorbereitung des Internationalen Historikerkongresses, der im August 1908 in Berlin stattfand284 – ein deutlicher Hinweis auf die wichtige Funktion, die Bülow Harnack als Repräsentanten deutscher wissenschaftlicher Weltgeltung zugedachte. Ähnlich wie beim Kaiser konnte Harnack bei Bülow immer dann auf besondere Unterstützung rechnen, wenn die Bedeutung von Reformen im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb auch nationalpolitisch sowie mit Hinweis auf die Auswirkungen in der – bei Harnack freilich immer als friedlich gedachten – Konkurrenz mit England und Amerika begründet wurde. Insofern war Harnack ohne Zweifel ein Anhänger der von Bülow betriebenen Weltpolitik, wenngleich außenpolitische Fragen nicht im Vordergrund seines Interesses standen und er wiederholt die transnationale Bedeutung von Wissenschafts-, Bildungs- und Kulturpolitik betonte. Harnack hielt damit bei aller Überzeugung von der Berechtigung des deutschen Strebens nach Weltgeltung und der gleichzeitigen Betonung des bleibenden Wertes des Protestantismus für das deutsche Nationalbewußtsein – Protestantismus und Deutschtum gehörten für Harnack, ohne sich vollständig zu decken, untrennbar zusammen, wie er 1909 in der Neuauflage seiner „Dogmengeschichte“ schrieb, die Reformation sei mithin auch für das gegenwärtige Deutschland die „stärkste Kraft, das fortschreitende Princip und 281 Harnack an Althoff am 10.4.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III: „Für die Mädchenschul-Reform habe ich den Reichskanzler interessirt und ihn gebeten, in unserem Sinne sein Gewicht in die Waagschale zu werfen.“ 282 Bülow an Harnack am 11.8.1904, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 283 Vgl. Kapitel IV. 1.2.1. 284 Vgl. Harnacks Bericht an Bülow vom 11.11.1907 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow, sowie Bülow an Harnack am 5.8.1908, in: aaO.
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das höchste Ziel“285 – am bleibenden Zusammenhang von Nationalbewußtsein und Weltbürgertum fest: „Gewiß, wir wollen das Wohl und die Größe unseres Vaterlandes – kein anderes Ziel schwebt uns vor –, aber wir wollen sie mit der christlichen und universalen Humanität, weil das Vaterland ohne sie kein Gegenstand freudiger Wertschätzung sein kann. Wir vergessen nicht, daß alle unsere öffentlichen Pflichten ihre Form und ihr Ziel an dem Vaterlande haben, aber wir wollen, daß der Geist, der das Vaterland durchwaltet, von den hohen Gütern erfüllt ist, für die es keine nationale Schranke gibt.“286 Die, wenn auch zögerliche, Wiederaufnahme staatlicher Sozialpolitik nach 1900 und den Verzicht auf antisozialdemokratische Ausnahmegesetzgebungen begrüßte Harnack. Beides führte ihn zu dem Urteil, daß die Politik Bülows „im Grundsatz richtig sei.“287 Bülow selbst bedankte sich bei dem Gelehrten „für die Anerkennung, die dem Kanzler u. seinen Mühen gilt, näher aber berührt mich das dem Menschen dargebrachte Wohlwollen.“288 Besondere Unterstützung fand seit 1900 Bülows ausgleichender Kurs gegenüber dem Zentrum, das im Reichstag eine Schlüsselstellung inne hatte. Entscheidend dafür war nach Harnack der notwendige Versuch einer Überwindung der politischen und gesellschaftlichen Folgen des konfessionellen Gegensatzes. Aus diesem Grund unterstützte er etwa im Fall Spahn die Errichtung einer katholisch-konfessionellen Geschichtsprofessur sowie die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät an der Straßburger Universität, über die er im Jahr ihrer endgültigen Einrichtung 1903 eingehend mit Bülow beriet.289 In diesem Sinn wollte Harnack seine „Rückenstärkung“ der Regierung im Fall Spahn290, aber auch in den Verhandlungen über die Zukunft des Preußischen Historischen Instituts verstanden wissen, in dessen wissenschaftlichen Beirat Harnack 1902 neben dem katholischen Kirchenhistoriker und Zentrumsabgeordneten Franz Dittrich von Bülow berufen wurde.291 Daß Harnack in diesen Verhandlungen sich gegenüber 285
LDG4 3, 811. So Harnack in seiner Eröffnungsrede auf der Dessauer ESK-Tagung von 1908, in: VESK 19 (1908), 3. 287 Harnack an Bülow am 2.5.1904, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 288 Bülow an Harnack am 3.1.1904, in: aaO. 289 Vgl. Harnacks ausführlichen Bericht über ein Gespräch mit Bülow am 25.10.1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 290 Harnack an Rade am 24.12.1901, in: BwR 476. 291 Vgl. dazu neben Harnacks Briefwechsel mit dem zeitweiligen Direktor des Instituts, dem katholischen Historiker Aloys Schulte, in: ULB Bonn, Nl. A. Schulte, Korr. Harnack, Lothar Burchardt: Gründung und Aufbau des Preußischen Historischen Instituts in Rom, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 59 (1979), 334–391. Auch mit Bülow besprach Harnack wiederholt die Angelegenheiten des Instituts, vgl. etwa Bülow an Harnack am 24.6.1907, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 286
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den Wünschen des Zentrums aufgeschlossen zeigte, brachte ihm die Kritik seines Freundes Rade ein. „Wer die Flotte will, muß ja auch Opfer wollen“, schrieb Rade, der damit auf die Zustimmung des Zentrums zu den Flottenvorlagen anspielte, und jetzt sei eben als eines der „Kompensationsobjekte“ das römische Institut an der Reihe, aber: „Ich gestehe, daß ich nicht ohne Angst sehe, daß Dein guter Name in diese Dinge verwickelt ist.“292 Es blieben freilich kritische Punkte wie die preußische Polenpolitik, die Harnack Ende 1901 in einer Eingabe an den Kultusminister ebenso kritisierte wie noch 1908 in einem Brief an Bülow.293 Harnacks Ende 1907 erschienene Auseinandersetzung mit der modernen Rassenideologie verdeutlichte bereits, daß dieser Dissens auch zu Zeiten des liberalkonservativen BülowBlocks bestehen blieb, denn sie endete mit praktischen Hinweisen zur „Völkerpolitik“ in Staaten mit nationalen Minderheiten. Im Hintergrund stand dabei, ohne wörtlich erwähnt zu werden, die repressive Polenpolitik Bülows. Sie hatte 1906 erneut zu polnischen Schulstreiks geführt und schlug sich in den Verhandlungen über den Sprachenparagraphen im Entwurf des Reichsvereinsgesetzes vom April 1908 ebenso nieder wie in der gleichzeitigen Regierungsvorlage für ein Gesetz, das die Enteignung polnischen Grundbesitzes zu Ansiedlungszwecken zuließ.294 Im Kontext dieser Ende 1907 intensiv diskutierten Vorgänge waren Harnacks Äußerungen eine eindeutige Stellungnahme. Die verschieden Nationalitäten mußten nach Harnack in der Wertschätzung des Staates – und damit nicht der ethnisch definierten Nation! – zusammenstehen und in der gemeinsamen Arbeit an ihm weiter zusammenrücken. Unter dieser Voraussetzung könne sich der Kampf der einzelnen Völker um das „geistige Gepräge“ des Staates vollziehen, aber ohne Rassegesichtspunkte und ohne Repressalien, die allenfalls in „schwerer Notlage“ erlaubt seien und auch dann nur gegen einzelne Erscheinungen, nicht pauschal gegen eine Bevölkerungsgruppe gerichtet sein dürften – ein Grundsatz, gegen den das Enteignungsgesetz in den Augen Harnacks sicher verstieß. Letztlich erweise sich die Überlegenheit eines Volkes, so Harnack, allenfalls durch seine „sittliche[n] Kräfte.“ Auf die Sprachauseinandersetzungen zielten dann folgende Bemerkungen: „Vor allem gilt es überall die Religion und die Sprache der Schwächeren zu respektieren und sich vor der Illusion zu hüten, als könne man durch Aufzwingung der Sprache den nationalen Sinn ändern. Stets hat der Stärkere die Pflicht, der Schwächere das Recht, die fremde Sprache zu lernen – nicht umgekehrt, wie es so häufig aufgefaßt wird. Der Stärkere hat 292
Rade an Harnack am 1.2.1903, in: BwR 504. Vgl. zur Petition von 1901 in dieser Arbeit Kapitel III. 3.5., zur Kritik von 1908 Harnack an Bülow am 10.4.1908, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 294 Vgl. als Überblick zum politischen Kontext Hans-Ulrich Wehler: Polenpolitik im deutschen Kaiserreich, in: ders.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 21979, 184–202. 293
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diese Pflicht, damit er der Stärkere bleibt, und der Schwächere hat das Recht, damit er nicht durch Zwang schwächer werde. Weiter, das Konnubium der verschiedenen Völker in einem Staate ist nicht nur nicht zu erschweren, sondern zu befördern.“295 Diese Ausführungen standen im deutlichen Widerspruch zur repressiven Polenpolitik Bülows. Sie ließen zugleich bereits erahnen, daß die alldeutschen Germanisierungsphantasien während des Krieges in Harnack einen wichtigen Gegner finden sollten, deutete sich diese Ablehnung mit seiner Haltung zur preußischen Polenpolitik vor dem Krieg doch bereits an. Hinzu kam, daß zumindest Teile der Sozial- und Wirtschaftspolitik auf Harnacks Widerspruch stießen. Das gilt besonders für die maßgeblich von Harnack entworfene Resolution des Evangelisch-sozialen Kongresses zum Ruhrstreik vom Januar 1905, die eine implizite Kritik der Regierung darstellte.296 An seiner grundsätzlichen Unterstützung Bülows änderten diese abweichenden Einschätzungen allerdings wenig.
2.1.2. Reichstagswahlen und Finanzreform: Die Zeit des Bülow-Blocks 1907–1909 Als im Dezember 1906 die Bülow stützende Majorität aus Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum an den Auseinandersetzungen um die Kolonialpolitik in die Krise geriet und schließlich nach der Ablehnung des Nachtragsetats für die Finanzierung der Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika durch das Zentrum zerbrach, so daß der Reichstag am 13. Dezember 1906 aufgelöst und Neuwahlen für den 25. Januar 1907 angesetzt wurden, zählten auch die Gelehrtenpolitiker Delbrück, Schmoller und Harnack zu den Befürwortern dieses Schrittes. Diese Unterstützung Bülows war einerseits außenpolitisch motiviert, hatte aber andererseits in der von Bülow angekündigten Hinwendung zum Liberalismus sowie der Ausschaltung des Zentrums ihren Hintergrund. Bülow hatte Harnack in einem Gespräch Mitte Dezember 1906 über seine Einschätzung der politischen Lage nach der Reichstagsauflösung berichtet297, nachdem dieser bereits unmittelbar nach diesem Ereignis Bülow geschrieben hatte: „Was auch kommen möge, Sie haben getan, was getan werden mußte, und darum wird es eine heilsame Frucht schaffen, auch wenn diese Frucht nicht sofort uns geschenkt wird.“298 295
RÜI 32f. Vgl. Kapitel IV.2.3. 297 Harnack an Althoff am 18.12.1906, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 105. 298 Zitiert nach Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 2 (Anm. 76), 288. Dieser Brief befindet sich weder im Bülow-, noch im Harnack-Nachlaß. 296
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Zur Unterstützung des Reichskanzlers bildete sich auf Initiative Delbrücks am 8. Januar ein „Kolonialpolitisches Aktionskomitee.“ Auf der Gründungsversammlung sprachen neben Delbrück auch Gustav von Schmoller, Dietrich Schäfer, Ignaz Jastrow und – das markierte zugleich den offiziösen Charakter des Unternehmens – Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg, also eine der Schlüsselfiguren der innenpolitischen Auseinandersetzung.299 Auch Harnack gehörte neben etlichen anderen namhaften Gelehrten dieser Organisation an.300 Bei einem abendlichen Dinner des Komitees am 19. Januar trat Bülow selbst auf und umriß sein außenpolitisches Programm wie auch sein damit verbundenes Projekt einer innenpolitischen Sammlung aus Konservativen, National- und Linksliberalen: „Die Kolonien sind nicht nur ein Prüfstein für unsere nationale Tatkraft, sie können auch ein Bindemittel sein für unsere in ein Dutzend Fraktionen gespaltene politische Betätigung im Innern. Zu ihrer Entwicklung brauchen wir die Paarung des konservativen mit liberalem Geiste […].“301 Als maßgeblicher Initiator des Unternehmens stellte Delbrück das Aktionskomitee in seine Überlegungen über die Bedeutung der Gelehrten für Politik und öffentliche Meinung ein. Deren Zurückhaltung gegenüber den Parteien bedeute „keineswegs politische Indolenz und Teilnahmslosigkeit an den Geschicken des Reiches […]. Wenn irgend eine Krisis herauf zog und die Nation in der Tiefe aufgerüttelt werden mußte, um eine Abwegigkeit zu vermeiden oder auf der rechten Bahn vorwärts getrieben zu werden, dann regte sich es auch mächtig in den Kreisen der liberalen Berufe, und sie veranstalteten Kundgebungen, die von starker Wirkung auf die öffentliche Meinung und auf den tatsächlichen Fortgang der Dinge waren. So gegen das Zedlitzsche Volksschulgesetz, so für die Schaffung der Flotte; in minderem Maße auch bei der lex Heinze und auch anderen Gelegenheiten.“302 Für Delbrück bedeutete das Aktionskomitee gar eine erste Vorstufe auf dem Weg zu einer Organisation der politischen Intelligenz, nicht gegen, wohl aber neben dem Reichstag, der „als Forum für die Behandlung der auswärtigen Politik“ nicht genüge.303 299 Vgl. Kolonialpolitisches Aktionskomitee (Hg.): Schmoller, Dernburg, Delbrück, Schäfer, Sering, Schillings, Brunner, Jastrow, Penck, Kahl über Reichstagsauflösung und Kolonialpolitik. Offizieller stenographischer Bericht über die Versammlung in der Berliner Hochschule für Musik am 8. Januar 1907, Berlin 1907. Unterlagen zur Entstehungsgeschichte des Komitees in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 36. Zum Komitee vgl. auch vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 180–185. 300 Mitgliederliste in: Aktionskomitee, 2. 301 Schultheß 1907/I, 10. 302 Hans Delbrück: Die Wahlen, in: PJ 127 (1907), 375. Dieser Teil des Artikels datiert vom 24. Januar 1907, also vom Vortag der Hauptwahlen am 25. Januar. Delbrück berichtete auch über die Aktivitäten des Kolonialpolitischen Aktionskomitees, vgl. aaO., 375–377. 303 AaO., 377 (24.1.1907).
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Innenpolitisch setzte Delbrück gleichzeitig durchaus auf die Stärkung des Liberalismus einschließlich der freisinnigen Gruppierungen und fand deshalb kritische Worte für Bülows programmatischen Silvesterbrief an den Vorsitzenden des „Reichverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie.“ Für die Zeit nach den Wahlen gab er als nächstes Ziel des linksliberalen Freisinns die Schaffung der „nationalen Demokratie“304 aus, für die spätestens nach dem Abtreten Bebels auch die Sozialdemokratie zu gewinnen sein werde, freilich – und in dieser Ausbalancierung typisch für Delbrück – unter Einbau konservativer Gegengewichte im Interesse der Wahrung „viele[r] kostbare[r] Güter unserer nationalen Individualität.“305 Im Blick auf die Fragilität des konservativ-liberalen Bündnisses gab er sich keinen Illusionen hin, bilde es doch nicht mehr als „ein augenblickliches Zusammenstehen von Parteien, die sich sonst und prinzipiell einander bekämpfen.“ Von den konservativen Parteien als bewegenden Kräften der deutschen Politik war bei Delbrück nicht mehr die Rede, der im übrigen vor einer zu starken Polemik gegen das Zentrum warnte, das unabhängig vom Wahlausgang einen bedeutsamen Part in der deutschen Politik spielen werde, da „die Konservativen in allen wirtschaftlichen Fragen und auch auf manchen Fragen des geistigen Gebiets mit dem Zentrum zusammenstehen und die liberalen ihrerseits ebenso in manchen wichtigen Fragen der Sozialpolitik und des Polizeistaates.“306 Harnack selbst hatte sich im Wahlkampf nicht zurückgehalten. Er gehörte nicht nur dem Kolonialpolitischen Aktionskomitee an, sondern hat, ebenso wie Hans Delbrück, Friedrich Naumann bei dessen von Ernst Jäckh „amerikanisch“ aufgezogener Kandidatur im Wahlkreis Heilbronn mit einem in der „Neckar-Zeitung“ publizierten Aufruf unterstützt.307 In direktem Zusammenhang mit den innenpolitischen Darlegungen Delbrücks308 – und möglicherweise auch abgestimmt mit Bülow selbst – stand Harnacks Rede zur jährlichen Feier der Berliner Universität anläßlich des Geburtstags des Kaisers am 27. Januar 1907, also zwei Tage nach den Hauptwahlen und nur eine Woche vor den wichtigen Stichwahlen vom 5. Februar. Das von Harnack gewählte Thema lautete „Protestantismus und Katholizismus in Deutschland“ und war schon wegen dieser Themenstellung ein Politikum, wenngleich Harnack beteuerte, er habe die Rede bereits vor der Auflösung
304
So Delbrück in dem am 27.1.1907 verfaßten Teil des Artikels: „Was die Aufgabe ist, liegt freilich auf der Hand – die Schaffung einer nationalen Demokratie“ (aaO., 381). 305 AaO., 383. Worin diese Güter freilich näher bestanden, führte Delbrück bezeichnenderweise nicht aus. 306 AaO., 380. 307 Dazu Theodor Heuß: Erinnerungen 1905–1933, Frankfurt am Main 1965, 43. 308 Vgl. die Belege bei Lina Delbrück: Hans Delbrücks Leben. Band 6 (1906–1907), 79–87, in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 70.
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des Reichstages im Dezember 1906 niedergeschrieben.309 Harnack schilderte darin zunächst die Folgen des konfessionellen Gegensatzes für das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben Deutschlands, der mindestens so schwer wiege wie der auf sozialem Gebiet, zumal er sich auch darin äußere, daß „die eine Partei dazu noch Direktiven aus dem Auslande erhält.“310 Diese Anspielung auf die Zentrumspartei stellte freilich den einzigen direkten Angriff auf Teile des katholischen Spektrums in Deutschland dar. Es folgten versöhnliche Töne, zunächst der Hinweis, daß die politischen Folgekosten der Spaltung nicht den kulturellen Leistungen der Religion an sich anzulasten seien, dann die ausführliche Beschäftigung mit der Frage, was zur Milderung des konfessionellen Gegensatzes geschehen könne. Harnack verwies dabei nicht nur auf die allmähliche Nivellierung der lebensweltlichen Unterschiede zumindest zwischen freien Protestanten und freien Katholiken sowie auf die hohe Anzahl an bikonfessionellen Ehen, sondern auch auf die enge Verbindung von Religions- und Geistesgeschichte in Deutschland, die beiden Konfessionen zugute gekommen sei und die eine radikale Trennung von Staat, Religion und Kirche unmöglich mache, denn seit der Epoche des Idealismus „ist die christliche Religion in den Tiefen unseres inneren und nationalen Lebens verankert, mit unserm höheren Dasein unauslöschlich verbunden, und keine Macht vermag sie zu beseitigen.“311 Der Staat habe daher nicht gegen einzelne Konfessionen vorzugehen, sondern sie in ihren Lebensäußerungen zu unterstützen. Dieser Absage an jeden Kulturkampf folgten Überlegungen über die Art der Annäherung der beiden Konfessionen. Sie konnte Harnack zufolge gerade nicht „als eine äußere Einheit oder gar Verschmelzung“ gedacht werden noch von dem Versuch ausgehen, „die Dogmensysteme der Kirchen und ihre Verfassungen durch Konzessionen von beiden Seiten in eine leidliche Einheit“ zu bringen.312 Da Religion ihrem Wesen nach auf Gesinnung und Innerlichkeit beruhe, müßten genau diese Kräfte in allen Konfessionen verstärkt zur Geltung gebracht werden. Verinnerlichung und gleichzeitige Stärkung der Freiheit in den Einzelkonfessionen, so lautete das Programm Harnacks: „die Frage der Annäherung der Kirchen fällt mit der Frage der Verinnerlichung und Freiheit in jeder einzelnen Kirche zusammen. Das interkonfessionelle Problem ist in Wahrheit ein konfessionelles; denn es ist in dem konfessionellen Problem der innern Vertiefung und Erweiterung bereits schon enthalten.“313 Nicht konfessioneller Hader, sondern die gemeinsame Arbeit im „Garten Gottes“ – Harnack nannte „die sittliche Tüchtigkeit und den Seelenfrie309 310 311 312 313
RANF 1, 225–250. AaO., 228. AaO., 232. AaO., 233. AaO., 234.
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den aller Volksgenossen“ – müßten im Mittelpunkt der kirchlichen Arbeit stehen.314 Harnack verwies sodann auf die unvermeidlichen Auswirkungen des historischen Denkens auch im Katholizismus: „Was zur Verfestigung des Eigenwesens angerufen wird, die Kenntnis und Autorität der Geschichte, tut zunächst diesen Dienst wirklich; aber dann hebt sie mit starkem Flügel den, der sie gerufen, über sich selbst hinaus und öffnet ihm neue Bahnen, die er nun gehen muß. Denn in der Erkenntnis der Geschichte liegt schließlich immer ein mächtiges, vorwärtstreibendes Element. Sie bleibt nicht die treue Magd, die das alte Hauswesen besorgt, sondern sie wird zur Herrscherin, die eine neue Ordnung der Dinge gebiert.“315 Abschließend warnte Harnack mit Blick auf den konservativen Protestantismus, insbesondere aber auf die Zentrumspartei vor „politische[r] Religion“ und der „Verquickung von Konfession und Politik“, die nicht nur Religion und Vaterland, sondern schließlich auch die eigene Konfession bedrohe.316 Mit Nachdruck machte er dann noch einmal auf die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Protestanten und Katholiken aufmerksam und sprach sich gegen „das Präsentieren alter Rechnungen“ aus.317 Ausdrücklich stellte Harnack gar die Identifikation von Protestantismus und Deutschtum in Frage, wenn er davon sprach, daß mit dem deutschen Katholizismus immer mehr „der Typus des germanischen Katholizismus innerhalb der katholischen Völkerfamilie zu seinem Rechte komme.“318 Die Religion „rein“ und das Vaterland „stark und friedevoll“, mit diesem nicht nur religiös, sondern gleichermaßen nationalpolitisch orientierten Blick in die Zukunft endete Harnacks Rede.319 „Eisige Kühle“, so charakterisiert Agnes von Zahn-Harnack die Reaktion der Zuhörer Harnacks.320 „Schon schwirrt es natürlich von ‚Entrüstungen‘, Vorwürfen und den billigsten Einwürfen. Aber das war vorauszusehen“, konstatierte Harnack bereits am 28. Januar 1907.321 Auf Ablehnung stieß die Rede nicht nur in der konservativen, sondern auch in weiten Teilen der liberalen Presse. Kritisch äußerte sich etwa Friedrich Naumann, der aus Harnacks Darstellung zu einer umgekehrten Schlußfolgerung gelangte. Anders als in Italien oder Frankreich könnten sich viele deutsche Katholiken dem „politischen Klerikalismus“ eben wegen der Eigenschaften, die Harnack am deutschen Katholizismus schätze, nicht entziehen. „Gerade das, was 314
AaO., 235. AaO., 236. 316 AaO., 247. 317 AaO., 248. 318 AaO., 249. 319 AaO., 250. 320 ZH 320f. 321 Harnack an Schmoller am 28.1.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 199a, Bl. 96f. 315
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Harnack am deutschen Katholizismus schätzt, daß er nicht unempfänglich ist für gewisse kulturelle Einwirkungen des Protestantismus, das macht ihn stärker. Der deutsche Katholizismus ist eine Mischung romanischer Priesterherrschaft mit deutschem Geistesleben. Diese Mischung ist als solche stärker als das romanische System.“322 Positiv dagegen äußerte sich neben katholischen Kollegen wie Sebastian Merkle und Joseph Schnitzer323 Ernst Troeltsch. In einem Brief an Harnack sprach er von einem „Standpunkt über den Konfessionen“, der ihm die Rede so überaus sympathisch mache.324 Gustav Schmoller erklärte die breite Ablehnung bei vielen Kollegen mit „ihrem engen Horizont, ihrem geringen Bildungsniveau, ihrer vielleicht achtenswerten, aber etwas rückständigen kirchlich-protestantischen Leidenschaft.“325 Hinzuweisen ist auf die enge Verbindung der Rede Harnacks mit den Überlegungen Delbrücks. Er sorgte nicht nur dafür, daß die Rede bereits Anfang Februar 1907 in seinen „Preußischen Jahrbüchern“ erschien, sondern ordnete sie in seine skizzierten allgemeinpolitischen Überlegungen ein, die vom 24. Januar, also drei Tage vor Harnacks Rede, datierten. Auf Delbrücks Bemerkung über die bleibende politische Bedeutung, die das Zentrum auch nach den Wahlen spielen werde, folgte der Hinweis auf die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Partei: „Es bleibt also von höchster Bedeutung, welcher Geist in der Zentrumsfraktion herrscht, ob die versöhnliche, nationale, ob die intransigente, ultramontane Richtung die Oberhand hat.“326 Delbrück nahm damit Bezug auf die seit 1906 offen ausgebrochene innerparteiliche Kontroverse über die Zukunft des Zentrums zwischen den Integralisten der Berliner Richtung einerseits, die das Zentrum weiterhin als konservativ-klerikale Partei einer dezidiert katholischen Weltanschauung verstanden wissen wollten, sowie den Reformern der Kölner Richtung, darunter auch die Christlichen Gewerkschaften und der Volksverein für das katholische Deutschland, andererseits, die – wie einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Publizist Julius Bachem – unter der Losung „Wir müssen aus dem Turm heraus“ die konfessionelle und gesellschaftliche Öffnung der Partei betreiben wollten und dabei diese ausdrücklich über die nicht zuletzt durch
322
Friedrich Naumann, Das Zentrum, in: Hilfe 14 (1907), 114f. Vg. Merkle an Harnack am 13.2.1907 bzw. Schnitzer an Harnack am 7.2.1907, jetzt auch in: Manfred Weitlauff: „Catholica non leguntur?“ Adolf von Harnack und die katholische Kirchengeschichtsschreibung, in: Nowak/Oexle (Anm. 79): 239–317, 307f. bzw. 309–311. 324 Troeltsch an Harnack am 19.5.1907, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Troeltsch. 325 Gustav Schmoller an Harnack am 27.1.1907, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmoller; vgl. ferner Friedrich Paulsen: Protestantismus und Katholizismus in Deutschland, in: DLZ 28 (1907), 389–394. 326 PJ 127 (1907), 378. 323
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die päpstlichen Verlautbarungen sich verschärfenden konfessionellen Gegensätze erheben wollten.327 Wenngleich diese Fronten durch den stark kulturkämpferischen Wahlkampf von 1907 überdeckt worden waren und zudem der Anlaß der Reichstagsauflösung, die Verweigerung eines Nachtragsetats für die Kolonialpolitik durch das Zentrum, wesentlich auf den Einfluß des Reformers Matthias Erzberger zurückzuführen war, mithin Delbrücks Charakterisierung die augenblickliche Konfrontation nicht in Gänze traf, so stellte der Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ Harnacks Vortrag dennoch gleichsam als protestantischen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung dar, der auf eine Unterstützung der Strömungen in der Partei zielte, die auf eine Trennung von Konfession und Politik hinarbeiteten. Delbrück verband dies mit dem Hinweis, daß sich die Vertreter eines freieren Katholizismus sowie uneingeschränkter wissenschaftlicher Forschung auch in der Führung der Partei finden ließen – gemeint war vermutlich der Münchener Philosophieprofessor und bayerische Zentrumspolitiker Georg Freiherr von Hertling, der zugleich Vorsitzender der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland war, gewiß kein Anhänger der Kölner Richtung, noch weniger aber der Berliner Integralisten um Hermann Roeren und den Fürstbischof Kopp, sondern ein Mann der gouvernementalen Mitte, der 1898 für die Zustimmung des Zentrums zur Flottenvorlage gesorgt hatte. Indem Harnack als der „in diesem Augenblick angesehenste Theolog der ganzen protestantischen Welt“ gerade auf die Verdienste der katholischen Wissenschaftler für eine Annäherung der Konfessionen hinweise, fuhr Delbrück fort, führe er alle Hinweise auf einen protestantischerseits beabsichtigten neuen Kulturkampf ad absurdum. Damit, so Delbrück, „sinkt das Wort ‚Kulturkampf ‘ platt und abgetan zu Boden“, woraus er den Schluß zog, daß das Argument des Zentrums für Wahlbündnisse mit der Sozialdemokratie hinfällig sei. Aber auch die Protestanten hätten keinen Anlaß dazu, den von Harnack beschriebenen Tendenzen innerhalb des Katholizismus unter der Parole des Kulturkampfes „stolz und ablehnend den Rücken zu kehren.“328 Der Vermeidung kulturkämpferischer Parolen und einer damit einhergehenden Vertiefung der konfessionellen, gesellschaftlichen und politischen Zerklüftungen galt nicht nur die Kooperation Harnacks mit Delbrück, sondern auch mit Friedrich Althoff, der sich wie Harnack um eine Verständigung nicht nur zwischen Katholizismus und Protestantismus, sondern auch zwischen den Bülow stützenden Parteien und wenigstens Teilen des Zen327 Dazu grundlegend Wilfried Loth: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984, 82–113. 232–277. 328 PJ 127 (1907), 379.
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trums bemühte.329 In diesem Sinne hatte er um die Jahreswende 1906/7 eine Korrespondenz mit Hertling sowie dem Straßburger Historiker Martin Spahn geführt. Althoff hatte darin unverhohlen seine Sympathie für das alte, weithin bürgerlich dominierte Zentrum der späten 1890er Jahre erkennen lassen und Möglichkeiten einer Unterstützung wenigstens der konservativ orientierten Parteiflügel ausgelotet.330 Hertling, der hinter dieser Anfrage nicht weniger als den Versuch einer Spaltung der Partei erblickte, stimmte Althoff zwar darin zu, „daß der jetzt entbrannte Wahlkampf alle Bemühungen der letzten Jahrzehnte, welche auf Versöhnung der Gemüter, auf Überbrückung der konfessionellen Gegensätze durch Hervorhebung des National-Einigenden gerichtet waren, zunichte macht“, schob die Schuld dafür aber dem Kanzler zu, der die erfolgreiche Politik der „mittleren Linie“ durch Kooperation mit dem Zentrum aufgegeben habe, als deren sichtbarsten Erfolge Hertling die Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches, die Wiederaufnahme der Sozialpolitik sowie den Ausbau der Flotte nannte.331 Althoff bestritt jedwede Absicht einer Spaltung des Zentrums. Ihm schwebe allein das „alte Zentrum vor, in dem es außer Juristen auch noch politische und administrative Kräfte gab […].“332 Seinen Briefwechsel ließ Althoff in Abschriften Harnack zukommen, der kommentierte: „Wenn selbst Hertling sich auf nichts einlassen will, so ist wenig zu machen.“333 Daß Althoff Bülows Reichtagsauflösung ausdrücklich billigte und daß er die Briefe Harnack, aber auch der Reichskanzlei zur Kenntnis brachte334, läßt vermuten, daß sein Vorgehen mit beiden abgesprochen gewesen war. Es zielte vermutlich nicht auf eine Spaltung des Zentrums, sollte aber wohl dazu beitragen, auch nach den Wahlen Kooperationsmöglichkeiten mit dem Zentrum offen zu halten. In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Januarrede Harnacks. Inwieweit sie mit Bülow abgestimmt war, läßt sich nicht eindeutig klären. Bülow dankte Harnack telegraphisch am 29. Januar 1907 nur knapp335, wenige Tage später sprach dann aber seine Frau Marie von einer „schönen, für
329
Vgl. Sachse (Anm. 189), 154–156; Loth: Katholiken, 122 und 132f. Althoff an Hertling am 18. und 27.12.1906, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, Nr. 104 II, Bl. 34 bzw. 39–40. 331 Hertling an Althoff am 20.12.1906, in: aaO., Bl. 37f. 332 Althoff an Hertling am 27.12.1906, in: aaO., Bl. 39f. 333 Harnack an Althoff am 29.12.1906, in: aaO., Bl. 41. Auch einen Brief Spahns vom 30.12.1906, in dem dieser eine Kandidatur für den Reichstag erwog, aber wegen der Kürze der Zeit keinen Wahlkreis zu finden befürchtete, übersandte Althoff an Harnack, der darauf am 4.1.1907 notierte: „Farbe hat der Hr. College Sp. nicht bekannt“, in: aaO., Bl. 45. 334 Vgl. Loth: Katholiken (Anm. 327), 122, Anm. 97. 335 „herzlichen Dank und Grusz = Buelow“, lautet Bülows Telegramm vom 29.1.1907 an Harnack, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 330
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echtes Christenthum und wahre Freiheit eintretenden Geburtstagsrede.“336 So deutlich Harnacks Kritik an den antikatholischen Auswüchsen des Wahlkampfs auch war, in Bülows Planung dürfte sie sich problemlos eingefügt haben, hielt sie doch gerade durch den um Verständnis und Anerkennung bemühten Ton nicht zuletzt die Möglichkeit einer erneuten Kooperation mit dem Zentrum offen – eine Richtung, in die auch Althoffs Sondierungsversuche wiesen. Zustimmung signalisierte auch der Kaiser, der Harnack die Übersetzung des Berichts einer amerikanischen Zeitung über die Geburtstagsrede zukommen ließ.337 Neben dem insgesamt kritischen Echo in der Presse wies diese auf eine weitere mögliche Bedeutung der Ausführungen Harnacks hin, nämlich auf potentielle Ambitionen auf das Amt des preußischen Kultusministers. Von einer „Kandidatenrede“ sprach etwa – durchaus mit Sympathie – das linksliberale „Berliner Tageblatt“, was die konservative „Ostpreußische Zeitung“ sogleich als „liberale Phantasien“ abtat.338 Harnack selbst dementierte umgehend entsprechende Ambitionen in einer Zuschrift an das „Berliner Tageblatt“: „Warum nicht gleich zum Papst? […]; ebenso hätten Sie mich fragen können, ob ich Konsistorialrat, Minister des Äußeren in Schaumburg oder sonst etwas geworden sei.“339 Entsprechende Spekulationen hatten – bedenkt man Althoffs Pläne für eine Teilung des Ministeriums und die Besetzung des neu zu schaffenden Wissenschaftsministeriums mit Harnack – durchaus einen konkreten Hintergrund, insgesamt erschien aber bereits im Januar 1907, also noch bevor Bülow Althoffs Pläne mit Rücksicht auf die Differenzen innerhalb des liberalkonservativen Blocks abgelehnt hatte, ein Minister Harnack äußerst unwahrscheinlich. Nicht nur seine theologische Position machte ihn für die Konservative Partei mit Blick auf ein Ministerium, in dessen Zuständigkeitsbereich auch die kirchlichen Angelegenheiten fielen, inakzeptabel, sondern auch seine in der Kaisergeburtstagsrede angeklungene konziliante Haltung gegenüber dem Katholizismus ließ ihn in einer parteipolitischen Kombination, deren wesentliches Bindemittel ein gemeinsamer Antiultramontanismus, ja Antikatholizismus darstellte, kaum zustimmungsfähig sein. Insofern fehlte Harnack, der eine entsprechende Kandidatur nicht aktiv betrieben hat, nicht nur der Rückhalt in einem wichtigen Teil der neuen Mehrheit, sondern wohl auch bei Bülow selbst, für den sich schon mit Rücksicht auf den labilen Block eine Berufung Harnacks auf einen preußischen Ministerposten verbot. Nur auf den ersten Blick war damit die neue Konstellation einer Ministerkandidatur Harnacks günstig. Zu seiner Durchsetzung wäre die Kraft der Liberalen zu gering gewesen. Bei einer 336 337 338 339
Marie Bülow an Harnack am 2.2.1907, in: aaO. Nl. Harnack, K. 44, Korr. Wilhelm II. BT Nr. 50 vom 28.1.1907 bzw. Ostpreußische Zeitung vom 31.1.1907. BT Nr. 54 vom 30.1.1907.
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Kooperation von Konservativen und Zentrum verbot sich ein Minister Harnack noch mehr, bedenkt man die beide Parteien einende Ablehnung seiner dogmenkritischen Theologie. Daß Harnack auch zu Zeiten des BülowBlocks nicht ministrabel war, belegt zugleich die Grenzen, die bei aller gouvernementalen Orientierung selbst für einen Gelehrten wie Harnack im politischen System des Kaiserreichs bestanden. Es ist zu vermuten, daß Harnack sich einem entsprechenden Ruf nicht entzogen hätte. Kam er, trotz aller kaiserlichen Gunst und der engen Bekanntschaft mit Bülow, für ein solches Amt nicht in Frage, so stellte die ihm 1911 übertragene Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, also eine gleichsam halboffizielle Position, eine Art Kompensation dar. Erst im Oktober 1918 tauchte Harnacks Name wieder als wirklich ernstzunehmende Möglichkeit in einer Liste möglicher Ministerkandidaten aus der Feder des designierten Reichskanzlers Max von Baden auf. Eine erste politische Äußerung Harnacks nach der Rede vom Januar 1907 stellte seine Eröffnungsansprache auf der Straßburger Pfingsttagung des Evangelisch-sozialen Kongresses am 22. Mai 1907 dar.340 Inzwischen hatte er durch seinen gemeinsamen Rapallo-Aufenthalt mit Bülow im März Einblicke in die Schwierigkeiten der Blockpolitik bekommen – besonders deutlich im Zusammenhang mit den wissenschaftspolitischen Vorschlägen Althoffs. Daß die Tage des politisch konservativen, für Althoffs und Harnacks Ideen aber aufgeschlossenen Kultusministers Studt gezählt waren – nicht zuletzt, weil dieser die weitere Zusammenarbeit mit dem Zentrum favorisiert hatte –, war Harnack seit März 1907 bekannt. Gegenüber Althoff bedauerte er die Desavouierung Studts vor dem Preußischen Landtag im Mai, dem Bülow demonstrativ nicht zu Hilfe kam, ausdrücklich.341 Die Folgen der Ernennung Ludwig Holles und der folgenden Demission Althoffs hat Harnack zweifellos für eine fatale Entwicklung der ersten Monate der Blockpolitik gehalten. Daß Bülow sich auch von Innenstaatsekretär von PosadowskyWehner trennen wollte, dürfte Harnack gleichfalls bereits bekannt gewesen sein. Beide Auswechslungen erfolgten denn auch im Juli 1907. Posadowsky hatte sich seit seiner Ernennung 1897 – also noch in der „Ära Stumm“ – von „einem Minister gegen die Sozialpolitik“ in „ein[en] solchen für dieselbe“ verwandelt, wie Schmoller formulierte342, setzte aber weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum und wurde zudem von Bülow zunehmend als möglicher Kontrahent empfunden und daher durch Theobald von Bethmann Hollweg ersetzt. In Posadowskys Amtszeit war die staatliche Sozialpo340
VESK 18 (1907), 2–5. Harnack an Althoff am 1.5.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A I, Nr. 314, Bd. 1, Bl. 155. 342 Gustav Schmoller: Graf Posadowsky als Sozialpolitiker (1909), in: ders.: Zwanzig Jahre deutscher Politik (1897–1917), München/Leipzig 1920, 57–61, 60. 341
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litik wieder in Gang gekommen, etwa durch den Ausbau der Unfall- und Krankenversicherung, so daß auch die Anhänger Bülows dessen Abgang mit Sorge betrachteten, auch wenn Bülow eine Fortführung seiner Politik zusicherte.343 Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum Harnack in seiner Eröffnungsansprache zwar aus seiner grundsätzlichen Sympathie für die neue innenpolitische Konstellation keinen Hehl machte – der „Wechsel der Majorität im deutschen Reichstag und die Zurückdrängung der Sozialdemokratie“ seien einschneidende und wichtige Ereignisse gewesen –, daran aber sogleich die Bemerkung anschloß, „daß das Zentrum sich um die soziale Gesetzgebung verdient gemacht hat, und daß nunmehr den vereinigten Blockparteien eine Aufgabe zugefallen ist, für die nicht alle in gleicher Weise vorbereitet waren“344, um sich sodann der Widerlegung der vor allem von den konservativen Parteien vertretenen Forderung zuzuwenden, es müsse nun zunächst eine sozialpolitische Pause eintreten, zumal die Kraft der Sozialdemokratie durch die Wahlen gebrochen sei. Tatsächlich bestätigten sich entsprechende Befürchtungen zunächst nicht. Das wichtigste verwirklichte Reformvorhaben der neuen Regierung, die Verabschiedung des Reichsvereinsgesetzes im April 1908, hat Harnack trotz des Sprachenparagraphen begrüßt. Ein aus diesem Anlaß an Bülow gerichtetes Schreiben beleuchtet seine Zwischenbilanz der Blockpolitik. Zwar markierte Harnack in der Polenpolitik seinen Dissens mit Bülow und nannte namentlich das im März 1908 verabschiedete Enteignungsgesetz, das die Enteignung polnischen Grundbesitzes zur Ansiedlung deutscher Bauern durch die Ansiedlungskommissionen in Posen und Bromberg ermöglichte, betonte jedoch, daß dadurch seine „aufrichtige[] Bewunderung“ für Bülows Politik nicht geschwächt werde. Sodann schnitt Harnack die folgenden innenpolitischen Aufgaben an, darunter besonders die umstrittene Reichsfinanzreform und mahnte dabei, sicher mit besonderem Blick auf die Mädchenschulreform, ohne sie freilich zu erwähnen, die Lösung der „großen inneren Kulturfragen […], die so sehr des Fortschritts bedürfen“345, an. Gegenüber Althoff fiel Harnacks Bilanz allerdings wesentlich nüchterner aus, und das bezog sich nicht nur auf die „im rapiden Absturz zum Tiefpunkt begriffen[en]“ Zustände im Kultusministerium, sondern auf die innenpolitischen Zustände in der Mitte des Jahres 1908 insgesamt, die ganz im Zeichen des Skandals um die angebliche Homosexualität des bisherigen Kaiserfreundes Philipp von Eulenburg standen, dessen Fall eine ganze Reihe von Skandalprozessen nach sich zog, dadurch erhebliche Teile der Umgebung des Kaisers diskreditierte und einer tiefen Legitimationskrise des monarchischen 343 344 345
Vgl. Fesser: Bülow (Anm. 268), 100f. VESK 18 (1907), 2. Harnack an Bülow am 10. 4. 1908, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83.
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Systems gleichkam, zumal die von Maximilian Harden gezielt gesteuerten Veröffentlichungen weniger auf die sexuellen Präferenzen als auf die politische Einflußnahme der „Liebenberger Tafelrunde“ und damit auf das „persönliche Regiment“ des Monarchen selbst zielten.346 „Alles, was Sie mir gütigst über Ihren Abgang und über die jetzige Lage geschrieben haben“, so Harnack Ende April 1908 in einem Brief an Althoff, „hat mich sehr bewegt, besonders die ignorantia ignorantiae. Alle die greulichen Skandale, die die letzten Monate gebracht haben – und noch immer werden wir mit ihnen überschüttet und beleidigt –, sind zu ertragen, wenn man sich sagen dürfte, daß an den leitenden Stellen Sachkunde, Weisheit und Gerechtigkeit herrscht und ein rechtes Verständnis für das Maß der Dinge; aber dieses Zutrauen können wir im Innern zur Zeit nicht mehr haben. Der Block allein kann uns nicht helfen!“347 Das lief nicht nur auf eine Kritik einzelner Minister wie Holle oder des Verhaltens der Presse in den Skandalen hinaus, sondern zielte letztlich wohl auf den Kaiser und die in Beschuß geratene „Kamarilla“ um Eulenburg selbst. Zur Bewährungsprobe des Blocks sollte die Reichsfinanzreform werden. Sie stellte nach der Reichstagswahl von 1907 den zweiten wichtigen Komplex dar, in dem Harnack sich unterstützend zur Politik Bülows äußerte. Diese Reform war nicht zuletzt zur Deckung der den Reichsetat belastenden Rüstungskosten notwendig, sollte darüber hinaus aber eine grundlegende Sicherstellung der Finanzverfassung des Reiches gegenüber den Bundesstaaten gewährleisten.348 Zunehmende Brisanz gewann die Reform noch dadurch, daß die politischen Beratungen mit der schwersten Krise des wilhelminischen Kaiserreiches zusammenfielen, der Daily-Telegraph-Affäre vom November 1908, in der die Unzufriedenheit über Enthüllungen der Vormonate, v. a. aber über die unbeherrschten Eingriffe des Kaisers in die Tagespolitik zur Systemkrise kulminierten.349 Das Interview Wilhelms mit dieser englischen Zeitung brachte sein öffentliches Ansehen in Deutschland auf einen Tiefpunkt. Auch Bülow, der der Veröffentlichung zugestimmt hatte, ohne das Interview gelesen zu haben, distanzierte sich wie der Reichstag von den prahlerischen und außenpolitisch überaus schädlichen Äußerungen des Monarchen, der künftig Zurückhaltung versprach. Das Vertrauen des Kaisers gegenüber Bülow war durch diese Vorgänge freilich dahin. Harnack, 346 Vgl. neben Röhl: Eulenburg (Anm. 110) die grundsätzlichen Ausführungen bei Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 480–485. 347 Harnack an Althoff am 24.4.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 348 Noch immer grundlegend Peter-Christian Witt: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck/Hamburg 1970, 199–316. 349 Vgl. Nipperdey: Geschichte II, 734–738; zur Rolle Bülows vgl. Fesser: Bülow (Anm. 268), 105–110.
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der Bülow offensichtlich seine Bestürzung über die Äußerungen des Kaisers mitgeteilt hatte, wofür der Kanzler sich mit der Bemerkung bedankte, auch er hoffe, „daß aus solchen schweren Tagen der Nation noch Heil erwachsen möge“350, war sich nach einem Zusammensein mit Wilhelm II. im Dezember 1908 sicher, daß Bülows Tage spätestens nach der Verabschiedung der Finanzreform gezählt sein dürften: „Was aus der Schwüle hervorgehen wird, weiß man noch nicht. Einstweilen erhält die Steuerreformfrage allein den status quo aufrecht. Ich fürchte, Bülow wird abgehen müssen, wenn er die Steuer-Reform durchgebracht hat und erst recht, wenn er scheitert.“351 Harnack bemühte sich dennoch mit großer Intensität, dieses wichtige innenpolitische Vorhaben Bülows und damit auch dessen Kanzlerschaft zu unterstützen. Die Behauptung Bülows in seinen Memoiren, Harnack habe sich noch im November 1908 von ihm distanziert und das auch den Kaiser wissen lassen352, gehört ins Reich der Legendenbildung, das weite Teile seiner Erinnerungen umfaßt. Der erhaltene Briefwechsel sowie Harnacks Engagement bei der Reichsfinanzreform, das in den Erinnerungen mit keiner Silbe erwähnt wird, belegen vielmehr das Gegenteil. Wie bereits im Zusammenhang mit der Kaisergeburtstagsrede von 1907 erfolgte dieses Engagement im engen Zusammenspiel mit Hans Delbrück, erweitert um den Nationalökonomen Schmoller sowie den Juristen Kahl, die bereits das nach den Wahlen von 1907 wieder in der Versenkung verschwundene Kolonialpolitische Aktionskomitee dominiert hatten, aber auch einer Vielzahl anderer Gelehrter, darunter etwa Lujo Brentano, Wilhelm Lexis und Adolph Wagner. Hauptstreitpunkt der Reform war neben einer Erhöhung der indirekten Steuern eine geplante Erweiterung der Erbschaftsteuer auf Kinder und Ehegatten, die auf den entschiedenen Widerstand der konservativen Parteien stieß, während die liberalen Parteien sie als Ausdruck einer gleichmäßigen Verteilung der Finanzlasten auf alle Bevölkerungsschichten propagierten. Bülow hatte bereits im Sommer 1908 die Sprengkraft der Reform erkannt. Er ließ daher im Reichsschatzamt ein „Volkswirtschaftliches Büro“ einrichten, das auf breiter Grundlage für die Finanzreform werben sollte.353 Das Vorbild der amtlichen Flottenpropaganda nach 1897 war offenkundig und kam auch darin zum Ausdruck, daß mit Ernst von Halle der Organisator der Flottenpropaganda im Reichsmarineamt an die Spitze des Büros gestellt wurde. Harnack beteiligte sich an einem offensichtlich vom Volkswirtschaftlichen Büro angeregten Sammelband, der für die Erbschaftssteuer eintrat und an dem neben Delbrück auch Lujo Brentano mitwirkte.354 Harnacks 350
Bülow an Harnack am 19.11.1908, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. Harnack an Kehr am 23.12.1908, in: GStA-PK, Nl. Kehr, A I 5 Ha, Bl. 212f. 352 Vgl. Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 2 (Anm.76), 454f. 353 Vgl. Witt: Finanzpolitik (Anm. 348), 217–226. 354 Die Nachlaßsteuer vom sozialethischen Standpunkt, in: Die Erbschaftsabgabe und die Reichsfinanzreform. Acht Gutachten von Dr. Biermer, Dr. von Brentano, Dr. Dietzel, 351
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sozialethische Überlegungen, die zunächst am 27. Januar 1909 wenige Tage vor den entscheidenden Beratungen des Reichstags in der „Täglichen Rundschau“, dann in der Februarausgabe der „Deutschen Revue“ erschienen355, sollten vorrangig die weltanschaulichen Argumente der Gegner der erweiterten Erbschaftssteuer widerlegen, insbesondere die Behauptung, sie gefährde den Zusammenhalt der Familie in einem Moment, in dem diese des besonderen Schutzes bedürfe. Nach Harnack lag der besondere Wert der Steuer, auf die „unsere sittliche Kulturentwicklung in der Gegenwart […] gerade hinweist“356, sowohl in dem Umstand, daß sie den Unterschied zwischen selbst erworbenem und ererbtem Besitz verdeutliche und dabei zugleich die altertümliche Vorstellung eines bloßen Identitätsverhältnisses von Kind und Eltern überwinde, letztlich also der auch beruflich größer gewordenen „Individualität und Selbständigkeit“ der Kinder Rechnung trage357, als auch darin, daß sie auf den Rechtsstaat als der eigentlichen Voraussetzung für den „ruhigen und sicheren Übergang des Vermögens aus einer in die andere Hand“ verweise358 und damit gleichzeitig an die soziale Verpflichtung des Besitzes erinnere. Harnacks stark beachteter und wiederholt nachgedruckter Artikel fand die ausdrückliche Zustimmung des Kanzlers: „Ich bin Ihren Ausführungen, die das Problem von einem neuen und eigenartigen Gesichtspunkte aus beleuchten, mit lebhaftem Interesse gefolgt und kann nur wünschen, daß sie dazu beitragen, die noch vorhandenen Widerstände zu überwinden.“359 Neben diesem publizistischen Engagement gehörte Harnack zu der nach dem Vorbild des Kolonialpolitischen Aktionskomitees gebildeten, maßgeblich von Delbrück, Schmoller, dem ehemaligen Staatsminister und Präsidenten der Gesellschaft für soziale Reform von Berlepsch sowie deren Generalsekretär Ernst Francke organisierten „Vereinigung zur Förderung der Reichsfinanzreform.“ Sie veröffentlichte am 24. März 1909 einen Aufruf, der sich in scharfer Form gegen die „wild anstürmende[] Agitation festgeschlossener Interessengruppen“ wandte – das zielte auf den die Opposition der Konservativen bestimmenden Bund der Landwirte – und vom Reichstag die zügige Verabschiedung der Reform verlangte.360 Dieser vom Volkswirtschaftlichen Büro nicht initiierte, aber wohlwollend unterstützte Aufruf Dr. Harnack, Dr. Lexis, Dr. von Schanz, Dr. Stier-Somlo, Dr. Wolf, Berlin 1909, 32–39. Es folgten zahlreiche Nachdrucke in der Presse und schließlich auch in: RANF 1, 172–187. 355 Tägliche Rundschau Nr. 43 vom 27.1.1909 (1. Beilage) bzw. Deutsche Revue 34 (1909), 168–174. 356 RANF 1, 177. 357 AaO., 178. 358 AaO., 177. 359 Bülow an Harnack am 12.2.1909, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 360 Der Aufruf mit drei Unterschriftenlisten in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Berlepsch, Nr. 18, Bl. 37–43.
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wurde zwar in den nächsten Wochen allein in München von mehr als 1000 Personen unterschrieben361, konnte aber an der Ablehnung der Reform durch die Konservative Partei und damit der Sprengung des Blocks nichts mehr ändern. Trotz der Unterstützung der Sozialdemokraten für die Erbschaftssteuer lehnte der Reichstag am 24. Juni mit den Stimmen einer neuen Majorität aus Zentrum und Konservativen die entsprechende Vorlage ab. Diese Abstimmungsniederlage bedeutete mit dem Ende des Blocks von 1907 auch das Ende der Kanzlerschaft Bülows. Im Juli 1909 wurde der bisherige Innenstaatssekretär Theobald von Bethmann Hollweg neuer Reichskanzler.
2.1.3. Nähe und Distanz: Harnack, Bülow und Bethmann Hollweg 1909 bis 1914 Bethmann Hollweg war Harnack über den Kontakt mit Bülow auch persönlich bekannt, ohne daß es zunächst zu näheren Beziehungen zu dem neuen Reichskanzler gekommen wäre, den Harnack – Angaben Bülows zufolge – Ende 1909 lieber als Professor, denn als Reichskanzler gesehen hätte.362 Immerhin suchte Bethmann Hollweg 1910 Harnacks Rat, als es um die Frage der Reaktion von Reichs- und Preußischer Staatsregierung auf die Borromäus-Enzyklika ging.363 Auch im Zusammenhang der Verhandlungen über die Gründung der KWG kam es schon wegen Bethmanns Funktion als Preußischer Ministerpräsident zu Unterredungen der beiden Männer. Als Harnack am 7. Mai 1911 seinen 60. Geburtstag beging, gehörte Bethmann zu den Gratulanten, allerdings nur mit einem knapp gehaltenen Glückwunschtelegramm.364 Im Oktober 1911 ließ Harnack dem Kanzler seine Aufsatzbände „Aus Wissenschaft und Leben“ zukommen.365 Der Kanzler dankte mit der Bemerkung, an einigen der darin veröffentlichten Texte habe er sich „schon früher erfreuen dürfen.“366 Anfang 1914 übersandte Harnack dem Kanzler seine Rede über wissenschaftliche Erkenntnis, für die dieser 361 So Witt (Anm. 348), 276; vgl. auch Francke an Berlepsch am 31.3.1909: „Daß der Aufruf im Reichstag Eindruck gemacht hat, ist in der gestrigen Debatte zweimal betont worden. Der Reichskanzler hat durch Hrn v. Loebell mir seinen Dank u. seine Genugtuung aussprechen lassen. Geldmittel bekomme ich, soviel ich brauche“, in: aaO., Bl. 41. 362 Vgl. Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 3, Berlin 1931, 22: „Im ganzen habe ich doch den Eindruck, daß er ein besserer Professor als Reichskanzler geworden wäre.“ Ein entsprechendes Schreiben findet sich weder im Harnack- noch im Bülow-Nachlaß. 363 Dazu Kapitel IV.2.2. 364 Bethmann Hollweg an Harnack am 7.5.1911, in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bethmann Hollweg. 365 Harnack an Bethmann Hollweg am 17.10.1911, in: BA Berlin, R 43 Akten der Reichskanzlei, Nr 1743/10, Bl. 94. 366 Bethmann Hollweg an Harnack am 20.10.1911 (Entwurf ), in: aaO., Bl. 95.
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sich in einem kurzen handschriftlichen Schreiben bedankte.367 Erst im Verlauf des Weltkrieges sollten sich die persönlichen, v. a. aber die politischen Beziehungen zwischen Harnack und Bethmann Hollweg dann deutlich verbessern, beginnend mit der Diskussion um die Kriegsziele und dann im Zusammenhang mit der innenpolitischen Reformdebatte.368 Daß Harnack vor 1914 auf Distanz zu Bethmann Hollweg blieb, zeigte sich nicht zuletzt an seinen weiterhin ausgezeichneten, ja nochmals intensivierten Kontakten zu Bülow. Für ein Schreiben Harnacks aus Anlaß der Demission Bülows dankte dieser „in unwandelbarer Freundschaft.“369 Ende 1911 schrieb Bülow dem Berliner Gelehrten, die Bekanntschaft mit ihm sei „eine der besten Früchte unserer Berliner Zeit“370 und noch im Mai 1917 ließ er Harnack wissen, daß „nicht nur die alten Weine und die alten Zigarren, sondern auch die alten Freunde […] die besten seien.“371 Schon im Januar 1910 lud der inzwischen nach Rom übergesiedelte Exkanzler Harnack zu einem Besuch in seiner Villa Malta ein372, wo Harnack im April 1910 sowie noch einmal im Sommer 1911 mehrere Tage verbrachte. Bülow, wie im Umgang mit dem Kaiser so auch im Umgang mit Harnack um schmeichelnde Worte nicht verlegen, dankte nach einem dieser Besuche für die Anregungen, „die uns Ihr reicher, tiefer und glänzender Geist gebracht hat, und wie aus Allem, was Sie sagten, uns Ihr warmes und feinfühlendes Herz entgegentrat.“373 Auch private Mitteilungen wurden ausgetauscht. So berichtete Harnack über den Umzug in das neue Haus in der Kuntz-BundschuhStraße im Jahr 1910 – „alles ist sehr hübsch und gemütlich, bis auf den Namen der Straße, in der wir wohnen, der barbarisch ist und nicht nur ein italienisches Ohr beleidigt“374 – und den Fortgang der Studien seiner Töchter.375 Vermutlich auf Schmoller und Harnack ging der Beschluß der Berliner Akademie vom Februar 1910 zurück, Bülow zu ihrem Ehrenmitglied zu wählen.376 Harnack bedauerte nach der Reichstagswahl von 1912, in der die SPD zur stärksten Partei im Parlament geworden war, gegenüber Marie von Bülow, daß ihr Mann die politische Bühne verlassen hatte und erklärte, ohne Bethmann Hollweg namentlich zu nennen: „Der Führer fehlte in der ganzen 367
Bethmann Hollweg an Harnack am 12.2.1914, in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bethmann Hollweg. 368 Vgl. dazu Christian Nottmeier: Politik auf einer „mittleren Linie.“ Adolf von Harnack und die Regierung Bethmann Hollweg 1914 bis 1917, in: ZNThG/JHMTh 7 (2000), 66–108, sowie in dieser Arbeit Kapitel V.3. 369 Bülow an Harnack am 17.7.1909, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 370 Bülow an Harnack am 14.11.1911, in: aaO. 371 Bülow an Harnack am 15.5.1917, in: aaO. 372 Bülow an Harnack am 7.1.1910, in: aaO. 373 Bülow an Harnack am 5.5.1910, in: aaO. 374 Harnack an Bülow am 30.12.1910, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 375 Harnack an Marie von Bülow am 3.2.1912, in: aaO. 376 Harnack an Bülow am 13.2.1910, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83.
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Wahlkampagne.“377 Ende 1912 hieß es dann in einem Brief an Bülow: „Es vergeht sicher keine Woche, in der ich nicht, sei es angesichts der sich entwickelnden politischen Ereignisse sei es innerhalb des geselligen und freundschaftlichen Verkehrs an die Lücke erinnert werde, die hier in Berlin für mich besteht.“378 Auch politische Angelegenheiten wurden ausgiebig erörtert, wobei sich insbesondere der Hang Bülows zu ausführlichen Rechtfertigungen seiner Politik – nicht ohne Seitenhiebe auf seinen nicht namentlich genannten Nachfolger, „der sich im Innern wie nach außen mehr mühsam fortwurschtelt als kräftig die Wege weist“379 – offenbarte, die zugleich Aufschluß über die tief empfundene Kränkung Bülows ob seines Zerwürfnisses mit dem Kaiser bot. In als „vertraulich“ gekennzeichneten Briefen bilanzierte er kritisch die Außenpolitik des Reiches im Jahre 1911380, nachdem er noch im Mai desselben Jahres davon gesprochen hatte, daß es ihm gelungen sei, „im letzten Winter meiner Amtstätigkeit den Wagen der auswärtigen Politik auf ein sicheres Geleise zu bringen, auf dem er fast automatisch weiterrollt.“381 Harnack ließ in seinen Briefen deutliche Kritik an der konservativ-klerikalen Majorität durchblicken, die 1909 an die Stelle des Bülow-Blocks getreten war. Diese habe – so Harnack während der Verhandlungen der an konservativem Widerstand gescheiterten, obwohl in der Regierungsvorlage nur sehr halbherzig vorgesehenen Reform des preußischen Wahlrechts – „nicht viel Erfreuliches, aber viel Bedenkliches“ zu bieten. Nach der Wahl von 1912 äußerte er sich besorgt über die nun theoretisch mögliche, wenn auch praktisch kaum umsetzbare Majorität von Zentrum und Sozialdemokratie. Schon ihre „Möglichkeit wird die Entwicklung unseres staatlichen und kulturellen Lebens aufs schlimmste belasten“, wobei Harnack weniger den Einfluß der Sozialdemokraten, als vielmehr den des Zentrums – und hier besonders der Berliner Richtung – fürchtete. Die „stabile Krise“ (Thomas Nipperdey) der Jahre nach 1912 – gekennzeichnet durch Bethmanns Politik einer insgesamt allerdings konservativ belasteten „Diagonalen“ sowie die gegenseitige Blockade von Reichstag und Regierung – trug nach Harnack die Signatur der „Schwächlichkeit“: „Da diese Schwächlichkeit, soviel ich sehe, alle Parteien inclusive der Regierung gleichmäßig erfaßt, so erscheint die Gesamtbilanz ziemlich unverändert; aber das allgemeine Niveau wird tiefer und unerfreulicher. Depotenzirung und eine gewisse Depression, trotz unveränderter wirtschaftlicher Blüte, ist die Folge.“382 Das war freilich 377
Harnack an Marie Bülow am 28.12.1912, in: aaO. Harnack an Bülow am 29.12.1912, in: aaO. 379 Bülow an Harnack am 14.5.1912, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 380 Bülow an Harnack am 30.12.1911 (11 Seiten), in: aaO.; vgl. zur Marokko-Krise auch Bülow an Harnack am 14.11.1911 (8 Seiten), in: aaO. 381 Bülow an Harnack am 5.5.1911, in: aaO. 382 Harnack an Bülow am 29.12.1912, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 378
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keine Kritik von rechts an einer als schwächlich empfundenen Außenpolitik – hier reichte die vorsichtige Skepsis an der Richtigkeit der deutschen Außenpolitik des sich aktiv für eine Verständigung mit England engagierenden Harnack bis in die Zeit Bülows selbst zurück –, sondern wohl eher die Enttäuschung eines noch immer auf die Kräfte einer immanenten Systemreform setzenden Liberalen aus dem weiteren Umfeld Friedrich Naumanns. Den Liberalismus regierungsfähig gemacht zu haben, das war in Harnacks Augen das bleibende Verdienst Bülows. Auch „die Preußischen Konservativen“, so schrieb er Bülow unter dem Eindruck der Zabern-Affäre 1914, müßten jetzt „ihren eigensüchtigen Starrsinn und reaktionären Hochmut“ aufgeben, sonst „stehen uns ungeahnte Stürme bevor.“383 Harnack war freilich nicht der einzige unter den gouvernementalen Gelehrtenpolitikern, zu denen Bülow auch nach seinem Abschied enge Kontakte pflegte. Gleiches galt für Gustav Schmoller. Für Bülow stellten diese aus seiner Kanzlerzeit fortgesetzten Bindungen auch die Möglichkeit dar, sich politisch wieder ins Spiel zu bringen, zumindest aber beim Kaiser und seinem Umfeld die Stimmung gegenüber dem Exkanzler wieder in günstigere Bahnen zu lenken. Schon Ende 1910 hatte Harnack erklärt, wo immer das Gespräch auf den Kanzler und seine Rolle in der Daily-Telegraph-Affäre falle, „stelle ich richtig, aber der Leichtsinn, der Kleinsinn in der Urteilsbildung und die Treulosigkeit sind unüberwindliche Mächte, und durch wieviele Egoismen werden sie unterstützt.“384 Nach den Reichstagswahlen von 1912 mehrten sich die Rufe nach einem politischen Comeback Bülows. Einer derer, die diese Forderung erhoben, war der bei Hof einflußreiche Reeder Albert Ballin.385 Im Zusammenhang damit standen zwei ausführliche Briefe des früheren Reichskanzlers zunächst an Schmoller im Februar und dann an Harnack im Juni 1912386, in denen er wortreich die „Novemberereignisse von 1908“, die zum Zerwürfnis mit dem Kaiser geführt hatten, schilderte. Als Schmoller anregte, über Harnack diese Schilderungen dem Kaiser vorzulegen, griff Bülow diesen Vorschlag gerne auf.387 Schmoller werde, so schrieb er Harnack, „mit Ihnen […] besprechen, ob S. M. der Kaiser nicht allmählich dahin gebracht werden könnte, diese Vorgänge durch die Brille der Wahrheit und Wirklichkeit zu betrachten.“ Zwar erklärte Bülow umgehend, daß er persönlich „nichts von Seiner Majestät will, gar nichts“, und dem Verhalten des Kaisers ihm gegen383
Harnack an Bülow am 30.1.1914, in: Bernhard Fürst von Bülow: Deutsche Politik. Herausgegeben und eingeleitet von Peter Winzen, Bonn 1992, 494–496, 495. 384 Harnack an Bülow am 30.12.1912, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 385 Vgl. Fesser: Bülow (Anm. 268), 132f. 386 Bülow an Schmoller am 9.2.1912, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 204a, Bl. 4–13, bzw. Bülow an Harnack am 24.6.1912, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 387 Bülow an Schmoller am 30.4.1912, in: GstA-PK, Nl. Schmoller, Nr. 204a, Bl. 39– 41.
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über „vollkommen mein inneres Gleichgewicht“ bewahre, doch bereits die folgenden Sätze ließen die tiefe Kränkung Bülows durchblicken: „An und für sich finde ich es allerdings weder schön noch besonders geschmackvoll, dass gegenüber einem Manne, der so lange an leitender Stelle stand, derartig die persönlichen Rücksichten außer Acht gelassen werden. Das Prinzip der Autorität, das doch sonst so sehr betont wird, gewinnt dabei sicherlich nicht.[…] Ein solches Schwanken und geringes Maßhalten im Urteil über Träger der Staatsautorität haben selbst in der Türkei auf die Länge versagt und können bei uns in der Wirkung nur jenen subversiven Elementen zugute kommen, die man im Grunde doch so sehr fürchtet.“388 Harnack antwortete Ende Juni 1912. Bülows Darstellung sei, „obgleich sie mir im Einzelnen nicht neu war, im Ganzen durch ihre Klarheit und innere Überzeugungskraft wie neu wirkend.“ Dennoch könne sie weder in der jetzigen Form noch leicht überarbeitet dem Kaiser vorgelegt werden. Auch der Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts Rudolf von Valentini sei dafür „durch seine Stellung zu gebunden.“389 Harnack schlug daher als Adressaten ausgerechnet den Reichskanzler Bethmann Hollweg vor und damit genau die Person, an der Bülow wohl am wenigsten gelegen gewesen sein dürfte. Harnacks Reaktion beruhte auf genauer Kenntnis seiner Einflußmöglichkeiten beim Kaiser. Harnacks Bemerkung, gewiß habe er Einfluß auf den Kaiser, aber wenn er ihn nutze, dann verliere er ihn390, dürfte genau auf ein solches tagespolitisches Thema zu beziehen sein, in dem sicher nicht Harnack, sondern andere – etwa Theodor Schiemann – das Vertrauen des Monarchen besaßen. Wenngleich sich am freundschaftlichen Ton der Briefe Bülows an Harnack nichts änderte, so bedeutete dieser Vorgang doch einen Einschnitt. Bülow verzichtete darauf, weiterhin ausführliche politische Analysen an Harnack zu senden, und beschränkte sich auf herzliche, ja einschmeichelnde Schreiben. Lediglich nach dem Weltkrieg, im Mai 1921, übersandte er Harnack eine zwölfseitige Ausführung über die deutsche Politik vor und während des Krieges, in der er Bethmanns „einfältige“ Politik tadelte und sich darüber beklagte, nie um Rat gefragt worden zu sein.391 Versucht man, das überaus negative, ja vernichtende Bild, das Bülow in seinen Memoiren von Harnack zeichnete – ein hemmungsloser Byzantiner und Opportunist, der sich den jeweils Mächtigen anzudienen weiß, „ein Talent, doch kein Charakter“ und „Hofpfaffe Seiner Majestät“392 –, auch nur ansatzweise zu verstehen, dann kommt Harnacks Verhalten im Juni 1912 zweifellos eine Schlüsselfunktion zu. Offensichtlich verwand Bülow Har388
Bülow an Harnack am 14.5.1912, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. Harnack an Bülow am 24.6.1912, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 390 ZH 267. 391 Bülow an Harnack am 16.5.1921, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 392 Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 1 (Anm. 77), 526f; Band 2 (Anm. 76), 454f.; Band 3 (Anm. 362), 93f. bzw. 116. 389
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
nacks höfliche, aber bestimmte Weigerung, sich am Hof für ihn einzusetzen, nicht. Er bediente sich in seinen Memoiren gar des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, wobei er sich die Rolle des überfallenen Reisenden zuschrieb, an dem Harnack als einer der Leviten achtlos vorüberging.393 Für Bülow war der Kontakt zu Gelehrten wie Schmoller und Delbrück nicht zuletzt ein Mittel, Kontakte zu wahren und Einfluß zu nehmen und dabei mit Schmeicheleien und Komplimenten nicht zu sparen, ähnlich, wie er das im Umgang mit Wilhelm II. wie kaum ein anderer perfektioniert hatte. Harnack entzog sich – durchaus aus vergleichbar berechnendem Kalkül auf die absehbaren Folgen des von Bülow gewünschten Vorgehens – an entscheidender Stelle diesem Konzept. Ähnliches wiederholte sich, als Harnack während der Kanzlerwechsel von 1917 nicht für Bülow als möglichen Nachfolger Bethmann Hollwegs bzw. Michaelis votierte, sondern für Wilhelm Solf oder Prinz Max von Baden – auch, weil das Programm Bülows, wie dieser es etwa in Bezug auf die Kriegsziele mit der Neuauflage seiner „Deutschen Politik“ 1916 vorgelegt hatte, demjenigen der gemäßigten Gelehrten um Delbrück und Harnack kaum noch entsprach. Harnacks Bekenntnis zur Republik nach 1918 sowie sein Votum gegen Hindenburg bei den Präsidentenwahlen von 1925 vergrößerten offensichtlich die Distanz Bülows zu Harnack. In diesen Jahren entstanden denn auch Bülows Memoiren, die erst nach Bülows und Harnacks Tod 1929 bzw. 1930 veröffentlicht wurden.394 Der Briefwechsel zwischen beiden, der auch in der Kriegszeit nie abgerissen war, dauerte dennoch an, besonders anläßlich der jeweiligen Geburtstage, und ließ von dem Zerwürfnis auf Seiten Bülows nichts ahnen.395 In der gleichen Zeit, in der dieser seine negative Darstellung der Person und der Rolle Harnacks verfaßte, die er auch mit Anspielungen auf dessen mäßigende Rolle während des Weltkrieges verband, welche er als Schwächlichkeit interpretierte396, erreichten Harnack Briefe Bülows, die an der vermeintlich freundlichen Gesinnung des ehemaligen Kanzlers keinen Zweifel aufkommen zu lassen schienen.
393
AaO., Band 3 (Anm. 362), 116. Vgl. zu Bülows Memoiren Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen: Fürst Bülows Denkwürdigkeiten. Untersuchungen zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrer Kritik, Tübingen 1956. 395 Von den 106 Briefen Bülows und seiner Frau im Harnack-Nachlaß datieren 15 aus der Zeit nach 1918. 396 Bülow: Denkwürdigkeiten. Band 3 (Anm. 362), 276f. 394
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2.2. Zwischen Polemik und Versöhnlichkeit: Harnacks Verhältnis zu Katholizismus und Zentrumspartei 2.2.1. Deutsche Konfessionspolitik: Ein Beitrag Harnacks zu Friedrich Naumanns „Staatslexikon“ Als Ende 1912 die Planungen Friedrich Naumanns für sein „Deutsches Staatslexikon“ begannen, das den Wissensstand der Zeit aus spezifisch liberaler Perspektive sammeln sollte397, wurde auch Harnack als Mitarbeiter an dem Projekt gewonnen. Offensichtlich war für ihn der Artikel „Deutsche Konfessionspolitik“ vorgesehen.398 Jedenfalls findet sich ein entsprechendes Manuskript im Nachlaß Harnacks, das höchstwahrscheinlich für Naumanns dann wegen des Weltkrieges nicht umgesetztes Projekt bestimmt war und – so weit ersichtlich – den einzigen überhaupt vorhandenen, für das Staatslexikon vorgesehenen Artikel darstellt. Dieser vermutlich im Juni oder Juli 1914 entstandene Text stellt gerade im nicht allein wissenschaftlichen, sondern dezidiert auf politische Praxis zielenden Kontext des Lexikons einen wichtigen Beitrag dar. Harnack verwies in seinem Artikel zunächst auf den Grundtatbestand der konfessionellen Spaltung in Deutschland als einem Land, in dem „die Konfessionsfrage eine Frage ersten Ranges“ sei und „bis in das Herz des ganzen Gemeinwesens“ reiche. „Latent immer auf der Tagesordnung, kann sie von einem Tag zum anderen plötzlich zur Hauptfrage der innern Politik werden.“399 Der konfessionelle Gegensatz spielte nach Harnack nicht nur wegen des annähernden Gleichgewichts beider Konfessionen in Deutschland eine so große Rolle, „sondern auch deshalb, weil hier in der Folge der Reformation die Art und Haltung der Religion und damit ihre soziologische Bedeutung eine andere geworden ist.“ In den romanischen Länder Frankreich und Italien ließe sich die Mehrheit der Menschen unter Einhaltung des „kleinste[n] aber noch ausreichende[n] Maß[es] an kirchlichen Pflichten“ durch die Kirche „den Rücken stärken“, stehe ansonsten aber den kirchlichen Herrschaftsansprüchen als Sache der Priester gleichgültig gegenüber. Die Kirche wiederum richte ihre Forderungen an die Menschen gerade so ein, „daß das bürgerliche Leben, ja auch die Weltanschauung, Gesinnung und 397 Zur Konzeption des Lexikons vgl. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, 303–305, sowie Helen Müller: Im Zeitalter der Sammelwerke. Friedrich Naumanns Projekt eines „Deutschen Staatslexikons“ (1914), in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/New York 2000, 189– 207. 398 Auf den Charakter als Lexikonartikel verweist nicht nur die Form, sondern schon Harnacks Überschrift „Konfessionspolitik, deutsche.“ 399 Deutsche Konfessionspolitik, in: Nl, Harnack, K. 13, Nr. (5Bl.), hier Bl. 1.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Aktion der Einzelnen dadurch nur wenig betroffen wird.“ Aus diesem Grund „wird auch ein Modus vivendi gefunden – hinter den Kulissen selbst zwischen der Kirche und dem ‚religionsfeindlichen‘ Staat.“400 Harnack führte diese holzschnittartigen soziologischen Beobachtungen auf einen bestimmten, für den Katholizismus kennzeichnenden Religionsbegriff zurück, der durch die Überzeugung charakterisiert sei, „daß alles Heil bereits objektiv vorhanden ist“ und durch die Kirche verwaltet werde, die dafür „demütigen Glauben“ fordere. Demgegenüber halte sie etwa den Pflichtbegriff Kants für „eine titanische Selbstüberhebung des Menschen“ und könne, dem objektiven Heilsverständnis entsprechend, bereits das „objektive, korrekte Verhalten“ der Kirche gegenüber als Erfüllung des Glaubensgehorsams anerkennen: „Es ist wie im Staate, der sich auch damit begnügen kann und muß, daß seine Bürger der Verfassung und dem Gesetzbuch gegenüber korrekt sind, so sehr er eine wahrhaft staatsbürgerliche Gesinnung wünschen und sie zu erzeugen bestrebt sein muß.“ Wenngleich Harnack mit dieser Skizzierung des Katholizismus in den romanischen Ländern bereits die Kennzeichnung des Protestantismus vorbereitete, so warnte er, gerade einer liberal-antiklerikalen Leserschaft gegenüber, vor einer Geringschätzung dieses Typs von Religion: „Unzweifelhaft ist auch diese Art von Religion wirklich ‚Religion‘, und es wäre kurzsichtig, ja absurd, hier nur von ‚Äußerlichkeit‘, ‚Selbsttäuschung‘ und ‚Heuchelei‘ zu sprechen. Diese Art von Religion ist sogar die unter den Menschen verbreitetste Religion, und sie hat im römischen Katholizismus ihre höchste Ausgestaltung empfangen.“ Auch habe es im Katholizismus immer Strömungen gegeben, für die das Heil „überhaupt erst in innerlichen, subjektiven Prozessen wirklich wird“, wobei Harnack insbesondere Augustin erwähnte.401 Damit leitete Harnack bereits zur Reformation über, die diese Strömungen erst habe „souverän“ werden lassen. Wenngleich auch in den Reformationskirchen bis in die Gegenwart hinein starke Reste des objektiven Heilsbegriffs überlebt hätten, so komme ihnen doch das Verdienst zu, den Gedanken an die Spitze gestellt zu haben, „alle Religion müsse Überzeugung sein und außerhalb der Überzeugung gebe es überhaupt nichts, was ein Recht hätte, sich Religion zu nennen.“ Diese Einsicht Harnacks in die subjektivitätstheoretischen Konstitutionsbedingungen von Religion, wie sie in besondere Weise im reformatorischen subjektiv-innerlichen Religionsbegriff zum Ausdruck kamen, enthielt ferner den Gedanken, daß es keine äußeren Akte gebe, die an sich „religiös wertvoll“ seien, sowie schließlich als Konsequenz aus der Ablehnung jedes dinglich-äußerlichen Charakters von Religion die Überzeugung, daß die „wahre Religion mit der wahren Ethik“ zu400
Alle Zitate ebd. Alle Zitate aaO., Bl. 2. Auffallend ist die Parallelität zu den gleichzeitigen Überlegungen Ernst Troeltschs. 401
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sammenfalle. Zusammenfassend formulierte Harnack: „das Subjekt [ist] als religiöses nur an Gott gebunden, sonst aber frei […] – auch gegenüber allem kirchlich=Anstaltlichem, =Statuarischem.“402 Harnack stellte also gleichsam idealtypisch einen objektiv-äußerlichen und einen subjektiv-innerlichen Religionsbegriff einander gegenüber, ohne freilich die verschiedenen Mischungsverhältnisse zu leugnen. Als Idealtypen ließen sich beide mit den Begriffen romanischer Katholizismus und „deutsche Reformation“ bestimmten Völkergruppen zuordnen. In der Wesensschrift hatte Harnack gar davon sprechen können, daß mit der Reformation neben das griechische und das römische Christentum das germanische Christentum getreten sei.403 Freilich sollte diese Terminologie bei Harnack nicht überinterpretiert werden. Sie implizierte weder rassentheoretische Überlegungen – die Harnack für die Geschichtsschreibung ausdrücklich ablehnte404 –, noch diente sie zu einer inneren Gliederung der Kirchen- oder Dogmengeschichte wie bei Reinhold Seeberg, der diese Begriffe seiner großen, nicht zuletzt gegen Harnacks Interpretation gerichteten Dogmengeschichte zu Grunde legte.405 Die Eigentümlichkeit des Katholizismus in Deutschland lag Harnack zufolge nun gerade darin, daß er „in Gesinnung und Haltung“ stark vom reformatorischen Religionsbegriff beeinflußt sei, was ihn in „streng romanischkatholischen“ Augen des Modernismus verdächtig mache. So unterscheide er „bewußt oder halb unbewußt“ zwischen einem „religiösen“ und einem „politischen Katholizismus“ und könne daher „die volle Devotion gegen das ‚Objektive‘ nicht ohne weiteres aufbringen“ und gleichzeitig „die Gesinnung in Fragen hineinmischen, in die sie nicht gehört“, sowie „dem Laienelement einerseits, den weltlich-politischen Aufgaben andererseits eine Selbständigkeit geben, welche die Absolutheit der monarchisch-priesterlichen Kirche gefährdet.“ Diese Spannung versuchten die deutschen Katholiken dadurch zu überspielen, daß sie „die volle Durchführung der Ideale des romanischen Katholizismus“ mit den „Forderungen eines subjektiven Idealkatholizismus“ miteinander verbänden: „aber es gelingt selten.“406 Für den Staat bedeutete nach Harnack gerade diese Ambivalenz des deutschen Katholizismus eine besondere Schwierigkeit. Könne er bei italienischen oder französischen Katholiken sicher sein, daß auch die anmaßendsten kirchlichen Verlautbarungen sie letztlich unberührt ließen, so sei dies bei den deutschen Katholiken anders, denn ihnen „wird jede kirchliche Kund402
AaO., Bl.3. WdC 250. 404 Dazu ausführlich Rasse, Überlieferung und Individuum, in: Neue Freie Presse vom 25.12.1907, auch in: Baltische Monatsschrift 65 (1908), 25–31. 405 Vgl. Graf: Seeberg (Anm. 63), 641f. Der Gliederungsanspruch ist bereits deutlich in Seebergs Vorwort. 406 Konfessionspolitik, Bl. 3. 403
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
gebung zu einem Appell an ihr Gewissen, ihre Gesinnung und ihre praktisch-politische Betätigung.“407 Allen Strategien, die Auseinandersetzungen zwischen – wenn man so will – römisch-romanischem und römisch-deutschem Katholizismus408 als Zeichen einer möglichen Spaltung der katholischen Kirche insgesamt zu nutzen, erteilte Harnack eine Absage. Letztlich würden sich die deutschen Katholiken immer unterwerfen, aber die vollen Konsequenzen aus den noch mittelalterlichem Denken verhafteten päpstlichen Lehrentscheidungen zu vermeiden suchen. Das erschwere allerdings den Umgang des Staates mit einem gleichsam gesinnungsethisch politisierten Katholizismus, der einerseits durchaus bemüht sei, sich politisch und kulturell zu integrieren, andererseits aber immer wieder auch seine kirchliche Korrektheit unter Beweis stellen müsse. Angesichts dieser komplizierten Gesamtlage votierte Harnack für ein besonnenes Vorgehen des Staates: „ Jede Politik ist erbärmlich, die kein Ziel kennt; aber eine Politik, die heute will, was erst morgen gehen werden kann, muß notwendig scheitern.“409 Auch auf die offenkundigsten kirchlichen Anwürfe gegenüber dem modernen Staat – Harnack dürfte hier an den Syllabus von 1907 und die Enzyklika von 1910 gedacht haben410 – könne der Staat nicht in gleicher Weise reagieren, dürfe er sich doch „nicht der Hälfte seiner Bürger gegenüber in einen Kampfeszustand setzen. […] Er darf sich auch nicht von dem nur bedingt richtigen Satze leiten lassen: ‚Keine Toleranz der Intoleranz‘; denn durch ihn wird die Intoleranz sich gewiß nicht korrigiren lassen; er muß also Kompromisse schließen.“411 Letztlich tue das auch die katholische Kirche. Zwar müsse sich der Staat vor Kompromissen hüten, die seine Souveränität und seine Rechte gefährdeten, aber auch einen „Staatsabsolutismus“ vermeiden, der die Interessen und Rechte des Gegenübers nicht akzeptiere. So könne der Staat seine Rechte um so leichter schützen, „je mehr er darauf bedacht ist, fremde Rechte zu respektiren. Dem Staatsabsolutismus gegenüber kann keine religiöse Gemeinschaft als selbständige bestehen, nicht nur die katholische Kirche nicht; aber der Staatsabsolutismus ist überhaupt eine unerträgliche Form des Staatsgedankens; denn es steht in Wahrheit so, daß es abgesehen von der Sphäre des Rechts kein Lebensgebiet giebt, in welchem der Staat nicht mit anderen Faktoren zusammenzuwirken hat.“412
407 408 409 410 411 412
Ebd. Vgl. zu dieser Unterscheidung aaO., Bl.3f. AaO., Bl. 4. Vgl. den folgenden Abschnitt 2.2.2. Konfessionspolitik, Bl. 4. AaO., Bl. 5.
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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2.2.2. Politischer und religiöser Katholizismus: Harnack und die konfessionspolitischen Debatten bis 1914 Harnacks Ausführungen von 1914 bündeln gleichsam seine Einschätzung des Katholizismus.413 Dabei ist die strikte Unterscheidung von „religiösem“ und „politischem Katholizismus“ unübersehbar, wobei mit letzterem nicht allein das Zentrum als Partei, sondern auch die mit weltlich-politischen Machtansprüchen auftretende Kurie in Rom gemeint war. Dem Papsttum, insbesondere in der Ausprägung, die es mit dem ersten Vatikanischen Konzil und dem Unfehlbarkeitsdogma von 1870 erfahren hatte, galt seine konsequente Ablehnung, die bis zu der Formulierung führte, daß der „römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt, […] mit dem Evangelium nicht zu thun [hat], ja [er] widerspricht ihm grundsätzlich.“414 Dem religiösen Katholizismus, soweit in ihm eben jenes nicht verobjektivierbare Streben nach individueller Frömmigkeit aufschien, brachte Harnack dagegen warme Sympathie entgegen. Historisch sah er diese „innere, lebendige Frömmigkeit und ihre Aussprache“ ganz von Augustin her geprägt, der zum unaustilgbaren Grundbestand des Katholizismus gehöre.415 Auch bedingt durch zahlreiche persönliche Kontakte, die bis in die 1880er Jahre zurückreichten, nahm Harnack regen Anteil am Schicksal von Reformkatholizismus und Modernismus.416 So stand Harnack in Kontakt mit Ignaz Döllinger, dem exkommunizierten Haupt des deutschen Widerstands gegen das Dogma von 1870417, sowie den reformkatholischen Theologen Joseph Schnitzer, Sebastian Merkle und Albert Ehrhard.418 Daß Harnack für eine umfassende Würdigung des Katholizismus eintrat, läßt sich gleichfalls bis in die frühen 1880er Jahre nachweisen. So endete eine 1880 erschienene Abhandlung über das Mönchtum mit einem Verweis auf dessen mögliche Rolle als „Friedenszeichen […] im Streit der Konfessionen.“419 Eine anläßlich des Lutherjahres 1883 gehaltene Festrede an der Gießener Universität verzichtete fast ganz auf konfessionelle Polemik, trat – wie 413 Vgl. dazu als besten Überblick auch Gottfried Maron: Harnack und der römische Katholizismus, in: ZKG 80 (1969), 176–193. 414 WdC 237. 415 AaO., 233f., 234. 416 Otto Weiß: Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995. 417 Vgl. Manfred Weitlauff: Ignaz von Döllinger und Adolf von Harnack, in: MThZ 50 (1999), 359–383. 418 Vgl. zu diesen drei Gestalten ausführlich Weiß, 171–180 (Ehrhard), 315–336 (Schnitzer), 441–456 (Merkle); zu Harnack und Ehrhard ferner Friedrich Winkelmann: Albert Ehrhard und die Erforschung der griechisch-byzantinischen Hagiograhie. Dargestellt an Hand des Briefwechsels Ehrhards mit Adolf von Harnack, Carl Schmidt, Hans Lietzmann, Walther Eltester und Peter Heseler, Berlin 1971. 419 Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte, in: RA 1, 81–139, 139.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
dann 24 Jahre später die Kaisergeburtstagsrede von 1907 – für ein freies Christentum der Gesinnung und der Tat ein und verwies darauf, daß sich unter dem Einfluß Luthers und seiner Reformation auch im deutschen Katholizismus „in Sachen der Religion das Bewußtsein einer persönlichen Verantwortlichkeit ausgebildet hat.“420 Bismarcks Kulturkampf stieß höchstwahrscheinlich auf die Ablehnung Harnacks.421 Dem 1886 gegründeten Evangelischen Bund trat Harnack zwar bei, übte aber bereits im Vorfeld Kritik an dessen Gründungsaufruf.422 1891 veröffentlichte Harnack in der „Christlichen Welt“ einen Aufsatz unter dem programmatischen Titel „Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen.“423 Harnack markierte hier eindringlich die Defizite des Protestantismus gegenüber dem römischen Katholizismus, etwa in der öffentlichen Darstellung der Religion und bezüglich des Gedankens der Katholizität als der „durch das Christentum herbeizuführenden Einheit der Völker“ – ein Gedanke, der nach Harnack auch nicht durch einen noch so edlen Patriotismus ersetzt werden könne, denn „wie armselig ist doch der Mensch, der im Patriotismus sein höchstes Ideal erkennt oder im Staate die Zusammenfassung aller Güter verehrt!“424 –, aber auch im Verständnis von Buße und Beichte, beim „Laienchristentum“ oder in der sozialen Tätigkeit. Er ließ freilich keinen Zweifel daran, daß der Katholizismus seiner Ansicht nach eine bleibend notwendige, aber durch den Protestantismus im Prinzip überwundene Stufe der christlichen Religion darstellte. Gleichwohl dürfe das nicht Anlaß zu konfessionellem Hader sein: „Die Geschichte der katholischen Kirche aber bis zum sechszehnten Jahrhundert ist unsre Geschichte, und es steht uns übel an, nützt auch nichts, die Zurückgebliebenen zu schelten.“425 Wie auch in anderen Darstellungen des Katholizismus durch Harnack trat hier ein charakteristischer Interpretationsaspekt deutlich hervor. Denn dasjenige, was der Protestantismus vom Katholizismus nicht lernen sollte, waren immer Dinge, die ihn letztlich auf die Stufe des kritisch gezeichneten Katholizismus im Sinne der äußeren, mit einer bestimmten Stufe der Kulturentwicklung verwobenen, Gehorsam einfordernden Heilsanstalt zurückzu420 Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883), in: RA 1, 141–169, 167. 421 Vgl. Harnack an Otto Harnack am 21.9./9.9.1886, in: SBB-PK, Nl. O.Harnack, Nr. 2. 422 Vgl. Harnack an Bernhard Stade am 25.11.1886, in: Universitätsbibliothek Gießen, Nl. Stade, Hs NF 138–21b. Harnacks Mitgliedschaft läßt sich allein aus der Tatsache seines Austritts 1925 belegen. Zum Evangelischen Bund vgl. Arnim Müller-Dreier: Konfession in Politik, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1886– 1914, Gütersloh 1998. 423 Zunächst in: ChW 5 (1891) 401–408, dann in: RA 2, 247–264. 424 AaO., 252. 425 AaO., 264.
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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führen drohten. Insofern implizierte Harnacks Kritik am Katholizismus immer auch eine Kritik an Fehlentwicklungen im Protestantismus. Das galt für die drohende Abschottung gegenüber der modernen Kultur, den blinden Autoritätsglauben sowie den Umgang mit anderen Konfessionen und Glaubensrichtungen, woraus Harnack für den Protestantismus das Gebot nicht nur der Toleranz, sondern der Anerkennung der Berechtigung auch des Katholizismus ableitete.426 Daß der Umgang, den Harnack mit dem Thema Katholizismus 1891 pflegte, für protestantische Hörer mindestens ungewöhnlich war, belegt schon der Beginn seines Vortrages: „Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen: vielleicht wird die erste Hälfte der Frage nicht wenige befremden. Sie werden sagen: Von der römischen Kirche haben wir nichts zu lernen. Allein bei näherem Nachdenken wird wohl jeder gestehen müssen, daß es mit der bloßen Abwehr nicht getan ist. Sollen wir doch auch vom Feinde lernen, und die römische Kirche ist nicht in jeder Hinsicht unser Feind.“427 Das schloß auch in den folgenden Jahren zuweilen scharfe Polemik nicht aus. Einer Aufhebung des während des Kulturkampfes erlassenen Verbots der Jesuiten stand Harnack 1891 ablehnend gegenüber. Der Staat müsse zwar die katholische Kirche achten und dürfe den konfessionellen Gegensatz nicht verschärfen, argumentierte Harnack in einer Rezension der Broschüre „Warum sollen die Jesuiten nicht nach Deutschland zurück?“ des Jesuiten Paul von Hoensbroech.428 Der Orden vertrete innerhalb des Katholizismus die „extremste Theorie von dem Verhältnis der Kirche zum Staate“ und akzeptiere die „vom freisinnigen Staat [gewährte] Gleichberechtigung vor dem Gesetze“ nur solange sie dem Orden selbst nütze, um den Staat „selbst bei gegebener Gelegenheit in die Luft zu sprengen.“ Die Jesuiten gefährdeten damit das Wohl aller Bürger wie die Existenzgrundlage des modernen Staates überhaupt. Der Staat müsse in Reaktion darauf aber nicht allein repressiv handeln, sondern innerhalb des Katholizismus die Strömungen zu stärken versuchen, welche die jesuitischen Grundsätze „desavouiren oder doch ab[]schwächen.“429 Zudem lehnten die Jesuiten nach wie vor die freie Forschung und die modernen Wissenschaften ab und stellten sich damit gegen wichtige Aspekte deutscher Kultur und Bildung, die einen wesentlichen Beitrag zum Wohl des Staates selbst leisteten: „Zum Staatswohl, ja zur Existenz des Staates, gehört uns aber auch unsere Bildung. Sie ist uns nicht nur ein Zierrath, sondern ein wesentlicher Theil unseres Seins selbst.“430 426
Besonders deutlich ist dies in: aaO., 259–264. AaO., 249. 428 Paul von Hoensbroech: Warum sollen die Jesuiten nicht nach Deutschland zurück? Eine Frage und eine Antwort, Freiburg 21891; vgl. ThLZ 16 (1891), 104–109. 429 AaO., 106. 430 AaO., 109. 427
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Mit Paul Graf von Hoensbroech, der 1892 aus dem Jesuitenorden aus und 1895 in die evangelische Kirche eingetreten war und sich rasch vom Verteidiger der Jesuiten zu einem der leidenschaftlichsten und aggressivsten antikatholischen Agitatoren des Evangelischen Bundes entwickelte, stand Harnack zur Zeit der Abfassung dieser Rezension in persönlichem Kontakt. Hoensbroech hatte noch als Jesuit bei Harnack studiert und auch privat bei ihm verkehrt.431 In Delbrücks „Preußischen Jahrbüchern“ veröffentliche Hoensbroech seine erste Abrechnung mit dem in Deutschland seit dem Kulturkampf verbotenen Jesuitenorden.432 Die scharfe Polemik Hoensbroechs und die durch weitere Studien und Vorlesungen fortgeführte, historisch differenzierende Beschäftigung Harnacks mit dem Katholizismus ließen aber rasch die Differenzen deutlich werden. Hoensbroech entwickele sich zunehmend zur einer „Fatalität“, urteilte Harnack Anfang 1905: „Die Waffen seiner Ritterschaft werden immer schlimmer.“433 Dieser kritisierte seinerseits Harnacks Kaisergeburtstagsrede von 1907434, bestritt ihm jeglichen Einfluß auf seine religiöse und theologische Entwicklung und bescheinigte ihm eine „häufig hervortretende Unkenntnis über Katholisches.“435 Dagegen hielt Harnack bei aller Kritik und teilweise scharfer Ablehnung des Katholizismus am Ideal konfessioneller Verständigung fest: „Die Polemik kann nie aufhören, aber sie schließt die Versöhnlichkeit nicht aus. Wir müssen ganz anders Ernst machen, mit der Position, daß wir theils eine höhere, theils eine ergänzende Stufe dem Katholic[ismus] gegenüber bedeuten. In dem letzteren liegt die Anerkennung, daß auch der Katholic[ismus] uns gegenüber Güter besitzt.“436 In der Frage des Kirchentums verharre letzterer zwar in „objective[r] Unwahrheit und Tyrannei“, schwieriger sei aber seine Beurteilung in der „2. Coordinate (Religion)“, so daß er noch zu keiner abschließenden Bewertung gelangen könne, schrieb Harnack im März 1904 an Heinrich Weinel, der ihn um eine Darstellung von Protestantismus und Katholizismus gebeten hatte.437 Schon 1903 war Harnack zu einem Urteil 431 Vgl. Paul Graf Hoensbroech: 14 Jahre Jesuit. Persönliches und Grundsätzliches. Volksausgabe. Zweiter Band, Leipzig 1912, 170. Zu den Kontakten vgl. auch Nl. Harnack, K. 41, Mappe „Fall Hoensbroech.“ 432 Paul Graf Hoensbroech: Mein Austritt aus dem Jesuitenorden, in: PJ 72 (1893), 300–327. 433 Harnack an Rade am 16.2.1905, in: BwR 571. 434 Paul Graf Hoensbroech: Adolf Harnack über den Katholizismus, in: März 1 (1907), 338–349. 435 Hoensbroech: 14 Jahre (Anm. 431), 170. Dort heißt es zu Harnack ferner: „Harnack hat mir auch nicht einen Gedanken oder Impuls gegeben, der die Loslösung von meiner Vergangenheit beschleunigt, geschweige denn hervorgerufen hätte. [….] Für Einzelforschung und Akribie bleibt Harnacks Wirken vorbildlich; bestimmend auf religiöstheologische Weiterentwicklung ist es nicht. Harnack macht Schule als Detailforscher; Wegweiser in Weltanschauungsfragen ist er nicht.“ 436 Harnack an Rade am 12.9.1903, in: BwR 519. 437 Harnack an Weinel am 13.3.1904, in: ThULB Jena, Nl. Weinel 5a.
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gelangt, das auszuführen ihm noch nicht opportun erschien: „Der Katholicismus ist schon dem historischen alten Protestantismus in vielen Beziehungen überlegen; er ist dem repristinierten Protestantismus des 19. Jahrhunderts doppelt überlegen; sich mit ihm messen und ihn schlagen kann nur die vollkommene religiöse Geistesfreiheit (die gewiß nicht vergessen wird, was sie Luther schuldet). Dies darzulegen, vorausgesetzt, daß man es richtig durchdacht hat, ist nicht ‚opportun‘, da wir mit den verschiedenen Schattierungen des Protestantismus an einem Strang ziehen müssen. Indessen würde ich die mangelnde Opportunität in den Kauf nehmen, wenn ich selbst schon überall – in religione, in ecclesiasticis, etc. – ganz klar sähe, und wenn ich mir die Kraft zutraute, die Wunden, die ich dem landläufigen Protestantismus schlagen müßte, auch sofort zu heilen. Halbe Arbeit will ich aber nicht thun.“438 Harnack hat wiederholt – besonders prominent in der Kaisergeburtstagsrede von 1907 – auf die tiefgreifenden politischen Folgen der konfessionellen Spaltung hingewiesen. Insofern hatte sein Werben für eine konfessionelle Verständigung nicht nur einen religiös-theologischen, sondern auch einen dezidiert politischen Hintergrund. Das galt ebenso für seine kulturpolitischen Überlegungen, den Katholizismus – etwa in Gestalt der KatholischTheologischen Fakultäten, für deren Erhalt er stets eingetreten ist – mit moderner Bildung und Kultur in Kontakt zu halten, um dadurch die Reformkräfte zu stärken. Daneben stand der gelehrtenpolitische Versuch einer Einwirkung auf die öffentliche Meinung durch gebildete Publizistik, wobei sich Harnack hier neben Delbrücks Zeitschrift auch Tageszeitungen wie der „Frankfurter Zeitung“ oder der „Neuen Freien Presse“ bediente. 1894 kommentierte Harnack mit abwägenden Worten die Enzyklika des Papstes Leo XIII. vom 20. Juni 1894, in der freilich trotz aller Lockungen gegenüber dem konservativen Protestantismus die Religion zu kurz gekommen sei.439 Während er in den folgenden Jahren die Entwicklungen im römischen Katholizismus nicht ausführlich kommentierte, so war doch der Abdruck des bereits erwähnten Vortrages von 1891 in den 1904 erschienen Aufsatzbänden ein deutliches Signal, verschärfte sich doch mit dem 1903 gewählten Papst Pius X. der Gegensatz zwischen katholischer Kirche und Staat nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Harnack im Jahr 1904 einen offenen Briefwechsel zwischen Martin Rade und der zentrumsnahen „Kölnischen Volkszeitung“ über die Frage des konfessionellen Friedens. Die Erklärung der Zeitung, das Zentrum strebe als Partei lediglich die „Wiederherstellung des Status quo ante vor dem sogenannten Kul-
438 439
Harnack an Weinel am 4.3.1903, in: aaO. Das Testament Leos XIII., in: PJ 77 (1894), 321–342, wieder in: RA 2, 265–293.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
turkampfe“ an440, hielt Harnack zwar für ungenügend, denn zu diesem gehörten nicht nur zahlreiche ungeklärte Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat, sondern auch die Auseinandersetzung mit den päpstlichen Kundgebungen, die jede Form von Rationalismus und Liberalismus verwarfen und den Protestantismus als Ketzerei beschimpften. Als politische Partei müsse das Zentrum deutlich machen, wie es zu diesen Dingen stehe: „Ist das Zentrum wirklich eine politische Partei u[nd] keine kirchliche, so kann es diesen Anspruch ja sofort darin bewähren, daß es das nächste Mal ausdrücklich u[nd] bestimmt protestirt, wenn der P[apst] durch Schimpfen uns Protestanten beleidigt.“441 Die Reaktion der „Kölnischen Volkszeitung“ auf Rades Schreiben empfand Harnack als „so würdig, wie nur irgend zu wünschen war.“ Sie zeige zudem, daß sie „den Syllabus + das curiale Schimpfen […] nicht will, u[nd] sie ist dabei unzweifelhaft ehrlich.“442 Die Rede vom Januar 1907 markierte dann eine neue, breite öffentliche Wirksamkeit Harnacks. Trotz der Kritik von liberaler und konservativer Seite beharrte Harnack auf seinem Votum für eine größere Anerkennung der Berechtigung der großen christlichen Konfessionen in Deutschland. Auch hier war ein Motiv, den kulturkämpferischen Kitt des Bülow-Blocks nicht in militanten Antikatholizismus und damit eine Vertiefung der kulturellen und politischen Gräben in Deutschland ausarten zu lassen. Daran hielt Harnack auch fest, nachdem ein neuer päpstlicher Syllabus vom 3. Juli 1907 sowie eine erläuternde Enzyklika vom 7. September des gleichen Jahres den katholischen Modernismus – insbesondere an Hand der Schriften von Alfred Loisy – als Irrlehre verurteilt hatte und kein Zweifel daran bestehen konnte, daß das kuriale Vorgehen auch gegen Strömungen der katholischen Theologie in Deutschland gerichtet war. In protestantischen Kreisen gab der Syllabus einen erneuten Anstoß für heftige antikatholische Stellungnahmen. Harnack vermied zunächst eine Stellungnahme, „die unseren liberalen und patriotischen Katholiken nützt“, denn kommt „man ihnen von protestantischer Seite zu Hilfe, so kann man ihnen leicht schaden.“ Auch theologisch biete der Syllabus, gerade weil er nur verwerfe, aber nirgends genau sage, was der Papst denn positiv wolle, manche Möglichkeiten zu interpretativer Aufweichung, so daß man sich beinahe fragen müsse, ob „diese sophistischen Auswege nicht von dem Gesetzgeber geradezu beabsichtigt sind.“ Ferner verschweige die Presse weithin die Vorzüge des Syllabus gegenüber seinen Vorgängern, der sich doch jetzt ganz wesentlich auf Innerkirchliches beschränke und die alten weltlichen Machtansprüche nicht ausdrücklich wiederhole: „Langsam und allmählich schränkt der Staat doch auch die katholische Kirche ein; Pius X. ist nicht mehr was Pius IX. war und traut sich au440 441 442
Die Erklärung sowie weitere Details finden sich bei BwR 542, Anm. 3. Harnack an Rade am 31.5.1904, in: BwR 544. Harnack an Rade am 18.7.1904, in: aaO., 547f.
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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genscheinlich nicht mehr, in Bezug auf den Staat zu sagen, was noch Pius IX. sagte.“443 Althoff, obwohl mittlerweile im Ruhestand, bemühte sich in den folgenden Monaten um eine Abmilderung der Folgen der Enzyklika, wobei er auf die Unterstützung Harnacks, aber auch des Breslauer Bischofs und Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz Georg Kardinal Kopp rechnen konnte. Letzterer versicherte ihm im Dezember 1907, daß sich in Deutschland durch das päpstliche Vorgehen nichts ändern werde: „Die kirchlichen Vertreter werden die Zuflüsse nicht unterbrechen, die der katholischen Theologie mit den reichen Quellen der allgemeinen Geistesarbeit zugeführt werden.“444 Es lag in der Konsequenz ihres Eintretens für einen Ausgleich zwischen den Konfessionen und ihres daraus resultierenden gemeinsamen Engagements im Fall Spahn sowie des Werbens für die Errichtung der Straßburger Katholisch-Theologischen Fakultät, daß Harnack und Althoff jetzt erneut eng kooperierten.445 Im Auftrag Althoffs äußerte sich Harnack auch gutachterlich über die Folgen von Enzyklika und Syllabus. Stil und Duktus der Ausführung legen die Vermutung nahe, daß der Text als Entwurf einer Stellungnahme des preußischen Kultusministers konzipiert wurde. Althoff leitete ihn denn auch am 12. Februar an den zuständigen Unterstaatssekretär Wever weiter.446 Schon „weil die Universitätsbildung der Geistlichkeit zur Ausgleichung und Versöhnung mancher Gegensätze beiträgt“, müßten die katholisch-theologischen Fakultäten erhalten bleiben.447 Das Bemühen um eine Entschärfung der Situation ließ Harnack sogar davon sprechen, daß „diese Kundgebungen nicht sowohl auf Deutschland […] als vielmehr auf andere Länder berechnet sind“, und er verwies in diesem Zusammenhang auf die Haltung der Preußischen Bischöfe.448 Die päpstlichen Kundgebungen stellten keinen Angriff auf die Grundlagen der Universitäten dar, die „die Grundfeste unserer wissenschaftlichen Kultur“ seien. Solange diese Grenze nicht überschritten werde, bestehe auch kein Anlaß, an den katholischen Fakultäten zu rütteln.449 Harnack griff dann Ende Februar 1908 auf ausdrücklichen Wunsch Althoffs in Gestalt eines Schlußwortes zu einer Artikelserie in der „Internationalen Wochenschrift“ in die Debatte ein. In dieser Artikelreihe hatten neben jeweils vier protestantischen und katholischen Theologen – darunter 443
Harnack an Althoff am 26.7.1907, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 47,
Bl. 2f. 444
Kopp an Althoff am 16.12.1907, zitiert nach Sachse (Anm. 189), 153. Vgl. zu Althoffs Engagement für konfessionellen Ausgleich aaO., 128–165. 446 Harnacks Gutachten in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 47, Bl. 26–29. Dort der Vermerk Althoffs: „Beruht auf meiner Angabe u. ist heute mit einigen Änderungen an Hrrn. U.St.S. Wever in Reinschrift […] gesandt. A 12/2 08.“ 447 AaO., Bl. 26. 448 AaO., Bl. 28. 449 AaO., Bl. 29. 445
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch auf protestantischer sowie die selbst bereits angegriffenen Theologen Albert Ehrhard und Joseph Schnitzer auf katholischer Seite – mit Rudolf Eucken und Friedrich Paulsen auch zwei Philosophen Stellung bezogen. Harnack konzentrierte sich ganz auf den Erhalt der Katholisch-Theologischen Fakultäten, wobei er erneut ausdrücklich die Bemühungen der deutschen Bischöfe zur Abmilderung der Umsetzung der päpstlichen Verurteilungen würdigte.450 Das Argument der fehlenden wissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit einer päpstlich gebundenen katholischen Theologie verfange wie schon bei der Debatte im Fall Spahn nicht. Die Enzyklika selbst stehe nicht einmal mehr auf der Stufe mittelalterlicher Weltanschauung und sei von einem weit unter Thomas von Aquin oder gar Augustin liegenden „minderwertigen, feindlichen Geist“ geprägt451, habe aber dennoch zumindest den Vorzug, daß es in ihr nicht mehr um die Rechte des Papsttums, sondern um Glaubensfragen gehe, indem sie sich dem Modernismus widme, dessen Widerlegung ihr aber gänzlich mißlinge. Ausdrücklich bekannte sich Harnack in diesem Zusammenhang zu seiner Rede von Januar 1907: „Weder bedaure ich sie, noch finde ich Anlaß, jene Hoffnungen fahren zu lassen. Nubicula est – transibit! […] Aber daß die Homines bonae voluntatis in beiden Kirchen sich immer näher kommen, und daß die Zahl der Arbeitsfelder, auf denen sie gemeinsam arbeiten – einschließlich religiöser, sozialer und theologischer – immer größer wird, ist keine phantastische Hoffnung, sondern das ist ein Ideal, dessen Verwirklichung längst begonnen hat.“452 Der Verteidigung dieser Position galten zwei weitere Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ sowie den „Preußischen Jahrbüchern“453; verbunden mit Überlegungen zur Vereinbarkeit von religiöser Überzeugung und wissenschaftlichem Ethos, erläuterte er seine Position nochmals im Juni 1908 in der Wiener „Neuen Freien Presse.“454 In der Anfang 1910 erschienenen überarbeiteten Neuauflage des dritten Bandes seiner „Dogmengeschichte“ schloß Harnack seine Darstellung des Vaticanums von 1870 immerhin mit der Hoffnung, selbst das Unfehlbarkeitsdogma könne mit seiner Bischöfe und Laien nivellierenden Tendenz sowie der immerhin möglichen Betonung der „Autorität des persönlichen Elements gegenüber der starren Autorität des Buchstabens und der Tradition […] den Factor des Fortschritts in
450
Die päpstliche Enzyklika von 1907, auch in: RANF 1, 251–259. AaO., 257. 452 AaO., 259. 453 Nachschrift zu „Wie denkt Prof. Harnack über die Encyclica Pascendi?“, in: PJ 134 (1908), 396–398, sowie Die katholischen Fakultäten, in: Frankfurter Zeitung vom 7.3.1908, beides auch in: RANF 1, 262–265 bzw. 259–262. 454 Religiöser Glaube und Freie Forschung, in: Neue Freie Presse vom 7.6.1908 (Morgenausgabe), auch in: RANF 1, 267–76. 451
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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der Kirche repräsentiren.“455 Außerdem sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß sich „aus dem Herz-Jesu-Kultus und der lebendigen Andacht der Gläubigen ein neuer Glauben entwickelt“456, wenngleich er sofort hinzufügen mußte: „Thörichte Hoffnungen wird man sagen, und gewiß – die Zeichen der Zeit weisen in eine ganz andere Richtung.“457 In der Selbstanzeige seines Buches räumte er ein, daß eine Dogmengeschichte nach einem erforderlichen neuen Aufriß, den er nicht mehr bieten könne, sich als neue Stufe der Forschung nicht zuletzt „durch gewissenhafte Benutzung katholischer Quellen und in einer gerechteren Würdigung katholischer Dinge dokumentieren möge.“458 Gegenüber der scharfen Kritik der „Kölnischen Volkszeitung“, die allerdings auch die insgesamt milderen Urteile Harnacks zur Kenntnis nehmen mußte, verteidigte er seine Darstellung als Versuch der „Unterscheidung des offiziellen, von Rom aus geleiteten Kirchenthums und der warmen katholischen Frömmigkeit.“459 Hatte bereits die Enzyklika von 1907 in Deutschland für erhebliche Aufregung gesorgt, so verschärfte sich die Situation noch einmal im Jahre 1910 durch die Borromäusenzyklika vom 26. Mai sowie das Motuproprio Sacrorum Antistitum vom 1. September. Letzteres intensivierte den Kampf gegen Modernismus und Reformkatholizismus noch einmal, indem von allen Klerikern und Dozenten an Seminaren und Universitäten die jährliche Ablegung eines eigenen „Antimodernisteneides“ verlangt wurde. Nur mit Mühe gelang es den deutschen Bischöfen zu erreichen, daß die Professoren der Katholisch-theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten von dieser Forderung zunächst ausgenommen wurden, da sie ansonsten zu Recht ihre Aufhebung befürchteten. Die Borromäusenzyklika dagegen verurteilte mit scharfen Worten die Reformatoren, indem sie mit der Formulierung, sie seien Feinde des Kreuzes Christi und ihr Gott sei der Bauch, gerade jene Worte gebrauchte, mit denen Paulus seine Gegner bezeichnet hatte (Phil 3, 18f.). Die sie unterstützenden Fürsten seien korrupt, die Reformation selbst die Verkehrung von Gut und Böse. Nicht nur unter Protestanten, sondern auch bei einer großen Zahl von Katholiken stießen die Worte des Papstes auf Ablehnung. So sprach der katholische sächsische König in einem Brief an den Papst von einer Schädigung der Stellung des Katholizismus in Deutschland, die deutschen Bischöfe drängten in Rom auf eine Abmilde455
LDG4 3, 759, Anm. 1. AaO., 759. 457 AaO., 760. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Anmerkung Harnacks zu diesem Satz: „So hat man vielfach (katholischer- und protestantischerseits) gesagt; aber Friedrich Paulsen hat diesen kühnen Blick nicht für verkehrt gehalten“, womit Harnack auf dessen Stellungnahme zu seiner Rede vom Januar 1907 anspielte. 458 ThLZ 35 (1910), 308f. 459 Mein Lehrbuch der Dogmengeschichte (Bd. 3) und die Kölnische Volkszeitung, in: PJ 141 (1910), 146–156, 156. 456
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rung der päpstlichen Worte, und in der Zentrumspartei stellten sich nur die wichtigsten Führer des integralistischen Teils der Berliner Richtung wie Hermann Roeren hinter die Enzyklika.460 Bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung der Enzyklika kam es zu einem Gespräch zwischen Harnack und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg über die Enzyklika. Der Kanzler bat Harnack um eine Übersetzung des lateinischen Originaltextes, die dieser am 5. Juni 1910 vorlegte. Wie vermutlich schon im Gespräch drang Harnack in seinem Begleitschreiben auf maßvolle Reaktionen von Reichsleitung und preußischer Staatsregierung. Abgesehen von der „Fürstenstelle“ enthalte die Enzyklika „sonst nichts für uns politisch Anstößiges.“ Insgesamt müsse festgehalten werden, daß die „inkriminierte Satzgruppe die Rolle in ihr nicht spielt, die man nach den ersten Mitteilungen vermuten mußte. Vielleicht ist sie den Augen des Staatssekretärs der Curie überhaupt entgangen! Für ganz unmöglich halte ich das nicht.“461 Die Reaktion der Reichsleitung entsprach dann Harnacks Erwartungen. Sie ging nicht auf die von breiten Kreisen vorgebrachte Forderung nach Abzug des preußischen Gesandten beim Papst ein, formulierte allerdings einen scharfen Protest, der – verbunden mit den mahnenden Stimmen aus dem deutschen Katholizismus – zu einem Schreiben des Papstes führte, in dem er die Wirkung seiner Worte bedauerte und der ferner die Bischöfe von ihrer Pflicht, in ihren Kirchen und Amtsblättern die Enzyklika zu verbreiten, entband, so daß Naumanns „Hilfe“ von einem „halben Sieg der preußischen Regierung“ sprechen konnte.462 Vermutlich in Abstimmung mit Harnack äußerte sich auch Delbrück.463 Er übernahm Harnacks wiederholt vorgetragene These, daß der konfessionelle Gegensatz politisch folgenreicher und gefährlicher sei als die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, beklagte die „Tiefen des Abgrundes, der die Weltanschauung der römischen Kirche trennt von dem Denken und der Bildung unserer Zeit“464, betonte dann aber sogleich, daß ein neuer Kulturkampf schon mit Blick auf das zu erwartende Erstarken der Sozialdemokraten bei den kommenden Wahlen als „nationaler Selbstmord“ zu vermeiden sei.465 Delbrück lobte daher die Reaktion der preußischen Regierung, wies mit Nachdruck auf die Bedeutung des konfessionellen Friedens hin und warnte vor den „protestantischen Heißsporne[n]“466, die einen energi460 Vgl. ausführlich Gisbert Knopp: Die Borromäus-Enzyklika von 1910 und ihr Widerhall in Preußen, in: ZKG 86 (1975), 41–77. 461 Harnack an Bethmann Hollweg am 5.6.1910, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, R 9303 (Päpstlicher Stuhl 12, Bd. 1), unpag. 462 Hilfe 16 (1910), 392. 463 Hans Delbrück: Die Encyklika, in: PJ 141 (1910), 177–183. 464 AaO., 177. 465 AaO., 180. 466 AaO., 183.
2. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik
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scheren Protest forderten. Ausdrücklich erwähnte Delbrück die Reaktionen des deutschen Katholizismus als Beleg dafür, daß „in sehr breiten Kreisen unserer katholischen Mitbürger der bestimmte Wille herrscht, in Frieden mit uns zu leben.“467 Immerhin habe der Vorfall gezeigt, daß es auch möglich sei, das Zentrum einmal gegen den Vatikan auszuspielen. Innenpolitisch bedeutsam erschien Delbrück der Vorgang als Indiz für die mögliche Auflösung des schwarz-blauen Blocks: „Konservative, Zentrum und Liberale werden nach wie vor als Sonderbildungen mit scharfgeschnittenen Grenzen nebeneinander bestehen. Die Vorstellung, daß Konservative und Klerikale in Deutschland in einer naturgemäßen Einheit zusammengehörten, ist verscheucht. Auf der anderen Seite ist aber deutlich geworden, daß guter Wille von beiden Seiten trotz allen ideellen Gegensatzes ein friedliches Zusammenarbeiten ermöglicht, und wenn das einmal festgestellt ist, kann sich herausstellen, daß das Zentrum ebensowohl mit den Liberalen wie mit den Konservativen Kompromisse schließen kann.“468 Harnack meldete sich öffentlich am 31. Juli 1910 in der „Neuen Freien Presse“ zu Wort, wiederum in der ihm eigentümlichen Mischung aus protestantischer Polemik gegenüber Rom und Verständnis für den deutschen Katholizismus.469 Die Enzyklika enthalte zweifellos „Faustschläge in das Antlitz der geschichtlichen Wahrheit, welche unser Zeitalter nicht mehr verträgt“470, habe aber zugleich in der Ablehnung, auf die sie auch im deutschen Katholizismus gestoßen sei, gezeigt, wie groß die Gemeinsamkeiten an Wissen und Bildung in Deutschland bereits seien. Bleibe die Kurie bei einem solchen Vorgehen, dann rufe sie „nicht nur den geschlossenen Geist des Protestantismus, sondern auch den Gesamtgeist unserer deutschen Frömmigkeit, Bildung und Kultur aus allen Lagern wider sich“ auf.471
2.2.3. Harnack und das Zentrum Die von Harnack konstatierten zunehmenden Gemeinsamkeiten von Katholizismus und Protestantismus auf den Feldern von Wissenschaft, Kultur und nicht zuletzt nationaler Politik haben freilich nichts an seiner Ablehnung des politischen Katholizismus geändert. Diese Ablehnung des Zentrums als konfessioneller Partei ist bis 1914 ein nicht dominanter, aber immer vorhandener Bestandteil seiner Äußerungen zum Katholizismus gewesen. So wies auch die Kaisergeburtstagsrede von 1907 auf die „Verquickung von 467
AaO., 182. AaO., 183. 469 Die Borromäus-Enzyklika, in: Neue Freie Presse Nr. vom 31.7.1910, auch in: RANF 1, 277–287. 470 AaO., 281. 471 AaO., 286f. 468
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
„Konfession und Politik“ als abzulehnende „politische Religion“ hin.472 Das richtete sich natürlich in erster Linie gegen das Zentrum, war aber der Struktur nach das gleiche Argument, das Harnack gegenüber einer Verquikkung von Religion und Politik im konservativen, partiell auch im liberalen Protestantismus gebraucht hatte und das Grundlage seiner Auseinandersetzung mit den Christlich-sozialen Stoeckers, aber auch seines Votums für einen Verzicht auf eine christlich-konfessionelle Bezugnahme im Namen der Parteigründung Naumanns 1896 gewesen war. Gleichwohl stieß gerade dieser Punkt der Rede Harnacks auch bei wohlwollenden katholischen Kommentatoren auf Kritik, etwa bei dem liberalen Katholiken Sebastian Merkle, der, freilich ohne auf Harnack zu zielen, den „politischen Protestantismus“ in Deutschland als Vater des politischen Katholizismus ausmachte und historisch damit auf die Interpretation des preußischen Siegs von 1866 als Sieg über den Ultramontanismus und die Rede vom „protestantischen Kaisertum“ anspielte.473 Harnack verschärfte in den folgenden Jahren seine Kritik am Zentrum, wofür weniger die päpstlichen Enzykliken von 1907 und 1910 verantwortlich waren, in deren Zusammenhang er ja ausdrücklich das Verhalten der Bischöfe, aber auch der Mehrheit des Zentrums würdigen konnte, sondern wohl v. a. die Kooperation des Zentrums mit den Konservativen im schwarzblauen Block ausschlaggebend gewesen sein dürfte. So schilderte er 1911 in einer Zuschrift an die „Deutsche Wacht“, dem Organ der nationalkatholischen „Deutschen Vereinigung“, die sich in ihrem Programm zu konfessioneller Versöhnung bekannte, in ihrer Ablehnung weiterer Sozialreformen sowie dem Drängen auf eine repressive Polenpolitik jedoch Harnacks politischen Anschauungen keineswegs nahe stand und aus diesem Grund in einer redaktionellen Bemerkung ausdrücklich betonte, sich nicht mit dem gesamten Inhalt des Artikels identifizieren zu können, die immense Bedeutung der Trennung von Protestanten und Katholiken.474 Jede Konfession sei als „Gewissens- und Lebensmacht“ ein „großes moralisches, intellektuelles und individuell-soziales System auf geschichtlicher Grundlage“475 und daher auch durch eine Trennung von Kirche und Staat in ihren politischen Folgen nicht einfach auszuschalten. Ausdrücklich bekannte er sich erneut zu seiner Rede von 1907 und der Möglichkeit einer allmählichen Überwindung der Tren472
RANF 1, 247. Sebastian Merkle: A. Harnack als Ireniker, in: Hochland 4 (1906/7), 755–763. 474 Konfession und Politik, in: Deutsche Wacht 4 (1911), 99–101 (die redaktionelle Bemerkung auf 99), auch in: RANF 1, 287–293. Zur Deutschen Vereinigung vgl. Was will die Deutsche Vereinigung?, Bonn 1908, sowie Herbert Gottwald: Art. Deutsche Vereinigung (1908–1933), in: Dieter Fricke (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Band 2, Leipzig 1985, 404–412. Weitere Kontakte Harnacks lassen sich nicht nachweisen und sind auf Grund der konservativen Programmatik wenig wahrscheinlich. 475 AaO., 289. 473
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nung, wenngleich die Zeichen in die Gegenrichtung wiesen: „gelähmt ist die freudige Arbeit zahlreicher Katholiken, in schlimme Verlegenheit ist der Staat gesetzt, und dem Protestantismus ist der Katholizismus noch um einen erheblichen Grad fremder geworden.“476 Gleichwohl könne nicht allein auf den allmählichen Erfolg der konfessionellen Verständigungsversuche gewartet werden, sondern in Bezug auf Staat und Gesellschaft müßten schon jetzt die Gemeinsamkeiten herausgestellt werden: „Wir müssen die Entfremdung eindämmen und auf ihr eigenes Gebiet beschränken, und wir müssen des Glaubens leben, daß es kein Wahnglaube ist, daß es ein Gebiet der Verständigung für jeden guten Deutschen gibt, nämlich die Pflege deutscher Art und die treue Sorge für die Gesundheit und Stärke des deutschen Staates.“477 Überaus scharf markierte Harnack neben der Betonung der religiösen und nicht zuletzt der nationalen Bedeutung der konfessionellen Verständigung die Hemmnisse, die diesem Ziel durch die Existenz einer betont konfessionellen Partei wie dem Zentrum entgegenstünden, das zwar behaupte, nur eine politische Partei zu sein, „aber diese Behauptung wird durch die Tatsachen Lügen gestraft. Die Existenz des Zentrums hält die Staatsbürger auseinander, die, wenn es nicht vorhanden wäre, in den natürlichen politischen Gruppen zusammengehen könnten; es entzieht den Konservativen ausgezeichnete Elemente, die dieser Partei eine universalere Haltung geben könnten, und nicht minder den Liberalen. Es verewigt die Kirchenspaltung auf einem Gebiet, wohin sie gar nicht gehört, erweitert also die Kluft, statt sie dadurch in ihren Wirkungen abzuschwächen, daß man gemeinsame Aufgaben sucht! In diesem Sinne ist das Zentrum im Tiefsten unpatriotisch, so mancherlei Verdienste es sich erworben hat, weil es das Vorurteil stärkt, daß es überhaupt kein Gebiet gibt, auf dem der protestantische und der katholische Staatsbürger zusammengehen können.“478 Harnacks Votum war eine deutliche Absage an die Zentrumspartei. Daß eine politische Organisation des deutschen Katholizismus angesichts der Erfahrungen von Kulturkampf und gesellschaftlich-kultureller Benachteiligung der Katholiken zumindest legitim war, fiel außerhalb seines Blickwinkels, auch weil das Ideal seines Werbens für konfessionelle Versöhnlichkeit neben der Anerkennung der verschiedenen Frömmigkeitsgestalten an der Vorstellung einer die Kultur prägenden freien Christlichkeit orientiert war, die zumindest der Idee nach als genuin protestantisch verstanden werden sollte – nicht im Sinne der kirchlichen Gestalt des Protestantismus, wohl aber in der Ausrichtung auf eigenverantwortliche Religiosität und Geistesfreiheit. Immerhin ließ Harnack auch in dieser Stellungnahme noch positive Wirkungen des Katholizismus in der Politik erahnen, etwa wenn er von der 476 477 478
AaO., 292. AaO., 293. AaO., 292.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
„universalen Haltung“ sprach, die sowohl Konservative als auch Liberale von ihm zu lernen hätten. Man kann das durchaus mit der sonst wiederholt daran anschließenden Kritik an einem engherzigen Patriotismus verbinden und darin eine Warnung vor der Überspannung des Nationalgedankens erblicken. Die Behauptung, das Zentrum sei trotz aller Versicherungen eine konfessionelle und nicht eine politische Partei, muß ferner sicherlich vor dem Hintergrund der innerparteilichen Auseinandersetzung jener Jahre gesehen werden.479 Insofern gehören hierher auch die Versuche der in der Führung eigentlich isolierten Integralisten, mit Hilfe der römischen Kurie die katholischen Laien gegen die von Zentrumsdemokraten und bürgerlicher Parteiführung angeregten Versuche einer Öffnung der Partei zu mobilisieren, denen die Führung zumindest in Bezug auf die Verlautbarungen aus Rom nur wenig entgegensetzen konnte, wollte sie nicht in den Verdacht mangelnden Gehorsams gegenüber dem Papst geraten. Ähnliches gilt für den Streit um die Christlichen Gewerkschaften, die Harnack ausdrücklich als positives Beispiel überkonfessioneller Arbeit nannte480, und die das Frühjahr 1911 bestimmenden Auseinandersetzungen um die Umsetzung des Antimodernisteneides, den die Bischöfe wiederum in ihren Folgen abzumildern versuchten. Harnack hat sich zum „Zentrumsstreit“ und der Auseinandersetzung um die Christlichen Gewerkschaften, in die 1912 wiederum der Papst eingriff, nicht explizit geäußert. Deutlich dürfte die Ablehnung der Integralisten um Roeren sein, aber auch den Zentrumsdemokraten um den jungen Erzberger stand er wie Delbrück mit Skepsis gegenüber. Über die Haltung eines Konservativen wie Hertling, auf den Althoff noch Ende 1906 seine Hoffnungen gesetzt hatte und der seit 1909 der Reichstagsfraktion vorstand, dürfte Harnack angesichts der innenpolitischen Blockade etwa in der Frage des preußischen Wahlrechts oder der nur langsam voranschreitenden und bald zum vollkommenen Stillstand kommenden Sozialpolitik kaum noch günstig geurteilt haben. Andererseits war sich Harnacks Schwager Delbrück in einem zur gleichen Zeit wie Harnacks Artikel in der „Deutschen Wacht“ niedergeschriebenen Kommentar darüber im Klaren, daß das Zentrum auch nach den Wahlen die Schlüsselposition im Parlament innehaben würde. Ebenso wie alle Versuche der Kurie, den deutschen Katholizismus vom modernen Geistesleben abzusperren, scheitern müßten, so könne das Zentrum, gerade weil es „demokratisch und konservativ“ sei481, auch nicht mehr von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen werden: „Wir können das Zentrum ja für die geordnete Regierung des Reiches nicht mehr entbehren.“482 Delbrück war hier zweifellos realistischer als Harnack. Dieser hat dann auch 479
Dazu ausführlich Loth: Katholiken (Anm. 327), 232–277. RANF 1, 293. 481 Hans Delbrück: Der Aufmarsch der Parteien. Der Modernisteneid, in: PJ 143 (1911), 550–553, 552. 482 AaO., 553. 480
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in seinem Beitrag für das „Deutsche Staatslexikon“ von 1914 auf jede direkte Polemik gegen das Zentrum verzichtet. Der Kompromiß zwischen Staat und Kirche, für den Harnack darin warb, galt jetzt wohl auch für Liberalismus und Zentrumspartei. Der Weltkrieg dokumentierte dann endgültig die nationale Integration des deutschen Katholizismus. Es ist auf diese Erfahrung zurückzuführen, daß Harnack nach 1914 und auch nach 1918 auf jede öffentliche wie auch private Stellungnahme gegen die Zentrumspartei verzichtete und 1925 dann einen Zentrumspolitiker als Reichspräsidenten empfahl. Dabei ist zugleich bemerkenswert, daß er während des Krieges jeden Versuch unterließ, die „nationale Bewährung“ des Katholizismus gegen dessen Bindung an Rom auszuspielen.483 Ein politisches Signal war zudem, daß Harnack im nationalistisch aufgeladenen Reformationsjubiläum von 1917 nicht nur die Nationalisierung Luthers ausdrücklich ablehnte, sondern unter den geschichtlich negativen Folgen der Reformation wie schon 1891 – „ich darf die Worte wiederholen, die ich vor 26 Jahren geschrieben habe und die heute nötiger sind denn je“ – einen Mangel an Universalität konstatierte. Der „große Gedanke der allgemeinen durch das Christentum herbeizuführenden Einheit der Völker“ könne durch keinen Patriotismus ersetzt werden: „Aber wie armselig ist doch der Mensch, der im Patriotismus sein höchstes Ideal erkennt oder im Staat die Zusammenfassung aller Güter verehrt.“484 In der von Harnack verfaßten Festschrift der Stadt Berlin zum Reformationsjubiläum, die an allen Berliner Schulen verteilt wurde, schrieb er durchaus programmatisch im Vorwort: „Der evangelische Glaube […] ist als Bekenntnis in dem größeren Teil unseres Volkes verbreitet; aber viele Deutsche haben ihn nicht angenommen, sondern sind bei der katholischen Kirche geblieben. Auch sie streben in Gesinnung und Tat nach dem reinen Christentum und sind durch die heiße Liebe zu unserem Vaterland mit uns verbunden. Daher sollen wir sie – so schmerzlich der Riß ist – als unsere Brüder erkennen. […] Die Zeit der Religionskämpfe ist vorbei und darf niemals wiederkehren; an ihre Stelle muß ein edler Wettstreit treten.“485
2.3. Sozialpolitik als Kulturauftrag: Harnack als Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses 1902–1911 „Wahre soziale Gesetzgebung schreitet fort, aber sie schreitet schleichend fort. Wir machen in unserem Vaterlande gute, aber langsame Arbeit. Auf allen Gebieten zeigt sich unser Verwaltungsapparat, der in anderer Hinsicht 483 Vgl. Harnacks Rezension von Georg Pfeilschifter, Deutsche Kultur, Weltkrieg und Katholizismus, in: PJ 163 (1916), 329–331. 484 Die Reformation und ihre Voraussetzung (1917), in: RANF 4, 72–140, 131. 485 Martin Luther und die Grundlegung der Reformation, Berlin 1917, 3.
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unsere Stärke ist, als Verzögerungsapparat. Der Reichstag wäre, soviel ich sehe, zu schnellerem Fortschritt wohl geneigt, aber die Regierung, die sich freilich auch verantwortlicher fühlt als der Reichstag, zögert. Unter diesen Umständen darf keine Organisation, welche auf den Fortschritt dringt, vom Schauplatze zurücktreten. Sind wir auch eine kleine Macht, so müssen wir doch an dieser Stelle bleiben und sollen auf die Regierung und die öffentliche Meinung einzuwirken versuchen, als wir irgend vermögen.“486 Mit diesen Worten ließ Harnack bereits in seiner ersten öffentlichen Äußerung als neugewählter Präsident des Evangelisch-sozialen Kongresses keinen Zweifel daran, daß seine Organisation in die Reihe der bürgerlichen Sozialreformer gehörte.487 Dabei setzte er ganz auf die Diskussionen der Kongreßtagungen, die mit hochkarätigen Referenten eine breite Aufmerksamkeit auf sich ziehen und auf diese Weise ebenso meinungsbildend auf die bürgerliche Öffentlichkeit wirken sollten wie durch soziales Kurswesen und Fortbildungsangebote für höhere Staatsbedienstete. Einer Klärung bedurfte freilich das besondere Profil des Kongresses neben Organisationen wie dem Verein für Sozialpolitik (VfS) oder der 1901 ins Leben gerufenen Gesellschaft für soziale Reform (GsR)488, hatte es doch bis zur Wahl Harnacks immer wieder Stimmen gegeben, die die Auflösung des Kongresses bzw. seine Fusion mit dem Verein für Sozialpolitik gefordert hatten, darunter immerhin auch Delbrück und Rade. So kreisten denn in den ersten Jahren Harnacks Eröffnungsreden sowie seine Beiträge zum Mitteilungsblatt des Kongresses immer wieder um die genaue Akzentuierung des evangelisch-sozialen Profils seiner Arbeit, das einen unverzichtbaren, auch von befreundeten Organisationen nicht leistbaren Bestandteil bürgerlicher Sozialreform darstellen sollte und das Harnack mit der Arbeit „an der 486
Begrüßung, in: MESK 12 (1903), 1f., 2. Vgl. zu Harnacks Präsidentschaft ZH 287–292; Walter Goetz: Der Evangelischsoziale Kongreß 1902–1918, in: Johannes Herz (Hg.): Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. Fünfzig Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß 1890–1940, Leipzig 1940, 42– 78; Rüdiger vom Bruch: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: ders. (Hg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, v.a. 117–122; Kurt Nowak: Sozialpolitik als Kulturauftrag. Adolf von Harnack und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth: Sozialreform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln, 1997, 79–93, v.a. 84–92. 488 Vgl. zum VfS noch immer Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Wiesbaden 1967, zur GsR Rüdiger vom Bruch: Bürgerliche Sozialreform und Gewerkschaften im späten deutschen Kaiserreich. Die Gesellschaft für soziale Reform 1901–1914, in: IWK 15 (1979), 581–610; Ursula Ratz: Sozialreform und Arbeiterschaft. Die „Gesellschaft für soziale Reform“ und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Berlin 1980. 487
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großen Frage ‚Christentum und soziale Ethik‘“ umriß.489 Sozial im Sinne des Kongresses bedeute, daß soziale Reformpolitik „eine gemeinschaftliche und nationale Aufgabe“ darstellt, sowie Interesse und Engagement für die „sozial Schwachen und Benachteiligten.“490 Evangelisch, so erklärte Harnack 1904, meine nicht ein „Universal-Heilmittel gegen soziale Mißstände“ – hier sei seitens des Kongresses vielmehr umfangreiches Studium der sozialen Gesetzmäßigkeiten sowie die Bereitschaft, in „die Speichen des Rades eingreifen [zu] können, wenn es, ungeleitet, abwärts zu rollen droht, gefordert“ –, wohl aber die Überzeugung, daß „soziale Gesinnung […] in erster Linie und im Tiefsten brüderliche Gesinnung [ist], und eben weil sie das ist, ist das Evangelium, ist der christliche Glaube hier eine Kraft.“491 Damit zeichnete Harnack wesentliche Elemente seiner auf der Selbstvergewisserung des Individuums aufbauenden Kulturtheologie in die Programmatik des Kongresses ein, denn wie der christliche Glaube „den unendlichen Wert der einzelnen Menschenseele zur Anerkennung gebracht hat, so hat er auch die Brüderlichkeit und Liebe in den Mittelpunkt gerückt. Das Evangelium ist im Tiefsten individualistisch und im Tiefsten sozial zugleich.“492 Für den Kongreß bedeutete das nach Harnack, daß neben den unabdingbaren Fragen von Sozialpolitik und Sozialreform auch auf die sozialen Gesinnungen aller Stände eingewirkt werden mußte. Ziel war dabei die Überwindung der von Harnack immer wieder beklagten „Reste der Klassenund Kastenordnung, die noch immer einen Zaun um sie zieht und ein freies, vertrauensvolles Verhältnis von Mensch zu Mensch erschwert und hindert.“493 Dem entsprach programmatisch eine kulturpolitische Ausweitung der Arbeit des Kongresses, der auf seinen Jahrestagungen sich nun vermehrt schul- und bildungspolitischen Fragen zuwandte. Harnack warnte vor einer rein wirtschaftlichen Bearbeitung sozialer Probleme: „In der Tiefe aller großen sozialen Fragen und aller Erkenntnisprobleme stößt man auf das sittliche Element und damit auf das religiöse. Vernachlässigt man beide, so schlägt man die Wirklichkeit der Dinge und die Menschen.“494 Die bei Harnack bereits in den 1890er Jahren vorhandene Warnung vor einer Einschränkung der Freiheit des Individuums durch staatssozialistische Bestrebungen verstärkte sich mithin deutlich. Es sei die „Frage aller Fragen“ und die „Schwierigkeit aller Schwierigkeiten“, herauszufinden, wie „inmitten eines stets sich komplizierenden Systems von sozialen Assoziationen, Zwängen, Fürsorgen, Bevormundungen und Unterordnungen, von Opfern des ei489 490 491 492 493 494
106.
Begrüßung, in: MESK 12 (1903), 2. So Harnack in der Eröffnungsrede 1904 in Breslau, in: VESK 15 (1904), 1–5, 1. AaO., 2. Ebd. AaO., 3. Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens, in: RA 2, 77–
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genen Willens und der eigenen Selbstbestimmung“ der „notwendige[] Spielraum für die Tatkraft des Kräftigen, die Weisheit des Weisen, die Eigenart des Selbständigen“ bewahrt werden könne. „Wenn unfraglich alle wahre Lebensfreude gebunden ist an eigenes Schaffen, eigene Leistung und Selbstbestimmung, sei es auch in bescheidenem Umfange, so ist es im wahren Sinn ein soziales Werk, die Möglichkeit zur Persönlichkeit und zu individueller Lebensbestimmung aufrechtzuerhalten.“495 Unter Bezugnahme auf die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit interpretierte er die egalité nicht als soziale Nivellierung, sondern als „Anerkennung der Menschenwürde, der Persönlichkeit, sowie den Anspruch jedes ehrlichen Arbeiters, als vollberechtigter Bürger geschätzt und behandelt zu werden.“496 Diese Interpretation bedeutete bei aller Individualisierung und Ethisierung der sozialen Fragen aber keine Entpolitisierung. So begründete Harnack mit der Bekämpfung des Kastengeistes ebenso die Forderung nach staatspolitischer Gleichberechtigung der Arbeiterschaft, die Ablehnung von Ausnahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie sowie die Forderung nach Koalitionsfreiheit. Wenn Harnack durch die kultur- und bildungspolitische Erweiterung des Arbeitsprogramms sowie seine Ausrichtung auf eine liberalprotestantisch formulierte Persönlichkeitsreligion das spezifische Profil des Kongresses zu schärfen suchte, so bemühte er sich doch zugleich im Sinne einer Arbeitsteilung um eine Vernetzung mit anderen führenden Organisationen der bürgerlichen Sozialreform. Das kam bereits in den Aktionskomitee– und Ausschußsitzungen vom 13. Oktober 1902 und vom 4. Mai und 2. Juni 1903 zum Ausdruck. Für das Aktionskomitee bemühte sich Harnack um den Vf S-Vorsitzenden Gustav Schmoller als neues Mitglied497, der freilich absagte – wenngleich er gewissermaßen familiär durch seine Frau Lucie, die während der gesamten Amtszeit Harnacks dem Aktionskomitee angehörte, dem Kongreß verbunden blieb. In den weiteren Ausschuß gelangte der Vorsitzende der Gesellschaft für soziale Reform Hans Hermann von Berlepsch, dessen Organisation dann seit 1905 durch ihren Generalsekretär Ernst Francke auch im Aktionskomitee vertreten wurde. Der zum Ehrenpräsidenten gewählte Moritz August Nobbe vertrat dagegen den Kongreß im Vorstand der GsR, Hans Delbrück hielt als Mitglied von ESK-Aktionskomitee und Vorstand des Vf S den Kontakt zu letzterem. Mit dem Vorsitzenden der in der Volksbildung überaus aktiven Comenius-Gesellschaft Ludwig Keller wurde auch die verstärkte Hinwendung zur Bildungspolitik dokumentiert. Gleiches galt 495
So die Eröffnungsrede 1907 in Straßburg, in: VESK 18 (1907), 2–5, 3f. Die 18. Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses zu Straßburg i. E., in: EvS 16 (1907), 53–55, hier 53. 497 Harnack an Schmoller am 20.1.1902, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 194b, Bl. 116f. 496
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für die bürgerliche Frauenbewegung, die durch die Oberlehrerin Marie Martin seit 1903 im weiteren Ausschuß des Kongresses vertreten war.498 Theologisch war mit der Wahl Harnacks der Kongreß endgültig dem freien Protestantismus zuzuordnen, was Ernst Troeltsch pointiert dadurch zum Ausdruck brachte, daß er in seinen „Soziallehren“ den Kongreß als eine der „freie[n] Vereinigungen der Gesinnung“ dem sozialen Typ der Mystik zuordnete.499 Die Beziehungen zumindest zur Preußischen Kirchenleitung blieben auch unter Harnacks Präsidium schwierig. Auf Distanz achtete er insbesondere gegenüber Stoecker und seiner Kirchlich-sozialen Konferenz, was Kooperationen in praktischen Fragen, so etwa bei einem 1904 in Berlin von der Gesellschaft für soziale Reform organisierten sozialen Ausbildungskurs, nicht ausschloß. Auf der zweiten Sitzung des Aktionskomitees unter seiner Leitung am 4. Mai 1903 erklärte er, zu einer näheren Verbindung mit der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz liege kein Grund vor.500 So lehnte Harnack Beteiligungen an Unternehmen Stoeckers wie der 1903 gegründeten Sozialen Geschäftsstelle ab.501 Die Verbindung der sozialen Frage mit antijüdischen Äußerungen verurteilte er auch mit Blick auf Stoecker noch einmal 1907 als „widerwärtige[] und empörende[] Erscheinung.“502 Nach dessen Tod und der Übernahme der Präsidentschaft der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz durch Reinhold Seeberg blieb es bei der Distanz zwischen dem ESK und der etwa um das dreifache an Mitgliedern größeren FKSK. So wies der ESK-Generalsekretär Wilhelm Schneemelcher auf die „gefährliche Konkurrenz“ hin: „Seeberg ist um Mittel u. Wege nie verlegen, und die Behörden arbeiten für ihn, seine Arbeit wird über kurz oder lang als die evangelisch-soziale kanonisiert werden.“503 In tagespolitischen Fragen betonte Harnack bereits zu Beginn seiner Amtszeit die beabsichtigte Überparteilichkeit des Kongresses und bemühte sich, die verschiedenen Flügel des Kongresses von den Konservativen wie Wagner und Nobbe über die Mitte um Personen wie Delbrück bis hin zu Linksliberalen wie Naumann und den teilweise noch weiter links stehenden Mitgliedern der 1904 gegründeten Sächsischen Evangelisch-sozialen Verei498 Vgl. die Mitgliedslisten des Aktionskomitees bzw. die Mitteilungen über Zuwahlen in den Jahresberichten des Generalsekretärs in den Verhandlungsberichten. 499 Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften. Band 1: Die Soziallehren der christlichen Kirchen, Tübingen 1912, 425, Anm. 197. Unter „Mystik“ versteht Troeltsch, wie zu beachten ist, eine Kategorie religiöser Sozialisation, welche die im Haupttext genannte Spielart – neben Kirche und Sekte – bezeichnet. 500 Protokoll der Sitzung vom 4.5.1903 in: ESK-Archiv, A I 2. 501 Vgl. den Brief Harnacks an die FKSK vom 30.1.1904, in: Wilhelm Schneemelcher: Der evangelisch-soziale Kongreß und die neueren kirchlich-sozialen Unternehmungen, in: EvS 13 (1904), 30f. 502 RÜI 31. 503 Schneemelcher an Harnack am 18.11.1910, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schneemelcher.
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nigung zusammenzuhalten.504 Dieser Balanceakt war eine heikle Aufgabe, ließen sich doch gerade in konkreten sozialpolitischen Fragen parteipolitisch motivierte Konflikte nicht gänzlich vermeiden. Harnacks Kurs, die soziale Frage zugleich als Gesinnungs- und Kulturfrage zu interpretieren, war mithin auch ein Versuch des Kompromisses zwischen den Flügeln. So deutete er im Vorfeld der Darmstädter Tagung von 1903 die Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorrangig in diesem Sinn. Freiheit meine für den Kongreß zunächst Befreiung von den „Mächten der Eigensucht, Genußsucht, des Überdrusses und der Verzweiflung. Erst in zweiter Linie denken wir an die positiven Freiheiten, die wir unserm Volk auch wünschen.“ Gleichheit meine Überwindung des Kastengeistes, nicht die Nivellierung von Ständen und Berufen, Brüderlichkeit sei besonders „die Gesinnung, die Liebe und Hilfe spendet nach dem Maße des Bedürfnisses, nicht als Almosen und nicht als patriarchalische Patronage, sondern als selbstverständliche Pflichtübung, kräftig und rücksichtsvoll zugleich, und die durch die Hilfe nicht niederhalten, sondern stärken und zur Selbständigkeit erziehen will.“505 Daß die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nicht angetastet, diese vielmehr organisch fortentwickelt werden sollten, gehörte wie schon 1897 so auch in seiner Zeit als Kongreßpräsident zu den Grundüberzeugungen Harnacks. Das gelehrtenpolitische Ideal der mittleren Linie war der Leitgedanke seiner Amtsführung, den er 1912 auch seinem Nachfolger Otto Baumgarten mit auf den Weg gab: „Wie bisher wollen wir gemäß unserer Eigenart die mittlere Linie finden im Parallelogramm der Kräfte zwischen den Gegensätzen […]. Solch eine Mitte behaupten hat häufig etwas nicht sehr Erhebendes. […]. Wer aber versucht, den nächsten Schritt sicher zu tun und jedem Lebendigen sein Lebensrecht zu wahren, der kann nicht schreien und nicht blenden. […]. Die Struktur unserer Gesellschaft verträgt keinen anderen Gang.“506 Wenngleich dies das Grundprinzip der gesamten Amtsführung Harnacks war, so läßt sich doch eine unterschiedliche Akzentuierung feststellen, wobei sich zwei nicht trennscharf voneinander zu unterscheidende, in der Gesamtperspektive gleichwohl voneinander abhebende Phasen der Präsidentschaft Harnacks erkennen lassen. Bis etwa 1906/7, also bis zum Bülow-Block, zeichnete sich Harnacks Kongreßführung durch einen vorsichtigen Linkskurs aus, dann folgte eine stärkere gouvernementale Ausrichtung, die sich besonders an Harnacks Eröffnungsreden ablesen läßt, in denen sich jetzt auch der Ton gegenüber der Sozialdemokratie wieder verschärfte. Es war 504 Vgl. zu dieser Gruppe Sebastian Kranich: „Sachsenvolk, wach auf zur gemeinsamen sozialen Arbeit!“ Die Entstehung der Sächsischen Evangelisch-sozialen Vereinigung, in: Klaus Tanner (Hg.): Gotteshilfe – Selbsthilfe – Staatshilfe – Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000, 53–70. 505 Zum Darmstädter Kongreß, in: MESK 12 (1903), 28. 506 Richtung und Kraft, in: EvS 9 (1912), 164–170, 169f.
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diese zumindest teilweise zu beobachtende Gouvernementalisierung der Kongreßführung, die dann ab 1910 nicht nur beim linken Flügel des Kongresses Kritik an Harnack laut werden ließ. Zunächst freilich konnte nach 1903 kein Zweifel daran bestehen, daß der Kongreß insgesamt sich zumindest personell in Richtung des Linksliberalismus bewegte. So gehörte es zu den ersten Amtshandlungen Harnacks, Friedrich Naumann wieder an den Kongreß näher heranzuführen: Er wurde noch Ende 1902 in das Aktionskomitee gewählt. Auch die Neuwahl von Mitgliedern des erweiterten Ausschusses brachte weitere Anhänger der Nationalsozialen in die Kongreßführung, darunter Naumanns engen Mitarbeiter Gottfried Traub, den Heidelberger Neutestamentler und nationalsozialen Stadtverordneten Adolf Deißmann sowie den Osnabrücker Pfarrer August Pfannkuche.507 Mit Caspar René Gregory gehörte ein führendes Mitglied des nationalsozialen Vereinsvorstands bereits seit längerem dem Aktionskomitee an. Im weiteren Ausschuß waren seit 1902 zudem Naumanns Mitarbeiter Martin Wenck sowie mit Ernst Lehmann aus Mannheim einer der profiliertesten Repräsentanten des badischen Sozialliberalismus vertreten.508 Auch bei den Rednern der Tagungen traten etliche eindeutig dem sozialpolitisch engagierten Liberalismus zuzuordnende Referenten auf. Neben Naumann, der außer im Wahljahr 1903 an allen Tagungen unter Harnacks Führung teilnahm und häufig als Debattenredner, Redner auf den Volksabenden sowie 1906 als Korreferent zu Gertrud Bäumers Referat über die Ziele der Frauenbewegung auftrat, sind etwa Gerhart v. Schulze-Gävernitz, Gottfried Traub, Ernst Francke, Heinrich Herkner, Otto Baumgarten und Adolf Deißmann zu nennen. Als Ernst Troeltsch 1904 in einem eng mit Harnack abgestimmten Vortrag über „Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft“ eine direkt aus dem Christentum abgeleitete politische Ethik ablehnte und als „Richtlinien“ der politischen Beurteilung all derjenigen, „die in den religiösen Gedanken des Christentums das Zentrum ihrer Lebensbeurteilung haben“ für eine „Verbindung des demokratischen Persönlichkeitsgedankens mit dem aristokratischen Erziehungs- und Ordnungsgedanken“ warb509, konnte Naumann dies unter starkem Beifall als Votum für den demokratischen Gedanken interpretieren, was sowohl Troeltsch als auch Martin Rade in dieser Eindeutigkeit zurückwiesen.510 507 VESK 14 (1903), 92; vgl. zu Pfannkuche Walter Kluge: August Pfannkuche. Sein Leben und Werk, Mehlbergen 1982; zu Deißmann Christian Nottmeier: Ein unbekannter Brief Max Webers an Adolf Deißmann, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft XIII (2000), 99–132. 508 Zu Wenck und Lehmann vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus (Anm. 397), 71f. (Wenck), 70f. und 102–110 (Lehmann). 509 Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft, in: VESK 15 (1904), 11–40, 13. 510 Vgl. die Diskussion über Troeltschs Vortrag in: aaO., 40–57.
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Wenngleich Harnack Troeltschs Rede als zu wenig eingebunden in die praktische Gesamtarbeit erschien, war sie der Sache nach gerade in ihrem Vermittlungsversuch durchaus programmatisch für Harnacks Mittelkurs.511 Dabei blieben politisch brisante Themen freilich nicht ausgespart. So wurde bereits 1903 in einem Referat Wagners über „Das soziale und ethische Moment in Finanzen und Steuern“ die Einführung der Erbschaftssteuer verlangt, eine weitere Erhöhung der insbesondere die Arbeiterschaft belastenden indirekten Steuern aber abgelehnt.512 In den großen Streiks von Crimmitschau 1904 und im Ruhrgebiet 1905 zeigte der Kongreß warme Sympathie für die Streikenden. Während sich 1904 das inzwischen zur Zeitschrift „Evangelisch-sozial“ umgestaltete Mitteilungsblatt des Kongresses auf eine ausführliche, den Streikenden überaus wohlwollende Berichterstattung beschränkte513, organisierte der Kongreß während des Ruhrstreiks von 1905 eine Geldsammlung zugunsten der Streikenden, kritisierte in einer von Harnack verfaßten Erklärung das Verhalten der Arbeitgeber und beklagte, daß man den streikenden Bergarbeitern das Recht, sich einheitlich zu organisieren, verweigere.514 Freilich stieß diese Stellungnahme auch innerhalb des Kongresses auf Widerspruch. Julius Kaftan, bisher Mitglied des Aktionskomitees, sprach sich ausdrücklich gegen diese Resolution aus.515 Nachdem Harnack die Position des Kongresses auf der Jahrestagung in Hannover 1905 nicht nur bekräftigt, sondern mit Schärfe jede Art von „Manchesterpolitik“ verurteilt und die Arbeitgeber einer „rücksichtlosen Interessenpolitik, die sich auch in den Mantel der Moral zu hüllen versteht“516, beschuldigt hatte, wechselte Kaftan vom Aktionskomitee in den erweiterten Ausschuß.517 Zugleich sorgte Harnack auf dieser Tagung für die Verabschiedung einer Resolution, die die „modernen Arbeiterorganisationen“ – also auch die freien Gewerkschaften – als „für unsere Wirtschaft notwendige und für unsere Kultur bedeutungsvolle Erscheinung“ beurteilte, die Rückständigkeit der Vereinsgesetzgebung kritisierte und eine erhebliche Verbesserung der rechtlichen Stellung der Arbeiterorganisationen über die Maßnahmen der nach dem Ruhrstreik verabschiedeten Bergwerksnovelle hinaus forderte.518 Wiederholt bekundete Harnack seine Sympathie für die mehrheitlich katholisch geprägten Christlichen Gewerkschaften, auch als Zeichen der 511
Harnack an Rade am 18.6.1904, in: BwR 544f. In: VESK 14 (1903), 10–29 (Vortrag) u. 30–45 (Diskussion). 513 Wilhelm Schneemelcher: Crimmitschau, in: EvS 1 (1904), 50–55. 175–199. 514 Die Resolution in: EvS 2 (1905), 2. Der Entwurf Harnacks in: Nl. Harnack, K. 21, Mappe ESK. Zur Resolution vgl. auch Wilhelm Schneemelcher: Der Kongreß und der Bergarbeiterstreik, in: EvS 2 (1905), 2–4. 515 Kaftan an Harnack am 24.1.1905, in: Nl. Harnack, K. 34, Korr. J. Kaftan. 516 Harnacks Eröffnungsrede in: VESK 16 (1905), 1–4, 1. 517 Kaftan an Harnack am 2.6.1905, in: Nl. Harnack, K. 34, Korr. J. Kaftan. 518 VESK 16 (1905), 78f. 512
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Überwindung eines „engherzigen Konfessionalismus.“519 Zwar habe der Kongreß sein Verhältnis zu diesen noch nicht endgültig klären können, doch „mir ist nicht zweifelhaft, daß eine abwartende Neutralität nicht ausreicht, daß wir vielmehr allen Grund haben, die christlichen Gewerkschaften in der Entwickelung, in der sie jetzt begriffen sind – nämlich sich streng auf ihre soziale Aufgabe zu beschränken – lebhaft zu begrüßen und diese Entwickelung lebhaft zu fördern, mögen wir politisch konservativ oder liberal, kirchlich frei oder gebunden sein.“520 Widerspruch wurde, was Harnacks Amtsführung der ersten Jahre betraf, allenfalls daran geübt, daß „der Kongreß nicht auch das Nationale in seinem Titel führt,“ wenngleich Harnack die nationale Aufgabe der Sozialreform in fast jeder seiner Eröffnungsreden betonte, „denn das Nationale versteht sich immer von selbst.“521 Dominant freilich waren Fragen von Weltpolitik und Nationalismus nicht. Ernst Troeltsch erklärte 1904 sogar ausdrücklich – unter namentlicher Nennung Naumanns, aber auch der Alldeutschen – seine Ablehnung des Nationalismus als „das letzte Wort einer politischen Ethik“, „der in einer Mischung romantischer Ideen vom Volksgeiste und demokratischer Auferweckung der Massen die europäischen Völker und Völkchen ergriffen hat und gegeneinander mit sinnlosem Dünkel aufhetzt.“522 Als auf der Tagung von 1907 Gerhart von Schulze-Gävernitz in seinem Vortrag die Nation neben der Religion zum höchsten Kulturwert erklärte523, protestierten Martin Rade und Ernst Troeltsch.524 Harnack griff in die Diskussion nicht ein, erklärte aber im folgenden Jahr ausdrücklich die Verbindung von Patriotismus und „Förderung der christlichen und universalen Humanität“ zu einem unverzichtbaren Bestandteil evangelisch-sozialer Programmatik.525 Insbesondere die erneute Heranführung Naumanns an den Kongreß stellte ein großes Verdienst Harnacks dar, das allerdings durch die 1903 erfolgte Auflösung des Nationalsozialen Vereins erleichtert wurde, fiel damit doch zumindest organisatorisch die Gefahr einer Identifikation von Nationalsozialen und ESK weg. Die Ära Harnack war somit auch eine Ära Naumann.526 Hinzu kam, daß Naumann Harnacks Interpretation der Aufgabe des Kongresses, im Zeichen der evangelischen Persönlichkeitsreligion auf die Gesinnungen einzuwirken, ausdrücklich gut hieß: „Erst im Laufe der Jahre schob sich neben das Evangelium des Erbarmens das Evangelium der 519
VESK 17 (1906), 3. VESK 18 (1907), 4. 521 Die 18. Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses zu Straßburg i. E., in: EvS 16 (1907), 53–55, 54. 522 VESK 15 (1904), 18. 523 Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Kultur und Wirtschaft. Die neudeutsche Wirtschaftspolitik im Dienste der neudeutschen Kultur, in: VESK 18 (1907), 12–32. 524 AaO., 54f. (Rade) bzw. 33–39 (Troeltsch). 525 VESK 19 (1908), 3. 526 So schon Goetz (Anm. 487), 45f. 520
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wollenden Persönlichkeit, und es ist der besondere Wert dieses Kongresses, daß der letztere dieser zwei Gedankenbestände in offenbarer Weise die Führung bekommen hat.“527 Rade schlug 1903, auch angesichts des Endes des Nationalsozialen Vereins, eine Konzentration der Kongreßarbeit im Sinne einer stärkeren propagandistischen Tätigkeit sowie eine Vernetzung mit der Volksbildungsbewegung, aber auch der Arbeit der „Freunde der Christlichen Welt“ vor, um die Wirksamkeit über die jährlichen Kongreßtagungen hinaus zu verbreitern.528 Harnack erklärte sich mit Rades freilich noch recht diffusen Vorschlägen ausdrücklich einverstanden, und Rade empfahl daraufhin, Naumann zum mit der Organisation beauftragten Vizepräsidenten des Kongresses zu wählen, auch um Harnack zu entlasten, denn „er hat jetzt Zeit dafür.“529 Dazu kam es dann allerdings nicht. Naumann schloß sich der Freisinnigen Vereinigung an, Rades Pläne, den Kongreß zu einem Netzwerk aller sozialpolitisch interessierten Vereinigungen im näheren und weiteren Umfeld des liberalen Protestantismus auszubauen, blieben unverwirklicht. Harnack selbst hielt sich für diese Aufgabe ungeeignet: „Ein Mann gehört an die Spitze, der dieser Sache etwas opfern kann, ein Stück seines Lebenswerks; es könnte auch ein ganzes Lebenswerk sein. Aber ich bin mit Geschäften u[nd] Arbeiten so geprügelt, daß ich die Zeit, die ich dem Kongreß habe widmen können, nur auf Kosten nothwendiger Erholung oder mit leichfertiger Hintansetzung übernommener Pflichten gewonnen habe.“530 Gleichwohl hatte Harnack neben der bereits geschilderten Vernetzung des ESK innerhalb des Gesamtspektrums bürgerlicher Sozialreform beachtliche Erfolge zu verzeichnen, wobei er besonders von dem seit 1902 als Generalsekretär amtierenden Pastor Wilhelm Schneemelcher, einem seiner persönlichen Schüler, unterstützt wurde.531 Intensiv pflegte Harnack die Kontakte zu wichtigen Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wie Gertrud Bäumer und Marie Martin, aber auch Alice Solomon und Marianne Weber, die 1907 auch ein Kongreßreferat übernahm. 1906 trat Lydia Stöcker vom Deutschen Verein für Frauenstimmrecht mit einem freundlich aufgenommenen Grußwort auf dem Kongreß auf.532 Enge Kontakte bestanden zum Bund der Bodenreformer um Adolf Damaschke.533 Ferner 527 Friedrich Naumann: Der evangelisch-soziale Kongreß in Strassburg, in: Hilfe (1907), 340f. 528 Rade an Harnack am 5.7.1903, in: BwR 515–517; vgl. auch ChW 17 (1903), 666f. 529 Rade an Harnack am 8.7.1903, in: aaO., 518. 530 Harnack an Rade am 7.7.1903, in: aaO., 517. 531 Vgl. zum Verhältnis Schneemelchers zu Harnack Schneemelcher an Harnack am 6.6.1902, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schneemelcher. 532 VESK 17 (1906), 113f. 533 Vgl. die jährlichen Grußworte von Vertretern des Vereins, etwa in: aaO., 114f.; zum Verhältnis Harnacks zu Damaschke vgl. auch Harnacks Brief vom 17.2.1928 an diesen, abgedruckt in: Bodenreform 39 (1928), 66.
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wurde das bisher karge Mitteilungsblatt des Kongresses 1904 in eine veritable sozialpolitische Zeitschrift mit dem Titel „Evangelisch-sozial“ verwandelt, die zunächst alle zwei Monate, ab 1909 dann monatlich erschien.534 Auch die Mitgliederzahl des Kongresses erhöhte sich kontinuierlich: 1902 waren 749 Mitglieder eingetragen, 1903 lag die Zahl bereits bei etwa 830, 1907 bereits bei 1275, 1911 dann bei 1631. Ihren Höchststand erreichte sie unter dem Präsidium Otto Baumgartens mit 1919 Mitgliedern 1914.535 Unbestritten blieb die Kompetenz des Kongresses als weithin beachtete Repräsentation der „gebildeten Kreise[] des protestantischen Deutschlands“, wie Naumann 1906 feststellte, der als ideellen Zusammenhalt des Kongresses die gemeinsame Überzeugung bestimmte, daß der „Protestantismus nicht als Kirchenmacht, nicht als Pietismus, nicht bloß als innerer Mission, sondern als Kulturmacht zur Anerkennung der Menschlichkeit“ Wesentliches beitrage.536 Die Kompetenz des Kongresses ist unschwer an dem Presseecho der einzelnen Tagungen in den wichtigsten deutschen Tageszeitungen – einschließlich der sozialdemokratischen – ablesbar.537 Der Erleichterung über den Aufschwung des Kongresses, der doch 1902 scheinbar kurz vor dem Ende gestanden hatte, gab Generalsekretär Schneemelcher beredten Ausdruck. Immer wieder, so schrieb er an Harnack, erreichten ihn „Stimmen der Freude“ über dessen Amtsführung: „Weithin wird als Wohltat empfunden, daß die Zeit der ängstlich abwartenden Vorsicht, die am liebsten nur aus dem Fenster sieht, nicht aber ins Leben hineinschreitet, nun vorüber ist.“ Das zeige sich etwa auch an der Haltung des Kongresses zum Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet.538 Dennoch blieben auch in den ersten Jahren der Präsidentschaft Harnacks etliche Probleme bestehen. Das Verhältnis zu den staatlichen Behörden, besonders in Preußen, war weiterhin angespannt, allein die Breslauer Tagung 1904 machte ein Ausnahme. 1906 erhielt der Kongreß erstmals ein freundliches Grußtelegramm vom Staatssekretär des Reichsamts des Inneren, Arthur von Posadowsky-Wehner.539 Dieser sei, so vermutete Naumann, „auf die Sterbeliste der Konservativen gesetzt worden“ und darum bemüht, „sich weiterhin als sozialpolitisch interessiert zu charakterisieren.“540 1907 grüßte 534
Goetz (Anm. 487), 1902–1918, 51f. sowie EvS 13 (1904), 1f. Die Angaben nach den jeweiligen Jahresberichten des Generalsekretärs. 536 Friedrich Naumann: Rede auf dem Begrüssungsabend der Jenaischen Tagung, in: EvS 3 (1906), 89–97, 91f. 537 Ausführliche Übersichten über die Presseberichte bieten die unmittelbar nach den Jahrestagungen erschienenen Hefte von Evangelisch-sozial. 538 Schneemelcher an Harnack am 29.1.1905, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schneemelcher. 539 VESK 17 (1906), 117. 540 Friedrich Naumann: Der evangelisch-soziale Kongreß, in: Hilfe 12 (1906), Nr. 24, 2f. 535
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Posadowsky nochmals als Innenamtschef.541 Nach seinem Abschied blieb er dem Kongreß verbunden, 1908 und 1910 jeweils mit von Harnack verlesenen Grußtelegrammen, 1909 sogar als Referent.542 Ein Indiz für die Haltung der Reichsleitung waren die Berichte der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ über die Kongreßtagungen. Noch 1905 überwog hier die Ablehnung. Der Kongreß, so ihr Kommentar, solle sich auf religiöse und sittliche Fragen beschränken, doch statt dessen biete er unter Harnacks Führung jene „Verquickung von Religion und Politik, die in dem nun glücklich überstandenen Nationalsozialismus so wenig anmutige Blüten trieb.“543 Wenngleich 1907 das Urteil dann etwas milder ausfiel, so gehörte die „Norddeutsche Allgemeine“ doch zu den schärfsten Kritikern des Kongresses. Ähnliche Bindungen an den Kongreß wie Posadowsky-Wehner entwickelte keiner seiner Nachfolger im für die Sozialpolitik zuständigen Reichsamt des Inneren. Schwerer noch wog, daß trotz des unübersehbaren Aufschwungs die Hauptarbeit auf den Schultern Harnacks sowie des überaus emsigen Schneemelcher lag. Harnacks Klagen über seine Arbeitsbelastung waren 1904 zeitweise so groß, daß Rade gegenüber Delbrück gar einen neuen Präsidenten erwog: „Wenn aber sich nun herausstellt, daß Harnacks Kraft u. Leistung unter dieser Last zu sehr bricht, so gilt es eben, den Tatbestand wieder zu ändern! Dann haben wir eben geirrt, da wir ihn drängten das Amt zu übernehmen, u. müssen ihn wieder davon frei machen.“ Eine Auflösung des Kongresses sei aber nicht möglich: „das wird Harnack nicht wollen u. das darf man ihm nicht zumuten.“544 Noch einmal bei der Übernahme der Generaldirektion der Königlichen Bibliothek 1905 erwogen Harnack und Rade einen Wechsel im Präsidentenamt, der dann gleichfalls nicht erfolgte.545 Es sprach für Harnacks reges Interesse am ESK, daß er über 1905 hinaus im Amt blieb, freilich angesichts der eigenen Arbeitsbelastung über die Vorbereitung der Tagungen hinaus kaum Aufgaben übernehmen konnte. Auch Schneemelcher, für den der Kongreß zunehmend zur Lebensaufgabe wurde, verfügte nur über begrenzte Möglichkeiten, übte er sein Amt doch neben seinem Pfarramt aus. Das Aktionskomitee erwies sich für die Arbeit des Kongresses ebenso wie der Ausschuß als wenig effektiv: „Daß eine Einrichtung, die lebendig sein soll, seit 18 Jahren in den Händen fast derselben Oligarchie liegt, ist ein schwerer Mißstand. Sie leistet so gut wie nichts mehr, u[nd] kann es auch 541
VESK 18 (1907), 90. Luxus und Sparsamkeit, in: VESK 20 (1909), 12–23. 543 NAZ vom 18.6.1905, zitiert nach EvS 2 (1905), 160. 544 Rade an Delbrück am 10.2.1904, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Rade. 545 Rade an Harnack am 29.4.1905 bzw. Harnack an Rade am 5.5.1905, in: BwR 572–575. Rade brachte Gottfried Traub als möglichen Nachfolger ins Gespräch, was bei Harnack allerdings auf Bedenken stieß. 542
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nicht, da diese Männer zwischen 50 u[nd] 60 Jahre alt, alle mit Pflichten i[n] d[er] Großstadt gespickt sind. Was ich vor 6 Jahren befürchtet habe, ist trotz allen guten Willens eingetreten: Alles liegt auf Schneemelcher u[nd] mir oder fast Alles.“546 Tatsächlich war der Personenkreis, der den Kongreß am Leben erhielt, außerordentlich klein: Harnack, Schneemelcher, Rade und einige wenige andere. Harnack selbst bejahte in einem Interview 1911 die Feststellung, daß er in seiner Tätigkeit als Sozialreformer kaum die Gesamtheit der Theologischen Fakultäten Deutschlands repräsentiere und fügte hinzu, daß es dort „etwa ein halbes Dutzend“ an Professoren seien, „die das packende dieser Probleme und auch die zwingende Notwendigkeit, uns persönlich in den Dienst der Lösung dieser schwierigen Aufgaben zu stellen, empfinden.“547 Die geringe dauerhafte Unterstützung des Kongresses, der auf wenigen Schultern ruhte, spiegelte damit auch ein gewisses Unvermögen des liberalen Protestantismus zu dauerhafter Kirchenpolitik wider. „ Ja auch unsere Besten – und gerade sie – sind Einspänner“, formulierte Harnack mit Blick auf Troeltsch: „In eine Kette will Niemand sein Eigenes einknüpfen.“548 Angesichts der begrenzten Bereitschaft zu dauerhaftem Engagement sowie der letzthin äußerst schmalen Palette an Führungspersönlichkeiten wurden Diskussionen um einen Wechsel im Präsidentenamt schnell zu Krisen des Kongresses insgesamt, die Diskussionen um seine Existenzberechtigung auslösen mußten. Hinzu kam die grundsätzliche Frage nach Art, Umfang und Bedeutung staatlicher Sozialpolitik, aber auch der Reichweite von Kathedersozialismus und gouvernementaler Gelehrtenpolitik. Insofern war es kein Zufall, daß der Zeitpunkt, zu dem die Flügelunterschiede im Kongreß ab etwa 1907 wieder zunahmen, mit grundsätzlichen, weit über wissenschaftstheoretische Detailfragen hinausgehenden Debatten wie beispielsweise dem Werturteilsstreit im Verein für Sozialpolitik, aber auch zunehmendem Unbehagen in Teilen der jüngeren Generation an der grundsätzlichen Richtigkeit der Sozialpolitik549 oder aber einer sozialpolitischen Radikalisierung – etwa in Richtung der Schweizer Religiös-sozialen – einhergingen, wie sie sich etwa in Teilen der Sächsischen Evangelisch-sozialen Vereinigung zeigte. Harnack hatte durchaus erkannt, daß gerade der Bülow-Block durch die Kooperation mit den Konservativen eine Hemmung der staatlichen Sozialpolitik bedeuten konnte und vor dieser Gefahr bereits 1907 und dann erneut 1908 gewarnt. Sensibel registrierte Harnack einen Stimmungsumschwung gerade in der jüngeren Generation, in der „der Gedanke der sozialen Pflicht 546 547 548 549
Harnack an Rade am 19.1.1908, in: BwR 607. ChW (25) 1911, 755. Harnack an Rade am 18.6.1904, in: BwR 545. Vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 294–320.
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nicht mehr die selbe Werbekraft besitzt wie früher. Ein Individualismus, ein Recht auf das ‚Ich‘, auf das ‚sich Ausleben‘ entwickelt sich unter uns in engem Zusammenhang mit einer müden und ironischen Romantik, in deren Katechismus sich die Pflichten für das Gemeinschaftliche nicht mehr finden.“ Diese Romantik könne neben anderen schweren Folgen letztlich die individuelle Freiheit selbst bedrohen, indem sie „die Anspannung der äußeren Autorität und subalterne Gehorsamkeitsforderung als Gegenschlag notwendig hervorruft.“550 Harnack reagierte darauf mit der Forderung, daß „nicht sowohl mehr Sozialismus im äußeren Sinn des Wortes, in den Einrichtungen, sondern mehr Sozialismus – daß ich so sage – des Herzens, des Verkehrs von Mensch zu Mensch, des Gemeinsinns und einer freien und erwärmenden Humanität“, erforderlich sei. Das war ein Votum für eine erneute Stärkung der sittlich-religiösen Komponente der Kongreßarbeit, die Persönlichkeitsgedanken und soziales Verantwortungsgefühl untrennbar miteinander verband – parallel zu Gustav Schmoller, der im Verein für Socialpolitik gleichfalls auf die zunehmenden Widerstände mit einer Profilierung der wissenschaftlichen Sacharbeit seiner Organisation zu reagieren und die praktische Sozialpolitik der Gesellschaft für soziale Reform zuzuweisen versuchte.551 Zwar wurden weiterhin im engeren Sinn sozialpolitische Fragen behandelt – 1909 etwa die Gewerkschaftsfrage552, 1911 die Landflucht553 und 1912 die Wohnungsfrage554 –, aber die weltanschaulichen, bildungspolitischen, historischen und sozialethischen Themen nahmen noch einmal zu, wenn auch zu teilweise kontroversen Themen, etwa der Mädchenschulreform, die Harnack während der entscheidenden Beratungen im späten Frühjahr 1908 auf dem Kongreß behandeln ließ. Daneben standen Vorträge wie „Kirche und Arbeiterstand“ (Paul Drews)555, „Christliche Religion und sozialistische Weltanschauung“ (Georg Liebster)556, „Kultur und Wirtschaft“ (Gerhart von Schulze-Gävernitz) 557, „Die Schule als Faktor der sozialen Erziehung“ (Karl Muthesius und Margarete Henschke)558, „Religion und Bildung“ (Friedrich Naumann)559, „Käuferpflichten“ (Heinrich Herk-
550
VESK 19 (1908), 2. Vgl. vom Bruch: Sozialreform (Anm. 487), 121f. 552 Wilhelm Schneemelcher/Gottfried Traub: Geistige Strömungen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in: VESK 20 (1909), 42–79. 553 Hugo Thiel/Johannes Ebel: Die Landflucht, in: VESK 22 (1911), 50–69. 554 Rudolf Eberstadt/Robert Schmidt: Die Wohnungsfrage in den Städten, in: VESK 23 (1912), 105–129. 555 VESK 20 (1909), 106–129. 556 VESK 21 (1910), 13–29. 557 VESK 18 (1907), 12–32. 558 VESK 22 (1911), 97–144. 559 VESK 23 (1912), 62–80. 551
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ner)560, „Luxus und Sparsamkeit“ (Arthur Graf von Posadowsky-Wehner)561, „Das Urchristentum und die unteren Schichten“ (Adolf Deißmann)562, „Individualismus und Staatssozialismus“ (Leopold von Wiese/ Martin Rade)563 oder „Wie lassen sich die sittlichen Ideale des Evangeliums in das gegenwärtige Leben überführen?“ (Arthur Titius)564. Hinzu kam die sich verstärkende und durch einige jüngere Nationalökonomen wissenschaftlich untermauerte Kritik an „unerwünschten Folgen der Sozialpolitik“ – so der Titel eines 1912 erschienen Buches des Nationalökonomen Ludwig Bernhard.565 Bernhard – von Delbrück und insbesondere von Harnack, der eng mit Bernhards Vater befreundet gewesen war, bisher protegiert566 – hatte seit 1906 dem Aktionskomitee des Kongresses angehört, aus dem er wohl nicht nur wegen seiner veränderten sozialpolitischen Haltung, sondern auch wegen seiner nicht enden wollenden Konflikte mit den Berliner Fakultätskollegen Schmoller und Sering 1911 ausscheiden mußte.567 1910 und 1911 kulminierten diese Konflikte gar in einer Duellforderung Bernhards, so daß selbst der bislang um Vermittlung bemühte Harnack resignierte.568 Hinzu kam gerade bei Harnack, aber auch bei Delbrück, eine erneute Verschärfung der Gegnerschaft gegenüber den Sozialdemokraten, nachdem sich die Hoffnungen auf eine Stärkung des partiell für bündnisfähig eingeschätzten revisionistischen Flügels um Bernstein und Vollmar nicht erfüllt hatten, sondern der Revisionismus auf dem Dresdener Parteitag 1903 offiziell verworfen worden war. Unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1905 billigte der Parteitag in Jena dann gar mit großer Mehrheit den Massenstreik als eine mögliche politische Aktion.569 Harnack spielte auf dem 1906 gleichfalls in Jena stattfindenden Kongreß ausdrücklich auf diesen Beschluß an und warf der Sozialdemokratie vor, „durch ihr unpatriotisches und negatives Verhalten an ihrem Teile das alte Regime“ nur zu bestärken, 560
VESK 21 (1910), 52–64. VESK 20 (1909), 12–23. 562 VESK 19 (1908), 8–28. 563 VESK 23 (1912), 13–43. 564 VESK 22 (1911), 11–30. 565 Ludwig Bernhard: Unerwünschte Folgen der Sozialpolitik, Berlin 1912. 566 Vgl. die umfangreichen Briefwechsel Bernhards mit beiden in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. L. Bernhard, bzw. SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Bernhard. Harnack war eng mit Bernhards Vater, dem Fabrikanten Leopold Bernhard befreundet gewesen, dem er auch die Grabrede hielt, vgl. Zum Gedächtnis an Leopold Bernhard, o.O., o.J. (Berlin 1907). Zu seinem persönlichen Verhältnis zu dessen Sohn Ludwig, den „ich seit seiner Gymnasiastenzeit als Nachbarskind [kenne] und ihn nie aus den Augen verloren habe, auch einigen Einfluß auf seinen Bildungsgang gehabt“ habe, vgl. Harnack an Schmoller am 25.5.1909, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 201 a, Bl. 103–105. 567 Vgl. Goetz (Anm. 487), 45. 568 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 130–132. 569 Vgl. als Überblick Nipperdey (Anm. 346), 554–572. 561
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indem sie so dazu beitrüge, daß „national gesinnte und patriotische Männer sich voll Ekel abwenden und kein Wort von neuen sozialen Forderungen in der nächsten Zeit mehr hören wollen.“ Gleichwohl warnte er eindringlich vor dieser Konsequenz: „Wir begreifen das, aber wir können es nicht billigen. Es hat noch viel zu viel zu geschehen. Die Sache ist viel zu groß und geht uns Alle viel zu sehr an, als daß wir sie aus den Händen lassen dürften, mag sie auch noch so beschrieen werden.“570 1910 schloß er in Chemnitz ausdrücklich Kompromisse mit der Sozialdemokratie zum derzeitigen Zeitpunkt aus, da sie weder vom „sittliche[n] Geist des Evangeliums“ etwas wissen, noch den Staat „wie er geschichtlich geworden ist und uns das Vaterland selbst bedeutet“, gelten lassen wolle.571 Im Verlauf dieser Tagung, bei der auch etliche Funktionäre der in Chemnitz dominierenden SPD anwesend waren, kam es zudem zu einem Zusammenstoß zwischen Harnack und dem Redakteur der sozialdemokratischen „Chemnitzer Volksstimme“, Ernst Heilmann. Dieser warf Harnack vor, ihn in seiner Zeit als Rektor der Berliner Universität wegen politischer Betätigung disziplinarisch belangt zu haben.572 Harnack reagierte empört und sprach Rade gegenüber gar davon, niemals mehr einem Sozialdemokraten antworten zu wollen: „Es ist eine schmutzige Gesellschaft“573, eine Formulierung, die er nach Rades Protesten freilich umgehend relativierte.574 Schwerer wog, daß Harnack sich insbesondere vom linken Flügel der jüngeren Evangelisch-sozialen in der Auseinandersetzung nicht mehr ausreichend unterstützt fühlte. Dahinter verbargen sich konzeptionelle Differenzen. Zwar gab er die Hoffnung auf eine „innere Evolution“ der Sozialdemokratie keinesfalls auf575, auch blieb er bei seinem Standpunkt, der „nicht auf Repressalien, sondern Reformen und Freiheit geht“576, aber: „Von der Sozialdemokratie als Partei müssen wir unsere Finger lassen“, was nicht davon entbinde, auch weiter auf eine „Demokratisirung unserer Gesellschaft“ hin570
VESK 17 (1906), 2. VESK 21 (1910), 3. 572 Der Artikel Heilmanns in: Chemnitzer Volksstimme Nr. 112 vom 19.5.1910; Harnacks Zurückweisung der Vorwürfe auf dem Kongreß in: VESK 21 (1910), 12f.; Heilmanns erneute Reaktion in: Chemnitzer Volksstimme Nr. 113 vom 20.5.1910, auch in: EvS 7 (1910), 177f.; eine ausführliche erneute Stellungnahme Harnacks in: aaO., 178–180. Harnack bestätigte darin, Heilmann 1901 gerügt zu haben, widersprach aber der Darstellung Heilmanns, es habe sich um aktenkundige Verweise gehandelt. Tatsächlich weist Heilmanns Abgangszeugnis der Berliner Universität keinen entsprechenden Vermerk auf. Heilmann stieg nach 1918 zum Fraktionsvorsitzenden der SPD im preußischen Landtag auf. 573 So die Wiedergabe Rades am 22.7.1910 in der Reaktion auf einen nicht erhaltenen Brief Harnacks, in: BwR 654. 574 Harnack an Rade am 23.7.1910, in: aaO., 655. 575 Harnack an Rade am 11.6.1910, in: aaO., 650. 576 Harnack an Rade am 31.5.1910, in: aaO., 646. 571
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zuwirken.577 Mit Blick auf die „sächsische Pastorengruppe“, die ähnlich wie Harnack auch von Rade als Ausdruck des Verlangens eines Teils der jüngeren Generation nach stärkerem Handeln anstatt des Theoretisierens gedeutet wurde, stellte der Kongreßpräsident die Frage, „ob unser mir sehr wertvoller linker Flügel mich überhaupt als Vorsitzenden noch will. Sie mögen von ihrem Standpunkt mit Recht wünschen, daß temporis progressu eine schärfere Tonart erwünscht ist.“578 Neben der Verschärfung des Gegensatzes zur Sozialdemokratie war es auch die immer stärker werdende gouvernementale und honoratiorenpolitische Ausrichtung der Kongreßführung Harnacks, die nicht nur dem linken Kongreßflügel Anlaß zur Kritik bot. Die Kritik von links wurde auf der Chemnitzer Tagung besonders durch den Vortrag des sächsischen Pfarrers Georg Liebster sowohl sozialpolitisch als auch theologisch formuliert. Friedrich Naumann fühlte sich dabei gar an seine eigenen Anfänge erinnert, gestand aber zugleich, Liebsters These, die Religion des Massenmenschen müsse einfach und dogmatisch sein, theologisch mit Harnack ablehnen zu müssen, auch wenn sie in Teilen der sozialpolitischen Arbeit begrenzt gerechtfertigt sei.579 Die konservativere Ausrichtung der Präsidentschaft Harnacks in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit hing zunächst mit der gouvernementalen Einbindung des Linksliberalismus in den Jahren des Bülow-Blocks zusammen. Sie betraf somit weite Teile des Kongresses einschließlich Naumanns, setzte sich aber auch nach dem Bruch des Blocks 1909 insofern fort, als Harnack, offensichtlich aus Einsicht in die zunehmenden Schwierigkeiten, auf die eine Fortführung der Sozialpolitik stieß, auch die bestenfalls zaghaften Anstrengungen unter Reichskanzler von Bethmann Hollweg und dessen Innenstaatssekretär Clemens von Delbrück gegen die Kritik von rechts verteidigte, weniger aber auf deren Unzulänglichkeiten einging. Das zeigte sich insbesondere an Harnacks Kommentaren zu den Arbeiten an der 1911 verabschiedeten Reichsversicherungsordnung (RVO), deren erste Entwürfe noch in die Kanzlerschaft Bülows zurückreichten. 1909 begrüßte Harnack den ersten Entwurf der RVO580, und auch im folgenden Jahr wies er auf die Bedeutung dieses Vorhabens hin, dessen bevorstehende Verwirklichung ein Sieg der bürgerlichen Sozialreformer darstellte: „Die Schlachten sind geschlagen, der Sieg ist gewonnen.“ Im Rückblick auf die große Kontroverse um die Berechtigung umfassender Sozialpolitik zwischen Schmoller und Treitschke Anfang der 1870er Jahre konstatierte Harnack, daß diesen Streit „die Geschichte mit unmißverständlicher Deutlichkeit zu 577
Harnack an Rade am 11.6.1910, in: aaO., 650. Harnack an Rade am 31.5.1910, in: aaO., 646. 579 Friedrich Naumann: Die Industrialisierung des Christentums, in: Hilfe 16 (1910), 328f. 580 VESK 20 (1909), 2f. 578
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Gunsten Schmollers entschieden“ hat.581 Ungeachtet der kaum zu bestreitenden Erfolge gerade Schmollers und des Vereins für Sozialpolitik sprach aus Harnacks Worten – der sogleich als neue Aufgabe auf die Bewahrung der Individualität innerhalb der neuen Organisation von Arbeit und Gesellschaft überleitete – mehr die Beschwörung der Vergangenheit als greifbare Erfolge der unmittelbaren Gegenwart. Die RVO wurde erst nach heftigen Auseinandersetzungen 1911 verabschiedet. Auch wenn sie die verschiedenen Zweige der Sozialversicherungen abrundete, den Kreis der Berechtigten noch einmal ausweitete sowie eine parallele Angestelltenversicherung schuf und damit einen bedeutenden Reformschritt markierte, so blieb sie doch insgesamt hinter den Erwartungen gerade vieler bürgerlicher Sozialreformer zurück. Die Gesellschaft für soziale Reform etwa votierte nur deshalb für die Annahme, weil gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen nicht mehr zu erreichen war.582 Harnack kritisierte in seiner Eröffnungsrede 1911 einzelne Unzulänglichkeiten, etwa die Begrenzung des Wöchnerinnenschutzes, und ließ deutliche Sympathien für das zur gleichen Zeit in England erarbeitete Sozialversicherungsgesetz erkennen.583 Auf die konservativen Gegner der RVO zielte der Hinweis, daß durch die Übernahme des deutschen Versicherungssystems etwa in England mitnichten die deutsche Wettbewerbsfähigkeit gefährdet werde. So wenig dies freilich die v. a. von Unternehmerseite geäußerte Kritik entkräftet haben dürfte, so wenig konnte Harnack diejenigen innerhalb des Kongresses, denen die RVO nicht weit genug ging, mit dem Hinweis auf die Kritik eines Bauherrn an den Unzulänglichkeiten des fertiggestellten Baus seines Architekten zufrieden stellen: „Glaube mir, solch einen Bau hinzustellen und wirklich fertig zu machen, ist immer eine Tat, die zu rühmen ist, wenn er auch erheblich hinter dem Ideal zurückbleibt.“584 Das Presseecho zeigte sich denn auch gespalten. Daß der „Deutschen Industriezeitung“ Harnacks Worte zu weit gingen, war zu erwarten, ebenso auch, daß der Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ihm fehlende „Erkenntnis der Größe der sozialdemokratischen Gefahr“ vorwarf. Das liberale „Berliner Tageblatt“ begrüßte zwar Harnacks Widerlegung „eines der beliebtesten Argumente jeder tatkräftigen Sozialpolitik“, kritisierte aber seine Beurteilung der RVO: „Alles was Professor Harnack zu diesem Thema sagte, war ungewöhnlich schwach. […] Aber was haben denn alle solche
581
VESK 21 (1910), 2. Ratz: Sozialreform (Anm. 488), 154–161. 583 Vgl. Gerhard A. Ritter: Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983. 584 VESK 22 (1911), 3f, 4. 582
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Einwände für einen Sinn und Zweck, wenn Herr Harnack das Gesetz in seiner Totalität schließlich doch akzeptiert?“585 Gewichtiger als das Presseecho war allerdings, daß selbst ein Mann der nationalliberalen Mitte wie Otto Baumgarten Harnacks Danziger Eröffnungsrede von 1911 kritisierte, und zwar nicht wegen der sozialpolitischen Äußerungen – hier hatte Baumgarten sich nach den Vorfällen des Chemnitzer Kongresses sowohl öffentlich als auch brieflich ganz hinter Harnack gestellt und namentlich den Vortrag Liebsters abgelehnt586 –, sondern wegen der Erwähnung des Kaisers. Harnack hatte in geradezu überschwenglichen Worten die Bedeutung des Kaisers für Volk und Staat zum Ausdruck gebracht und damit offensichtlich seine positiven wissenschaftspolitischen Erfahrungen im Zusammenhang mit der KWG-Gründung auf die allgemeine Politik übertragen. Eine Zustimmung zu Harnacks Worten, so Baumgarten, „wäre wohl zu wünschen, ist aber für die Mehrzahl von uns, die nichts von der Sonne allerhöchster Gunst erfahren haben, unerschwinglich, ‚jedesmal, wenn wir von Volk und Staat sprechen, auch ehrfürchtig des Kaisers zu gedenken‘, da wir beide in vielen Punkten im Gegensatz zu sehen gewöhnt sind. Wir sind leider ‚durch den Gang unserer Geschichte‘ gerade im letzten Jahre nicht ‚aufs festeste und im Herzen mit ihm verknüpft.‘ Es gehört vielmehr zu unsern schwersten nationalen Nöten, daß wir es nicht unterschreiben können, was der bevorzugte Kaiser an seinen Lieblingswerken gewiß ehrlich von sich sagen kann: ‚Wir haben das Glück, daß uns seine Persönlichkeit ebenso verehrungswürdig ist wie seine Person, er selbst so teuer wie sein Amt!‘ […]. Aber auch der Mehrheit des Kongresses durfte m. E. die Zustimmung hierzu nicht abverlangt werden. Hat denn der Kaiser je seine Abneigung gegen christlich-sozial = Unsinn korrigiert?“587 Daß diese Kritik ausgerechnet im Jahr 1911 aufkam, obwohl Harnacks gute Beziehungen zum Kaiser schon lange bekannt und er bisher weder im Rahmen der „Freunde der Christlichen Welt“ noch des Kongresses deswegen kritisiert worden war, ist mit der Übernahme der Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu erklären, in der sich Harnacks Name auch institutionell mit dem des Kaisers als deren Namensgeber und Protektor verband. Das dürfte auch die „seltene Wärme“ der Begrüßungen des Kongresses ausgerechnet im westpreußischen Danzig nicht nur durch städtische Honoratioren, sondern ebenso durch Vertreter der konservativ dominierten staatlichen Provinzialverwaltung sowie des königlichen Konsistoriums der Provinzialkirche erklären, auf die Harnack mit einer „alle Spitzen zusammenfassenden und zugleich abstoßenden Dankrede“ reagierte, auf deren „technisch-rhetorischen Hochgenuß“ Baumgarten dennoch gerne ver585 Zitiert nach EvS 8 (1911), 268 (Deutsche Industriezeitung) bzw. 278 (Korrespondenz des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie) und 271 (BT vom 8.6.1911). 586 Baumgarten an Harnack am 8.7.1910, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Baumgarten. 587 Otto Baumgarten: Kirchliche Chronik, in: EvF 11 (1911), 358f.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
zichtet hätte.588 Ebenso erklärt Harnacks neues Amt, das ihn in enge und nicht immer unproblematische Kontakte zu der dem Kongreß weithin ablehnend gegenüberstehenden rheinisch-westfälischen Schwerindustrie gebracht hatte589, seine 1910 und 1911 gegenüber den vorangegangenen Tagungen deutlich verhaltenere Kritik an den Gegnern der Sozialreform. Eine Stellungnahme wie die von 1905 zum Ruhrstreik war von Harnack mit Rücksicht auf sein zum Interessenausgleich nötigendes Amt in der KWG kaum noch zu erwarten. In der Sozialpolitik bedeutete die KWG-Präsidentschaft damit auch eine Einbindung Harnacks in die gouvernementale Elite des wilhelminischen Systems – insofern war die Adelung 1914 eine mehr als symbolische Geste –, die ihm Kritik zumindest erschwerte und ihn in gewissem Ausmaß politisch neutralisierte. Daß Harnack auf Baumgartens Kritik anders als 1910 nicht reagierte, weder diesem gegenüber, noch in Briefen an Rade oder andere enge Mitarbeiter, mag ein Indiz dafür sein, daß er sie als nicht ganz unberechtigt angesehen hat. Während der Danziger Tagung von 1911 war dem Führungszirkel des ESK und damit auch Baumgarten allerdings längst bekannt, daß Harnack wegen der Übernahme der Präsidentschaft der KWG auf seinen Abschied drängte. Er hatte diese Absicht bereits in der Sitzung von Aktionskomitee und Ausschuß am 14. Dezember 1910 mitgeteilt: Seine „vielfache Arbeitsüberlastung“ mache es ihm unmöglich, „für den Kongreß das zu thun, was geschehen müßte.“ Als mögliche Nachfolger nannte Harnack neben Troeltsch und Rade den Kieler Theologen Arthur Titius sowie Hermann von Soden, der allerdings sogleich abwinkte. Daß Harnacks Rückzug eine neue Krise des Kongresses bedeutete, markierte Naumanns Votum, in dem er Harnack bat: „Suche Dir alle Entlastung, aber bleibe mit deinem Namen, sonst geht es schlimm“ 590 – ein Indiz dafür, daß Naumann nicht zum Kreis der Harnack-Kritiker gehörte. Rade wollte die Lage nicht als „so schwarz ansehen.“ Im folgenden konzentrierte sich die Diskussion auf die Namen Titius und Troeltsch, wobei gegen letzteren aber besonders bei ehemaligen Nationalsozialen wie Naumann und Deißmann Bedenken geäußert wurden. Er habe Zweifel, so Naumann, „ob das Soziale bei Troeltsch in unserem Sinn vorhanden ist.“ Baumgarten sekundierte – „er ist Sozialaristokrat“ –, während Rade mit Nachdruck für Troeltsch eintrat. Eine Einigung konnte allerdings nicht erzielt werden, so daß Harnack die Diskussion abbrach und erst bei der an die Danziger Tagung 1911 anschließenden Sitzung vom 6. Juni wieder auf das Thema zu sprechen kam. Erneut legte er seine Rücktritts588
AaO., 359. Daß Harnack mit führenden Industriellen wie Krupp und Duisberg „auf vertrauten Fuße“ stand (Nowak: Sozialpolitik [Anm. 487], 88) ist erst im Zuge der Verhandlungen über die Gründung der KWG ab 1910 nachweisbar. Auch blieb das Verhältnis in den Folgejahren nicht frei von Spannungen. 590 Vgl. das Protokoll in: ESK-Archiv, A I 2 (unpag.), dort die weiteren Zitate. 589
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gründe dar und betonte, daß mehr für den Kongreß geschehen müßte, auch seien die Unterschichten „noch nicht in die freudige Arbeit eingebunden.“ Mit Nachdruck setzte er sich nun für Troeltsch ein, der 1912 auch „ein soziales Buch bringen“ werde.591 Titius und Delbrück dagegen votierten, allerdings ohne Erfolg, für die Auflösung. Sodann wurden Lösungen diskutiert, die auf ein von Troeltsch offensichtlich zur Bedingung einer Annahme gemachtes Doppelpräsidium hinausliefen, das neben Troeltsch mit Posadowsky-Wehner oder Schulze-Gävernitz besetzt werden sollte, wobei man sich auf letzteren einigte und Harnack beauftragte, entsprechende Verhandlungen zu führen.592 Troeltsch blieb allerdings zögerlich und erklärte, besser als er seien Politiker wie Posadowsky oder Berlepsch geeignet, er selbst könne dann zweiter Präsident werden.593 Offensichtlich machte Harnack weiterhin Bedenken gegen eine Doppellösung geltend und drängte Troeltsch zur alleinigen Übernahme des Kongresses. Unmittelbar vor der entscheidenden Sitzung vom 30. November 1911 lehnte dieser aus arbeitstechnischen, v. a. aber aus prinzipiellen Gründen ab, die auch eine Absage an Harnacks überparteiliches Führungskonzept bedeuteten: „Ich glaube überhaupt, daß die soziale Bewegung wieder hinter der politischen zurücktritt u. daß auch für alle sozialen Dinge die Erschütterung der Machtstellung der Konservativen im preußischen Abgeordnetenhaus die Voraussetzung ist.“594 Inzwischen hatte Schneemelcher, für den Troeltschs Absage nach einem persönlichen Gespräch nicht unerwartet kam, Baumgarten geschrieben und diesen mit Nachdruck gebeten, im Falle einer Anfrage das Amt zu übernehmen: „Harnack – das weiß ich – würde sich über Ihr Präsidium sehr freuen, ebenso Rade. Beide plädieren für Troeltsch oder Baumgarten.“595 Baumgarten erklärte am 30. November seine Bereitschaft zur Zusage im Falle einer Anfrage, auch wenn er sich „nicht für einen geeigneten Ersatz Harnacks“ halte.596 Am 1. Dezember erfolgte dann die Wahl Baumgartens durch Aktionskomitee und Ausschuß, nachdem Harnack sich bereit erklärt hatte, auf der nächsten Jahrestagung in Essen noch einer Tagessitzung zu präsidieren.597 Harnack, der zum Ehrenpräsidenten gewählt wurde, übergab Baumgarten umgehend die Geschäfte des Kongresses: „Ich übergebe ihn denselben – das darf ich Dank der treuen Mithilfe Schneemelchers sagen – in einem guten 591 1912 erschien Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Gesammelte Schriften Band 1, Tübingen 1912. 592 Protokoll in: ESK-Archiv, A I 2. 593 Troeltsch an Harnack am 25.6.1911, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Troeltsch. 594 Troeltsch an Harnack am 29.11.1911, in: aaO.; vgl. Troeltsch an Schneemelcher am 29.11.1912, in: ESK-Archiv A II, 1. 595 Schneemelcher an Baumgarten am 28.11.1911, in: ESK-Archiv A II, 1. 596 Baumgarten an Schneemelcher am 30.11.1911, in: aaO. 597 Das Sitzungsprotokoll in: aaO., A I, 2.
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und hoffnungsvollen Zustand; aber allerdings ist Manches liegen geblieben oder nicht in Angriff genommen, was der Pflege bedarf, weil meine Kräfte u. Zeit nicht ausreichten.“598 Baumgartens Antwort zeigte, daß er selbst seine Wahl nur als Notlösung erachtete: „Ich empfinde diese Würde lediglich als Bürde.“ Ein Linkskurs des Kongresses sei von ihm nicht zu erwarten, doch werde er trotz seiner Bedenken „gegen eine einseitige sozial gerichtete Betrachtung“ auch dem linken Flügel sowie der Richtung Naumanns „ihr volles freies Recht […] lassen“ und trage keinesfalls die Absicht, „meine sehr gemäßigte und an Bedenken reiche sozialpolitische Auffassung zur Geltung zu bringen.“599 Harnack notierte an den Rand des Schreibens seine ausdrückliche Zustimmung – ein Beleg dafür, daß auch er die weitere Mitwirkung des linken Flügels befürwortete. Insofern stellte die Übernahme der Präsidentschaft durch Baumgarten keinen politischen, sondern allenfalls einen theologischen Linksruck dar, da Baumgarten der Verteidiger Jathos gewesen war. Baumgarten betonte in seiner ersten Eröffnungsrede auf der Essener Tagung 1912 angesichts des sich abzeichnenden Stillstands der Sozialpolitik die Notwendigkeit weiterer Reformpolitik600, während Harnack in seiner Abschiedsrede die sittlich-religiöse Seite der sozialen Frage erneut hervorhob und noch einmal die Bedeutung einer schrittweisen, bedächtigen, aber das sozialpolitische Ziel nie aus den Augen verlierenden Politik herausstrich, sowie Wert auf die Feststellung legte, daß sein Rücktritt allein wegen Arbeitsüberlastung erfolge.601 Insgesamt belegte auch die Essener Tagung mit den vielfach beachteten Referaten über „Individualismus und Staatssozialismus“ von Martin Rade und dem Hannoveraner Nationalökonomen Leopold von Wiese602, daß man, wie die „Frankfurter Zeitung“ bemerkte, „in diesen Kreisen, die es mit der Sozialpolitik ernst meinen, mehr als bisher die individualistische Grundlage unserer Kultur betonen will.“603 Dagegen kamen in der Zeitschrift des Kongresses verstärkt die sozialpolitisch stärker engagierten Vertreter des linken Flügels um Liebster zu Worte.604 Maßgeblich unterstützt von Schneemelcher, der mehr noch als unter Harnack zum eigentlichen Organisator und stillen Lenker des Kongresses aufstieg, führte Baumgarten den Kongreß 598
Harnack an Baumgarten am 2.12.1911, in: aaO., A II, 1. Baumgarten an Harnack am 10.12.1911, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Baumgarten. 600 VESK 23 (1912), 3–7. 601 Richtung und Kraft, in: EvS 21 (1912), 164–170, 168f., sowie die Erklärung, in: EvS 20 (1911), 353f. 602 VESK 23 (1912), 13–43. 603 FZ vom 30.5.1912, zitiert nach: EvS 21 (1912), 227. 604 So veröffentlichte Liebster seit 1912 regelmäßig Betrachtungen und Andachten in der Kongreßzeitschrift, etwa Soziale Weihnachten, in: EvS 21 (1912), 353f.; aufschlußreich auch eine sich an diesen Artikel Liebsters anschließende, intensiv geführte Debatte über „Religiös-Sozial oder Evangelisch-Sozial“, in: EvS 22 (1913), 3–5, 34–40, 69–72. 98–101, 257–265, 304–307,354–359, EvS 23 (1914), 5–8. 599
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wegen des Stillstands der staatlichen Sozialpolitik näher an die Gesellschaft für soziale Reform heran, was sich weniger in den Kongreßtagungen, als vielmehr in der Zeitschrift „Evangelisch-sozial“ niederschlug.605 Soweit überschaubar, hat Harnack diesen Kurs unterstützt, so daß man die Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Kongresses zwischen 1912 und 1914 nicht überschätzen sollte. Zwar klagte Baumgarten laut Schneemelcher 1913 über mangelnde Unterstützung im Aktionskomitee, doch bezog sich das, soweit ersichtlich, weniger auf inhaltliche Kritik als auf die Absagen Harnacks, Naumanns, Rades und Troeltschs für die Hamburger Tagung von 1913 und die wie schon unter Harnack ineffektiven Führungsstrukturen des Kongresses.606 An diesen vermochte denn auch Baumgarten nichts zu ändern, so daß der Kongreß mit dem Ersten Weltkrieg in eine bis 1923 währende Existenzkrise geriet, an der Baumgarten und Schneemelcher schließlich resignierten.607 Als sich der Kongreß an der großen Kundgebung der Gesellschaft für soziale Reform für die Fortsetzung der Sozialpolitik vom 9. Mai 1914 beteiligte – deren vorläufiges Ende Innenstaatssekretär von Delbrück Anfang 1914 verkündet hatte –, fand dieser Kurs die Unterstützung Harnacks, der sich in einer Grußadresse ausdrücklich zum Programm der Kundgebung bekannte.608 An der Kongreßarbeit blieb Harnack weiter beteiligt. Mit Ausnahme der Sitzungen vom 7. Dezember 1912 und vom 13. Mai 1913 nahm er an allen Aktionskomiteesitzungen vor Ausbruch des Krieges teil.609 1914 leitete er einen Verhandlungstag der Nürnberger Tagung, 1917 wirkte er an der ersten Tagung während des Krieges in Berlin mit, auf der er den Nachruf auf seinen im Alter von 71 Jahren an der Westfront gefallenen Freund Caspar René Gregory hielt.610 Der Leipziger Tagung vom Oktober 1918 übermittelte er den Aufruf, sich hinter die mit der Regierung des Prinzen Max sich abzeichnende Demokratisierung des deutschen Staates zu stellen, da diese sich ganz auf der Linie des Kongresses bewege.611 Einen substantiellen Beitrag zur Überwindung der Krise des Kongresses vermochte Harnack nach 605 Vgl. etwa Ernst Francke: Nun erst recht Sozialreform, in: EvS 22 (1913), 40–45; ders.: Das Ganze Halt?, in: EvS 23 (1914), 97–104. 606 Vgl. Schneemelcher an Harnack am 2.5.1913, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schneemelcher, sowie Baumgarten an Harnack am 10.5.1913, in: aaO., K. 26, Korr. Baumgarten: „Ich fühle mich vollständig allein gelassen.“ 607 Zur Kongreßgeschichte unter der Führung Baumgartens, der wie Schneemelcher 1921 zurücktrat, Goetz (Anm. 487), 69–78, sowie Hans Schlemmer: Der Evangelischsoziale Kongreß 1918–1940, in: Herz (Anm. 487), 79–84. 608 Öffentliche Kundgebung für Fortführung der Sozialreform. Veranstaltet von der Gesellschaft für soziale Reform, Jena 1914, 66. 609 Vgl. ESK-Archiv, A I 2. 610 Zum Andenken an C. R. Gregory, in: EvS 26 (1917/18), 36–39. 611 An den Evangelisch-sozialen Kongreß, in: VESK 27 (1918), 1f.; vgl. auch Harnack an Schneemelcher am 11.10.1918, in: ESK-Archiv, A III, 2.
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1918 nicht mehr zu leisten, wenngleich er noch einmal 1921 als Berater des den Kongreß nach Baumgartens Rücktritt interimistisch führenden Dreierkollegiums auftrat612 und sich bis zu seinem Tode auf Anfrage des neuen Generalsekretärs Johannes Herz, der eine geregelte Wiederaufnahme der Kongreßarbeit organisierte, zu grundlegenden Angelegenheiten des Kongresses äußerte, so etwa anläßlich der Suche nach einem Nachfolger Baumgartens.613 Auf den Tagungen von 1925 und 1927 trat er nochmals als Debattenredner auf und warnte vor einer Vernachlässigung des kulturellen und religiösen Charakters protestantisch geprägter Sozialarbeit.614 Mehr erlaubte ihm weder die anhaltende Arbeitsbelastung nach 1918 noch sein sich allmählich verschlechternder Gesundheitszustand.
2.4. „Von Bassermann bis Bebel“? Harnack, Naumann und die Sozialdemokratie Abschließend soll die politische Positionierung Harnacks nach 1900, des kaiserlichen Wissenschaftsberaters und Freundes Bülows, des Befürworters dauerhafter Sozialreformen im Rahmen des monarchischen Systems und des – wegen seiner Sozial-, Konfessions- und Nationalitätenpolitik kritischen – Unterstützers des liberalkonservativen Bülow-Blocks von 1907 bis 1909 noch einmal zusammenfassend in den Blick genommen werden. Daß Harnack sich dabei im allerdings weit zu fassenden Umfeld des Naumann-Kreises bewegte, bedarf keiner Erläuterung mehr.615 Parteipolitischen Zuordnungsversuchen hat er sich freilich zu entziehen versucht und die Zuordnungen von liberal oder konservativ als „Kleiderhaken“ bezeichnet, die hauptsächlich diejenigen benutzten, die beides nicht sind, und – durchaus als Selbstcharakterisierung – formuliert: „Der wahrhaft liberale und konservative Mann sucht nach der höheren Einheit und ist auf Zusammenwirken bedacht.“616 In der Diskussion über ein mögliches parteipolitisches Engagement seines Freundes Rade erklärte er 1910: „‚Liberal‘ – ich vermag nicht abzuwägen, was bei den Einzelnen Ziel u[nd] was Taktik ist. In dem Ziel, den Einzelnen zu einem wirtschaftlich möglichst selbständigen, freien und festen Menschen zu machen u[nd] im Staate die Bedingungen dafür zu verbessern, möchte ich hinter keinem zurückstehen. Aber warum ich mich zur freisinnigen Partei schlagen soll, weil Naumann u[nd] d[ie] Nationalsozialen zu ihr übergegangen sind, und warum ich der soz[ial]demokratischen Bewegung mehr Ver612
Schlemmer (Anm. 607), 81. Vgl. Harnack an Herz am 20.9.1924, in: ESK-Archiv, A II, 4, Bl. 153. 614 VESK 32 (1925), 17–18, 49–52 u. VESK 34 (1927), 71–74. 615 Vgl. Ursula Krey: Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, in: vom Bruch: Naumann (Anm. 397), 115–147. 616 Richtung und Kraft, in: EvS 21 (1912), 164–170, 168. 613
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trauen schenken soll, als ich aufzubringen vermag, weil Einige hoffnungsfreudiger sind – das sehe ich nicht ein, und mit der Liberalität des Herzens u[nd] Kopfes hat das nichts zu tun.“617 Wenige Wochen später bekundete er dann gegenüber dem Vorwurf des „bedenklichen Konservativismus“: „Mein Interesse gilt lediglich dem nächsten Schritt. Eben deßhalb habe ich kein Urteil u[nd] keine Neigung in Fragen wie die: ‚Trennung von Kirche und Staat‘, ‚Neuordnung des sexuellen Lebens‘, ‚Umwälzung der sozialen Gliederung‘, ‚Neubau des theologischen Studiums‘, usw. In den Politicis geht es mir nicht anders. Ich glaube zu wissen, was in Bezug auf den zahllosen Gebieten unserer preußischen Rückständigkeit zunächst d.h. heute zu geschehen hat u[nd] wie diese Schritte zweckmäßig getan werden können; aber ob das allgemeine, gleiche, direkte u[nd] geheime Wahlrecht für Preußen ein Vorteil ist, weiß ich nicht; ich weiß auch nicht, ob wir unsere Rüstungen reduziren bez[iehungsweise] contingentiren sollen; ob eine freisinnige Majorität uns wirklich besser regieren wird; ob es nützlich ist, lebhaft für die Friedensliga zu agitiren, usw.“618 Neben diesen Äußerungen aus dem Jahr 1910 – also dem Jahr, in dem sich Harnacks Kontakte zu den Spitzen der Reichsleitung durch die Verhandlungen über die KWG auf der Ebene der Wissenschaftspolitik noch einmal erheblich intensivierten – standen freilich politische Stellungnahmen aus den Vorjahren, von den, wenn auch eher vorsichtigen, Voten für den Nationalsozialen Verein 1896 über den gegen die konservative Partei gerichteten Wahlaufruf von 1898 bis zur Unterstützung Naumanns im Wahlkampf von 1907. Daß Harnack von der allgemeinen Verdrossenheit der Professoren bezüglich gelehrtenpolitischen Engagements zunächst allenfalls begrenzt ergriffen wurde, belegt seine Bereitschaft, einen von Hans Delbrück geplanten Wahlaufruf zur Preußischen Landtagswahl von 1903 zu unterschreiben619, in dem angesichts der konservativ-klerikalen Mehrheit die Unterstützung sozialdemokratischer Kandidaten in der Stichwahl befürwortet wurde. Der Aufruf kam freilich nicht zustande, da er bei dem wiederum angesprochenen Kreis der Unterstützer des Aufrufs von 1898 weithin auf Ablehnung stieß.620 Delbrück setzte dabei seine Hoffnungen ausdrücklich auf eine „Mauserung“ der Sozialdemokraten unter dem Einfluß des revisionistischen Flügels. Harnack vermied in seiner Kongreßrede von 1902 sowie bei seinen Eröffnungsreden bis zur Hannoveraner Tagung von 1905 jede direkte Polemik gegen die Sozialdemokraten. Doch die Hoffnungen auf eine Wandlung der SPD zerschlugen sich zunächst, während der sozialpolitische Gegensatz zur Reichsleitung sich seit 617
Harnack an Rade am 8.6.1910, in: BwR 649. Harnack an Rade am 30.8.1910, in: aaO., 658. 619 Exemplar in: SBB-Pk, Nl. Delbrück, Nr. 25. Vgl. auch Delbrück an Schmoller am 28.9., 12.10. und 16.10. 1903, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller, Nr. 195b, 3–10. 620 Vgl. vom Bruch: Wissenschaft (Anm. 155), 176. 618
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deren Eingreifen im Ruhrstreik von 1905 abmilderte und PosadowskyWehner gar die Nähe des Evangelisch-sozialen Kongresses suchte. Diese Entwicklung und die konservativ-liberale Annäherung von 1907 veranlaßten Harnack, gegenüber den Sozialdemokraten wieder härtere Töne anzuschlagen. Auf der ESK-Tagung 1910 in der sozialdemokratischen Hochburg Chemnitz griff er die SPD demonstrativ an.621 Im folgenden Jahr wiederholte er diese Vorwürfe, schloß daran aber doch die Hoffnung auf einen allmählichen Wandel an: „So paradox es klingt – je größer sie wird, desto ungefährlicher wird sie werden, weil sie in immer höherem Maße mitarbeiten muß. Mitarbeiten heißt aber sich auf den Boden des Gegebenen stellen. […] Wenn wir, die Gegner der Sozialdemokratie, treu und aufrichtig zum Werke sozialer Reformen stehen und uns nicht aus kurzsichtigem Eigennutz oder Ärger, weil wir keinen ‚Dank‘ finden, dazu verführen lassen, diese Fahne herabzuholen, so werden Staat und Gesellschaft trotz allem ihren sicheren Weg finden.“622 Deutschland genieße, so Harnack 1908 an Althoff, nicht zu Unrecht „den Ruhm, der reactionärste Staat zu sein.“ Eine erhebliche Mitschuld daran traf Harnack zufolge allerdings die Sozialdemokraten, deren Revolutionsrhetorik „eine verhängnisvolle Lähmung des gesunden organischen Fortschritts, d. h. die Verstärkung der Reaktion […]“ sei. „Die Sozialdemokratie ist heute und ist schon seit langem ein großer Hemmschuh in unserer Entwicklung. Gewiß wäre einiges im Staat nicht erreicht worden, wenn sie nicht gewesen wäre; aber noch viel mehr ist zurückgeblieben, weil sie da ist!“623 Das war allerdings nicht weniger als eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, denn es waren – wie Harnack durchaus selbst erkannt hatte – die staatliche Repressionspolitik der Bismarck-Ära, die sozialpolitische Reaktion der Ära Stumm und die agrarisch-industrielle Sammlung, wie sie etwa in den Zolltarifen von 1902 zum Ausdruck kam, die die Sozialdemokratie hatte erstarken lassen. Ohne ihre Existenz wäre der Reformzwang zweifellos wesentlich geringer gewesen. Immerhin, Harnack war klug genug, sich auch keiner Täuschung über den Machtzuwachs der Sozialdemokraten bei den bevorstehenden Wahlen von 1912 hinzugeben, das zeigten seine Bemerkungen über den dennoch zu erwartenden Wandlungsprozeß innerhalb der Partei. Man wird Harnacks ausdrückliche Zurückhaltung mit auch sehr allgemeinen öffentlichen politischen Äußerungen nicht allein mit seiner Einbindung in die KWG oder seiner generellen „Unfähigkeit, einer Partei das zu sein, was sie von mir wünscht“, sondern auch mit seinen positiven Erfahrun621 622 623
III.
VESK 21, 3f, wieder in: RANF 1, 182–189, 184f. RANF 1, 288f. Harnack an Althoff am 17.8.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79
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gen eines „geräuschlosen“ Zusammenspiels mit der staatlichen Bürokratie erklären müssen. Dabei überschätzte Harnack, geprägt durch die Erfahrungen mit Althoff, allerdings die Einflußmöglichkeiten und die Reformbereitschaft der hohen Beamtenschaft, so daß sein Engagement zunehmend auf eine Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse hinauslief, besonders nachdem er mit Althoffs Tod 1908 seinen wichtigsten und wohl – gemessen an den Ergebnissen – einflußreichsten Partner verloren hatte und unter den neuen Machtverhältnissen im Ministerium sein Einfluß im Wesentlichen auf außeruniversitäre Wissenschaftspflege begrenzt blieb. Mehr noch als bisher beschränkte er sich nach 1910 auf die Überwindung der kulturpolitischen Rückständigkeiten und eine konsequente Modernisierung des Wissenschaftsbetriebs. Weiterhin blieb er liberalen und auf gesellschaftlichen Fortschritt zielenden Leitideen verhaftet, die eine „Demokratisirung unserer Gesellschaft“624 bewirken sollten. Doch das betraf für Harnack in erster Linie Wissenschafts-, Schul- und Bildungspolitik – und hier mit einem besonderen Schwerpunkt die Stellung der Frauen. In diesen Fragen flankierte er gleichsam kulturpolitisch eine linksliberale Reformpolitik, für die Naumann stand. Daß auch bezüglich der politischen Institutionen Rückständigkeiten zu beseitigen waren, stand für Harnack außer Zweifel, aber in den Lösungswegen war er wie Delbrück um die Vermittlung konservativer und liberaler Elemente bemüht. Hinzu kamen taktische Erwägungen, wie sie in Delbrücks Publizistik, etwa zur preußischen Wahlrechtsfrage immer wieder hervortraten, in der er Reformen anmahnte, zugleich aber vor einer umfangreichen Demokratisierung und Parlamentarisierung zurückschreckte. Harnack hat sich zu diesem Komplex vor 1914 nicht eindeutig geäußert, aber seine Stellungnahmen aus der Kriegszeit zeigen, daß er die Vorbehalte lange teilte. In den innenpolitischen Auseinandersetzungen nach 1909 bedeutete Harnacks betonte öffentliche Zurückhaltung faktisch eine Schwächung der von Naumann angestrebten Konzentration der liberalen Reformkräfte. Dabei gehörte Harnack durchaus nicht zu den Anhängern der Innenpolitik Bethmann Hollwegs. Die ihm attestierte „Schwächlichkeit“ bezog sich nicht auf dessen Außen-, sondern wesentlich auf dessen Innenpolitik, die sowohl vor als auch nach den Wahlen von 1912 von Reformstau und innenpolitischer Blockade geprägt blieb, für die er vorrangig die Konservativen und „ihren eigensüchtigen Starrsinn und reaktionären Hochmut“ verantwortlich machte.625 Insofern kam in Harnacks Verhalten vom August 1914, das für ihn zentral durch den endgültigen Erweis der nationalen Zuverlässigkeit von Zentrum und Sozialdemokraten im Erlebnis nationalen Einheitsgefühls be-
624 625
Harnack an Rade am 11.6.1910, in: BwR 650. Harnack an Bülow am 30.1.1914, in: Bülow: Politik (Anm. 383), 495.
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stimmt war, auch die Erleichterung über die vermeintliche Überwindung der innenpolitischen Blockbildungen zum Ausdruck. Die Ausbalancierung von Weltbürgertum und Nationalstaat war dabei noch wenige Monate vor Kriegsausbruch ein Thema, das Harnack intensiv beschäftigte. Auf einer Rede zum 100. Jahrestag der Freiheitskriege am 9. März 1913 hielt er sich von der weithin feststellbaren Militarisierung des Gedenkens, wie sie sein Bruder Otto mit Schärfe kritisierte626, fern und konzentrierte sich in seinen Ausführungen weniger auf die äußere als auf die innere Freiheit, die „Freiheit von der inneren Knechtschaft.“627 Harnack verwies auf die in den Freiheitskriegen sich bündelnden Kräfte von Aufklärung, Kantischer Philosophie, Pietismus, Romantik und klassischem Idealismus. Dabei ließ er all diese Kräfte zulaufen auf die Zentralfigur seiner eigenen Theologie, den „unendlichen Wert der Menschenseele“, und verwies damit auf die Bedeutung des Christentums als universaler Religion, die innerhalb der jeweiligen Nation das transnationale Element repräsentiere. Fest stand damit freilich auch: „Der Weg z. Kosmopolitismus, z. allg. Menschlichkeit geht über die Nation.“628 Ähnlich argumentierte er am 23. Oktober 1913 in einem Vortrag in Straßburg:629 „Die Religion ist nicht eine nationale Sache in dem Sinn, daß sie sich dem Staat unterzuordnen hätte als seine Funktion.“ Das Gerede von der „polnischen Madonna“ oder vom „deutschen Gott“ (Ernst Moritz Arndt) sei daher eine „Entgleisung.“ Als Universalreligion müsse das Christentum auf den innerlichen Kern des Menschen – „Gott und die Seele, die Seele und Gott“ – konzentriert sein, denn „sonst ist in ihr bereits das Partikulare der Religion da.“ Mit dieser Individualisierung sei die Lösung der Spannung jedem einzelnen „Bürger“ aufgegeben. Das war auf der einen Seite durchaus emanzipativ, denn die Bürger „haben diese Politik zu machen und sie sollen, jeder für sich und alle zusammen, einen heiligen Schatz heben, sie sollen erzogene, von Idealen durchglühte Charaktere und Geister sein“, legitimierte aber unter dieser nur schwer kontrollierbaren Voraussetzung „nationale Politik.“ Seien die Menschen, „die am Staat und am Volkstum bauen, innerlich so […], wie die Religion sie haben will, die ja schließlich nichts anderes ist als der feste Glaube daran, daß wir eine Ewigkeit in uns und vor uns haben – dann darf man ruhig sagen, sie sollen sich von nichts weiter leiten lassen, als von nationaler Politik.“ Dabei hielt Harnack an der Dialektik von Nationalität und Kosmopolitismus fest: „ Jede Nation wird im Gan626 Otto Harnack: Der Mißbrauch des Gedächtnisses an 1813, in: März 7 (1913), Bd. 2, 105f. 627 Rede zur Jubiläumsfeier der Befreiungskriege, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 65, Bl. 1. 628 AaO., Bl. 5. 629 Die nationalen Elemente in der Entwicklungsgeschichte des Christentums, in: Straßburger Post Nr. 1203 vom 24.10.1913.
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zen der Menschheit zum wahren Fortschritt nur soviel beitragen, als sie selbst reicher wird.“630 Daß Harnack an dieser Dialektik festzuhalten versuchte, dürfte auch seine Stellungnahmen während des Krieges und in der Zeit der Republik miterklären. Sie blieb ein fester Bestandteil seiner politischen Argumentation, auch wenn sie ihn in den ersten Kriegsmonaten nicht vor nationalem Überschwang und Kriegsbegeisterung bewahrte – eine Kriegsbegeisterung, die er allerdings schon Anfang 1915 gerade mit Blick auf ihre kulturelle und religiöse Aufladung auch skeptisch betrachten konnte. Selbst „die Integration unserer Kultur- und Christentumsgedanken in dieser Epoche“ sei „eine verwundende Unzartheit. […] Errores hominum providentia dei dirigentur: ein schlechter u[nd] ein guter Trost zugleich. Augustin sagt statt ‚errores‘ vielmehr ‚peccata‘, u[nd] so ist’s noch besser.“631 Das war zugleich ein Eingeständnis, daß die eigenen Deutungen des Krieges unzureichend und möglicherweise falsch gewesen sein könnten. Es war kein Zufall, daß Harnack in den folgenden Monaten für eine Mäßigung der Kriegsziele und eine Verständigung mit dem Westen zu werben begann. Zumindest eine Reserve gegen eine vorbehaltlose Identifizierung von protestantischem Christentum und deutscher Nation hatte Harnack bereits in seiner „Dogmengeschichte“ erkennen lassen, indem er sich ausdrücklich gegen die These von einem speziell germanischen Christentumstypus neben dem römischen und dem griechischen wandte – eine These, die besonders von Hermann Cremer und dann Reinhold Seeberg vertreten wurde. Letzterer erhob sie gar zum Gliederungsprinzip seiner Dogmengeschichte. Cremers und Seebergs Aussage, es gebe „eine Prädisposition der Deutschen für das Christenthum“ sei nicht mehr als eine „chauvinistische Behauptung.“632 Das schloß auch bei Harnack nicht aus, deutsche Nation und Protestantismus in einen engen Zusammenhang zu bringen und in einem freiheitlich umgestalteten Protestantismus auch für das Deutschland der Gegenwart „das fortwirkende Princip und das höchste Ziel“ zu erblicken.633 In der Wesensschrift konnte Harnack sogar vage davon sprechen, das reformatorische Christentum ließe sich durchaus als „das germanische“ bezeichnen, denn „die Deutschen bezeichnen durch die Reformation eine Stufe in der allgemeinen Kirchengeschichte.“ Auch zeigten Luther und seine Folgen, „sowohl die positiven als die negativen, den deutschen Mann – den deutschen Mann und die deutsche Geschichte.“ Aber, so schränkte Harnack sofort ein, Luthers „entscheidendes religiöses Erlebnis“ sei nicht „mit seiner Nationalität zusammenzustellen.“634 Damit blieb auch hier eine Reserve gegenüber 630 631 632 633 634
Ebd. Harnack an Rade am 12.2.1915, in: BwR 725. LDG 3, 6 (= LDG4 3, 6). LDG4 3, 811. WdC 250.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
einer Deckungsgleichheit von Protestantismus und Nation – eine These, die Harnack dann auch nicht wiederholt hat. Zu erinnern ist ferner daran, daß Harnack am Katholizismus gerade dessen Universalismus als Korrektiv gegenüber engherzigem Patriotismus hervorhob – mithin zugleich eine Mahnung vor einer zu starken Nationalisierung des Protestantismus. Diese schließlich dominierenden Vorbehalte gegenüber einem solchen Programm, wie es Seeberg überaus konsequent durchführte, hatten neben der Dialektik von Nationalstaat und Weltbürgertum letztlich einen theologischen Grund. Wie keine Form des Christentums stand der Protestantismus als religiöse Erscheinung für den Geist von Aufklärung und Neuzeit.635 Und er stand gerade darin, daß er weder zu einer einheitlichen Dogmenbildung in der Lage war noch mit einer bestimmten Kulturstufe wie der griechischen oder der römischen identifiziert werden konnte, für die Unabgeschlossenheit der Moderne selbst. Gerade in dieser Unabgeschlossenheit, in dem Fehlen eindeutiger Epochengrenzen und seiner inneren Pluralisierung spiegelte der Protestantismus die Moderne und die sie kennzeichnende plurale Ausdifferenzierung arbeitsteiliger Gesellschaftssphären wider. Der „Schwebezustand“636 des Protestantismus ist letztlich der der Moderne selbst.637 Ordnet man bilanzierend Harnacks politische Überzeugungen auch für die Jahre 1910 bis 1914 im Wesentlichen denen Delbrücks zu, so ist doch festzuhalten, daß zumindest in der Sozialpolitik Harnack von der zunehmenden Zögerlichkeit seines Schwagers abwich. Das zeigte sich in den Diskussionen um den ESK, in der Harnack Delbrücks Vorschlag der Auflösung zurückwies, aber auch im Frühjahr 1914, als Harnack – anders als Delbrück – die Kundgebung der Gesellschaft für soziale Reform zur Fortführung der staatlichen Sozialpolitik ausdrücklich unterstützte. An dieser Kundgebung nahmen neben Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei, des Zen635 Erinnert sei hier noch einmal an die Konzeption des dreifachen Ausgangs der Dogmengeschichte bei Harnack. Harnack konnte schon 1890 zugestehen, daß die Reformation in vielen Bereichen „eine altkatholische, resp. auch mittelalterliche Erscheinung“ sei. Modern war sie nach Harnack aber in ihrem religiösen Kern als Religion des persönlich-individuellen Glaubens. Nachtridentinischer Katholizismus und Sozinianismus „sind in vieler Hinsicht moderne Erscheinungen, aber auf ihren religiösen Kern gesehen sind sie es nicht […]“ (LDG 3, 691 = LDG4 3, 809). Damit ist impliziert, daß beide Bewegungen auch für die Gegenwart bedeutsam bleiben. Für den Katholizismus liegt das auf der Hand, während der Sozinianismus für den „Dogmatismus des sog. gesunden Menschenverstandes“ (LDG4 3, 806) zu stehen kommt. Er steht – in Teilen durchaus positiv gewürdigt – für das Bündnis von Scholastik und Renaissance, freilich ohne Sinn für Religion und gewinnt gerade dadurch für die Deutung der Neuzeit „durch Kulturhistoriker und Philosophen, sofern ihnen die christliche Religion eine gleichgültige oder störende Sache ist“ (LDG4 3, 768), Interesse. Neben dem von Harnack geschätzten Nietzsche dürfte hier auch an den Monismus zu denken sein. 636 LDG4 1, 6. 637 Vgl. dazu auch Osthövener (Anm. 5), 324f. Ein umfassende Darstellung der Protestantismusdeutung Harnacks ist ein Desiderat.
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trums und der Nationalliberalen Politiker wie Posadowsky und Dernburg sowie Vertretern der christlichen und der freien Gewerkschaften mit Robert Schmidt und Hermann Molkenbuhr zwei Mitglieder des Parteivorstandes der SPD teil.638 Nicht überzubewerten, aber in seiner Einbettung doch ein Signal, war Harnacks bereits erwähnte Beteiligung an Friedrich Naumanns Staatslexikon, das mit dem Namen Harnacks um weitere Mitarbeiter warb.639 Harnacks Artikel „Konfessionspolitik“ – und nicht, wie man auch hätte erwarten können ein Beitrag zu Stichwörtern wie „Bibliotheken“, „Hochschulen“, „Theologische Fakultäten“ oder „höheren Schulen“ – brachte einen zentralen Bereich „deutschen Staatslebens vom Standpunkt einer liberalen Gesamtanschauung aus“ zur Darstellung. Daß es weniger um ein wissenschaftliches Fachlexikon als um politisches Handlungswissen ging, betonten die Autorenunterlagen ausdrücklich: „Das Deutsche Staatslexikon hat die Absicht, den politischen Willen zu stärken. Es dient der kommenden deutschen Linken. […] Als Leser des Deutschen Staatslexikons sind alle diejenigen Männer und Frauen gedacht, die an liberaler Politik im weitesten Sinne des Wortes Anteil nehmen wollen. Erst durch das deutsche Staatslexikon wird sich zeigen, über welche geistigen Kräfte der deutsche Liberalismus verfügt.“ Die Mitarbeiter repräsentierten denn auch die Spannweite des von Naumann angestrebten, im badischen Experiment freilich gescheiterten Großblocks von „Bassermann bis Bebel“ aus Nationalliberalen, Fortschrittlicher Volkspartei und Sozialdemokraten. So zählten der nationalliberale Fraktionsvorsitzende im Reichstag Ernst Bassermann ebenso zu diesem Kreis wie Gustav Stresemann, Friedrich Naumann, Friedrich von Payer und revisionistische Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein, Eduard David, Ludwig Frank und Albert Südekum. Von den freien Gewerkschaften beteiligten sich Carl Legien und Gustav Bauer als Vorsitzender und Stellvertreter. Die Gesellschaft für Soziale Reform war durch Ernst Francke und Waldemar Zimmermann vertreten, die bürgerliche Frauenbewegung durch Gertrud Bäumer und Helene Lange. Zu den Gelehrten zählten neben Harnack Heinrich Herkner, Ludwig Quidde, Max Weber und Hugo Preuß. Im Umriß zeichneten sich mit dieser Liste – ihr Stand datierte von Anfang Juli 1914640 – mehr als erste Konturen der dann die Republik tragenden Weimarer Koali638
Vgl. Oeffentliche Kundgebung für Fortführung der Sozialreform, 63–66 (Teilnehmerverzeichnis). Harnack sandte ein Grußtelegramm in seiner Eigenschaft als Ehrenpräsident des ESK. 639 Mitarbeiterliste, Stichwortverzeichnis sowie ein kurze Konzeption des Lexikons im Kopf der von Naumann und seinem Mitarbeiter Erich Schairer benutzten Briefbögen in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 171, unpag. 640 So Schairer an Adolf Deißmann am 7.7.1914, der den Artikel Theologische Fakultäten übernommen hatte, in: aaO.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
tion ab, wenn auch noch äußerst labil und fragmentarisch und nur zur theoretischen Sichtung zentraler Felder von Politik, Wirtschaft und Kultur, noch nicht zu ihrer praktischen Bearbeitung.
3. Deutschland und England: Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914 3.1. Weltpolitik, christliche Missionsarbeit und Armenierhilfe Außenpolitische Fragestellungen traten eigentlich erst mit der bosnischen Annexionskrise von 1908 und der spätestens 1909 immer offensichtlicher zu Tage tretenden Isolierung Deutschlands gegenüber England, Rußland und Frankreich ins nähere Blickfeld Harnacks, während sie vorher nur eine marginale Rolle gespielt hatten. Aus den 1870er Jahren ist nichts bekannt, Mitte der 1880er Jahre gab Harnack sich allerdings gegenüber seinem Bruder Otto als Anhänger der Bündnispolitik Bismarcks zu erkennen, der trotz öffentlichen Drucks auch gegenüber Rußland zu Recht an seiner Verständigungspolitik festhalte.641 Auffällig ist dabei immerhin, daß der Balte Harnack zu dieser Zeit trotz der massiven Russifizierungspolitik in seiner Heimat keine nennenswerten antirussischen Einstellungen pflegte, sondern angesichts des von Rußland betriebenen Sturzes des proösterreichischen bulgarischen Fürsten Alexander von Battenberg 1885 das Recht Rußlands zu diesem Schritt gegenüber seinem Bruder Otto, der eine russische Hegemonie auf dem Kontinent befürchtete, verteidigte.642 „Deutschlands Politik gegenüber Rußland ist ganz correct. Wir schützen den Österreichischen Besitzstand i. Orient u. setzen darauf, daß Rußland u. Österreich pari passu vorschreiten.“ Bismarcks Größe liege gerade darin, daß „er sich nicht von dem Gefühlsdusel des deutschen Michels bestimmen läßt. Deutschlands Größe u. eine ernste, sittliche Politik – sittlich nenne ich die Kriege vermeidende, so lange es irgend geht – hat er stets vor Augen gehabt.“643 Nach dem Sturz Bismarcks gehörte Harnack – wie dargestellt – zu den Unterstützern der Heeresvorlage von 1893. Ebenso stimmte er dem Übergang zur Weltpolitik und zum Flottenbau durch seine Mitgliedschaft in der Freien Vereinigung für Flottenvorträge ausdrücklich zu, ohne sich aber weitergehend zu engagieren. Soweit Harnack sich mit außenpolitischen Fragen nach 1900 beschäftigte, konzentrierte er sich dabei – etwa beim deutschamerikanischen Professorenaustausch oder seiner Mitarbeit an der „Internationalen Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik“ – auf Fragen 641 642 643
Harnack an Otto Harnack am 21./9.9.1886, in: SBB-PK, Nl. Otto Harnack, Nr. 2. Vgl. zum politischen Kontext Hildebrand (Anm. 150), 118–120. Harnack an Otto Harnack am 21./9.9.1886, in: SBB-PK, Nl. Otto Harnack, Nr. 2.
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der auswärtigen Kulturpolitik644, die gleichwertig neben die auf politische und militärische Machtmittel setzende Weltpolitik treten sollte, aber doch ebenso stark von der Idee der Völkerverständigung sowie einer christlichuniversalen Humanitätsidee geprägt war. Daß die Weltpolitik für Harnack in engem Zusammenhang mit einer abendländisch-europäischen Kulturmission stand, war leitender Gesichtspunkt seines Engagements im Allgemeinen Evangelisch-protestantischen Missionsverein – einem relativ kleinen, v. a. von liberalen Theologen dominierten Verein, der in China und Japan tätig war und dessen Vorstand er von 1904 bis 1909 angehörte. Auf der Herbsttagung des Vereins Ende September 1900 – also während des Boxeraufstandes in China, der von einem unter deutscher Führung stehenden Expeditionskorps der europäischen Großmächte niedergeschlagen wurde – betonte Harnack die Kulturbedeutung christlicher Missionsarbeit. Diese habe sich zwar von Verstrickungen mit Staat und Politik fernzuhalten, indem sie nicht von den Landeskirchen, sondern von freien Vereinen zu organisieren sei, auch sei alles, was nur von ferne an die „Kreuzzugs-Idee“ erinnere, zu vermeiden.645 Doch müsse diese Arbeit zugleich eingedenk sein, daß jeder Missionar westlich-europäische Kulturideale vermittele, die auf den Ideen des Christentums basierten. So waren kulturhegemoniale Töne nicht zu überhören, etwa wenn Harnack bei aller Achtung für „jede andere Gesittung, wo sie den Menschen über die Naturstufe erhoben hat“, die nichteuropäischen Kulturen für auf Dauer „minderwertig“ erachtete646: „Aber was ist das für eine Kultur, die es z. B. den Chinesen erlaubt, die geheiligten Völkerrechte mit Füßen zu treten, barbarische Martern zu ersinnen und Menschenleben für Spreu zu achten? Diese Kultur verdient nicht, daß man sie konserviere.647 […] Wir brauchen die christliche Mission auch deshalb, weil wir die christliche Gesittung für alle Völker brauchen, und weil wir diese ohne die Mission nicht erlangen werden. Das Ziel, eine große gesittete Völkerfamilie zu schaffen, ist uns wie durch unsere Religion, so auch durch den Gang unserer europäischen Geschichte vorgezeichnet. […] Nur so erfüllen die europäischen Völker ihren weltgeschichtlichen Beruf.“648 Die Aufgabe des Missionsvereins sei es, so Harnack zum Schluß 644 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch: Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Paderborn/München/Wien/Zürich 1982. 645 Grundsätze der evangelisch-protestantischen Mission, in: RA 2, 107–128, 118. 646 AaO., 114. 647 Man wird bei dieser Äußerung allerdings den Kontext des Boxeraufstands in China zu beachten haben. An anderer Stelle konnte Harnack nachdrücklich darauf hinweisen, daß die christliche Mission die jeweiligen Kulturen zu achten habe: „So will auch unsere Mission jenen Völkern dienen, will sie nicht europäisch machen, sondern christlich“ (Unsere Botschaft an die Heidenwelt, in: Werde Licht! 11 Epiphanias- u. Missionspredigten, Göttingen 1908, 1–10, 2). 648 AaO., 115.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
seiner Rede, daran mitzuarbeiten, „daß die Deutschen auch als Christen ihren Weltberuf erkennen, und erkennen, wie sie ihn treiben sollen.“649 In den Folgejahren engagierte sich Harnack insbesondere bei zwei Aktionen, die gleichsam eine humanitär-christliche Flankierung deutscher Weltpolitik darstellten, dabei aber zumindest im ersten Fall in partiellen Widerspruch zur offiziellen Politik des Reiches gerieten. Dies galt für Harnacks Beteiligung an der besonders von Martin Rade und dessen Mitarbeiter Ewald Stier organisierten Hilfe für die Armenier in der Türkei.650 Harnack selbst stand in Kontakt zu einigen Armeniern, die bei ihm schon zu Beginn der 1890er Jahre studiert hatten und von denen einer gar 1914 zum armenischen Bischof von Baku aufstieg.651 Er gehörte ferner zu den Unterstützern des von Rade, Rohrbach und Stier 1897 ins Leben gerufenen „Nothwendigen Liebeswerk“, das mit Spenden jungen Armeniern ein Theologiestudium in Deutschland ermöglichen sollte.652 Dabei sollte nach Rohrbach gerade die Förderung des christlichen armenischen Nachwuchses nicht nur ihre Verbundenheit mit der deutschen Kultur stärken, sondern entscheidende Initiativen für eine Modernisierung der Türkei hervorbringen, stellten die christlichen Armenier doch „das einzige unter den nach Christus sich nennenden Völkern des Orients“ dar, aus dem „unter der helfenden, erzieherischen Mitarbeit des christlichen Abendlands in absehbarer Zeit ein wirkliches Kulturvolk“ werden könne.653 Durch Bildungsarbeit unter den Armeniern, so 1914 Ewald Stier, „könne der deutsche Gedanke in der Welt zum Siege geführt werden“654, der damit den Titel von Rohrbachs gleichnamigem Buch von 1912 aufnahm.655 Rohrbachs auf „moralische Eroberungen“ abzielender „ethischer Imperialismus“ lag diesen Bemühungen – deren Ergebnis mit ganzen fünf Stipendiaten bis 1914 aber eher kläglich blieb – ganz wesentlich zu Grunde und ist von Rohrbachs akademischem Lehrer Harnack zumindest im Grundsatz geteilt worden.656 An649
AaO., 128. Vgl. dazu Uwe Feigel: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989, v. a. 153f.; Ewald Stier: Armenien, in: 40 Jahre „Christliche Welt“, Gotha 1927, 186–190. 651 Dazu ausführlich Hacik Gazer: Adolf von Harnack und die Armenier. Betrachtungen zu einem wissenschaftlichen Austausch um die Jahrhundertwende, in: Meliné Pehlivanian: Armeni syn die menschen genant… . Eine Kulturbegegnung in der Staatsbibliothek, Berlin 2000, 173–200. 652 Vgl. von den zahlreichen Berichten des Koordinators dieses Unternehmens Ewald Stier etwa seinen Bericht in: AdF, Nr. 21 (1907), 197–203. 653 Paul Rohrbach: Ein dringendes Wort für die Armenier, in: ChW 12 (1898), 1188–1192, 1189. 654 Ewald Stier: Die Armenier und die deutsche Kultur, in: Noris 7 (1914), 40–54, 54. 655 Paul Rohrbach: Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf/Leipzig 1912. 656 Vgl. ausführlich zu Rohrbach Walter Mogk: Paul Rohrbach und das „Größere 650
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läßlich der Übersendung von Rohrbachs „Geschichte der Menschheit“657 im März 1914 bekundete Harnack seine warme Sympathie für Rohrbachs Wirken: „Wir kommen nicht weiter, wenn wir nicht die Fülle des Stoffes unter die Herrschaft der Gedanken bringen, die wir in 2 Menschenaltern (auf dem Grunde von den 2 vorausgehenden Menschenaltern) gefaßt haben, u. wenn wir sie nicht in unser Volk bringen, um die rationalistische, die materialistische, die pietistisch-klerikale Weltanschauung u. die stumpfsinnige Gedankenlosigkeit zu überwinden. Diesen 4 apokalyptischen Reitern gegenüber, die Tod u. Verderben bringen, weiß ich Sie als guten Bundesgenossen u. auch als Führer, u. sehe in Ihrem Buch einen Pflug u. eine Waffe zugleich.“658 Rohrbachs zunehmende negative Haltung gegen England vermochte Harnack freilich nicht zu teilen. Die Ausmaße eines Genozids annehmende türkische Armenierverfolgung während des Weltkrieges machte dann das Dilemma der deutschen Armenierfreunde offenkundig, die auf der einen Seite über deutsche Stellen eine Mäßigung der türkischen Politik zu erreichen suchten, gleichzeitig aber eine offene Kritik auf Grund des Krieges nicht wagten und zunehmend kritisch auch von deutschen Stellen beobachtet wurden.659 Das galt besonders für den Theologen Johannes Lepsius, den engagiertesten Freund der Armenier in Deutschland660, der sowohl zu Harnack als auch zu Delbrück Kontakte hatte und vor dessen Wirken das Kriegspresseamt im Oktober 1915 ausdrücklich warnte. Delbrück und Harnack seien durch den Einfluß Lepsius’ „sehr ungehalten“ über die türkische Armenierpolitik: „Es scheint mir, daß wir auf dessen Werbetätigkeit für seine Ideen ein wachsames Auge haben müssen, zumal da er nach schweizerischen Pressemeldungen auch im Auslande in einer Richtung arbeitet, die der Aufrechterhaltung unserer guten Beziehungen zu dem türkischen Bundesgenossen zuwiderläuft.“661 Im selben Monat hatten Harnack und Delbrück sich an einer von Lepsius, Stier und Rade initiierten Eingabe an den Reichskanzler beteiligt, die ein entschiedenes Eintreten zugunsten der Armenier durch die deutsche RegieDeutschland“. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter, München 1972. Rohrbach, der von 1898 bis 1901 Generalsekretär des ESK war, stand bis 1930 mit Harnack in persönlichem und brieflichem Kontakt, vgl. Nl. Harnack, K. 40, Korr. Rohrbach (insgesamt 42 Blatt). Harnack, bei dem Rohrbach 1891 promoviert hatte, setzte sich auch bei Althoff für die Arbeiten seines Schülers ein, vgl. Harnack an Althoff am 18.4.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Althoff, A II, Nr. 79 III. 657 Paul Rohrbach: Die Geschichte der Menschheit, Königstein/Leipzig 1914. 658 Harnack an Rohrbach am 16.3.1914, in: BA Koblenz, Nl. Paul Rohrbach, Nr. 112. 659 Vgl. zur deutschen Haltung Ulrich Trumpener: Germany and the Ottoman Empire 1914–1918, Princeton 1968, 200–270. 660 Zu Lepsius vgl. Hermann Goltz (Hg.): Akten des Internationalen Dr.-JohannesLepsius-Symposiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 1987. 661 Deutelmoser (Kriegspresseamt) am 22.10.1915, in: PA, Abt. I A, Türkei 183, Band 39 (R 14088).
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rung forderte.662 Harnack selbst wandte sich nach einem Schreiben des schwedischen Erzbischofs Söderblom an das Auswärtige Amt663 und wies darauf hin, daß auch seine amerikanischen Freunde ihn mit „Armeniergreuel seit 3 Monaten bombardiren.“664 Die Antwort des Außenamtes wiegelte ab und wies auf die Anstrengungen des Botschafters in Konstantinopel hin.665 Die schwieriger werdende Kriegslage und die Kontroversen um Kriegsziele und innenpolitische Reformen ließen dann die Armenierfrage in den Hintergrund treten. Lepsius, Stier und Rohrbach wurden dadurch aber nicht in ihrer Überzeugung beirrt. Letzterer sprach im August 1916 gar davon, daß solange die Türkei für ihre Armenierpolitik nicht zur Verantwortung gezogen werde, auch der „deutsche Name in der Welt als beschimpft gelten“ müsse.666 Daß die Differenzen in der Armenierfrage zwischen Naumann auf der einen, Rade, Rohrbach und Harnack auf der anderen Seite667 v. a. die ethische Fundierung deutscher Weltpolitik, nicht aber deren grundsätzliche Berechtigung betrafen, belegt nicht nur der Umstand, daß Harnack gemeinsam mit Rade und Naumann eine Armenienreise planen konnte668, sondern mehr noch ein zweites Projekt, das, maßgeblich von Delbrück initiiert, sowohl von Rohrbach, Naumann und Harnack unterstützt wurde. Das 1903 ins Leben gerufene „Deutsche Bagdadkomitee für Humanitätszwecke“ sollte darauf hinwirken, daß „den jetzt so tief verwahrlosten asiatischen Teilen der Türkei im Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen Erschließung auch die Segnungen unserer abendländischen Kultur und Humanität vermittelt werden.“669 Aus den Geldern des Komitees wurde bis 1916 die Tätigkeit von bis zu drei deutschen Ärzten finanziert, da diese „die besten und natürlichsten Pioniere des Deutschtums in jenen Gegenden“ seien.670
662 Vgl. die Eingabe sowie weitere Unterlagen dazu in: Nl. Harnack, Korr. August Wilhelm Schreiber. 663 Söderblom an Harnack am 14.12.1915, in: PA, Abt. I A, Türkei 183, Band 40 (R 14089). 664 Harnack an das Auswärtiges Amt am 7.1.1916, in: aaO. 665 Unterstaatssekretär Auswärtiges Amt an Harnack am 30.12.1915, in: aaO. 666 Rohrbach an Ernst Jäckh am 15.8.1916, in: BA Koblenz, Nl. Rohrbach, Nr. 112. 667 Vgl. dazu auch in dieser Arbeit Kapitel III.4.3. 668 Vgl. Rade an Harnack am 12.12.1904 und Harnack an Rade am 21.4.1905, in: BwR 558 bzw. 572. 669 Vgl. die Statuten in: BA Koblenz, Nl. Delbrück, Nr. 33; dort weitere Unterlagen zur Tätigkeit des Komitees. 670 So Delbrück in einem Anschreiben zu den Statuten, mit dem um Mitglieder geworben werden sollte, in: aaO.
3. Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914
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3.2. Die „beste Realpolitik“ – Harnack und die Bemühungen um eine deutsch-englische Verständigung Wenngleich Harnack die Berechtigung deutscher Weltpolitik nicht grundsätzlich in Zweifel zog – Deutschland gehe es allein um den „gerechten Wettbewerb seiner Güter“, der Weltfriede sei allein durch „Sorge und Neid auf die imponierende Entwicklung Deutschlands“ gefährdet671 –, so nährte doch bereits das deutsche Vorgehen in der bosnischen Annexionskrise von 1908 noch während der Kanzlerschaft Bülows erste Bedenken am Kurs der deutschen Außenpolitik und ihrer vorbehaltlosen Unterstützung Österreichs. Für Harnack war dieser Vorstoß ein „verhängnisvoller Schritt“: „Wir vertragen in Europa keine politischen Änderungen mehr.“672 Seit der Jahreswende von 1908 auf 1909 zeichnete sich denn auch ein verstärktes Engagement Harnacks zur Pflege der deutsch-englischen Beziehungen ab.673 Das lag schon auf Grund der wissenschaftlichen Bindungen Harnacks an England nahe, das ihm von Forschungs- und Vortragsreisen, aber auch durch Privatbesuche bei seinem englischen Übersetzer Thomas Bailey Saunders gut vertraut war.674 Ob auch Bülows nach der Annexionskrise einsetzende Versuche, eine Verbesserung des angespannten Verhältnisses zu England zu erreichen, hinter Harnacks Engagement standen, muß offen bleiben. Manches spricht dafür, denn Harnack gehörte zu den in England am meisten beachteten deutschen Theologen, konnte also für eine auf Verständigung zielende Kulturarbeit sehr förderlich sein. Hinzu kamen die kirchlichen Bemühungen um eine Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, die mit einer englischen Einladung an deutsche Kirchenführer im Frühjahr 1908 eingesetzt hatten, der noch im gleichen Jahr 95 Vertreter evangelischer Landeskirchen unter der Leitung des Berliner Oberhofpredigers Ernst von Dryander – darunter auch Harnacks Freunde Martin Rade und Wilhelm Bornemann – sowie 15 Katholiken und 19 Vertreter der Freikirchen gefolgt waren.675
671
Bismarck. Zum Gedächtnis seines Todestages (1908), in: RANF 1, 189–196, 191. Harnack an Kehr am 23.12.1908, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Kehr, A I 5 Ha, Bl. 212f. Zur bosnischen Krise vgl. Hildebrand (Anm. 150), 284–289. 673 Vgl. v. a. ZH 300–303, Gerald Deckart: Deutsch-englische Verständigung: Eine Darstellung der nichtoffiziellen Bemühungen um eine Wiederannäherung der beiden Länder zwischen 1905 und 1914, München 1967, v. a. 90–108, sowie aus englischer Perspektive Günter Hollenberg: Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860– 1914, Wiesbaden 1974, 60–113 u.132–146. 674 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz mit Saunders zwischen 1890 und 1924 in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Saunders. 675 Deckart (Anm. 673), 92–103; Ernst von Dryander: Erinnerungen aus meinem Leben, Berlin/Leipzig 1922, 246–249. 672
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Ein Gegenbesuch hoher Repräsentanten der englischen Kirchen folgte im Juni 1909. Harnack war an diesem Besuchsprogramm mit einer Rede am 5. Juni 1909 an der Berliner Universität beteiligt, in der er besonders die gegenseitige theologische und religiöse Befruchtung beider Länder betonte.676 Mit der abschließenden Bemerkung, auf dem „Boden der Wissenschaft und des Christentums erscheint der Schrei ‚Krieg!‘ wie ein Wahnsinn, wie der Schrei aus einer Tiefe, aus der wir längst emporgestiegen sind“, ließ er die politische Bedeutung des Besuches anklingen.677 Auch in einem wenige Wochen zuvor in der „Christlichen Welt“ publizierten Artikel hatte Harnack die politische Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen Deutschland und England betont.678 Er würdigte darin die englischen und französischen Bemühungen um eine Beilegung der bosnischen Krise und bestritt die Behauptung, die deutsch-englische Rivalität müsse zwangsläufig in einen Krieg münden. Dieser könne vielmehr durch die Einsicht in die kulturelle Verbundenheit beider Nationen sowie ihre gemeinsamen Interessen, v. a. aber die Entwicklung einer alle sittlichen Kräfte anspannenden neuen „politischen Ethik“ verhindert werden, in der er den pazifistischen Friedensgesellschaften beider Länder ein Vorreiterrolle zusprach, „mögen auch alle Diplomaten sie als Ideologen belächeln.“679 Gegenseitiges Vertrauen sei notwendig, um die bleibenden Interessengegensätze in „einen edlen Wetteifer [zu] verwandeln“680, wozu neben dem Austausch und der Begegnung „der geistigen Führer der Völker“ die aufklärende Wirkung der Wissenschaft gegenüber jeder Form von „Chauvinismus“ beitrüge. Damit formulierte Harnack zugleich erneut den gelehrtenpolitischen Leitanspruch gerade der historischen Wissenschaften gegenüber der öffentlichen Meinung, wie sie durch die Presse repräsentiert wurde. Ihre Vertreter sollten sich von der Wissenschaft belehren lassen, daß „der Chauvinismus, der das eigene Volk für das auserwählte hält und sich eine übermütige und verletzende Sprache gestattet, […] ein gefährlicher, ja furchtbarer Feind des Friedens“ ist. „Die geschichtliche Erkenntnis macht stark und bescheiden zugleich, und eine in ihrem Geist geleitete Zeitung kann für die Erziehung der Nationen und für den Weltfrieden das Größte leisten. Denn die Wissenschaft ist darin der echten Religion verwandt, daß sie in ihren letzten Zielen stets die ganze Menschheit im Auge hat.“681 Daß die in diesem Beitrag zu Tage tretende warme, wenn auch nicht vorbehaltlose Sympathie für die organisierte Friedensbewegung kein einmaliges 676 677 678
Internationale und nationale christliche Literatur, in: RANF 1, 23–40. AaO., 40. Deutschland und England, in: ChW 23 (1909), 556–559, auch in: RANF 2, 196–
203. 679 680 681
AaO., 199. AaO., 200. AaO., 201.
3. Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914
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Lippenbekenntnis blieb, zeigte sich schon im nächsten Jahr, als Harnack den Gründungsaufruf des gemäßigt pazifistischen „Verbandes für internationale Verständigung“ unterzeichnete. Eine Zurückhaltung sei „nicht mehr ‚nostri saeculi‘ […], so muß man lernen, diese Scheu abzustreifen“, so Harnacks Begründung für seine Unterschrift.682 Die Gründungsgeschichte des Verbandes offenbarte bereits die Schwierigkeiten, die dem Verständigungsgedanken gerade im Bereich von Hochschulen und Wissenschaft erwuchsen. Obwohl Harnack bereits Ende 1909 seine Zustimmung signalisiert hatte, konnte sich der Verband mangels Resonanz erst im Juni 1911 konstituieren. Daran änderte auch der Umstand nichts, daß der Verband ausdrücklich unabhängig von der Deutschen Friedensgesellschaft konzipiert worden war, das Recht eines Staates zu einem Krieg, der der „Verteidigung seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit“ diente, ausdrücklich bejahte und sein Ziel besonders in der „Zurückweisung leichtsinniger Kriegshetzereien“ und einer Mäßigung der deutschen Außenpolitik erblickte.683 Harnacks vorrangiges Engagement galt freilich den parallel laufenden kirchlichen Bemühungen. Nach dem unübersehbaren Erfolg des englischen Besuchs von 1909 konstituierte sich als Nachfolger des deutschen Vorbereitungsausschusses am 9. Dezember 1909 das „kirchliche Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland“ unter dem Vorsitz von Friedrich Albert Spieker – Direktor bei Siemens und Halske und gleichzeitig Präsident des Zentralausschusses der Inneren Mission –, maßgeblich organisiert allerdings von dem auch sozialdiakonisch überaus engagierten jungen Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze.684 Harnack, der zu den Gründungsmitgliedern des Komitees zählte, ergriff unmittelbar nach den grundsätzlichen Ausführungen Siegmund-Schultzes – Aufgabe sei die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, die anders als in England nur wenig Notiz von den Besuchen genommen habe – das Wort und bezeichnete „das jetzt gegründete kleine Komitee“ als „Anfang einer grossen Sache.“685 Ein entsprechendes englisches Komitee konstituierte sich im Februar 1911 im Beisein Harnacks und Spiekers auf Initiative des liberalen Unter-
682 Harnack an Rade am 10.12.1909, in: BwR 638, der Harnack am 9.12.1909 zur Unterschrift aufgefordert hatte (aaO., 636f.). Exemplar des Aufrufs mit Unterschriften in: EZA 51/D I a 1,2. Zur Geschichte des Verbandes vgl. Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, 94–97 sowie grundlegend Roger Chickerung: A voice of Moderation in Imperial Germany: Der Verband für internationale Verständigung, in: JCH 8 (1973), 147–164. 683 So die Formulierungen des in der vorangegangenen Anmerkung nachgewiesenen Gründungsaufrufs. 684 Vgl. Protokoll der Sitzung vom 9.12.1909, in: EZA 51/B IV a 1/2. 685 AaO., Bl. 7f.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
hausabgeordneten Joseph Allen Baker686, auf den bereits die Einladung an die Deutschen 1908 zurückgegangen war.687 Baker, ein engagierter Quäker, hatte einen nicht unbedeutenden Rückhalt für das Projekt in der Politik und bei den verschiedenen Kirchen organisiert und schon 1908 dafür gesorgt, daß die deutsche Delegation von König Eduard VII. empfangen wurde. Dem englischen Komitee gehörten neben etlichen liberalen Parlamentsabgeordneten, die meist Gegner der amtlichen britischen Außenpolitik waren, hohe Repräsentanten der Freikirchen und der anglikanischen Staatskirche an, deren geistliches Oberhaupt, der Erzbischof von Canterbury Randall Thomas Davidson die Präsidentschaft des Komitees übernahm, das etwa 7000 Mitglieder hatte.688 Harnack, der auch vom König zu einer Audienz empfangen wurde, hielt in dessen Gegenwart die Hauptrede, in der er wie schon 1909 die sittliche Aufgabe des Friedens betonte. Neid und Rivalität seien überwindbar: „Wir können nicht sofort am Ziele sein, aber das ferne Ziel soll uns beseelen und uns die nächsten Schritte lehren. Der nächste Schritt aber ist, daß wir den Neid in unserer Mitte nicht dulden und daß wir den Provokateuren den Mund stopfen.“689 In einem in der englischen „Christian World“ erschienenen Interview mit dem baptistischen Theologen und Geschäftsführer des englischen Komitees Henry Rushbrooke – er hatte zwei Jahre bei Harnack in Berlin studiert – äußerte sich Harnack dann wesentlich deutlicher: England, Amerika und Deutschland müßten wegen ihrer gemeinsamen Abstammung, ihrem reformatorischen Erbe, v. a. aber der ihnen gemeinsamen gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen intensiv kooperieren. Auch im Handel könnten diese Nationen nur voneinander profitieren, so daß sich schon von daher der Gedanke an einen Krieg verbiete. „Auch dies ist nicht zu leugnen“, so Harnack weiter, „angesichts unserer modernen Vernichtungswerkzeuge ist der Krieg ein Schreckgespenst ohnegleichen geworden.“690 Ein Verteidigungskrieg sei zwar nicht auszuschließen, doch „das Volksgewissen lehnt sich mehr und mehr auf gegen den Krieg, und das wird jeden Kulturstaat zwingen, sich die Sache sehr zu überlegen, bevor er einen anderen Kulturstaat angreift.“ Rushbrooke schilderte im Anschluß an diese Ausführungen Harnacks seinen Eindruck von dessen Bestrebungen: „Der Eifer, mit dem Harnack seinen Standpunkt vertrat, beherrschte ihn völlig und etwas wie prophetische Kraft belebte seine Stimme, als er die Behauptung bestritt, daß selbst ein ungerechter Krieg Tugenden entwickele, an denen die Moral einer Nation gesunde, und daß weibliche Schwäche überhand nehmen wür686 Vgl. den ausführlichen Bericht von Friedrich Siegmund-Schultze: Freundschaftsarbeit der britischen und deutschen Kirchen, in: ChW 25 (1911), 752–759. 687 Vgl. zur herausragenden Rolle Bakers Hollenberg (Anm. 673), 132–135. 688 AaO., 139. 689 Der Friede die Frucht des Geistes, in: RA 1, 203–209, hier 209. 690 Deutsche Übersetzung bei Siegmund-Schultze (Anm. 686) 754–757, 756.
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de, wenn jeder Kampf aufhöre. Erfordern nicht auch friedliche Kulturaufgaben zu ihrer erfolgreichen Lösung Mut und Kraftaufwand, Selbstzucht und Willensstärke? Die behauptete Notwendigkeit, Krieg führen zu müssen, sei nichts als der überlieferte Rest eines veralteten und barbarischen Aberglaubens.“691 Harnacks Ausführungen der Jahre 1909 bis 1911 wie seine positive Würdigung der Friedensbewegung lassen eine deutliche Nähe zu pazifistischen Positionen erkennen. Insgesamt wird man ihn – in Aufnahme einer 1916 von Hans Delbrück gebrauchten Formulierung – als Anhänger eines realpolitischen Pazifismus bezeichnen können692, wie er etwa auch in den Bemühungen des Verbandes für internationale Verständigung zum Ausdruck kam, der Kriege als Mittel der Verteidigung nicht prinzipiell ausschloß und auch die Berechtigung deutscher Weltpolitik nicht grundsätzlich in Frage stellte, wohl aber auf eine Mäßigung ihrer Instrumentarien setzte. Harnacks Einsatz für die deutsch-englische Verständigung korrespondierte im Jahr 1911 eine deutliche Sympathie für die politischen Zustände in England. Zwar nannte er das englische Regierungssystem nicht ausdrücklich als Vorbild für Deutschland, wies aber auf dessen teilweise nach deutschem Vorbild gestaltete Sozialversicherungsordnung hin: „Die einfache und großzügige Linienführung der dortigen Versicherungsgesetzgebung erfüllt uns mit Bewunderung, aber mit noch größerer die einfache Art, in der sie aufgenommen worden ist.“ England erweise sich gegenüber Deutschland als „geschlossener und politisch reifer […] und hält uns zu unserer Beschämung einen Spiegel vor.“693 Daß auch Harnack bereit war, im Krisenfall seine Verständigungsbemühungen zumindest teilweise zurückzustellen, zeigte sich allerdings bereits in der zweiten Marokkokrise, die die zweite Hälfte des Jahres 1911 dominierte, sowie bei gleichzeitigen Gerüchten, die englische Regierung plane einen Präventivschlag gegen die deutsche Flotte.694 Diese an den Rand eines Krieges führende Krise stellte auch das Kirchliche Komitee vor eine schwere Belastungsprobe.695 Als das deutsche Komitee auf einer Sitzung am 24. November 1911 die Reaktion auf eine Resolution des englischen Komitees beriet, das sich darin ausdrücklich zu den Idealen der Verständigungsarbeit bekannte, empfahl Harnack eine „freundliche Ablehnung“ als Antwort. Die Erwiderung dürfe trotz „unserer moralischen Gefühle für eine Verständigung und trotz unserer Sympathie für die Friedenspartei, die tatsächlich in England besteht“, das gegenwärtige „deutsche Volksbewußtsein nicht igno691 692 693 694 695
Ebd. Hans Delbrück: Realpolitischer Pazifismus, in: PJ 166 (1916), 177–187. VESK 22 (1911), 3. Hildebrand (Anm. 150), 303–313. Hollenberg (Anm. 673), 142f.
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rieren.“ Ursache der Krise sei Englands Anspruch auf Suprematie auf den Weltmeeren, die „uns an unseren berechtigten Bestrebungen gehindert hat.“ Harnack schlug sogar vor, in der deutschen Antwort auf die Unschuld der Reichsleitung an der Krise zu verweisen, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.696 So beschränkte sich die deutsche Antwort auf die Bemerkung, daß man den Zeitpunkt für öffentliche Erklärungen zur Zeit nicht für günstig halte, was einer Brüskierung des englischen Komitees gleichkam. Wie unsicher man sich im deutschen Komitee über das weitere Vorgehen war – ein Ende der Arbeit wurde allerdings von keinem seiner Mitglieder gefordert –, ist dem Umstand zu entnehmen, daß man sich auf der Vorstandssitzung vom 30. Januar 1912 wieder von dem eigenen Brief distanzierte. Inzwischen war freilich eine gewisse Entspannung der Situation eingetreten. Harnacks vergleichsweise entschlossenes Auftreten vom November 1911 überdeckte allerdings nur die eigene Unsicherheit in der Frage, wie eine Reaktion Deutschlands aussehen könnte. Im Oktober 1911 hatte er Bernhard von Bülow anvertraut: „War die Entsendung eines Schiffs nach Agadir notwendig? War es notwendig, die Nation so lange Zeit im Dunkeln zu lassen, was diese Entsendung eigentlich bezweckte? Wußte man an leitender Stelle selbst sicher, was man eigentlich wollte? […] Noch suche ich immer, meinem Optimismus getreu, in meinem Kreise die Dinge von der besten Seite zu nehmen und vor allem darauf hinzuweisen, daß wir zu einem Kriege kein zureichendes Motiv haben; aber im Stillen fange ich an zu argwöhnen, daß wir uns selbst Stricke an Hände und Füße gebunden haben und daß diese Situation unerträglich werden kann.“697 Bülow antwortete mit einer ausführlichen Rechtfertigung der deutschen Politik698, konnte Harnack aber offensichtlich nicht vollends überzeugen, so daß es eines zweiten Briefes Bülows bedurfte, um Harnacks nun auch an der Flottenpolitik geäußerten Zweifeln entgegenzutreten. Bülows Antwort war letztlich ausweichend: Einerseits redete er einer Verständigung mit England beim Flottenbau das Wort, andererseits meinte er, man solle „das Nachlaufen hinter England […] für einige Zeit aufgeben.“699 Harnack stand über diese Frage nicht nur mit Bülow, sondern auch mit Delbrück in engem Austausch. 696
Protokoll der Sitzung vom 24.11.1911, in: EZA 51/B IV c 1, Bl. 2–4. Harnack an Bülow am 18. Oktober 1911, zitiert nach ZH 299f. Dieser Brief war weder im Nl. Harnack noch im Nl. Bülow auffindbar, wird aber der Sache nach durch Bülows in der folgenden Anmerkung aufgeführten Antwortbrief bestätigt. 698 Bülow an Harnack am 30.10. 1911 sowie am 9. 11.1911, mit dem Bülow auf einen gleichfalls nicht erhaltenen Brief Harnacks vom 9.11.1911 reagierte, in: Nl. Harnack, K. 28, Korr. Bülow. 699 Bülow an Harnack am 30.12.1911, in: aaO. Bülow nahm darin Bezug auf einen entsprechenden Brief Harnacks vom 6.12.1911, der allerdings nicht im Nl. Bülow auffindbar war. 697
3. Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914
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Dieser hatte die außenpolitische Linie der Reichsleitung unterstützt700, zugleich aber seit Anfang November sowohl öffentlich als auch in seiner umfangreichen Korrespondenz auf außenpolitische Mäßigung gesetzt. Man müsse nun „eine sehr vorsichtige Politik“ betreiben, schrieb er an den nationalliberalen Parteiführer Ernst Bassermann701, und Außenstaatssekretär Kiderlen-Wächter in der einsetzenden Debatte um eine Verstärkung von Heer oder Flotte gegen Tirpitz’ Pläne einer erneuten Flottenverstärkung unterstützen, da diese die Spannungen mit England weiter verschärfen würde. Den mäßigenden Tönen nach innen ließ er gleichzeitig in Kontakten mit englischen Politikern und Journalisten forschere Töne folgen. Harnacks Auftreten in den folgenden Wochen läßt sich durchaus in Parallelität zu Delbrücks Verhalten setzen. Nach Anfragen seitens Friedrich Siegmund-Schultzes und englischer Freunde veröffentlichte er Ende Januar 1912 einen offenen Brief an Siegmund-Schultze, in dem er zwischen scharfen antienglischen Tönen auf der einen und der gleichzeitigen Versicherung der Notwendigkeit der Verständigungsarbeit auf der anderen Seite changierte.702 Die englische Politik gegenüber Deutschland sei seit dem vergangenen Jahr eine feindselige geworden. Besonders beklagte Harnack den vermeintlichen Neid Englands auf die wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands sowie seinen Anspruch auf uneingeschränkte Beherrschung der Weltmeere. Die Unterstützung Frankreichs im Marokko-Konflikt habe das offen zu Tage treten lassen. Sollte England diese Politik fortsetzen, dann zwinge es Deutschland, „auf der Hut zu sein und den Gedanken an eine ‚Detente‘ aufzugeben.“703 Das hätte, so Harnack weiter, auch Konsequenzen für die kirchliche Verständigungsarbeit, „denn auf einer Eisscholle, die nach Osten getrieben wird, nach Westen zu marschieren, ist eine unnütze Anstrengung.“704 Enthielten Harnacks Äußerungen damit bereits die wesentlichen Versatzstücke, die seine Stellungnahmen gegenüber England auch nach Ausbruch des Weltkrieges 1914 kennzeichneten, so markierte die Schlußpassage sein 700 Vgl. dazu mit zahlreichen Quellenbelegen Rüdiger vom Bruch: „Deutschland und England. Heeres- oder Flottenverstärkung?“ Politische Publizistik deutscher Hochschullehrer 1911/1912, in: MGM 29 (1989), 1–35, v.a. 17f. (zu Harnack), 20–23 (zu Delbrück). Delbrücks Kommentare standen in so großer Nähe zur Linie des Auswärtigen Amtes, daß Otto Hintze diese Übereinstimmung als „hübsches Problem für die historische Quellenkritik“ bezeichnen konnte (aaO., 20). 701 Delbrück an Bassermann am 3.11.1911, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 157, Briefkonzeptbuch Nr. 26. 702 Brief an Herrn Pastor Lic. Siegmund-Schultze vom 17. Januar 1912, in: RANF 3, 279–283. Der Brief wurde zuerst in den „Blättern des kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland, Nr. 9 (1912), sowie dem Organ des englischen Komitees, „The Peacemaker“ veröffentlicht, dann auch in: ChW 26 (1912), 209f sowie u. d. T. As others see us in: Daily News vom 17.2.1912. 703 AaO., 281. 704 Ebd.
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grundsätzliches Festhalten an den Verständigungsidealen: Er betonte darin erneut die Bedeutung der Zusammenarbeit der drei „germanischen Reiche England, Nordamerika und Deutschland“705, die eine sittliche Anspannung aller Kräfte zu einem friedlichen Wettbewerb erfordere. Seien die Gaben dieser Völker ohne Neid in gemeinsamer Arbeit vereint, „so wird jede von ihnen sich selbst aufs sicherste erhalten.“ Insofern gab es zur Verständigungspolitik letztlich keine realistische Alternative: „Über solche Erwägungen mögen die Klugen lächeln; aber ich bin gewiß, daß sie kein Traum sind, sondern die beste Realpolitik, und ich habe noch immer die Hoffnung – besonders auch im Hinblick auf die ausgezeichneten Gesinnungsgenossen in England –, daß diese Politik sich verwirklichen wird.“706 Das Schwanken zwischen harten Tönen auf der einen, grundsätzlicher Bereitschaft zur Fortsetzung der Verständigungsarbeit auf der anderen Seite, spiegelte sich auch in der Aufnahme der Äußerungen Harnacks in der Presse wider. Während die „Tägliche Rundschau“ Harnacks Worte als berechtigten Abgesang auf die Verständigungspolitik interpretierte, sah sich die pazifistische „Friedenswarte“ durch Harnacks Schlußworte in ihrer Position bestätigt.707 Neben diese öffentlichen Kontakte traten Briefwechsel mit englischen Freunden, darunter auch dem Erzbischof von Canterbury, der Harnack am 11. Januar 1912 in Erwartung einer Stellungnahme „in mind the weight of influence which you exercise“ auf deren voraussichtlich große Resonanz gerade in England hinwies. Zur Mäßigung sollte der ausdrückliche Hinweis dienen, daß alle Gerüchte, „that there was last autumn a design entertained in England to make some kind of naval attack or raid upon Germany“ völlig aus der Luft gegriffen seien.708 Der Aufforderung des Erzbischofs nach einer erneuten Versicherung seiner freundschaftlichen Verbundenheit mit England kam Harnack allenfalls begrenzt nach. An seiner Gesinnung gegenüber den englischen Freunden bestehe kein Zweifel, so Harnack in seiner Antwort, aber „es steht nicht in meiner Macht und nicht in der Macht meines Vaterlandes, die dunkle Wolke zu zerstreuen, die von England über den Kanal zu uns gekommen ist.“ Auch wenn es keine Wolke, sondern nur ein Schatten sei, so müßten sich die deutschen Freunde, so lange die englische Regierung diesen Schatten nicht verscheucht habe, „eine gewisse Reserve auferlegen – nicht in unseren Gesinnungen, auch nicht in unserer Wirksamkeit im eigenen Lande zugunsten des Friedens, wohl aber nach außen.“709 705
AaO., 282. AaO., 283. 707 Tägliche Rundschau Nr. 96 vom 21.1.1912; Friedenswarte 14 (1912), 109; vgl. auch vom Bruch: Deutschland (Anm. 700), 17f. 708 Erzbischof Davidson an Harnack am 11.1.1912, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Davidson. 709 Harnack an Erzbischof Davidson am 14.1.1912, zitiert nach: ZH 302f. Zahn-Harnack nennt als Empfänger einen „hohen englischen Geistlichen.“ 706
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Im handgeschriebenen Antwortschreiben des Erzbischofs wurden dann noch einmal die grundsätzlichen Differenzen in der Einschätzung der außenpolitischen Lage deutlich. England habe auch in der letzten Krise grundsätzlich versucht, „not to be the first to break the peace and not to encourage anyone to do so.“ Dagegen sei die deutsche Position zumindest in der englischen Wahrnehmung hinsichtlich der politischen Ziele nicht erkennbar gewesen. Gleichwohl sei der Brief Harnacks eine Basis, auf der auch weiterhin gemeinsame Arbeit möglich sei.710 Die Wirkungen der Marokkokrise ließen sich nicht nur an den rückläufigen Mitgliedszahlen des deutschen Komitees ablesen, sondern auch im beiderseitigen Einvernehmen, die Arbeit zwar konsequent fortzusetzen, aber weniger als bisher mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie den hochrangigen Besuchen von 1908, 1909 und 1911 hervorzutreten. Harnack blieb der Arbeit des Komitees weiterhin verbunden. Dazu hat neben den Kontakten zu englischen Freunden wie dem Erzbischof von Canterbury auch der Umstand beigetragen, daß der englische Premier Herbert Asquith im Februar 1912 alle Gerüchte um einen Angriff Englands auf die deutsche Flotte dementierte.711 Als im März 1912 Adolf Deißmann zusammen mit Spiecker die Jahrestagung des englischen Komitees in London besuchte, ließ Harnack den englischen Freunden nicht nur die besten Wünsche ausrichten, sondern ihnen von Deißmann einen Brief übermitteln, in dem er sich ausdrücklich zur Arbeit beider Komitees bekannte und der „unter rauschendem Beifall der englischen Zuhörerschaft verlesen“ wurde.712 Zur Jahreswende 1912/13 beurteilte Harnack die Möglichkeiten einer deutsch-englischen Verständigung wieder wesentlich günstiger als Ende 1911.713 Noch im Mai 1914 trat er als Redner auf einer Versammlung des deutschen Komitees im Preußischen Abgeordnetenhaus auf und beschwor die kulturellen und religiösen Gemeinsamkeiten beider Länder.714 Der Arbeit des Komitees blieb Harnack auch im Weltkrieg und über ihn hinaus verbunden, ebenso wie er die Arbeit seines Fakultätskollegen Deißmann, der seit 1912 über die wohl besten Kontakte eines deutschen Theologen nach England verfügte, unterstützte. Die v. a. von Siegmund-Schultze mit großem 710 Erzbischof Davidson an Harnack am 24.1.1912, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Davidson. 711 Hollenberg (Anm. 673), 143. 712 Vgl. den Bericht der Magdeburgischen Zeitung vom 28.3.1912, Exemplar in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 352, sowie Harnack an Deißmann am 23.3.1912, in: aaO. Harnacks Brief ist nicht auffindbar. 713 Vgl. Harnack an Bülow am 29.12.1912, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 714 Unterlagen zu dieser Sitzung in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 352; vgl. ferner die Notiz in: Die Eiche 2 (1914), 214 sowie Siegmund-Schultze an Harnack (ohne Datum), in dem dieser Harnack ein Exemplar der Zeitschritt „The Peacemaker“ übersandte, in der die Rede Harnacks abgedruckt wurde. Der entsprechende Jahrgang war mir leider nicht zugänglich.
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IV. Der führende Repräsentant gouvernementaler Gelehrtenpolitik
Einsatz betriebene Arbeit des deutschen Komitees gipfelte in der Planung einer großen internationalen Konferenz, die für den 1. bis 5. August 1914 nach Konstanz einberufen werden sollte. Die Konferenz fand trotz Kriegsausbruch eingeschränkt statt und führte zur Konstituierung des „Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.“ Dessen Leitungskomitee, dem deutsche, englische, amerikanische, französische und schweizer Vertreter angehörten, trat erstmals 1915 in Bern zusammen und konnte die Arbeit über den Krieg hinaus fortführen. Einmütige Unterstützung fand die Konstanzer Konferenz allerdings bereits vor Kriegsausbruch im deutschen Komitee nicht mehr. So forderte der Berliner Generalsuperintendent Friedrich Lahusen den Präsidenten des Komitees auf, auf eine eigene Teilnahme zu verzichten, „damit die Arbeit des Kirchlichen Komitees nicht zu eng mit der allgemeinen Friedensarbeit verknüpft würde.“715 Blieb Harnack nach 1911 zwar den Verständigungsbemühungen, wenn auch mit größerer Skepsis, verbunden, so setzte er sich nach der Annäherung von 1910 und 1911 nach der Marokkokrise wieder stärker von der Friedensbewegung ab, allerdings nicht im Rahmen des Kirchlichen Komitees oder der Konstanzer Konferenz von 1914. Als ihm im Mai 1913 ein von dem Berliner liberalen Pfarrer Walter Nithack-Stahn und von Heinrich Weinel initiierter Friedensaufruf zuging, der den internationalen Rüstungswettlauf und die zunehmende Kriegsgefahr verurteilte und von insgesamt 395 evangelischen Theologen, darunter 12 Professoren unterzeichnet wurde716, lehnte Harnack eine Unterschrift ab. Der Krieg stelle nur ein Übel innerhalb des bestehenden internationalen Systems dar: „Ich kenne schleichendere und schlimmere sozial-politische Übel, so furchtbar die Kriegsart ist!“ Auch müsse seine Unterschrift als Votum gegen die anstehende Militärvorlage verstanden werden. Dagegen empfahl Harnack die Annahme der Vorlage – an der sich im übrigen wegen der Stärkung des Heeres an Stelle der Flotte ein heftiger innenpolitischer Streit entzündet hatte. In dieser Debatte schälten sich bereits die beiden Lager der Kriegszieldebatte nach 1914 erstmals heraus, denn der auch von den Sozialdemokraten indirekt unterstützten und von Delbrück vehement befürworteten Vorlage war eine heftige Auseinandersetzung über die außenpolitische Orientierung des Reiches innerhalb der Reichsleitung vorausgegangen. Die hinter den Forderungen Tirpitz’ zurückbleibende Flottenvorlage bewog etwa den alldeutschen Historiker Dietrich Schäfer, öffentlich für die Ablehnung der Vorlage einzutreten.717 „Wir müssen“, so Harnack, „die Kräfte in unserem Vaterland stärken, die nun 43 Jahre den Frieden erhalten haben. Welche sind das? Die wachsende Abnei715 Vgl. Protokoll der Ausschußsitzung vom 4.6.1914, in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 352. 716 Holl (Anm. 682), 69. 717 Zur Haltung der Professoren v.a. vom Bruch: Deutschland (Anm. 700), zum politischen Kontext Nipperdey (Anm. 346), 752–754.
3. Harnack und die deutsche Außenpolitik bis 1914
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gung gegen den Krieg? Gewiß auch! Aber die Hauptkraft, die das herbeigeführt hat, ist sie nicht; die Hauptkraft, die uns das verbürgte, ist u[nd] bleibt unsre Stärke! […] Halten wir lieber wirklich Frieden wie bisher, machen wir uns stark genug, Frieden halten zu können u. ihn den Anderen zu diktiren, u. setzen wir diese Haltung noch 43 Jahre fort – dann wird das uns als reiche Frucht vom Baum fallen, was jetzt nicht anders als schweigend vorbereitet werden kann!“718 Harnack setzte damit unverhohlen auf eine Politik der militärischen Stärke Deutschlands, die zwar die Verständigungsbemühungen nicht ausschloß, sie aber im Konfliktfall in den Hintergrund treten ließ. Er gehörte zwar keineswegs zu der nicht geringen Anzahl an Professoren und Intellektuellen in Deutschland, die den Krieg für unvermeidlich ansahen oder gar herbeisehnten, war aber für den Fall, daß ein solcher Krieg der Verteidigung diente, durchaus „kriegsbereit“719 – eine Haltung, die bereits die Resolution des Verbandes für internationale Verständigung kennzeichnete. Die insgesamt unkritische Haltung gegenüber der Politik der Reichsleitung sollte sich in der Einschätzung der Ursachen des Kriegsausbruchs fortsetzen: Harnack stellte sich ohne Vorbehalte hinter die deutsche Regierung. Die argumentativen Instrumentarien zur Erklärung des englischen Kriegsbeitritts lagen seit der Marokkokrise von 1911 bereit. Damit waren wesentliche Elemente des Verhaltens Harnacks zu Beginn des Krieges – ähnlich wie im Bereich der Innenpolitik – bereits vorgezeichnet. Daß er den Abbruch der Bemühungen um eine deutsch-englische Verständigung zwar als tiefgreifend, aber nicht als dauerhaft empfand, vermag angesichts seiner regen Tätigkeit für internationale Kulturpolitik ebenso wenig zu überraschen wie seine Haltung in der Frage nach der politischen Orientierung Deutschlands zwischen Ost und West während der Kriegszieldebatte. Es war mehr als nur Kriegspropaganda, wenn Harnack im August 1914 die kulturelle Zusammengehörigkeit Deutschlands und der Vereinigten Staaten beschwor.
718 Harnack an Weinel am 11.5.1913, in: ThULB Jena, Nl. Weinel, Nr. 5a. Weinel publizierte diesen Brief mit Zustimmung Harnacks in der von ihm redigierten Zeitschrift Christliche Freiheit für Thüringen und Sachsen 1 (1913), 99. 719 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch: Krieg und Frieden. Zur Frage der Militarisierung deutscher Hochschullehrer und Universitäten im späten Kaiserreich, in: Karl Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, 74–98.
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V. Harnack im Ersten Weltkrieg
V. Zwischen Kriegsbegeisterung und Reformbereitschaft: Harnack im Ersten Weltkrieg 1. „Augusterlebnis“ und „Krieg der Geister“: Harnack in den ersten Monaten des Weltkrieges 1.1. August 1914 Der Ausbruch des Krieges durch die deutschen Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich vom 1. und 3. August 1914 löste eine den heutigen Betrachter befremdende nationale Begeisterung aus, die sich als „Augusterlebnis“ in breiten Bevölkerungskreisen niederschlug. Die Euphorie der ersten Kriegstage blieb zwar keineswegs unwidersprochen und wurde besonders unter der „einfachen“ Landbevölkerung, aber auch in Teilen der Arbeiterschaft, nur begrenzt geteilt. Trotz dieser regionalen und sozialen Differenzierungen ist das Augusterlebnis jedoch nicht als Legende abzuqualifizieren. Nicht nur das Bürgertum, sondern breite Bevölkerungsschichten begrüßten den Krieg, der zunächst die innenpolitischen Gegensätze beiseite schob.1 Auch Harnack gab sich in den ersten Augusttagen der Euphorie des patriotischen Enthusiasmus hin. Seine dogmengeschichtliche Vorlesung vom 1. August 1914 begann er mit einer Stellungnahme zum Ausbruch des Krieges. Harnack zitierte Ernst Moritz Arndt: „Der Gott der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spiess dem Mann in seine Rechte“, um dann fortzufahren: „Das ist die höchste Rechtfertigung des Krieges. Er wollte keine Knechte! Wenn dieser Zustand bedroht ist, nur dann, dann aber auch mit aller Freude und allem Triumphe soll und muss man in den Krieg ziehen, wenn man sich klar machen muss, ob wir die Aufgaben, die wir als Volk als eine Schöpfung Gottes auszuführen verpflichtet sind, durchführen können oder nicht. Wenn wir daran gehindert werden, 1 Vgl. Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Thomas Rohkrämer: August 1914 – Kriegsmentalität und ihre Voraussetzungen, in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, 759–777; für die Hochschullehrer Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.
1. „Augusterlebnis“ und „Krieg der Geister“
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dann gilt das Wort, dass der Gott, der uns geschaffen hat, keine Knechte wollte, sondern in freier Ausgestaltung die Güter und die Kraft, die er der Nation gegeben hat, bewahren und schützen wollte.“ Daß der nun zu führende Krieg ein bellum iustum sei, beweise gerade seine Aufnahme durch die Bevölkerung: „Und wenn jetzt der Krieg mit ehernen Schritten entgegenkommt, wie nehmen wir ihn auf? Wir brauchen nur hinauszusehen auf die Strasse! Ruhig, kräftig und schließlich jubelnd, weil ein unbestimmtes kräftiges Gefühl in jedem wallt, wenn einmal die Losung eines gerechten Krieges da ist!“ Dabei sprach Harnack dem Krieg auch eine sittlich läuternde Kraft zu, denn „so viel Kleinliches, Egoistisches fällt ab, nur auf grosse Gesichtspunkte kommt alles an. Die Einheit der Nation wird ein Bewusstsein, die Einheit der Nation, die alles für ihre Ehre einsetzt, überwiegt alle Gesichtspunkte und das Einzelne.“2 Auch in einem Brief vom 3. August an den Kaiser sprach Harnack von einem Verteidigungskrieg und konnte den Monarchen in diesem Zusammenhang sogar mit dem biblisch-messianischen Titel des „Friedefürsten“ belegen, dem allein „der freche Übermut und die Felonie unserer Feinde […] das Schwert der Abwehr in die Hand gedrückt“ hätten. 3 Wie schon in der Vorlesung vom 1. August bestätigte die Reaktion des Volkes gleichsam den Friedenswillen seines Regenten: „Diese Geduld hat Gott der Herr gekrönt; denn wie ein Mann steht das ganze Volk hinter Ew. Majestät! Es reicht Ew. Majestät den letzten Blutstropfen; der furor teutonicus in gesammelter Kraft bricht los, und auch nicht einer bleibt zurück!“ Sodann konstatierte Harnack in Anknüpfung an seine Reden auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß, in denen er fortwährend den die Einheit der Nation gefährdenden „Kastengeist“ kritisiert hatte, daß „jetzt die letzten Reste des bösen Geistes getilgt“ seien. Er illustrierte dies mit der Schilderung eines Gespräches, das er während des Gottesdienstes vor dem Reichstag am vorangegangenen Tag mit einem sozialdemokratischen Arbeiter geführt hatte. Harnack zitierte ihn mit den Worten: „Bisher waren wir Rot, jetzt ist Schwarz-Weiß dazu gekommen, und wir sind alle dabei“, und kommentierte dann: „So ist’s – ein herrlicher Erfolg! […] Daß man das erleben darf, ist schon ein herrlicher Gewinn!“ Die Reichstagssitzung vom 4. August 1914 – Harnacks Fakultätskollege Deißmann sprach vom „welthistorische[n] Rütli: Kaiser und Volk wechseln Gelübde und Handschlag“4 –, in der die Sozialdemokratie geschlossen den 2 Ansprache in der Vorlesung am 1. August 1914 (studentische Nachschrift), in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 68. 3 Harnack an Wilhelm II. am 3. August 1914, GStA-PK I. HA Rep. 89, Nr. 32412, Bl. 45–47. Alle Zitate dieses Absatzes sind – soweit nicht anders angegeben – diesem Brief entnommen. 4 Adolf Deißmann: Deutscher Schwertsegen. Kräfte der Heimat fürs reisige Heer, Stuttgart/Berlin 1915, 11.
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V. Harnack im Ersten Weltkrieg
Kriegskrediten zustimmte, verfolgte Harnack mit seinem Sohn Axel in der Ehrenloge des Bundesrates, für die ihm der Innenstaatssekretär Clemens von Delbrück Karten zur Verfügung gestellt hatte. Die „herrliche Reichstagssitzung vom 4. August“, in deren Anschluß Harnack auf die Bitte des Innenstaatssekretärs hin einen ersten Entwurf für den kaiserlichen Aufruf vom 6. August anfertigte5, werde ihm zeitlebens eine „leuchtende Erinnerung sein“, äußerte der Gelehrte im September 1914, denn in ihr habe sich die Wahrheit des Wortes Wilhelms II. gezeigt: „Es gab keine Parteien mehr, es gab keine Nationalliberalen und kein Zentrum und keine Sozialdemokraten. […] In dieser feurigen Bereitschaft: Für das Vaterland jeden Mann und jeden Groschen, zerschmolz alles Eifersüchtige und Parteimäßige, und als eine große Realität stand einzig da: das Vaterland!“6 Die mit dem Krieg erfolgte Integration der Sozialdemokratie in die bestehende Ordnung war in dieser Perspektive bereits ein Gewinn, den es unter allen Umständen zu bewahren galt. Harnacks Schwager Delbrück betrachtete diese Entwicklung in den „Preußischen Jahrbüchern“ vom 23. August 1914 als „den vollen Segen der Sozialreform.“ So sei mit dem äußeren Wachstum der Sozialdemokratie „eine innere Abwandlung verbunden, eine ‚Mauserung‘“ einhergegangen, mit welcher „die internationale revolutionäre Masse leise, leise auf den nationalen Boden“ gestellt wurde.7 Diese Ansicht dürfte sich auch Harnack im wesentlichen zu eigen gemacht haben, der wie Delbrück in der Vorkriegszeit auf eine innere Wandlung der Sozialdemokratie durch allmähliche Übernahme von staatspolitischer Verantwortung gesetzt hatte. Für Delbrück war diese Entwicklung nicht ohne die vielgeschmähten, aber notwendigen Parteikämpfe zu erklären, die aber doch in der Stunde der Gefahr zurücktreten konnten. Gelinge dies, so ziehe der Staat „aus dem Parteienkampf auch gewaltige Quellen der Kraft.“ 8 Zwar übernahm Harnack Delbrücks zu dieser Zeit ausgesprochen bemerkenswerte Stellungnahme zu den positiven Wirkungen parteipolitischer Auseinandersetzungen nicht vollständig, doch auch er hielt die Rückkehr zu den Parteikämpfen für unvermeidbar und verband diese Erwartung mit der Hoffnung, daß es gelingen möge, nicht nur „das Gift, die Lüge, die Verleumdung aus dem Parteiwesen“, sondern auch den alten „Kastengeist“ aus der Gesellschaft zu entfernen.9 Besonders vom liberalen Süddeutschland könnten das nördliche und das ostelbische Deutschland lernen, „patriarchalische 5 Vgl. Axel von Harnack: Der Aufruf Kaiser Wilhelm II. beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Die Neue Rundschau 64 (1953), 613f. Harnacks Entwurf im Original in: BA Berlin, Nl. Theodor Lewald, Nr. 39, Bl. 6f. 6 RANF 3, 311–330, 317. 7 PJ 157 (1914), 562. 8 AaO., 563. 9 RANF 3, 327.
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Begönnerung, aber auch jene[n] unhumanen Geist, der zuerst auf den Stand und dann erst auf den Menschen sieht“, abzulegen.10 Daneben nannte er die Vereinigten Staaten als mögliches Vorbild, das sich nicht zuletzt durch den „Geist des bürgerlichen Mutes und der bürgerlichen Freiheit“ auszeichne.11 Daß Harnack auch in der Zeit der überschwenglichen Kriegsbegeisterung wenigstens teilweise das „amerikanische Modell“ loben konnte, widerlegt die allzu plakative These Karl Hammers von „Harnacks grundsätzlich feindselige[r] Haltung gegenüber allem, was aus dem westlichen Ausland stammte“12, und war auch ein Ergebnis seiner amerikanischen Vorkriegserfahrungen. Blieben diese Erwägungen Harnacks vom September 1914 im Blick auf mögliche innenpolitische Konsequenzen, die aus dem Verhalten der Parteien bei Kriegsausbruch zu ziehen waren, noch recht vage und verschwommen, so zeigten sie doch die Richtung an, in der Harnack im weiteren Verlauf des Krieges den „August 1914“ interpretieren sollte. Mit zunehmender Dauer des Krieges rückte die mit dem Kriegsausbruch erfolgte nationale Integration der Sozialdemokratie als das wesentliche innenpolitische Ergebnis des Krieges in den Vordergrund. Auf die so gezeigte nationale Reife war Harnack zufolge mit einem Mehr an politischer Partizipation, etwa einer Reform des Wahlrechts in Preußen, zu reagieren. Die Berufung auf den „Geist von 1914“ diente dabei der Legitimation der eigenen politischen Forderungen, wie besonders Harnacks Denkschrift „Friedensaufgaben und Friedensarbeit“ an Bethmann Hollweg vom Juni 1916 zeigen sollte.13 Die Beobachtung, daß auch Harnack den „August 1914“ einer bestimmten Interpretation unterwarf, in der sich weltanschauliche Leitvorstellungen mit politischen Programmentwürfen verbanden, führt zu der Frage nach dem spezifischen Ort seiner Äußerungen im Kontext der Kriegspublizistik deutscher Hochschullehrer. Es empfiehlt sich, im Anschluß an Hermann Lübbe folgende drei Hauptinterpretationen des Augusterlebnisses analytisch 10
AaO., 328. RANF 3, 283–290. Diese Rede wurde am 11.8.1914 gehalten. Der Hinweis auf Amerika auch in: RANF 3, 328. 12 Karl Hammer: Adolf von Harnack und der Erste Weltkrieg, in: ZEE 16 (1972), 85–101, 96. 13 Vgl. den entsprechenden Abschnitt in dieser Arbeit. Die auf Johannes Plenge und Johan Rudolf Kjellén zurückgehende Rede von den „Ideen von 1914“ begegnet bei Harnack nicht, statt dessen spricht er vom „Geist von 1914.“ Diese Terminologie ist möglicherweise u. a. geprägt worden von Harnacks Schüler Ernst Rolffs: Der Geist von 1914, in: PJ 158 (1914), 377–391. Rolffs definierte: [ … ] in dem Geist von 1914 hat sich der historische Patriotismus und das ethisch gerichtete Gottvertrauen des Protestantismus geeinigt mit der natürlichen Vaterlandsliebe der deutschen Katholiken und dem latenten Nationalgefühl der sozialdemokratischen Arbeiter zu einer mehr oder weniger religiös fundierten, gehobenen und freudigen Gesinnung, die durch den modernen Wirklichkeitssinn zu einem opferbereiten und zuchtvollen Pflichtbewußtsein abgeklärt ist“ (390). 11
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zu trennen: die konservative, teilweise schon völkisch beeinflußte Deutung, die neoidealistische und schließlich die sozialliberale Interpretation.14 Die konservative Deutung des „August 1914“ läßt sich an Gelehrten wie dem Freiburger Historiker Georg von Below oder auch Harnacks Berliner Kollegen Reinhold Seeberg exemplifizieren. In den Augen Belows stellte die mit dem Verhalten der Sozialdemokraten vollzogene Integration der Arbeiterschaft einen Sieg der politischen Rechten dar. Seiner Meinung nach hatte speziell die Arbeit des nationalen Vereinswesens dieser Entwicklung die Bahn geebnet. Below bestritt weiterhin die Notwendigkeit einer Gleichberechtigung der SPD im Wettbewerb mit den bürgerlichen Parteien und schloß sogar eine Rückkehr zur alten Restriktionspolitik nicht aus.15 Auch Seeberg interpretierte die Haltung der Sozialdemokratie nicht als den Erfolg eines auf Ausgleich der Gegensätze gerichteten „Vulgärliberalismus“, sondern als Niederlage von Liberalen und Sozialdemokraten, gehöre es doch „zum Herrlichsten, was wir erlebt haben, daß die Internationale so völlig dem nationalen Gedanken erlegen ist.“16 Für die Zukunft erhoffte er sich gar die Stärkung des positiv gewerteten völkischen Gedankens „als Gegengewicht wider die starken internationalen Neigungen des modernen deutschen Lebens.“17 Demgegenüber glaubten die Vertreter einer neoidealistischen Interpretation im Aufbruch der Augusttage das Ende einer schon länger diagnostizierten Kulturkrise und eine Neuformierung der deutschen Gesellschaft im Zeichen einer „neuen Innerlichkeit“ zu erkennen, die von allen materialistischen Verunstaltungen frei sein sollte. Der Krieg erschien in dieser Perspektive als „ein ungeheures Umgraben und Durchackern des europäischen Bodens, damit er Entwicklungen und Werte hergebe, deren Art wir heute nicht einmal ahnen können.“ Georg Simmel stellte diese Einschätzung einem Aufsatz von 1915 noch als Frage voran18, beantwortete sie dann aber sogleich, indem er feststellte, daß der Krieg – an sich ein „Wahnsinn und Verbrechen“ – etwas rundweg Positives bewirkt habe: „das Erlebnis Deutschland.“ Das „deutsche Erlebnis“, so Simmel weiter, zeichne sich dadurch aus, „daß ein Krieg, den alle verbrecherischen Begierden und Frivolitäten ent14 Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, Stuttgart 1963, 173–238. Dieser Einteilung bedient sich auch Stefan Meineke: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, 217–227. 15 Vgl. Georg von Below: Die Kriegsstimmung in Baden, in: Das neue Deutschland 2 (1913/14), 576–578; zu Below auch Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998, 247–257. 16 Reinhold Seeberg: Was sollen wir denn tun?, Leipzig 1915, 5 bzw. 52. 17 AaO., 12. 18 Georg Simmel: Die Idee Europa, in: BT Nr. 121 vom 7.3.1915, dort die SimmelZitate; vgl. auch Patrick Watier: Georg Simmel et la guerre, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg, München 1996, 31–47.
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zündet haben, mit der reinsten Flamme weiterbrennt, in der das Trübe, Gespaltene, Selbstische des deutschen Lebens sich verzehrt hat.“ Auch Rudolf Euckens „Die sittlichen Kräfte des Krieges“ von 1914 stellt ein eindrückliches Zeugnis dieser neoidealistischen Interpretation dar.19 Harnacks Schriften aus dem Sommer und Herbst 1914 lassen zunächst eine deutliche Nähe zu dieser Interpretation erkennen. Der Krieg weckte höhere sittliche Kräfte, der Einzelne tritt zurück hinter das nationale Ganze, „viel Kleinliches und Egoistisches fällt ab.“ Die Kritik am Materialismus spielte ebenso eine Rolle wie die Betonung der kulturellen Komponente des Krieges. Doch fehlte den Äußerungen Harnacks die zum Teil beißende Kritik am Zustand des deutschen Kulturlebens vor 1914. Zwar stand auch Harnack einzelnen Auswirkungen der kapitalistischen Moderne kritisch gegenüber, doch konnte diesen nicht durch einen „Bruch“ – eine Vorstellung, die Harnacks geschichtstheoretischer Prämisse einer in Stufen und Metamorphosen sich vollziehenden Entwicklung widersprach –, sondern allein durch die Betonung des „unendlichen Wertes“ jedes Individuums gegengesteuert werden. Deutschlands Kultur war für ihn das gelungene Beispiel einer solchen Gegensteuerung, die sich durch eine fruchtbare Symbiose von individueller Persönlichkeitskultur und wissenschaftlich-technischem sowie kulturellem Fortschritt auszeichnete.20 Diese weitgehend westeuropäisch geprägte Kultur galt es im Krieg zu bewahren und auszubauen und so zu einem neuen, dauerhaften Frieden beizutragen. Für Harnack folgte daraus, ebenso wie beispielsweise auch für Friedrich Meinecke, daß Deutschland schon aufgrund seiner kulturellen Entwicklung nur einen Verteidigungskrieg führen konnte, in dem es stellvertretend für den Westen Europas und für Amerika die gemeinsamen kulturellen Grundlagen gegen die „despotisch-patriarchalische Kultur der Horde“, die „mongolisch-moskowitische Kultur“ verteidigte.21 Sodann läßt sich als dritte Interpretationsrichtung eine sozialliberale Deutung herausarbeiten. Für die Vertreter dieser Richtung schien das Kaiserwort „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ eine „politische Gleichheit in Aussicht zu stellen, deren Verwirklichung allerdings noch Reformen […] benötigen würde“, wie Jürgen Kocka formuliert hat.22 Als Vertreter der Fraktionsmehrheit der SPD brachte Eduard David diese Erwartung in einem Tagebucheintrag Ende August 1914 auf die zugespitzte 19
Rudolf Eucken: Die sittlichen Kräfte des Krieges, Leipzig 1914; zu Euckens Kriegsdeutung Barbara Beßlich: Wege in den Kulturkrieg, Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000, 93–113. 20 Vgl. den Entwurf „Die kulturelle Bedeutung der Deutschen“ vom Dezember 1914 in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 71. 21 RANF 3, 287. 22 Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914– 1918, Göttingen 21978, 36.
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Formel, „statt eines Generalstreiks führen wir für das preußische Wahlrecht einen Krieg.“23 Unter den deutschen Hochschullehrern vertraten diese Richtung insbesondere die Anhänger Friedrich Naumanns. Während Naumann selbst zwar Reformen nach dem Krieg erwartete, aus innenpolitischen Gründen aber ihre Propagierung während des Krieges zunächst ablehnte, sprach Meinecke schon 1914 von notwendigen „inneren Eroberungen“ im Krieg, zu denen er als „Staats- und Nationalnotwendigkeit“ eine tiefgreifende Reform des preußischen Wahlrechts zählte.24 Der 1915 erschienene Sammelband „Die Sozialdemokratie im neuen Deutschland“, an dem neben Troeltsch auch Hermann Oncken, Gerhard Anschütz sowie führende Vertreter des rechten Parteiflügels der SPD mitwirkten, steht gleichfalls für diese Interpretationsrichtung und Perspektiven ihrer Umsetzung in praktische Politik.25 Hans Delbrück nahm eine Rezension dieses Werkes zum Anlaß, die zu seinem Bedauern noch unbeantwortete „Hauptfrage“ an die Regierung zu stellen: „Wo ist die große, die wirklich große Konzession, die die Regierung und die bürgerlichen Parteien der Sozialdemokratie machen, um ihr die Brücke zum Übergang in die positive Mitarbeit im bestehenden Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsleben zu schlagen?“26 Harnacks Interpretation des „Augusterlebnisses“ muß insgesamt ebenfalls der durch die genannten Gelehrten repräsentierten sozialliberalen Richtung zugeordnet werden, wenngleich er sich 1914 und auch noch 1915 eher verhalten zu diesem Thema unter dem Stichwort „Überwindung des Kastengeistes“ und nicht näher präzisierten „ostelbischen Rückständigkeiten“ äußerte und gewisse Affinitäten zur neoidealistischen Deutung nicht zu unterschätzen sind. Dabei zeigt sich eine gewisse Parallelität zu der ebenfalls zurückhaltenden Position Naumanns. Wie diesem ging es Harnack zunächst um eine auf Integration und Mäßigung der aufbrechenden Gegensätze zielende Haltung, so daß konkrete Reformforderungen seinerseits bis 1916 nicht öffentlich vorgetragen wurden. Die überschwengliche nationale Begeisterung des August 1914 schwand auch bei Harnack seit dem Winter 1914/15 immer mehr, doch es blieb die Interpretation dieses Ereignisses als bleibender Verpflichtung zu einer auf soziale und politische Reform und Integration ausgerichteten Politik.
23
Erich Matthias/Susanne Miller (Hg.): Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, Düsseldorf 1966, 15 u. 24. 24 Meinecke an Alfred Dove vom 4.11.1914, in: ders.: Ausgewählter Briefwechsel, Stuttgart 1962, 51, bzw. ders.: Preußen und Deutschland, in: Frankfurter Zeitung vom 2.4.1915. 25 Friedrich Thimme/Carl Legien (Hg.): Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Leipzig 1915. 26 PJ 162 (1915), 164.
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1.2. Die Frage der Kriegsschuld Bereits Harnacks erste Reaktionen auf den Kriegsbeginn am 1. August 1914 zeigen als wichtigstes Motiv die Überzeugung, daß Deutschland einen Verteidigungskrieg zu führen hat. „Mehr als fünfundzwanzig Jahre ist es Mein und Meiner Regierung heißes Bemühen gewesen, den Frieden zu erhalten und die kraftvolle Arbeit Meines Volkes in Frieden zu fördern“, heißt es in Harnacks Entwurf vom 4. August für den kaiserlichen Aufruf – noch in Unkenntnis der englischen Kriegserklärung –, doch „die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit, und unerträglich ist ihnen unsere Blüte.“ Konkret wird Frankreich mit seinem Wunsch nach der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens genannt, Rußland erscheint dagegen nicht namentlich, verbirgt sich aber hinter der Rede von der zu bekämpfenden „asiatischen Halbkultur.“27 Das Bild veränderte sich mit der englischen Kriegserklärung, die Harnack schlichtweg als Verrat an der gemeinsamen kulturellen Tradition empfand: „Diese unsere Kultur, der Hauptschatz unserer Menschheit, war vornehmlich […] drei Völkern anvertraut: Uns, den Amerikanern und – den Engländern! Weiter sage ich nichts. Ich verhülle mein Haupt!“28 Entsprechend scharf war Anfang September 1914 Harnacks Reaktion auf einen Brief von elf englischen Theologen, darunter etliche persönliche Bekannte Harnacks, die diesen Vorwurf entschieden zurückwiesen. Zwar habe er, so Harnack, den Ausdruck „Verrat“ nicht gebraucht, der jedoch sein Urteil über das Verhalten Englands richtig wiedergebe.29 Sodann kam Harnack auf seine Sicht der Julikrise und die Ursachen der englischen Kriegserklärung zu sprechen. Die deutsche Unterstützung des österreichischen Ultimatums an Serbien hielt er schon deshalb für gerechtfertigt, weil dessen Regierung an dem „fluchwürdigen Verbrechen von Serajewo [!] nicht unbeteiligt war“ und sich so „durch den feigesten Mord, den die Weltgeschichte kennt, aus der Reihe der Staaten ausgestrichen [hat], mit denen man auf dem Fuße der Gleichheit verkehrt.“ Jedes Nachgeben Serbien gegenüber wäre aber gleichbedeutend mit der russischen Vorherrschaft in der östlichen Balkanhälfte gewesen, die Österreichs Existenz bedrohte. 27 Zitiert nach: Harnack: Aufruf (Anm. 5), 615. Diese Formulierungen wurden bezeichnenderweise nicht in die dann veröffentlichte Fassung übernommen. Zur deutschen Politik während der Julikrise vgl. den um Ausgewogenheit bemühten Überblick bei Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 683–699, sowie Gregor Schöllgen: Kriegsgefahr und Krisenmanagement: Zur Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, in: HZ 267 (1998), 399–413. 28 RANF 3, 288; zur Beurteilung der englischen Haltung durch die deutsche Hochschullehrerschaft vgl. Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttigen/Zürich 1969, 26–29. 29 Der Brief der englischen Theologen sowie die Antwort Harnacks in: RANF 3, 290–293 und 293–299, 293.
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Zweifel an der Richtigkeit der deutschen Politik – erinnert sei nur an den deutschen „Blankoscheck“ und den auch für Zeitgenossen auffällig langen Zeitraum, der zwischen dem Mord von Sarajewo am 28. Juni und dem österreichischen Ultimatum vom 23. Juli verstrich – kamen Harnack nicht.30 Energisch verteidigte er vielmehr die seiner Meinung nach angesichts des drohenden Zweifrontenkriegs unvermeidliche Verletzung der belgischen Neutralität. Selbst der Bemerkung des Reichskanzlers, im deutschen Vorgehen gegenüber Belgien liege „ein gewisses Unrecht unsererseits“ vor, mochte Harnack im September 1914 nicht zustimmen. Das Reich habe, da seine Existenz auf dem Spiel stand, von einem ganz legitimen „Notrecht“ Gebrauch gemacht. Zudem sei die belgische Neutralität genau genommen nicht von Deutschland, sondern von England mißachtet worden, indem es Belgien zum Krieg gegen Deutschland „ermutigt und verpflichtet“ habe.31 Nach Harnack verbarg sich hinter diesen „Tatsachen“ jedoch die eigentliche Ursache der englischen Kriegserklärung, nämlich „uns zu vernichten oder doch so zu schwächen, daß Großbritannien allein auf der See und in allen fernen Weltteilen regiert.“ Als Motiv dieses Vernichtungswillens diagnostizierte Harnack – in Kontinuität zu seinen Äußerungen von 1912 – den Neid des Inselreiches auf das sich immer kraftvoller entwickelnde, aber dabei auf friedliche Konkurrenz bedachte Reich: „Die Kraft unseres Volkes sollte sich in seinem Fleiß bewähren und in den friedlichen Früchten dieses Fleißes. Selbst das hat Großbritannien uns nicht gegönnt; es war neidisch auf unsere Kräfte, neidisch auf unsere Flotte, neidisch auf unsere Industrie und unseren Handel, und der Neid ist die Wurzel alles Übels.“32 Die mit dem Kriegsausbruch sichtbar gewordene Vergeblichkeit des eigenen Vorkriegsengagements für die deutsch-englische Verständigung führte nicht nur bei Harnack zu tiefer Enttäuschung und Verbitterung, zumal das Verhalten englischer Gelehrter teilweise auch als Affront gegen die eigene Person aufgefaßt wurde. Ganz ähnliche Töne lassen sich auch bei anderen, ursprünglich englandfreundlichen Gelehrten wie Adolf Deißmann, Hermann Oncken und Otto Baumgarten feststellen.33 Freilich gingen sie – trotz zunächst gemeinsamer Argumentationsmuster im Blick auf die aus reinem Handelsneid agierende englische „Krämer“-Nation – nicht soweit wie die prinzipiellen Englandgegner Max Scheler und Reinhold Seeberg, von Som30 AaO., 294. Vorsichtige Kritik an der deutschen Unterstützung Österreichs übte etwa Meinecke schon am 5. August 1914, vgl. Meineke (Anm. 14), 227f. 31 RANF 3, 296f. 32 AaO., 297f. 33 Adolf Deißmann; Die deutsche Erweckung, in: IW 9 (1914/15), 115–122; Hermann Oncken: Deutschland, England und die öffentliche Meinung, in: IW 9 (1914/15), 537–562; zu Baumgarten vgl. Hasko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main/Bern/ New York 1988, 122–124.
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barts Gegenüberstellung von „Händlern und Helden“ ganz zu schweigen, die einen dauerhaften Kulturgegensatz beider Nationen konstruierten.34 Auch in einem Brief an Fritjof Nansen vom 22. September 1914 lehnte Harnack jede deutsche Mitschuld am Kriegsausbruch ab: „Wir Deutsche haben in bezug auf den Krieg ein gutes Gewissen.“ Neben dem Neid Englands nannte er als Kriegsgründe „die krankhafte und blinde Revanchelust frivoler französischer Führer, die ihr armes Volk verführt haben“, sowie den „unerträgliche[n] Anspruch Rußlands, die Vorherrschaft über alle Slawen zu führen, Österreich zu zerstören und den wilden Geist des mongolischen Moskau über Westeuropa zu bringen.“ Diese drei Mächte hatten nach Harnack schon zu Beginn der Julikrise „unter Englands heimlicher Führung den Krieg gewollt und herbeigeführt“, während für Deutschland gelte: „Nichts kann dieser Krieg uns bringen, was wir nicht durch friedliche Arbeit gewonnen hätten!“35 Es war der vermeintliche Verrat an der gemeinsamen Kultur durch das Bündnis mit dem kulturellen Hauptfeind Rußland, der England in Harnacks Augen im Herbst 1914 zum politischen Hauptfeind machte. Im Februar 1915 konnte er deshalb sogar vorsichtig dafür plädieren, Deutschland möge lieber einen Frieden mit Rußland als mit England anstreben, auch wenn dieser „meinem baltischen Herzen sehr zuwider ist.“36 Eine solche Konstellation stand zwar in erheblichem Widerspruch zu den kulturellen Gegenüberstellungen Harnacks, doch wurden diese angesichts der eigenen Verbitterung im Winter 1914/15 noch von den politischen Frontstellungen überlagert. Mit der beginnenden Diskussion um die Kriegsziele verschob sich die Perspektive Harnacks aber bereits seit dem Frühjahr 1915. Ausgehend von der Erkenntnis, daß Deutschland seine drei Hauptgegner nicht werde schlagen können, bedeutete die Ablehnung von Annexionen im Westen ein Votum für einen möglichen Ausgleich mit England.37 Diese Einsicht schlug sich auch auf Harnacks Sicht des Kriegsausbruchs nieder. In einer für die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press verfaßten „Aufzeichnung über die Schuld am Weltkriege“ trat nun die Verantwortung Englands hinter der Frankreichs und v. a. Rußlands zurück.38 „Die Verbindung dieser 34 Der Ausdruck „Krämer“ bei Friedrich Meinecke: Deutscher Friede, in: ders.: Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1914, 55; Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915, 308f.; Reinhold Seeberg: Das sittliche Recht des Krieges, in: IW 9 (1914/15), 169–176; Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915. 35 Harnack an Fritjof Nansen vom 22.9.1914, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. Nansen. 36 Harnack an Francis Kruse am 14.2.1915, in: aaO., K. 35, Korr. Kruse. 37 Harnack an Valentini am 23.5.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini: „Wir können einen ehrenvollen Frieden mit England und Frankreich haben, wenn wir Nordfrankreich herausgeben, Belgien wiederherstellen.“ 38 Aufzeichnung über die Schuld am Weltkrieg, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 77. Das
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beiden Mächte war keine Defensiv-, sondern eine Offensiv-Verbindung. England hatte keine Offensiv-Absichten gegen uns.“ Harnack betonte, daß es möglich gewesen sei, die deutsch-englischen Spannungen „auf gütlichem Wege zu beseitigen; doch ist es deßhalb am Kriege mit Schuld, weil Frankreich mit Zuversicht darauf rechnen konnte, England bei einem Kriege gegen uns unter allen Umständen als Bundesgenossen zu haben.“ Doch hielt Harnack an der Behauptung fest, „daß in dem Verhalten Deutschlands von 1891 – 1914 […] keine Ursache zum Kriege zu finden“ sei: „Sein fester Entschluß, Österreich nicht zu zertrümmern und die Türkei nicht beseitigen zu lassen, hatte nichts Offensives; seine Orientpolitik ging nicht auf Eroberungen aus und seine Kolonialpolitik wollte es im Einvernehmen mit England machen.“ Eine zumindest indirekte Mitschuld vermochte er aber in dem Unvermögen der deutschen Außenpolitik bei der Propagierung des Flottenbaus anzudeuten: „Mißtrauen erregte seine Flottenpolitik, und hier kann man von einer Schuld Deutschlands insofern sprechen, als es der ungeschickten Diplomatie Deutschlands nicht gelungen ist, England davon zu überzeugen, daß dem Flottenbau keine Offensiv-Absichten zu Grunde lagen.“ In der Julikrise habe zwar auch die deutsche Diplomatie äußerst ungeschickt agiert, doch komme dem angesichts des unbedingten Kriegswillens Englands nur untergeordnete Bedeutung zu: „Aber da die russische Regierung – nicht der russische Kaiser – den Krieg wollte, so wäre er wahrscheinlich auch ausgebrochen, wenn die deutsche Diplomatie geschickter gewesen wäre.“39
1.3. Der Krieg als Kulturkrieg Der Erste Weltkrieg brachte eine bis dahin kaum gekannte politische Mobilisierung von Gelehrten und Wissenschaftlern, die sich mit einer Vielzahl an Schriften sowie der Beteiligung an Sammeladressen in den Dienst ihrer jeweiligen Nation stellten. Die „Mobilmachung der Geister“40 war dabei nicht ein spezifisch deutsches, sondern – freilich in unterschiedlicher Intensität – ein europäisches Phänomen.41 Universität und Wissenschaft, so Dokument ist auf den 4. Januar datiert, doch fehlt eine Jahresangabe. Es dürfte aber eher 1916 als 1915 verfaßt worden sein, da Harnack im Januar 1915 in dem zitierten Brief an Kruse sowie in einem Artikel in der „Täglichen Rundschau“ (Nr. 71 vom 9.2.1915) noch von der Hauptschuld Englands ausging. 39 Ebd. 40 Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: HZ 125 (1922), 249–283, 252. 41 Vgl. für England Stuart Wallace: War and the image of Germany. Britisch Academics 1914–1918, Edingburgh 1988; zu Frankreich Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992, 339–363, sowie Jean-Jacques Becker (Hg.): Guerre et Cultures 1914–1918, Paris 1994.
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formulierte Ernst Troeltsch, sollten als „Wahrzeichen deutscher Gesinnung […] den Heersäulen der Nation voranziehen.“42 Die deutschen Gelehrten konnten dabei an ihren alten Anspruch anknüpfen, geistige Wegbereiter der Nation zu sein. Doch zeigte sich angesichts der publizistischen und politischen Unerfahrenheit eines Großteils dieser Gelehrten, daß – wie Meinecke rückblickend formulierte – die „Produktion der Gedanken, mit denen wir den Weltkrieg geistig durchkämpften, […] von einer viel breiteren sozialen Basis aus“ erfolgte. „Wir standen mehr in der Front als vor der Front.“ 43 Anders als in Frankreich, wo relativ schnell auf das alte Feindbild vom „barbarischen Deutschen“ zurückgegriffen wurde, oder auch in England, wo die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland insbesondere unter Historikern zu einem „Solidarpatriotismus“ führte und der Krieg zum Kampf der Freiheit gegen den preußisch-deutschen Militarismus stilisiert wurde44, vollzog sich der Kriegseinsatz der deutschen Gelehrten nicht nur an der äußeren Front. Dieses Engagement beinhaltete zugleich eine Selbstbespiegelung nach innen, die in dem ganz unterschiedlich interpretierten „Geist von 1914“ zum Ausdruck kam.45 Grundlage dieses Engagements – und zugleich breiter Konsens von den Pazifisten bis hin zu den Alldeutschen – bildete die feste Überzeugung, Deutschland führe einen gerechten Verteidigungskrieg. Daraus ergab sich quasi von selbst das unbezweifelbare moralische Recht Deutschlands im Krieg. Auch die erregten Ausführungen Harnacks zu den Vorgängen der Julikrise in dem bereits ausgewerteten Brief an die englischen Theologen resultierten aus dieser Überzeugung. Um so mehr mußte der Vorwurf deutscher Kriegsverbrechen in Belgien, der seit Ende August von Seiten der Entente, aber auch von den Neutralen erhoben wurde, heftige Reaktionen hervorrufen, stand er doch im schärfsten Kontrast zum eigenen nationalen Selbstbild. Zugleich vertiefte dieser Vorwurf die von vielen empfundene Verbitterung über das vermeintlich böswillige Mißverständnis des deutschen Wesens. Obwohl eine Prüfung der entsprechenden Behauptungen den meisten Gelehrten unmöglich war, standen sie zu einer „moralischen Gegenoffensive“ bereit.46 Auch Harnack reihte sich hier ganz „in die Front“ ein. An die Greuelnachrichten aus Belgien mochte er nicht glauben und wies „die furchtbare 42
Ernst Troeltsch: Nach der Erklärung der Mobilmachung, Heidelberg 1914, 7. Meinecke: Generationen (Anm. 40), 252. 44 Hartmut Pogge von Strandmann: Britische Historiker und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Michalka (Anm. 1), 929–952, 930. 45 Vgl. Meineke (Anm. 14), 235f. 46 Zu den Vorgängen in Belgien: Alan Kramer: Greueltaten. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumreich (Hg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, 85–114. 43
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Verantwortung für all das Elend, das dieses arme Land getroffen hat“47, dem Gegner zu. Zugleich empörte sich Harnack über die als „vierte Großmacht“ bezeichnete „internationale Lügenpresse.“ Sie „überschüttet die Welt mit Lügen gegen unser sittenstrenges Heer und verleumdet alles, was deutsch ist.“48 Wilhelm II. dankte Harnack bereits am 17. September 1914 für seine „treue mitarbeit an der bekaempfung der vierten grossmacht mit ihren ebenso verachtlichen wie verderblichen waffen.“49 Zugleich mußte Harnack aber bereits im September 1914 implizit die moralische Isolierung Deutschlands zugeben, da man „uns fast alle Möglichkeiten abgeschnitten hat, uns gegen dieses ‚Tier aus dem Abgrund‘ zu verteidigen.“50 Der Kampf gegen diese „vierte Großmacht“ motivierte Harnacks Beteiligung an einer Reihe von Aufrufen und Sammeladressen. Ein besonders starkes Echo – allerdings in ganz anderer Weise als von den Initiatoren erhofft – erregte der Aufruf von 93 Hochschullehrern und Intellektuellen vom 4. Oktober 1914.51 Entworfen von den Schriftstellern Ludwig Fulda und Hermann Sudermann und entscheidend vom Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes unterstützt, wurde seit dem 19. September telefonisch sowie mit Telegrammen um Unterschriften geworben. Gustav von Schmoller, Emil Fischer, Max Liebermann und neben anderen auch Adolf von Harnack unterzeichneten auf telefonische oder telegraphische Anfrage, ohne den Text im Wortlaut zu kennen, wie Harnack 1919 rückblickend betonte – ein Vorgang, der das geradezu blinde Vertrauen in das moralische Recht der deutschen Sache ebenso dokumentierte wie die unbedingte Bereitschaft, die deutsche Kriegsführung zu unterstützen.52 Zu den Unterzeichnern des Aufrufs, der am 4. Oktober in allen großen deutschen Tageszeitungen erschien, gehörten neben den genannten Personen Friedrich Naumann (als einziger Politiker), Gerhart Hauptmann, Max Reinhardt, die Naturwissenschaftler Max Planck, Fritz Haber und Walter Nernst, die Theologen Wilhelm Herrmann, Adolf Deißmann, Reinhold Seeberg und Adolf Schlatter, die Philosophen Rudolf Eucken, Wilhelm Windelband und Wilhelm Wundt sowie die Historiker Karl Lamprecht, Max Lenz, Martin Spahn und Eduard Meyer. In sechsmaliger Wiederholung wurden die Anschuldigungen gegen Deutschland und seine Kriegsführung mit der Formel „Es ist nicht wahr“ 47
RANF 3, 297. AaO., 299. 49 Wilhelm II. an Harnack am 17.9.1914, in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 50 RANF 3, 299. Ähnlich auch RANF 3, 313f. 51 Vgl. die erschöpfende Darstellung von Jürgen und Wolfgang von UngernSternberg: Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996. 52 Vgl. aaO., 23; RANF 4, 303–305, 303: „Ich ergreife das Wort, obwohl ich das Manifest nicht verfaßt, und es im Wortlaut, wie so viele seiner Unterzeichner, erst nach seinem Erscheinen kennengelernt habe.“ 48
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zurückgewiesen. Deutschland habe weder den Krieg verschuldet, noch die belgische Neutralität verletzt. Greueltaten in Belgien wurden vehement bestritten, ja das Gegenteil behauptet. „Meuchelmörder“ aus der belgischen Bevölkerung hätten „Verwundete verstümmelt“ und seien daher lediglich ihrer „gerechten Strafe“ zugeführt worden. Zudem wies der Aufruf die Behauptung zurück, Deutschland habe das Völkerrecht mißachtet, und bestritt denjenigen, die „sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weisse Rasse zu hetzen“, das Recht, sich „als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebährden.“ Abschließend wurde der „deutsche Militarismus“ verteidigt: „Deutsches Volk und Heer sind eins.“53 Ähnlich scharfe Töne schlug die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reichs“ an, die von 3016 Akademikern unterzeichnet wurde.54 Auch der von Harnack ebenfalls mit unterzeichnete Aufruf protestantischer Theologen „An die evangelischen Christen im Auslande“ zielte, wenn auch nicht ganz so scharf formuliert, in die Richtung, die der Aufruf der 93 vorgegeben hatte. Nachdem englische Theologen diesen Aufruf mit einer Gegenerklärung beantwortet hatten, ließen die deutschen Theologen am 20. November 1914 ein weiteres „Wort an die evangelischen Christen im Ausland“ folgen. In diesem wurden erstmals die gegnerischen und neutralen Berichte über das deutsche Vorgehen in Belgien bestätigt, zugleich aber als unvermeidliche Folge der gegnerischen Kriegsführung bedenkenlos gerechtfertigt.55 Die Reaktion nicht nur des feindlichen Auslands auf den Aufruf der 93 war fatal. Moralisch war der Krieg für Deutschland bereits nach zwei Monaten verloren. Der Wiederannäherung der internationalen civitas academica sollte er noch über Jahre hinaus im Wege stehen.56 Theodor Wolff, der mit etlichen der Unterzeichner persönlich verkehrte, nannte es in einem Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1914 unbegreiflich, „daß die ersten ‚Denker‘ 53
Zum Gebrauch dieses Begriffs vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg: Wie gibt man dem Sinnlosen einen Sinn? Zum Gebrauch der Begriffe „deutsche Kultur“ und „Militarismus“ im Herbst 1914, in: Mommsen: Kultur (Anm. 18), 77–96. 54 Text des Aufrufes mit Unterschriften bei: Ungern-Sternberg: Aufruf (Anm. 51), 144–147, 144f.; die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches in: Eiche 3 (1915), 100f. 55 An die evangelischen Christen im Auslande, in: Eiche 3 (1915), 49–53; dort auch die englische Gegenerklärung vom 23.9.1914 (56–63) und ihre Beantwortung durch die deutschen Theologen vom 20.11.1914 (67–75). Dort heißt es auf 74: „Es war uns – in Deutschland sind Volk und Heer eins – ein grosser Schmerz, als die verblendete Bevölkerung Belgiens unsere Truppen durch Franktireurkrieg und unmenschliche Grausamkeiten gegen Verwundete zu Strafmassregeln in Gestalt von Einäscherung von Ortschaften und Erschiessung von Zivilpersonen zwang.“ 56 Zur Wirkung des Manifests im Ausland vgl. Ungern-Sternberg: Aufruf (Anm. 51), 81–104.
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Deutschlands Bürgschaft dafür leisten, daß in einem solchen Krieg alles gerecht u. ordnungsmäßig zugegangen, daß in einem Millionenheere, wo auch, wie in jedem, üble Gestalten mitmarschiren, keine Brutalität vorgekommen sei. […]. Der Krieg macht fast alle kritiklos, es ist ein allgemeines Gemeinplätzeln und eine schwammige Gedankenlosigkeit. […]. Das Schlimmste aber bleibt, daß durch diese kritiklose Art die Gewinnung des Auslandes gestört wird, dem man durch eine ernsthafte, verständige Sprache vielleicht näher käme.“57 Vergleicht man den Aufruf der 93 mit den Äußerungen Harnacks von 1914 und 1915, dann fällt – neben der geradezu selbstverständlichen These von der Unschuld Deutschlands am Kriege – besonders eine Gemeinsamkeit auf: die Betonung der kulturellen Komponente des Krieges, die mit einer Verteidigung des „deutschen Militarismus“ einherging. Diesem Motiv kam eine wichtige Bedeutung sowohl in der Auseinandersetzung nach außen, als auch in der Selbstbesinnung auf den inneren Ertrag des Krieges zu. Auch Harnack beschritt zunächst „Wege in den Kulturkrieg.“ Die Interpretation des Krieges als kultureller Auseinandersetzung – hier allerdings als innenpolitisches Integral – trat bereits in Harnacks Entwurf des kaiserlichen Aufrufes zum Kriegsbeginn hervor, in dem als Kriegsgegner „asiatische Halbkultur“ und „welsches Wesen“ genannt wurden.58 Während der Gegensatz zu Frankreich in Harnacks Kriegspublizistik kaum eine Rolle spielte, da die Franzosen ihm wie auch der Mehrzahl seiner Kollegen als Opfer der revanchistischen Verführungskünste ihrer Regierung erschienen,59 wurde Rußland zu dem kulturellen Hauptgegner des Krieges stilisiert – eine Sichtweise, die besonders bei Professoren baltischer Herkunft sowie liberal gesinnten Gelehrten feststellbar ist. Mit einem Kulturgegensatz zu England argumentierte Harnack im Unterschied zu vielen anderen Gelehrten nicht.60 England wurde vielmehr die Rolle des Verräters an der gemeinsamen westeuropäischen Kultur zugeschrieben, die jetzt durch Deutschland verteidigt werde: „Großbritannien reißt den Damm ein, der Westeuropa und seine Kultur vor dem Wüstensande der asiatischen Unkultur Rußlands und des Panslawismus geschützt hat. Nun müssen wir Deutschen ihn mit unsern Leibern ersetzen. Wir werden es unter Strömen von Blut tun und durchhalten. Wir 57 Theodor Wolff: Tagebücher 1914–1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am „Berliner Tageblatt“ und Mitbegründers der „Deutschen Demokratischen Partei“. 2 Teile. Eingeleitet und herausgegeben von Bernd Sösemann, Boppard 1984, 105–107; vgl. auch Wolffs verdeckte Kritik an den verschiedenen Gelehrtenaufrufen unter dem Titel „Hochschullehrerdenkschriften“ in: BT Nr. 583 vom 16.11.1914. 58 Harnack: Aufruf (Anm. 5), 615. 59 Vgl. die im vorangegangenen Kapitel zitierten Äußerungen Harnacks zum Kriegsausbruch; zur milden Beurteilung Frankreichs Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 30. 60 Vgl. aaO., 27–29 (England ) bzw. 30 (Rußland ).
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müssen durchhalten; denn wir verteidigen die Arbeit von anderthalb Jahrtausenden für ganz Europa und auch für Großbritannien.“61 Harnack konnte im Februar 1915 gar davon reden, daß England „die Solidarität der weißen Rasse gegenüber der farbigen“ verleugnet habe.62 Doch blieb diese Äußerung eine punktuelle Ausnahme, denn Harnack betonte mehrfach, daß der Krieg alle Gedanken der Bluts- oder Rassengemeinschaft ad absurdum geführt habe, wofür ihm Englands Verhalten den Beweis lieferte. Es habe bewiesen, „daß Blut nicht dicker ist als Wasser.“ Über die Rasse müsse, wenn überhaupt, „sehr vorsichtig“ gesprochen werden, denn „von dem, wovon die Dilettanten am meisten wissen, wie auch die Dummen und Versager, wissen die Gelehrten am wenigsten: die Rasse!!“63 Der asiatischen Halbkultur Rußlands, die Harnack als „Kultur der Horde“ charakterisierte, stellte er eine durch Deutschland, England und Amerika repräsentierte Kultur der freien Persönlichkeit gegenüber, die auf drei Pfeilern beruhte. Grundlegend war für sie erstens die „Anerkennung der Persönlichkeit und der Individualität“, von Harnack auch als „unendlicher Wert der Menschenseele“ bezeichnet. Damit wurde der cantus firmus der Theologie Harnacks in die Fundierung der „Kulturtheorie“ überführt. Als die beiden weiteren Pfeiler bezeichnete Harnack die Anerkennung der „Pflicht alles zu opfern für Ideale“ sowie den „Respekt vor dem Recht“ einschließlich der „Fähigkeit zu kraftvoller Organisation auf allen Linien und in allen Gemeinschaften.“ Auch die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die er nicht allein auf die französische Revolution zurückführen wollte, sah Harnack als gemeinsames Kulturerbe an.64 Diese Überlegungen sollten auch auf das neutrale Ausland wirken, wobei Harnack sich mit besonderer Intensität an Amerika wandte, als dessen Aufgabe er es ansah, nun gemeinsam mit Deutschland die Kultur des Westens zu verteidigen. Harnacks Rede bei der deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung am 11. August 1914 im Berliner Rathaus diente genau diesem Zweck.65 Freilich täuschte sich auch Harnack in seiner Einschätzung der „vermeintlichen Deutschfreundlichkeit der Amerikaner […], die man sich hier einredet“, wie Theodor Wolff in einer Tagebuchnotiz vom 12. August bemerkte.66 Harnack setzte dennoch seine Versuche zur Aufklärung der amerikanischen Öffentlichkeit weiter fort und konnte dabei auf eigene Kontakte zurückgreifen, die er auf dem wissenschaftlichen Weltkongreß in 61
RANF 3, 295. „Auf den Tag“, in: Tägliche Rundschau Nr. 71 vom 9.2.1915. 63 Konzept „Über den Unterschied der ost- u. westeuropäischen Kultur“ (April 1916), in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 79. 64 RANF 3, 287; zur Bedeutung der Ideale von 1789 RANF 3, 318f. 65 RANF 3, 283–290; vgl. auch Harnacks „Aufruf zum Schutz der Amerikaner“, in: BT Nr. 405 vom 12.8. 1914. 66 Wolff: Tagebücher (Anm. 57), 73. 62
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St. Louis von 1904 und einer daran anschließenden Rundreise durch die USA geknüpft hatte. Bereitwillig beantwortete er Anfragen amerikanischer Zeitungen. In einem Interview mit den „Chicago Daily News“ vom November 1914 betonte Harnack, Deutschland hege keinesfalls die Absicht, „anderen Kulturnationen die deutsche Kultur aufzuzwingen.“ Die Deutung des Krieges als „Kulturkampf “ gegen Frankreich und England lehnte er ab und betonte den notwendigen Kampf Deutschlands gegen Rußland im Namen des gesamten westlichen Kulturkreises. Harnack kam sodann auf den Vorwurf des Militarismus zu sprechen. Das in diesem Zusammenhang häufig angeführte Buch des Alldeutschen Friedrich von Bernhardi repräsentiere „nur die Meinung einer kleinen Gruppe, die wir ablehnen.“ Den deutschen „Militarismus“ – das Wort setzte er in Anführungszeichen – deutete Harnack in der Perspektive des „Augusterlebnisses“ und bezeichnete ihn als „nichts anderes als das deutsche Volk selbst vom Kaiser bis zum sozialdemokratischen Arbeiter.“ Diese Definition zeigte nach Harnack die Unmöglichkeit, „neben dem deutschen Volk und seinem Willen von einem besonderen Militarismus zu sprechen.“ Aus der Identifizierung von „Militarismus“ und „deutsche[r] Tüchtigkeit“ folgerte er dessen defensiven Charakter: „Er denkt nicht an Aggression und Hegemonie, wie man ihn verläumdet [!] hat, sondern er will die friedliche deutsche Arbeit ermöglichen und schützen.“ Eine solche Argumentation ließ Kritik an der Militarisierung der deutschen Gesellschaft in der Vorkriegszeit nicht zu, denn „militärische Ausbildung [ist] das beste Mittel, um die Jugend gesund, gewissenhaft, ordnungsliebend und sozial gesinnt zu machen. Sie lernt zugleich zu gehorchen und zu befehlen, und das sind die besten Kräfte in der Arbeit des Friedens.“67 Aber auch Harnack mußte bald die zunehmende Erfolglosigkeit solcher Aufklärungsbemühungen einsehen. So gelang es nicht, eine briefliche Stellungnahme Harnacks zu den amerikanischen Waffenlieferungen an England in einer amerikanischen Zeitung zu veröffentlichen. William Walker Rockwell, Theologieprofessor in New York, beantwortete eine entsprechende Bitte Harnacks mit der Feststellung, daß „it would be undesirable to publish or circulate this letter.“ Zugleich ging er auf die Schwierigkeiten einer prodeutschen Stellungnahme ein, die sich nach der Versenkung der „Lusitania“ durch deutsche U-Boote noch verstärkt hatten.68 Die These vom letztlich einheitlichen Kulturtypus des Westens schien Harnack angesichts des Kriegs der Geister allerdings im Dezember 1914 zeitweilig aufzugeben. Anlaß war ein Artikel des Oxforder Orientalisten Sayor in der „Times“, in dem der Verfasser die These von der kulturellen Rückständigkeit Deutschlands vertrat, die er an allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, aber auch an Beispielen aus Kunst und Literatur durch67 68
Interview mit den Chicago Daily News, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 73, Bl. 8f. Rockwell an Harnack am 28.5.1915, in: aaO., K. 40, Korr. Rockwell.
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spielte. Für die Philosophie etwa wurde zwar die Bedeutung Kants und Hegels anerkannt, jedoch gleich wieder eingeschränkt: „Kant was more than half Scotish origin and it is difficult to say what the Hegelian philosophy would have been had the German language been more cultivated.“ Die Bilanz über die Bedeutung der deutschen Kultur fiel denn auch vernichtend aus: „Germany has no ancient culture, to fall back upon, and what that means may be best understood from the contrast between German savagery in the present war and the chivalry of civilized Japanese in their war with Russia.“69 Harnack verfaßte in Reaktion auf diesen Artikel einen allerdings nicht zu Ende geführten Antwortaufsatz, in dem er „die geistige und kulturelle Leistung der Deutschen“ unter Hervorhebung seines Bildungssystems von der Volksschule über das Gymnasium bis zu den Universitäten darstellte und die besondere Bedeutung der staatlichen Wissenschaftsförderung hervorhob. In Harnacks Materialsammlung zu diesem Aufsatz befindet sich auch eine Skizze zum „Unterschied von Kultur und culture.“ Darin konstruierte er eine englisch-französich-russische „Culture“, die sich von der deutschen Kultur durch das Streben nach „Aufrechterhaltung eines u. desselben gesellschaftlichen, intellektuellen, ästhetischen u. politischen Scheins“ absetze. Von den romanischen Ländern ausgehend, habe sie über den französisch geprägten Calvinismus auf England übergegriffen, während die russische Oberschicht ohnehin ganz der „Culture“ verfallen sei.70 Freilich blieb diese Unterscheidung eine bloße Skizze, da ein entsprechender Aufsatz nicht erschien. Sie widersprach seinen bisherigen Äußerungen zu sehr, denn mit einem solchen Modell konnte etwa die immer wieder betonte Verbindung mit Amerika nicht begründet werden. Schon im Januar 1915 äußerte Harnack wieder seine Wertschätzung sowohl des gemeinsamen englisch-amerikanisch-deutschen Zweiges der Weltkultur, den er in „Luther, Shakespeare, Kant, Goethe, Hegel, Carlyle usw.“ repräsentiert sah, als auch der romanischen Kultur, denn „die Stimmen der romanischen Völker haben nicht nur früher eingesetzt als die germanischen, sondern sie sind dem Ganzen der Kultur auch heute unentbehrlich.“71 Die gemeinsame Kultur der „germanischen“ Völker bildete bei Harnack auch die geistige Grundlage der Deutung des Krieges nach innen. Auf sie führte er die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurück. Sie waren nach Harnack im Krieg nur in ihrer ganzen Tiefe neu entdeckt worden: Freiheit bedeute „das mit Freude und ganzer Hingebung und unbehindert tun, was man tun soll, und das tun wollen, was man muß.“ Die Gleich69
A. H. Sayor: „Herman’s a German.“ A review of Teutonic pretensions, in: Times vom 22.12.1914 (Exemplar in: aaO., K. 13, Nr. 71). 70 Konvolut „Die geistige und kulturelle Leistung der Deutschen“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 71 (die erwähnte Skizze auf Bl. 5–9, Zitate Bl. 5f; Auszüge auch bei: BwR 107). 71 Antwort Prof. v. Harnacks auf einen Artikel von Prof. Piero Giacosa im „Corriere della Sera“, in: Eiche 3 (1915), 222f.
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heit bestehe in dem allen Menschen gemeinsamen zweiten Beruf, „Menschen zu sein, an unseren Teilen die Idee des Menschen, des Gottmenschen, [zu] verwirklichen, alles Kleinliche und Selbstische unter unsere Füße [zu] treten und soviel Gutes und Edles um uns [zu] wirken, wie wir können.“ Brüderlichkeit interpretierte er sodann als durch „Opfer, Genugtuung, Stellvertretung“ neu gestiftete vaterländische Gemeinschaft.72 Harnacks Interpretation zeigt eine deutliche Nähe zu den vielfach formulierten „Ideen von 1914“, speziell zu der von Ernst Troeltsch vertretenen Konzeption der „deutschen Freiheit“ als „einer selbständigen und bewußten Bejahung des überindividuellen Gemeingeistes, verbunden mit der lebendigen Anteilnahme an ihm, die Freiheit einer freiwilligen Verpflichtetheit für das Ganze und einer persönlich-lebendigen Originalität des einzelnen innerhalb des Ganzen“, die Troeltsch auch als „die Freiheit […] des Gemeinsinnes und der Disziplin […]“ bezeichnete.73 Ebenso wie Troeltsch bemühte sich Harnack um eine ideengeschichtliche Begründung seines Verständnisses von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, bei der er aber nicht den Idealismus oder die Reformation Luthers als den Ursprung dieser Werte benannte, sondern ebenso wie Troeltsch den Calvinismus – ein unmittelbarer Rückgriff auf Luther verbot sich für den kritischen Dogmenhistoriker. Die Unmöglichkeit einer kulturellen Entgegensetzung der Nationen Westeuropas wird an diesem Beispiel überaus deutlich, denn Harnack kam sogleich auf die spezifisch englische Prägung der Rede von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu sprechen: „Die frommen Puritaner, Cromwells Scharen, haben diese Ideen als die hohen Ziele und Kräfte eines Volkes herausgearbeitet“, die dann auf die Revolution von 1789 wirkten. Genau dieser in der puritanischen Prägung erfaßte „tiefste Sinn“ von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war nach Harnack aber mit dem Kriegsausbruch in Deutschland wiederentdeckt worden und hatte die Mobilisierung des Volkes für den Krieg erst möglich gemacht. Führt man diese „Genealogie“ zu Ende, dann erscheint das Augusterlebnis in seinen Ursachen geradezu als spezifisch englisches Erlebnis! Harnacks Konzeption zeigt den Widerspruch auf, der zwischen der Betonung der kulturellen Einheit nach außen und der geistig-kulturellen Mobilisierung nach innen aufbrach. Einerseits wollte diese Konzeption nach außen an den gemeinsamen kulturellen Traditionen und Verbindungen mit dem jetzigen Kriegsgegner festhalten, andererseits aber nach innen eine kulturellgeistige Rechtfertigung des Krieges bewerkstelligen, die ohne Abgrenzun72
Was wir schon gewonnen haben, in: RANF 3, 319–323. Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914 (1916), in: ders.: Deutscher Geist und Westeuropa, Tübingen 1924, 31–58, 48; zum ideengeschichtlichen Kontext Wolfgang J. Mommsen: Die „deutsche Idee der Freiheit“, in: ders.: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830– 1933, Frankfurt am Main 2000, 133–157. 73
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gen nach außen nicht auskam. Gleichzeitig ließ sie die Möglichkeit innenpolitischer Reformen offen, die wiederum teilweise an Konzeptionen orientiert waren, für die auch die westlichen Kriegsgegner einstanden. Daß Harnack seit Anfang 1917 kulturelle Deutungen des Krieges öffentlich gänzlich unterließ und auch beim Kriegseintritt der USA nicht mehr darauf zurückkam, war wohl ein Eingeständnis eben dieses Widerspruchs. So mußte Harnack sogar in seiner Entgegensetzung von westlich-romanischer „culture“ und deutscher Kultur zugestehen, das letztere trotz ihrer großen Vorzüge Defizite aufweise, die nur „durch die Ausgleichung von ‚culture‘ und ‚Kultur‘“ zu beheben seien. Ein solcher Ausgleich bedeutete nach Harnack aber nichts anderes als „die Anerkennung der liberal-rationell-demokratischen politischen Ideale unter dem Prinzipat einer tieferen idealistischen Weltanschauung.“74 Zwar experimentierte Harnack im Sommer 1916 in einem Vortragskonzept noch einmal mit einem gewissen Kulturgegensatz zwischen den westlichen Nationen und Deutschland, die er an „positivistischem Rationalismus, Formkultur und Rhetorik“ einerseits, „Kant’schem Pflichtbegriff “ andererseits begründet sah, bemühte sich aber am Ende des Vortrages, den möglichen Schluß abzuwehren, daß eine völlige Trennung beider Bereiche sinnvoll sei. So führte er aus, daß Europa durch „Europäisches Gleichgewicht, Humanität, Völkerrecht, Internationalität“ miteinander verbunden bleiben müsse, „denn wohin kommen wir sonst?“75 Die Aporien, in die Harnack sich mit diesen Versuchen begab, wurden auch daran deutlich, daß er zur gleichen Zeit dem eben noch bestrittenen gemeinsamen Kulturtyp des Westens unter Einschluß Deutschlands sein verzerrtes Bild der osteuropäischen Kultur gegenüberstellte, das bis zum Ende des Krieges der einzige feste und relativ widerspruchslose Bestandteil seiner Kulturkriegskonzeption blieb. „Käme uns diese Kultur über den Hals, so wäre das nicht Gift, sondern der sichere Tod.“76 Harnacks Deutung des Krieges als Kulturkrieg blieb also widerspruchsvoll in Bezug auf die Ausrichtung nach Westen. Hier argumentierte er eher situativ, schwankte zwischen partieller Abgrenzung und Herausstellung der Gemeinsamkeiten. Sollte die Mobilisierung aller Kräfte nach innen sowie die Rechtfertigung des Krieges im Westen im Vordergrund stehen, dann konnte Harnack den Unterschied zwischen deutscher und westlicher Kultur herausarbeiten, zumal die zu Kriegsbeginn bevorzugte These vom Kulturverrat sich als auf Dauer nicht haltbar erwies. Sollte hingegen die Notwen74
Konvolut „Die geistige und kulturelle Leistung“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 71,
Bl. 9. 75 Konzept „Der Kulturkrieg im Weltkrieg“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 78. Der Vortrag wurde zwischen dem 14.2.1916 und dem 7.2.1917 insgesamt sechs Mal in verschiedenen Städten gehalten. 76 Die morgenländische und die abendländische Kultur (18./19.4.1916), in: Hans von Beseler (Hg.): Wissenschaftliche Vorträge, Berlin 1918, 29–36, 33.
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digkeit des Krieges gegen Rußland – für Harnack seit 1915 ja der eigentliche Kriegsgegner – legitimiert werden, dann bediente er sich des stereotypen Feindbildes von der russischen Unkultur, dem eine abendländische Gesamtkultur entgegengesetzt wurde. Eine solche Gegenüberstellung ermöglichte auch eine weitere Rechtfertigung des Krieges, indem Deutschlands Krieg zu einem Krieg für diese Gesamtkultur stilisiert werden konnte. Diesem zweiten Argumentationsstrang maß Harnack wesentlich höheres Gewicht bei. Das läßt sich indirekt auch aus der Tatsache schließen, daß Harnack auf eine Ausarbeitung oder gar Publizierung des antiwestlichen Vortrages von 1916 verzichtete, in seine im Dezember des gleichen Jahres erschienene Aufsatzsammlung aber genau die Arbeiten aufnahm, die die kulturelle Zusammengehörigkeit herausstellten. Auch lehnte Harnack es nach einigem Überlegen ab, für das vom Preußischen Kultusministerium initiierte Werk „Deutschland und der Weltkrieg“, das besonders im Ausland Aufklärungsarbeit leisten sollte, den Beitrag über die deutsche Kultur im Weltkrieg zu übernehmen, denn wie „ich es auch immer anpacken wollte, es kam entweder eine Apologie Deutschlands heraus […] oder ein Haufen geordneter Trivialitäten über unsere Leistungen.“77 Das kam einem Eingeständnis der Widersprüchlichkeit des eigenen Konzeptes gleich. Bereits 1914 wandte Harnack sich zudem gegen allzu scharfe Folgerungen aus dem englischen „Kulturverrat.“ So antwortete er auf eine Anfrage Max Reinhardts namens des Deutschen Theaters, ob „ein Theater, das sich in diesen Tagen der allgemeinen nationalen Aufgabe im tiefsten Sinne bewusst ist, Shakespeare spielen [darf] oder nicht“ mit der Bemerkung: „Wären nur alle Theaterfragen so leicht zu beantworten wie die von Ihnen mir […] vorgelegte! Selbstverständlich soll Shakespeare weiter gespielt und auch jetzt gespielt werden“, könne man sich doch nicht von diesem „hohen Ahnen innerer deutscher Kultur lossagen.“78 Ebenso bemühte sich Harnack, auf wissenschaftlicher Ebene die Verbindungen ins feindliche Ausland nicht vollständig abreißen zu lassen bzw. ihre Wiederaufnahme nach Kriegsende nicht dauerhaft zu belasten. So wandte er sich gegen Eduard Meyer und Dietrich Schäfer, die den Abbruch der wissenschaftlichen Beziehungen ins feindliche Ausland propagierten und den Ausschluß derjenigen englischen und französischen Gelehrten aus der Preu77 Otto Hintze/Friedrich Meinecke/Hermann Oncken/Hermann Schumacher (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig und Berlin 1915; vgl. Hermann Oncken an Max Lenz am 7.8.1915, in: SBB-PK, Nl. Lenz, Korr. Oncken: „Die deutsche Kultur sollte erst Harnack übernehmen, der dann davor zurückschrak, und so kam es an Troeltsch.“ Material zur Konzeption des Werkes in: GStA, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, B LXXXVII „Deutschland und der Weltkrieg“. Dort in Mappe 2, Bl. 31f., auch das Schreiben Harnacks. 78 Reinhardt an Harnack am 21.9.1914, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Reinhardt; auf dem Brief Reinhardts auch der handschriftliche Entwurf des Antwortschreibens Harnacks.
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ßischen Akademie der Wissenschaften verlangten, die sich an antideutschen Stellungnahmen beteiligt hatten. In Anwesenheit Theodor Wolffs berichtete Harnack am 9. Juli 1915 von der Akademiesitzung des Vortages, in der er mit Eduard Meyer aneinandergeraten war, und bemerkte zu diesen Bestrebungen: „In den andern Ländern äußert sich die Kriegsneurose in Schimpfereien. Bei uns äußert sie sich darin, daß man sich gegen die ganze Welt abschließen möchte und sich einredet, wir brauchten die Welt überhaupt nicht mehr.“79 Harnack gelang es dann im Verbund mit Planck und anderen einen Beschluß über den Ausschluß von ausländischen Mitgliedern auf die Zeit nach dem Krieg zu vertagen.80 Gegenüber Eduard Meyer hatte er schon im März 1915 vor einem Abbruch der Beziehungen zur amerikanischen Harvard-Universität gewarnt.81 Einen Monat später warnte er Meyer davor, bei aller augenblicklichen Berechtigung endgültig den Stab über England zu brechen. Es sei bedenklich, „generell von dem sittlichen Verfall der Engländer zu sprechen“, zumal „wir uns auch auf einen modus vivendi mit England wieder einlassen müssen, ja es liegt nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen, daß unsre Politik in Jahr u. Tag auf die Linie zurückkommt, die sie in den letzten Jahren vor dem Krieg England gegenüber zu gehen versucht hat.“82 Ende 1916 verteidigte er die von Meyer kritisierte Aufnahme seiner proamerikanischen Äußerungen aus den Kriegsreden von 1914 in dem Ende 1916 erschienen Aufsatzband „Aus der Friedens- und Kriegsarbeit.“ 83 Auch vom Manifest der 93 rückte Harnack im März 1916 vorsichtig ab, indem er sich mit einem Brief Plancks an den niederländischen Physiker H. A. Lorentz, der in holländischen Zeitungen veröffentlicht wurde, einverstanden erklärte. Planck hatte sich in diesem Schreiben darum bemüht, „unzutreffende Vorstellungen von den Gesinnungen“ der Unterzeichner des Aufrufs zu korrigieren. Der Aufruf, der „die patriotische Erregung der ersten Kriegswochen“ widerspiegele, sei allein als „Akt der Abwehr“ konzipiert 79 Wolff. Tagebücher (Anm. 57), 252. Meyer hatte einen entsprechenden Antrag in den Sitzungen vom 4.3. und 8.7. 1915 gestellt und war dabei auf den Widerstand Harnacks getroffen, in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Historische Abteilung II-V, 91, Gesamtsitzungs-Protokolle 1915, Bl. 15f., 45f. 80 Protokoll der Sitzung vom 22.7.1915, in: aaO., Bl. 47–56, die verschiedenen Anträge auf den Bl. 49–52, das Abstimmungsverhalten der Anwesenden auf Bl. 54–56. Gegen einen Ausschluß stimmten neben Harnack und Planck u. a. Haber, Einstein, Fischer und Diels, dafür neben Schäfer und Meyer auch von Wilamowitz-Moellendorff, Hintze, Holl und Meinecke. 81 Harnack an Meyer am 12.3.1915, in: BBAW-Archiv, Nl. Eduard Meyer, Nr. 328. Harnack bezog sich auf Eduard Meyer: England, seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg gegen Deutschland, Berlin 1915; vgl. zu Meyer auch K. Fischer: Die politische und publizistische Tätigkeit Eduard Meyers im Ersten Weltkrieg und in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1914–1920), Diss. Phil. Potsdam 1963. 82 Harnack an Meyer am 13.4.1915, in: aaO. 83 Harnack an Meyer am 10.12.1916, in: aaO.
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gewesen. Auch die Möglichkeit deutscher Kriegsverbrechen wurde implizit zugestanden, indem Planck erklärte, daß „wir freilich nicht für jede einzelne Handlung eines jeden Deutschen im Krieg, sei es im Frieden einstehen können.“ Diese Anschauungen, so Planck, würden „auch von manchen meiner Collegen, wie den Herren Adolf von Harnack, Walter Nernst, Wilhelm Waldeyer, Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, im wesentlichen geteilt […].“84 Harnack gestattete Planck die Nennung seines Namens und beriet ihn wohl bezüglich einer angemessenen Art der Veröffentlichung, so daß der Physiker dem Theologen für den „gütigen Beistand“ dankte, „der mich den zweckmäßigen Weg zur Erledigung dieser für mich sehr wichtigen Angelegenheit finden ließ.“85
1.4. Harnack und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Krieg Eine ausführliche Darstellung der Einzelaktivitäten Harnacks während des Krieges in der Königlichen Bibliothek kann hier ebenso wenig erfolgen wie in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. In der Bibliothek galt es, die Geschäfte mit erheblich verringertem Personal weiterzuführen. Nach Vorbild des Krieges von 1870/71 regte Harnack die Anlegung einer umfangreichen Kriegssammlung an, in der eine Vielzahl von mit dem Krieg zusammenhängenden Schriften systematisch zusammengetragen und katalogisiert wurde.86 In der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft folgte nach nur dreijähriger Aufbauphase der Übergang in die Kriegswirtschaft, der mit schwerwiegenden organisatorischen und forschungspolitischen Richtungsentscheidungen verbunden war. Diesen vielschichtigen, äußerst problematischen und langfristig folgenreichen Weg hier detailliert nachzuzeichnen, überstiege die Aufgabenstellung dieser Arbeit.87 Gleichwohl muß nach den Aktivitäten Harnacks als Präsident einer Forschungsorganisation gefragt werden88, deren physikalisch-chemisches Forschungsinstitut mit Fritz Haber an der Spitze
84 Exemplar des zitierten Planck-Briefes in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. Planck. Planck erläuterte Harnack sein Vorgehen und bat um dessen Unterstützung in einem Schreiben vom 20.2.1916, in: aaO. 85 Planck an Harnack am 28.3.1916, in: aaO. 86 Vgl. neben ZH 347 v. a. Erhard Pachaly: Adolf von Harnack als Politiker und Wissenschaftsorganisator des deutschen Imperialismus in der Zeit von 1914 bis 1920, Diss. Phil. Berlin 1964, 83–86. 87 Vgl. Lothar Burchardt: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, 163–196; Günter Wendel: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911–1914. Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft, Berlin 1975, 210–229. 88 Vgl. ZH 348; Pachaly (Anm. 86), 86–91 u. 135–141.
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nun unter Kriegsverwaltung gestellt und mit der Erprobung von Gaskampfmitteln beschäftigt war.89 Der Weltkrieg ließ, in Anspielung auf Harnacks Gutachten von 1909, Wehrkraft und Wissenschaft in eine überaus enge Verbindung treten, wie sich an Habers KWI für physikalische Chemie besonders gut verfolgen läßt. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn hat Harnack diese Entwicklung ausdrücklich begrüßt.90 Im 1916 erschienenen Jahresbericht der Gesellschaft für den Zeitraum 1914 bis 1916 formulierte Harnack: „Schaffen, Organisieren, Disziplinieren: in diesem Dreiklang deutschen Geistes und deutscher Arbeit finden sich Wehrkraft und Wissenschaft zusammen.“91 In Einzelheiten der Arbeiten des mit der „Großforschung für den Gaskrieg“92 tätigen Instituts Habers scheint Harnack nicht eingeweiht worden zu sein, mit der Heranziehung auch dieses Instituts für die Kriegführung war er zweifellos einverstanden. In den Korrespondenzen Harnacks mit Haber, Schmidt-Ott und Rudolf von Valentini als dem Vertreter des kaiserlichen Protektors der Gesellschaft findet sich allerdings kaum ein Widerhall der Gasforschungen des Instituts. Deutlich ist auch, daß Haber die treibende Kraft der Gaskriegsforschung darstellte und Entscheidungen ohne Umweg über den Präsidenten mit den zuständigen Stellen der Obersten Heeresleitungen und mit Valentini zu forcieren suchte. Auf der Mitgliederversammlung der KWG vom Oktober 1917 konnte Harnack nur mitteilen, daß die Leistungen Habers „erst nach dem Krieg kundgetan werden“ könnten, zugleich aber auf die Opfer durch Gasexperimente unter den Mitarbeitern des Instituts hinweisen.93 Mit Blick auf Harnacks Wissen um die durch die KWG zumindest mittelbar unterstützte Gaskriegführung hat Hartmut Lehmann gar von einem ethischen Versagen Harnacks gesprochen, zielte die Erprobung und Anwendung von Gaskampfmitteln doch darauf, „das Töten effizienter zu gestalten.“94 Nach Lehmann blieb das „Ethos der Wissenschaft, die Harnack vertrat und das er den Mitgliedern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft empfahl, […] in jeder Phase des Krieges vollkommen an die Zielsetzungen nationaler 89 Vgl. ausführlich Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, 256–408. 90 Vgl. Harnack an Wilhelm II. 1915 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 91 3.-5. Jahresbericht der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Berlin 1916, 4. 92 Szöllösi-Janze, 332–358. 93 Die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Berlin 1917, 8. 94 So die grundsätzliche Kritik bei Hartmut Lehmann: „Es ist eine tiefernste, herrliche Zeit“. Adolf von Harnack und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, 8 (Vortrag auf dem Harnack-Kongreß Berlin 2001. Herr Professor Lehmann hat mir diesen Vortrag freundlicherweise zur Verfügung gestellt). Dort auch weitere einschlägige Literatur zur Problematik des Gaskrieges.
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Politik gebunden.“95 Tatsächlich finden sich bis 1916 keine Indizien einer irgendwie gearteten – sei es ethischen, sei es wissenschaftspolitischen96 – direkten Problematisierung der Kriegsarbeit der KWG durch Harnack. Zu beachten sind freilich auch Handlungsmöglichkeiten sowie die Lageeinschätzung der beteiligten Personen. Festgehalten werden muß, daß direkte Einflußmöglichkeiten der KWG-Leitung auf das unter Militärverwaltung stehende Haber-Institut allenfalls noch begrenzt vorhanden waren. Hinzu kommt, daß eine moralische oder völkerrechtliche Sensibilisierung bei keinem der 1915 direkt Beteiligten nachweisbar ist.97 Völkerrechtlich war der Einsatz von Giftgas, der nach dem erstmaligen Einsatz durch die deutsche Armee auch von Engländern und Franzosen praktiziert wurde, nicht eindeutig geregelt.98 Schließlich war zumindest eine öffentliche Kritik an der deutschen Gaskriegführung wegen der Zensur nicht möglich. Ob und, wenn ja, wann Harnack die von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft entscheidend unterstützte Gaskampfführung als Problem erkannte, kann an Hand der Quellen kaum eindeutig entschieden werden. Immerhin lassen Indizien auf eine zunehmende Sensibilisierung Harnacks schließen. Sein Plädoyer für eine an ethischen Kriterien orientierte Kriegführung vom April 1916, vorrangig formuliert mit Blick auf die Kriegszieldebatte99, ist auch als mögliche Mahnung bezüglich der Gaskriegführung interpretierbar, ohne daß Harnack diese ausdrücklich nannte – was angesichts der Zensur allerdings auch kaum möglich gewesen sein dürfte. Im gleichen Monat konnte Harnack mit Blick auf die Gestaltung der KWG nach dem Krieg als Hauptaufgabe angeben, „die reine Wissenschaft neben der angewandten Wissenschaft aufrechtzuerhalten und sich in ihrer Pflege durch nichts beirren zu lassen. [ …] Das fast schon verbrauchte Wort ‚Durchhalten‘ – wir werden es nach dem Frieden in bezug auf die reine Wissenschaft erst recht in Kraft setzen müssen, und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wird eifersüchtig und durch entsprechende Schutzmaßregeln darüber wachen, daß ihre Institute Forschungsinstitute bleiben und nur als solche gegründet werden.“100 Diese Äußerung kann als vorsichtige Kritik an der fast ausschließlich auf angewandte Forschung orientierten Arbeit der Gesellschaft während des Krieges interpretiert werden, zumal wenn man sie in Zusammenhang stellt mit Harnacks eindrücklichem Plädoyer für eine an ethischen Kriterien orientierte Kriegsführung vom April 1916.101 In den 1917 geführten Ver95
AaO., 11f. Immerhin bedeutete die Indienstnahme der KWG für die Kriegsführung auch einen Eingriff in die Freiheit der Wissenschaften, die Harnack gegenüber Kirchen und Parteien, aber auch gegenüber den Anwendungsinteressen der Industrie immer betont hatte. 97 So auch Lehmann (Anm. 94), 11. 98 Die wichtigste Literatur aaO., 9, Anmerkung 21. 99 RANF 3, 300–307; vgl. auch Kapitel V.3. 100 3.-5. Jahresbericht (Anm. 91), 6f. 101 RANF 3, 300–307. 96
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handlungen über ein eigens einzurichtendes Gasforschungsinstitut – ein von Haber mit großem Eifer betriebenes Projekt102 – bemühte sich Harnack darum, die Gesellschaft von einer Mitwirkung an der militärischen Anwendung der Forschungsergebnisse fernzuhalten. So ließ er auf der Verwaltungsausschußsitzung vom 11. Mai 1917 feststellen, daß die „wissenschaftliche Ausarbeitung und Erprobung von Gaskampfmitteln […] abseits von den eigentlichen Aufgaben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ liege.103 Alle praktischen Versuche auf Grund der theoretischen Erkenntnisse, so der Senatsbeschluß vom 19. Oktober 1917, seien der Militärverwaltung zu überlassen.104 Das war sicher kein Widerstand, sondern allenfalls der Versuch, sich durch Lavieren von der direkten Beteiligung am Gaskrieg fernzuhalten, zeigte aber doch die zunehmende Vorsicht gegenüber den besonders von Haber mit geradezu fanatischem Eifer betriebenen Gaskampfprojekten. Harnacks Ausruf in einem Brief vom Juli 1916: „Wenn doch nach einigen Jahren der Erfindungen der Krieg sich selbst aufhöbe, weil die mechanischen Waffen unerträglich in ihrer Todeskraft geworden sind!“105, hatte mit dem Problem des Gaskrieges einen realen Hintergrund. Harnacks Problemwahrnehmung stand dabei in Spannung zu seinen eigenen Überzeugungen von dem Dienst, den die Wissenschaft der eigenen Nation zu leisten habe – eine Spannung, für die er keine Auflösung fand. Daß Harnack im Jahr 1916, in dem sich Anzeichen dieser Problemwahrnehmung erkennen lassen, verstärkt auf eine möglichst baldige, außenpolitischen Verzicht mit innenpolitischen Reformen verbindende Beendigung des Krieges hinwirkte, mag Zufall gewesen sein. Möglich wäre es aber auch – wenn auch aus den Quellen direkt nicht belegbar – eben darin Harnacks Ausweg aus der Spannung von politischer Ethik und nationalem Interesse zu sehen, wie sie sich in der Verquikkung von Wissenschaft und Kriegsführung besonders deutlich zeigte. Harnacks publizistisch-politisches Engagement wäre dann auch als Reaktion auf das Problem der Gaskriegführung zu interpretieren. Es ließe sich so auch eine Linie bis hin zur eindeutigen Verurteilung des Krieges durch Harnack in den 1920er Jahren und sein Eintreten für den Völkerbundgedanken ziehen. Aufgehoben war das ethische Dilemma damit sicher nicht. Diese Überlegungen haben freilich hypothetischen Charakter, bleibt hier doch vieles im Bereich der Spekulation, will man nicht unkritischer Beschönigung oder vorschneller Verurteilung das Feld überlassen.
102
Vgl. Szöllösi-Janze (Anm. 89), 365–373. Protokoll der Sitzung vom 11.5.1917, in: GStA-PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 21290, Bl. 192–200, Bl. 198. 104 Vgl. Protokoll der Senatssitzung vom 19.10.1917, in: aaO., 235. 105 Harnack an Else Zurhellen-Pfleiderer am 26.7.1916, in: BwZP 129. 103
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V. Harnack im Ersten Weltkrieg
2. Gelehrtenpolitik im Weltkrieg: Grundlagen des Engagements Harnacks 2.1. Politische Kommunikation im Krieg: „Mittwochabend“ und „Deutsche Gesellschaft 1914“ Der Ausbruch des Weltkrieges bildete einen tiefen Einschnitt in die bisherigen Formen politischer Kommunikation im Kaiserreich, da die direkte politische Auseinandersetzung der Parteien im Parlament mit dem „Burgfrieden“ zunächst zum Erliegen kam.106 Durch die mit Kriegsbeginn eintretende Pressezensur wurde auch die Artikulation der öffentlichen Meinung in Zeitschriften und Tageszeitungen erheblich eingeschränkt. Dies galt nicht nur für die Behandlung innenpolitischer Fragen, sondern auch für die Diskussion sowohl der Kriegsführung als auch der Kriegsziele, die bis November 1916 untersagt blieb.107 Diese Fragen konnten jetzt offen nur noch in kleinen Kreisen von gutinformierten Journalisten, Mitgliedern der höheren staatlichen Bürokratie und Gelehrtenzirkeln mit guten Kontakten zur Reichsleitung behandelt werden. Das Fehlen einer klaren Richtungsvorgabe seitens der Politik führte gleichzeitig zu einer gewissen Orientierungslosigkeit, die sowohl von Seiten der Intellektuellen als auch von führenden Wirtschaftsvertretern zur Artikulation und Propagierung eigener politischer Konzeptionen genutzt wurde, wobei die Frage der Kriegsziele seit Ende 1914 im Mittelpunkt der Diskussion stand. Sie wurde mit Hilfe von in den entsprechenden Kreisen kursierenden Denkschriften sowie Eingaben an Parlament und Reichsregierung geführt. Die angesichts des Krieges stark politisierten Gelehrten spielten hier nicht nur wegen ihres Anspruchs auf eine vermeintlich „objektive“ Meinungsführerschaft eine wichtige Rolle – ein Anspruch, der sich mehr noch als vor 1914 als Illusion erwies –, sondern auch deshalb, weil ihr Name einer Denkschrift oder einer anderen politischen Stellungnahme zusätzliches Gewicht verlieh. Dieser Aspekt war beispielsweise für die „Seeberg-Adresse“ vom Juli 1915 wichtig, die zwar als Aufruf deutscher Gelehrter firmierte, im 106 Eine wichtige Grundlage und Anregung für diesen Abschnitt stellt die vorzügliche Darstellung der gelehrtenpolitischen Kommunikationsbedingungen im Krieg bei Meineke (Anm. 14), 205–213 dar; vgl. ferner Wolfgang J. Mommsen: Die deutsche öffentliche Meinung und der Zusammenbruch des Regierungssystems Bethmann Hollweg im Juli 1917, in: ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/Main 1990, 422–440. 107 Vgl. zu den rechtlichen Grundlagen Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914– 1919, Stuttgart 1978, 45–73; zur Militärzensur: Wilhelm Deist: Zensur und Propaganda in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: ders.: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, 153–163.
2. Gelehrtenpolitik im Ersten Weltkrieg
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Wesentlichen aber in Kreisen der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie konzeptionell entworfen worden war und so auch deren wirtschaftlich-politische Vorstellungen widerspiegelte.108 Unter den Gelehrten kam den Berliner Professoren – anknüpfend an ihren wachsenden Einfluß schon vor 1914 – eine besondere Bedeutung zu. Aufgrund der eingeschränkten Kommunikationsbedingungen waren sie schon wegen ihrer örtlichen Nähe zu den höheren Regierungskreisen gegenüber den Hochschullehrern anderer Universitäten im Vorteil. Kontakte mit hohen Beamten, Parteipolitikern, Wirtschaftsexperten und Diplomaten wurden bald in politischen Klubs wie der „Mittwoch-Gesellschaft“ des nationalliberalen Parteiführers Ernst Bassermann, der von Kolonialstaatssekretär Wilhelm Solf initiierten „Deutschen Gesellschaft 1914“ und dem „Mittwochabend“ Hans Delbrücks institutionalisiert.109 Harnack war Mitglied der Ende 1915 ins Leben gerufenen „Deutschen Gesellschaft 1914“ und des „Mittwochabend.“ Während erstere als Ort der freien politischen Aussprache zwischen einer Vielzahl von Gelehrten, Diplomaten, Journalisten, Militärs und Politikern von den Freikonservativen bis zu den Sozialdemokraten fungierte, zu der alle 14 Tage geladen wurde, bestand der „Mittwochabend“ aus einem kleinem Kreis von Gelehrten, Politikern und hohen Beamten, die gezielt auf die politische Entscheidungsfindung einzuwirken versuchten. Von dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Eugen Schiffer angeregt, fand eine erste Sitzung am 2. September 1914 unter der Leitung Hans Delbrücks statt, der im weiteren dann die Zusammensetzung des Kreises maßgeblich bestimmte, an dessen Sitzungen – Mittwoch um 20.45 Uhr – in der Regel etwa 20 Personen sowie speziell eingeladene Referenten teilnahmen. Darunter waren Bankiers wie Arthur von Gwinner und Paul von Schwabach, das freikonservative Mitglied des Herrenhauses Fürst Hatzfeld, der Reeder Albert Ballin, Walter Rathenau, Staatssekretär Wilhelm Solf, der Berliner Oberbürgermeister Wermuth, Bernhard Dernburg, die Professoren Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke, Max Sering und Wilhelm Kahl sowie, neben Schiffer, die nationalliberalen Abgeordneten von Krause und Friedberg. Über Kurt 108 Vgl. Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997, 49–69. 109 Vgl. zur „Mittwoch-Gesellschaft“ (nicht zu verwechseln mit der seit 1863 bestehenden „Mittwochs-Gesellschaft“) Art. Mittwoch-Gesellschaft (Bassermann-Stein), in: Dieter Fricke (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Band 3, Leipzig 1985, 381–384; zur „Deutschen Gesellschaft 1914“ Bernd Sösemann: Politische Kommunikation im ‚Reichsbelagerungszustand‘ – Programm, Struktur und Wirkungen des Klubs ‚Deutsche Gesellschaft 1914‘, in: Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte, München 1987, 630–649; zum „Mittwochabend“: Willibald Gutsche: Art. Mittwochabend, in: Fricke, 376–380.
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Hahn stand der Kreis mit Prinz Max von Baden in Verbindung.110 „Delbrücks Tafelrunde“, von der die Initiative zur Gegeneingabe von 1915 sowie verschiedene Vorstöße zur preußischen Wahlrechtsreform und der Verhinderung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges ausgingen, zählte am Ende des Krieges zu den Unterstützern der Politik des letzten kaiserlichen Reichskanzlers Max von Baden, so daß Meinecke diesen Kreis rückblickend auch als dessen „privaten Staatsrat“ bezeichnen konnte.111 Harnack gehörte zu den regelmäßigen Teilnehmern des „Mittwochabend“ und war an den wichtigsten politischen Aktionen beteiligt, die hier – meist auf Initiative Delbrücks – vorbereitet wurden. Ihm kam dabei schon wegen seines „klangvollen“ Namens, besonders aber wegen seiner hervorragenden Beziehungen zum Kaiser und zu Rudolf von Valentini, dem Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts, eine wichtige Rolle für die Verbreitung der Ideen des Kreises zu. Auch wurde Harnack ebenso wie Friedrich Meinecke seit 1916 von Reichskanzler Bethmann Hollweg gelegentlich zur Beratung herangezogen. Freilich erschwerten die Bedingungen des Krieges die Möglichkeiten der Einflußnahme auf den Kaiser, der lange Zeit im Großen Hauptquartier und somit nicht in Berlin weilte. Im Juli 1917 bemerkte Harnack gegenüber Friedrich Loofs, er habe seit Kriegsbeginn nur fünf Mal mit Wilhelm II. sprechen können. Wichtiger wurde dafür der Kontakt zu Rudolf von Valentini, mit dem Harnack sich über wichtige politische Angelegenheiten brieflich und auch mündlich austauschte.112 Seine Ablösung im Januar 1918 bedeutete für die Möglichkeiten der Einflußnahme des Delbrückkreises einen herben Rückschlag. Den gouvernemental agierenden Gelehrten standen auf höchster Ebene keine gleich gesinnten Partner mehr zur Verfügung.
2.2. Der Beginn der Reformdiskussion: Harnack und die „Freie Vaterländische Vereinigung“ Bereits im Winter 1914/15 wurde deutlich, daß der Burgfriede alles andere als gesichert war. Einmal brach seit September 1914 die Debatte über die deutschen Kriegsziele aus, die mit einer Vielzahl an Denkschriften und Petitionen unter Ausschluß der breiteren Öffentlichkeit geführt wurde und alsbald auch zu scharfer Kritik an dem als zu zögerlich empfundenen Reichs110
Vgl. Paul Rühlmann: Delbrücks „Mittwochabend“, in: Am Webstuhl der Zeit. Festschrift Hans Delbrück, Berlin 1928, 77–79. 111 Friedrich Meinecke: Straßburg, Freiburg, Berlin. Erinnerungen 1901–1919, Stuttgart 1949, 169; zum Verhältnis des Prinzen Max zum „Mittwoch-Abend“ vgl. Prinz Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1968, 162f. 112 Harnack an Loofs am 29.5.1917, in: ULBSA, Nl. Loofs, Yi 19 IX 1653a; für die Zeit nach diesem Brief haben sich keine Begegnungen Harnacks mit dem Kaiser mehr nachweisen lassen.
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kanzler führte. Sodann war absehbar, daß eine Kontroverse über innenpolitische Reformen auf Dauer nicht vermieden werden konnte. Hinzu kam, daß die „Augustbegeisterung“ auch in der Bevölkerung nachließ und eine gewisse Kriegsmüdigkeit und Ernüchterung um sich griff.113 In dieser Situation entstand in Delbrücks „Mittwochabend“ – angeregt von Eugen Schiffer – schon im November 1914 die Idee einer überparteilichen Organisation mit der Aufgabe, „den Strom der nationalen Einheit aus der Zeit des Krieges in die des Friedens überzuleiten“, um so „den inneren Gewinn des Krieges auch für unser innenpolitisches Staats- und Volksleben sicherzustellen.“114 Ergebnis dieser Überlegungen war die Ende Februar 1915 erfolgte Gründung der „Freien Vaterländischen Vereinigung.“ Wilhelm Kahl als Vorsitzender der Vereinigung bestimmte ihre Aufgabe dahingehend, „durch politische Arbeit die Gegensätze des Parteilebens im höheren Dienste des Vaterlandes zu mildern oder zu vereinigen.“115 Eugen Schiffer hatte Harnack schon am 23. November in einem Gespräch mit dem Sozialdemokraten Eduard David als möglichen Mitinitiator eines gemeinsamen Manifests von Liberalen und Sozialdemokraten ins Spiel gebracht, das die Gleichberechtigung der SPD unter den Bedingungen „Rüstungsbewilligung“ und „Monarchie-Anerkennung“ fordern sollte. David verlangte, einen solchen Aufruf direkt mit der Wahlrechtsfrage zu verbinden, was Schiffer ablehnte.116 Zusammen mit Schiffer, Fürst Hatzfeld, Delbrück, Wilhelm Kahl und dem nationalliberalen Abgeordneten von Krause verfaßte Harnack im Januar den Gründungsaufruf der Vereinigung – zunächst noch unter dem Titel Vaterländischer Bund –, der in überarbeiteter Form am 28. Februar 1915 veröffentlicht wurde. Zugleich entwarf er Mitte Januar 1915 ein Anschreiben an potentielle Mitunterzeichner, die er zu einer vertraulichen Versammlung im Reichstagsgebäude am 28. Februar zwecks Gründung der Vereinigung auf der Basis des entworfenen Aufrufs einlud, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß „begründete Hoffnung besteht, diese Mitwirkung aus allen Parteien zu erhalten.“117 Tatsächlich unterzeichneten Vertreter der bürgerlichen Parteien von den Freikonservativen und Nationalliberalen über das 113 Vgl. den politischen Stimmungsbericht des preußischen Innenministeriums vom November 1914, in: GStA-PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32406, Bl. 180–188, v.a. Bl. 180f. 114 So der Gründungsaufruf der Vereinigung, in: Wilhelm Kahl (Hg.): Die Freie Vaterländische Vereinigung. Urkunden ihrer Gründung und Entwickelung, Berlin 1915, 6; auch in: PJ 160 (1915), 179–183. 115 Kahl an Valentini am 20.12.1915, in: GstA-PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15376, Bl. 159f. 116 Matthias/Miller (Anm. 23), 72 (23.11.1914). 117 Vgl. Schiffer an Harnack am 16.1.1915, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schiffer. Dort auch der handschriftliche Entwurf Harnacks, in dem die genannten Autoren des Aufrufes aufgezählt werden. Ein Anschreiben Harnacks an Wilamowitz-Moellendorff vom 17.1. 1915 sowie die erste Fassung des Aufrufs in: NSLB Hannover, Nl. U. von WilamowitzMoellendorff, Korr. Harnack.
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Zentrum bis zur Fortschrittlichen Volkspartei den Aufruf, darunter Matthias Erzberger, während Sozialdemokraten nicht daran beteiligt waren. Hinzu kamen namhafte Bankiers und Industrielle wie Paul von Schwabach, Arthur von Gwinner, der BdI-Vorsitzende Heinrich Friedrichs und Carl Friedrich von Siemens, Vertreter der christlichen und bürgerlichen Gewerkschaften und eine Reihe Berliner Professoren. Zusammen mit Kahl, Ernst von Borsig, Eugen Schiffer, Paul von Schwabach und Johannes Giesberts vom Zentrum wurde Harnack in den siebenköpfigen Vorstand gewählt.118 Harnacks Einfluß auf die Formulierungen des Aufrufs zeigte sich besonders bei den „sozialpolitischen“ Zielen der FVV. Darin wurde eine neue „Einheitlichkeit unseres Volkes auch im gesellschaftlichen Zusammenleben und im freien Verkehr“ angemahnt, um jede Art von „Kastengeist, von Mißtrauen und Gehäßigkeit“ zu überwinden. Die vorsichtige Forderung nach einer Fortführung der Sozialreformen nach dem Kriege „bei gebührender Rücksicht auf die Tragfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft“ dürfte neben den Vertretern der christlichen Gewerkschaften ebenfalls mit auf den ehemaligen Präsidenten des ESK zurückzuführen sein.119 Insgesamt war der Kompromißcharakter des Aufrufs an den teilweise recht umständlichen und kryptischen Formulierungen zu erkennen. So wurde nach der Feststellung „Dem Deutschen darf niemand in der Welt näher stehen, als sein Reichsgenosse“ für jeden, der sich zu diesem Grundsatz bekannte, die „rückhaltlose Anerkennung seiner nationalen Gesinnung“ eingefordert und auf dieser Grundlage eine Durchsicht des geltenden Rechts verlangt. Tatsächlich scheinen sich gerade hier verschiedene Interpretationen angeboten zu haben, so daß Delbrück in seiner Kommentierung dieses Punktes Unzulänglichkeiten in der Formulierung zugestand, ansonsten aber klarstellte: „Wer den Satz ohne jede Rabulistik liest und annimmt, der versteht, daß gemeint ist: Sozialdemokraten, Juden und Polen haben für das Deutsche Reich gefochten und geblutet, dafür soll ihnen der Dank nicht vorenthalten werden und das Reich auch ihnen eine freundliche, nicht von Argwohn umzäunte Wohnung bieten.“120 Doch stieß eine solche Interpretation ebenso auf Widerstand wie die Forderung, alle Ämter „nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch tatsächlich den für sie geistig und sittlich Befähigten zugänglich zu machen.“121 Das lief auf eine Aufhebung der Standes-, Konfessions- und Parteiklauseln bei der Einstellung von Staatsbeamten und der Vergabe von Staatsämtern hinaus. Genau dies wurde der FVV bald zum Vorwurf gemacht, etwa in einem Brief des Oberpräsidenten von 118 Unterschriften in: Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 8–10. Zur Ablehnung der Vereinigung durch die SPD Matthias/Miller (Anm. 23), 100 (28.1.1915). 119 Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 6f. Unter den Unterzeichnern befanden sich mit Hans Delbrück und Adolf Wagner zwei weitere Mitglieder des ESK. 120 PJ 160 (191), 178. 121 Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 7.
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Ostpreußen, von Bartocki, an Paul von Schwabach. Bartocki erblickte darin eine Gefährdung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung.122 Es kam Harnack zu, die Bedenken Bartockis auszuräumen, indem er feststellte, daß der Aufruf unter der Voraussetzung der „vaterländische[n] Gesinnung im Sinne der bestehenden Staatsordnung in ihren entscheidenden Grundzügen“ formuliert worden sei. Natürlich beziehe sich eine solche Gleichberechtigung nicht auf „Männer wie Liebknecht“, die die bestehende Ordnung in Gänze verwarfen.123 Doch konnten diese Ausführungen Bartockis Einwände nicht ausräumen. Tatsächlich beinhaltete Harnacks Formulierung ja auch einen gewissen Spielraum für Veränderungen, indem er nur von der Staats-, nicht aber von der Gesellschaftsordnung sprach, und auch die Nennung ihrer „entscheidenden Grundzüge“ Interpretationsspielraum dafür ließ, was denn diese Grundzüge seien. Die Freie Vaterländische Vereinigung bemühte sich insgesamt, die Politik des Reichskanzlers Bethmann Hollweg zu unterstützen, der die Gründung der Vereinigung grundsätzlich begrüßte, sich aber zugleich jede Behandlung der Kriegszielfrage verbat.124 Über diesen Wunsch setzten sich schon wenige Wochen später führende Mitglieder der FVV hinweg, indem sie sich an der gegen die annexionistische „Seeberg-Adresse“ gerichteten Gegeneingabe beteiligten. Damit war aber der Integrationskurs der Vereinigung im wesentlichen gescheitert, zumal sich einige der Unterzeichner des Gründungsaufrufs an der Seeberg-Adresse beteiligt hatten.125 Wilhelm Kahl mußte sich als Vorsitzender massiver Angriffe nicht nur der konservativen, sondern auch von Teilen der nationalliberalen Presse erwehren, die der FVV nun die Verbreitung „unmännlicher Sentimentalitäten im deutschen Volke“ vorwarfen.126 Kahl bemühte sich in den Folgejahren, die Vereinigung durch einen Mittelkurs am Leben zu erhalten, konnte damit aber Behinderungen durch die Militärbehörden besonders in Ostelbien nicht verhindern.127 Im Juni 1917 trat sie noch einmal mit einer Veranstaltung zur Wahlrechtsreform her122 Bartocki an Paul von Schwabach am 20.3.1915, in: GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 662, Nr. 152, Bl.7–9. 123 Harnack an Bartocki am 25.3.1915, aaO., Bl. 10. Bartocki zeigte sich nicht überzeugt und übersandte die Abschriften des Briefwechsels an das Preußische Innenministerium, vgl. aaO., Bl. 11. 124 Bethmann Hollweg an Kahl (undatiert), in: Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 63f. Die Nähe der FVV zur Politik der Reichsleitung sollte durch den Abdruck der Stellungnahmen von „Kaiser und Kanzler“ zu ihrer Gründung in der erwähnten Broschüre illustriert werden, in: aaO., 63–66. 125 Darunter das M.d.R. Behrens, Emil Fischer und der Nationalliberale von Friedberg. Der BdI, dessen Vorsitzender Friedrichs Mitglied der FVV war, hatte sich an der Eingabe der sechs Wirtschaftsverbände vom Mai 1915 beteiligt. 126 So der Vorwurf der nationalliberalen Westfälischen Politischen Nachrichten vom 10. August 1914, zitiert nach der Erwiderung von Wilhelm Kahl: Kriegziele und ‚Freie Vaterländische Vereinigung‘, in: Nl. Harnack, K. 34, Korr. Kahl, Bl. 11–16, Bl. 11. 127 So untersagte etwa das Generalkommando in Stettin im Februar 1916 die Bildung
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vor. Ende 1917 bestand Kahl ausdrücklich auf den Fortbestand der FVV neben dem Volksbund für Freiheit und Vaterland. Harnack nahm nur an wenigen der Vorstandssitzungen der Vereinigung teil, ohne dabei besonders hervorzutreten.128 Im Grunde war die FVV, die nie wieder die Aufmerksamkeit ihrer Gründungsversammlung erreichte, schon durch das Fernbleiben der Sozialdemokraten, spätestens aber mit der Mitte 1915 ausbrechenden Kriegszieldebatte gescheitert. Zur relativen Bedeutungslosigkeit der FVV trug auch die organisatorische Unzulänglichkeit des Unternehmens bei. Trotz einiger Anläufe gelang es nicht, den Charakter einer Berliner Honoratiorenvereinigung zu überwinden und eine effiziente Organisation auf Länder- und Provinzebene aufzubauen. Harnack beteiligte sich an diesen Versuchen nicht mehr, hielt sie gar für falsch.129 Damit scheiterte die FVV letztlich auch daran, daß sie konzeptionell den Vorstellungen der alten Gelehrtenpolitik verhaftet blieb. Sie beanspruchte für sich zwar eine gleichsam mahnende und richtungsweisende Artikulation der öffentlichen Meinung, ihre Mitglieder aber schreckten vor einem dauerhaften Engagement zurück, indem sie den – auch organisatorischen – Unterschied der FVV von den politischen Parteien betonten.130
3. Kriegsziele und Friedensfragen: Politische Kontroversen bis zum Sturz Bethmann Hollwegs 3.1. Harnacks Beurteilung der Kriegslage und die erste Beschäftigung mit den Kriegszielen im Frühjahr 1915 Harnack war bereits in seiner Rede vom 29. September 1914 – zweifellos in Kenntnis der verlorenen Marne-Schlacht – davon ausgegangen, daß der Krieg von längerer Dauer sein werde und auch bezüglich der Opfer, die er von FVV-Gruppen in Pommern, vgl. das Protokoll der Vorstandssitzung der FVV vom 20.5.1916, in: BA Berlin, Nl. Johannes Giesberts, Nr. 32, Bl. 48–52. 128 Vgl. die Vorstandsprotokolle der Jahre 1916 bis 1918 in: BA Berlin, Nl. Giesberts, Nr. 32. 129 Dieses Ziel verfolgte eine Weimarer Tagung vom 25.7.1915, vgl. Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 24–30; vgl. zu Harnacks Ablehnung dieses Unterfangens seinen Brief an Delbrück vom 7.7.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. A. Harnack. 130 So hieß es im Aufruf, die FVV wolle nicht in das „Gefüge der Parteien“ eingreifen, sondern vielmehr „ein besonderes Organ der öffentlichen Meinung“ sein, vgl. Kahl: Vereinigung (Anm. 114), 8. Delbrück schwebte als Arbeitsform die Einberufung von Versammlungen vor, „die nach Art wissenschaftlicher Kongresse, frei und noch einigermaßen umgrenzt, öffentliche Aussprachen für Minister und Parlamentarier, aber nicht bloß für diese, sondern auch sonst für hervorragende Persönlichkeiten ermöglichten“, in: PJ 160 (1915), 180. Charakteristisch ist, daß sich an dem Versuch Kahls vom Juli 1915, die Basis der FVV zu verbreitern, von den Unterzeichnern des Aufrufs neben den Vertretern der bürgerlichen und christlichen Gewerkschaften nur Kahl und Schiffer beteiligten.
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der Bevölkerung abverlangte, mehr „kosten“ würde „als irgendein früherer, den unser Vaterland erlebt hat.“131 Insofern war Harnack Ende September 1914 wohl schon deutlich, daß die militärische Situation zumindest schwierig geworden war. Einem aufmerksamen Leser der Kommentare Delbrücks vom 27. September konnte dies trotz der herrschenden Zensur nicht entgehen. Delbrück folgerte aus den Rückschlägen an der Marne, daß das Ziel des Krieges nicht in der Erlangung einer Hegemonie Deutschlands auf dem Kontinent, sondern allein in der „Eroberung des Gleichgewichts auf der See“ liegen könne.132 Daß der Krieg von längerer Dauer sein werde und „noch gewaltige Schwierigkeiten zu bewältigen sind, bis wir ans Ziel dieser Kämpfe gelangen“, wurde Harnack von Valentini in dessen Neujahrsgruß bestätigt.133 Ebenso wie Delbrück veranlaßte Harnack diese Einsicht wohl auch zu der Erkenntnis, daß angesichts der zu erwartenden Länge des Krieges die einsetzende englische Seeblockade eine ernste Bedrohung darstellte. Harnack unterzeichnete deshalb im Januar 1915 eine von dem Berliner Nationalökonomen Max Sering verfaßte Eingabe an den Reichskanzler und an den Chef des Admiralstabs der Kriegsmarine, in der der Einsatz „alle[r] verfügbaren Mittel“ gefordert wurde, um „den völkerrechtswidrigen Plan einer Aushungerung des deutschen Volkes im Wege der Vergeltung zunichte zu machen.“ Die Forderung aller verfügbaren Mittel schloß auch die U-Boot-Waffe ein, die seit Februar 1915 gegen englische Handelsschiffe eingesetzt wurde. Die schwerwiegenden politischen Konsequenzen dieses Entschlusses waren Harnack damals noch nicht bewußt. Den schließlich uneingeschränkten UBootkrieg, den er ab 1916 wegen seiner Folgen für die amerikanische Haltung gegenüber dem Reich bekämpfen sollte, hatte er zumindest in seinen Anfängen mitgetragen. 134 Gleichwohl haftete Harnack in bestimmten Kreisen von Industriellen und Bankiers bereits im September 1914 der Ruf eines „Flaumachers“ an, der nur auf die nächste Gelegenheit zu einem Friedensschluß mit Frankreich wartete.135 Harnack erkundigte sich Anfang November 1914 brieflich bei Gustav Krupp von Bohlen und Halbach über die Stimmung unter den Großindustriellen. Krupp, der zu dieser Zeit mit den stark annexionistisch 131
RANF 3, 314. PJ 158 (1914), 182–193, 191; zur Beurteilung der militärischen Lage durch Delbrück vgl. Friedrich Carl Scheibe: Marne und Gorlice: Zur Kriegsdeutung Hans Delbrücks, in: MGM 53 (1994), 355–376. 133 Valentini an Harnack am 7.1.1915, in: Nl. Harnack, K.44, Korr. Valentini. 134 Wortlaut der „Denkschrift über die Durchbrechung der Handelssperre gegen Deutschland“ bei Arno Spindler: Der Handelskrieg mit U-Booten, Berlin 1932, 235; vgl. auch Pachaly (Anm. 86), 57 und Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 97f. 135 So eine bei Wilhelm Deist: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918. Erster Teil, Düsseldorf 1970, 201, Anm. 6, abgedruckte Gesprächsnotiz des Finanzrats Müller von der Dresdner Bank. 132
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orientierten Wirtschaftsführern sympathisierte, äußerte keine konkreten Kriegszielwünsche, zeigte sich aber über Harnacks vermutlich sehr bescheiden ausfallende Kriegszielvorstellungen „sehr erstaunt.“ Zugleich äußerte Krupp starke Unzufriedenheit mit der zu zögerlichen Politik der Reichsleitung. In einem weiteren Brief bezeichnete Krupp als Ziel des Krieges die Brechung der englischen Weltherrschaft und die Erlangung von „Weltmachtsmöglichkeiten für Deutschland“, neben denen Belgien „eine bloße Zugabe“ sei.136 So war Harnack bereits über die Stimmung in schwerindustriellen Kreisen unterrichtet, als ihm im Februar 1915 der Düsseldorfer Regierungspräsident Francis Kruse drei Denkschriften zur Kriegszielfrage aus industriellen Kreisen übersandte und ihn um eine Stellungnahme bat.137 Harnack antwortete umgehend und kritisierte v.a. die gemeinsame Grundannahme der drei Gutachten, nämlich „einen Frieden, der als Krönung des siegreichen Krieges unsre 3 Hauptfeinde gleichzeitig bis zur völligen Vernichtung niederzwingt.“138 Zwei der Arbeiten liefen nach Harnack gar darauf hinaus, „daß Deutschland das Imperium über Europa und die Welt antritt.“ Solche Überlegungen wies er entschieden zurück. Statt dessen empfahl er, die Möglichkeiten eines Friedensschlusses möglichst bald auf der Grundlage der bisherigen Erfolge auszuloten. Mit einem solchen Frieden mußten seiner Auffassung nach „nicht eine, sondern zwei feindliche Hauptmächte wesentlich zufrieden sein können. Um es roh auszudrücken: Einen Hauptgegner müssen wir gründlich schwächen und zwei beruhigen […]. Nur auf dieser Grundlage werden wir fortfahren können, in ruhiger Entwicklung unsere Kräfte so auszubilden, daß uns friedliche Erfolge zuwachsen.“ Harnack nannte als „kaltzustellenden“ Gegner Frankreich, während er sich in der Frage „ob wir in Zukunft mit England oder Rußland gehen sollen“ nicht endgültig festlegen wollte, aber angesichts der Kriegslage eine Allianz mit Rußland trotz seiner baltischen Bedenken für wahrscheinlicher hielt, denn „wir haben mit Rußland keine Reibeflächen (anders Österreich), sobald der Panslawismus sich duckt.“ Territoriale Forderungen seien dann bis auf „militärische Grenzberichtigungen“ an der Grenze zu Polen, das im russischen Staatsverband bleiben sollte, kaum durchzusetzen. Seine Grundintention beschrieb Harnack wie folgt: „Ich wünsche einen sicheren, keimkräftigen Frieden. Daß uns sofort reiche Früchte zu teil werden, wünsche ich nicht; denn ich sehe nicht, wie der Friede dann ein sicherer sein kann.“ Harnack verzichtete somit weitgehend auf direkte Annexionsforderungen. Dies entsprach den Vorstellungen, die bereits Arthur von Gwinner auf 136
Krupp an Harnack (o.D. bzw. 21.11.1914), in: Nl. Harnack , K. 35, Korr. Krupp. Kruse an Harnack am 11.2.1915, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Kruse. Die Denkschriften befinden sich dort nicht. 138 Harnack an Kruse am 14.2.1915 (Abschrift), in: aaO. Die folgenden Zitate dieses Abschnitts entstammen – soweit nicht anders angegeben – diesem Brief. 137
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der konstituierenden Sitzung des „Mittwochabend“ am 2. September 1914 vertreten hatte und die zumindest indirekt auf das „Septemberprogramm“ Bethmann Hollwegs eingewirkt haben könnten. Harnack selbst dürfte die Überlegungen des Kanzlers nicht gekannt haben, zumal ein engerer Kontakt zu ihm erst für das Jahr 1916 anzunehmen ist. Ganz ähnlich stellt sich allerdings ein Teil der strategischen Grundkonzeption des „Septemberprogramms“ dar, das von einer „Ausschaltung“ Frankreichs und der Fortführung des Krieges gegen England ausging.139 Eine veränderte Fassung seiner Kriegszielvorstellungen legte Harnack am 23. Mai 1915 dem Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, vor. Dabei war es, wohl in Abstimmung mit Delbrück, zugleich Harnacks Absicht, in Erfahrung zu bringen, inwieweit sich die von ihm vertretenen Vorstellungen mit denen Valentinis deckten, um bei gegebener Übereinstimmung „in diesem Sinne, in den Kreisen zu wirken, die mir nahe stehen.“140 Im Gegensatz zu den Ausführungen vom Februar bezeichnete Harnack nun Rußland als den wichtigsten Kriegsgegner, dessen Bezwingung vorrangiges Ziel sein müsse. „Wir haben den Krieg, als er uns von Rußland aufgezwungen wurde, unternommen als einen Verteidigungskrieg unserer Stellung im Osten, d. h. zur Behauptung unseres Einflusses in der Türkei und der österreichischen Stellung auf dem Balkan […].“ Als zweites Kriegsziel nannte Harnack die Schwächung Frankreichs und erst an dritter Stelle „die Aufgabe, die englische Weltherrschaft auf der See zu brechen“, um dann zu bilanzieren: „das erste Kriegsziel ist auch heute noch das wichtigste, ja entscheidendste.“ Harnack gestand die Schwierigkeiten zu, die eine Verständigung gerade mit England in der erregten öffentlichen Meinung Deutschlands hervorrufen würde, schließlich habe „sich die stärkste Erregung des Volksempfindens gegen England gerichtet.“ Doch dürfe das nicht die „notwendige und kühle politische Erwägung“ beeinflussen, die geradezu zwangsläufig auf die Erkenntnis hinauslaufe, „daß uns die Schwächung und Zurückdrängung Rußlands und die Erhaltung u. Stärkung unseres Einflußes in der Türkei – beides gehört aufs engste zusammen – ungleich wichtiger sein muß als Belgien, ja ungleich wichtiger sein muß als die Frage, ob wir Frankreich und England etwas mehr oder etwas weniger schwächen.“141 Harnacks Überlegungen zeigten einen gewissen Einfluß der Mitteleuropa-Konzeption Friedrich Naumanns, die dieser erstmals zur Jahreswende
139 Vgl. zum „Septemberprogramm“ Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1994 (Nachdruck des Sonderausgabe 1967), 90–95; der Originaltext ist leicht zugänglich bei Gunther Mai: Das Ende des Kaiserreiches. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg, München 21993, 99–103. 140 Harnack an Valentini am 23.5.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. 141 Ebd.
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1914/15 in einem Aufsatz vorgetragen hatte.142 Allein „ein von Emden bis Bagdad geschlossenes Mitteleuropa“ könne den Aufstieg Rußlands verhindern, so Harnacks Argumentation gegenüber Valentini. Nahm Harnack Naumanns programmatisches Schlagwort „Mitteleuropa“ damit auch auf, so unterschied er sich von diesem doch in der Frage der Behandlung Belgiens. Während Naumann im Frühjahr 1915 eine Wiederherstellung des belgischen Staates verwarf und aus diesem Grund auch nicht bereit war, die Gegeneingabe Delbrücks, Harnacks und anderer zu unterzeichnen, erschien Harnack die Herausgabe Belgiens und auch Nordfrankreichs als Voraussetzung für einen „ehrenvollen Frieden mit England und Frankreich.“143 Harnack gehörte daher zusammen mit Delbrück zu den wenigen Stimmen in Deutschland, die relativ früh die zentrale Bedeutung der belgischen Frage für eine baldige Beendigung des Krieges erkannt hatten. In der Konkretion stand Harnack Naumanns Mitteleuropa-Konzeption überaus skeptisch gegenüber. Das „wirtschaftliche Element“ erschien ihm darin zu dominant. Ferner befürchtete er, daß die „Irrationalitäten […] das neue Mitteleuropa nicht zulassen“ würden.144 Hielt Harnack, ganz ähnlich wie Delbrück, der Vorstellung von weitgreifenden Ausdehnungen Deutschlands auf dem Kontinent gegenüber erkennbare Distanz – was weitergehende, aber eben als nicht realisierbar erachtete Wünsche gerade im Ostseeraum nicht ausschloß –, so setzte er wie sein Schwager Delbrück darauf, den territorialen Verzicht auf dem Kontinent durch ein zentralafrikanisches Kolonialreich unter Einschluß des belgischen Kongo zu kompensieren.145 Diese Option hatte allerdings eher eine taktische Bedeutung als Instrument der innenpolitischen Debatte um die Zukunft Belgiens. Das „Angebot der Kompensation an Kolonien und Geld“, das nach Delbrück „ein sehr bedeutendes“ sein mußte, sollte das Gewicht der Gegner einer „direkten oder indirekten Beherrschung Belgiens“ erhöhen.146 Seine Überlegungen schloß Harnack mit einer Entschuldigung für den möglichen Eindruck eines Mangels an Zuversicht. Doch enthielten sei-
142 Vgl. Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, 236–258; Friedrich Naumann: Mitteleuropa, Berlin 1915; Naumanns Aufsätze von 1914/15 zu diesem Thema in: ders.: Werke Band 4: Schriften zum Parteiwesen und zur Mitteleuropafrage, Opladen 1964, 442–484. 143 Harnack an Valentini am 23.5.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. Ein ähnliches Konzept auch bei Hans Delbrück: Bismarcks Erbe, Berlin 1915, 210. 144 Harnack an Naumann am 28.10.1915, in: BA Berlin, Nl. Naumann Nr. 38. 145 Harnack an Valentini am 23.5.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. 146 Delbrück in einem Brief an Walter Schücking vom 21.4.1915, zitiert nach Anneliese Thimme: Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955, 124, Anm. 6. Delbrücks Traum von einem „deutschen Indien“ in einem Brief an Max Lenz vom 2. September 1914, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte M. Lenz.
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ner Meinung nach die skizzierten Perspektiven schon mehr, „als ein Verteidigungskrieg erwarten läßt.“147 Valentinis Antwort vom Juni 1915 wich in wesentlichen Punkten von den Vorstellungen Harnacks ab. Zwar stimmte Valentini Harnack darin zu, daß durch eine Politik der Annexionen in Belgien „ein Friedensschluß mit England so gut wie ausgeschlossen sein würde“, erachtete die Forderung nach „ganz Belgien“ jedoch für notwendig, damit „jedes Stück des Nachgebens von der Gegenseite mit den schwerwiegendsten Opfern an anderer Stelle erkauft werden muß.“148 England war demnach als Hauptgegner zu betrachten, mit dem Valentini eine direkte Verständigung in absehbarer Zeit für ausgeschlossen hielt und deshalb für eine Verständigung mit Rußland votierte. Diese Haltung entsprach weitgehend den Überlegungen im Umfeld des Reichskanzlers, der im Juni und Juli 1915 auf einen Sonderfrieden mit Rußland setzte.149 Hatte die veränderte Kriegslage im Osten bereits die Argumentation Valentinis stark beeinflußt, so machte sich dies auch in Harnacks Antwort bemerkbar. Er finde die Ausführungen des Kabinettchefs „vollkommen einleuchtend“, die „zugleich einen Weg bis zum Ende, d.h. bis zum taktischen Entschluß gehen, den ich noch nicht bis zum Schluß durchdacht hatte.“150 Daß der Weg zum Frieden eher über Rußland gehe als über England, hielt Harnack nun unter ausdrücklichem Verweis auf den deutschen Vormarsch im Osten für wahrscheinlich. Insgesamt interpretierte er das Votum Valentinis als Zustimmung zu der eigenen Position und erklärte sich bereit, auf „dieser Linie mich weiter zu halten und von hier aus anderen Zielen u. Wegen entgegenzutreten.“ Damit gewannen Harnacks Ausführungen eine dezidiert antialldeutsche Stoßrichtung, denn er fuhr fort: „Es ist dies aber auch um so nötiger, als die Zahl derer nicht gering ist – auch unter meinen Kollegen – deren alldeutsche Begehrlichkeit weder durch weiterblickende Zukunftsgedanken beschwert ist, noch durch den wirklichen Stand der Kriegslage bestimmt ist.“ Angesichts dieser Frontstellung gab Harnack sein Votum für die Wiederherstellung Belgiens zwar nicht auf, formulierte aber auch seine Zustimmung zu Valentinis Ausführungen zur belgischen Frage: „Demgegenüber muß man versuchen, sich in der Parole zusammenzufinden: Wir behalten Belgien und behalten es noch einmal, so lange uns nicht die Garantie getan ist, daß es niemals wieder das Glacis für Frankreich und England werden kann und bis wir ein Äquivalent von gleichem Werte erhalten.“ Belgien wurde so unter dem Gesichtspunkt einer innenpolitischen Diskussion zum Faustpfand für die Erfüllung deutscher Sicherheitsbedürfnisse. 147 148 149 150
Harnack an Valentini am 23.5.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. Valentini an Harnack am 17.6.1915, in: aaO. Vgl. Fischer: Griff (Anm. 139), 165f. Harnack an Valentini am 23.6.1915, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 7.
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Schwere Sorgen über die alldeutsche Agitation formulierte Harnack mit Blick auf Amerika. Hier hatte die Versenkung der „Lusitania“ am 7. Mai 1915 zu einem scharfen Notenwechsel zwischen Berlin und Washington geführt. Daraufhin war der deutsche U-Bootkrieg durch den Befehl, neutrale Schiffe zu schonen, trotz massiver alldeutscher Kritik eingeschränkt worden. Harnack kommentierte: „Auch in dieser Hinsicht sind unsere Alldeutschen von einem verhängnisvollen Leichtsinn und behaupten, es könne uns ganz gleichgültig sein, ob wir Amerika noch als offenen Feind hinzubekommen.“151 Scharfe Kritik, verbunden mit erstaunlicher Einsicht in die Zusammenhänge zwischen alldeutscher Propaganda und den Kriegszielvorstellungen, die die sechs Wirtschaftsverbände am 20. Mai 1915 dem Kanzler unterbreitet hatten, übte Harnack am Verhalten der rheinischen Schwerindustrie, deren Planungen ihm spätestens seit Februar 1915 durch die Mitteilungen Kruses bekannt waren. Harnacks Äußerungen belegen zugleich, daß er einem Anschluß der belgischen und französischen Bergbaugebiete um Longwy und Briey, die auch das „Septemberprogramm“ Bethmann Hollwegs vorsah, eher skeptisch gegenüberstand: „Leider scheint die rheinische Schwerindustrie die Begehrlichkeit der Alldeutschen vorzuspannen; sie belastet sich damit schwer; aber sie starrt wie auf einen verglühenden Punkt auf die belgischen u. namentlich französischen Eisenbergwerke usw. und hält den Krieg pro nihilo, wenn diese nicht die unsrigen werden.“152
3.2. Harnack und die Gegeneingabe vom 27. Juli 1915 Die Ausführungen Harnacks belegen, daß bereits 1915 angesichts der Kriegszieldebatte „sich die Geister bei uns tiefer zu scheiden“ begannen, wie Meinecke rückblickend mit Blick auf die Professorenschaft formulierte.153 Die Kriegszieldebatte war bereits im August 1914 vom Alldeutschen Verband ausgelöst worden, dessen Vorsitzender Claß am 18. September 1914 eine Denkschrift vorlegte, in der weiträumige Annexionen sowohl in Belgien als auch in Russisch-Polen und im Baltikum vorgesehen waren. Der unermüdlichen Agitation des ADV-Vorsitzenden gelang es, bis zum März 1915 auch sechs führende Wirtschaftsverbände, darunter den Bund der Landwirte, den Centralverband der Deutschen Industrie und den Bund deutscher Industrieller, zu einer Eingabe an den Kanzler zu bewegen, die Bethmann Hollweg am 20. Mai 1915 übergeben wurde.154 151
Ebd. Als Überblick zum U-Bootkrieg bis 1916 Hans Herzfeld: Der Erste Weltkrieg, München 1968, 164–174. 152 Harnack an Valentini am 23.6.1915, in: GstA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini, Nr. 7. 153 Friedrich Meinecke: Die deutschen Universitäten und der heutige Staat (1926), in: ders.: Politische Schriften und Reden, München 1958, 405. 154 Zum Einfluß des ADV auf die Eingabe der Wirtschaftsverbände und die Seeberg-
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Auf die maßgebliche Initiative von Heinrich Claß ging auch die Abfassung der Professoreneingabe an den Reichskanzler vom Juli 1915 zurück, für deren vorbereitenden Ausschuß Reinhold Seeberg gewonnen werden konnte (daher auch Seeberg-Adresse). Seeberg selbst begrüßte eine entsprechende Eingabe schon deshalb, „weil die großen Industriellen selber für das Nehmen sind, wogegen die Akademiker flau sind.“155 In Übereinstimmung mit der Eingabe der sechs Wirtschaftsverbände wurden darin gefordert: Grenzveränderungen gegenüber Frankreich, die Besetzung der nordfranzösischen Kanalküste, der weitgehende Anschluß Belgiens ans Reich, von dem man sich auch „völkisch“ einen „starken Zuwachs“ versprach, sodann das Vorschieben der Grenze im Osten unter Einschluß der baltischen Provinzen, eine konsequente Siedlungspolitik in den neuerworbenen Gebieten und der Ausschluß der nichtdeutschen Bewohner von jeglicher politischen Partizipation. Hinzu kam die Forderung nach hohen Reparationen, einer Vergrößerung des deutschen Kolonialreiches und einer entschiedenen Demütigung Englands durch „Durchsetzung der deutschen See- und Überseegeltung.“156 Eine Honoratiorenversammlung beschloß die Eingabe am 20. Juni. Innerhalb kurzer Zeit unterschrieben 1347 Personen des öffentlichen Lebens die Eingabe. Am 8. Juli wurde sie mit einem Anschreiben Seebergs der Reichskanzlei übermittelt. Unter den Unterzeichnern stellten die Professoren mit 352 Personen die stärkste Personengruppe. Die bekanntesten waren Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Eduard Meyer, Erich Marcks, Adolf Deißmann, Georg von Below und Adolph Wagner. Die Organisation einer Gegeneingabe fiel in die Hände Hans Delbrücks. Über die Eingaben der Wirtschaftsverbände und die Seeberg-Adresse war Delbrück außerordentlich entsetzt, wie seine handschriftlichen Kommentare an einem Exemplar der Eingabe zeigen. Ebenso betrachtete er ihre Forderungen als Anschlag auf den inneren Frieden, der bei Bekanntwerden besonders die Arbeiterschaft zu Recht erzürnen müßte.157 Gleichzeitig wurde Delbrück durch verschiedene Gelehrte wie Lujo Brentano aufgefordert, eine Gegenerklärung zu formulieren. Brentano verwies dabei v. a. auf die außenpolitischen Wirkungen der beiden Denkschriften. Sie bedeuteten „die Rechtfertigung aller Anwürfe, welche unsere Feinde gegen uns gerichtet haben […]. Nun höre ich, dass eine Deutsche Universitätsadresse zu dieser Adresse Hagenlücke (Anm. 108), 49–69; zur Claß-Denkschrift Fischer: Griff (Anm. 139), 95–98, die ADV-Kriegszieleingabe vom 5.5. sowie die Eingabe der Wirtschaftsverbände vom 20.5.1915, in: Schultheß 1915/II, 1391–1395 bzw. 1400–1405. 155 Die Entstehung der Seeberg-Adresse ist minutiös rekonstruiert bei Klaus Schwabe: Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus in der deutschen Professorenschaft im Ersten Weltkrieg, in: VfZ 14 (1966), 105–138; das Zitat aus einem Brief Seebergs vom 12.3.1915, in: aaO., 123. 156 Exemplar der Eingabe nebst Seebergs Anschreiben an den Reichskanzler und vollständiger Unterzeichnerliste in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 553. 157 Vgl. Schwabe: Ursprung (Anm. 155), 128–130.
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Eingabe geplant ist. Das fehlte noch! Ich würde es für eine patriotische Tat halten, wenn Sie eine Gegenadresse in Szene setzten […].“158 Eine ähnliche Initiative ging zur gleichen Zeit von Theodor Wolff und dem ehemaligen Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg aus. Auf Vermittlung des Berliner Korrespondenten der Frankfurter Zeitung, August Stein, gelang es, die Initiativen Wolffs und Delbrücks zu vereinigen.159 Am 7. Juli 1915 fand eine vertrauliche Besprechung von etwa 50 Personen im Abgeordnetenhaus statt160, an der neben Wolff, Delbrück und Fürst Hatzfeld auch Harnack teilnahm. Delbrück, der „,mit erregter Stimme, einzelne Sätze aus der Eingabe, die er empörend nennt“, verlas, votierte nochmals leidenschaftlich für eine Gegenerklärung, nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß die Eingabe auch ins Ausland gelangt sei. Harnack beteiligte sich an der anschließenden Diskussion und sprach sich dafür aus, den Protest gezielt gegen die Wirtschaftseingabe zu richten, aber auf die Frage der Kriegsziele im Osten nicht einzugehen. Das war ein durchaus realistisches Kalkül, bestand doch in der Ablehnung einer Annexion Belgiens unter den Anwesenden weitestgehend Konsens, während die Meinungen über die Kriegsziele im Osten (Umgang mit Polen, Angliederung der Ostseeprovinzen) auseinandergingen. Harnack schlug sodann vor, unter der Führung Delbrücks und Hatzfelds einen vorbereitenden Ausschuß einzusetzen, der am 9. Juli in Delbrücks Grunewaldvilla zusammentrat.161 Basierend auf einem Entwurf Wolffs, wurde hier die Gegeneingabe formuliert. Zu Differenzen kam es anläßlich des Vorschlags Dernburgs, am Schluß des Textes die Notwendigkeit der Wiederanknüpfung der Beziehungen zu den feindlichen Staaten nach dem Kriege zu betonen. Wolff schlug daraufhin vor, auch Harnack hinzuzurufen, der in der Nachbarvilla wohnte. Dieser lehnte nun Dernburgs Einfügung ebenso ab wie die anderen Teilnehmer. Dabei spielten allerdings nicht prinzipielle Gründe eine Rolle – „Delbrück sagt, wir alle billigten Dernburgs Gedanken, aber man solle sie in einer späteren Erklärung aussprechen“ –, sondern die nicht unberechtigte Befürchtung, mit einem solchen Satz nur wenige Professoren zur Unterschrift bewegen zu können. Schließlich wurde die Erklärung ohne Dernburgs Absatz einmütig angenommen und Wolff mit dem Druck und der Versendung von Werbeexemplaren beauftragt.162 158
Lujo Brentano an Delbrück am 28.6.1915, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Bren-
tano. 159
Vgl. Wolff: Tagebücher (Anm. 57), 244. Eine Einladung dazu in: BA Berlin, Akten der Reichskanzlei, Nr. 2443, Bl.1. Die Einladung galt offensichtlich dem Unterstaatssekretär Wahnschaffe, der aber nicht erschien, vgl. aaO., Bl. 31. 161 Bericht über die Sitzungen vom 7. und 9. Juli in: Wolff: Tagebücher (Anm. 57), 247–253, 250. 162 AaO., 252. Weitere Einzelheiten auch in einem Brief Wolffs an Delbrück vom 10.7.1915, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Wolff. 160
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Das Schreiben, mit dem für eine Unterzeichnung der Eingabe geworben wurde, datierte ebenfalls vom 9. Juli und bat um eine Antwort innerhalb von drei Tagen. Dies zeigt die Eile, die nach Ansicht der Initiatoren geboten war, um der Seeberg-Adresse wirksam entgegentreten zu können. Unterzeichnet hatten hier Delbrück, Dernburg, Harnack, Hatzfeld und Kahl.163 Die Eingabe selbst ging davon aus, daß Deutschland einen Verteidigungskrieg führte, keine Eroberungsabsichten hegte und daher den Krieg lediglich „zur Erhaltung seines von der feindlichen Koalition bedrohten Daseins, seiner nationalen Einheit und seiner fortschreitenden Entwicklung“ führte. Daraus folgte die Stellungnahme gegen die Eingabe der Wirtschaftsverbände und die Seeberg-Adresse: „In sachlicher Erwägung bekennen wir uns zu dem Grundsatz, dass die Einverleibung politisch selbständiger und an die Selbständigkeit gewöhnter Völker zu verwerfen ist.“ Das schloß eine Annexion Belgiens als Ganzes aus, ließ aber im Osten die Möglichkeit von Annexionen noch offen. Gleichwohl wurde auch diesen dadurch ein gewisser Riegel vorgeschoben, daß auf Deutschland als Nationalstaat verwiesen wurde, der „nationalfremde Elemente nur langsam und noch unvollkommen mit sich verschmolzen“ habe. In dieser Perspektive erschien das Programm der Seeberg-Adresse dazu geeignet, „den Charakter des Nationalstaates zu zerstören.“ Trotz der Ablehnung einer Annexion Belgiens bemühte sich die Eingabe um die Feststellung, daß „die von uns nach Maßgabe unserer Friedensbedingungen zu räumenden Gebiete nicht zu einem Bollwerk für unsere Gegner werden dürfen.“ Damit versuchte man dem weitverbreiteten Sicherheitsargument gerecht zu werden, das gerade von den Annexionsbefürwortern immer wieder vorgebracht wurde. Auf die Formen einer solchen Sicherung ging die Gegeneingabe nicht ein, doch wurden Maßnahmen abgelehnt, „die uns auf Umwegen schliesslich doch zur Annexion hinleiten würden.“ Ein Friedensschluß müsse Deutschland auch weiterhin gesicherte Grundlagen geben, wobei man darauf vertraue, daß dem Reichskanzler der Abschluß eines entsprechenden Friedens gemeinsam „mit den verfassungsmäßig berufenen Instanzen gelingen wird.“ Das bedeutete eine nochmalige Absage an die Einflußversuche von Wirtschaftsverbänden, Militär und annexionistisch gesinnten Professoren, denn der Friedensschluß war nach Art. 11 der Reichsverfassung Sache von Kaiser, Bundesrat und Reichstag. Im Gegensatz zur Seeberg-Adresse, die 1347 Unterschriften erreichte, gelang es den Initiatoren der Gegenadresse, nur 141 Personen zur Unterschrift zu bewegen, darunter Gerhard Anschütz, Otto Baumgarten, Albert Einstein, Wilhelm Herrmann, Martin Rade, Ernst Troeltsch, Alfred und Max Weber sowie Julius Wellhausen. Trotz dieser und einiger anderer klangvoller Namen blieb die Adresse quantitativ ein Mißerfolg. Nicht einmal alle potentiellen Sympathisanten konnten zur Unterschrift bewegt werden, wie die Bei163
Werbeschreiben und Eingabe in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Dernburg.
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spiele Hermann Onckens und Friedrich Meineckes zeigen, deren Namen zunächst sogar unter der Seebergadresse erschienen. Seeberg wies denn auch mit Genugtuung auf die im Vergleich zu seiner Adresse geringe Zahl der Unterschriften hin.164 Immerhin konnte die Gegenadresse, anders als die Seeberg-Eingabe, dem Reichskanzler am 27. Juli 1915 persönlich übergeben werden. Dieser dankte den Initiatoren unter Anspielung auf den letzten Abschnitt der Eingabe „für das den verfassungsmäßig berufenen Instanzen bewiesene Vertrauen“, ging auf den Inhalt aber wegen „der politischen und militärischen Lage“ nicht weiter ein.165 Die Initiatoren der Gegeneingabe verstanden ihren Schritt als demonstrative Unterstützung der Politik des Reichskanzlers. Es gehe darum, so Delbrück, dem Reichskanzler „gegen die Agitation der modernen Assyrer […] den Rücken zu stärken.“ In einem Brief an Hermann Oncken schwang zugleich Delbrücks Befürchtung mit, der Kanzler könne zumindest an Einzelpunkten durch die annexionistischen Eingaben beeinflußt werden.166 Von Seiten der Reichsregierung sind die Initiatoren der Gegeneingabe jedenfalls nicht – wie Dietrich Schäfer behauptete – zu ihrem Vorgehen aufgefordert worden.167 Die Interpretation der Gegeneingabe ist in der Forschung der 1960er Jahre nicht unumstritten gewesen. Fritz Fischer vertrat die Auffassung, daß die sogenannten Gemäßigten selbst zugleich „Annexionisten“ gewesen seien, ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden Gruppen somit nicht bestehe. Als Beweismittel diente ihm ein von Silvio Broedrich zitierter Briefausschnitt Harnacks mit folgendem Wortlaut: „Lesen und überlegen Sie die Eingabe unter diesem Gesichtspunkt, so werden Sie finden, daß Annektionen betreffend, nichts anderes ausgeschlossen ist, als die runde Annektion des belgischen Staates. Weder die Annektion von Teilen von Belgien, noch die Ordnung der Dinge, nach welcher Belgien teilweise oder ganz unselbständig gegen uns wird, ist ausgeschlossen.“168 Demgegenüber hat Klaus Schwabe die prinzipiellen Unterschiede zwischen beiden Lagern herauszuarbeiten versucht, die sich nicht allein auf die Frage nach Gebietserweiterungen beschränken lassen.169 Der entscheidende Unterschied lag seines Erachtens zum einen in der Frage nach den Methoden der Herrschaftsaus164 Vgl. Seebergs Erklärung in der Täglichen Rundschau Nr. 516 vom 11.10.1915; eine Liste der Unterzeichner der Gegeneingabe in: PJ 162 (1915), 169–172. 165 Bethmann Hollwegs Antwort in einem Brief Dernburgs an Harnack vom 9.8.1915, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Dernburg. Zur persönlichen Übergabe an den Kanzler Schwabe: Ursprung (Anm. 155), 135f. 166 Delbrück an Oncken am 9.8. bzw. 13.8.1915, in: Nl. Delbrück, Korr. Oncken. 167 Vgl. Dietrich Schäfer: Mein Leben, Berlin/Leipzig 1926, 170f. 168 Fischer: Griff (Anm. 139), 144. Das Original bei Silvio Broedrich: Das Neue Ostland, Berlin-Charlottenburg 1916, 53; ein Exemplar des ganzen Briefes in: BA Berlin, Alldeutscher Verband, Nr. 367, Bl. 6f. 169 Vgl. Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 75–90.
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übung in den besetzten Gebieten. Delbrück und sein Kreis betonten die Einhaltung des nationalstaatlichen Prinzips und – in Kontinuität zu Delbrücks Vorkriegspublizistik – eine weitgehende Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten, wie sie bereits in der Erklärung der FVV anklang. Dieser Überzeugung widersprachen erst recht die in der Seeberg-Adresse vorgesehenen großangelegten Umsiedlungsaktionen, Germanisierungsversuche und der Ausschluß der Bewohner dieser Gebiete von jeglicher politischer Partizipation, die die scharfe Ablehnung der Initiatoren der Gegeneingabe auslösten. Harnack sprach sogar davon, daß die Annexionisten Belgien zu einem „neuen Irland“ machen wollten.170 Hinzu kam als zweites Argument die Furcht um die Einhaltung des Burgfriedens. So befürchteten die Initiatoren, durch „die Verkündung so eindeutig großkapitalistischer Kriegsziele die Sozialdemokratie zu brüskieren und damit die Einheit der Heimatfront […] aufs Spiel zu setzen.“171 Als dritter, damit verbundener Unterschied läßt sich zudem anführen, daß es letztlich auch um die innere Umgestaltung Deutschlands nach dem Kriege ging. Dieser Aspekt trat zwar erst 1916/17 deutlich hervor, offenbarte sich aber bereits 1915 in der Beurteilung der Politik Bethmann Hollwegs, die von den „Gemäßigten“ als letztlich auf Reform orientiert eingeschätzt wurde, während die Initiatoren der Seeberg-Adresse ursprünglich eine gleichzeitige Stellungnahme gegen den Reichskanzler vorgesehen hatten, einen entsprechenden Passus aber wieder aus dem Text der Eingabe strichen, da sie um seine Konsensfähigkeit fürchteten. Hingegen muß Fischer darin zugestimmt werden, daß auch Delbrück und Harnack kleinere Grenzkorrekturen zu Belgien nicht ausschlossen. Doch letztlich ging es den Initiatoren, wie die drei aufgezeigten Unterschiede verdeutlichen, nicht allein um „gelegentlich[e]“ Polemik „gegen alldeutsche Übertreibungen“172, sondern die grundlegende Orientierung der deutschen Politik. Zugleich ist es jedoch wichtig, Harnacks Äußerung in einem breiteren Kontext zu sehen. Nach dem Bekanntwerden der Eingabe wurde Harnack in zahllosen Zuschriften des Verrats an seiner baltischen Heimat bezichtigt. Broedrich, selbst Baltendeutscher, bat Harnack um eine entsprechende Klarstellung, die diesem nicht schwerfiel, da die Eingabe zwar eine Annexion Belgiens und wohl auch Polens ausschloß, nicht aber des Baltikums, dessen Völker ja gerade nicht an politische Selbständigkeit gewöhnt waren.173 Im 170
RANF 3, 331–348, 345. Schwabe: Ursprung (Anm. 155), 132; dort auch überzeugendes Quellenmaterial. 172 Fischer: Griff (Anm. 139), 136. 173 Vgl. die Briefe Broedrichs an Harnack vom 31.7., 1. u. 3.8. 1915, Nl. Harnack, K. 28. So berichtete Broedrich am 31.7. von einer Stellungnahme des Königsberger Annexionisten Prof. Seraphim, demzufolge „Ew. Exzellenz […] besonders die Erwartung der baltischen Lande für unnütz erklärt [hätten], ‚weil das Beste von ihnen schon in Berlin und Deutschland sei.‘“ 171
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Kontext dieser Stellungnahme erfolgten die Äußerungen über Belgien, und zwar verbunden mit einer – von Broedrich ausgelassenen – nochmaligen Verurteilung der Alldeutschen, die nach Harnack eine „böswillige und verleumderische Auslegung“ der Eingabe verbreiteten: „M. E. kann und soll jeder Deutscher diese Eingabe unterzeichnen können, sofern er kein Alldeutscher ist, der ein neues Deutschland von Burgund und Pas de Calais bis Wolhynien konstruieren will.“174 Dies trug Harnack einen scharf protestierenden Brief des stellvertretenden ADV-Vorsitzenden von VietinghoffScheel ein. Harnack antwortete diesem in nicht minder scharfer Form und hielt seine Behauptung aufrecht, wies aber auch darauf hin, daß die Eingabe sich nicht gegen eine Angliederung der Ostseeprovinzen gerichtet habe.175 Ebenso wie Delbrücks Äußerungen waren auch die Wortmeldungen Harnacks nach der Eingabe darum bemüht, den aufgebrochenen Graben noch irgendwie zu überbrücken, um die innere Einheit nicht nur nach links, sondern auch nach rechts zu bewahren. So bemerkte Delbrück schon im August 1915 gegenüber Hermann Oncken, eigentlich seien beide Adressen überflüssig gewesen, schränkte dies aber sogleich wieder durch den Hinweis ein, daß die anderen „angefangen hätten“ und daher eine „Abwehraktion“ notwendig gewesen sei. Zu dieser Zeit war Delbrück bereits bemüht, durch die Propagierung von östlichen Kriegszielen die öffentliche Meinung von der „westlichen Dummheit“, nämlich der Annexion Belgiens, abzubringen, indem er die Angliederung Livlands an Deutschland und die Selbständigkeit Polens forderte.176 Harnack gegenüber äußerte er bereits im August: „Wie wunderbar wäre es, wenn wir Livland befreiten und dafür sagen könnten: so, nun lassen wir Belgien fahren.“177 Noch im Oktober 1915 schrieb Delbrück in seiner Politischen Korrespondenz, daß „der Deutsche Kaiser, wenn er alte deutsche Städte, wie Mitau und Riga, einmal befreit und zu seinen Händen genommen habe, sie so wenig wieder hergeben kann, wie 1871 Straßburg.“178 Harnack votierte vertraulich gleichfalls für einen Anschluß seiner baltischen Heimat, warnte aber davor, offen dafür einzutreten, und lehnte die Unterzeichnung entsprechender Eingaben daher ab. Innerhalb der baltendeut174 Harnack an Broedrich-Kurmahlen am 31.7. bzw. 2.8.1915, in: BA Berlin, Alldeutscher Verband, Nr. 367, Bl. 6 bzw. Bl. 12. 175 Vietinghoff-Scheel an Harnack am 21.8.1915, in: Nl. Harnack, K. 44; Korr, Vietinghoff-Scheel; der Entwurf des Antwortschreibens Harnacks ebd. 176 Delbrück an Oncken am 13.8.1915, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Oncken. Vgl. als Überblicksdarstellungen zur deutschen Politik im Baltikum Lilli Lewerenz: Die deutsche Politik im Baltikum. Phil. Diss. Hamburg 1958; das Baltikum in der Kriegspublizistik behandelt Bernard Mann: Die baltischen Länder in der deutschen Kriegszielpublizistik 1914–1918, Tübingen 1965; zu Harnack vgl. ZH 361–365, Pachaly (Anm. 86), 73–76. 177 Delbrück an Harnack am 15.8.1915, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Delbrück. 178 PJ 162 (1915), 168.
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schen Kreise, die sich unter Mitwirkung Harnacks im Mai 1915 im „Baltischen Vertrauensrat“ einen eigenen Zusammenschluß schufen, wurde Harnack wegen seiner dezidierten Ablehnung der Kriegszieleingabe seines Landsmanns Seeberg scharf kritisiert. Noch im August 1915 erwiderte er auf die Vorwürfe Vietinghoff-Scheels, sein Leben kenne neben der Wissenschaft „kein höheres Ziel als die Vereinigung der Heimat mit dem deutschen Reich.“179 In einem Brief an Valentini vom Mai 1915 hatte er sich gar für eine Tätigkeit in den Ostseeprovinzen empfohlen. Trotz des in dem Brief geäußerten Enthusiasmus hielt er aber nicht die Parole „Wir behalten das Land“, sondern „Wir behalten es nicht“ für wahrscheinlicher.180 Von der Mehrzahl seiner baltischen Landsleute unterschied Harnack sich aber dadurch, daß er die politischen und militärischen Realitäten nüchtern in Rechnung zu stellen wußte. „Denn“, so Harnack, „noch höher als mein Heimatland steht mir die Kraft und Sicherheit des Reichs.“181 Es war diese Haltung, die zum Bruch mit dem Baltischen Vertrauensrat führte.182 Harnack stellte sich seit Ende 1915 darauf ein, daß der Krieg eine Angliederung seiner alten Heimat nicht ermöglichen würde, und konzentrierte sich daher ganz auf die Betonung und Stärkung der kulturellen Bedeutung des baltischen Deutschtums.183 Bemerkenswert ist ferner, daß Harnacks Name – ebenso wie der Delbrücks – unter der von Johannes Haller entworfenen Masseneingabe mit 20000 Unterschriften fehlt, die die Angliederung des Baltikums an Deutschland forderte. Sie wurde dem Kanzler im März 1917 übergeben und trug auch die Unterschriften Eugen Schiffers und Friedrich Meineckes.184 Die Eroberung Dorpats im Februar 1918 begrüßte Harnack in einem Brief an den Kaiser mit großer Freude, ohne allerdings die Forderung nach einer Angliederung zu erheben.185 Vielmehr galt seine Sorge der Neugründung der Dorpater Universität. Die Ernennung Theodor 179 Harnack an Vietinghoff-Scheel am 26.8.1915, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Vietinghoff-Scheel. 180 Harnack an Valentini am 2.5.1915 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. Es ist eher unwahrscheinlich, daß Harnack diesen Brief abgesandt hat. Weder im Nachlaß Valentini noch in den Kriegsakten des Zivilkabinetts findet sich ein entsprechender Brief. Auch die Briefe Valentinis im Nl. Harnack gehen auf einen solchen Vorschlag Harnacks nicht ein. 181 Harnack an Broedrich am 20.8.1915 in: BA Berlin, Alldeutscher Verband, Nr. 367, Bl. 15. 182 So brach die Korrespondenz mit Otto von Veh, dem Vorsitzenden des Baltischen Vertrauensrates, nach 1915 ab, vgl. Nl. Harnack, K. 44, Korr. Veh. Die im BA Berlin verwahrten Akten des Baltischen Vertrauensrates bieten für die Zeit nach dem Sommer 1915 keinen Hinweis auf eine weitere Mitwirkung Harnacks. 183 Vgl. die Konzepte für zwei Vorträge in Bromberg und Charlottenburg vom Oktober 1915 unter dem Titel Riga und Dorpat, in: Nl. Harnack, K. 13. 184 Vgl. Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 81. 185 Harnack an Wilhelm II. am 25./26.2.1918 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II.
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Schiemanns zu ihrem Kurator hielt er für einen schweren Fehler, hatte mit seinen Versuchen, Schiemann zu verhindern, aber keinen Erfolg.186 Es gehe darum, das Problem im Geiste „wahrer Freundschaft, Billigkeit u. brüderlichem Zusammenwachsen mit den ‚Nationalen‘“ zu lösen, so Harnack Anfang 1918. Dann würden „die Esten und Letten […], wie die Deutschen, Franzosen u. Italiener in der Schweiz zusammenstehen, so auch im Baltikum mit den Deutschen zusammenstehen.“187 Mit seinen Plädoyers für eine Verständigung der Baltendeutschen mit Esten und Letten blieb Harnack aber bei seinen baltischen Landsleuten ebenso ein Außenseiter wie gegenüber der deutschen Militärverwaltung in den Ostseeprovinzen.
3.3. Kontakte zum Kanzler: Harnack und Bethmann Hollweg 1916 Die massiven Proteste, die Harnack nach der Unterzeichnung der Gegeneingabe erreichten, führten zwar nicht zu einer politischen Kurskorrektur, hatten aber zur Folge, daß er sich publizistisch zunächst zurückhielt.188 Harnack zog sich noch stärker auf vertrauliches Wirken zurück. Das wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, daß der mehr und mehr von Seiten der Alldeutschen und der Militärführung bedrängte Kanzler nun aktiv die Unterstützung gemäßigter Gelehrter wie Meinecke, Delbrück und Harnack suchte. So begann Harnack, Bethmann Hollweg in der Diskussion um die Führung des U-Boot-Krieges im März und April 1916 zu unterstützen. Der Historiker Dietrich Schäfer hatte in einer Eingabe an den Reichstag vom 15. März 1916 für „die rücksichtslose Führung des Krieges gegen England“ unter vollem Einsatz der U-Bootwaffe votiert. Ein möglicher Kriegseintritt der USA, so Schäfer, werde durch die zu erwartenden Erfolge des U-Bootkrieges mehr als ausgeglichen werden. Schäfers Denkschrift, die der verärgerte Kaiser keiner Antwort würdigte, wurde als Massenpetition organisiert und trug fast 90000 Unterschriften.189 Diese hohe Zahl war zugleich ein Erfolg der Bemühungen Schäfers, durch den gezielten Ausbau des fortbeste186 Harnack an Wilhelm II. am 13. 2. 1918 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmidt-Ott. 187 Harnack an Roderich von Engelhardt am 21.1.1918 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. von Engelhardt. Der Brief ist auf 1917 datiert, doch spricht die Erwähnung der Vaterlandspartei für das Jahr 1918. 188 So äußerte Harnack gegenüber dem norwegischen Journalisten Wildhagen am 19.1.1916 die Ansicht, er nehme nur noch ungern öffentlich zum Kriegsgeschehen Stellung, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Wildhagen. 189 Ein Exemplar der Eingabe in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 553. Die Zahlenangabe bei Schäfer: Leben (Anm. 167), 133; nach einem Bericht des Berliner Polizeipräsidiums wurden 750000 Exemplare gedruckt, in: GStA-PK I. HA, Rep. 77, Tit. 863 A Nr. 6, Bl. 32; Schäfer beschwerte sich am 18.8.1916 bei Valentini, daß auf seine Denkschrift noch immer keine Antwort des Kaisers erfolgt sei, in: GStA-PK, I. HA Rep. 89, Nr. 32409.
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henden Vorbereitungskomitees der Seeberg-Adresse die Agitation für einen deutschen Siegfrieden auf eine breite Basis zu stellen. Schäfers Eingabe stellte eine Unterstützung der Marineleitung unter Tirpitz dar, die vehement für die Proklamierung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges votierte, während der Reichskanzler, aber auch der Kaiser diesen Schritt wegen des dann drohenden Kriegseintritts der USA ablehnten.190 Auf Seiten der Reichsregierung führte das Unternehmen Schäfers, aber auch der Versuch der Marineleitung, die Öffentlichkeit in ihrem Sinn zu beeinflussen, zu Überlegungen, in der Kriegszieldiskussion stärker als bisher gezielt auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Eine wichtige Rolle bei diesen Überlegungen spielte Matthias Erzberger, der in einer Denkschrift vom 11. April 1916 eine entsprechende organisatorische Konzentration dieser Anstrengungen forderte, um die „umfangreiche Leibgarde der Regierung in der Kriegszieldiskussion zu organisieren.“191 Spätestens jetzt bemühte Bethmann Hollweg selbst sich verstärkt um eine Fühlungnahme mit gemäßigten Professoren und zog neben Meinecke auch Harnack zu Beratungen heran.192 In der ersten Hälfte des April 1916 kam es zu einer längeren Unterredung Harnacks mit dem Reichskanzler über die politische Lage. Harnack begann daraufhin, mehrere Kollegen zu einer publizistischen Unterstützung Bethmann Hollwegs aufzufordern: „ Je mehr wir uns dem Ende des Krieges – hoffentlich – nähern, um so wichtiger wird die innere Lage,“ schrieb Harnack an Schmoller. Zwar mache der Kanzler auch diesbezüglich eine recht gute Politik, doch wisse er dabei „nur den Freisinn und die Sozialdemokraten hinter sich […], daneben aus den anderen Parteien nur Einzelne. Diese Lage zu verbessern ist mir und gewiß auch Ihnen ein Anliegen; auch hatte ich neulich beim Reichskanzler in einem Gespräch den Eindruck, daß er großes Gewicht darauf legen und es dankbar empfinden würde, wenn aus dem Kreise, welcher die Adresse wegen Belgiens unterschrieben hat, angesehene Männer seine äußere und innere Politik öffentlich unterstützen würden.“ Harnack ersuchte daher Schmoller, „in einer Zeitung oder einer Zeitschrift einen Artikel in den nächsten Wochen in diesem Sinne [zu] schreiben über irgend ein Thema aus der inneren Politik.“ Harnack führte weiter aus, daß man eigentlich „eine förmliche Organisation für die Aktion gegen die Alldeutschen, Scharfmacher u. Großindustriellen bilden“ müsse. Zwar hielt er das zur Zeit noch für verfrüht, aber diese Überlegung weist doch darauf hin, daß er bereits jetzt über entsprechende Pläne der Reichskanzlei informiert war. Harnack nannte als weitere Mitarbeiter Herkner, Lenz, Marcks, Oncken, Troeltsch und Delbrück und empfahl auch schon konkrete Zeitun190 191 192
Vgl. Herzfeld (Anm. 151), 174–176. In: BA Berlin, Akten der Reichskanzlei – Reichskanzler, Nr. 2448, Bl. 1–11, Bl. 3. Vgl. Meineke (Anm. 14), 209f.
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gen, in denen die Aufsätze veröffentlicht werden konnten, was gleichfalls auf eine enge Kooperation mit der Reichskanzlei hindeutet.193 Während Schmoller und Lenz eine Beteiligung zunächst ablehnten194, stimmte Meinecke Harnack am 19. April zu, daß „jetzt alles darauf ankomme, den Kanzler zu stützen.“195 Zusagen gingen auch von Oncken und Marcks ein.196 Antwortbriefe von Herkner, Troeltsch und Delbrück sind nicht nachzuweisen, doch dürfte hier eine mündliche Absprache erfolgt sein. Harnack forderte jedoch nicht nur andere Kollegen zu einer publizistischen Unterstützung der Reichsregierung auf, sondern veröffentlichte selbst einen entsprechenden Artikel. Er reagierte damit auf einen Aufsatz des freikonservativen Parteivorsitzenden Octavio Freiherr von Zedlitz und Neukirch mit dem Titel „Der Abschied von der weißen Weste“, der am 13. April 1916 im „Tag“ erschienen war und die Abkehr von einer „Politik der Sentimentalitäten“ sowie den rücksichtslosen Einsatz aller Machtmittel und Waffensysteme forderte.197 Harnack hielt dem entgegen, daß auch die Handlungsmaximen der politischen Ethik nicht von denen der Privatethik zu trennen seien, denn obwohl beide unterschiedlichen Sphären zugehörten, walte in ihnen doch „nur ein einheitliches sittliches Bewußtsein.“ Auch die politische Ethik sei zur Wahrhaftigkeit und zum verantwortlichen Umgang mit jedem Menschenleben aufgefordert. Ihr Problem lag nach Harnack in der eigentümlichen „Spannung zwischen dem Staat und der die Menschheit umfassenden Humanität“, die nicht einfach übersprungen werden kann. Opferfreudigkeit, Mut und Vertrauen ließen sich vom Individuum aber nur dann fordern, wenn sie in den Dienst einer Macht gestellt werden, die dem sittlichen Bewußtsein des Menschen nicht widerspricht, denn „Vertrauen mag man nur zur sittlichen Macht zu haben.“ Gerade weil die Regierung darauf achte, eine „weiße Weste“ zu behalten, war Harnack der Überzeugung, daß es sie zu unterstützen galt und bilanzierte daher: „Wie bisher wollen wir Deutschen in der politischen Ethik vor unserem Gewissen und des193 Harnack an Schmoller am 16.4.1916, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmoller Nr. 208a, Bl. 72f. Als Zeitungen nannte Harnack Tag, Deutsche Revue, Süddeutsche Monatshefte, Internationale Monatsschrift, Neue Deutsche Rundschau und die Tägliche Rundschau. 194 Lenz an Harnack vom 26.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 36, Korr. Lenz, bzw. Schmoller an Harnack am 19.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmoller. 195 Meinecke an Harnack am 19.4. 1916, in: Nl. Harnack, K. 37, Korr. Meinecke; vgl. auch Meineckes Brief vom 13.6.1916: „Die Notwendigkeit […] die Verblendung der gebildeten Schichten […] zu bekämpfen, wird immer wichtiger“, wobei auch er sich auf eine Unterredung mit dem Kanzler berief, in: aaO. 196 Oncken an Harnack am 19.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. Oncken, bzw. Marcks an Harnack am 21.4., in: aaO., K. 37, Korr. Marcks. 197 Octavio von Zedlitz-Neukirch: Der Abschied von der weißen Weste, in: Der Tag Nr. 88 vom 13.4.1916; Adolf von Harnack: „Der Abschied von der weißen Weste“, in: Der Tag Nr. 95 vom 21.4.1916, auch in: RANF 3, 300–307.
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halb vor dem Richterstuhl der Geschichte bestehen können, und wir danken unserer Regierung, daß sie uns das Vertrauen gibt, es werde so bleiben.“198 Im zweiten Teil des Artikels wandte sich Harnack schließlich gegen die von Zedlitz-Neukirch suggerierte Auffassung, der Eintritt für eine an ethischen Kriterien orientierte Kriegsführung bedeute „Flaumacherei.“ Zudem verwies er darauf, daß der Gegner nicht nur durch technisch-militärische, sondern auch durch moralisch-ethische „Machtmittel“ geschwächt werde. Ein vernünftiges Abwägen der verschiedenen Machtmittel zeichnete nach Harnack einen verantwortungsbewußten Staatsmann gerade aus. Bei der Diskussion der Kriegsziele war nach Harnack ferner der Umstand zur Geltung zu bringen, daß Deutschland „niemals ein geschlossener Handelsstaat und niemals ein unabhängiger Staat in dem Sinne sein wird, daß der Gedanke der Humanität für ihn nicht mehr existiert oder daß alle anderen Reiche zu seinen Füßen liegen.“ Gefahr gehe nicht von der dies kühl abwägenden Regierung, sondern „kurzsichtige[n] Irreführer[n]“ aus.199 „Patriotismus, Mut und Energie sind nicht nach Quadratmeilen zu berechnen, die man verlangt, auch nicht nach den elementaren Machtmitteln, die man einsetzt.“200 Die Brisanz der Ausführungen Harnacks führte dazu, daß der Herausgeber der „Täglichen Rundschau“, Heinrich Rippler sich einer Veröffentlichung widersetzte. Im Auftrage ihres Vaters übersandte Elisabet von Harnack den Artikel am 20. April dem Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Arnold Wahnschaffe: „Für den Fall, daß die Redaktion den Artikel zurückschicke, hat mich mein Vater dahingehend instruiert, E. E. denselben zu übersenden, da E. E. alsdann für ein anderweitiges Erscheinen desselben Sorge tragen würden.“201 Tatsächlich erschien dieser dann ja auch am 21. April im „Tag.“ Dieser Vorgang belegt, daß Harnacks Vorgehen in enger Abstimmung mit der Reichskanzlei erfolgte. Otto Hammann, Pressechef der Reichskanzlei, dankte Harnack am 28. April für den Aufsatz, der „ausgezeichnet gewirkt […] und viel Zustimmung gefunden“ hat.202 Seinem Freund Martin Rade gegenüber konnte Harnack seinen Artikel so zu Recht als „Exponent der intensiven Tätigkeit, in der ich eben stehe“ bezeichnen. Er sei jetzt ganz „in der hohen Politik drinnen“ und entschlossen „jeder Entscheidung des Reichskanzlers zu folgen und sie zu unterstützen.“203 Rudolf von Valentini schickte Harnack ein Exemplar des Artikels mit den 198
AaO., 301–303. AaO., 304–306. 200 AaO., 306. 201 Vgl. Heinrich Rippler an Harnack am 18.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 40, Korr. Rippler. Auf Ripplers Brief befindet sich auch der Entwurf des Schreibens Elisabet von Harnacks vom 20.4.1916. 202 Hammann an Harnack am 28.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 32, Korr. Hammann. 203 Harnack an Rade am 25.4.1916, in: BwR 733f. 199
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Randbemerkungen des Kaisers, der an mehreren Stellen des Aufsatzes „bravo“ notiert hatte.204 Harnack empfand die Anmerkungen des Kaisers als wichtige Bestätigung seiner Ansichten: „Es ist nicht nur die Anerkennung, es ist, in weit höherem Maße das Zeugniß, daß ich mich in Gesinnung und Zielsetzung auf dem Wege befinde, den S. Majestät gutheißt.“205 Harnacks Auffassung, sich mit seinem Wirken im Einvernehmen mit dem Monarchen zu befinden, konnte sich auch auf ein abendliches Zusammensein mit dem Kaiser, Tirpitz und dem Chef des Marine-Kabinetts Georg Alexander von Müller berufen, das am 6. Januar 1916 im Potsdamer Neuen Palais stattgefunden hatte. In einer Diskussion, die sich besonders zwischen Harnack und Tirpitz entspann, ob England oder Rußland als der gefährlichere Gegner zu betrachten sei, schlug sich der Kaiser auf die Seite Harnacks und bezeichnete Rußland als den gefährlichsten Kriegsgegner,206 für Harnack eine Bestätigung seiner Bemühungen um eine Verständigung mit den Westmächten. Harnacks Briefe des Jahres 1916 spiegeln seine wechselnden Hoffnungen auf einen baldigen Frieden wider. Deutlich stand ihm vor Augen, daß der Krieg mit der Schlacht von Verdun einerseits, dem drohenden Kriegseintritt Amerikas andererseits an einen Wendepunkt gelangt war. Bezüglich Verduns hoffte Harnack noch im Februar 1916 auf einen deutschen Sieg.207 Ein Friedensschluß schien Harnack Anfang April, nachdem sich sein Optimismus bezüglich Verduns abgekühlt hatte, zwar sehr wünschenswert, aber „sofern es nach dem Willen unserer Feinde geht“, weiter denn je. Deshalb „müssen wir ihn durch Kämpfen u. Siegen gewinnen. So wollen sie es.“208 Der Beginn der englischen Offensive an der Somme im Juli 1916 schien für Harnack dann doch das Ende des Krieges, der nun endlich in seine „Entscheidungsphase“ eingetreten sei, in greifbare Nähe zu rücken. „Chronisch kann m. E. dieses Stadium nicht werden; also in 2–3 Monaten erwarte ich das Ende. Möge es ein gutes sein.“209 Dabei zeigt seine Wortwahl, daß er von einem deutschen Sieg nicht vollständig überzeugt war. Höchstwahrschein204 Valentini an Harnack am 25.4. 1916, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. Der Artikel Harnacks mit den Notizen Wilhelms in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 7, Bl. 12–15. 205 Harnack an Valentini am 27.4.1916, in: aaO. 206 Walter Görlitz (Hg.): Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller, Göttingen 21959, 146: „Abends, einer plötzlichen Einladung folgend, im Neuen Palais zusammen mit Tirpitz und Prof. Harnack. Letzterer trug Gott sei Dank – ich fühlte mich gar nicht wohl – die Kosten der Unterhaltung. Das Gespräch drehte sich im wesentlichen um die Frage, ob in Zukunft Russland oder England der gefährlichere Gegner sei. Harnack und Se. Majestät erklärten Russland als solchen, Tirpitz England. Der Kaiser versprach Harnack, daß er Kurland, die Heimat Harnacks, nicht wieder herausgeben würde.“ 207 Vgl. Harnack an Adolf Jülicher am 29.2.1916, in: UB Marburg, Nl. Jülicher, Hs 695–429. 208 Harnack an Loofs am 4.4.1916, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 19 IX, 1649. 209 Harnack an Rade am 7.7.1916, in: BwR 737.
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lich rechnete er allenfalls noch mit einem Remisfrieden, wie er 1917 mit Rückblick auf das Frühjahr 1916 formulierte.210 Wichtiger noch wurde für Harnack freilich das Verhältnis zu Amerika. Die Furcht vor einem amerikanischen Kriegseintritt hatte Harnack bereits im Juni 1915 in einem Brief an Valentini ausgesprochen. Die Vorgänge vom März und April 1916 mit dem Streit um den U-Bootkrieg und der unverhohlenen Kriegsdrohung der USA bestätigten diese Befürchtungen. Die publizistische Tätigkeit Harnacks sollte auch der Unterstützung einer Änderung der „militärische[n] Taktik“ dienen, die „nicht gegen die Ehre der Nation“ gehe.211 Genau dies erwartete Harnack von der Politik des Kanzlers. Gegenüber Rudolf von Valentini sprach sich Harnack offen für eine „Änderung unserer Seeangriffstaktik“ aus, da „wir den Krieg mit Amerika vermeiden müssen.“ Für eine solche Erklärung sprachen nach Harnack allein die deutschen Siegesaussichten, was nichts anderes hieß, als daß diese bei einem amerikanischen Kriegseintritt drastisch sanken.212 Das entsprach zugleich der Auffassung Valentinis, der den scharfen Notenwechsel mit den USA vom März/April 1916 als den „schwerste[n] Schlag, den wir seit Kriegsbeginn erleiden“, bezeichnete. „Mir aber scheint, als wenn der kritische Teil dieses Krieges erst jetzt beginnt.“ Diese Entwicklung war nach Valentini „dem unheilvollen Geist, der in der Marine immer noch spukt“, zu verdanken.213 Harnack stimmte zu und erklärte erneut seine Bereitschaft, sich in diesem Sinne auch weiter zu betätigen: „Der Kampf mit der öffentlichen Meinung, die – um einen milden Ausdruck zu gebrauchen – von der Marine irregeführt worden ist [… ], den Kampf müssen wir in Gottes Namen aufnehmen. Und wir werden über diese Schwierigkeit hinwegkommen – vielleicht um so leichter, je offener wir sind.“214 Daß Harnacks Engagement letztlich auch darauf zielte, möglichst bald zu einem Frieden im Westen zu gelangen, zeigt ein Brief an seinen Schwager Hans Delbrück, in dem er von einem Gespräch mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, berichtete. Offensichtlich hatte Harnack dem Staatssekretär im Einvernehmen mit Delbrück Berichte des Englandexperten Kurt Hahn über das zunehmende „Gewicht der Friedensfreunde in England“ vorgelegt, die Jagow aber „noch nicht so hoch einschätzt wie jene Herren.“215 Doch zeigte Harnack sich darüber erfreut, daß 210 Vgl. Harnacks Brief vom 29.6.1917, in: Richard Fester: Die Politik Kaiser Karls und der Wendepunkt des Weltkrieges, München 1925, 255. 211 Harnack an Rade am 25.4.1916, in: BwR 733f. 212 Harnack an Valentini am 27.4.1916, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 7. 213 Valentini an Harnack am 25.4.1916, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. 214 Harnack an Valentini am 27.4.1916, in: aaO. 215 Harnack an Delbrück am 7.7.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. A. Harnack; aus diesem Brief die Zitate dieses Absatzes. Zu den Berichten Kurt Hahns vgl. Hahn an Delbrück vom 27.6. und 19.7.1916, in: aaO., Korr. Hahn.
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auch für Jagow der „Gedanke eines 3. Winterfeldzuges […] ein furchtbarer“ ist. Daraus schloß Harnack, daß „bei uns alles betrieben werden wird, was mit Ehren betrieben werden kann, um den Krieg bald zu Ende zu führen.“ Im gleichen Brief vom Juli 1916 berichtete Harnack Delbrück über „ein längeres Gespräch mit dem Reichskanzler (trefflichste Eindrücke!), welches zum Auftrag einer ‚Denkschrift‘ führte über das, was sofort im Inneren ‚feierlich‘ anzukündigen u. in die Wege zu leiten ist, sobald der Friede in Sicht ist und die Zensur fällt. Das war ein schwerer Auftrag! Vorgestern habe ich die Denkschrift eingereicht […]. Ich habe – um mit Luther zu reden – ‚hoch gesungen‘ u. die notwendige Wendung auf allen Gebieten über die ich einigermaßen ein Urteil habe, skizziert und gehe jetzt nach 10tägiger Arbeit ganz erleichtert einher.“216 Harnacks Denkschrift belegte, in welch hohem Maße die Forderung nach inneren Reformen bereits an die Stelle äußerer Erwerbungen gerückt war. Harnacks Hinweis auf den „Geist von 1914“ diente nun auf der einen Seite der Abweisung jedweder annexionistischer Politik, schwebte diesem Geist als Ideal nicht das „der Macht als letztes Ziel vor“, sondern „die zum Dienen bereite Freiheit.“ Deutschland sei nicht auf Eroberungen aus, so daß „die Ideale der Konquistadoren […] hier keine Stätte“ hätten, was allerdings kleinere Grenzsicherungen nicht völlig ausschließe.217 Dies blieben die einzigen Aussagen der Denkschrift zu den außenpolitischen Kriegszielen. Sie dokumentierte schon damit eindrucksvoll, daß für Harnack die Durchsetzung innerer Reformen an die Stelle äußerer Erwerbungen rückte. Zugleich diente der Verweis auf 1914 nun der Legitimation innenpolitischer Reformforderungen. Zeichnete sich Harnack zufolge der Geist von 1914 durch das Bewußtsein aus, „daß die Größe und die Stellung des deutschen Vaterlands innerhalb der Kulturmenschheit auf seinem inneren Werte beruht und daß es diesen Wert zu schützen und zu verstärken gilt“, so mußten diesem inneren Wert auch die politischen Formen des Zusammenlebens entsprechen. Zwar hätten sich die Grundlagen des Staates im Krieg bewährt, aber dennoch bedürfe es einer entschlossenen Fortentwicklung, gerade wenn man die Grundlagen bewahren wolle, hätten doch Millionen von Menschen an der Front die „größte Verantwortung und das größte Opfer geleistet.“218 Sodann ging Harnack auf einzelne Reformprojekte ein, die der Kaiser in einer großen Kundgebung nach dem Fall der Zensur verkünden müsse. Neben der Fürsorge für die Kriegswitwen und der „Erhaltung der Volkskraft“ 216
AaO.; die Denkschrift ist abgedruckt in: RANF 4, 279–297; das Original nebst einem Schreiben Harnacks an Bethmann Hollweg vom 5.7.1916 in: BA Berlin, Akten der Reichskanzlei – Der Reichskanzler, Nr. 2446, Bl. 73 bzw. Bl. 85–99. 217 RANF 4, 279f. Laut Anmerkung von 1923 dachte Harnack dabei weder an Polen und Belgien, sondern an „Sicherungen für Ostpreußen“, in: aaO., 280. 218 AaO., 281f.
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durch verbesserte Fürsorgemaßnahmen für Kinder und Heranwachsende, Ausbau des Gesundheitssystems und eine Verbesserung im Bereich des Wohnungswesens sowie einer durchgreifenden Reform des Bildungssystems bezeichnete Harnack es als „die größte Aufgabe des Volkes“, „einerseits die brüderliche soziale Arbeitsgemeinschaft im Sinne der gesteigerten Wohlfahrt der unteren Klassen im ganzen Vaterland auszubauen und andererseits jedem Einzelnen die größtmögliche verantwortliche Selbständigkeit und den größtmöglichen Spielraum zu gewähren, um seine Kräfte zu entwickeln, zu steigern und mit Freiheit in den Dienst des ganzen zu stellen.“219 Gerade auf diesem Gebiet galt es nach Harnack den merklichen Rückstand Deutschlands gegenüber Westeuropa „unter Behauptung unserer Eigenart“ wettzumachen. Das betreffe weniger den „Freiheits-, Staats-, und Kulturbegriff “ als solchen – dieser sei in Deutschland durchweg „tiefer, sachlicher und produktiver“ – , wohl aber die „Formen der Gesellschaft, des Staats und der Kirche.“220 Hier waren es drei Punkte, an denen Harnack eine Reform für unabdingbar hielt und die zugleich notwendige Ergebnisse des Krieges, der „alle Klassen vereint“ habe, waren. Da war zunächst die Einführung zumindest des allgemeinen und geheimen Wahlrechts in Preußen. Statt des gleichen Wahlrechts hielt Harnack zwar ein Pluralwahlrecht – ein Gedanke, den Delbrück zu dieser Zeit noch favorisierte – für nicht völlig unmöglich, favorisierte aber eher das gleiche Wahlrecht, denn „die Frage [ist] sehr berechtigt, ob der Nutzen des Pluralwahlrechts wirklich so bedeutend ist.“221 Sodann war nach Harnack die „Herstellung der vollen religiösen Freiheit“ unabdingbar. Diese Forderung schloß das Ende der Benachteiligung bzw. des Ausschlusses von Atheisten, Freireligiösen, Dissidenten und Juden von staatlichen Ämtern ein.222 Schließlich nannte Harnack „das Koalitionsrecht und die volle Anerkennung der Gewerkschaften.“ Mit dem letzten Punkt hing volle staatspolitische Integration der Sozialdemokratie zusammen: „Der Krieg hat – von einer kleinen Gruppe abgesehen – ihren Patriotismus bewiesen […]. Also ist diese Partei als eine radikale Reformpartei zu behandeln unter der Voraussetzung, daß sie auch weiter noch bereit ist, am Reich mitzubauen […].“223 Diese Maßnahmen allein konnten nach Harnack langfristig die Früchte des Einheitserlebnisses von 1914 erhalten, mußten aber letztlich bei zu langer Dauer des Krieges verloren gehen, so daß Harnack seine Denkschrift mit dem Wunsch nach einem baldigen Frieden schloß: „Mögen die heißen Wünsche nach einem edlen und werten Frieden bald ihre Erfüllung finden, 219 220 221 222 223
AaO., 283. AaO., 287f. AaO., 288f. AaO., 289f. AaO., 291f.
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damit der Geist noch kräftig bleibe, den der Krieg erweckt hat, und damit dieser Geist die hohen Aufgaben erfüllen kann, die seiner warten.“224 Der Reichskanzler dankte Harnack am 14. Juli 1916 für die eingegangene Denkschrift, ohne konkret zu Harnacks Vorschlägen Stellung zu beziehen.225 Der Bitte des Kanzlers an Harnack, ihn gegebenenfalls um weiteren Rat und Hilfe bitten zu dürfen, war dieser durch die Beteiligung an dem im Juli 1916 ins Leben gerufenen „Deutschen Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden“ bereits nachgekommen.
3.4. Vermitteln zwischen den Extremen: Harnack und der „Deutsche Nationalausschuß“ Der Wunsch nach einem baldigen Friedensschluß und die Furcht um den inneren Frieden dürften die Gründe Harnacks gewesen sein, sich am „Deutschen Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden“ zu beteiligen.226 Ziel des Ausschusses war es nach Harnack, „im kleinen Kreise mit wenigen Mitgliedern […] und großen Mitteln, […] das Verständniß für einen Frieden zu erwecken u. zu kräftigen, wie der Reichskanzler u. wir ihn wünschen.“227 Der Nationalausschuß war ein Ergebnis der Überlegungen Erzbergers vom April 1916, die Anfang Juni in der Reichskanzlei forciert worden waren. Auch Valentini wurde über den Ausschuß unterrichtet, dessen Tätigkeit sich gegen „die Alldeutschen mit ihrem konservativen und nationalliberalen Anhang, aber auch gegen die Vertreter eines faulen Friedens richten [soll], indem derselbe für eine verständige Mittellinie eintritt.“228 Valentini begrüßte das Unternehmen als einen wichtigen Beitrag für „den Kampf gegen die alldeutschen Verrücktheiten“, mahnte aber auch, „die Hand auf der ganzen Sache zu halten.“229 Eine konstituierende Versammlung fand am 5. Juli unter der Regie der Reichskanzlei im Hotel Adlon statt. Fürst Wedel wurde zum Vorsitzenden gewählt, für den 1. August 1916 Veranstaltungen in 50 Städten des Reiches mit prominenten Rednern ins Auge gefaßt. Harnack bezeichnete bei der Aussprache vom 5. Juli als wichtiges Ziel des Ausschusses „die Belehrung des Deutschen Volkes darüber […], dass nicht nur Deutschland Faustpfänder habe, die bei der Verhandlung über die Friedens224
AaO., 297. Bethmann Hollweg an Harnack am 14.7.1916, in: Nl. Harnack, K.30, Korr. Bethmann Hollweg. 226 Vgl. Willibald Gutsche: Art. Deutscher Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden, in: Fricke: Lexikon. Band 2 (Anm. 109), 197–200; Hagenlücke (Anm. 108), 76–78. 227 Harnack an Delbrück am 7.7.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. A. Harnack. 228 Fürst Wedel an Valentini am 27.6.1916, in: GStA-PK, Nl. Valentini Nr. 2. 229 Valentini an den preußischen Innenminister von Loebell am 30.6.1916, in: BA Berlin, AdR-Rk, Nr. 1392, Bl. 59f. 225
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bedingungen geltend gemacht werden können. Auch England besitze wertvolle Faustpfänder […], eine Tatsache, die in der Öffentlichkeit überhaupt nicht berücksichtigt werde. Man tue immer so, als ob Deutschland durch seine Faustpfänder den Feinden seinen Willen aufzwingen könne. Das sei aber nicht der Fall, und darauf müsse in Zeitungsartikeln und in sonstigen Veröffentlichungen des Ausschusses besonders hingewiesen werden.“230 Ein Aufruf erschien am 20. Juli 1916 und erklärte die Bereitschaft des DNA zur Unterstützung der Kriegsziele des Kanzlers – „Vortragung der Grenzen im Osten, reale Garantien im Westen“ – , forderte aber zugleich die Freigabe der Kriegszieldiskussion. Ein Friedensschluß solle „sich gleich entschieden fern halten von den Kampflosigkeiten der Friedensmacher um jeden Preis wie von der Unersättlichkeit, die in den Kundgebungen des Alldeutschen Verbandes zutage getreten ist.“ Unterzeichnet war der Aufruf neben Harnack auch von Paul von Schwabach sowie einer Reihe von Industriellen unterschiedlicher Couleur, darunter auch August Thyssen. Insgesamt offenbarte der Aufruf, aber auch die Unterzeichnerliste, den Kompromißcharakter des Unternehmens, das die aufgebrochenen Fronten unter der Parole einer „mittleren Linie“ nochmals überdecken sollte.231 „Eine radikale Parole von rechts oder links“, so schrieb Harnack an Delbrück, bedeute „eine heillose Zerspaltung des Volkes, die wir nicht heraufrufen dürfen.“ Demgegenüber könne man von einer mittleren Linie „je nachdem, bald mehr nach rechts, bald mehr nach links gehen.“232 Die Vorbereitung der Kundgebungen zum 1. August erfolgte ebenfalls in enger Abstimmung mit der Reichskanzlei, die freilich nun darauf Wert legte, dabei „unter keinen Umständen Friedensreden zu halten.“233 Als Redner wurden u. a. Max Weber, Hermann Oncken, Friedrich Naumann, Friedrich von Payer, Adam Stegerwald, Martin Rade und Wilhelm Kahl gewonnen. Auch der Sozialdemokrat Albert Südekum erklärte sich zur Übernahme einer Rede bereit, wurde dafür aber innerhalb seiner Partei scharf kritisiert, so daß der „Vorwärts“ am 30. Juli 1916 erklärte, Südekum und zwei andere Sozialdemokraten gingen „auf eigene Faust“ vor.234 Noch vor den Kundgebungen zum 1. August 1916 kam es Mitte Juli zu einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen dem stellvertretenden ADV-
230 Vgl. den Bericht über die Gründungsversammlung in: BA Berlin, AdR-Rk, Nr. 2448, Bl. 102–108, Bl. 107; zu Harnacks Beteiligung vgl. auch Harnack an Rade am 18.8.1916, in: BwR 741. 231 Der Aufruf nebst Unterzeichnern in: Schultheß 1916, 344–346. 232 Harnack an Delbrück am 21.8.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. A. Harnack. 233 So ein Telegramm Wahnschaffes vom 25.7.1916, in: BA Berlin, AdR-Rk, Nr. 2448, Bl. 170. 234 Liste der Redner in: GStA-PK, Nl. Valentini Nr. 22, Bl. 12f.; Vorwärts Nr. 207 vom 30.7.1916.
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Vorsitzenden Freiherr von Gebsattel und Adolf von Harnack.235 Gebsattel griff den Nationalausschuß scharf an, der einen Bruch des Burgfriedens darstelle, Harnack wandte sich im Gegenzug gegen die Kriegszielvorstellungen der Alldeutschen sowie der annexionistischen Denkschriften von 1915. Belgien und Nordfrankreich „mit zirka 10 Millionen Menschen als Helotenländer, als ein deutsches Irland, regieren zu wollen; das ist Unersättlichkeit, die vor nichts zurückschreckt.“236 Gebsattel sorgte nun dafür, daß dieser Briefwechsel in der dem ADV nahestehenden „Deutschen Tageszeitung“ veröffentlicht wurde, um so den DNA unmittelbar vor den Veranstaltungen vom 1. August auch öffentlich anzugreifen, unterschlug dabei allerdings die letztgenannten Ausführungen Harnacks, der nur „billige Schlagworte“ gebrauche.237 Harnacks Rede auf der Berliner Veranstaltung des DNA zum 1. August 1916 sollte schließlich den Anfang vom Ende des Unternehmens einläuten. Harnack appellierte, wie schon in seiner Denkschrift für den Kanzler, an den Geist von 1914, den es durch „das heilige Gelöbnis des Ausdauerns zu bewahren“ gelte.238 Zunächst würdigte Harnack die Leistungen der Reichsregierung, die es nicht nur verstanden habe, möglichst viele Neutrale aus dem Krieg herauszuhalten, sondern gerade die innere Zerklüftung des Volkes in Bürgerliche und Sozialdemokraten zu überwinden. Dieser Erfolg werde sich nach Harnack durch die vom Kanzler angekündigte Neuorientierung im Geiste einer „freien und großzügigen Politik“ verstetigen lassen, welche die „neue Zeit“ nicht mit „Karlsbader Beschlüssen“ unterdrücken, sondern dem „neuen Geist Luft und Licht geben wird.“239 Mit diesen Ausführungen, die eng an die Denkschrift vom Juni 1916 angelehnt waren, leitete Harnack zum zweiten Teil unter der Frage „Welche Ziele stecken wir uns?“ über. Dabei ging er zunächst auf die inneren Ziele ein, die er mit den Stichworten „Steigerung unserer Volkskraft“ und „Herstellung einer deutschen Gemeinwirtschaft, d. h. einer nationalen Arbeitsgemeinschaft“ zusammenfaßte. Während er unter ersterem die Stichworte Bildungswesen, Gesundheitssystem und Wohnungsbau nannte, kritisierte er unter letzterem besonders die Zustände des deutschen privatwirtschaftlichen Systems, das er durch staatlich und privat „gemischte Unternehmungen“ ergänzen wollte, wobei er besonders „an die Bergwerke, die Kohlen, den Forstbetrieb“ dachte.240 Diese Vorschläge, 235 Abgedruckt in den Alldeutschen Blättern 26 (1916), 289–292. 305f; auch in: Schultheß 1916, 346–349. 236 AaO., 348. 237 AaO., 349. Die teilweise Veröffentlichung des Briefwechsels in der Deutschen Tageszeitung Nr. 384 vom 30.7.1916; die Reaktion Harnacks in Nr. 386 vom 31.7.1916. 238 RANF 3, S. 329–348, 333–335. Insgesamt fanden in 39 Städten Veranstaltungen statt, vgl. die Berichte in: VZ Nr. 391 u. 392 vom 2. u. 3.8.1916. 239 AaO., 338f. 240 AaO., 339 bzw. 342.
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neben denen die Wahlrechtsfrage und die religiöse Freiheit nur am Rande erwähnt wurden, um dort mögliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, sollten wichtigen groß-industriellen Kreisen schließlich den Anlaß für den Austritt aus dem Nationalausschuß bieten. Die Frage der Kriegsziele – und hinter ihr damit die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende – bildete den eigentlichen Kern seiner Rede. Drei Ziele benannte Harnack dabei. Zunächst gelte es, das deutsche Kolonialreich zurückzugewinnen, wofür „Opfer“ in Europa gebracht werden müßten. Sodann führe Deutschland einen Bündniskrieg, was bei Friedensschluß auch Rücksicht auf die Verbündeten erfordere. Schließlich – und das war nach Harnack die „Hauptsache“ – könne ein zukünftiger Frieden Deutschland keine vollkommene Sicherheit bieten, denn das wäre „gleichbedeutend mit dem Traum und der Utopie einer Weltherrschaft.“ Wohl aber müsse der Frieden im Osten Rußland auf seine „natürlichen Grenzen“ zurückwerfen und im Westen sicherstellen, daß „Belgien keine Satrapie Englands bleibt.“ Diesbezüglich wandte sich Harnack aber unter der Aufnahme des Stichworts „kein neues Irland“ aus dem Briefwechsel mit Gebsattel sowie in Erinnerung an den Grundsatz der Gegeneingabe vom Juli 1915, daß ein Friede nicht Deutschlands Existenz als Nationalstaat gefährden dürfe, gegen eine Annexion Belgiens.241 Im abschließenden dritten Teil der Rede ging Harnack sodann auf die Erfordernisse der „gegenwärtigen Stunde“ ein, nämlich Tapferkeit, Eintracht, Vertrauen zum Heer und Überwindung des Kastengeistes.242 Harnacks Kritik an wirtschaftlicher Profitsucht und sein Plädoyer für gemischte Unternehmen mit staatlicher Beteiligung führte schließlich zum Austritt wichtiger Industrieller aus dem Nationalausschuß, darunter die Gebrüder Röchling, August Thyssen, Friedrich Klöckner und der Krupp-Direktor Eberhard von Bodenhausen-Degener.243 Das Ziel der Organisation, zumindest gemäßigt konservative Kritiker des Kanzlers aus Wirtschaft und Politik zur Unterstützung seiner Politik zu gewinnen, war damit gescheitert. Röchling erklärte, nur ein Ausscheiden Harnacks könne seine weitere Mitarbeit im Nationalausschuß ermöglichen, doch lehnten Wahnschaffe und Bethmann Hollweg einen Austritt Harnacks strikt ab.244 Der Kanzler dankte Harnack vielmehr „für die besonnene, mutige und geschickte Art […], in 241
AaO., 343–346, 345. AaO., 346–348. 243 Vgl. Lothar Burchardt: Zwischen Reformeifer und KWG-Raison. Adolf von Harnack und die Industrie, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker und Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, 157–187, v.a. 170–181. 244 Vgl. die Briefe Hermann Rassows an Harnack vom 18. und 19.8.1916, in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. Rassow; zum Austritt der Großindustriellen vgl. neben dem Bericht der VZ Nr. 410 vom 12.8.1916 auch Schwabe; Wissenschaft (Anm. 28), 118f, und Pachaly (Anm. 86), 108–110. 242
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der Sie der verhängnisvollen Irreführung des öffentlichen Geistes durch die Extremen von beiden Seiten entgegenarbeiten.“ 245 Harnack bemühte sich nun, seine kritisierten Ausführungen dahingehend zu korrigieren, daß er keineswegs die Leistungen der Privatwirtschaft im Kriege habe mindern wollen. Zugleich zog er aus dem Vorgang den – schließlich nicht durchgehaltenen – Schluß, sich nicht mehr an öffentlichen Aktionen zu beteiligen. Dabei spielte die Furcht, durch die Auseinandersetzung auch Mitglieder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu verlieren, eine wichtige Rolle. Gleichwohl bemerkte Harnack: „Was ich gesagt habe, mußte ich sagen u. konnte auch nichts zurücknehmen.“246 Mit dem Austritt der Großindustriellen war das Schicksal des DNA besiegelt. Bis November 1916 lassen sich noch einzelne Aktivitäten nachweisen, dann verschwand er in der Versenkung. Die Auseinandersetzung Harnacks mit Gebsattel und der Streit um seine Rede zum 1. August hatten den Riß offengelegt, der sich nicht nur durch die civitas academica, sondern durch die deutsche Gesellschaft insgesamt zog. Dietrich Schäfer nahm die Gründung des Nationalausschusses zum Anlaß, das weiterhin existente Vorbereitungskomitee der Seeberg-Adresse nun auch offen zu einer Agitationszentrale der Rechten umzugestalten. So trat am 13. Juli der „Unabhängige Ausschuß für einen deutschen Frieden“ mit einem unverhohlen annexionistischen Aufruf an die Öffentlichkeit. Der Unabhängige Ausschuß wurde zu der propagandistischen Organisation der Annexionisten und war direkter Vorläufer der „Deutschen Vaterlandspartei.“247 Zwar bemühte sich der Nationalausschuß seit August um eine Verständigung mit Schäfers Organisation, um noch einmal die Gräben zu überbrücken, doch scheiterten diese Bemühungen an dessen entschlossenem Widerstand. Harnack war daran nicht mehr beteiligt. Schon im August zog er sich aus dem Nationalausschuß zurück.248
3.5. „Realpolitischer Pazifismus“, U-Bootkrieg und Wahlrechtsreform Auch wenn Harnack in den nächsten Monaten publizistisch nicht weiter in Erscheinung trat, so bemühte er sich doch über seinen Kontakt zum Reichskanzler auf einen baldigen Friedensschluß hinzuwirken. Die Hoffnungen auf einen baldigen Friedensschluß mit England schwanden jedoch bald wieder: „Die ganze Kriegsbeendigungsfrage hängt nach meiner Kenntniß der Dinge ausschließlich an England; aber da ist leider die Kriegsstimmung nur gewachsen und hat auch solche Kreise ergriffen, die noch vor ei245
Bethmann-Hollweg an Harnack am 16.8.1916, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Bethmann Hollweg; vgl. auch Wahnschaffe an Harnack am 10.8.1916, in: BA Berlin, AdR-Rk Nr. 2448, Bl. 281. 246 Harnack an Schmidt-Ott am 24.8.1916, in: GStA-PK, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 247 Vgl. Hagenlücke (Anm. 108), 73–90. 248 Vgl. Schäfer: Leben (Anm. 167), 189f.
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nem Jahr anders gesonnen waren. Daher ist auf Besserung einstweilen nicht zu hoffen.“249 Anfang November 1916 nahm Harnack die unverändert kritische Kriegslage zum Anlaß, einen Brief an den Kanzler zu richten. Er ging nun wieder von einem Erstarken der Friedenspartei in England aus, die nur „auf ein Wort aus Deutschland wartet.“ Daher sei es an der Zeit, daß „wir zur Initiative des Endes schreiten.“ Eine Bedingung dafür war nach Harnack die unmißverständliche Erklärung Deutschlands zur Herausgabe Belgiens. Ein Separatfrieden mit Rußland dagegen sei eine Utopie. Der Brief dokumentierte zugleich die Befürchtung Harnacks, daß der Kanzler möglicherweise nicht ausreichend über die Stimmung im Volk unterrichtet sein könnte. „Ich habe geschrieben, weil ich nicht ganz sicher bin, ob die Stimmung und Überzeugung weitester Kreise des deutschen Volkes in ihrer Stärke sicher zur Kenntniß E.E. kommt.“250 Harnacks Brief ging nachweislich auf die Anregung Delbrücks zurück, der sich davon eine Unterstützung seines Konzepts eines „realpolitischen Pazifismus“ versprach, das er im Oktoberheft der „Preußischen Jahrbücher“ skizziert und auch dem Kanzler übersandt hatte. Einen ersten Entwurf vom September 1916, in dem auf die Bedeutung von Abrüstungsvereinbarungen und internationalen Schiedsgerichten für eine europäische Nachkriegsordnung hingewiesen wurde, hatte Delbrück Harnack vorgelegt und eine entsprechende Petition nach dem Muster der Gegeneingabe vorgeschlagen. Harnack reagierte auffallend zurückhaltend. Allenfalls mündlich könne man in diesem Sinne vorgehen, doch erschien die Denkschrift Harnack so brisant, daß er Delbrück empfahl, sie zu „verbrennen, damit sie nicht auf irgend einen Weg in die Öffentlichkeit kommt.“251 Mitte November, nachdem sich die Kriegslage deutlich verschlechtert hatte, stellte Harnack seine Bedenken beiseite und bemühte sich, Bethmann Hollweg für die Überlegungen Delbrücks zu gewinnen. Dessen Reichstagsrede vom 9. November 1916 übernahm wesentliche Anregungen aus Delbrücks Konzept, darunter die Bereitschaft Deutschlands zur Schaffung eines weltweiten Friedensbundes und die Einrichtung eines allgemeinen Schiedsgerichts, als offizielle Ziele der deutschen Politik.252 Delbrück sah darin einen Erfolg seines Zusammenwirkens mit Harnack, wie er seinem Freund Max Lenz schrieb, dem die Parallelen zwischen der Kanzlerrede und Delbrücks Aufsatz nicht entgangen waren: „Du deutest in Deinem Brief an, als ob mein 249
Harnack an Rade am 26.9.1916, in: BwR 744. Harnack an Bethmann Hollweg am 8.11.1916 (Konzept), in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bethmann Hollweg. 251 Harnack an Delbrück am 20.9.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück; ein Exemplar der Denkschrift im Nl. Harnack, K. 29; vgl. zum Vorgang auch Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 114–116. 252 Hans Delbrück: Realpolitischer Pazifismus, PJ 166 (1916), 177–187; die Rede des Reichskanzlers in: Schultheß 1916/I, S. 523–530. 250
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Artikel ‚Realpolitischer Pazifismus‘ etwa offiziös veranlasst wäre. Es war umgekehrt; seit Monaten habe ich im Auswärtigen Amt dahin gearbeitet, den Widerstand gegen diese Wendung zu überwinden; noch bis in die letzten Tage ist darüber gekämpft worden. Ich hatte meinen Artikel schon längere Zeit vor dem Erscheinen dem Kanzler eingereicht und bewog Harnack, noch am Dienstagabend spät, sich in einem Brief mit aller Entschiedenheit dafür einzusetzen. Am Mittwoch warnte noch die Kreuzzeitung in allen Tönen, aber am Donnerstag kam endlich die Kanzlerrede […].“253 Das war ein vorübergehender Sieg der Anhänger eines Verständigungsfriedens, der freilich nur Episode blieb. Ebenso wie Delbrück gegenüber sprach der Kanzler auch Harnack seinen Dank mit dem Hinweis auf die Rede vom 9. November aus. Daraus könne er entnehmen, „daß sich unsere Gedanken in vielen Punkten berühren.“254 Harnack bekräftigte in einem weiteren Brief vom 28. November 1916 anläßlich des 60. Geburtstags des Kanzlers seine Hoffnung auf einen baldigen Frieden: „Die heiße Sehnsucht nach dem guten, dauernden und das Verhältniß zwischen den Völkern über die Vergangenheit emporführenden Frieden verbindet sich mit dem Wunsche, es möge Ew. Exzellenz gegönnt sein, in dem neuen Lebensjahr einen solchen Frieden heraufzuführen […].“255 Die deutsche Friedensinitiative vom 12. Dezember 1916 begrüßte Harnack daher: „Durch das Friedensangebot Ew. Majestät“, schrieb Harnack zum Jahreswechsel an den Kaiser, „empfindet sich das ganze Volk nur gestärkt, dem Frieden entgegen sehend, aber auch zur Fortführung des Krieges mutig und freudig bereit.“256 Noch Anfang Februar 1917 – also bereits nach dem Scheitern der Friedensbemühungen – bezeichnete Harnack das deutsche Friedensangebot in einer Rede zur Eröffnung des Deutschen Museums in München als „das größte Erlebnis in diesem Kriege“, von dem er sich das Abrücken von einem bloßen Machtstandpunkt und Machiavellismus in den Beziehungen der Völker versprach. Diese beiden Prinzipien machte Harnack für die „Weltkatastrophe“ des Krieges verantwortlich, zumal sie „konsequent durchgeführt die Menschheit in die Sklaverei eines Reiches oder zur Selbstvernichtung“ trieben.257 Allerdings empfand er das Friedensangebot, so jedenfalls im Rückblick vom Juni 1917, trotz des richtigen Grundsat-
253
Delbrück an Lenz am 17.11.1916, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Lenz. Bethmann-Hollweg an Harnack am 12.11.1916, in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bethmann Hollweg.. 255 Harnack an Bethmann-Hollweg am 28.11.1916, in: aaO. 256 Der Entwurf des Schreibens an Wilhelm auf der Rückseite eines Vortragskonzepts in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 78, Bl. 3r. Zum deutschen Friedensangebot vom Dezember 1916 vgl. Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Berlin 1999, 411–416. 257 RANF 4, 3–23, 20. 254
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zes als „in der Stilisierung nicht friedlich und universal genug“ und kritisierte „seinen unharmonischen Unterton.“258 Auch Delbrück begrüßte das deutsche Friedensangebot enthusiastisch, verknüpfte damit aber sogleich den programmatischen Hinweis, daß ein Friede unmöglich sei, „wenn wir Bedingungen aufstellen, die bei den anderen Völkern den Verdacht erwecken, daß wir eine Welthegemonie anstreben. […] So unbestreitbar es ist, daß unsere Sicherheit nur auf unserer Macht beruhen kann, so muß diese Macht die anderen Mächte neben sich gelten lassen.“ Delbrück schlug sodann eine Brücke zu seinen Ausführungen über die Gefahren einer napoleonischen Politik Deutschlands, vor der er bereits in der Septemberkorrespondenz von 1914 gewarnt hatte: „Sonst ist dauernder Friede unmöglich. Man gelangt dann auf die Bahn der Napoleonischen Politik, die am letzten Ende ins Verderben führt.“259 Gleichwohl mußten Delbrück und sein Kreis bald die Schwierigkeiten der Friedensbemühungen erkennen. Dabei kam wieder die Frage des uneingeschränkten U-Bootkrieges ins Spiel, dessen Propagierung die Marineleitung, publizistisch unterstützt von Dietrich Schäfers „Unabhängigem Ausschuß“, seit Herbst 1916 wieder forcierte, um durch den Einsatz dieses letzten Mittels doch noch zum Siegfrieden zu kommen. Am 9. Januar 1917 gelang es der Marineleitung und der OHL schließlich, die Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges gegen den sich sträubenden Reichskanzler durchzusetzen. Diese Maßnahme bedeutete zugleich das automatische Ende aller Friedenssondierungen. Als Delbrück von der unmittelbar bevorstehenden Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges erfuhr, bemühte er sich, „ihm noch wenigstens eine vielleicht friedenstiftende Beigabe anzubinden“, wie Meinecke formulierte260, und entwarf ein Telegramm, das neben ihm noch Meinecke und Harnack unterschrieben und an den Kanzler schickten. Darin hieß es: „Euer Exzellenz bitten wir es als unsere Überzeugung aussprechen zu dürfen, dass es weiten Kreisen in Deutschland und im Ausland zur Beruhigung dienen würde, wenn mit der Erklärung des rücksichtslosen Tauchbootkrieges gleichzeitig die Erklärung erfolgte, dass Deutschland bereit ist, Belgien in vollem Umfang wiederherzustellen […].“ Dieser Versuch, durch eine entsprechende Erklärung die Möglichkeit einer Verständigung mit den Westmächten nicht ganz zu verstellen, blieb ohne irgendeine Reaktion seitens der Regierung.261 Gleiches galt für den brieflichen Vorschlag Delbrücks an Bethmann Hollweg, er möge erklären, daß 258
RANF 4, 301f. PJ 167 (1917), 165. 260 Meinecke: Straßburg (Anm. 111), 222. 261 Das Telegramm in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 25.Wahnschaffe teilte Delbrück lediglich am 1.2.1917 mit, er habe das Telegramm „neulich sofort ins Hauptquartier weiterbefördert.“ Nach Meinecke: Straßburg, 222, hat sich der Kaiser „sehr ungnädig über diese unbefugte Einmischung seiner Professoren geäußert.“ 259
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Deutschland den U-Bootkrieg aussetzen werde, wenn England die Blockade der deutschen Küste aufhebe, um so einen Kriegseintritt der USA noch zu vermeiden.262 Zwar wollte Delbrück die Hoffnung auf eine Vermeidung des Krieges nicht gänzlich aufgeben, doch kam die amerikanische Kriegserklärung vom 6. April 1917 für ihn ebenso wie für Harnack alles andere als überraschend. Angesichts des neuen Gegners waren Delbrück und Harnack gleichwohl zu einer weiteren prinzipiellen Unterstützung der Politik des Reichskanzlers bereit, die sie noch immer als „kleineres Übel“ gegenüber dem alldeutschen Chauvinismus empfanden. Dennoch war das Vertrauen führender Mitglieder des „Mittwochabend“ in den Kanzler erschüttert. Staatssekretär Wilhelm Solf zeigte sich entsetzt über die Kapitulation des Kanzlers vor der „Desperadopolitik“ der OHL: „Was hat der Kanzler geschimpft über die Basser-, Fuhr- und Stresemänner! Jetzt gesellen sich zu diesem famosen Kleeblatt die Beth- und Zimmermänner. Es ist zum Aufschreien!“263 Harnack, der noch am 10. April bekannte, er „werde die politische Ketzerei noch immer nicht ganz los, ob es richtig war, daß wir diesen Unterseebootkrieg unternommen haben“264, beteiligte sich nach dem Kriegsausbruch mit Amerika an einer vom „Bund deutscher Gelehrter und Künstler“ organisierten Vortragsreihe über die „deutsche Freiheit.“ Am 18. Mai hielt er den einleitenden Vortrag über „Wilsons Botschaft und die deutsche Freiheit“, es folgten Vorträge von Friedrich Meinecke, Max Sering, Ernst Troeltsch und Otto Hintze.265 Die Behauptung des US-Präsidenten Wilson, Deutschland werde von einem „autokratischen Regime“ beherrscht, das, vom Volk getrennt, jetzt „Amok läuft“, bezeichnete er „als anmaßendste und heuchlerischste Kundgebung, die seit den Tagen Napoléons I. das Oberhaupt einer Großmacht an ein anderes Volk gerichtet hat.“ Wilson rufe „im Namen des Pazifismus“ zur Vernichtung Deutschlands auf.266 Die Ursachen des amerikanischen Kriegseintritts bestimmte Harnack in Analogie zur „Handelsneidthese“ von 1914. Amerika habe Deutschland um seine Erfolge beneidet und wolle nun diese unliebsame Konkurrenz ausschalten.267 Anders als 1914 verzichtete er allerdings auf den Vorwurf des Verrats an der gemeinsamen Kultur und ging nicht so weit, zusammen mit dem Verhalten Wilsons den „demokratischen Pazifismus“, den dieser repräsentierte, gänzlich zu verwerfen: „Es gibt so gewiß einen edlen, wahrhaften, demokratischen Pazifismus, wie es einen monarchischen gibt. Das Suum cuique und 262
Delbrück an Bethmann-Hollweg am 23.2.1917, in: aaO., Nr. 122, Mappe 2. Solfs Brief vom 7.2.1917 in: Eberhard Vietsch: Wilhelm Solf. Botschafter zwischen den Zeiten, Tübingen 1961, 371f. 264 Harnack an Eduard Meyer, in: Archiv der BBAW, Nl. Meyer, Nr. 328. 265 Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, Gotha 1917. 266 Wilsons Botschaft und die deutsche Freiheit, in: aaO., 2 u. 4. 267 AaO., 5. 263
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das ernste Bestreben, Frieden zu erhalten, nicht nur im Lande, sondern auch auf Erden, hängt an keiner staatlichen Verfassungsform.“268 Dagegen geißelte er Wilsons vermeintliche Anmaßung, sich im Namen des Friedens zum „erobernden Völkermessias“ aufzuschwingen, hinter der sich nichts anderes als „die Herrschaft einer allmächtigen Plutokratie“ verberge. Harnack bemühte sich sodann, das Verhalten Wilsons als Verrat an den eigenen Idealen zu interpretieren.269 Harnack berief sich „wider den Wilson von heute“ auf den „Wilson, wie er einmal war“, wenn er am Ende seines Vortrages die zu verteidigende Eigenart des deutschen Systems mit seiner „deutschen Freiheit“ hervorhob: „wir wollen die Freiheit aus unserer Vergangenheit und mit unserer Vergangenheit; denn nur so können wir sie behaupten und fördern! Dazu gehört die untrennbare Einheit mit unserem sozialen Kaiserund Königtum, von dem uns keine Macht der Erde scheiden kann.“270 In dieser Formel vom „sozialen König- und Kaisertum“ steckte aber nicht das einfache Beharren auf dem bestehenden System, sondern sie beinhaltete eben auch jene „Neuorientierung“, die Harnack bereits 1916 gefordert hatte und für die Hans Delbrück nun auch in den „Preußischen Jahrbüchern“ nachdrücklich plädierte.271 Die an Naumann und Lorenz von Stein orientierte Formel wurde gleichsam zum Schlagwort der Reformforderungen der Gemäßigten im Jahr 1917. Das wurde bereits in dem an Harnacks Einführungsrede anschließenden Vortrag von Friedrich Meinecke deutlich, der unter dem Stichwort „soziales Königtum“ für die Ausbalancierung von Demokratie und Kaisertum sowie die Einführung des Reichstagswahlrechtes in Preußen eintrat.272 Delbrück hatte die Idee einer Propagierung des allgemeinen Wahlrechts erstmals im August 1915 in einem Brief an Harnack aufgegriffen: „Für unsere innere Politik hat mich jetzt ein neuer Gedanke ergriffen und mehr und mehr verfestigt. ( … ). Er heißt: allgemeines Stimmrecht für Preußen! Sobald das zugestanden ist, lösen sich sehr viele Fragen ganz von selbst.“273 Aktiv wurde Delbrück allerdings erst, als die Thronrede des Kaisers vom Januar 1916 mögliche Korrekturen des preußischen Wahlrechts nach Kriegsende in Aussicht gestellt hatte. Die Sozialdemokratie, so stellte Delbrück fest, habe ein Recht auf angemessene Repräsentation im preußischen Landtag, die Reform sei daher „eine Selbstverständlichkeit.“ An die Konservativen rich268
AaO., 8. Vgl. aaO., 9f. 270 AaO., 13. 271 Hans Delbrück: Die Neuorientierung, in: PJ 168 (1917), 349–362. 272 Friedrich Meinecke: Die deutsche Freiheit, in: Freiheit (Anm. 265), 36; zu Meineckes Vorschlägen zur Verfassungsreform vgl. Meineke (Anm. 14), 275–294. 273 Delbrück an Harnack am 16.8.1915, in: Nl. Harnack, K. 29, Korr. Delbrück; vgl. zur Bedeutung der Wahlrechtsreform in der Professorenpublizistik Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 129–165; zur Wahlrechtsfrage Reinhard Patemann: Der Kampf um die preußische Wahlreform im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1964. 269
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tete er die dringende Mahnung, sich ihr nicht zu verschließen.274 Die Verschärfung des innenpolitischen Gegensatzes zwischen Gemäßigten und Annexionisten in der U-Bootfrage führte dazu, daß Delbrück die Frage der Wahlrechtsreform zunächst nicht weiter verfolgte, um seinen Kampf für einen Verständigungsfrieden – nichts anderes verbarg sich hinter der U-BootKontroverse – nicht unnötig zu belasten. Dagegen war es Harnack, der in seiner Denkschrift an den Kanzler vom Juni 1916 die Wahlrechtsfrage wieder aufgriff, indem er die Einführung des Reichstagswahlrechts in den Mittelpunkt seines Reformprogramms stellte. Nachdem der innenpolitische Konflikt um den U-Bootkrieg zuungunsten der Gemäßigten entschieden war, begann auch Delbrück, sich erneut der Wahlrechtsfrage zuzuwenden, an der aber die Fronten sogleich erneut aufbrachen, zumal er die Bekämpfung des alldeutschen Annexionismus als eine der Hauptvoraussetzungen für einen Friedensschluß nun auch offen propagierte.275 Eine wichtige Rolle spielte das Argument, man müsse den durch den Krieg mündig gewordenen Massen durch die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten entgegenkommen. Die russische Februarrevolution und die Streiks in Leipzig im April 1917 bestärkten die Gemäßigten in ihrem Verlangen nach einer solchen Reform, führte doch gerade das russische Beispiel vor Augen, wohin ihr Ausbleiben führen konnte. So plädierte Delbrück, der angesichts der Erfolglosigkeit des U-Bootkrieges und in Erwartung eines möglichen neuen Kriegswinters „eine schwere innere Krisis, beinahe eine Katastrophe“ befürchtete, für „eine große Konzession an die Demokratie.“ „Man mag zum gleichen Wahlrecht stehen wie man will, in diesem Augenblick ist es für uns ein Rettungsmittel.“276 Gleichwohl vertraten die Gemäßigten keine einheitliche Konzeption. Während Max Weber nicht nur eine Demokratisierung des preußischen Wahlrechts, sondern auch eine Parlamentarisierung des Reiches unter dem Stichwort „parlamentarisches Führertum“ verlangte, votierte die Gruppe um Delbrück, Harnack und Meinecke für eine Demokratisierung des preußischen Wahlrechts ohne Einführung des parlamentarischen Regimes im Reich, wie die Argumentation Delbrücks und Harnacks in der Kanzlerkrise vom Herbst 1917 zeigen sollte.277 Einig war man sich jedoch in der Frage des 274
PJ 163 (1916), 372f. PJ 168 (1917), 326–332, 346–362; der Kampf für einen Verständigungsfrieden hieß nach Delbrück auch Kampf gegen die Alldeutschen: „Deutschland kann den Weltkrieg nur dann erfolgreich beenden und eine heilbringende nationale Zukunft gewinnen, wenn es gleichzeitig den Chauvinismus in seinem eigenen Innern bekämpft und niederhält. […]. Die Furcht vor dem deutschen Despotismus ist eine der massivsten Tatsachen, mit denen wir zu rechnen, eine der stärksten feindlichen Potenzen, gegen die wir zu kämpfen haben. In Deutschland heißt dieser Kampf Bekämpfung der Alldeutschen“, in: aaO., 333. 276 Delbrück an Valentini am 1.7.1917, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 4. 277 Delbrück verteidigte noch im Oktober 1917 das „System der selbständigen Beamtenregierung, die zwar in steter Fühlung mit der Volksvertretung, aber nicht abhängig von 275
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preußischen Wahlrechts. Die kaiserliche Osterbotschaft von 1917 hatte diese Reform erneut angekündigt, doch unterblieben zunächst konkrete Schritte. Harnack selbst korrespondierte im Mai 1917 mit dem Marburger Theologen und nationalliberalen Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses Rudolf Otto über die zu zögerliche Haltung der Regierung bei der zügigen Umsetzung der Wahlrechtsreform. Auch Otto maß ihr ein „Frieden-erleichterndes Moment“ bei und versprach Harnack, weiter Material zu sammeln und in diesem Sinne auf die Regierung zu wirken.278 Es war die Erkenntnis, daß eine solche Reform jetzt unabdingbar war, verbunden mit der zunehmenden Ernüchterung über die Ergebnisse des UBootkrieges, die Harnack schließlich im Juni 1917 veranlaßte, erneut den Reichskanzler in einem ausführlichen Schreiben auf den Zusammenhang von innenpolitischen Reformen und Friedensschluß hinzuweisen.279 Überall, so Harnack, sei man an einem „toten Punkt“ angelangt; an der Front, in der Friedensfrage, im Inneren. Habe er der Politik des Kanzlers bis vor wenigen Wochen noch zugestimmt, so sei er nun zu der Überzeugung gelangt, daß die „Zeit des Lavierens beendigt werden muß.“ Neben den Mißerfolgen an der Front gebe nicht zuletzt die dumpfe Stimmung bei der Bevölkerung Anlaß zu größter Sorge. Noch gefährlicher seien aber die Illusionen über die Kriegslage, die sich noch immer große Kreise machten: „Das Erwachen aus dieser Stimmung kann noch gefährlicher werden als die resignierte oder der Verzweiflung nahe Dumpfheit.“280 Daß für Harnack die Reformen im Inneren alle außenpolitischen Ziele ersetzt hatten, und nur durch sie überhaupt auch außenpolitisch noch etwas erreicht werden konnte, belegte seine These, daß zunächst der „tote Punkt“ im Innern überwunden werden mußte. Mit den uneingelösten Versprechen bezüglich innerer Reformen, denen zudem noch die nötige Vollständigkeit gefehlt habe, müsse endlich ernst gemacht werden: „Es muß jetzt mit dem Gedanken des sozialen Kaiser- und Königtums voller und praktischer Ernst gemacht werden.“ Zu den zentralen Elementen zählte Harnack wiederum die Wahlrechtsreform und eine umfangreichere Beteiligung des Volkes an der Staatslenkung, wobei aber Harnacks Vorbehalte gegen eine volle Parlamentarisierung in der Formulierung mitschwangen, daß im Gedanken des sozialen Kaisertums sowohl „das Maß an Demokratie steckt, welches wir bedürfen“, zugleich aber auch „die Abwehr ihr ist“, in: PJ 170 (1917), 304; vgl. schon PJ 168 (1917), 355: „Man hüte sich, ein solches Vorgehen gleichzusetzen mit dem, was man das parlamentarische System nennt“; zu Weber vgl. Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974, 264–288. 278 Otto an Harnack am 9.5.1917, in: Nl. Harnack, K. 39, Korr. Otto; vgl. zur Osterbotschaft Patemann (Anm. 273), 58–65. 279 Das Original in: BA Berlin, AdR-Rk, Nr. 2446, Bl. 22–24; unverändert veröffentlicht in: RANF 4, 298–302. 280 AaO., 298f.
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einer solchen Demokratie, die der Eigenart und dem Geist unseres Volkes nicht entspricht“, enthalten sei.281 Harnack betonte zugleich die außenpolitische Wirkung entsprechender Maßnahmen: „Sie entwindet unsern Feinden ihre kräftigste ideelle Waffe! […]. Wir sind ja wirklich neben großen Vorzügen politischer Art ihnen gegenüber auf einigen Linien rückständig […]. Und – wird es unseren Feinden deutlich, daß wir entschlossen und aufrichtig die Bahn inneren politischen Fortschritts betreten, so wird das zahlreichen Parteien unter ihnen zum wirksamen Anstoß des Nachdenkens darüber werden, ob sie den Krieg noch fortsetzen wollen. […] Es ist mir ganz gewiß, daß der Krieg bis zum schrecklichen Ausbluten einer Partei dauern wird, wenn wir nicht innere Reformen freiheitlicher Art jetzt bringen. Ohne sie erhalten wir keinen Frieden; mit ihnen und durch sie rückt er nahe. Darum sind die inneren Reformen wichtiger als der ganze U-Bootkrieg.“282 Harnack beendete seine Denkschrift mit der Feststellung: „Wenn unsere inneren Reformen als grundlegende und fortwirkende in Kraft gesetzt sind […], dann müssen wir in einem Manifeste aufs neue erklären, daß wir zur Beendigung dieses Krieges, den wir als Verteidigungskrieg geführt haben, zu jedem Opfer bereit sind, das unser status quo ante erträgt […]. Zu den Opfern aber, um keine Zweideutigkeit zuzulassen, rechne ich Belgien, Polen, ja selbst Verhandlungen über elsaß-lothringische Grenzregulierungen.“283 Bethmann Hollweg reagierte auf diese Denkschrift prompt, indem er Harnack zu einem Gespräch am 22. Juni 1917 in die Reichskanzlei bat. Dabei gelang es dem Kanzler, sich als entschiedenen Reformer zu präsentieren und so den zweifelnden Harnack von den Grundlinien seiner Politik zu überzeugen.284 Erneut sei ihm deutlich geworden, berichtete Harnack, „wie klar er sieht, wie richtig im Äußern und Innern seine Ziele sind und wie seine Tatkraft durch Laviren-Müssen niedergehalten wird.“ Sodann ging Harnack auf die Friedensmöglichkeiten ein, die der Kanzler durchaus sehe, „denn die Schwierigkeiten liegen nicht bei den Feinden.“ Doch dürfe er es sich „leider z. Z. noch nicht soweit mit den Konservativen verderben.“ Einig waren sich Harnack und der Kanzler auch in der Erkenntnis der Notwendigkeit, „die Illusion auf[zu]klären, als stünde man immer noch so, wie im August 1914, und wir hätten demnächst unsere Feinde unter dem Fuß.“ Den sozialdemokratischen Vermittlungsversuchen stehe der Kanzler eher wohlwollend gegenüber. Sodann kam Harnack auf seine eigene Einschätzung der Kriegslage zu sprechen. „Ich glaube schon nicht mehr auf Remis mit Vorteil hoffen zu dürfen, und so urteile ich schon seit länger als einem Jahre, aber hüte mich das zu sagen und arbeite und wirke unter der Devise Remis mit 281
Ebd. AaO., 300f. 283 AaO., 302. 284 Vgl. dazu den Bericht Harnacks an seine Nichte Frau Dr. Zeller am 23.6.1917, in: Fester (Anm. 210), 255f. 282
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Vorteil.“ Dabei wäre eine Remis schon ein großer Erfolg, „aber die vielen Esel wollen die sonnenklare Tatsache nicht einsehen, sondern schwärmen noch immer von einem ‚deutschen‘ oder unabhängigen Frieden“ – das war eine direkte Anspielung auf Schäfers „Unabhängigen Ausschuß für einen deutschen Frieden“ – , „der uns zu Herren der Welt macht.“ Unklar ist, ob Harnack bei diesem Treffen auch auf die zur gleichen Zeit von Delbrück vorbereitete Wahlrechtsinitiative zu sprechen kam. Jedenfalls war sie wohl als Unterstützung des Kanzlers gedacht, der einen Vorstoß zur Wahlrechtsreform im Hauptquartier durchzusetzen versuchte. Diesen Aspekt betonte Kurt Hahn in einem längeren Brief an Delbrück. Der Kanzler könne „mehr durchsetzen, wenn er Ihre öffentliche Aktion im Rücken hat.“ Auch habe er Bescheid, daß der Vorstoß Delbrücks im Hauptquartier auf positive Resonanz stoßen werde. Zudem könne man so den Sozialdemokraten zuvorkommen und den Massen beweisen, „dass auch gerade unter konservativen Elementen Führer für einen Fortschritt zu finden sind, die früher auf dem Platz waren, als die Sozialdemokraten.“285 Delbrück veröffentlichte daraufhin den vorbereiteten Aufruf, der angesichts des konservativen Widerstands die sofortige Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen forderte. Unterschrieben hatten neben Delbrück der Schöneberger Oberbürgermeister Dominicus, Emil Fischer, Adolf von Harnack, Friedrich Meinecke, Walter Nernst, Paul Rohrbach, Friedrich Thimme und Ernst Troeltsch.286
3.6. Harnack und der Sturz Bethmann Hollwegs Harnacks brieflicher Bericht an seine Nichte über die Unterredung mit dem Kanzler gelangte durch eine Indiskretion in entstellter Form an die Öffentlichkeit und wurde so zu einem Bestandteil der Agitation der Kanzlergegner. Bethmann Hollweg, so die auch in der Presse auftauchende Behauptung, stehe selbst hinter den Vorbereitungen der Reichstagsparteien zu einer Friedensresolution. Nach der Briefwiedergabe im alldeutschen „Bayerischen Kurier“ vom 13. Juli hatte Bethmann Hollweg Harnack erzählt, „er stünde den Leuten wie Scheidemann, David, Heine am nächsten, könne sich aber vom Einfluß der Konservativen noch nicht ganz frei machen. Es gelte jetzt, die sogenannten nationalen Kreise zu zersplittern, um freie Hand zum Handeln zu bekommen. Die größte Gefahr, sagte Herr v. Bethmann Hollweg, seien die Leute, welche noch immer an einen deutschen Sieg glauben. 285
Hahn an Delbrück (o. D, von fremder Hand Juli 1917), in: SBB-PK, Nl. Delbrück; vgl. zu diesem Brief auch Herbert Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975, 44f. 286 Text und Unterzeichner in: PJ 169 (1917), 156; vgl. zum politischen Kontext Patemann (Anm. 273), 82–96.
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Es könnte im besten Falle nur eine Remispartie geben. Harnack fügte dieser Erzählung bei, er sehe in dem Willen zur Macht nur Sünde und könne mit der Unterdrückung solcher Bestrebungen nur einverstanden sein.“287 Das war in der Tat eine Verfälschung des Harnackbriefes, indem der Bericht über die Unterredung mit der politischen Lagebeurteilung Harnacks vermischt wurde. Der „Bayrische Kurier“ folgerte weiter: „Nach dem Zeitpunkt und dem Inhalt der Unterhaltung zu schließen, ist Herr v. Bethmann Hollweg der eigentliche Drahtzieher der jetzigen innerpolitischen Vorgänge.“ Die liberale „Frankfurter Zeitung“ ordnete diesen Bericht in die Bemühungen der „zahlreichen Gegner des Kanzlers […], ihn zu stürzen“, ein, bezweifelte die richtige Wiedergabe des Briefes und hoffte auf eine Aufklärung durch die unmittelbar Beteiligten.288 Diese erfolgte noch am gleichen Tag durch ein Dementi Harnacks: „Von dem ganzen Inhalt des Briefes ist nichts tatsächlich, als daß ich ein Gespräch mit dem Reichskanzler geführt habe. Obgleich ich keine Abschrift des Briefes besitze, kann ich schon jetzt sagen, daß, – was seinen Inhalt angeht – einiges ganz aus der Luft gegriffen, anderes auf das übelste entstellt, noch anderes als Worte des Reichskanzlers geführt ist, was nur meine Meinung, und zwar in entstellter Form, wiedergibt. Eine Berichtigung im einzelnen behalte ich mir vor.“ Die „Frankfurter Zeitung“ kommentierte: „Harnacks Dementi […] zeigt an einem besonders krassen Falle, mit welchen Mitteln die Gegner des Reichskanzlers arbeiten!“289 Dietrich Schäfer, der sich schon am 4. Juli in einem Brief an Oberst Bauer über die skrupellose „Totengräberarbeit“ des Kanzlers beschwerte und diesen als den Anstifter des Wahlrechtsaufrufs ansah, bemühte sich nun, nochmals nachzulegen. Dabei bediente er sich der Indiskretion von Kollegen Harnacks aus der Theologischen Fakultät, denen dieser von seinem Brief berichtet hatte. Ein entsprechender Artikel erschien am 15. Juli 1917.290 Doch zu dieser Zeit war das Ziel der „Kanzlerfronde“ schon erreicht. Noch am 13. Juli hatte Bethmann Hollweg seinen Rücktritt eingereicht. Es war letztlich nicht die hier beschriebene Pressekampagne, sondern eine merkwürdige Koalition aus OHL, politischer Rechte und Reichstagsmehrheit, die den Kanzler zu Fall brachte.291 Harnack dankte Bethmann Hollweg brieflich am 17. Juli „für das große Werk, welches Ew. Exzellenz für das Vaterland geleistet haben.“ Bleibendes 287 Ein Exemplar des Artikels des Bayerischen Kuriers als Wiedergabe in den Leipziger Neuesten Nachrichten vom 13.7.1917 in: Archiv der BBAW, Nl. Schäfer 1, Bd. II, Bl. 211. 288 FZ Nr. 190 vom 13.7.1917. 289 Harnacks Erklärung in: FZ Nr. 191 vom 13.7.1917; auch in: BT Nr. 353 vom 13.7.1917. 290 Archiv der BBAW, Nl. Schäfer 1, Bd. II, Bl. 210. Schäfer berief sich auf Holl, Kaftan und Graf Baudissin. Der Brief an Bauer vom 4.7.1917 in: aaO., Bl. 135–138, Bl. 139. 291 Zum Rücktritt des Kanzlers vgl. Nipperdey: Geschichte. Band 2 (Anm. 27), 838– 841.
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Hauptverdienst war nach Harnack die Integration der Sozialdemokratie in den bestehenden Staat. Harnack dankte für das ihm erwiesene Vertrauen und betonte abschließend, daß er bezüglich der „letzten Zeitungsoffensive“ keine Indiskretion begangen habe.292
4. Zwischen Reform und Revolution: Die Gemäßigten im letzten Kriegsjahr 4.1. Kanzlerkrise und politische Polarisierung Der Sturz Bethmann Hollwegs beraubte Delbrück, Harnack und Meinecke des direkten Zugangs zur Reichsleitung. Kontakte zu Georg Michaelis, dem neuen Kanzler, gab es ihrerseits nicht. Damit gewann die Verbindung zu Rudolf von Valentini besondere Bedeutung. Ende Juli hoffte Delbrück allerdings noch, daß der neue Kanzler Michaelis die von Bethmann Hollweg eingeschlagene Politik der inneren Reformen weiterführen müsse, auch wenn er ihr fern stehe. Delbrück begrüßte die Friedensresolution des Reichstages vom 19. Juli und nahm diese zum Anlaß, den Text der Gegeneingabe vom Juli 1915 zu veröffentlichen. So bemühte er sich, beide Texte als Grundlage eines möglichen Verständigungsfriedens zu interpretieren, ohne jedoch eine Ausweitung des Reiches ins Baltikum und ein mittelafrikanisches Kolonialreich grundsätzlich auszuschließen. Freilich besaß dieses Kriegszielprogramm stärker noch als 1915/16 kompensatorischen Charakter, wie Delbrück Valentini versicherte. Er bilde sich nicht ein, daß diese Forderungen voll erfüllt werden könnten, doch denke er, „man muß die auf Belgien eingestellte Eroberungslust sozusagen überbieten. Man muß der Volksphantasie ein anderes Bild zeigen, das verführerisch genug ist, die Gedanken von Belgien abzulenken.“293 Aber schon im August hatte Delbrück jede Hoffnung auf eine Besserung der politischen Lage durch den neuen Kanzler aufgegeben. Der Kanzler sei seine „große Sorge“, schrieb er Ende August 1917 an Valentini. Innerlich gehöre Michaelis wohl doch „der Richtung Tirpitz-Reventlow“ an und habe sich „nur aus taktischen Gründen der Reichstagsmajorität unterworfen.“ Delbrück fragte weiter: „Will er tatsächlich selber den Frieden, weshalb handelt er nicht? Weshalb die fortwährenden Zweideutigkeiten? Ich habe keine andere Erklärung, als daß er seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.“294 292 Harnack an Bethmann Hollweg am 17.7.1917 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 27, Korr. Bethmann Hollweg. 293 Delbrück an Valentini am 6.6.1917, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 4. 294 Delbrück an Valentini am 26.8.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Valentini.
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Ähnlich wie Delbrück sah auch Harnack in der Friedensresolution des Reichstages und den päpstlichen Vermittlungsversuchen Anlaß zu neuer Hoffnung auf ein Ende des Krieges. „Ob wir das Morgenrot des Friedens begrüßen dürfen?“ fragte er im August 1917, und antwortete sogleich: „Ich bin so optimistisch es zu tun.“295 Im Oktober mochte er immer noch auf einen baldigen Frieden hoffen, als dessen Bedingung er weiterhin die Wiederherstellung von „Belgiens Integrität und Souveränität“ betrachtete.296 Michaelis Politik stieß auf die entschiedene Ablehnung Harnacks: „Mit Michaelis’ Haltung bin ich sehr unzufrieden; er hat sich zweideutig benommen, was, zumal jetzt, das Schlimmste ist, u. uns dadurch zurückgeworfen. Wahrscheinlich dient ihm zur Entschuldigung, daß die oberste Heeresleitung die Politik nicht will, die die Majorität des Reichstags will; aber dann durfte er nicht Reichskanzler werden, wenn er diesen Widerstand nicht zu brechen willens oder im Stande war.“297 Auch nach dem Rücktritt Bethmann Hollwegs entschärften sich die innenpolitischen Gegensätze nicht. Unter der Federführung von Wolfgang Kapp wurden nun die Bemühungen der Annexionisten um eine festere Organisationsform vorangetrieben, die am 2. September – dem Sedantag – in der Gründung der „Deutschen Vaterlandspartei“ in Königsberg mündeten, zu deren Vorsitzenden Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, Alfred Tirpitz und Wolfgang Kapp gewählt wurden, während dem Vorstand u a. Dietrich Schäfer, Heinrich Claß und Georg von Below angehörten. Innenpolitische Entscheidungen seien auf die Zeit nach dem Krieg zu verschieben, hieß es im Gründungsaufruf, der statt eines „Hungerfriedens“ einen „Hindenburgfrieden“ verlangte, hinter dem sich nichts anderes verbarg als die Siegfriedenskonzeption des U. A.298 Auf eine Unterstützung dieser Ziele lief auch ein von Johannes Haller vorbereiteter Aufruf hinaus, der sich gegen die Friedensresolution des Reichstages wandte und diesem darüber hinaus das Recht bestritt, „den Volkswillen in unzweifelhafter Weise zum Ausdruck zu bringen.“ Mehr als 1000 Professoren und Dozenten erklärten sich durch ihre Unterschrift mit diesem Text einverstanden. Wieder war es Delbrück, der bereits im September von Hallers Vorbereitungen erfahren hatte und sich daran setzte, eine Gegenadresse zu organisieren299, die sich für die Friedensresolution und die Vermittlungsversuche des Papstes einsetzte. Gemeinsam mit dem deutschen Friedensangebot vom 12. Dezember 1916 stellten sie „eine geeignete Verhandlungsgrundlage“ dar, „um einen die Sicherheit, Ehre und eine große 295
Harnack an Rade am 22.8.1917, in: BwR 748. Harnack an Anna Harnack am 7.10.1917, in: Nl. Harnack 217. 297 Harnack an Elisabet von Harnack am 1.9.1917, in: SBB-PK, Nl. E. von Harnack, Nr. 592 a. 298 Vgl. Hagenlücke (Anm. 108), 143–164. 299 Vgl. Döring (Anm. 285), 45–48. 296
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nationale Zukunft Deutschlands gewährleistenden Frieden zu erreichen.“ Zu den Unterzeichnern des Begleitschreibens, mit dem für Unterschriften geworben wurde, gehörte wiederum der Kern des „Mittwochabend“, nämlich Delbrück, Harnack, Meinecke und Troeltsch. Zugleich zeigte dieses Schreiben deutlicher als der an den Reichskanzler adressierte Aufruf die Stoßrichtung des Unternehmens: „Es würde für die Gegenwart gefährlich sein und für die Zukunft die deutsche Gelehrtenwelt belasten, wenn sie sich einer unvermeidlichen Entwicklung entgegensetzen würde.“ Das war ebenso auf die Friedensfrage gemünzt wie auf die Wahlrechtsreform. Weiter hieß es: „Die Gegner eines Verständigungsfriedens dürfen es mit ihrer Agitation nicht dahin bringen, daß die Universitäten ganz auf ihrer Seite scheinen.“300 Tatsächlich war das Ergebnis aber ernüchternd, denn lediglich 49 Berliner Professoren entschlossen sich zur Unterschrift. Das war zwar ein relativ hoher Anteil an einer Universität, doch gelang es nicht – wie ursprünglich vorgesehen – Unterschriften von anderen Universitäten einzuholen.301 Delbrück veröffentlichte den Aufruf in den „Preußischen Jahrbüchern“ und verband das mit Attacken gegen die Vaterlandspartei und einem nachhaltigen Plädoyer für eine deutsche Freigabeerklärung Belgiens. Scharfe Kritik übte er zugleich an Michaelis, der an der „Aufgabe eines deutschen Reichskanzlers […], nach außen den Frieden zu schaffen und zu diesem Zweck den Kampf nach innen aufzunehmen“ gescheitert sei. Produkt dieser verfehlten Politik war nach Delbrück letztlich auch die Vaterlandspartei, jene „unselige Partei, die da behauptet den Zwist verhindern und die nationale Einheit herstellen zu wollen, indem sie den anders Denkenden die vaterländische Gesinnung abspricht […].“302 Als Reaktion auf die Gründung der Vaterlandspartei erfolgte am 4. Dezember 1917 die Gründung des „Volksbundes für Freiheit und Vaterland“, dem führende Politiker der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses sowie die wichtigsten gemäßigten Professoren wie Delbrück, Meinecke und Troeltsch angehörten. Doch blieb dem Volksbund trotz seiner großen Mitgliederzahl, die v. a. auf der korporativen Mitgliedschaft der freien und der christlichen Gewerkschaften beruhte, kein dauerhafter Erfolg beschieden. Das lag nicht zuletzt an der Uneinigkeit über das konkrete Arbeitsprogramm dieser Organisation. Während Delbrück für einen Kampf „bis aufs Messer“ gegen Alldeutsche und Vaterlandspartei votierte303, bemühte sich Ernst 300
Anschreiben und Resolution in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Nr. 46, Mappe 8; Text auch in: PJ 170 (1917), 306. 301 Vgl. Delbrücks Brief an Valentini vom 12.10.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Valentini; immerhin gab es noch eine Kundgebung von 32 Heidelberger Hochschullehrern gegen die Vaterlandspartei. 302 PJ 170 (1917), 307. 303 Protokoll der Ausschußsitzung vom 26.1.1918, in: BA Berlin, Volksbund für Freiheit und Vaterland, Nr. 2, Bl. 45.
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Francke als Vorsitzender des VFV darum, eine solche Konfrontation zu vermeiden. Harnack selbst ist im Volksbund nicht an führender Stelle hervorgetreten, gehörte ihm aber seit dem 25. Januar 1918 als Mitglied an.304 Schon im September 1917 zeigte sich, daß Michaelis auch bei den Parteien des Reichstages seinen politischen Kredit aufgebraucht hatte. Schließlich verlangten die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses bei Valentini die Entlassung des Kanzlers und die Ernennung eines Nachfolgers, der sein Programm und seine Regierungsmannschaft mit ihnen abstimmen sollte.305 Delbrück trat spätestens seit September 1917 für eine Kanzlerschaft des Prinzen Max von Baden ein, den er schon während der Kanzlerkrise im Juli als möglichen Nachfolger Bethmann Hollwegs ins Spiel gebracht hatte.306 Als im Oktober endgültig klar war, daß Michaelis sich gegen die Mehrheit des Reichstages nicht mehr halten konnte, intervenierte er auch bei Valentini zugunsten einer Kanzlerschaft des Prinzen Max. „Die Abgeordneten“, so Delbrück, sprächen von Michaelis „nur noch im Ton des Spottes.“ Eine Kandidatur des Prinzen hatte nach Delbrück sowohl außen- als auch innenpolitische Vorteile. „Im Ausland ist der Prinz bekannt als Vertreter des Humanitätsgedankens, was in diesem Augenblick sehr wünschenswert ist.“ Daß diese Wirkung auf einen Verständigungsfrieden zielen sollte, zeigte die innenpolitische Komponente der Argumentation Delbrücks: „Im Reichstag würde die Linke und das Centrum ihn gut aufnehmen, weil er sich sofort als entschiedener Vertreter des Verständigungsfriedens bekennen würde.“ Hinzu kam als wichtiges Argument Delbrücks, daß eine Kandidatur des Prinzen, wenn sie von der Krone ausgehe, auch die Monarchie auf Dauer absichern würde. Sollte jedoch Michaelis zuvor durch ein klares Mißtrauensvotum des Reichstages geschwächt worden sein, bedeute das einen schweren Schaden für die Monarchie.307 Delbrück befürchtete den vollen Übergang zum parlamentarischen System mit Ministerverantwortlichkeit, was seiner weiter festgehaltenen Konzeption einer überparteilichen Beamtenregierung widersprach. Am 25. Oktober riet Delbrück Valentini erneut zum sofortigen Handeln, das auch seine „Gesinnungsgenossen“ – „Professor Meinecke, Professor Troeltsch und andere“, also wohl der „Mittwochabend“ – für nötig hielten. „Heute noch erscheint ein Kanzlerwechsel als ein freier Entschluß 304 Vgl. zum Volksbund Hagenlücke (Anm. 108), 362–371; vgl. zu Harnacks Position den Brief Ernst Franckes vom 7.12.1917, in: Nl. Harnack, K. 31, Korr. Francke, in dem er Harnack zum Eintritt in den beratenden Ausschuß aufforderte. Harnack gehörte diesem Ausschuß jedoch dann nicht an, wie die Mitgliederliste zeigt, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Meinecke Nr. 169; vgl. ferner das Protokoll der Vorstandssitzung vom 25.1.1918, in: BA Berlin, Volksbund Nr. 2, Bl. 50: „Geheimrat Troeltsch meldet als Mitglieder an: Geheimrat Prof. Dr. Waldeyer-Hartz und Geheimrat Harnack.“ 305 Vgl. Nipperdey: Geschichte. Band 2 (Anm. 27), 844f. 306 Vgl. Delbrück an Max Lenz am 12. und 19.7.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Lenz. 307 Delbrück an Valentini am 12.10.1917, in: aaO., Briefkonzepte Valentini.
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der Krone, schon in ein oder zwei Wochen würde er es nicht mehr sein. Die Fraktionen können sich diesen Zustand nicht länger gefallen lassen.“308 Auch Harnack wurde bei der Suche nach einem Nachfolger für Michaelis aktiv. In einem Brief an Valentini legte er zwar Wert auf die Feststellung, seinen Vorstoß nicht direkt mit Delbrück abgesprochen zu haben, doch lassen sich die starken Einflüsse der Überlegungen Delbrücks kaum leugnen. Trotz der Erfolge im Osten, so Harnack „stehen wir im Innern in der ernstesten Krise. Wird sie nicht befriedigend überwunden, so besteht unabsehbare Gefahr nicht nur im Innern, sondern auch für die endgültige Fortsetzung d. Krieges.“ Harnack schloß aus dieser Lage: „Nach Überlieferung und geschichtlichem Studium darf ich mich als einen durch und durch konservativen Mann bezeichnen; aber mir ist eben als solchem gewiß, daß jetzt die Stunde geschlagen hat, die Stein-Hardenbergsche Reform zu Ende zu führen. Denn nur unter diesem Gesichtspunkt vermag ich die innere Lage zu beurteilen.“309 Ganz ähnlich wie Delbrück legte auch Harnack darauf Wert, daß die Initiative dazu von Seiten der Regierung ausgehen müßte, hatte dabei aber eher die außenpolitischen Wirkungen im Blick. Die Reformen sollten im Ausland als freiwillige, nicht erzwungene Maßnahmen aufgenommen werden. Für Harnack stand wieder die Wahlrechtsreform an erster Stelle, wenngleich es auch ihm dabei um die „Vermeidung des Parlamentarismus“ ging, die er jetzt nur noch durch das Zusammengehen mit der Parlamentsmehrheit unter Führung eines starken Kanzlers für möglich hielt. Für den Fall einer Verzögerung dieser notwendigen Reform malte Harnack ein düsteres Bild, da die Sozialdemokraten, „denen man tiefen Patriotismus nicht absprechen kann und die selbst in der Tiefe ihr preußisch-monarchisches Herz entdeckt haben“, dann die Massen nicht mehr bei sich halten könnten. Er befürchtete nicht weniger als die Revolution, wofür ihm möglicherweise die Vorgänge in Rußland ein mahnendes Beispiel lieferten. „Unaufhaltsam werden die Massen Ledebour zuströmen; was aber dann in Bezug auf die Kriegskredite u. alle Folgeerscheinungen werden wird, dafür braucht es keinen Propheten.“ Nochmals bemühte sich Harnack, die Wahlrechtsreform als logische Konsequenz der Entwicklung Preußens darzustellen. Sie bedeute „den großen Schlußpunkt zur inneren Entwicklung Preußens seit einem Jahrhundert“, durch den der Thron nicht erschüttert, sondern stabilisiert“ werde.310 Sodann kam Harnack auf die möglichen Kanzlerkandidaten zu sprechen, wobei er davon ausging, daß die Kandidaturen des Prinzen Max, des Staatssekretärs von Kühlmann und des Grafen Hertling bei Hofe nicht mehr in Frage kamen.311 Die verbliebenen Kandidaten, darunter Fürst Bern308
Delbrück an Valentini am 25.10. bzw. 30.10.1917, in: aaO. Harnack an Valentini am 30.10.1917, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini Nr. 7 (Entwurf auch in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini). 310 Ebd. 311 Harnack an Valentini am 5.11.1917, in: aaO. 309
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hard von Bülow, der alle Register zog, um erneut ins Reichskanzlerpalais einzuziehen, lehnte Harnack ab. Zwei Personen kamen seines Erachtens für die von ihm skizzierten Maßnahmen in Betracht, nämlich der deutsche Botschafter in Dänemark, Graf Rantzau, und der Kolonialstaatssekretär Wilhelm Solf, ein Mitglied des „Mittwochabend.“ Beide würden seiner „Kenntniß nach im Innern die stärkste Unterstützung finden“ und beide seien Preußen, „denn die Wahlreform darf nur ein Preuße machen.“312 Delbrücks und Harnacks Bemühungen blieben ohne Erfolg. Am 1. November wurde der bayerische Ministerpräsident Graf Hertling zum neuen Kanzler ernannt. Valentini versicherte Delbrück am 3. November, er habe dessen Kandidaten, „der auch mir sehr einleuchtete […] lebhaft propagiert – aber ohne jeden Erfolg“, bemühte sich aber zugleich, die Vorzüge des neuen Kanzlers zu erläutern, der „den festen Rückhalt einer großen Partei habe“ und außenpolitisch „dem wilden alldeutschen Treiben so fern wie nur möglich steht.“ Zudem habe schon Bethmann Hollweg bei seinem Rücktritt für Hertling votiert, so daß die Verpflichtung des neuen Kanzlers auf die Politik seines Vorvorgängers gewährleistet sei. Die gleichen Argumente führte Valentini auch Harnack gegenüber ins Feld.313 Delbrück nahm die Ernennung Hertlings zurückhaltend auf und votierte jetzt wenigstens für einen Kompromiß zwischen Kanzler und Parlament bei der Bestellung der Staatssekretäre. Zugleich warnte er vor einem erneuten Konfrontationskurs gegenüber dem Parlament: „Kommt der Kompromiss jetzt nicht zustande, so sehe ich nicht, wie wir dem Verderben entgehen können. Dann kommt der Konflikt, die Militärdiktatur und da wir mit dieser den Krieg nicht gewinnen können, verlieren wir ihn.“314 Dem Historiker Gustav Roloff schrieb er, man müsse sich mit Hertling abfinden, „es hätte schlimmer kommen können.“315 Harnack kommentierte die Ernennung Hertlings, die ihm „unter den gegebenen Umständen sehr wohl motiviert“ erschien, allenfalls halbherzig. Immerhin versprach er Valentini, er werde sich bemühen, in seinen Kreisen „Argwohn und Mißtrauen zu zerstreuen“, band dies aber an die Hoffnung, „daß die Amtsführung des Grafen mir dabei helfen möge.“316 Interessant für die Beurteilung der Haltung Harnacks im Herbst 1917 sind auch seine Schriften zum 400. Jahrestag der Reformation. Sie stellen einen bemerkenswerten Sonderfall in der „literarischen Materialschlacht“ (Günter Brakelmann) des Lutherjahres 1917 dar. Während die Mehrzahl der Veröf312
Harnack an Valentini am 30.10.1917, in: aaO. Valentini am 3.11.1917 an Delbrück, in: SBB-PK, Nl. Delbrück (dort das Zitat) bzw. am 3.11.1917 an Harnack, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Valentini. 314 Delbrück an Valentini am 7.11.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Valentini. 315 Delbrück an Roloff am 5.11.1917, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Roloff, vgl. auch PJ 170 (1917), 441–445. 316 Harnack an Valentini am 5.11.1917, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini, Nr. 7. 313
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fentlichungen von Pfarrern, Theologieprofessoren und Profanhistorikern ein nationalistisches Lutherbild entwarfen und den „deutschen Luther“ zur Symbolgestalt des Kampfes gegen England stilisierten, gehörten Harnacks Ausführungen zusammen mit denen Otto Scheels oder Ernst Troeltschs, aber auch Karl Holls, zu den wenigen Stimmen, die den nationalkonservativen Lutherkult aufbrachen.317 Harnack verfaßte die Luther-Festschrift der Stadt Berlin. Sie zeichnete vornehmlich die religiöse Entwicklung des Reformators und seiner Kämpfe nach, sparte aber auch nicht mit Kritik an Leben und Lehre Luthers, wie sie Harnack bereits in seiner „Dogmengeschichte“ geäußert hatte. Luther wurde als die das Gewissen des Einzelnen befreiende religiöse Persönlichkeit dargestellt, die sich besonders auf innere Kräfte habe stützen können. Der Krieg schien nur in der Formulierung auf, daß diese Güter trotz des „ungeheuren Weltkrieg[s]“ nicht verloren gehen dürften.318 In einer ausführlichen Darstellung in der „Internationalen Monatsschrift“ wandte sich Harnack ausdrücklich gegen eine nationale Verengung Luthers, wie sie die Formulierung „Luther der Deutsche“ beinhaltete. Zwar lasse sich die Person Luthers nicht von seiner Nation lösen, aber „das, was den Kern seines Wesens bildet, war etwas Universales, das nachzuerleben auch ein Nichtdeutscher befähigt ist.“319 Tatsächlich spricht Harnacks Lutherdeutung, die sowohl von Nationalismus als auch Konfessionalismus frei war, für die These Brakelmanns vom Lutherjahr 1917 als Gradmesser der theologischen und politischen Spaltung des deutschen Protestantismus. Die politischen Optionen Seebergs auf der einen oder Harnacks auf der anderen Seite spiegelten sich wider in ihren Lutherdeutungen.320
4.2. Der Sturz Valentinis und das Scheitern der gouvernementalen Gelehrtenpolitik Da Harnack und Delbrück weder mit der Politik des Grafen Hertling übereinstimmten, noch persönlichen Zugang zu ihm fanden, blieb auch weiterhin Rudolf von Valentini ihr wichtigster Gesprächspartner. Um so nervöser reagierten sie auf Gerüchte über seine mögliche Absetzung. So warnte Delbrück auch im Namen Harnacks, mit dem er den Vorgang besprochen hatte, Valentini am 17. Dezember vor gegen ihn gerichteten Intrigen, hinter denen er den Kronprinzen vermutete.321 Valentinis Antwort 317
Günter Brakelmann: Das Lutherjahr 1917, unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages vom 14.12.1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin, 16. 318 Martin Luther und die Grundlegung der Reformation, Berlin 1917, 3. 319 Die Reformation und ihre Voraussetzung, in: IM 11 (1917), 1281–1363, auch in: RANF 4, 72–140, 135. 320 Brakelmann: Lutherjahr (Anm. 317), 27f. 321 Delbrück an Valentini am 17.12.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Valentini.
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zeigte das Ausmaß der Gefahr, wenn er die Gerüchte nicht nur bestätigte, sondern hinzufügen mußte, daß diese „noch viel gravierender seien“ als von Delbrück und Harnack angenommen.322 Tatsächlich wurde Valentini am 18. Januar 1918 auf Drängen der Obersten Heeresleitung aus seinem Amt entlassen. An seine Stelle rückte der streng konservativ eingestellte Friedrich von Berg. Harnack dankte dem entlassenen Kabinettschef noch am gleichen Tag für seine Arbeit: „Es war mir eine stets fortwirkende Beruhigung, an dieser Stelle einen Mann von Ihrer Gesinnung, Ihren Richtlinien und Ihrem Charakter zu wissen.“ Dabei war sich Harnack über die Gründe, die zum Sturz Valentinis geführt hatten, durchaus im klaren und verband das mit einer gewissen Sorge über die weitere innenpolitische Entwicklung: „Da ich befürchten muß, daß eben diese Eigenschaften den Rücktritt Ew. Exzellenz verursacht haben, so ist mein Schmerz und meine Sorge doppelt groß […]; aber die Aufgabe selbst ist weiter gestellt – wie wird sie in Zukunft gelöst werden?“323 Der Sturz Valentinis bedeutete den Abschluß einer seit Januar 1917 anhaltenden Entwicklung, durch die der Einfluß der im „Mittwochabend“ vereinten Gemäßigten mehr und mehr zurückging. Schon die Entscheidung für den uneingeschränkten U-Bootkrieg im Januar 1917 hatte die letztlich geringen Wirkungsmöglichkeiten dieses Kreises offenbart, wenn es um eine Auseinandersetzung mit der militärischen Führung ging, der auch Bethmann Hollweg zu wenig Widerstand entgegensetzte. Der Sturz Bethmann Hollwegs beraubte diese Gruppe ihrer begrenzten Einflußmöglichkeiten auf die Politik der zivilen Reichsleitung weitgehend. Letztlich krankten auch diese Versuche an dem Nebeneinander von ziviler und militärischer Führung. Einfluß auf die militärische Führung zu nehmen, gelang Delbrück und seinen Freunden letztlich nie, und das unterschied sie vom Unabhängigen Ausschuß und von der Vaterlandspartei, die mit dem Oberst Bauer über einen Verbindungsmann bei der OHL verfügten, der spätestens seit Juli 1917 in ihrem Sinne wirkte. Während der Einfluß der Delbrück-Gruppe seit Juli 1917 massiv zurückging, verstärkten sich die Bande zwischen Schäfer und der OHL.324 Mit dem Rücktritt Bethmann Hollwegs blieb als Verbindungsinstanz zur Reichsleitung lediglich Rudolf von Valentini, der neben Wilhelm Solf den Vorstellungen Delbrücks und Harnacks recht nahe stand. Die Bemühungen um eine Kanzlerschaft Max von Badens, der ja durch Kurt Hahn in direktem Kontakt mit dem „Mittwochabend“ stand, oder wenigstens Wilhelm Solfs Ende Oktober 1917, stellten den Versuch dar, den verlorenen Einfluß wie322
Valentini an Delbrück am 18.12.1917, in: aaO., Korr. Valentini. Harnack an Valentini am 18.1.1918, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Valentini, Nr. 7. 324 Vgl. Eberhard Vietsch: Bethmann Hollweg, Staatsmann zwischen Macht und Ethos, Boppard 1969, 281; zu Schäfers Beziehungen zur OHL Schwabe: Wissenschaft (Anm. 28), 159f. 323
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derherzustellen, um durch innere Reformen und Friedensbemühungen die befürchtete innenpolitische Katastrophe abzuwenden. Dieser Versuch mißlang trotz der Unterstützung Valentinis. Mit dessen Sturz verlor der „Mittwochabend“ den letzten Zugang zu den wichtigsten Vertretern der Reichsleitung. Die Hoffnungen auf Kühlmann erfüllten sich nicht. Zwar bemühten sich Meinecke und Delbrück, ihn für ihre Vorstellungen zu gewinnen. Doch gelang es weder Meinecke noch Delbrück, bei Kühlmann eine Freigabeerklärung bezüglich Belgiens zu erreichen.325 Das gouvernementale Konzept der Gemäßigten und ihr Vertrauen in eine überparteiliche Beamtenregierung, aus dem die Vorbehalte gegen einen reinen Parlamentarismus herrührten, erwiesen sich als überlebt, während das Konzept der politischen Rechten, durch Massenagitation und Kontakte zur militärischen Führung Einfluß auszuüben, wesentlich moderner erschien. Die vielfach beschworene „öffentliche Meinung“ war der Gruppe um Delbrück zu einem nicht geringen Teil entglitten, ebenso waren ihre Partner auf Seiten des Gouvernements verloren gegangen. Das bedeutete nichts anderes als die „Entgouvernementalisierung der Gouvernementalen“, von denen viele nun durch die Beteiligung am Volksbund zu wirken suchten, doch auch dies blieb, wie das Schicksal dieser Organisation bewies, ohne großen Erfolg. Hinzu kam, daß Delbrücks und Harnacks Einfluß auf Bethmann Hollweg und Valentini gleichfalls eng begrenzt blieb und sie im Kalkül von Kanzler und Kabinettschef wohl auch als Stichwortgeber in den Auseinandersetzungen innerhalb der Reichsleitung instrumentalisiert wurden. Ihr Renommee sollte zugleich beschwichtigend auf die öffentliche Meinung einwirken. Angeforderte Denkschriften und Gutachten suggerierten den Gelehrten eine Bedeutung, die sich nur äußerst begrenzt in den politischen Entscheidungen widerspiegelte. Stellte Bethmanns Rede vom November 1916 einen sichtbaren Erfolg Delbrücks dar, so blieb Harnacks Reformdenkschrift vom gleichen Jahr ohne wirkliche Resonanz. Erst Ende Juni 1917 wies der Kanzler seinen Mitarbeiter Wahnschaffe zu einer genaueren Prüfung der Vorschläge Harnacks von 1916 an.326 Die Wirkungsmöglichkeiten Harnacks und Delbrücks blieben bis in den September 1918 hinein beschränkt. Delbrück konzentrierte sich auf die Kommentierung des politischen Zeitgeschehens, die Mitarbeit im Volksbund und die Organisation des publizistischen Kampfes gegen die Alldeutschen in dem seit Ende 1916 von ihm maßgeblich konzipierten und unterstützen „Agitationsbüro Hobohm.“ Dabei trat er nach dem Frieden von Brest-Litowsk insbesondere für die Beibehaltung der Friedensresolution 325 Zu Meinecke vgl. Meineke (Anm. 14), 262f., zu Delbrück vgl. den Brief an Valentini vom 17.12.1917, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte Valentini, in dem er über ein entsprechendes Gespräch mit dem Außenstaatssekretär berichtete. 326 Vgl. die Kommentierungen Wahnschaffes vom 22.6.1917 in: BA Berlin, AdR-Rk, Nr. 2446, Bl. 100–101.
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vom Juli 1917 ein und forderte eine deutsche Erklärung zum Verzicht auf jede direkte und indirekte Beherrschung Belgiens. Auch die Durchführung der Wahlreform blieb ständiges Thema der Publizistik Delbrücks, der zugleich daran erinnerte, daß bei einer weiteren Verzögerung diese Reform „hoffentlich nicht zu spät“ kommt. Wilhelm Solf und Prinz Max von Baden repräsentierten für ihn das „wahre alte Deutschland“, das „im nationalen Gedanken das Weltbürgertum nicht aus dem Auge verlor.“327 Auch Harnacks politische Lagebeurteilung war im letzten Kriegsjahr eher resignativ gestimmt. Immerhin setzte er noch einiges Vertrauen in von Kühlmann, meinte aber Rade gegenüber, ansonsten möge er sich lieber nicht zur Politik äußern, „denn wo sollte man anfangen!“328 Im Juni 1918 klagte er über die Verschleppung der preußischen Wahlrechtsvorlage, die „von den Konservativen schandhaft obstruirt wird.“329 Im Mittelpunkt der Überlegungen Harnacks standen 1918 besonders drei Punkte, nämlich die religiöse Bilanz des Krieges, Hoffnungen auf ein neues, dauerhaftes Verhältnis der Völker nach dem Kriege zueinander, wobei Delbrücks „realpolitischer Pazifismus“ diese Überlegungen beherrschte, und schließlich die Zukunft des Baltikums. Da dieses letzte Thema bereits behandelt wurde, sei nur noch einmal daran erinnert, daß Harnack dabei die kulturellen Aufgaben betonte, während sich Spekulationen über einen Anschluß an Deutschland oder über ein in Personalunion mit dem Reich stehendes „Herzogtum Großlivland“, das Delbrück im März 1918 vorschwebte, nicht nachweisen lassen.330 Harnacks Überlegungen zum religiösen Ertrag des Weltkrieges, die er Ende März 1918 veröffentlichte331, dokumentierten seinen Wunsch nach einem baldigen Kriegsende. Sie stehen zugleich in scharfem Kontrast zu den Ausführungen von 1914 und lassen sich, wenn nicht als Widerruf, so doch als deutliche Selbstkorrektur lesen. Zwar hielt er daran fest, daß ein Krieg „ideale Kräfte einer Nation“ zu entfesseln vermöge, fügte dem aber sofort die Feststellung hinzu: „Aber – der lange, lange Krieg wirkt wie ein überheißer Sommer.“ Daraus resultierte insgesamt eine negative Bilanz, da der Krieg „vieles im Innern des Menschen zerstört, was mühsam nach dem Kriege wieder aufgebaut werden muß.“ Damit waren auch alle Überlegungen zu einer sittlich reinigenden Wirkung des Krieges obsolet geworden: „Es ist alles und mit allen Nuancen wieder, wie es vor dem Krieg war, nur ist jede Nuance schärfer ausgeprägt als früher.“332 Den Krieg konnte er nur noch als 327
PJ 171 (1918), 132. Harnack an Rade am 14.1.1918, in: BwR 753. 329 Harnack an Elisabeth von Harnack am 5.6.1918, in: SBB-PK, Nl. E. von Harnack, Nr. 592 a. 330 Vgl. PJ 172 (1918), 144f. 331 Die Religion im Weltkriege, in: Neue Freie Presse Nr. 19252 vom 31.3.1918, auch in: RANF 4, 306–314, 332 AaO., 309. 328
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die furchtbarste „Katastrophe der Geschichte, wie sie bis jetzt unerhört war, solange es eine Geschichte der Menschheit gibt“, deuten. Ihr gegenüber setzte Harnack auf eine religiöse Stärkung des „inwendigen Menschen“, die er theologisch vermehrt reflektierte.333 Lediglich den „demokratischen Zug, der infolge des Krieges durch die Völker geht“, vermochte Harnack noch positiv zu bewerten.334 Bemerkenswert sind auch Harnacks Äußerungen zu einem neuen dauerhaften Verhältnis der Völker zueinander, zumal sie Ende März 1918 erfolgten, zu einer Zeit also, in der mit dem Frieden von Brest-Litowsk das annexionistische Lager erneut stärker geworden war. Harnack bekannte sich dabei zu einem „edlen Pazifismus“, der den Krieg nicht prinzipiell ausschließt, aber nur zur Waffe greift, „um den Bruder, Weib und Kind und das Vaterland zu schützen.“ Dagegen bezeichnete er die „Waffe, die zu Eroberungen und Unterdrückungen ergriffen wird“ als „verfemt.“335 Das war direkt gegen die Befürworter eines Siegfriedens gerichtet. Dagegen votierte Harnack eindringlich für eine Verbesserung und konsequenten Ausbau des Völkerrechts nach dem Krieg. Bereits im Januar 1918 hatte Harnack diese Position in einem Brief an seinen Neffen Roderich von Engelhardt vertreten. Darin entwarf er drei mögliche Zukunftsaussichten, nämlich „(1) Möglichste Wiederaufrichtung des alten europäischen ‚Gleichgewichts‘, (2) Weltimperialimus eines Staates, also des Deutschen, (3) Anbahnung eines ganz neuen Verhältnisses höherer Art zwischen den Nationen, Schiedsgericht, Abrüstung, Pazifismus, Bruderbund.“ Harnack plädierte für eine Kombination von (1) und (3), während er die Möglichkeit (2) als „Parole der Kurzsichtigen“ verwarf, und erklärte: „Ich will unter tunlichstem Anschluss an die europäischen Gleichgewichtszustände vor dem Kriege […] auf die Linie der Verbesserung des Völkerrechts u. der friedlichen Völkerverbindung treten u. dabei Deutschland an der Front der Bewegung erblicken.“336 Dieser Auffassung entsprachen die Erwartungen Harnacks an einen möglichen Friedensvertrag, der Deutschlands Position nicht nur sichern, sondern auch „eine neue Stufe in der Geschichte des Völkerrechts u. des Völkerverkehrs“ darstellen sollte.337
333 Vgl. etwa Vom inwendigen Menschen. Predigt im akademischen Gottesdienst gehalten am 28. Juli 1918, in: RANF 4, 392–402, 393f. Aufschlußreich dazu sind auch die biblischen Betrachtungen Harnacks aus den Jahren 1916/17 unter dem Titel Vom inwendigen Leben. Betrachtungen über Bibelworte und freie Texte, Heilbronn 1931. 334 RANF 4, 310. 335 AaO., 312–314. 336 Harnack an Engelhardt am 21.1.1918 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Engelhardt. Die Abschrift ist auf 1917 datiert, doch spricht die Erwähnung der im September 1917 gegründeten Vaterlandspartei für das Jahr 1918. 337 Harnack an Engelhardt am 19.10.1917, in: aaO.
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4.3. Anknüpfen an 1848? Harnack und die Oktoberreformen Max von Badens Mit dem Scheitern der deutschen Offensive in Belgien und Frankreich im August 1918 wurde auch Harnack klar, daß der Krieg nun endgültig nicht mehr zu gewinnen, die Niederlage vielmehr zu erwarten war, wenn nicht bald Friedensverhandlungen aufgenommen würden. Gleichwohl trafen auch Harnacks Befürchtungen noch nicht den vollen Ernst der Lage, wenn er noch Ende August seiner Zuversicht Ausdruck gab, daß „unser eiserner Wall nicht durchstoßen werden kann.“ Die Rede des Staatssekretärs Solf in der „Deutschen Gesellschaft 1914“ vom 20. August, in dem dieser die Freigabe Belgiens durch Deutschland für den Fall von Friedensverhandlungen zusagte, begrüßte Harnack nachhaltig: „Eine wahre Erquickung war mir vor einigen Tagen die Solf ’sche Rede. Wären nur schon früher von maßgeblicher Stelle solche Reden gehalten worden.“338 Auch Delbrück kommentierte Solfs Ausführungen mit Zustimmung und verband dies mit dem Hinweis auf eine ähnliche Rede des Prinzen Max anläßlich der Zentenarfeier der Badischen Verfassung.339 Die drohende militärische Niederlage Deutschlands, verbunden mit der Forderung der OHL nach einem sofortigen Waffenstillstand, führte schließlich zur Kanzlerschaft des Mannes, den Delbrück schon im Oktober 1917 für das Amt des Reichskanzlers vorgeschlagen hatte: Prinz Max von Baden.340 Mit seiner am 3. Oktober 1918 erfolgten Ernennung zum Reichskanzler gewann der „Mittwochabend“ um Delbrück, Harnack und Meinecke erneut direkten Zugang zur Reichsleitung. In einer ersten vorläufigen Kabinettsliste war Harnack sogar als Kultusminister vorgesehen.341 Tatsächlich waren die Ideen des neuen Kanzlers – Verständigungsfrieden und innere Reform – weitgehend auch die des „Mittwochabend“, zu dem der neue Regierungschef über seinen Vertrauten Kurt Hahn in Verbindung stand. So stellten sich Delbrück und Harnack sofort hinter die Politik des neuen Kanzlers, dessen „politische Informationen“, so Ernst Troeltsch auf einer Sitzung des „Mittwochabend“ vom 2. Oktober, „bisher aus unserem Kreise stammten.“ Nach Meinecke waren die Mitglieder des Mittwochabend – er sprach sogar vom „privaten Staatsrat“ des Kanzlers – nicht nur um die Unterstützung der Regierung nach innen bemüht, sondern auch außenpolitisch engagiert. So
338 Harnack am 24.8.1918 an Schmidt-Ott, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 339 PJ 173 (1918), 426–428; die Reden in: Schultheß 1918/I, 254–259 (Solf ) bzw. 261–264 (Max von Baden). 340 Vgl. zur Kanzlerschaft Max von Badens die Ausführungen bei: Nipperdey: Geschichte. Band 2 (Anm. 27), 862–876. 341 Max von Baden: Erinnerungen (Anm. 111), 320, Anm. 1.
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wurde die deutsche Antwort auf die Note Wilsons vom 8. Oktober vor ihrer Veröffentlichung in diesem Kreis diskutiert und korrigiert.342 Harnack begründete mit der Feststellung, daß er „in diesen Tagen ganz im Dienst des Vaterlandes“ stehe und daher Berlin nicht verlassen könne, die Absage seiner Teilnahme an der Leipziger Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses.343 In einem Grußwort forderte Harnack den Kongreß zur Beteiligung daran auf, das neue Deutschland „auf dem Grunde der Monarchie und der Volksfreiheit“ zu bauen. Er verband die Bejahung des politischen Umbruchs mit dem Versuch, diesen auch theologisch einzuholen, indem er den „sozialen Geist echter Freiheit und Brüderlichkeit“ und das Festhalten am „Evangelium“ anmahnte, in dessen Geist alles „Große und Gute, was wir von der Zukunft erwarten“, wurzle.344 Eine Stellungnahme für die Politik der neuen Regierung stellte auch Harnacks Moderation einer Versammlung von Vertretern der Vaterlandspartei und des Volksbundes dar, die auf Veranlassung des preußischen Kultusministers Friedrich Schmidt-Ott am 10. Oktober in der Königlichen Bibliothek stattfand. Zweck der Zusammenkunft, an der Admiral Tirpitz, Dietrich Schäfer, Eduard Meyer, Wolfgang Kapp und Reinhold Seeberg für die Vaterlandspartei, Ernst Francke, Adolf Grabowsky, Adam Stegerwald, Carl Legien und Ernst Troeltsch für den Volksbund teilnahmen, war die Frage, ob beide Seiten zu einem gemeinsamen Vorgehen für den Fall bereit seien, „daß unser Volk unter Abweisung der uns zugemuteten Friedensbedingungen zu einem letzten Entscheidungskampf aufgerufen werden müßte.“345 Harnack bemühte sich um Vermittlung zwischen beiden Seiten, stellte sich aber selbst klar hinter die Maßnahmen der neuen Regierung, deren „Grundzug […] etwas Neues und bleibendes bedeutet.“ Jeder müsse sich daher „für die neue parlamentarische Regierungsform“ erklären. Zugleich war nach Harnack die „innere Neugestaltung von der Haltung nach Außen“ nicht zu trennen. „Hier muß von Vielen das Opfer der Überzeugung gefordert werden.“346 Damit verwies Harnack nachdrücklich darauf, daß die Parlamentarisierung des Reiches die unumgehbare Voraussetzung für einen halbwegs verträglichen Frieden darstellte. Aber sein eindringlicher Appell an die Anwesenden, „so weit sie irgend können, hinter die Regierung zu treten“, blieb angesichts des Widerstands der politischen Rechten wirkungslos.347
342
Meinecke: Straßburg (Anm. 111), 266 bzw. 270. Harnack an Schneemelcher am 11.10.1918, in: ESK-Archiv, A III 2, Bl. 52f. 344 VESK 27 (1918), 1f. 345 Protokoll der Sitzung bei Günter Brakelmann: Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, Witten 1974, 297–308, 298; vgl. auch Schäfer: Leben (Anm. 167), 226f., und Hagenlücke (Anm. 108), 370f. 346 AaO., 303f. 347 AaO., 306. 343
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V. Harnack im Ersten Weltkrieg
Harnacks Einschätzung der Situation Deutschlands läßt sich aus einer Postkarte an seine Schülerin Else Zurhellen-Pfleiderer vom 31. Oktober 1918 ersehen. Harnack bemühte sich darin um eine historische Einordnung des Geschehens und kam zu dem Schluß: „[…] das alles, was wir erlebt haben u. an Verlusten u. Demütigungen noch zu erleben haben, war nötig, um aus dem Obrigkeitsstaat in den Freiheits- und Volksstaat zu kommen.“ Hatte er 1917 noch an die Stein-Hardenbergischen Reformen erinnert, die es zu Ende zu führen gelte, so interpretierte er die Demokratisierung des Reiches nun als notwendiges Wiederanknüpfen an „1848 […] nach einer teils notwendigen, teils verschuldeten Etappe.“ Harnack verband das Votum für die „neuen demokratischen Formen“ mit der Feststellung, daß sie ergänzt werden müßten durch die konsequente Abkehr von „dem nationalistischen Hochmut, dem Mammonismus u. der Ideen- u. Gottlosigkeit.“ Damit waren zugleich die theologischen Stichworte gegeben, mit denen Harnack die politische und gesellschaftliche Krise zu bewältigen versuchte. Als dringende Aufgabe der nächsten Zeit gab Harnack die Überwindung des Mangels an „Friedfertigkeit, Humanität, […] Wahrhaftigkeit u. Zuverlässigkeit“ an, die der Krieg offenbart habe. Dringend erschien es ihm ferner, die politisch Hauptschuldigen an dieser Entwicklung „tatsächlich zu Macht- und Einflußlosigkeit zu bringen.“348 Hauptschuldig sei besonders die „Oberste Heeresund Marineleitung […], die 1 1/2 Jahre hindurch allen Ermahnungen, Frieden zu schließen, Widerstand entgegensetzte und im Bunde mit Alldeutschen und Annexionisten Jeden mundtot machte, der erklärte, wir seien trotz aller Eroberungen (im Osten) in der Hinterhand, die Zeit arbeite für die Gegner und wir müßten auf der Höhe unserer unsoliden Erfolge einen Frieden mit Opfern anbieten.“349 Ebenso wie Delbrück hoffte Harnack noch Anfang November, daß durch die Reformen die Monarchie selbst noch erhalten bleiben könnte: „res publica mortiferum vulnus acciperet, si consilia antimonarchica obtinerent.“ Insgesamt bemühe er sich weiter um eine möglichst optimistische Betrachtung der Lage und halte es mit einem Ausspruch Luthers „wenn nicht geschieht, was wir wünschen, wird Besseres geschehen als was wir wünschen“, notierte er Anfang November. Doch setze dieser Ausspruch voraus, „daß große gottvertrauende u. sittliche Kräfte noch in unserm Volk leben.“ Dabei bezog er sich explizit auf seinen Brief über die Unterredung mit Bethmann Hollweg vom Juni 1917, dessen Veröffentlichung er nun erwog, da die darin geäußerten Befürchtungen sich nun bestätigt hatten.350 Gleichwohl dürfte auch Harnack zu dieser Zeit klar gewesen sein, daß die Monarchie nur noch durch einen Thronverzicht des Kaisers und des Kronprinzen zu retten war. 348 349 350
Harnack an Else Zurhellen-Pfleiderer am 31.10.1918, in: BwZP 136. Harnack an Bertha Thiersch am 31.10.1918, zitiert nach: ZH 373f. Harnack an Loofs am 5.11.1918, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 1656.
4. Die Gemäßigten im letzten Kriegsjahr
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Darauf läßt ein Brief seines Schwagers Hermann Rassow an den Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts Clemens von Delbrück schließen, der diesen namens des „Mittwochabend“ von der Dringlichkeit eines solchen Schrittes als letzter Möglichkeit zur Rettung der Monarchie zu überzeugen versuchte.351 Die Hoffnungen auf eine Rettung der Monarchie durch „Demokratisierung, Unterordnung der militärischen Gewalt unter die bürgerliche und Überordnung des Reichstages über das Kaisertum“ erfüllten sich nicht.352 Das Reformprogramm des Prinzen Max kam zu spät, um noch irgendwie wirken zu können. Zudem war es noch mit zahlreichen Halbheiten belastet und stand auf tönernen Füßen, wie der Befehl der Marineleitung zum Auslaufen der deutschen Kriegsflotte bewies, der gegen den Willen der Regierung erfolgte und die Revolte der Matrosen auslöste. Insofern ist der These Golo Manns zu widersprechen, der angesichts der Reformpolitik des Prinzen Max der Revolution attestierte, sie sei „historisch sinnlos“ gewesen, „denn das, was die Leute wollten, hatten sie schon oder hätten es demnächst bekommen.“ 353 Die Revolution mag verfassungsrechtlich unnötig gewesen sein, politisch war sie es nicht. Manns Ausführungen sind weniger als politisch-historische These, wohl aber als Umschreibung der Auffassung der Revolution auf Seiten von Harnack und Delbrück brauchbar. In ihrer Perspektive war die Revolution mit der weitgehenden Umsetzung des Reformprogramms tatsächlich unnötig. Überaus deutlich wird diese Sichtweise an Troeltschs Schilderung von Delbrücks Feier seines 70. Geburtstags am 11. November, dem Tag des Waffenstillstands, die mehr einer Trauerfeier für die untergegangene Monarchie entsprach: „Der Glück wünschende Redner fand vor Tränen die Worte nicht. Delbrück erwiderte ergreifend, es sei das Ende der Fridericianischen Monarchie, mit der all sein politisches Denken und jeder Glaube an Deutschlands Zukunft verwachsen sei.“354
351 Hermann Rassow an Clemens von Delbrück am 31.10.1918, GStA-PK I. HA, Rep. 89, Nr. 32411, Bl. 125f. 352 So Delbrück in: PJ 174 (1918), 284. 353 So Golo Mann in seiner Einleitung zu Prinz Max von Baden: Erinnerungen (Anm. 111), 48. Vgl. dagegen Nipperdey: Geschichte. Band 2 (Anm. 27), 868–871, und Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 13–32. 354 Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik. Spectator in Berlin 1918– 1922, Frankfurt/Main 1994, 10; vgl. auch Delbrücks Ausführungen in: PJ 174 (1918), 424–445.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
VI. Der konservative Republikaner: Harnack und die erste deutsche Demokratie 1. Revolution und Friedensschluß: Harnack im ersten Jahr der Republik 1.1. Der Sinn der Geschichte: Harnacks Deutung der Revolution als Übergang zu Demokratie und Sozialismus Die politische Ratlosigkeit angesichts der Novemberrevolution führte bei Harnack zunächst zu publizistischer Abstinenz, die er bis zur Wahl der Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 übte. Harnack äußerte sich im Juli 1919 über sein Verhalten in den letzten Kriegsjahren sowie nach Ausbruch der Revolution: „In der zweiten Hälfte des Krieges und während der Revolution bin ich sehr häufig gebeten worden, öffentlich zu sprechen. Aber ich hätte doch nicht aus dem vollen sprechen können. Mit der politischen Art der Kriegführung war ich nicht einverstanden, denn ich sah darin die Vorzeichen einer notwendig heraufziehenden Niederlage. Ich war der Meinung, daß der Krieg ausschließlich als Verteidigungskrieg zu führen sei, daß nichts unversucht bleiben dürfte für ein aufrichtiges, unzweideutiges Friedensangebot. Ich habe das überall – an den entscheidenden Stellen – zum Ausdruck gebracht, auch an den höchsten Stellen. Aber öffentlich agitieren wollte und konnte ich nicht. In mein eigenes, heute noch geliebtes und heilig gehaltenes Vaterland, Livland, konnte ich nicht gehen. Ich war sicher, daß wir in diesem Kriege diese Provinzen nie bekommen würden, da die Politik, die wir mit den Deutschen, Esten und Letten trieben, keine richtige war. Dann kam die Revolutionszeit. Ich wußte selbst nicht aus noch ein, was der Sinn dieser Sache sei, wie dieses ungeheure Stück Geschichte sich an die früheren Stücke anlehne. Man soll nur sprechen, wenn man etwas zu sagen hat, was Unsicherheit benehmen und Schwachheit stärken kann.“ 1 Harnacks rückblickende Worte legen eine tiefe Verunsicherung des Historikers über den Sinn der erlebten Geschehnisse offen. Die Revolution mußte Harnack zumindest zunächst überflüssig vorkommen, waren seiner 1 Krieg, Urchristentum und Sozialismus. Aus einem Vortrag, gehalten im Verein christlicher Studenten, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 331 vom 13.7.1919.
1. Revolution und Friedensschluß
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Meinung nach mit der Regierung des Prinzen Max doch die wesentlichen Reformschritte, für die er selbst geworben hatte, umgesetzt worden. Harnacks Äußerungen der folgenden Jahre kreisten zentral um die Frage des historischen Sinns der Ereignisse, um sie dem eigenen entwicklungsgeschichtlichen Denken zuordnen zu können. Hinzu kam der Verlust der monarchischen Staatsform, deren Rettung zu den Zielen seiner Kriegsaktivitäten gezählt hatte. Noch im Januar 1921 klagte er vor Mitarbeitern der Staatsbibliothek: „Ich denke hier an die Sache, aber ich denke auch an den letzten Träger der Krone, der uns mehr als 25 Jahre den Frieden erhalten hat, dessen Absichten mit seinem Volke gute und lautere waren.“ Harnack fügte jedoch gleich hinzu, dieses Bedauern rühre nicht aus historischen oder bloß romantischen Motiven her, sondern aus der Überzeugung, daß „die Verantwortung, die die Staatsform der Republik dem Bürger auferlegt, eine so viel größere ist.“ Besorgt über die dem deutschen Volk möglicherweise fehlende politische Reife, schloß er die Frage an: „Werden wir sie tragen können?“2 Harnacks Versuche einer Deutung der Revolutionsereignisse vollzogen sich im Wesentlichen im Jahr 1919 und liegen mit zwei aus Vorträgen vom Sommer 1919 hervorgegangenen Texten sowie einer Predigt vom Februar 1919 vor.3 Sie sind zu ergänzen durch zwei unpublizierte Vorträge anläßlich des 50. Jahrestages der Reichsgründung 1921 sowie einer Feier zum vierten Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung 1923 in Hersfeld.4 Die Rekonstruktion dieser Deutung ist zunächst erforderlich, um dann auf Einzelheiten des politischen Engagements Harnacks nach 1918 einzugehen. Im Juli 1919 war Harnack sich bereits über die Haltlosigkeit jedes Restaurationsversuchs der alten Ordnung im Klaren: „Diejenigen, die die Parole ausgeben, wir Deutschen können nichts anderes tun, als uns auf das Zeitalter Bismarcks besinnen und es zurückführen, sage ich: diese Parole ist falsch.“ Neben den pragmatischen Willen, weiter wirken zu können, trat die Überlegung, daß die Einheit des Reiches nur durch unbedingte Treue zur faktisch vorhandenen Staatsordnung gewahrt werden könne: „Geblieben ist uns das Reich: wir müssen es halten, wir können es halten! Was haben wir zu tun? Treue halten! […] Wie hält man in der Geschichte Treue? […] Treue der Verfassung als zu dem Boden, auf dem wir stehen. So muß uns das Reich bleiben! “ 5 Die 2 Ansprache zum 18.1.1921 vor Mitarbeitern der Staatsbibliothek, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 97, Bl. 1. 3 Krieg (Anm. 1); Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet (1919), in: RANF 4, 321–324. Dieser Aufsatz bietet wesentliche Teile aus dem an erster Stelle genannten, stellt nach Harnack aber ein Resumé mehrerer Vorträge aus dem Jahr 1919 dar (RANF 4, 418) und wurde erstmals 1923 veröffentlicht; Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen. Predigt im akademischen Gottesdienst gehalten am 2. Februar 1919, in: RANF 4, 403–411. 4 Ansprache zum 18.1.1921; Demokratie und Nationalbewußtsein (Hersfeld 1.9. 1923), beide in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 100. 5 Ansprache, Bl. 2.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
Suche nach dem historischen Sinn der Ereignisse war dabei bereits im Sommer 1919 zu einem Ergebnis gekommen. Die Revolution markiere den notwendigen Übergang in das „Zeitalter der Demokratie und des Sozialismus.“6 Beschwörend fügte er hinzu: „Wir sind eingetreten in ein neues Zeitalter, oder die Geschichte hat überhaupt keinen Sinn.“ Das neue Zeitalter, so Harnack weiter, sei gekennzeichnet durch das „Aufhören der kapitalistisch-imperialistischen Organisation der Völker“, die die Ursache des Krieges gewesen sei und mit dem Frieden von Versailles einen letzten „Teufelssieg“ errungen habe. Die antikapitalistischen Reserven Harnacks traten dabei deutlich hervor – „unser Kapitalismus war böse“ –, wurden von ihm in den Folgejahren aber nicht mehr in dieser Schärfe wiederholt.7 Gleichzeitig bestand nach Harnack die Pflicht, bestimmte Güter der Vergangenheit in die neue Zeit hinüberzuretten: Nationalbewußtsein, Autorität, Organisation und der Persönlichkeitsgedanke. Auch müsse der Staat nach innen und außen seine Macht wahren und seine Interessen besonders gegen die Ansprüche der Wirtschaft vertreten können. Wichtig sei ferner ein Ausgleich von Kapital und Kultur. Eine allgemeine Gleichheit des Besitzes sei abzulehnen, gleichwohl aber ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit durch eine „ungeheuer scharf greifende Erbschaftssteuer“ herzustellen, die zudem für kulturelle Zwecke zu verwenden sei. Harnack griff damit seine Überlegungen von 1909 zur Reichsfinanzreform auf.8 Nationalbewußtsein und Machtstaatsgedanke waren Harnack zufolge aber zugleich abzufedern durch die Verbindung von „deutsche[m] Geist und Menschheitshorizont“9: „Aber das Nationale und das Internationale schließen sich nicht aus.“10 Genau hier lag nach Harnack neben Klassen- und Kastengeist sowie einer mangelhaften Auseinandersetzung mit „der Arbeiter- und Gewerkschaftsfrage“ ein entscheidender Fehler des Reiches von 1871. Die Ausbalancierung von Nationalgedanke und Kosmopolitismus war mißlungen: „Die nationale Idee ist eine herrliche Idee, aber von ihr allein kann unter den christlichen Völkern kein Volk leben. Es muß sich auch als Glied der Menschheit fühlen (Fichte); es muß, selbst eine zeitliche Schöpfung, seinen Ewigkeitsberuf empfinden, eine überzeitliche Verantwortung.“11 Die Fehlentwicklung ruhte nach Harnack in der verspäteten Nationsbildung der Deutschen im 19. Jahrhundert als dem „ Jahrhundert des Nationalismus“: „In dieser Zeit des Überschwungs mußten wir unser Nationalgefühl erst ausbilden.“ Grundsätzlich sei „die stärkste Ausbildung des Volksgefühls […] der beste Weg zum Menschheitsge6 7 8 9 10 11
Krieg (Anm. 1). Ebd. Ebd. RANF 4, 322. Krieg (Anm. 1). Ansprache (Anm. 2), Bl. 1.
1. Revolution und Friedensschluß
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fühl“, doch gelte ebenso umgekehrt: „Eine starke Ausbildung des Menschheitsgefühls schützt vor den Krankheiten des Nationalgefühls.“12 Wenn Harnack 1919 davon sprach, daß Sozialismus nicht mit Sozialdemokratie identisch sei, dann bedeutete das keine prinzipielle Stellungnahme gegen die Sozialdemokratie, sondern gab die Richtung einer geistig-idealistischen Vertiefung der Demokratie an. Harnack konnte diese sogar selbst als „einen Sozialismus“ bezeichnen, „der da ruht auf der dienenden Liebe und dem hingebenden Opfer“, und den er neben den auf „den klugen Ausgleich widerstrebender Interessen“ setzenden materialistischen Sozialismus setzen wollte, denn nur „mit Gotteskräften, mit Idealen, wird die Menschheit gebaut, und man hat nur soviele Ideale, als man Opfer bringt.“13 Die Forderung, die Gesellschaft mit diesem Geist nun zu durchdringen und so die neuen demokratischen Formen zu ergänzen, bildete die zentrale Aussage der Ausführungen Harnacks nach der Revolution. Diese Geistansicht ermöglichte Harnack zugleich eine Gegenwartsdeutung, die diese Gegenwart als solche bejahte und sich nicht in Fundamentalopposition zurückzog. Mochte er die Revolution auch als – selbstverschuldeten – Bruch interpretieren, so wurde dieser Bruch doch überlagert durch die weiterhin bestehende Notwendigkeit des beschriebenen neuen Geistes, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verband. In dieser Perspektive konnte Harnack daher eine gleichsam idealistisch ergänzte „soziale Republik“ als geschichtlichen Fortschritt begrüßen, der auf „eine neue höhere sittliche Stufe“ führe.14 Insofern wird es verständlich, daß wesentliche Teile der Stellungnahmen Harnacks aus der Zeit der Weimarer Republik sich nicht in Beiträgen mit tagespolitischem Bezug finden, sondern in religiösen Reden sowie Artikeln zu Festen wie Weihnachten oder Pfingsten in großen Tageszeitungen. Neben dem Begriff des Sozialismus wurde auch der der Demokratie mit einer idealistischen Komponente aufgeladen. Demokratie, so Harnack 1923, sei als „eine Lebensform des Staats“ unabhängig von der Staatsform und könne sowohl in einer Republik als auch einer Monarchie verwirklicht werden.15 Daß der Begriff dabei emanzipativ gemeint war, zeigte der ausdrückliche Verweis auf das Wirken Naumanns im Kaiserreich.16 Die Demokratie war nach Harnack gebunden an das allgemeine Wahlrecht, sie erforderte von den Bürgern aber Verantwortungsgefühl und „gesteigerte Bildung“, und sie setzte ihre Autorität nicht auf Herkunft, sondern auf Sachverstand. Ihre grundlegende Maxime sei daher „vom Volk durch das Volk für das Volk.“ Als Lebensform entspreche sie „einem erzogenen und kulturell geförderten Volk.“ 12
Demokratie (Anm. 4), Bl. 2. RANF 4, 409f. 14 RANF 4, 324. 15 Demokratie (Anm. 4), Bl. 1. 16 Vgl. ebd.: „Demokratie bezeichnet keine besondere Ordnung und Form der Staatsverfassung [sie kann als Monarchie und Republik bestehen, siehe Friedrich Naumann].“ 13
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
Zwar barg nach Harnack die Demokratie die Gefahren des „Schematischen“ und der „Plutokratie“, doch bewiesen für ihn Staaten wie die Schweiz oder die USA, daß diese überwunden werden könnten.17 Wie für den Sozialismus so galt auch für die Demokratie: „Aber jetzt ist es die höchste Zeit, daß wir alles aus der religiösen Wurzel entspringen lassen, denn wir haben unsere Geschichte unter dieser Idee. Diejenigen, die erfahren haben, daß sie einen Gott haben, daß der Mensch das vornehmste Wesen der Welt ist, die von der Kraft der Gemeinschaft überzeugt sind, sollten lebendiger sein als bisher: auf ihnen liegt eine ungeheure Verantwortung.“18 Eigenverantwortung und ethisches Pflichtbewußtsein als zentrale theologische Deutungskategorien Harnacks erwiesen sich dabei als kompatibel mit dem neuen Zeitalter, waren sie von ihm doch nie exklusiv mit der Monarchie in Verbindung gebracht worden. Es war die Republik, die diese Werte nun verbürgte, und deshalb galt es, sich auf ihren Boden zu stellen. Zwar machte Harnack deutlich, daß er die Republik für vermeidbar gehalten hatte, wären die Oktoberreformen noch zum Zuge gekommen. Er konnte gar davon sprechen, daß sie „uns mit einem Unmaß von Untreue und Ungerechtigkeit“ beschert worden sei19, doch dürfte das nicht im Sinne der Dolchstoßlegende verstanden werden, die Harnack schon Anfang Februar 1919 zurückwies, sondern v. a. gegen die Politik der OHL, aber auch der Marineleitung gerichtet gewesen sein, deren Auslaufbefehl für die Marine Anfang November 1918 gegen den Willen der Regierung erfolgte. Ein Votum für die Verfassung mit ihrer liberaldemokratischen Ordnung der staatlichen Institutionen im ersten sowie den im zweiten Teil formulierten Katalog von Grundrechten und Grundpflichten der Staatsbürger, der ganz entscheidend von Naumann angeregt worden war, stellte die Feststellung dar, es sei unvermeidlich gewesen, daß „wir unter allen Völkern der Demokratie und der sozialen Orientierung den breitesten Spielraum gaben.“20 Man wird dahinter zumindest teilweise die Aufgabe der alten Vorbehalte gegenüber einem rein parlamentarischen System vermuten können. Für Harnack galt: „Doch dem sei, wie ihm wolle, wir haben die Republik, und wir müssen alles tun, um sie auf den gegebenen Grundlagen zu festigen.“21 Insgesamt scheint Harnacks Stellung zur Republik etwas positiver ausgefallen zu sein als die Hans Delbrücks, der auch in der Neuauflage von „Regierung und Volkswille“ die Verfassung des Kaiserreichs trotz mancher Mängel noch immer für vorbildlich erklärte. Doch auch er bekundete seine
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Ebd. Krieg (Anm. 1). Ebd. Ebd. RANF 4, 321.
1. Revolution und Friedensschluß
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grundsätzliche Bereitschaft zur Mitarbeit im neuen Staat: „Wer das deutsche Volk liebt, muß heute mit deutscher Treue der Republik dienen.“22 Gegen Ende des Jahres 1922 formulierte Harnack dann als politisches Resümee der Revolutionszeit im offiziösen „Reichskalender von 1923“: „Wir haben die Republik; in ihren Dienst müssen wir uns stellen und zwar nicht als Mietlinge, sondern als zuverlässige und treue Mitarbeiter. Wer das nicht vermag, der muß als Staatsbeamter zurücktreten; denn das Wort Wilhelm von Humboldts, das er vor hundert Jahren gesprochen hat, hat auch heute noch seine Geltung: ‚Es ist sittlich unstatthaft, an höherer Stelle einem Staate zu dienen, dessen Regierungsform man nicht anerkennt.‘ Ein gesundes, geordnetes und starkes Vaterland wiederzugewinnen, muß heute unsre einzige Sorge sein; daneben sollen wir die Erinnerung an unsre großen Zeiten und unsre großen Männer pflegen und das Andenken an sie auch unter den neuen Verhältnissen lebendig erhalten. Aber nicht als rückwärts starrende Chauvinisten sollen wir das tun, sondern als ein Geschlecht, das aus der Vergangenheit in die Zukunft schreitet und seine alten Schätze mit sich nimmt, und auch nicht nur die Schätze des eigenen Volkes, sondern alles Wahre, Gute und Schöne, was uns unsre Geschichte aus anderen Völkern zugetragen hat.“23
1.2. Von der Revolution bis zur Wahl der Nationalversammlung Trotz der zunächst konstatierten Ratlosigkeit blieb Harnack bereits im November 1918 nicht völlig tatenlos. In den Tagen vom 9. bis 11. November galt seine Sorge besonders der Schonung der Bibliothek, die unmittelbar im Zentrum der bewaffneten Auseinandersetzungen stand. Daher schrieb er einen Brief an die Redaktion des „Vorwärts“, in dem er alle Meldungen über Schüsse aus Räumen der Bibliothek auf Arbeiter und Soldaten entschieden zurückwies, wovon er sich „selbst heute Mittag in der Bibliothek überzeugt“ habe. Es gelang ihm schließlich, in einer Unterredung den neuen preußischen Kultusminister Adolf Hoffmann (USPD) für einen besonderen Schutz der Bibliothek zu gewinnen.24 Harnack gehörte zusammen mit Ernst Troeltsch auch zu den Befürwortern einer Resolution der Berliner Universität vom 19. November 1918. Darin wurde erklärt, daß sich die Professoren der Universität „bereitwillig 22
Vgl. Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Ein Grundriß der Politik, Berlin 1920, 139; das Zitat in: PJ 177 (1919), 296; aufschlußreich die Folgerung, die Delbrück daraus zog: „Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich die Republik nicht liebe, aber ich habe mir gelobt, ihr aus gutem Herzen zu dienen“, in: a.a.O., 298. 23 Höher die Herzen! Eine Neujahrsbetrachtung, in: Reichskalender für das Jahr 1923, Berlin 1922, 74–76, 75. 24 Harnack am 10.11.1918 an den „Vorwärts“, in: SBB-PK, Autograph. I/389; vgl. auch ZH 381.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
der neuen provisorischen Regierung unterstellen“ und zugleich auf die baldige Einberufung einer „auf lauteren demokratischen Grundsätzen aufgebauten Nationalversammlung“ hofften, von der sie „die endgültige Ordnung der Verhältnisse“ erwarteten. Der Aufruf gestand zu, daß es zwei Gruppen innerhalb der Universität gebe, nämlich eine, die vor allem „den Schmerz über den Verlust großer Güter“ empfinde, die aber dennoch ebenso zur Mitarbeit bereit sei wie die andere Gruppe, die „die neue aufsteigende Ordnung der Dinge als mit dem humanen und freien Geist der Wissenschaft verwandt empfindet und nur den eigenen Wunsch hegt, die bevorstehende neue Ordnung mit den besten Überzeugung des deutschen Geistes seit Kant und Fichte, Schiller und Goethe zu durchdringen.“ Dahinter verbargen sich die „Gemäßigten“, die durch Troeltsch, Meinecke und Harnack im Vorbereitungsausschuß für diesen Aufruf vertreten waren. Die veröffentlichte Fassung beruhte dabei weitgehend auf einem Entwurf von Ernst Troeltsch, den er zusammen mit seinen beiden Kollegen gegen den wesentlich zurückhaltenderen Entwurf des Rektors Reinhold Seeberg durchsetzte. Die Annahme der Fassung Troeltschs zeigte, daß zumindest vorübergehend die Anhänger der „Gemäßigten“ an der Berliner Universität in der Mehrheit waren.25 Daß Harnack bereits jetzt bereit war, sich der neuen Ordnung einzufügen, beweist sein Vorstoß vom Dezember 1918 für eine Namensänderung der KWG. Harnack schlug vor, auf den Namen des Monarchen zu verzichten, fand dafür aber keine Mehrheit bei den Mitgliedern des Verwaltungsrates.26 Ansonsten schwieg Harnack zunächst zur neuen Lage, ermutigte aber immerhin den ehemaligen Kultusminister Schmidt-Ott, der in einem Brief an Harnack seine Ablehnung der neuen Verhältnisse zum Ausdruck gebracht hatte, „fides und spes“ nicht aufzugeben, ohne auf die Position SchmidtOtts im einzelnen einzugehen, denn „Gott, der diesen Typus ‚deutsches Volk‘ inmitten der Menschheit geschaffen hat, wird ihn nicht untergehen 25 So das zutreffende Urteil von Herbert Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975, 59; vgl. auch die Arbeit von Kurt Töpner: Zusammenbruch und staatlicher Neuaufbau nach 1918 im Urteil deutscher Hochschullehrer. Ein Beitrag zum Zeitgeist der Weimarer Republik, Diss. Erlangen 1969, 86–90; der Aufruf u a. in: VZ Nr. 594 vom 20.11.1918 (auch bei Töpner, 446); ein Bericht zur Versammlung findet sich in: BT Nr. 593 vom 19.11.1918. 26 Entwurf eines entsprechenden Schreibens in: Nl. Harnack, K. 23; vgl. auch Harnacks Brief vom 18.12.1918 in: GStA I. HA Rep. 89, Nr. 21279, Bl. 87f.; damit dürfte die entgegengesetzte Behauptung bei ZH 383f. als widerlegt gelten; dazu bereits: Erhard Pachaly: Adolf von Harnack als Politiker und Wissenschaftsorganisator des deutschen Imperialismus in der Zeit von 1914 bis 1920, Diss. Berlin (O) 1965, 165–171 und Kurt Nowak: Historische Einführung. Adolf von Harnack. Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996, 92f.
1. Revolution und Friedensschluß
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lassen, wenn wir Treue und Hoffnung bewahren.“27 Insbesondere zum Kultusministerium verfügte Harnack weiterhin über Kontakte, waren doch lediglich die Ministerposten neu besetzt worden. Mit Paul Göhre trat ein persönlicher Bekannter und zeitweiliger Weggefährte Harnacks als sozialdemokratischer Unterstaatssekretär in das Preußische Kriegsministerium ein. Im Auswärtigen Amt amtierte gar Wilhelm Solf als Staatssekretär und Leiter der deutschen Außenpolitik weiter. Als Solf im Dezember 1918 nach einem Konflikt mit dem USPD-Mitglied des Rats der Volksbeauftragten Hugo Haase zurücktrat28, übersandte er sein Rücktrittsgesuch an Ebert sowie eine persönliche Erklärung über die Hintergründe seines Abschieds an die wichtigsten Mitglieder des „Mittwoch-Abend“, darunter auch Harnack.29 Dieser dankte Solf ausdrücklich für die Unterlagen und gab seiner Sorge über die weitere Entwicklung der deutschen Politik Ausdruck: „Allen, die nicht vom Taumel überwältigt sind, war es ein Trost, Sie an der Spitze des Auswärtigen Amtes zu wissen; auch dieser Trost wurde uns genommen; aber Ihr Abgang wird ebenso eine rühmliche Erinnerung bleiben wie Ihr Wirken unter den schwersten Umständen.“30 Er könne sich, so Harnack am 18. Januar 1919, vor der Wahl „nicht auf den Boden der Republik“ stellen, lehne aber ein Zusammengehen „mit Alldeutschen, Antisemiten, alten preußischen Konservativen, die sich jetzt alle ‚Deutsch-national‘ nennen“, entschieden ab. Aber auch den anderen Parteien mochte sich Harnack nicht anschließen, da er die parteipolitische Instrumentalisierung seines Namens durch diese fürchtete und nicht „alle die Ungerechtigkeiten des Parteikampfes verantwortlich mitmachen“ wollte, „die der Partei notwendig erscheinen.“ Die Bemerkung, daß ihm sein „Gerechtigkeitsgefühl“ und seine „weiße Weste“ ein solches Engagement verböten, zeigt Harnacks weiteres Festhalten an den überkommenen Vorstellungen „überparteilicher“ gouvernementaler Gelehrtenpolitik, war aber wie schon vor 1914 auch durch die Rücksichtsnahme auf seine KWG-Präsidentschaft bestimmt. Seine deutliche Ablehnung der Deutschnationalen sowie die eher positiven Äußerungen zu der SPD-Mitgliedschaft seines Sohnes Ernst sprechen aber dafür, Harnack schon vor den Wahlen auf der Seite der „Vernunftrepublikaner“ zu verorten.31 27 Harnack an Schmidt-Ott am 31.12.1918, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38; vgl. auch den Brief Schmidt-Otts an Harnack vom 1.1.1919, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schmidt-Ott. 28 Vgl. Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 21985, 74f. 29 Solf an Harnack am 27.12.1918, in: Nl. Harnack, K. 42, Korr. Solf. 30 Harnack an Solf am 3.1.1919, in: BA Koblenz, Nl. Solf, Nr. 60, Bl. 34. 31 Vgl. dazu den Brief Harnacks an Bertha Thiersch vom 18.1.1919, zitiert nach: ZH 377f.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
Über seine eigenen sowie die politischen Orientierungen seiner Kinder berichtete er im April 1919 dem Unterstaatssekretär im Kultusministerium Carl Heinrich Becker. Auf einer gemeinsamen „antimaterialistischen u. sozialen Basis“ bilde die Familie ein „kleines Parlament“: Die älteste Tochter (Anna Frucht) deutschnational, die zweite (Agnes) engagiert in der DDP, die dritte (Elisabet) der SPD nahe stehend, der älteste Sohn (Ernst) Mitglied der SPD, der zweite (Axel) der DDP, „u. ich selbst muß mich im Sinne Carlyle’s als ‚Mild-Konservativ‘ oder ‚Sozial-Konservativ‘ bezeichnen, habe übrigens niemals einer politischen Partei angehört u. stehe dem conservativismus vulgaris ganz fern. Nur die national-liberale Partei ist bei uns nicht vertreten; denn sie läßt das soziale Interesse vermissen.“32
1.3. Entscheidung für die Republik: Von den Verfassungsverhandlungen in Weimar bis zum Kapp-Putsch Tatsächlich meldete sich Harnack schon kurz nach der Wahl wieder zu politischen Vorgängen zu Wort. Bezeichnenderweise tat er das erstmals mit einer Predigt im Universitätsgottesdienst vom 2. Februar 1919. Im Anschluß an die Perikope über den wundersamen Fischzug der Jünger bei Lukas 5 stellte er die Situation des geschlagenen Deutschland als die eines vom Sturm erfaßten Schiffes dar, dessen „Segel zerflatterten und zerrissen, das Steuer versagte, das Schiff scheiterte und zerschellte! Nur Trümmer! Nichts, nichts gefangen und alles verloren! […] Unsere Lebensnerven sind durchschnitten und ohnmächtig liegen wir am Boden.“33 Harnack versuchte, eine weitere Perspektive auf die Niederlage Deutschlands zu gewinnen, indem er sie mit Hilfe der Kategorie „göttliches Gericht“ deutete, das die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte offenbarte. Sodann ging er auf die bereits grassierende Dolchstoßlegende ein. Weder habe „ein böser Dämon […] das Netz zerschnitten“ noch gelte die „Ausrede […], das Ganze, das Volk, sei gesund gewesen, aber bestimmte Personen, diese oder jene, eine bestimmte Klasse, diese oder jene, trage die Schuld an dem Fall und Verderben, wie man das immer wieder hören kann.“ Diese Behauptungen bezeichnete er als „falsches Zeugnis […] wider die Tiefe der Dinge und die Wirklichkeit.“ Nach Harnack hatte sich der Zusammenbruch bereits „lange im Innern vorbereitet“, da die Zeichen der neuen Zeit nicht rechtzeitig erkannt worden waren.34 Er knüpfte mit der These, daß nur ein „neuer Geist, der Geist des Opfermutes, der dienenden Liebe und einer neuen tieferen Ehrerbietung gegen jedermann“ Deutschland vor „Revolution und dem Chaos“ 32 Harnack an Becker am 18.4.1919, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Carl Heinrich Becker, Nr. 843. 33 RANF 4, 403–411, 404. 34 AaO., 405f.
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hätte schützen können, an seine bekannten Ausführungen zur Bekämpfung des Kastengeistes aus der Kriegs- und Vorkriegszeit an.35 Die Katastrophe der Niederlage betrachtete er in Analogie zum Untergang der antiken Welt, warnte aber davor, nun alle Hoffnung fahren zu lassen: „Dieses Neue, das jetzt noch roh und geist- und gemütlos vor uns liegt und nach einer Seele verlangt, kann ein Segen werden, wenn wir es mit Geist und Liebe füllen; […] Wohlan, Gottes Mitarbeiter wollen wir sein, damit nicht das Chaos zurückkehre, sondern damit die wirklichen Kräfte und die unveräußerlichen Ordnungen des Alten erhalten bleiben und sich an dem Neuen aufs neue das Wort erfülle: Es werde Licht und es ward Licht.“36 Daraus zog Harnack in mehreren Vorträgen vor Studenten, die er im Frühjahr 1919 hielt, das Fazit, man müsse alles tun, um die Republik „auf den gegebenen Grundlagen zu festigen.“37 Die schon skizzierten Argumente, mit denen Harnack sich in den Dienst der Republik stellte, waren damit im Sommer 1919 im Wesentlichen ausgebildet, ebenso wie die Ablehnung einer Restauration der alten Ordnung. Dem entsprachen auch die „politischen Maximen“, die Harnack vorgab: Humanität, verbunden mit nationalem Bewußtsein, Bekämpfung der Klassengegensätze, Verbindung von Kapital und Kultur, die „Anerkennung selbständiger Persönlichkeiten“ sowie „Selbstlosigkeit und Gottesfurcht.“ Damit wurden klassische Themen des Kulturprotestantismus in die neue Ordnung eingebracht. Aber auch Macht und Autorität zählte Harnack zu den Richtlinien für die Neugestaltung des politischen Lebens, um das „Aequum und Justum“ des staatlichen Gemeinwesens gegenüber den unterschiedlichen Ansprüchen von „Gesellschaft und Wirtschaft“ sicherzustellen.38 Tatsächlich bemühte sich Harnack mit diesen Richtlinien, „soviel Güter der Vergangenheit auf den neuen Boden zu verpflanzen als irgend möglich.“39 Dabei blieb er nicht bei publizistischen Stellungnahmen stehen. Zunächst bemühte er sich um die Beibehaltung der theologischen Fakultäten an den Universitäten und nutzte dafür seine Kontakte zu Carl Heinrich Bekker, aber auch zu dem sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch, dem er einen entsprechenden Artikel im Märzheft der „Preußischen Jahrbücher“ übersandte. Haenisch dankte für die Ausführungen und versicherte, daß ihm „gegebenenfalls auch Ihr persönlicher Rat von allergrößter Wichtigkeit“ sei.40 Mit Ernst Troeltsch hatte im März 1919 ein Freund Harnacks als Unterstaatssekretär eine Schlüsselposition im Preußischen Kultus35 36 37 38 39 40
AaO., 406. AaO., 410. RANF 4, 321–324, 324 bzw. 321. AaO., 322–324. Brief an Wilhelm Stapel (1925), zitiert nach ZH 376. Konrad Haenisch an Harnack am 12.3.1919, Nl. Harnack, K. 32.
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ministerium inne.41 Harnack gehörte gleichzeitig dem Vertrauensrat der Preußischen Landeskirche an, der sich im November 1918 unter dem Vorsitz von Otto Dibelius konstituiert hatte.42 In den aus diesem Gremium gebildeten Ausschüssen wirkte er zusammen mit seinen Fakultätskollegen Reinhold Seeberg und Friedrich Mahling im Unterrichtsausschuß mit. Bereits in einer Sitzung vom 21.Dezember 1918 empfahl der Vertrauensrat auf Vorschlag des Unterrichtsausschusses in der Frage der theologischen Fakultäten Anregungen „ausgehen zu lassen, dass die Forderung nach deren Erhalt aus den Kreisen der Universitätslehrer aller Fakultäten beim Ministerium und in der Öffentlichkeit erhoben würde.“43 Insofern stand Harnacks Aufsatz in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im kirchlichen Vertrauensrat. Die Übersendung an wichtige Entscheidungsträger wie Haenisch und Becker, v. a. aber der geschickte Zeitpunkt der Veröffentlichung unmittelbar vor den entscheidenden Beratungen des Verfassungsausschusses, erzielte die von Harnack erhoffte Wirkung. Mit Artikel 49, 3 erhielten die theologischen Fakultäten schließlich eine Bestandsgarantie in der Reichsverfassung. Stellte diese Frage auch im Rahmen des Vertrauensrates einen bedeutenden Erfolg dar, so konnte er sich weder in diesem Gremium noch der Kirchenleitung gegenüber mit seinen Forderungen nach einer Reform des Theologiestudiums44 noch nach einer aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen kirchlichen Konstituante durchsetzen.45 Die Kirchenverfassung der Landeskirche von 1922 stieß dann auch wegen ihrer in der Präambel enthaltenen Bekenntnisfixierung auf die Ablehnung Harnacks.46 Harnack beteiligte sich aber auch aktiv an der Ausarbeitung der neuen Reichsverfassung. Es war die Reichsregierung, die ihn als „Kommissar des Reichsministeriums des Inneren“ für die Behandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat vom 1. bis 4. April 1919 zu den Verfassungsberatungen nach
41 Vgl. Troeltsch an Harnack am 28.3.1919, in: Nl. Harnack, K. 44, Korr. Troeltsch, sowie Jonathan C. Wright: Ernst Troeltsch als parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in: Horst Renz/ Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984, 175– 203. 42 Jochen Jacke: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918, Hamburg 1976, 47–54. 43 Protokoll der Sitzung des Vertrauensrates vom 21.12.1918, in: EZA 7/852, Bl. 221f. 44 Vgl. das Protokoll der Vertrauensratssitzung vom 13.2.1919, in: EZA 7/853, 24–35, v.a. 34, sowie ein Gutachten Harnacks in: EZA 7/856, Bl. 130–145, veröffentlicht bei Walter Delius: Die Theologischen Fakultäten als Problem der Revolution vom Jahre 1918, in: Theologia viatorum 10 (1965/66), 34–54, 42–54. 45 Vgl. a.a.O., Bl. 154–156. 46 Vgl. den neben von Harnack auch von Rade und Baumgarten sowie 20 weiteren Theologen unterzeichneten Aufruf in: ChW 37 (1923), 398; zum Hintergrund Jacke (Anm. 42), 286–298.
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Weimar entsandte.47 Harnacks Hauptinteresse galt neben dem Erhalt der Theologischen Fakultäten der Sicherung des Religionsunterrichts, den er freilich unter staatliche Aufsicht gestellt wissen wollte. Er plädierte ansonsten aber dafür, keine zu detaillierten kirchenrechtlichen Bestimmungen in den Grundrechtskatalog der Verfassung zu übernehmen. Harnacks Votum zielte dabei wahrscheinlich darauf, der Sozialdemokratie eine Zustimmung zu einer entsprechenden Regelung zu erleichtern. Seiner Position widersprach Wilhelm Kahl, der die Rechte der Kirchen durch entsprechende Verfassungsbestimmungen präzise festlegen wollte, um sie so durch die für Verfassungsänderungen erforderliche Zweidrittelmehrheit abzusichern. Kahl setzte sich mit seiner Position, unterstützt von Friedrich Naumann, schließlich durch. Auch Harnack schwenkte auf diese Linie ein, zumal er von der großen Kompromißbereitschaft der Sozialdemokraten – nicht zuletzt bedingt durch das völlige Fehlen eines eigenen Konzeptes zu dieser Frage – überrascht war. Die Verfassungsberatungen, die Harnack als „interessant, friedfertig und erfolgreich“ charakterisierte, waren für ihn eine positive Erfahrung mit der neuen staatlichen Ordnung. Erstaunt zeigte er sich besonders darüber, „wie besonnen die Mehrheitssozialisten waren […].“ Auch Naumanns Rolle wußte er zu würdigen, der „die Hand am Zünglein der Waage“ hatte und „seine Sache meisterhaft gemacht hat […]. Selbst der Unabhängige Cohn-Nordhausen hatte fachlich für Relig.-Unterricht einen bemerkenswerten Sinn.“48 Harnack brachte 1925 seinen Entschluß, sich „auf den Boden der Verfassung“ zu stellen, ausdrücklich mit diesen Erfahrungen in Verbindung. Dabei gab er an, die Verfassung nicht einfach hinnehmen, sondern auch verbessern zu wollen. „Hätte ich abwarten sollen, bis eine bessere Demokratie sich bildete, hätte ich mich auf eine ideologische Kritik zurückziehen sollen? […] Der Ideologe wird kein Vaterland mehr vorfinden, das er nach seinem Plan formen kann, wenn er sich aus der Gegenwart zurückzieht.“49 Die Erfahrungen der Verfassungsverhandlungen kamen einer Lehrstunde in Sachen Demokratie gleich und bestärkten Harnack in der Zuversicht, daß die die Verfassung tragenden Parteien die Zukunft konstruktiv gestalten könnten. Auch sein wohl mit Blick auf die Verfassung formuliertes Eingeständnis, daß „wir unter allen Völkern der Demokratie und der sozialen Orientierung den breitesten Spielraum gaben“50, ist auf die Weimarer Eindrücke zurückzuführen.
47 Vgl. Ludwig Richter: Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, Düsseldorf 1996, 333–405; Jacke (Anm. 42), 119–149. 48 Harnack an Reinhold Seeberg am 5.4.1919, in: BA Koblenz, Nl. R. Seeberg, Nr. 67. 49 Brief an Wilhelm Stapel, in: Deutsches Volkstum 1926, 249f. 50 Krieg (Anm. 1).
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Harnacks politische Hoffnungen ruhten während des Jahres 1919 besonders auf Friedrich Naumann, der mittlerweile zum Vorsitzenden der DDP aufgestiegen war. Naumanns früher Tod am 24. August 1919 bedeutete nach Harnack für die junge Republik einen schweren Verlust. In einer in Naumanns „Hilfe“ veröffentlichten Weihnachtsandacht schilderte er die ausweglose Lage Deutschlands, über welches „das große Sterben und mit ihm die apokalyptischen Reiter“ gekommen seien, rief dann aber dazu auf, dennoch den Mut nicht zu verlieren und in der „Gewißheit eines unzerstörbaren Lebens“ bei Gott sich in den Dienst der Gegenwart zu stellen. Naumann war nach Harnack dafür ein Beispiel: „Mitten in der Welt stehend, hat er sich innerlich nicht mit ihr eingelassen. Werbend um die Seele seines Volkes und des ganzen Christenvolks mitten in allen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen, ist er nicht nur ein aufrechter, sondern auch ein furchtloser Mann geblieben, voll von Hoffnung, da doch keine Hoffnung mehr sichtbar war. Ein Strahl von der Klarheit des Herrn leuchtete aus seinen Augen. Wenn wir in diesem Jahre Weihnachten feiern, wollen wir uns dessen freuen, daß Gott seinen Spruch des Friedens und der zuversichtlichen Freude nicht nur von Engeln sprechen läßt, sondern auch fort und fort Brüder unter uns erweckt, die ihn verkündigen und aus ihm leben.“51 Neben Naumann stand für Harnack im Sommer 1919 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der seit Ende Juni 1919 als Reichsfinanzminister, Vorsitzender der Waffenstillstandskommission und stellvertretender Reichskanzler der eigentliche starke Mann in der Reichsregierung war: „Was man auch sagen mag – Erzberger gehört zu den Wenigen (sind es überhaupt noch welche?), die nicht nur Ideologen sind, sondern zu Handeln verstehen – ob zum Heile des Vaterlands, ist noch nicht sicher, aber neben ihm schleifen alle Zügel am Boden.“52 Hinzu kam wohl schon zu dieser Zeit Friedrich Ebert, der „das Vaterland vor der Anarchie [hat] retten helfen.“53 Die Ergebnisse der Friedensverhandlungen von Versailles lehnte Harnack wie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ab und forderte – ähnlich wie etwa Friedrich Naumann – die Ablehnung dieses Friedens, „es komme, was da mag,“ ohne auch nur ansatzweise über die Folgen einer Ablehnung nachzudenken. Allerdings verband er diese Ablehnung nicht mit einer Beschwörung nationalistischer Empfindungen und Schuldvorwürfen gegen die Befürworter einer Unterzeichnung, sondern begründete seine Haltung damit, daß „dieser Friede [… ] im Widerspruch zu den gemachten Zusicherungen und Bedingungen, unter denen wir die Waffen niedergelegt haben“, 51
Weihnachten, in: Hilfe 25 (1919), 742f., 743. Harnack am 28.7.1919 an seine Töchter Elisabet und Agnes, in: SBB-PK, Nl. Elisabet von Harnack, Nr. 592 b. 53 Harnack an Hermann Kötter (Abschrift) am 3.1.1925, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Kötter. 52
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stehe.54 Tatsächlich waren es ja die Vierzehn Punkte Wilsons, auf die der „Mittwochabend“ im Sommer 1918 seine Friedenshoffnungen gesetzt hatte. Die alliierten Friedensbedingungen widersprachen den Vorstellungen der Gemäßigten von einem auf Verständigung, Völkerversöhnung und Selbstbestimmungsrecht gegründeten „Wilsonfrieden“ und stellten in ihren Augen genau das dar, was sie in Deutschland seit 1915/16 bekämpft hatten, nämlich ein rein machtpolitisch ausgerichtetes Sicherheitsdenken. Stefan Meinekes Interpretation der Ablehnung des Versailler Vertrages durch Meinecke, Delbrück und andere Gelehrte, die den Frieden „als eine besonders schmerzhafte Infragestellung ihrer eigenen historisch-politischen Grundanschauungen“ betrachteten55, dürfte auch auf Harnack zutreffen. Tatsächlich hinderte ihn die Klage über den Frieden als „Teufelssieg des Imperialismus und Kapitalismus“, die er mit einer Leugnung der im Versailler Vertrag festgeschriebenen deutschen Alleinschuld am Kriegsausbruch und der Forderung nach Öffnung aller Archive verband56, nicht daran, weiterhin auf ein neues Verhältnis der Völker zueinander zu setzen. Insbesondere mit dem neugegründeten Völkerbund verband Harnack dabei große Hoffnungen, wovon noch die Rede sein wird. Hatte Harnack zu Beginn des Krieges im Auftrag von Clemens von Delbrück einen nur in wenigen Elementen übernommenen Aufruf des Kaisers entworfen, so steht auch am „offiziellen“ Ende des Krieges ein Aufruf Harnacks. Im Herbst 1919 bat ihn die Reichsregierung, einen Entwurf für einen Aufruf an die Bevölkerung der Landesteile, darunter der Großteil von Westpreußen, zu verfassen, die mit Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages am 1. Januar 1920 aus dem Reichsverband ausschieden. Harnack legte einen entsprechenden Entwurf vor, der in der Sitzung des Kabinetts am 15. Oktober 1919 mit einigen kleineren Änderungen als Aufruf der Reichsregierung verabschiedet wurde.57 Der Aufruf beklagte die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den Friedensvertrag und vertraute ansonsten ganz auf die kulturellen Güter des deutschen Volkes, um die nationale 54 Vgl. Harnacks Beitrag zur Umfrage „Friede?“, in: Der Spiegel, H. 9/10 (1919), 19, ein Exemplar in: Nl. Harnack, K. 15. 55 Stefan Meineke: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, 273f. 56 Krieg (Anm. 1); nach Harnacks offenem Brief an Clemenceau vom November 1919 war die Verletzung der belgischen Neutralität falsch, die Schuld am Krieg trage aber v. a. Rußland, vgl. RANF 4, 303–305. 57 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Bauer: 21. Juni 1919 bis 17. März 1920, bearbeitet von Anton Golecki, Boppard 1980, 307f. Dort wird zwar ein Entwurf Harnacks genannt, der verabschiedete Aufruf aber Eduard David zugeschrieben. Ein Vergleich des veröffentlichten Aufrufes (in: Schultheß 1920, 2f.) mit dem Entwurf Harnacks (An die Bevölkerung der aus Preußen ausscheidenden Landesteile, in: Nl. Harnack, K. 13) läßt aber keinen Zweifel an der Verfasserschaft Harnacks zu. Ansonsten finden sich im Harnack-Nachlaß keine Unterlagen zu dem Vorgang.
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Zusammengehörigkeit zu bewahren, wobei sowohl Harnacks Entwurf als auch die Endgestalt des Textes auf die bereits bestehenden deutschen Minderheiten verwiesen, die die „deutsche Eigenart und den geistigen Zusammenhang mit dem Mutterlande in den schwersten Zeiten bewahrt“ und durch „die Kraft ihrer nationalen Kultur über weite Gebiete“ hinaus gewirkt hätten. Harnack verwies dabei ausdrücklich auf die Minderheiten in Siebenbürgen und im Baltikum, während der Aufruf auf diese Beispiele verzichtete. Der Vorgang zeigt insgesamt, daß Harnack zu dieser Zeit nicht nur zur Mitarbeit in speziell wissenschaftlichen, kirchenrechtlichen und theologischen Fragen bereit war, sondern sich auch auf anderen Feldern der neuen Regierung zur Verfügung stellte. Der Kapp-Putsch vom März 1920 stieß als „neue[r] Akt unsrer deutschen Tragödie, die nur zum schlimmsten Unheil ausschlagen kann“, auf die entschiedene Ablehnung Harnacks. Daß Gottfried Traub, der sich während des Krieges weit nach rechts bewegt hatte, im Kabinett der Putschisten als Kultusminister vorgesehen war, machte ihn geradezu fassungslos: „Ich kann es nicht glauben! Doch was ist heute, was ist in Deutschland unmöglich?“58 Harnack gehörte höchstwahrscheinlich zu den Gelehrten, die sich im April 1920 aktiv an den Vorbereitungen zu einer „Erklärung verfassungstreuer Hochschullehrer“ als Reaktion auf den Kapp-Putsch beteiligten.59 Eine entsprechende Kundgebung von meist der DDP nahestehenden Hochschullehrern wurde Ende Mai 1920 in den Tageszeitungen veröffentlicht.60 Die Weimarer Reichsverfassung „gewährt jeder aufbauenden staatsbürgerlichen Gemeinschaftsarbeit Raum. Darum bekennen wir uns ohne Vorbehalte und Umschweife zu ihr. Wir verwerfen alle Versuche eines gewaltsamen Umsturzes, ob sie von rechts oder von links kommen.“ Die Erklärung trug die Unterschriften von Max Weber, Friedrich Meinecke, Hans Delbrück und auch Harnack. Unter den etwas mehr als 250 Unterzeichnern, die damit freilich nicht mehr als etwa ein Zehntel der deutschen Hochschullehrer repräsentierten, fanden sich auch führende liberale Protestanten: Otto Baumgarten, Adolf Deißmann, Adolf Jülicher, Hermann Mulert, Martin Rade, Arthur Titius, Ernst Troeltsch und Heinrich Weinel.61 Mit der Unterschrift unter den Hochschullehreraufruf vom Mai 1920 dokumentierte Harnack endgültig seine Bereitschaft, sich in den Dienst der neuen Ordnung zu stellen. Diese Entscheidung wird man kaum auf puren Opportunismus zurückführen können, wie es etwa Bülow getan hat. Aber 58
Harnack an Rade am 14.3.1920, in: BwR 758. Vgl. den Bericht über die Vorbereitungen bei Ernst Troeltsch: Spektatorbriefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918 bis 1922, Tübingen 1924, 139 (21.4.1920). 60 Vgl. Döring (Anm. 25), 67–70. 61 Kundgebung deutscher Hochschullehrer für die republikanische Verfassung, in: BT Nr. 250 vom 30.5.1920. 59
2. Der Theologe und Wissenschaftspolitiker
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auch im Freundeskreis Harnacks fehlte es schon zu Beginn der 1920er Jahre nicht an diesem Vorwurf. Karl Holl, dessen akademische Karriere von Harnack entscheidend gefördert worden war, der sich aber dann während des Krieges der Vaterlandspartei angeschlossen hatte, notierte nach Harnacks 70. Geburtstag 1921: „Mein Verhältnis zu ihm ist kühl geworden. Ich habe es ihm doch sehr übel genommen, daß er kein Wort für den Kaiser gesprochen hat. Wer sich so sehr und so gerne in der kaiserlichen Gunst gesonnt hat, der müßte nach seinem Sturz Treue beweisen.“62 Vorwürfen wie dem Holls hat Harnack sich entschieden widersetzt. Die Auszeichnungen und Orden, die er vom Kaiser erhalten habe, bedeuteten keinesfalls eine persönliche Verpflichtung über den Systemwechsel hinaus, so Harnack Anfang 1925: „Die Auszeichnungen, die ich erhalten habe, gehören zu den Requisiten der Staatsregierung, wurden proportional zu den Verdiensten, wie diese sie beurteilte, verteilt und legen keine andere Verpflichtung auf, als die, dem Könige und der Staatsregierung treu zu dienen, solange sie bestanden. Der Verfassungswechsel entband von dieser Verpflichtung, und an ihre Stelle trat die andere, zumal für jeden Beamten, der Republik treu zu dienen oder seinen Abschied zu nehmen. Letzteres hat der Kaiser von keinem der früheren Beamten der monarchischen Regierung verlangt.“63 Harnack unterstrich damit, daß die Kontakte zum Kaiser gleichsam amtliche Beziehungen darstellten, mitnichten aber vormoderne persönliche Gefolgschaftsverhältnisse begründeten. Auch, so fuhr Harnack fort, stehe er noch immer in „freundlichem Verhältniß“ zu Wilhelm, dem er einmal jährlich über die Geschicke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft berichte. Persönliche Begegnungen fanden, so weit ersichtlich, nach 1918 nicht mehr statt.
2. „Eine repräsentative Persönlichkeit der deutschen Gelehrtenwelt“: Harnack als Theologe und Wissenschaftspolitiker 1920 bis 1930 2.1. Notgemeinschaft, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und internationale Wissenschaftspolitik Die öffentliche Resonanz, die Harnacks 70. Geburtstag am 7. Mai 1921 bewirkte, war beeindruckend.64 Nicht nur drei Festschriften von Kollegen, Schülern sowie den Mitarbeitern der Staatsbibliothek wurden dem Jubilar gewidmet, sondern auch eine ganze Nummer der „Christlichen Welt“ und 62 Karl Holl an Adolf Schlatter am 29.5.1921, in: Robert Stupperich (Hg.): Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter, in: ZThK 64 (1967), 169–240, 233. 63 Harnack an Hermann Kötter am 3.1.1925 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Kötter; vgl. auch Harnack an Gustav Krüger am 7.3.1925, in: aaO., K. 35, Korr. Krüger. 64 Eine umfangreiche Sammlung an Telegrammen und Zeitungsartikeln in: Nl. Harnack, K. 1, Mappe 70. Geburtstag.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
– als Reverenz vor Harnacks Leistung für die Naturwissenschaften – ein Heft der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften.“65 Reichspräsident Ebert gratulierte Harnack ebenso wie der schwedische Erzbischof Söderblom, der Harnack als „bahnbrecher im wunderlande der kirchengeschichte“ und „meister der universalen wissenschaft“ rühmte.66 Auch das goldene Doktorjubiläum 1923 wurde zum öffentlichen Ereignis. Wieder gratulierte der Reichspräsident67, und zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften widmeten sich ausführlich dem Jubilar. Die „Vossische Zeitung“ nannte Harnack „wohl überhaupt die gefeiertste und in bestem Sinne repräsentative Persönlichkeit der deutschen Gelehrtenwelt“, um dann anzumerken, daß „diese glänzende Stellung […] doch nur ein Ausdruck und ein Symbol seines weitumfassenden und allseitigen Geistes, seiner großartigen Welt- und Lebensauffassung und seiner im edelsten Sinne humanen und humanistischen Gesinnung“ sei.68 Wenngleich bei beiden Ereignissen gerade in rechtskonservativen Blättern auch Kritik an Harnacks politischer Stellungnahme nach 1918 laut wurde69, so dokumentieren beide Ereignisse – ebenso wie 1926 dann wieder der 75. Geburtstag – die Reputation, die Harnack nicht nur als Theologe, sondern mehr noch in seiner Funktion als Wissenschaftsorganisator und versierter Repräsentant der deutschen Wissenschaft überhaupt besaß. Zur Zeit seines 70. Geburtstages übte Harnack noch immer seine drei Hauptämter in KWG, Bibliothek und Universität aus. 1920 war er noch einmal Dekan der Theologischen Fakultät gewesen. Zudem war ihm im gleichen Jahr die Kanzlerschaft der Friedensklasse des Ordens Pour le mérite übertragen worden, dem er seit 1902 angehörte und dessen Vizekanzler er bereits 1915 geworden war.70 Ebenfalls 1920 zählte Harnack zu den Initiatoren der Gründung der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“, der Vorläuferorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Friedrich Schmidt-Ott übernahm ihren Vorsitz, Harnack präsidierte dem wichtigen Hauptausschuß.71 Die Idee einer weitgehenden Unterstützung der Wissen65 Vgl. das Verzeichnis der Harnack gewidmeten Schriften in: Friedrich Smend: Adolf von Harnack. Verzeichnis seiner Schriften bis 1930. Mit einem Geleitwort und bibliographischen Nachträgen bis 1985 von Jürgen Dummer, München/New York/London/Paris 1990, 215–220, 218f. 66 Ebert an Harnack am 6.5.1921, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Ebert; Söderblom an Harnack am 7.5.1921, in: Nl. Harnack, K. 1, Mappe 70. Geburtstag, Bl. 14. 67 Ebert an Harnack am 29.5.1923, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Ebert. 68 VZ Nr. 247 vom 27.5.1923; ähnlich auch BT Nr. 277 vom 29.5.1923. 69 Vgl. etwa Preußische Kreuzzeitung Nr. 208 vom 7.5.1921 bzw. Deutsche Tageszeitung Nr. 243 vom 29.5.1923. 70 Vgl. Harnacks Bericht über die ersten Monate seiner Kanzlerschaft in: VZ Nr. 380 vom 14.8.1921. In den Orden war Harnack am 31.5.1902 aufgenommen worden, als Vizekanzler amtierte er seit dem 5.5.1915, vgl. die Urkunden in: Nl. Harnack, K. 1, Mappe Personalpapiere, Bl. 116 bzw. Bl. 170. 71 Vgl. als Darstellungen Notker Hammerstein: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik
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schaften nicht nur durch die Länder, sondern durch das Reich ging auf Überlegungen Friedrich Schmidt-Otts und Carl Heinrich Beckers zurück. Harnack bündelte im Februar ähnliche Überlegungen in einer Eingabe der Akademien an die Nationalversammlung. Wiederum verstand er es, auf die nationalpolitische Notwendigkeit einer effizienten Wissenschaftsförderung als angemessene Reaktion auf die Kriegsniederlage und ihre schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen hinzuweisen: „Zu den vitalen Notwendigkeiten des Staates gehört auch die Erhaltung der Aktivposten, die er noch besitzt. Unter den Aktivposten kommt der deutschen Wissenschaft eine hervorragende Stelle zu. Sie ist die wichtigste Voraussetzung nicht nur für die Erhaltung der Bildung im Lande sowie für die Technik und Industrie Deutschlands, sondern auch für sein Ansehen und seine Weltstellung, von der wiederum Geltung und Kredite abhängen.“ Gründete vor dem Krieg Deutschlands Stellung auf Militär, Industrie und Wissenschaft, so sei heute das erste vernichtet, Handel und Industrie geschwächt und daher allein die Wissenschaft geblieben: „Die Wissenschaft aber, trotz des Verlustes von tausenden ihrer Träger, steht noch immer aufrecht, doch droht auch ihr der Untergang.“72 Die Denkschrift stieß auf das Interesse des Reichsinnenministers Erich Koch-Weser, der die weiteren Planungen vorantrieb. Harnack nahm an den weiteren Etappen auf dem Weg zur Konstituierung der Notgemeinschaft, die am 30. Oktober 1920 erfolgte, wichtigen Anteil. Am 23. November trat er dann gemeinsam mit Fritz Haber und Friedrich Schmidt-Ott auf einem parlamentarischen Abend im Reichstagsgebäude auf, um auf die neue Organisation hinzuweisen. In Gegenwart von Reichspräsident, Reichskanzler und der wichtigsten Minister des Reiches und Preußens warb Harnack für eine umfassende Unterstützung der Notgemeinschaft.73 Harnack blieb bis 1929 als Hauptausschußvorsitzender der Notgemeinschaft verbunden. In einer schweren Krise der Notgemeinschaft74, hervorgerufen durch Schmidt-Otts autoritären Führungsstil und noch verschärft durch die Vergabe eines Forschungsstipendiums an den in der NSDAP aktiven Mathematiker Theodor Vahlen, stellte Harnack sich auf die Seite der Reformvorschläge Fritz Habers. Diese Vorgänge führten zu einer Reform der Notgemeinschaft, in deren Hauptausschuß nun auch Vertreter des Staates entsandt wurden. Dieses Gremium wurde gegenüber dem Präsidenten zudem daund Diktatur, München 1999; Ulrich Marsch: Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Gründung und frühe Geschichte 1920 bis 1925, Frankfurt am Main/Berlin/ Bern/New York/Paris/Wien 1994. 72 Exemplar der Denkschrift in: GStA-PK, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 4; gekürzt auch bei Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschichte – Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden 1968, 4–8. 73 Vgl. Eine Kundgebung für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, in: IM 15 (1920/21), 97–134; darin Adolf von Harnack: Wissenschaft und Kultur, 100–106. 74 Dazu ausführlich Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, 623–634.
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durch aufgewertet, daß es nun den Haushalt der Notgemeinschaft ausdrücklich genehmigen mußte. Es war Harnack, der im Zusammenspiel mit Haber den Widerstand Schmidt-Otts brach75, indem er im Dezember 1929 mit dem Austritt der KWG aus der Notgemeinschaft drohte, sollten die entsprechenden Satzungsänderungen nicht durchgeführt werden. Die Gründung der Notgemeinschaft war eine Reaktion auf die durch Teuerung und materielle Not zum Teil katastrophal gewordene Lage an Universitäten, Bibliotheken, Akademien und Forschungsinstituten, aber auch auf den weitgehenden Ausschluß deutscher Wissenschaftler aus den wichtigsten internationalen wissenschaftlichen Dachverbänden sowie von internationalen Tagungen. So fanden von 106 Tagungen zwischen 1922 und 1925 86 unter Ausschluß deutscher Teilnehmer statt.76 Harnack hat diese vor allem von Frankreich betriebene und durch den Versailler Vertrag gleichsam legitimierte wissenschaftliche Blockade Deutschlands77 auch öffentlich zu bekämpfen versucht. Dabei ging es ihm in Anschluß an sein Eintreten für den deutsch-amerikanischen Professorenaustausch um den internationalen Charakter der Wissenschaften und ihren Beitrag zur Völkerversöhnung. Aber auch der Umstand war von Bedeutung, daß er sich während des Krieges gegen ähnliche Tendenzen in Deutschland gewandt hatte, wie sie durch die erwähnte Kontroverse in der Preußischen Akademie der Wissenschaften über den Ausschluß von ausländischen Mitgliedern 1915 dokumentiert wurden. Dabei war ein defensiver Zug in Harnacks Argumentation nicht zu verkennen, denn insbesondere der Aufruf der 93 spielte in der Argumentation der Alliierten eine entscheidende Rolle. In einem Offenen Brief an den französischen Premierminister Clemenceau vom November 1919 distanzierte Harnack sich daher noch einmal von Teilen des Manifests, etwa in Bezug auf die Verletzung der belgischen Neutralität sowie der Leugnung von Übergriffen deutscher Soldaten gegenüber der belgischen Zivilbevölkerung, hielt freilich an der Aussage des Aufrufs „Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat“ fest.78 Ein 1922 in England veröffentlichter Aufsatz sollte gleichfalls auf die Gefährdung der wissenschaftlichen Arbeit in Deutschland durch die galoppierende Inflation aufmerksam machen, denn „die Kulturvölker der Erde sind auf Gedeih und Verderb, auch in Hinsicht ihrer Kultur und ihrer Wissenschaft, mit einander verbunden.“79 Dabei zielte Harnack auf mehr als ausländische Hilfsfonds oder 75 Vgl. die Briefe Habers an Harnack vom 25.6. und 7.10.1929, in: Nl. Harnack, K. 32, Korr. Haber, sowie Szöllösi-Janze, 630–634. 76 Vgl. Marsch (Anm. 71), 39. 77 Vgl. dazu umfassend Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914 bis 1928. Ein Beitrag zum Studium kultureller Beziehungen in politischen Krisenzeiten, Genf 1966. 78 RANF 4, 303–305. 79 RANF 4, 264–270, erstmals englisch in: The Nation & The Athenaeum Nr. 31 vom 2.12.1922, 347–349.
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Spenden, wie er selbst zugab. Nur eine Revision des Versailler Vertrages – gemeint waren besonders die darin vorgesehenen Reparationszahlungen – könne auf Dauer die wirtschaftliche Grundlage für eine gesunde Entwicklung auch der Wissenschaften garantieren: „Wer daher den wirklichen Frieden liebt, wer die Wissenschaft und Kultur hochschätzt, – nicht rede ich bloß von den Deutschen – wer Europa vor dem Untergang bewahren will, der muß seine Stimme erheben und die Revision des Friedens von Versailles verlangen.“80 In dieser Forderung wußte sich Harnack einig mit dem republikanischen Staat, und es ist zumindest anzunehmen, daß die Artikel vom Dezember 1922 mit Reichsregierung und Auswärtigem Amt abgestimmt waren, fügten sie sich doch gerade mit ihrer Betonung der Folgen der Reparationszahlungen ganz der Argumentation der Reichsregierung ein, die Anfang Dezember ein Moratorium der Zahlungen beantragt hatte und gegenüber dem starken Druck Frankreichs auf eine mäßigende Rolle der englischen Regierung setzte – ein Konzept, das freilich – wie die im Januar 1923 erfolgte Ruhrbesetzung offenbar machte – nicht aufging. Ein Zusammenhang zwischen Harnacks Artikel und dem Vorschlag der Reichsregierung ist zwar nicht nachweisbar, aber wahrscheinlich, konnte eine drastische Schilderung der deutschen Notlage durch den in England noch immer über eine beachtliche, wenn auch durch den Krieg deutlich geschmälerte Reputation verfügenden Harnack doch auf Resonanz hoffen. Ähnliche Überlegungen dürften 1921 entscheidend gewesen sein, um Harnack das Amt des ersten deutschen Botschafters in den USA nach dem Krieg anzutragen, zumal die Vereinigten Staaten um einen Gelehrten als Botschafter gebeten hatten. Harnack, vermutlich vorgeschlagen vom deutschen Außenminister Friedrich von Rosen, der mit Harnack noch aus der Vorkriegszeit persönlich bekannt war, lehnte das Angebot jedoch nach einigem Zögern ab.81 Tatsächlich nutzte die Republik Harnacks wissenschaftliches Renommee zu repräsentativen Zwecken. 1924 sollte er die deutsche Regierung bei den 700–Jahr-Feiern der Universität Neapel vertreten82, im folgenden Jahr trat das Auswärtige Amt mit der Bitte an Harnack heran, für eine Ausstellung in den USA einen Artikel über „Internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit vor dem Kriege“ zu verfassen, da „der Name von Euer Exzellenz in den Vereinigten Staaten einen so ausgezeichneten 80
AaO., 269. Vgl. ZH 394f., sowie Lujo Brentano: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, 390f. Brentano war nach der Absage Harnacks angefragt worden, lehnte aber gleichfalls ab. Zu Harnacks Bekanntschaft mit Rosen vgl. Friedrich von Rosen: Aus einem diplomatischen Wanderleben. Band 1, Berlin 1931, 25f. 82 Vgl. Auswärtiges Amt an Harnack am 14.2.1924, in: Nl. Harnack, K. 26, Korr. Auswärtiges Amt. 81
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Klang hat.“83 1928 wurde Harnack zum Vorsitzenden der deutschen Kommission für wissenschaftliche Zusammenarbeit beim Völkerbund ernannt.84 Auch bei ausländischen Staatsbesuchen gehörte er zum engen Kreis der geladenen Gäste, so etwa anläßlich des Besuchs des ägyptischen Königs im Juni 1929 in Berlin, den Harnack mit einer Ansprache begrüßte.85 Harnacks Hauptaufgabe stellte freilich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dar. Ihr widmete er nach dem Abschied vom Amt des Generaldirektors der Staatsbibliothek 1921 einen großen Teil seiner Kraft: „Ich bin durch KaiserWilhelm-Gesellschaft und Bibliothekswesen in schwerster Arbeitsnot; denn alle wissenschaftlichen Dinge in unserem Vaterland stehen vor dem Bankerott, der doch abgewendet werden muß und – so hoffe ich bestimmt – abgewendet werden wird; aber es kostet Mühe und Nervenkraft.“86 Tatsächlich gelang es Harnack, die KWG durch die Krisenjahre bis 1924 zu lotsen, waren doch die Rücklagen durch Krieg und Inflation weitgehend aufgebraucht worden. Noch 1919 war der Chemiker Emil Fischer gestorben, mit dem Harnack besonders eng kooperiert hatte, 1925 folgte Eduard Arnhold. Beiden hielt Harnack die Trauerrede.87 Das Verhältnis zu Teilen der Schwerindustrie war weiterhin nicht unkompliziert, wenngleich Harnack aufgrund der Notlage nun auch industrienahe Institutsgründungen befürwortete. Ein wichtiges Anliegen Harnacks, unterstützt vom Generaldirektor der Gesellschaft Friedrich Glum, war, angesichts der Finanznot, aber auch der drohenden Abhängigkeit von der Industrie und der damit einhergehenden Gefahr einer Konzentrierung allein auf anwendungsorientierte Institute, Preußen und das Reich stärker an der Finanzierung der Gesellschaft zu beteiligen.88 Das lief der Tendenz nach auf eine „Verstaatlichung“ der KWG hinaus und verstrickte Harnack – um die Selbstverwaltung der Gesellschaft bemüht – in vielfältige Konflikte mit dem preußischen Kulturstaatssekretär bzw. dann Kultusminister Carl Heinrich Becker. Nach 1924 erfolgte eine ganze Reihe von Institutsgründungen, 1929 dann die Eröffnung des Harnack-Hauses in Berlin-Dahlem als wissenschaftlicher Tagungs- und Begegnungsstätte der KWG. Die Belange der KWG vertrat Harnack mehrfach im Haushaltsausschuß des Reichstages und sammelte auch auf diesem Gebiet insgesamt positive Erfahrungen mit der neuen Demokratie. Ob Harnacks Leitung der 83
Auswärtiges Amt an Harnack am 29.6.1925, in: aaO. Vgl. ZH 425f. 85 Vgl. Ansprache an König Fahud von Ägypten, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 122. 86 Harnack an Else Zurhellen-Pfleiderer am 13.5.1920, in: BwZP 137. 87 RANF 4, 352–359 bzw. 269–274. 88 Zur KWG in der Weimarer Republik vgl. Bernhard vom Brocke: Die KaiserWilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik. Ausbau zu einer gesamtdeutschen Forschungsinstitution (1918–1933), in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, 197–355. 84
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KWG nach dem Krieg zeigte, daß er „letztlich die königlich preußische Exzellenz geblieben [war], zu der ihn Wilhelm II. kurz vor Kriegsbeginn ernannt hatte“, mag dahingestellt sein.89 Tatsächlich forderte die Leitung der Gesellschaft nach 1918 nicht nur durch die erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen andere Anstrengungen als vor dem Krieg, sondern auch das preußische Kultusministerium war nun eine nicht mehr von Beamten, sondern von Politikern geleitete und parlamentarisch kontrollierte Behörde, gegenüber der die noch aus der Vorkriegszeit stammenden Strukturen von Organisation und Selbstverwaltung der KWG veraltet erscheinen mußten. Harnack, in den letzten Jahren auch gesundheitlich geschwächt und sich mehr und mehr auf repräsentative Aufgaben beschränkend, mag das zumindest stillschweigend ähnlich gesehen haben, jedenfalls hat er sich den besonders von Haber ausgehenden Bestrebungen zur Einrichtung eines dann 1929 in den Satzungen festgeschriebenen Wissenschaftlichen Rates als „Organ der demokratischen Mitbestimmung“ der wissenschaftlichen Mitglieder der Gesellschaft nicht widersetzt.90 Als es Ende 1929 noch einmal zu einer schweren Auseinandersetzung Harnacks mit Becker und dessen Versuchen, die KWG noch enger an die Kultusverwaltung anzubinden, kam, und Becker überdies selbst eine Übernahme der Präsidentschaft erwog91, zeigte sich noch einmal der Rückhalt, über den Harnack auch unter den „Reformern“ innerhalb der Gesellschaft verfügte.92 Harnack lehnte die über einen Mittelsmann Beckers an ihn gerichtete Aufforderung zum Rücktritt entschieden ab und wies zugleich darauf hin, daß Becker zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit einer Wahl zum KWG-Präsidenten nicht rechnen könne, „auch wenn ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetze.“93 Zudem verstand Harnack es, parlamentarische Verbündete gegen Becker zu finden. Als dieser Ende Januar 1930 zurücktreten mußte, gelang es Harnack im Mai, zu einer Einigung mit dessen Nachfolger Adolf Grimme zu kommen. Harnacks letz89 Lothar Burchardt: Prägten die Präsidenten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft? Präsidiale Stile von Harnack bis Hahn, in: Bernhard vom Brocke/Hubert Laitko (Hg.): Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip, Berlin/New York 1996, 145–172, 155. 90 Szöllösi-Janze (Anm. 74), 616–623, 621. Dort wird auch ausdrücklich festgestellt, daß Habers Vorschlag sich nicht gegen Harnack, sondern v.a. gegen eine schleichende Kompetenzerweiterung des Generaldirektors der KWG Glum richtete. 91 Vgl. ZH 437–440, sowie Dietrich Gerhard: Adolf von Harnacks letzte Monate als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 245–267. 92 Szöllösi-Janze (Anm. 74), 621f. 93 Harnack am 13.10. 1929 in einer „Abschrift meines Antwortschreibens auf den wohlgemeinten Rat, meinen Abschied als Präsident der K.-W.-Gesellschaft möglichst umgehend zu nehmen (zu Gunsten eines wichtigen Staatsinteresses)“, die er an Becker weiterleitete, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Becker, Nr. 843; vgl. zu Beckers Vorwürfen auch Harnack an Becker am 20.3.1929, in: aaO.
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ter öffentlicher Auftritt erfolgte in seiner Eigenschaft als KWG-Präsident anläßlich der Etatverhandlungen des Haushaltsausschusses des Reichstags am 21. Mai 1930.94
2.2. „Für mich selbst bin ich nach wie vor nur theologus“ – Harnack und die Theologie nach 1918 Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftsorganisator stand für Harnack auch in den 1920er Jahren sein Amt als Theologieprofessor. Zwar wurde Harnack zum Ende des Sommersemesters 1921 emeritiert95, hielt aber bis 1928 weiter Vorlesungen und Seminare ab. 1921 konnte er noch eine neue Vorlesung über die „Bildungsgeschichte der Kirche und die großen Nationen“ konzipieren, zum Wintersemester 1924/25 eine neue Disposition seiner Katholizismusvorlesung ausarbeiten.96 Sein Seminar blieb ein Anziehungspunkt für die Studenten. Es könne gar nicht enden, auch wenn Harnack es jetzt eingestellt habe – so schrieb Ende 1929 Dietrich Bonhoeffer in einem Dankbrief an Harnack –, weil die Stunden, „in denen wir etwas spüren konnten von christlicher Selbstbescheidung in Theologie und Leben, abschiedslos lebendig bleiben, solange wir Theologen sind.“97 An seinem Selbstverständnis als Theologe sowie der Überzeugung, daß eben dies die Grundlage auch seiner anderen Tätigkeiten sei, hat er bis an sein Lebensende festgehalten. Ende 1929 formulierte er mit Blick auf die KWG-Präsidentschaft, die ihm noch immer große Opfer auferlege: „Aber ich habe nicht willkürlich gewählt, sondern ein Schicksal auf mich genommen […]. Ganz ohne Frucht für unsere Ev[angelische] Kirche u[nd] Theologie ist es nicht, wenn die Fachgenossen es auch nicht direkt spüren. Für mich selbst bin ich nach wie vor theologus, u[nd] meine abgesparten Stunden gehören wie von Jugend auf unserer theol[ogischen] Wissenschaft.“98 Ende 1920 legte Harnack der Öffentlichkeit seine letzte große Monographie vor, eine umfassende Darstellung der Theologie Marcions. Harnack griff damit – wie er auch im Vorwort erwähnte – auf die Gestalt des großen „Ketzers“ des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zurück, die 1870 mit der Dorpater Preisarbeit am Beginn seiner theologischen Laufbahn gestanden und ihn immer wieder beschäftigt hatte.99 Über die fachwissenschaft94 Vgl. Verhandlungen des Ausschusses für den Reichshaushalt. Reichstag. 4. Wahlperiode. 162. Sitzung. 21. Mai 1930, Berlin 1930, 2f. 95 Der Emeritierungsbescheid vom 17.3.1921 in: Nl. Harnack, K. 1, Mappe Personalpapiere, Bl. 182. 96 Beides in: Nl. Harnack, K. 19. 97 Bonhoeffer an Harnack am 18.12.1929, in: Dietrich Bonhoeffer: Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, München 1991, 157f. 98 Harnack an Rade am 28.9.1929, in: BwR 842. 99 Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte
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liche Debatte hinaus waren es zwei Punkte, die eine breite Aufmerksamkeit, aber auch eine gewisse Verwirrung hervorriefen: Harnacks Abweisung des kanonischen Rangs des Alten Testaments für die Gegenwart sowie seine nicht zu übersehende Sympathie für Marcion als einer Gestalt, deren radikaler Dualismus samt der ihm innewohnenden Verwerfung von Welt und Kultur als Werk eines bösen Schöpfergottes zumindest prima facie dem Kulturprotestantismus Harnacks gänzlich widersprach. Die für die Gegenwart geforderte Abweisung des kanonischen Rangs des Alten Testaments hat die Wirkung des Buches schwer belastet.100 Harnacks Motive dafür waren allerdings alles andere als antijudaistische oder gar antisemitische Tendenzen, sondern vielmehr der erneute Versuch einer Konzentration des Christlichen auf die göttliche Gnadenbotschaft. Das Alte Testament sollte als „gut und nützlich zu lesen“ (Luther) den Status der apokryphen Literatur erhalten. Dabei ist die große Bedeutung, die Harnack gerade den Propheten und den Psalmen für die eigene Frömmigkeit zusprach101, ebenso zu betonen wie seine wiederholt vorgetragene These, das Auftreten der alttestamentlichen Propheten stelle die „bedeutendste Stufe in der Religionsgeschichte“ dar, da mit ihnen die Religion verinnerlicht und zugleich mit der Moral verbunden wurde.102 Harnacks Kritik wandte sich vorrangig gegen die aus alttestamentlichen Überlieferungen abgeleiteten dogmatischen Lehraussagen, aber auch gegen die historisch nicht haltbare Deutung der Messiasverheißungen auf die Person Jesu. Insofern konnte er auch mit dem religiösen Eigenwert des Alten Testaments argumentieren: „von ‚verwerfen‘ ist heute aber nicht die Rede, vielmehr wird dieses Buch erst dann in seiner Eigenart und Bedeutung (die Propheten) überall gewürdigt und geschätzt werden, wenn ihm die kanonische Autorität, die ihm nicht gebührt, entzogen ist.“103 Ausdrücklich verwahrte er sich dagegen, mit seinem Entwurf auch nur in die Nähe des Assyrologen Friedrich Delitzsch gerückt zu werden, der 1920 eine ebenso gegen das Alte Testament wie gegen das moderne Judentum gerichtete antisemitische Kampfschrift veröffentlicht hatder Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 21924, VI. Zu diesem Buch vgl. die Überlegungen von Kurt Nowak: Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: ders./Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker und Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, 189–237, v.a. 228–237. 100 Der zentrale Satz, der allerdings nicht ohne den Kontext zu interpretieren ist, lautete: „Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“, in: aaO., 217. 101 Vgl. ZH 439f. 102 RANF 2, 88. 103 Marcion (Anm. 99), 223.
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te.104 Delitzschs Ausführungen, so Harnack, „sind vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ebenso rückständig wie vom religiösen verwerflich.“105 Die „Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ registrierten 1925 mit Genugtuung, daß Harnack jede antisemitische Interpretation seiner Darstellung vehement bekämpfte.106 Ob Harnacks negatives Bild des Pharisäismus ein ausreichendes Argument dafür ist, ihm Antijudaismus zu attestieren, muß hier offen bleiben.107 Es wäre etwa darauf hinzuweisen, daß negative Wertungen des Pharisäismus auch bei Vertretern des liberalen Judentums wie dem Breslauer Gelehrten Moriz Friedlaender zu finden sind, dessen Arbeiten Harnack nachweislich rezipierte.108 Die Pharisäer konnten in christlicher und jüdischer Perspektive zu einem von Gegenwartsinteressen bestimmten Sinnbild für eine partikulare Verengung der Religion werden.109 Festzuhalten bleibt, daß Harnack auf die von seiner Wesensschrift ausgelösten Kontroverse um das Wesen des Judentums nicht reagiert hat, auch nicht auf die Gegenschrift Leo Baecks110, der eine dem Ergebnis nach den Anschauungen Harnacks nahe kommende religiöse Botschaft konstruierte, diese aber ganz wesentlich dem Judentum zuschrieb. Vielleicht noch wichtiger war Harnacks Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von Christentum und Kultur, den er mit diesem Werk vorlegte. „Aber ist es möglich, über das Verhältnis von Gott und Kultur so sicher zu sein, wie darüber, daß Gott mich erlöst hat! […] Haben Natur und Kultur nicht auch ein Gesicht, in denen sie widergöttlich sind?“, fragte Harnack am 3. Oktober 1921 auf einer Versammlung der Freunde der Christlichen Welt, nachdem Erich Foerster ihm vorgeworfen hatte, mit seiner Marcion-Deutung den Zusammenhang von Gott und Welt zu zerreißen und so die radikale Kulturverneinung der jungen Theologen um Karl Barth zumindest mit zu begünstigen.111 Eine Antwort wie die Marcions, so Harnack weiter, sei heute nicht mehr möglich: „Im 20. Jahrhundert kann nicht der Dualismus, sondern muß die Zurückhaltung von diesen Fragen das Richtige sein.“112 104
Vgl. als Überblick Karl-Heinz Bernhardt: Art. Friedrich Delitzsch (1850– 1922), in: TRE 8 (1981), 433–434. 105 AaO., 223, Anm. 1. 106 Vgl. Abwehrblätter 35 (1925), Nr. 9/10 vom 20.5.1925. 107 So etwa Peter von der Osten-Sacken: Rückzug ins Wesen und aus der Geschichte. Antijudaismus bei Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 67 (1978), 106–122. 108 MAC4 16, Anm. 4, 18, Anm. 2 u. ö.; vgl. zu diesem Komplex auch Kapitel IV. 1.1. 109 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Hans-Günther Waubke: Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1998. 110 Leo Baeck: Das Wesen des Judentums, Berlin 1905. 111 Sonderversammlung der FCW, in: AdF Nr. 71 vom 10.11.1921, 777; Harnack reagierte auf den Vortrag von Erich Foerster: Marcionitisches Christentum, in: ChW 35 (1921), 809–827. 112 Ebd.
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Auch im Buch stellte Harnack sich letztlich auf die Seite der Kritiker Marcions, erklärte aber zugleich: „Dennoch kann man nur wünschen, daß sich in den wirren Chor der Gottsuchenden heute wieder auch Marcioniten fänden; denn ‚leichter hebt sich die Wahrheit aus der Verirrung als aus der Verwirrung.‘“113 Das Marcion-Buch stellte, auch wegen der biographischen Kontinuität zu Harnacks theologischen Anfängen, die eindringliche Erinnerung Harnacks an die „im Kulturprotestantismus unverlorene[] Überzeugung von der Differenz zwischen Evangelium und Kultur“114 dar – eine Differenz, die er in den 1870er Jahren gegenüber dem älteren Liberalprotestantismus scharf betont und nie aufgegeben hatte. Insofern war Marcion das „patristische Symbol“ für die Verwerfungen der bruchlosen Integration von Protestantismus und Kultur.115 Daß Harnack im Medium der Geschichte um eine Deutung der Gegenwart rang, zeigte eine 1922 vorgelegte Publikation von Worten des von ihm hoch verehrten Kirchenvaters Augustin. Von einem „neuen Augustinismus“, in dem „die Ehrfurcht vor Gott als der Quelle aller hohen Güter die Erkenntnis und die Gesinnungen der Menschen durchdringt, die wahre Freiheit begründet und einen Bund der Gerechtigkeit und des Friedens schafft“116, erhoffte er sich eine Erneuerung der Kultur, die sich nicht gegen die Errungenschaften der Moderne richten, sondern sie vielmehr im Sinne des Geistidealismus vertiefen sollte. Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, mit dem Harnack sich nach 1918 intensiv beschäftigte, war für ihn mit einem einzigen Namen „über den Haufen zu werfen“: Augustin.117 Ausführlich dankte Gerhart Hauptmann, mit dem Harnack seit 1909 in zeitweilig engem Kontakt stand, für den Augustinband, in dem sich „in allem ein weltbejahender goethischer Lebenshauch zeige.“ Dankbar, so Hauptmann weiter, empfinde er die Ähnlichkeit, „die mein Denken dem Ihren annähert.“118 Daß die von Hauptmann konstatierte Weltbejahung von Verwerfungen nicht frei war, belegt Harnacks zeitweiliger Plan, neben den „Augustin“ als Gegenstück eine Textsammlung zur Gnosis zu stellen.119 113
Marcion (Anm. 99), 235. Nowak: Theologie (Anm. 99), 237. 115 Ebd. 116 Augustin. Reflexionen und Maximen, Tübingen 1922, XXIII. 117 Harnack an Else Zurhellen-Pfleiderer am 16.1.1921, in: BwZP 139. Zur Beschäftigung Harnacks mit Spengler vgl. das Vortragskonzept „Stehen wir am Untergang der abendländischen Kultur und damit des Christentums?“ (6.10.1919), in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 91. Auf Spengler bezog sich auch die zweite Hälfte des 1920 in Aarau – hier kam es zu einem ersten Zusammenstoß Harnacks mit Barth, der dort gleichfalls referierte – gehaltenen Vortrages „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?“, in: RANF 4, 171–195. Harnack übersandte den Augustinband auch an Spengler, vgl. dessen Dank vom 12.10.1922, in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Spengler. 118 Hauptmann an Harnack am 7.10.1922, in: Nl. Harnack, K. 32, Korr. Hauptmann. 119 Werner Siebeck an Harnack am 23.4. bzw. Harnack an Siebeck am 28.4.1923, in: VA Mohr-Siebeck, Nr. 408. 114
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Die theologischen Aufbrüche nach 1918, die sich in dialektischer Theologie, Lutherrenaissance und religiösem Sozialismus manifestierten120, hat Harnack insbesondere in Hinblick auf die dialektische Theologie Karl Barths mit Sorge verfolgt. Es war denn auch Barth, den Harnack 1923 zu einem öffentlichen Schlagabtausch mit „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen“ herausforderte und damit schon im Titel an Schleiermacher erinnerte.121 Schleiermachers berühmte Frage „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ stellte den Subtext der Debatte dar.122 Die Theologie Barths versuchte Harnack sich mit der Analogie zu Marcion zu erklären, und auch die Debatte von 1923 stand für Harnack im Schatten der von Marcion betonten Differenz von „Glaube und Menschlichem“123, während Barth auf diese Analogie überaus empfindlich reagierte. Der Verzicht auf die kritischen Standards wissenschaftlicher Theologie führte für Harnack nicht nur zu „Schwärmerei“, sondern war seiner Meinung nach für das Verhältnis von Christentum und Kultur ebenso gefährlich wie ihre vorbehaltlose Vermengung. Die Debatte, in der von einer Niederlage Harnacks nicht geredet werden kann, zeigte allerdings auch, daß Harnacks vielstufige Versuche einer Vermittlung von Christentum und Kultur, ohne den Eigenwert des Religiösen zu beschneiden, in einer theologisch und philosophisch aufgeladenen, auf Diastase und Dezisionismus setzenden Diskussion bei der jüngeren Generation auf allenfalls verhaltene Resonanz stießen.124 Bei aller Anerkennung berechtigter Anliegen Barths sah Harnack in dessen radikaler Gegenüberstellung von Glaube und Kultur einen Angriff nicht nur auf den wissenschaftlichen Charakter der Theologie mit verhängnisvollen Folgen für ihre Stellung im Gesamtfeld der Wissenschaften, sondern v. a. die Gefahr eines „Freibrief [es] für 120 Vgl. dazu Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 15–75. 121 In: ChW 37 (1923), 6–8; vgl. auch aaO., 89–91 (Antwort Barths), 142–144 (Antwort Harnacks darauf ), 244–252 (erneute Erwiderung Barths), 305f. (Schlußwort Harnack), jetzt auch in: Karl Barth: Offene Briefe 1909–1935. Herausgegeben von Diether Koch. Karl Barth Gesamtausgabe V. Briefe, Zürich 2001, 55–88. 122 Friedrich Schleiermacher: Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Erstes Sendschreiben. Zweites Sendschreiben, in: Friedrich Schleiermacher: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften. Kritische Gesamtausgabe I/10, Berlin/New York 1990, 347. Mit dem Titel seiner Fragen erinnerte Harnack an Schleiermachers „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799. 123 ChW 37 (1923), 143; vgl. auch Harnack an Else Zurhellen-Pfleiderer am 26.10. 1928, in: BwZP 143–145. 124 Vgl. zu den radikalen Krisenintellektuellen der 1920er Jahre, in deren Zusammenhang Barths frühe Theologie eingeordnet werden muß, Georg Pfleiderer: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000, 29–136.
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jede beliebige Phantasie und für jede theologische Diktatur, die das Geschichtliche unserer Religion auflöst und die Gewissen Anderer mit der eigenen Erfahrung zu foltern sucht.“125 Der Kontakt Harnacks mit Barth riß jedoch trotz der Differenz bis 1930 nicht ab.126 Insgesamt stand bei Harnack aber ein Erschrecken über den „religiösen Übermut, mit welchen von unseren Kierkegaards das Tischtuch zwischen der Reformation einerseits und der Aufklärung (und dem ihr folgenden Idealismus) andererseits zerschnitten wird […]“, im Vordergrund.127 Der 1923 erschienene sechste Aufsatzband bündelte noch einmal ganz bewußt die Palette der politischen, wissenschaftsorganisatorischen und religiös-theologischen Arbeiten Harnacks. Gegenüber Nathan Söderblom, dem er den Band widmete, betonte er die Bedeutung dieser Aufsatzbände als „eine Art biographischer Rechenschaftsbericht in Bezug auf Umfang und Inhalt meiner Arbeit.“ Dabei hob er nochmals das christlich-protestantische Vorzeichen seiner gesamten Tätigkeit hervor: „So werden Sie im 6. Bande neben der Theologie sehr viel Anderes finden, was gesagt u. geschrieben werden mußte, obschon es Andere besser hätten sagen können; aber ich hoffe, Sie werden in dem Vielen eine letzte Einheitlichkeit nicht vermissen; sie stammt aus dem evangelischen Geiste, den auch Sie als das höchste Gut u. die höchste Weisheit schätzen u. so kraftvoll bezeugen.“128 Eine Reaktion auf die neue theologische Lage war der Versuch, die eigene dogmengeschichtliche Konzeption noch einmal prägnant vorzutragen. Harnack tat dies durch eine Vorlesungsreihe an der Universität Bonn im Mai 1926, die zunächst in der „Christlichen Welt“ und dann separat veröffentlicht wurde.129 Angesichts der Forderungen nach einem Neuanfang der Theologie war es nach Harnack seine „Pflicht zu zeigen, daß die alte wissenschaftliche Theologie nicht ausgestorben ist, daß sie gern auch Neues lernt, und daß die methodische und pädagogische Tradition, der sie folgt, Vorteile besitzt.“130 Ende April 1930 schlug Harnack dann seinem Verleger Werner Siebeck vor, die inzwischen vergriffene vierte Auflage seines dogmengeschichtlichen Lehrbuchs neu aufzulegen: „Das Werk, obschon die heutige Lage der historischen Theologie ihm nicht günstig ist, ist m. E. noch nicht 125 Offener Brief an Herrn Professor K. Barth, in: ChW 37 (1923), 142–144, 144. Harnacks Kritik ließe sich in methodischer Hinsicht dahingehend zusammenfassen, daß Barths dezidiert antihistorischer Kurs letztlich auf einen radikalen Subjektivismus hinauslaufe – ein zweifelsohne sehr hellsichtiger Vorwurf. 126 Vgl. Nowak: Einführung (Anm. 26), 88–90. 127 DLZ 45 (1924), 409f. 128 Harnack an Söderblom am 27.2.1923, in: UB Uppsala, Nathan Söderblom samling, von Harnack, Adolf. 129 Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas. Sechs Vorlesungen, Gotha 1927. 130 AaO., II.
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überholt und behauptet seinen Wert.“131 Siebeck nahm den Vorschlag sofort auf, und Harnack erklärte sich bereit, in einem „Nachwort zu jedem Bande auf einige Hauptpunkte hinzuweisen, die durch die Wissenschaft seit der letzten Auflage der Dogmengeschichte gefördert sind.“132 Dieser Plan konnte allerdings nicht mehr verwirklicht werden – Harnack starb drei Wochen später. 1931 erschien dann ein unveränderter Abdruck der vierten Auflage. Sieht man von dem Zwischenspiel des Kirchlichen Vertrauensrates von 1918/19 ab, so hat Harnack sich kirchenpolitisch nach 1918 nicht mehr betätigt. Die ablehnende Haltung der evangelischen Kirche gegenüber dem neuen Staat hielt er für verhängnisvoll.133 Ein wohl auch religiös wichtiger Ort, an dem Harnack seit 1921 regelmäßig einige Wochen im Sommer verbrachte, wurde Schloß Elmau, die Wirkungsstätte des freireligiösen Schriftstellers Johannes Müller. Neben weiteren liberalen Theologen wie Heinrich Weinel und Wilhelm Herrmann verweilten hier auch Politiker wie Prinz Max von Baden und Erich Koch-Weser. Wenngleich die Gegensätze zwischen Müller und Harnack nicht zu übersehen waren,134 so wurde für Harnack Elmau laut Auskunft von Agnes von Zahn-Harnack eine Art zweiter Heimat.135 Sieht man von Elmau einmal ab, dann galt sein Interesse weiterhin Organisationen des freien Protestantismus wie den Freunden der Christlichen Welt, an deren Tagungen er – soweit möglich – weiter teilnahm, sowie dem Evangelisch-sozialen Kongreß. Nachdem mit der Revolution wichtige sozialpolitische Forderungen des Kongresses erfüllt worden waren, sah Harnack dessen Aufgabe mehr noch als vor 1914 in der Hinwendung zur kulturellen Dimension der sozialen Frage. Ganz in diesem Sinn gestimmt waren Harnacks Grußworte anläßlich der jährlichen Tagungen an den Kongreß, der nach einer jahrelangen Krise ab 1924 mit dem neuen Generalsekretär Johannes Herz einen neuen Aufschwung erlebte. So empfahl er 1924, der Kongreß solle sich auch den Folgen der Deklassierung weiter Teile des Mittelstandes durch die Inflation widmen: „Denn hier kommt Alles darauf an, aus der Not Tugenden hervorgehen zu lassen und mit den Kräften des 131
Harnack an Werner Siebeck am 27.4.1930, in: VA Mohr-Siebeck, Nr. 450. Harnack an Werner Siebeck am 19.5.1930, in: aaO. 133 Vgl. etwa Harnacks Brief an Rade am 7.6.1926, in dem er die Haltung der Kirche zum Volksentscheid über die Fürstenenteignung kritisierte, in: BwR 810. Zum Verhältnis der Kirchen zum Weimarer Staat vgl. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981. 134 Vgl. Briefe von Adolf von Harnack an Johannes Müller, in: Grüne Blätter. Zeitschrift für persönliche und allgemeine Lebenslagen 32 (1930), 164–189; zu Harnacks Zeit in Elmau vgl. ferner Johannes Müller: Adolf von Harnack auf Schloß Elmau, in: aaO., 137–163. 135 Vgl. ZH 403–406. 132
2. Der Theologe und Wissenschaftspolitiker
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Evangeliums auf schwerster wirtschaftlicher Grundlage das ererbte Kapital der edlen Gesinnung und Bildung zu erhalten […].“136 Harnack, der 1925 und 1927 noch einmal Tagungen des Kongresses besuchte, blieb eine der wesentlichen Bezugspersonen des Kongresses, ohne noch aktiv in dessen Geschicke einzugreifen. Die Übernahme der Kongreßpräsidentschaft durch den zeitweiligen Außenminister und Präsidenten des Reichsgerichts Walter Simons begrüßte er.137 Für konkrete Themenvorschläge hielt er sich jedoch nicht mehr für kompetent: „So stehe ich leider den brennenden sozialen Fragen – in Folge meiner in-Anspruchnahme für die Aufgaben der Wissenschaft – nicht mehr so nahe, um Vorschläge machen zu können, die sich mir aufdrängen.“138 Warme Sympathie brachte Harnack den ökumenischen Bestrebungen der Nachkriegszeit entgegen, die besonders von Nathan Söderblom vorangetrieben wurden, von denen die katholische Kirche sich allerdings fernhielt.139 Sie waren für Harnack eine notwendige Folge des Krieges und ein unverzichtbarer Beitrag zur Erhaltung des Friedens. Neben der Befürwortung des konfessionellen Dialogs warnte Harnack freilich davor, sich Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung der getrennten Kirchen hinzugeben, sich dabei gar auf einen vermeintlichen dogmatischen Konsens der ersten Jahrhunderts zu einigen und damit eine erneute dogmatische Verengung der Kirchen herbeizuführen.140 Für Harnack war es – in Fortsetzung seiner Überlegungen zum Katholizismus aus der Vorkriegszeit – das Feld des praktischen Christentums, auf dem eine Kooperation, ja sogar eine Konföderation der Kirchen möglich erschien. In diesem Sinn hat er die Stockholmer Weltkirchenkonferenz von 1925 ausdrücklich begrüßt.141 Neben der gemeinsamen praktischen Arbeit in der Ökumene stand für Harnack mindestens gleichwertig die unverzichtbare Reform des Protestantismus – eine Reform hin zu mehr Geistesfreiheit, die zugleich „eine Vertiefung in seine Grundprinzipien“ sein mußte.142 Für Harnack bedeutete das die stufenweise Fortentwicklung des Protestantismus von der Kirche hin zur „Gesinnungsgemeinschaft.“ Für die Gegenwart galt die Warnung, die protestantischen Kirchen daran zu hindern, „sich selbst zu Dubletten 136
Grußadresse Harnacks an den ESK vom 3.6.1924, in: ESK-Archiv, A II, 4, Bl. 58f. Harnack an Johannes Herz am 25.9.1925, in: aaO., Bl. 155; vgl. zu Simons Horst Gründer: Walter Simons, die Ökumene und der Evangelisch-soziale Kongreß. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Protestantismus im 20. Jahrhundert, Soest 1974. 138 Ebd. 139 Vgl. ZH 420–425. 140 Über den sogenannten „Consensus quinque-saecularis“ als Grundlage der Wiedervereinigung der Kirchen (1925), in: RANF 5, 65–83. 141 Die Weltkirchenkonferenz in Stockholm (1925), in: aaO., 84–85; vgl. ferner Harnacks Briefe an Söderblom aus dem Jahr 1925, in: UB Uppsala, N. Söderblom, Ekum. saml. A 9, Harnack. 142 Una Sancta, in: ChW 39 (1925), 164–168. 137
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
der katholischen Kirche zu gestalten […]. Der Protestantismus muß rund bekennen, daß er eine Kirche wie die katholische nicht sein will und sein kann, daß er alle formalen Autoritäten ablehnt, und daß er ausschließlich auf den Eindruck rechnet, welchen die Botschaft von Gott und dem Vater Jesu Christi und unserm Vater hervorruft.“143 Und Harnack fügte hinzu: „Langsam soll die Entwicklung vor sich gehen. […] Aber nur nicht kleinmütig-reaktionär werden und die alten ägyptischen Fleischtöpfe zurückwünschen. Sie sind verloren, es sei denn, man kehre um und wandere nach Ägypten zurück.“144
3. Die Lehren des Krieges: Außenpolitik zwischen nationaler Selbstbehauptung und internationaler Kooperation Harnack hatte wie Naumann zu denjenigen gehört, die eine Unterzeichnung des Versailler Vertrages ablehnten. Diese Ablehnung ist – wie bereits ausgeführt – auch im Zusammenhang mit Harnacks eigener gemäßigter Kriegszielprogrammatik zu sehen. Harnack hatte mit einem Frieden gerechnet, der Deutschland territoriale und wirtschaftliche Opfer abverlangte, insgesamt aber an den 14 Punkten Wilsons orientiert war: „Einst ist uns ein Friede in 14 Punkten versprochen worden. […]. Um diesen Frieden ist Deutschland betrogen worden.“145 Die These von der Alleinschuld Deutschlands am Kriege, die im Versailler Vertrag als Grundlage aller Friedensbedingungen festgeschrieben worden war, lehnte Harnack entschieden ab. Zwar gestand er eine Mitschuld Deutschlands am Kriege durch die Verletzung der belgischen Neutralität durchaus ein, distanzierte sich auch von wesentlichen Passagen des Manifests der 93, sah aber die Hauptschuld bei der russischen Regierung und forderte eine Öffnung nicht nur der deutschen, sondern aller Archive der einstigen Kriegsgegner.146 Bis 1923/24 stand im Vordergrund der außenpolitischen Äußerungen Harnacks die Forderung nach einer Revision des Versailler Vertrages und dessen seiner Meinung nach desaströsen wirtschaftlichen und moralischen Folgen für ganz Europa. Der Versailler Friede sei „die Geißel, mit der die Völker Europas zu Tode gepeitscht werden, die besiegten, die siegreichen und die neutralen“, zudem sei er „geboren aus dem Materialismus, aus der Rachsucht und der Furcht, den drei schlimmsten Mächten, welche das Han143 Harnack an Erik Peterson am 28.6.1928, in: Erik Peterson: Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog, in: Hochland 30 (1932/33), 111–124, 113. 144 Harnack an Peterson am 7.7.1928, in: aaO., 116. 145 RANF 4, 269. 146 Offener Brief an Herrn Clemenceau, in: Tägliche Rundschau Nr. 552 vom 6.11.1919; auch in: PJ 178 (1919), 531–533, sowie RANF 4, 303–305.
3. Die Lehren des Krieges
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deln der Menschen bestimmen.“147 Nur eine Senkung der Reparationslasten sowie der Abzug der Besatzungstruppen aus dem Rheinland – „sie nähren die feindseligen Gesinnungen und sind daher keine Garantien des Friedens, sondern Aufstachelungen zum Haß“ – vermöchten die gröbste Not zu lindern. Harnacks Ausführungen richteten sich dabei weniger gegen die USA, die den Vertrag gar nicht paraphiert hatten, und auch nicht gegen England, sondern insbesondere gegen die überaus harte Deutschlandpolitik Frankreichs. Dagegen beteuerte Harnack, daß Deutschland „den Frieden braucht, den Frieden will und den dauernden Frieden vorbereitet.“148 Der jetzige Zustand sei das Ergebnis der französischen Politik. 1923 konnte er während der Ruhrbesetzung von einem „5jährigen Krieg mit Frankreich, das uns zertrümmern will“, sprechen, der dem Weltkrieg gefolgt sei.149 Festzuhalten ist aber auch, daß Harnack nach der Unterzeichnung einem Bruch des Friedensvertrages durch Deutschland nie das Wort geredet hat und auch von einer gewaltsamen Revision nichts wissen wollte. Ebenso wie die Niederlage nicht die Folge eines „heimtückische[n] Dolchstoß[es] in den Rücken des Heeres“ war und mithin nicht der Republik angelastet werden konnte150, so galt gleichfalls für den Versailler Vertrag, daß an ihm die republikanische Staatsführung keine Schuld traf. In seinen Revisionsforderungen konzentrierte er sich ganz auf die Reparationsfrage und folgte damit der Linie der deutschen Außenpolitik. Harnacks öffentliche Äußerungen waren dabei besonders auf die Wirkung im Ausland berechnet und sind zumindest teilweise in Abstimmung mit der Regierung erfolgt. Zwei einschlägige Zeitungsartikel Harnacks von Anfang bzw. Ende 1922 erschienen im Zusammenhang mit deutschen Bitten um ein Moratorium der Reparationsleistungen und entsprechenden Konferenzen der Siegermächte.151 Zumindest der erste dürfte mit dem Außenminister Walter Rathenau abgesprochen worden sein, der wie Harnack gelegentlich zu den Teilnehmern des „Spaziergangs“ gehörte, einer lockeren Runde republika147 Deutschland und der Friede Europas, in: Neues Wiener Tageblatt vom 29.1.1922, auch in: RANF 5, 315–320, 315. 148 AaO., 316. 149 Vortragskonzept „Demokratie und Nationalbewußtsein“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 110. 150 Vortragskonzept „Ansprache zum 18.1.1921“, in: aaO., Nr. 97. 151 Der Artikel „Deutschland und der Friede Europas“, Harnack zufolge im Dezember 1921 entstanden, erschien am 29.1.1922, sechs Wochen nach dem deutschen Gesuch vom 14.12.1921 um ein Reparationsmoratorium und zwei Wochen nach einer Konferenz der Alliierten in Cannes vom 4. bis 13.1.1922, die ihr Verhalten auf der Weltwirtschaftskonferenz von Genua im April 1922 abstimmen sollte. Der Aufsatz „Die Krisis der deutschen Wissenschaft“ sowie der „Offene Brief an Viscount Haldane“ wurden am 2. bzw. am 24.12.1922 im Vorfeld zweier alliierter Konferenzen vom 9. bis 11.12.1922 in London und vom 2. bis 4.1.1923 in Paris sowie einer deutschen Bitte um Zahlungsaufschub veröffentlicht; zum Kontext vgl. Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Berlin 1999, 483–487 und 503–508.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
nisch orientierter Professoren und Politiker, die sich – angeführt von Friedrich Meinecke – zweiwöchentlich sonntags zu einem Spazierung vom UBahnhof Dahlem-Dorf zur S-Bahn-Station Grunewald mit anschließendem Kaffeehausbesuch trafen.152 Am 15. Juli 1921 trat Harnack als Vorsitzender einer von der Reichsregierung unterstützten Protestversammlung gegen die Abtretung des östlichen Oberschlesiens an Polen auf, deren Protokoll gleichzeitig in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Esperanto erschien153, nachdem die im Friedensvertrag vorgesehene Volksabstimmung im März 1921 zugunsten Deutschlands ausgegangen und es daraufhin zu einem Aufstand der Polen gekommen war. Neben Gerhart Hauptmann sprachen Vertreter der wichtigsten Reichstagsparteien von der SPD bis hin zur DNVP. In seiner Eröffnungsansprache beklagte Harnack das Verhalten der Siegermächte: „Es darf aber nicht geschehen, daß die Entente das Land gar noch dem Feinde ausliefert und es damit vollends zerstört und vernichtet. Wenn wir schweigen würden, so müßten die Steine in Oberschlesien schreien: ‚Wir sind deutsches Kulturland!‘“154 Am folgenden Tag übergab Harnack eine von der Versammlung beschlossene Resolution dem Reichskanzler Joseph Wirth und betonte den parteiübergreifenden Charakter der Veranstaltung: „Es ist die Reichshauptstadt, die hier gesprochen hat, ja es ist das deutsche Volk selbst, das hier repräsentiert war.“155 Im Oktober 1921 wurde der wirtschaftlich bedeutendere Ostteil Oberschlesiens trotz deutscher Proteste durch einen Beschluß des Völkerbundrates Polen zugeschlagen.156 Die Stabilisierung der deutschen Währung durch die Einführung der Rentenmark Anfang 1924, das letztendliche Scheitern der harten französischen Politik im Gefolge der Ruhrbesetzung von 1923 und die daran anschließenden internationalen Bemühungen um eine für Deutschland erträgliche Regelung der Reparationsleistungen, wie sie Ende 1924 mit dem Dawes-Plan erfolgte, spiegelten sich auch in den Äußerungen Harnacks wider.157 Auf einer von dem New Yorker Sozialethiker Thomas Hall, mit dem Harnack seit 1914 in brieflichem Kontakt stand158, geleiteten internationalen Versammlung, die am 16. Februar 1924 in der Berliner Universität stattfand und die sich gegen „die Unhaltbarkeit und Unwürdigkeit“ der Friedensverträge von 1919 richtete, trat Harnack als deutscher Vertreter auf. 152
Vgl. Döring (Anm. 25), 70–72. Für ein ungeteiltes deutsches Oberschlesien! Öffentliche Protest-Versammlung unter dem Vorsitz von Wirkl. Geh. Rat Professor D. Dr. A. von Harnack am 15. Juli 1921 im großen Saal der Philharmonie zu Berlin, Berlin 1921. Die Nachweise der Übersetzungen bei Smend (Anm. 65), Nr. 1332. 154 AaO., 2. 155 AaO., 31. 156 Vgl. Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 157f. 157 Dazu aaO., 244–284. 158 Vgl. Nl. Harnack, K. 32, Korr. Thomas Hall (9 Bl., 1914–1921). 153
3. Die Lehren des Krieges
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Zwar beklagte Harnack erneut den „furchtbaren Diktatfrieden“, wandte sich aber zugleich gegen eine Rückkehr zur alten Vorkriegsordnung. Die Beziehungen der Völker müßten vielmehr auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden: „Die Mittel der alten Politik, die ein Jahrhundert hindurch mühsam und mit großen Unterbrechungen das Gleichgewicht der Staaten in Europa und auf der Erde aufrechterhalten haben, reichen nicht mehr aus; Schutz- und Trutzbündnisse, Handelsverträge und ähnliches bieten keine Sicherheit des Friedens.“159 Harnacks Vorschläge zur Durchsetzung dieser Ordnung entsprachen weitgehend den innenpolitischen Empfehlungen zu einer geistig-idealistischen Vertiefung der Demokratie: wahre soziale Gesinnung, Anerkennung überpersönlicher und transnationaler Mächte im Leben der Staaten, verbunden mit der Stärkung des weltbürgerlichen Elements innerhalb der einzelnen Nationalstaaten: „Endlich – vergessen Sie nie, daß Sie in erster Linie Ihrem Vaterland mit allen Kräften zu dienen haben, daß Sie aber auch einer übernationalen Gemeinschaft angehören, nämlich der ganzen Menschheit, und vor dem Richterstuhle Gottes und der Weltgeschichte stehen.“ Es folgte der Appell zu Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung, verbunden mit einem scheinbar ungebrochenen weltgeschichtlichem Optimismus: „Mögen die Worte ‚Menschheit‘, ‚Humanität‘ einst bloße Begriffe gewesen sein, heute sind sie es gewiß nicht mehr! Mißachtet man sie, so stürzt alles zusammen; sind sie aber die Leitsterne, so kann auch noch aus dem tiefsten Dunkel der Weg zum Licht gefunden, und die ganze Menschheit auf eine höhere Stufe gehoben werden!“160 Für Harnack verband sich mit der außenpolitischen Entwicklung161 jetzt auch eine öffentliche Selbstkorrektur. Hatte er noch 1913 und dann besonders in seinen Reden zum Kriegsausbruch den (Verteidigungs)Krieg als Möglichkeit von sittlicher Reinigung und Vertiefung angesehen, so folgte 1925 – nachdem er im März 1918 sich schon überaus skeptisch zum „religiösen Ertrag“ des Krieges geäußert hatte162 – die grundsätzliche Verurteilung aller derartigen Anschauungen: „Ein Krieg der Weltvölker […] ist und bleibt vielmehr ein furchtbares, alle Verhältnisse zersetzendes Unglück, und seine Folgen sind ebenso verheerend für den wirtschaftlichen Körper der Nation, wie für ihre Seele. Wer heute noch von den erhebenden Folgen der Kriege zu reden wagt, ist entweder ein Verbrecher oder ein Narr.“163 Die 159
Harnacks Rede in: Das Friedenswerk von Paris und die Not der Völker. Vorträge, gehalten bei der internationalen Kundgebung in der Aula der Berliner Universität am 16. Februar 1924, Berlin 1924, 65–68, 66. 160 AaO., 67. 161 Als Überblick zur deutschen Außenpolitik zwischen 1924 und 1929 vgl. Hildebrand (Anm. 151), 503–590. 162 RANF 4, 306–314. 163 Kann das deutsche Volk gerettet werden? Die Erneuerung der Arbeitsfähigkeit
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
außenpolitische Entspannung zeigte sich nicht zuletzt daran, daß antifranzösische Äußerungen Harnacks nun unterblieben. Diese wie die meisten der folgenden Äußerungen waren für Harnack wiederum eng mit dem eigenen religiösen und theologischen Denken verbunden, wofür bereits der Umstand steht, daß sie in Oster-, Pfingst- oder Weihnachtsartikeln großer Tageszeitungen erschienen. Das Jahr 1926, in dem die seit dem Vertrag von Locarno von 1925 begonnene Verständigung mit Frankreich durch Deutschlands bisher unterbundene Aufnahme in den Völkerbund fortgesetzt worden war, beschloß Harnack mit einer Weihnachtsandacht im „Berliner Tageblatt“, die sein grundsätzliches Einverständnis mit der deutschen Außenpolitik signalisierte. Frieden und Verständigung seien die Völker Europas „nach verdienten und unverdienten Erfahrungen und nach schwersten Prüfungen heute näher gekommen als noch vor einem Jahr […]. Wir müssen ihn jetzt haben und bei unsern Partnern finden, wenn Europa genesen soll. Mögen die Dämonen des Mißtrauens und der Furcht vor dem Licht des Vertrauens, der Brüderlichkeit und des Friedens weichen und die Völker in diesen Weihnachtstagen endlich zur Einsicht gelangen, daß die hohen Worte ‚Humanität‘ und ‚Menschlichkeit‘ in unserem Zeitalter nicht mehr wie früher nur philosophische oder religiöse Begriffe sind, sondern gebieterische Formen der Lebensgestaltung. Kein Volk darf mehr seinen eigenen Interesse nachgehen, ohne sie mit dem Bewußtsein der Verantwortung für das Wohl aller zu erfüllen, den Geist brüderlicher Liebe in sich aufzunehmen und in diesem Geiste auch Opfer zu bringen.“164 Das war nicht weniger als ein Votum für die von Außenminister Stresemann betriebene und von der politischen Rechten aufs heftigste bekämpfte Verständigungspolitik gegenüber den Westmächten. Weihnachten 1928 erneuerte Harnack dieses Bekenntnis: „Volle Anerkennung der Eigenart und des Rechts der anderen, brüderliche Gesinnung und wirkliche Freundschaft sind nötig, ein Völkerbund, so umfassend, wie das Leben selbst – nur diese starken Kräfte können das Wiedererstehen der Kriegsgefahr verhindern.“165 Weltgeschichtliche Aufgabe des 19. Jahrhunderts sei die Abschaffung der Sklaverei sowie die Lösung der sozialen Frage gewesen, für das 20. Jahrhundert stehe die Erhaltung und Sicherung des Friedens nach der Katastrophe des Weltkrieges an. Wohl mit Blick auf die Ächtung des Krieges durch den Briand-Kellogg-Pakt sowie die in Aussicht gestellte Räumung des Rheinlandes und eine endgültige Regelung der Reparationszahlungen sprach Harnack von den Ereignissen des letzten Jahres, die bewiesen, daß „bereits ein wirklicher Anfang gemacht ist. Dank sei unseund der öffentlichen Sittlichkeit, in: Neue Freie Presse Nr. 21760 vom 12. April 1925, auch in: RANF 5, 57–64, 59f. 164 Weihnachten, in: BT Nr. 608 vom 25.12.1926, auch in: RANF 5, 100–107, 102. 165 Weihnachten, in: BT Nr. 608 vom 25.12.1928, auch in: RANF 5, 121–127, 126.
3. Die Lehren des Krieges
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ren politischen Führern und den erleuchteten Staatsmännern in beiden Hemisphären!“166 Angesichts des zunehmenden Widerstands, auf den Stresemanns Politik inzwischen bis in die Reihen der eigenen Partei des Außenministers, der DVP, stieß167, war der Artikel Harnacks eine Solidaritätsadresse an den Leiter der deutschen Außenpolitik. Mit diesen Ausführungen ist bereits angedeutet, daß Harnack große Hoffnungen auf den Völkerbund setzte, dem Deutschland 1926 beigetreten war. Auch damit konnte er an Überlegungen aus den beiden letzten Kriegsjahren in Delbrücks „Mittwochabend“ anknüpfen. Auf den Völkerbund, so schrieb er 1926 an Loofs, setze er große Hoffnungen, „weil ich aus dem Weltkrieg lernen zu dürfen glaube, daß der Krieg sich selbst aufhebt.“ 168 Der Nationalstaat blieb – und das lag ganz auf der Linie der Verknüpfung von Nation und Weltbürgertum durch Harnack – ein hoher „geistiger Wert“ und „herrliches Gut.“169 Wenn Harnack aber 1918 einen Frieden gefordert hatte, der „eine neue Stufe in der Geschichte des Völkerrechts u. des Völkerverkehrs bedeutet“170, dann sah er diese Entwicklung durch eine konstruktive Mitwirkung Deutschlands im Völkerbund begünstigt. Der Völkerbund sei zwar durch seine Verknüpfung mit dem Versailler Vertrag sowie durch den nicht erfolgten Beitritt der USA, anders als von Wilson vorgesehen, „ein schwer rachitisches Kind,“ so Harnack in einem Brief an seinen baltischen Verwandten Roderich von Engelhardt, der ihn wegen seiner Haltung zur Republik, der Zustimmung zu den Verträgen von Locarno und der ausdrücklichen Befürwortung des deutschen Völkerbundbeitrittes scharf kritisiert hatte.171 Nicht nur die Idee des Völkerbundes sei aber richtig, sondern auch ihre Realisierung in der bestehenden Organisation habe „durch die Ausgestaltung des Haager Gerichtshofes u. die Schiedsgerichte“ zu wichtigen Fortschritten geführt. Deutschlands Mitwirkung entspreche zudem seinem nationalen Interesse, biete es doch „den einzigen Weg, unsere Weltstellung u. -geltung wiederzuerlangen.“172 Das zeigte, daß Harnack nach wie vor erhebliches Gewicht auf einen starken deutschen Nationalstaat legte – „wir Deutsche selbst werden unser Schiff niemals an ein anderes Schiff anketten, auch nicht an das eines Freundes; aber wir werden uns herzlich freuen, mit vielen anderen Schiffen zusammen denselben Kurs halten zu können“, so Harnack Anfang 1924173 –, doch 166
AaO., 126f. Vgl. Hildebrand (Anm. 151), 583. 168 Harnack an Loofs am 15.2.1926, in: ULBSA Halle, Nl. Loofs, Yi 19 IX, 1667. 169 Die Bedeutung geistiger Werte für Arbeit und Wirtschaft (1927), in: RANF 5, 184–197, 193. 170 Harnack an Engelhardt am 19.10.1917 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Roderich von Engelhardt. 171 Harnack an Engelhardt am 16.2.1927 (Abschrift), in: aaO. 172 Ebd. 173 In seiner Rede vom 16.2.1924, in: Friedenswerk (Anm. 159), 68. 167
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
das lag ganz auf der Linie der Politik einer friedlichen Revision des Versailler Vertrages durch Interessenausgleich mit den Westmächten, um so „für Deutschland die Gleichberechtigung als Großmacht innerhalb der Staatenwelt zurückzugewinnen.“174 Eine Alternative zur Verständigung mit dem Westen gab es nach Harnack nicht: „Sich einzuspinnen (was wir übrigens gar nicht können; denn ohne Handelsverträge u. Exporte müssen wir verhungern) und auf Katastrophen zu warten, ist Desperado- u. Emigrantenpolitik, die noch nie in der Geschichte zum Siege geführt hat.“175 Es war eine logische Konsequenz aus dieser Einsicht, daß Harnack neben den erwähnten öffentlichen Äußerungen die deutsche Außenpolitik – soweit es seine anderen Ämter, aber auch sein zunehmend angeschlagener Gesundheitszustand zuließen – aktiv zu unterstützen versuchte. Das geschah v. a. – davon war bereits die Rede – auf der Ebene der Wissenschaftspolitik bis hin zur erwähnten Übernahme der deutschen Kommission für wissenschaftliche Zusammenarbeit beim Völkerbund. Noch im Oktober 1929 erklärte sich der bereits erkrankte Harnack zusammen mit Friedrich Meinecke bereit, die Reichsregierung bei der innenpolitischen Durchsetzung des die Reparationsleistungen neu regelnden Young-Plans mit einem Aufruf zu unterstützen, um einen Erfolg des gegen den Young-Plan gerichteten Volksbegehrens der Rechtsparteien von Hugenbergs Deutschnationalen bis zu Hitlers Nationalsozialisten zu verhindern.176
4. Der Ertrag von 1914: Harnack und die deutsche Innenpolitik nach 1920 Ende Dezember 1920 zog Harnack aus den Erfahrungen von Weltkrieg und Revolution gegenüber Rade den Schluß, „keine Anlage zum Politiker“ zu haben.177 Darin spiegelte sich zweifellos die Enttäuschung über den Fehlschlag des eigenen Eintretens für Reformen im Weltkrieg nieder. Auch blieb Harnack während der Republik parteilos. Diese auch in der Vorkriegszeit wiederholt geäußerte Selbsteinschätzung, er könne nicht „in schwebende Fragen sei es nun erbaulich oder wegweisend oder sonstwie ein[]greifen“178, hat kaum etwas daran geändert, daß Harnack es immer dann, wenn er sich aus Gewissensgründen dazu veranlaßt sah, dennoch getan hat. Er selbst ge174
Hildebrand (Anm. 151), 510. Harnack an Engelhardt am 16.2.1927 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Roderich von Engelhardt. 176 Vgl. Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Müller II: 28. Juni 1928 bis 27. März 1930. Bearbeitet von Martin Vogt, Boppard 1970, 1037, Anm. 17 (Sitzung vom 10.10.1929). 177 Harnack an Rade am 28.12.1920, in: BwR 762f. 178 AaO., 763. 175
4. Harnack und die deutsche Innenpolitik nach 1920
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stand immerhin zu, darüber sprechen, aber kaum darüber schreiben zu können. Seine Stellungnahmen, soweit sie außerhalb der Fragen von Wissenschafts-, Sozial- und Konfessionspolitik lagen, waren in der Tat meist eher kurz und punktuell, aber schon der öffentlichen Wahrnehmung wegen von erheblichem Gewicht. Die von Harnack selbst konstatierte Zurückhaltung bezog sich vor allem auf ausführliche und grundlegende theoretische Überlegungen, etwa über Verfassungsfragen, politische Ethik oder politische Theoriedebatten überhaupt. Dabei wiederholte sich ein Muster, das auch den Historiker Harnack in seinem Verhältnis zu Theoriedebatten auszeichnete. Harnack vermied geschichtsmethodologische Ausführungen soweit wie möglich. Das bedeutete nicht, daß er methodische Fragen scheute oder gar von philosophischen und systematisch-theologischen Fragen nichts wissen wollte.179 Bei genauer Analyse ließen sich vielmehr bestimmte konstante philosophische und systematisch-theologische Prämissen herausarbeiten, etwa der zwischen geschichtsphilosophischer Spekulation und naturwissenschaftlichem Positivismus vermittelnde Entwicklungsbegriff, der geistphilosophisch entfaltete Begriff der Kultur oder der subjektivitätstheoretische Begriff der Religion. Nur wurden sie nicht theoretisch entfaltet, sondern in der konkreten historiographischen Arbeit angewandt und entwickelt. Die Leistungsfähigkeit von Theorien bewährte sich für den Historiker Harnack nicht in ihrer detaillierten Entfaltung, sondern am Material. Ähnlich – allerdings auf einer niedrigeren Komplexitätsstufe – dürfte sich das Verhältnis von grundlegenden „politiktheoretischen“ Überlegungen zu konkreten politischen Stellungnahmen bei Harnack verhalten. Sie müssen sich als praktikabel und der Lage angemessen erweisen. Wie Geschichte vom Kulturbegriff her als Selbstexplikation des Geistes und Entwicklung zu selbstbewußtem Leben in Freiheit angelegt ist, so muß sich auch die gesellschaftliche und politische Praxis an eben diesem Ideal messen lassen. Die von Harnack selbst beklagte Unfähigkeit, dies mit Blick auf die Politik schriftlich fixieren zu können, bedeutet keinesfalls bloßen Pragmatismus oder vage Unentschiedenheit. Es ist auch unter diesem Gesichtspunkt bezeichnend, daß Harnacks bevorzugte Gattung der politischen Stellungnahme in der Zeit der Weimarer Republik neben Aufrufen und kurzen offenen Briefen die der religiösen Andacht ist. Denn eben sie vermag die gerade in der Krise noch wichtiger werdende geistig-religiöse Durchdringung und Vertiefung der Kultur zum Ausdruck zu bringen.180 179 Dazu jetzt auch Claus-Dieter Osthövener: Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296–331. 180 Vgl. dazu exemplarisch Texte wie „Vom Geiste“ (1920), in: RANF 5, 412–415, „Das kommende Zeitalter des Geistes und der Geist unserer Zeit“ (1924), in: RANF 5, 165–171, oder den Vortrag „Was bedeutet der Fortschritt in der Geschichte?“ (1929), in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 121.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
Blickt man auf die Weimarer Zeit, sind allerdings weitere, wesentlich praktischere Gesichtspunkte heranzuziehen, um Harnacks Zurückhaltung zu erklären. Zunächst ist die Arbeit für die KWG zu nennen, die – wie ausgeführt – zusammen mit den fortgeführten wissenschaftlichen Studien sowie der Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften die alles andere überragende Beschäftigung Harnacks war. Daß auch diese Arbeit ein Beitrag zur Bewältigung der Folgen von Krieg und Revolution darstellte und von Harnack ausdrücklich so verstanden wurde, dürfte bereits deutlich geworden sein. Daneben muß das Alter Harnacks genannt werden. 1921 befand er sich immerhin im achten Lebensjahrzehnt. Der Tribut waren zunehmende Einschränkungen, die ihm von seiner Frau sowie dem Rest der Familie regelrecht abgenötigt werden mußten. Der Göttinger Theologe Emanuel Hirsch sprach nach einem Besuch Anfang Januar 1928 gar von einer „Ruine“: „Erst sehr spät, durch mehrere Zigarren angeregt, blitzte der alte geistreiche Kerl wieder auf.“181 Harnack klagte verschiedentlich über gesundheitliche Probleme und Beeinträchtigungen. Die Strapazen von ausgedehnten Sitzungen und verschiedenen Reisen waren eine zusätzliche Belastung. Die Krise der KWG in Harnacks letztem Lebensjahr kostete noch einmal erhebliche Kraft. Den Teilnehmern des Empfangsabends der Heidelberger KWG-Jahrestagung am 24. Mai 1930 war offensichtlich klar, daß sie einen todkranken Mann vor sich hatten. Nur mit erheblicher Mühe gelang es, Harnack von einer Teilnahme an den folgenden Verhandlungen abzuhalten und ihn zu überreden, sich ins Krankenhaus zu begeben, wo er nach zwei Wochen am 10. Juni verstarb.182 Auch vor diesem Hintergrund war Harnacks Engagement im politischen Bereich durchaus beachtlich.
4.1. Die Krisenjahre bis 1923 Mit dem Kapp-Putsch von 1920, nach Harnack das Werk einer „ruchlose[n] Reaktion“183, und dem darauf reagierenden Aufruf der verfassungstreuen Hochschullehrer, zu dessen prominentesten Unterzeichnern Harnack gehörte, konnte an dessen Unterstützung der Republik auch öffentlich kein Zweifel mehr bestehen. Der Aufruf war zumindest indirekt ein Votum zugunsten der die Verfassung tragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP in den Reichstagswahlen, die am 6. Juni 1920 stattfanden und die mit dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit dieser Parteien endeten. 181 Hirsch an Hans Lietzmann am 10.1.1928, in: Kurt Aland (Hg.): Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen von und an Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin/New York 1979, 563. 182 Vgl. dazu ZH 439–441, die auch von dem dringenden Rat der Familie berichtet, die Präsidentschaft der KWG niederzulegen. 183 Harnack an Johannes Müller am 28.3.1920, in: Grüne Blätter 32 (1930), 168.
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Während der Krisenjahre der Republik, die mit der französischen Ruhrbesetzung im Januar 1923 ihren Höhepunkt erreichten, standen für Harnack die Frage der Reparationen sowie die politischen und sozialen Folgen von Teuerung und Geldentwertung im Zentrum seines politischen Interesses. Die inflationsbedingte „Proletarisierung des Mittelstandes“ mußte nach Harnack katastrophale Folgen haben, die es, wenn nicht abzuwenden, so doch zu mildern galt.184 Politisch konnte dies nur geschehen durch Treue gegenüber der neuen Staatsordnung, die allein den Erhalt des Reiches garantierte, so der Tenor einer Ansprache Harnacks zum 50. Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar 1921.185 Der Appell, trotz aller Rückschläge und Beschwernisse den Mut nicht zu verlieren und Vertrauen zu haben, charakterisierte auch die religiösen Texte Harnacks aus dieser Zeit. Die Geschichte, führte Harnack 1920 in einer Pfingstandacht zum Thema „Geist“ aus, kenne nur tiefe Täler, aber keine Abgründe, und so gehöre eingedenk dessen ein „starker frommer Glaube […] dazu, um heute inmitten alles Leids und aller Bosheit und Ruchlosigkeit an dem Walten des Geistes nicht zu verzweifeln.“186 Daß die politische Lage die Loyalität gegenüber dem neuen Staat dringend erfordere, war eine der Aussagen von Harnacks Beitrag zum offiziösen Reichskalender für das Jahr 1923, in dem er erstmals behauptete, die Ablehnung der gegenwärtigen Staatsordnung durch einen Beamten verpflichte diesen eigentlich dazu, den Abschied zu nehmen. Parteien als Ausdruck der politischen Willensbildung befürwortete Harnack ausdrücklich, spiegelten sie doch die „soziale Schichtung des Volkes“ wider; freilich müßten sie aber auch das Wohl des Staates insgesamt im Auge haben. Hauptaufgabe der Gegenwart sei für die Parteien, „das schlimme Erbe des alten Staates, den Kastengeist, zu bekämpfen.“187 Damit griff Harnack eine seiner Hauptintentionen aus der Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses auch im neuen Staat wieder auf. Eine Kooperation von gemäßigt-bürgerlichen Kräften und Sozialdemokratie war dafür die Voraussetzung: „Hie Bürgerblock – hie Arbeiterblock – wenn das das letzte Wort unsrer politischen Entwicklung sein soll, ist alle soziale und politische Arbeit vergeblich.“188 Im Krisenjahr 1923 hat Harnack sich mehrfach zu Wort gemeldet.189 Die Aufforderung, das Vertrauen nicht zu verlieren, war Hauptaussage einer Osterandacht im „Berliner Tageblatt“: „Es gibt nichts Stärkenderes als Vertrauen […]. Das höchste Vertrauen aber ist die Zuversicht, daß das Leben, die Geschichte, trotz aller konträren Eindrücke doch einen Sinn hat und kein 184 185 186 187 188 189
Harnack an Krüger am 23.6.1921, in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Krüger. Konzept „Ansprache zum 18.1.1921“, in: aaO., K. 13, Nr. 97. RANF 4, 415. Höher die Herzen, in: Reichskalender (Anm. 23), 75. Ebd. Zur politischen Entwicklung vgl. Winkler: Weimar (Anm. 156), 186–243.
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chaotisches Spiel.“ Harnack, gerade von einer Reise nach Schweden zurückgekehrt, verwies auf das Vertrauen, das Deutschland nicht zuletzt durch seine Wissenschaft noch immer im neutralen Ausland genieße, mahnte aber auch: „Das deutsche Volk hat es seinen Nachbarn nicht immer leicht gemacht, ihm zu vertrauen […].“190 Eine ausdrückliche Unterstützung der Republik war die Veröffentlichung der wichtigsten politischen Texte Harnacks aus den Jahren 1916 bis 1922 im Anfang 1923 erschienenen sechsten Band der gesammelten Aufsätze, die seinen Weg von den Denkschriften an Bethmann Hollweg über eine Zusammenstellung der wichtigsten Texte von 1919 bis zu den Publikationen über die Folgen von Frieden und Reparationen für die Wissenschaft dokumentierten. Sie erneuerte damit Harnacks Bekenntnis zur „sozialen Republik“ ebenso wie die Abweisung einer Restauration des alten Bismarck-Reiches.191 Im Mai 1923 erwartete er weitere politische Erschütterungen: „Unsere Verhältnisse werden schlimmer u. augenscheinlich haben wir das ganze Ausmaß unsres Elends noch lange nicht erfahren.“192 Eine Rede zur Verfassungsfeier in Bad Hersfeld, bei der Harnack für den verhinderten ehemaligen preußischen Kultusminister Konrad Haenisch eingesprungen war, bemühte sich um den Nachweis des Zusammenhangs von Demokratie und Nationalbewußtsein: „Demokratie und gesundes Nationalbewußtsein gehören aufs engste zusammen; denn die Demokratie verlangt ein gesundes und starkes Volk.“ Beide gelte es angesichts der Krise zu stärken: „Wer darf da etwas anderes sein als ein deutscher Patriot gegenüber der drohenden Knechtschaft, gegenüber der Tatsache, daß Rhein- und Ruhrland an Händen und Füßen gefesselt sind […]?“193 Am 31.Oktober 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, sprach Harnack auf einer „Versammlung zur Linderung der Berliner Not“, auf der an die verheerenden sozialen Folgen der Inflation – Verlust der wirtschaftlichen Existenz vieler Menschen, Armut und Obdachlosigkeit – hingewiesen wurde. Mit Blick auf die weit verbreitete Sehnsucht nach dem Deutschland der Vorkriegszeit riet Harnack zu Pragmatismus und Hinwendung zu den Problemen der Gegenwart: „Wir wissen selber, wieviel uns heute fehlt gegenüber dem, was Deutschland war? Was will das sagen, solange wir noch leben können, wie wir leben? Was will das sagen denen gegenüber, die in Wahrheit keine Heimat haben?“194
190
Vertrauen, in: BT Nr. 154 vom 1.4.1923. RANF 4, 324 bzw. 321. 192 Harnack an Paul Wernle am 8.5.1923, in: ÖB Basel, Nl. Wernle, III B, 74, 28. 193 Konzept „Demokratie und Nationalbewußtsein“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 110, Bl. 1. Harnacks Sohn Ernst war zu dieser Zeit sozialdemokratischer Landrat im Kreis Hersfeld. 194 Harnacks Rede ist abgedruckt unter dem Titel „Harnack zur Berliner Not“ in: BT Nr. 514 vom 1.11.1923. 191
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4.2. Harnack in der Zeit der relativen Stabilisierung der Republik von 1924 bis 1930 Ostern 1925 bilanzierte Harnack in der Wiener „Neuen Freien Presse“ die Entwicklung Deutschlands seit 1918. Trotz aller Nöte und Probleme seien zwei Ereignisse für Deutschland von besonderer Bedeutung hervorzuheben, nämlich „die positive Mitarbeit der sozialdemokratischen Partei am Wiederaufbau des Staates und die Wiederherstellung unserer Währung“, mit der die Inflation überwunden worden war. Die im neuen Staat erfolgte Kooperation von bürgerlichen Parteien und SPD war nach Harnack „ein Ereignis ersten Ranges in der inneren deutschen Geschichte.“ Die SPD hatte dazu eine wesentliche Vorleistung erbracht, indem sie „ihren linken Flügel energisch abgestoßen“ habe – ein Hinweis auf die Abspaltung der USPD während des Krieges und die Gründung der KPD Ende 1918. Das Verhalten der SPD während des Krieges hatte in den Augen Harnacks ihre nationale Zuverlässigkeit endgültig bewiesen und ihr einen unbestreitbaren Anspruch auf politische Mitwirkung zukommen lassen. Es folgte ein Appell an die bürgerlichen Parteien, von denen es nun ganz wesentlich abhänge, ob sie die Bedeutung dieses Ereignisses anerkannten und dauernd danach handelten, „oder ob sie in Verblendung die ausgestreckte Hand nachträglich doch zurückweisen wollen, was notwendig zur Katastrophe führen müßte.“195 Harnack formulierte damit genau die Voraussetzung, von der die Existenz der Weimarer Demokratie abhing, den Kompromiß zwischen dem gemäßigten Teil der alten Arbeiterbewegung und dem Bürgertum. Zugleich war er sich schon 1925 über die fatalen Konsequenzen eines Scheiterns dieser Kooperation im Klaren. Die befürchtete Katastrophe abzuwenden und, in marxistischer Terminologie gesprochen, den „Klassenkompromiß“ zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum abzusichern, war – will man Harnacks Formulierung vom Frühjahr 1925 ernst nehmen – das Ziel seiner politischen Stellungnahmen. Freilich sei es noch nicht gelungen, das „Neue mit einem starken und erhebenden Geist zu erfüllen und es dadurch zu stählen.“196 Dies konnte nach Harnack nur durch entschiedene Abkehr vom Materialismus, durch sittliche Erneuerung, Pflichtgefühl und eine Vergeistigung der Kultur geschehen. Was Harnack dann allerdings darunter verhandelte, ließ kaum etwas von den Ereignissen der Revolution und der ihr folgenden gesellschaftlichen Modernisierung spüren: Aufrufe zu Treue und Arbeit, die Klage über die Zersetzung des Rechtsempfindens oder über die „Schamlosigkeit der Zuschaustellung des nackten Unrechtes und des 195 Kann das deutsche Volk gerettet werden? Die Erneuerung der Arbeitsfähigkeit und der öffentlichen Sittlichkeit, in: Neue Freie Presse Nr. 21760 vom 12.4.1925, auch in: RANF 5, 57–64, 61f. 196 Das kommende Zeitalter des Geistes und der Geist unserer Zeit, in: Neue Freie Presse Nr. 21460 vom 8.6.1924, auch in: RANF 5, 165–171, 169.
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nackten Lasters.“197 Insofern blieb Harnack – auch wenn der „Marcion“ Sensibilität für die Brüche nach dem Krieg erkennen ließ – einer weitgehend an der Vorkriegszeit orientierten Wahrnehmung der Gegenwartskultur verhaftet. Für das, was ihm Unbehagen bereitete, machte er jedoch nicht die neue Staatsordnung verantwortlich; einer Rückkehr zu den „alten Ideale[n] und Staatsordnungen“ erteilte er eine Absage. Es war nach Harnack eine Illusion zu glauben, „durch eine einfache Zurückführung des Alten und durch Paraden, Hakenkreuze und Stahlhelm die Schäden der Zeit heilen [zu] können. Das sind alles untaugliche Versuche, denn den Zeiger der Zeit kann niemand zurückstellen; daher muß jede pure Reaktion zum weißen Schrecken und zum Bürgerkrieg führen.“198 Die damit beschworene Gefahr – das Zitat entstammt einer Pfingstbetrachtung vom Juni 1924 – war im Rückblick auf die Jahre 1918 bis 1923 höchst real gewesen. Die Parteien, die diese Bestrebungen repräsentierten – die DNVP sowie die völkischen Parteien – hatten vier Wochen vor Erscheinen des Textes Harnacks bei den Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 noch einmal an Stimmen gewonnen. Die DNVP lag nur noch knapp hinter der SPD, die völkischen Parteien konnten – sechs Monate nach dem gescheiterten Putschversuch Hitlers und Ludendorffs – immerhin 6,5 Prozent der Wählerstimmen erreichen und erstmals Abgeordnete ins Parlament entsenden.199 Wie schon im Weltkrieg und während der Revolutionszeit verfügte Harnack auch in den Jahren der Weimarer Republik über ausgezeichnete Kontakte zu wichtigen Politikern. Das galt zunächst für die gemäßigt-bürgerlichen Parteien, wobei diese Kontakte bis in die Kriegs- und Vorkriegszeit zurückreichten, und zwar besonders für Politiker der DDP wie den zeitweiligen Vizekanzler Eugen Schiffer, Bernhard Dernburg, Erich Koch-Weser, Theodor Heuß und Gertrud Bäumer.200 Den DVP-Vorsitzenden Gustav Stresemann kannte Harnack spätestens seit der Kriegszeit persönlich201, den der DVP nahestehenden Reichskanzler Hans Luther wohl aus seiner Zeit als Finanzminister von 1923 bis 1925. Wenige Tage vor der Ausgabe der Rentenmark, mit der die deutsche Währung im November 1923 wieder stabilisiert wurde, hatte er ausführlich mit Luther konferiert.202 Das Amt des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft förderte diese Kontakte natürlich 197
AaO., 168f. AaO., 169. 199 Vgl. Winkler: Weimar (Anm. 156), 260–263. 200 Vgl. die entsprechenden Korrespondenzen im Harnack-Nachlaß. Zum Kontakt Harnacks zu Heuß vgl. Theodor Heuß: Erinnerungen 1905–1933, Frankfurt am Main 1963, 87 bzw. 122. 201 Vgl. Gustav Stresemann: Lebendige Wissenschaft (1929), in: ders.: Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, Band 3, Berlin 1930, 488–491. 202 Harnack an Schmidt-Ott am 12.11.1923, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, Bd. 38. 198
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noch, erforderte es doch nicht nur Verhandlungen mit Preußen und dem Reich, sondern Kontakte zu den in den Haushaltsausschüssen vertretenen Parlamentariern. Im 30-köpfigen Senat der Gesellschaft waren zudem Vertreter der verschiedenen Parteien vertreten, darunter 1922 auch Konrad Haenisch und Eduard David vom rechten Flügel der SPD.203 In der Zentrumspartei stand Harnack neben dem Wissenschaftspolitiker Georg Schreiber204 der zeitweilige Reichskanzler Wilhelm Marx nahe, der dieses Amt von 1923 bis 1924 und dann noch einmal von 1926 bis 1928 inne hatte.205 In der SPD pflegte Harnack neben Friedrich Ebert wohl auch Kontakte zu dem langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe sowie dem Kanzler der Jahre 1928 bis 1930, Hermann Müller.206 Diese Kontakte beschränkten sich nicht allein auf offizielle Anlässe, sondern wurden auch in privaten Zusammenkünften gepflegt. So berichtete Harnack seiner Tochter Elisabet etwa am 21. Juli 1924 über einen Abend im Hause Franz von Mendelssohns, mit dem er befreundet war: „Bei Mendelssohns waren wir am Freitag mit Ebert, Stresemann, Hamm und Schacht etc; es war ganz interessant, aber was die Politik in den nächsten zwei Wochen bringen wird, konnten auch sie nicht prophezeien.“207 Insofern konnte Harnack auch nach dem Krieg auf ein verzweigtes Netz persönlicher Verbindungen zurückgreifen, das ihm sowohl wissenschaftspolitische Einflußnahme ermöglichte, als auch ihn über anstehende politische Grundsatzentscheidungen orientiert sein ließ. Auf dieser Ebene läßt sich eine Kontinuität von gelehrtenpolitischem Selbstverständnis und Agieren feststellen, wenngleich sich die politischen Rahmenbedingungen durch Demokratisierung und Parlamentarisierung grundlegend geändert hatten. Ihren Grundlagen nach ein eng mit der politischen Ordnung des Kaiserreichs und seinen Widersprüchen verknüpftes Phänomen, blieb Gelehrtenpolitik als zentraler Bezugspunkt des Handelns Harnacks erhalten. Nur stand sie jetzt nicht mehr im Zeichen einer Reform des alten politischen Systems, sondern diente der Verteidigung der Grundlagen des neuen Staates. Eine für Harnack überaus wichtige Gestalt dieses Staates war der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert.208 Nach Harnack hatte er sich als SPD-Vorsitzender während des Krieges und mehr noch als Vorsitzender 203
Vgl. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1922, in: RANF 4, 243–252, 246. Vgl. Rudolf Morsey: Georg Schreiber, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.): Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister – Beamte – Ratgeber, Berlin 1987, 269–284. 205 Vgl. dazu Wilhelm Marx: Typoskript Die Schule in der Reichsverfassung von Weimar, Bl. 6, in: Historisches Archiv der Stadt Köln, Nl. W. Marx. 206 Vgl. die Korrespondenzen mit Löbe und Müller in: Nl. Harnack, K. 36, Korr. Löbe, bzw. K. 38, Korr. H. Müller. 207 Harnack am 21.7.1924 an seine Tochter Elisabet, in: SBB-PK, Nl. E. von Harnack, Nr. 592 b. 208 Vgl. ZH 411f. 204
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des Rats der Volksbeauftragten in der Revolutionszeit bleibende Verdienste erworben. Persönliche Kontakte sind seit 1921 nachweisbar, aber wohl schon für früher zu vermuten. Ebert gratulierte Harnack 1921 zum 70. Geburtstag und 1923 zum Doktorjubiläum.209 Am 6. April 1922 hielt Harnack im Palais des Reichspräsidenten einen Vortrag über das Verständnis der Nächstenliebe im frühen Christentum.210 Weitere Besuche Harnacks, der Ebert im Juli 1924 auch seine Königsberger Rede zum 200. Geburtstag Kants zukommen ließ211, sind wahrscheinlich.212 Ende 1924 demonstrierte Harnack öffentlich seine Solidarität mit Ebert. Dem Reichspräsidenten war von einem völkischen Journalisten im Zusammenhang mit dem Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 Landesverrat vorgeworfen worden. Diese Anschuldigung stellte nur einen Teil einer breiten Kampagne von rechts gegen Ebert dar, die nicht nur auf das Staatsoberhaupt, sondern die Republik insgesamt zielte. Ebert verklagte den Journalisten. Das zuständige Magdeburger Gericht verurteilte diesen darauf zwar wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes zu drei Monaten Gefängnis, hielt aber in der Urteilsbegründung den Vorwurf des Landesverrats für zutreffend. Harnack wandte sich daraufhin in einem in allen großen Tageszeitungen am 27. Dezember 1924 publizierten Brief an Ebert und damit an die Öffentlichkeit: „Aus den Gefühlen der Gerechtigkeit und aufrichtiger Verehrung ist es mir ein Bedürfnis, der Entrüstung Ausdruck zu geben, mit der mich der Magdeburger Prozeß und das richterliche Fehlurteil erfüllt haben. Schmachvolles ist hier zum Ereignis geworden, und in Trauer und Bestürzung sind wir versetzt. Um so lebhafter aber empfinde ich mit allen guten Deutschen den Dank, den das Vaterland Ihnen, hochverehrter Herr Reichspräsident, für Ihr gesamtes vaterländisches Wirken, insbesondere in den Jahren 1918 und 1919 schuldet, und wie dieser Dank heute in Tausenden von Herzen lebt, wird ihn das Urteil der Geschichte für immer besiegeln.“213 Ebert, von Harnack offensichtlich schon vor der Veröffentlichung des Briefes in Kenntnis gesetzt, dankte umgehend für die „freundliche Gesinnung.“214 Die Reaktion der Rechten auf Harnacks Stellungnahme war überaus heftig: Anbiederei und Verrat am Kaiser, so lauteten die Vorwürfe, 209
Ebert an Harnack am 6.5.1921 bzw. am 29.5.1923, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr.
Ebert. 210 Vgl. das Vortragskonzept mit einer entsprechenden Notiz Harnacks in: aaO., K. 13, Nr. 98. 211 Ebert an Harnack am 29.7.1924, in: aaO., K. 30, Korr. Ebert. 212 Ebert an Harnack am 4.2.1924, in: aaO. Ebert bedauerte, daß Harnacks Erkrankung einen Besuch nicht zulasse. 213 Brief an Friedrich Ebert, in: BT Nr. 613 vom 27.12.1924; vgl. zur Stellungnahme Harnacks sowie zum Kontext auch Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, 456. 214 Ebert an Harnack am 2.1.1925, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. Ebert.
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die in der Presse, aber auch in Briefen gegenüber Harnack erhoben wurden. In einem seiner Antwortschreiben legte Harnack nochmals seine Auffassung über die Verdienste Eberts, aber auch seine Stellung zur Republik dar. Zwar sei er bewußt parteilos – „ich kann keiner angehören, weil ich mein Wirken für die Wissenschaft u. Kultur in Deutschland schädigen würde.“ Das entbinde ihn aber nicht von der Pflicht zur Stellungnahme, „wenn mein politisches Gewissen und meine Sorge um das Wohl des Vaterlandes das verlangt. Ein solcher Fall – es ist nicht das erste Mal – war für mich durch den Prozeß Ebert gegeben. Alles in diesem Prozeß war abscheulich und empörend […].“215 Für Harnack war der Vorgang nur ein erneuter Beweis der Ruchlosigkeit der republikfeindlichen Rechtsparteien. „In der innern Politik“, so schrieb Harnack an seine Frau am 22. Februar 1925, „herrscht ein Feldzug der Verleumdung, der um nichts besser ist als der Verleumdungsfeldzug unserer Feinde im Krieg und in seinen Folgen ebenso schlimm. Die Reaktion will an die Krippe und an die Macht, und jedes Mittel ist ihr Recht.“216 Ebert starb am 28. Februar 1925 nur wenige Wochen nach dem Magdeburger Urteil. Bei den nun fälligen Neuwahlen engagierte sich Harnack erneut.217 Im ersten Wahlgang unterstützte er den Kandidaten der DDP, Willy Hellpach, indem er einen entsprechenden Aufruf „An das geistige Deutschland“ unterzeichnete. Hellpach, so hieß es darin, sei ein Repräsentant deutscher Kultur und nicht Vertreter bloß einer Klasse, v. a. aber sei er „ein überzeugter Vertreter und Schützer der Verfassung.“218 Als in der Stichwahl die Rechtsparteien mit Paul von Hindenburg den ehemaligen Chef der Obersten Heeresleitung als ihren Kandidaten präsentierten, einigten sich SPD, Zentrum und DDP auf den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als gemeinsamen Kandidaten. Das Gros des kirchlichen Protestantismus stellte sich im folgenden Wahlkampf hinter Hindenburg.219 Dagegen traten zunächst besonders Otto Baumgarten und Martin Rade in öffentlichen Kundgebungen für Marx als Reichspräsidenten ein. Rade gelang es, auch Harnack für die Unterstützung Marx’ zu gewinnen.220 Gegen Hindenburg, so Harnack in einem Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ vom 23. April 1925 – drei Tage vor der Wahl – sprach nach Harnack sein fortgeschrittenes Alter, aber auch die Wirkung seiner Wahl auf das Ausland. Marx dagegen sei ein „erprobter Staatsmann“ und stehe mit „voller innerer Zustimmung und Zuversicht auf 215 Harnack an Hermann Kötter am 3.1.1925 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. H. Kötter. 216 Zitiert nach ZH 410f. 217 Vgl. zum Wahlkampf Winkler: Weimar (Anm. 156), 278–284. 218 Der Aufruf mit der Unterschrift Harnacks in: Nl. Harnack, K. 25, Mappe DDP. 219 Vgl. Nowak: Kirche (Anm. 133), 160–169; Karl Holl: Konfessionalität, Konfessionalismus und demokratische Republik – zu einigen Aspekten der Reichspräsidentenwahl 1925, in: VfZ 17 (1967), 254–275. 220 Rade an Harnack am 18.4.1925, in: BwR 789f.
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dem Boden der Reichsverfassung.“221 Mehr als eine Provokation für die antikatholischen Ressentiments vieler protestantischer Hindenburg-Sympathisanten war Harnacks Frage, ob die politischen, kulturellen und religiösen Belange von einem Deutschnationalen wirklich besser vertreten würden als von einem Mitglied des Zentrums. Harnacks vielbeachteter und häufig nachgedruckter Artikel führte erneut zu heftigen Angriffen auf seine Person, wobei auch sein Verhältnis zum Kaiser abermals thematisiert wurde. Noch im Oktober 1925 reagierte Harnack auf einen entsprechenden Artikel der „Kreuzzeitung“, in dem er neben Emil Ludwig und Walter Rathenau der „Blasphemie auf den Kaiser“ beschuldigt wurde.222 Aber auch innerhalb der liberalprotestantischen „Freunde der Christlichen Welt“ hatte das Auftreten Baumgartens, Rades und Harnacks Konsequenzen. 31 Mitglieder der Vereinigung erklärten ihren Austritt, mehrere hundert Abonnements der „Christlichen Welt“ wurden gekündigt.223 Der Frankfurter Pfarrer Johannes Kübel, Mitglied des Vorstands der „Freunde“, warf Rade und Harnack gar vor, durch ihr Verhalten die liberale Theologie in den Kirchengemeinden zu diskreditieren und sich zudem noch zu „Bahnbrecher[n] Roms“ gemacht zu haben.224 Rade sprach Harnack gegenüber davon, daß dieser und er selbst „durch ein redliches Fegefeuer hindurchgegangen“ seien.225 Am Rande der Jahrestagung des Evangelisch-sozialen Kongresses in Halle trafen sich Rade, Harnack und andere Theologen, die Marx unterstützt hatten, zu einer Besprechung über ihr weiteres Vorgehen. Die Veröffentlichung einer längeren Erklärung, die bei dieser Gelegenheit besprochen wurde, unterblieb freilich.226 Harnack erwog Anfang Juni noch einmal eine Stellungnahme, unterließ das jedoch schließlich, weil „ Jedermann diese Angelegenheit über hat.“227 Aus dem Evangelischen Bund, der sich unter der Präsidentschaft des weit rechts stehenden ehemaligen Hofpredigers und Herausgebers der „Täglichen Rundschau“, Bruno Doehring, nicht nur massiv für Hindenburg eingesetzt, sondern auch die liberalen Opponenten scharf angegriffen hatte, trat Harnack bereits vor der Wahl demonstrativ aus.228 Bernhard von 221
An die evangelischen Deutschen. Für Marx als Reichspräsident, in: FZ Nr. 298 vom 23.4.1925. 222 Kreuzzeitung Nr. 506 vom 28.10.1925, Exemplar mit Entwurf der Zuschrift Harnacks in: Nl. Harnack, K. 45, Korr. Wilhelm II. 223 Vgl. Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 333–338. 224 Johannes Kübel: Zur Reichspräsidentenwahl. Offener Brief an den Herausgeber, in: ChW 39 (1925), 511–513, 513. 225 Rade an Harnack am 4.5.1925, in: BwR 790. 226 Rade an Harnack am 25.5.1925, in: aaO., 795–797. 227 Harnack an Rade am 8.6.1925, in: aaO., 798. 228 Vgl. dazu eine Erklärung der Theologen Mulert, Baumgarten, Achelis, Niebergall und von Hieber vom 14.4.1925, die auf Harnacks Austritt Bezug nahm, in: ZLB-BStB, Nl. Deißmann, Nr. 318.
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Bülow gegenüber begründete er sein Votum für Marx mit den Worten: „Protestantismus ist gut, aber Sachkenntniß ist besser.“229 Insgesamt, so Harnacks Einschätzung, werde die weitere Entwicklung den Kritikern Hindenburgs Recht geben. Er hoffte aber auch, daß die Wahl „zu einer gewissen Zersetzung der Rechtsparteien führen wird als ihr erster Erfolg, so daß sie ihrer Wahl nicht froh werden werden.“230 Die Auseinandersetzungen um die Wahl Hindenburgs veranlaßten Harnack nach einem Briefwechsel mit Wilhelm Stapel, dem Herausgeber der weit rechts stehenden Zeitschrift „Deutsches Volkstum“, noch einmal zu einer grundsätzlichen Rechtfertigung seines Verhältnisses zur Republik. Harnack warf Stapel, der ein „völliges Versagen im Aufbau des Staates“ seit 1919 konstatiert und deshalb die von Harnack geforderte „freudige Wertschätzung“ des Staates für ausgeschlossen erklärt hatte231, letztlich vor, die Position eines „unverantwortlichen Patrioten“ zu vertreten. Sein eigenes Engagement begründete Harnack pragmatisch mit dem Willen zum Wirken angesichts der ungeheuren Aufgaben der Gegenwart, beklagte aber auch, daß viele Beamte sich auf die Verfassung verpflichtet hätten, sie aber zugleich mindestens indirekt sabotierten, „denn man sabotiert eine Verfassung, wenn man sie nicht stützt, und verfällt dabei dem gerechten Urteil Wilhelm von Humboldts: ‚Wenn man in hohen Stellen einer Regierung dient, die man mißbilligt, ist es nie verzeihlich.‘“232 Stapel hingegen warf Harnack noch 1927 vor, sich zum „Fall Ebert“ öffentlich geäußert, aber „im Falle der Fürstenenteignung nicht ein beruhigendes Wort“ von sich gegeben zu haben. Auch zu Hindenburgs 80. Geburtstag habe Harnack geschwiegen.233 Es waren nicht zuletzt die Vorgänge bei der Wahl Hindenburgs, die die Mitglieder des prorepublikanischen Berliner „Spaziergang“ um Friedrich Meinecke, Heinrich Herkner, Hans Delbrück und Harnack zur Schaffung eines engeren Zusammenschlusses veranlaßten.234 Auf einem Treffen des „Spaziergang“ am 31. Dezember 1925 wurde die Einberufung einer Tagung verfassungstreuer Hochschullehrer beschlossen. Meinecke übersandte Harnack am 13. Januar 1926 den Entwurf einer Einladung. Der anschließend von Meinecke, Harnack, Delbrück und anderen unterzeichnete Text war darauf abgestellt, einen möglichst breiten Kreis von Unterstützern zu gewinnen, indem nicht nur die „aufrichtige[] Begeisterung für die hohen ethischen Ideale einer Selbstregierung der Völker“ als ausreichendes Kriterium der Verfassungstreue genannt wurde, sondern auch ein Bekenntnis, das le229
Harnack an Bülow am 4.5.1925, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. Harnack an Rade am 10.5.1925, in: BwR 792. 231 Stapel an Harnack am 2.7.1925, in: Nl. Harnack, K. 43, Korr. Stapel. 232 Brief an Dr. Wilhelm Stapel, in: Deutsches Volkstum 1926, 249f. 233 Stapel an Harnack am 9.11.1927, in: Nl. Harnack, K. 43, Korr. Stapel. 234 Vgl. zum „Spaziergang“ sowie zur Gründung des Weimarer Kreises verfassungstreuer Hochschullehrer 1926 Döring (Anm. 25), 70–72 bzw. 82–90. 230
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diglich deshalb erfolgte, „weil nach dem verlorenen Kriege dem Vaterlande aus Gründen der Innen- und Außenpolitik nur in der republikanisch-demokratischen Staatsform hingebungsvoll gedient werden kann.“235 Als Ziel des Zusammenschlusses wurde die Abwehr der zunehmenden „inneren Abneigung unseres Staatswesens in den Kreisen der Hochschullehrer“ angegeben. Die Tagung der verfassungstreuen Hochschullehrer fand mit 66 Teilnehmern am 23. und 24. April 1926 in Weimar statt. Auch Harnack nahm daran teil und unterzeichnete die Erklärung des Kreises: einen Aufruf, „auf dem Boden der bestehenden demokratisch-republikanischen Verfassung positiv mitzuarbeiten.“236 An der Tagung des Weimarer Kreises 1927 wirkte Harnack nicht mit, in einem Aufsatz bekräftigte er aber nochmals seine Auffassung über die notwendige Verfassungstreue der Beamten: „Wohl sagt man: ‚Das Vaterland über alles‘, und singt man: ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, aber man bedenkt nicht, daß dies bloß Worte bleiben, wenn man nicht zugleich mit dem Vaterland den deutschen Staat hochhält und wertschätzt.“237 Die Verhandlungen des Weimarer Kreises verfassungstreuer Hochschullehrer vom April 1926 bewiesen allerdings auch, daß die demokratisch-republikanische Verfassung auch bei dieser Gruppe nicht unumstritten war. Das galt besonders für den rechten Flügel um Mitglieder der DVP wie den Juristen Wilhelm Kahl.238 Diese Differenzen waren während der Tagung bewußt zurückgestellt worden, um einen möglichst breiten Konsens zu erzielen, der auf der Ebene der Hochschullehrer eine „Große Koalition“ von DVP bis hin zur SPD – auf der Tagung vertreten durch Gustav Radbruch – widerspiegeln sollte. Es war jedoch hinlänglich bekannt, daß prominente Mitglieder des Kreises wie Meinecke und Delbrück eine Weiterentwicklung der Verfassung hin zu einer starken Stellung des Reichspräsidenten anstrebten, um den Staat aus der Krise herauszuführen.239 Delbrücks „Mittwochabend“ hatte schon nach den Wahlen vom Juni 1920, bei denen die Parteien der Weimarer Koalition die Mehrheit verloren, den Umbau der Verfassung hin zum Präsidialsystem erwogen. Als geeignete Kandidaten für das gestärkte Amt des Reichspräsidenten, die bei einer „Volkswahl“ mit Zustimmung rechnen konnten, erschienen den Teilnehmern der bayerische Kronprinz 235 Meinecke an Harnack am 13.1.1926, in: Nl. Harnack, K. 37, Korr. Meinecke. Dort auch das zitierte Einladungsschreiben. 236 Die Resolution mit Unterschriften in: Wilhelm Kahl (Hg.): Die Universitäten und der heutige Staat. Referate, erstattet auf der Weimarer Tagung deutscher Hochschullehrer am 23. und 24. April 1926 von Wilhelm Kahl, Friedrich Meinecke und Gustav Radbruch, Tübingen 1926, 38f. 237 RANF 5, 193. 238 Vgl. Döring (Anm. 25), 88f. 239 Vgl. aaO., 90–96; Hans Schleier: Die bürgerliche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975, 45–57.
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Ruprecht oder – Adolf von Harnack. Langfristig wurde eine lebenslange Amtszeit im Sinne einer Art „Wahlkaisertum“ favorisiert.240 Diese Überlegungen bewiesen die Schwierigkeiten, die man im „Mittwochabend“ mit dem parlamentarischen System hatte. Sie zeigten überdies das Fortleben der besonders von Delbrück gehegten Überzeugung, ein Gegenüber von der durch den Reichspräsidenten repräsentierten überparteilichen Regierung auf der einen und der Volksvertretung auf der anderen Seite hätte große Vorzüge. Delbrück bekräftigte denn auch in einer 1920 erschienenen Neuauflage von „Regierung und Volkswille“ programmatisch seine Verfassungsvorstellungen aus der Vorkriegszeit. In eine solche Konstellation fügten sich die festgehaltenen Ansprüche auf Führung der öffentlichen Meinung durch die Gelehrten, wie sie sich in den Verfassungsbekenntnissen von 1920 und 1926, aber auch in Harnacks Stellungnahme zur Präsidentenwahl 1925 niederschlugen. Inwieweit Harnack an solchen Überlegungen einer Verfassungsreform im präsidialen Sinn beteiligt gewesen ist, läßt sich an den Quellen nicht nachweisen. Es ist aber zu vermuten, daß er mit solchen Vorstellungen sympathisierte. Seine 1919 in einem Vortrag gebrauchte Formulierung, die Republik müsse noch „Feuer haben und braten […], damit sie überhaupt genießbar wird“, dürfte aber neben der im Vordergrund stehenden geistig-idealistischen Vertiefung entsprechende Vorstellungen zum Ziel gehabt haben. Allerdings fehlte diese Aussage in der 1923 veröffentlichten Fassung des Vortrages. Insgesamt ist festzuhalten, daß Harnacks Zustimmung zur Republik von weniger Vorbehalten gekennzeichnet war als die Delbrücks, der 1919 etwa noch für schwarz-weiß-rot als Reichsflagge eingetreten war und daher den Flaggenkompromiß von 1926 ausdrücklich begrüßte241, während Harnack nur von der „leidige[n] Flaggenfrage“ sprach.242 Skepsis gegenüber dem politischen Personal der Republik klang bei Delbrück noch 1926 durch: „Weder Stresemann noch die Demokraten sind mir sympathisch, aber wenn man politisch überhaupt arbeiten will, muß man sie unterstützen.“243 Harnacks Urteil war wegen seiner Erfahrungen mit Politikern wie Ebert, Stresemann und Marx wesentlich positiver. Hinzu kam der Umstand, daß Harnack auch seinen Umgang mit den parlamentarischen Gremien günstig bewertete. Insgesamt wird man Harnack im Anschluß an eine von ihm selbst 1927 verwendete Formulierung als „konservativen Republikaner“ zu charakterisieren haben. Ihm zufolge war es genau dieses Seg240
Vgl. den Bericht des Delbrück-Schülers Martin Hobohm an Otto Baumgarten vom 10.6.1920 (Abschrift), in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Korr. Hobohm; vgl. zum Vorgang auch Döring (Anm. 25), 71–73. 241 Vgl. PJ 177 (1919), 298; Hans Delbrück: Für die Flaggenverordnung, in: DAZ Nr. 212 vom 8.5.1926. 242 Harnack an Rade am 10.5.1925, in: BwR 792. 243 Delbrück an Gustav Roloff am 24.2.1926, in: SBB-PK, Nl. Delbrück, Briefkonzepte G. Roloff.
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ment eines konservativen Republikanismus, das dem politischen Leben der Republik fehlte und ihre Anfälligkeit gegenüber den Attacken der antirepublikanischen Rechten ermöglichte. Eine entsprechende „konservativ-republikanische Partei“ sah er als wichtigen Schritt zur Konsolidierung der Republik an.244 Mehr noch als an den kooperationsbereiten Flügel der Deutschnationalen dürfte Harnack dabei wohl an die von Eugen Schiffer 1925 gegründete Liberale Vereinigung gedacht haben, die zum Fernziel eine Zusammenführung von Teilen der DDP und der DVP hatte.245 Von Schiffer zum Beitritt in die leitende Kommission der Vereinigung aufgefordert, begrüßte Harnack ausdrücklich die neue Organisation, lehnte einen Beitritt aber mit Blick auf die ihm durch seine wissenschaftsorganisatorischen Aufgaben abverlangte Überparteilichkeit ab, die ihm „Zurückhaltung in politicis zur obersten Pflicht“ mache.246 Diese immer wieder betonte Überparteilichkeit, die Harnack nicht als Widerspruch zu seiner grundsätzlichen Bejahung der Republik empfand, war freilich mehr als nur eine Konsequenz aus seiner Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Sie ist auch nicht allein mit Harnacks fortgeschrittenem Alter zu erklären. Vielmehr kam darin die Kontinuität seines gelehrtenpolitischen Selbstverständnisses über die politischen Umbrüche hinweg zum Ausdruck. Das galt ebenso – bei aller grundsätzlichen Bejahung der Parteienvielfalt – für sein Werben um überparteilichen Konsens und positive Mitarbeit. Politische Stellungnahmen wie die von 1925 erfolgten aus Gewissensgründen, und auch die berechtigte Klage über die mangelnde Unterstützung der Verfassung in der hohen Beamtenschaft war für ihn ebenfalls mehr ein sittliches als ein politisches Problem. Nicht nur mit seinen Versuchen einer geistidealistischen Vertiefung der Gegenwart, sondern auch mit dem gelehrtenpolitischen Gestus von Überparteilichkeit und Konsensstreben stand Harnack noch mit einem Bein im wilhelminischen Kaiserreich. Für die Republik war die Unterstützung durch Harnack dennoch überaus wichtig. Wenn ein herausragender wissenschaftspolitischer Repräsentant des alten Systems sich in den Dienst der neuen Ordnung zu stellen vermochte, bewies das, daß die Republik nicht für einen völligen Bruch mit der deutschen Vergangenheit stand. Als Harnack 1925 zu Recht die Bereitschaft des Bürgertums zur Kooperation mit der Sozialdemokratie als die Lebensgrundlage der Republik beschrieb, war das auch ein Appell an die bürgerlichen Kräfte. Als er sich 1928 gegen den zunehmenden Antisemitismus wandte, 244 Vgl. Harnack an Roderich von Engelhardt am 16.2.1927, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. v. Engelhardt. 245 Dazu Werner Fritsch: Art. Liberale Vereinigung, in: Dieter Fricke (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Band 3, Leipzig 1985, 357–359. 246 Harnack an Schiffer am 14.10.1925 (Entwurf ), in: Nl. Harnack, K. 41, Korr. Schiffer; Unterlagen zur Liberalen Vereinigung in: BA Koblenz, Nl. Schiffer, Nr. 23.
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unterstützte er die Bestrebungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus; er beteiligte sich angesichts der Zunahmen antijüdischer Ausschreitungen überdies an einer Umfrage des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.247 Anknüpfend an seine lebenslange Ablehnung des Antisemitismus verurteilte er die „Schmach der Friedhofsschändungen.“ Wichtiger noch als eine breite publizistische Abwehr des Antisemitismus war es nach Harnacks Überzeugung, alle Mittel der Rechtspflege wie auch der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend an den Schulen zur Bekämpfung des Antisemitismus einzusetzen.248 Angesichts der Abwehr der antirepublikanischen Agitation der Rechtsparteien DNVP und NSDAP, die im Volksbegehren gegen den Young-Plan 1929 eine neue Qualität erreichte und für die folgenden Wahlerfolge Hitlers von erheblicher Bedeutung war, erklärte sich Harnack bereit, einen Aufruf zugunsten der Politik der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung zu unterzeichnen.249 Zustande kam diese Resolution nach längeren Beratungen innerhalb des Reichskabinetts dann allerdings nicht. Als Harnack am 10. Juni 1930 nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt in Heidelberg verstarb, bedeutete das nicht nur für den deutschen Liberalprotestantismus und Harnacks Schülerkreis einen schweren Verlust. „Die Welt ist ärmer geworden, lieber Freund! Und ein großer und starker Ton Deines und meines Lebens ist verklungen“, heißt es in einem Brief des Heidelberger Neutestamentlers Martin Dibelius an seinen Marburger Kollegen Hans von Soden250 – wie der Absender ein persönlicher Schüler Harnacks. Auch in der Tagespresse wurde Harnacks Tod ausführlich kommentiert. In der kontroversen Einschätzung seines politischen Engagements in der Zeit nach 1918 spiegelten sich die politischen Fronten des Jahres 1930 exemplarisch wider. Während sozialdemokratische, Zentrums- und liberale Blätter durchweg Harnacks Verdienste um die Republik würdigten, wiederholten die Blätter der antidemokratischen Rechten ihre Verrats- und Opportunismusvorwürfe aus dem Jahr 1925. Hindenburg und Reichskanzler Brüning kondolierten Harnacks Witwe ebenso wie der sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun.251 Der im März 1930 zurück247 Vgl. Kurt Nowak: Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik, Göttingen 1991, v.a. 23f. 248 Die Schmach der Friedhofsschändungen, in: C.-V.-Zeitung 7 (1928), Nr. 47 vom 23.11.1928, 658. 249 Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Müller II: 28. Juni 1928 bis 27. März 1930. Bearbeitet von Martin Vogt, Boppard 1970, 1037, Anm. 17 (Sitzung vom 10.10.1929). 250 Dibelius an v. Soden am 11.6.1930, in: SBB-PK, Nl. Hans von Soden, K. 2. Dibelius, der auch die Heidelberger Traueransprache gehalten hatte, berichtete darin auch ausführlich über die letzten Tage Harnacks im Krankenhaus. 251 Hindenburg bzw. Brüning an Amalie von Harnack am 11.6.1930, in: Nl. Harnack, K. 33, Korr. Hindenburg, bzw. K. 28, Korr. Brüning. Das Beileidstelegramm Otto Brauns in: a.a.O., K. 28, Korr. O. Braun.
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getretene sozialdemokratische Kanzler Hermann Müller gab seiner Verbundenheit mit Harnack in einem ausführlichen Handschreiben Ausdruck und hob den „Geist Ihres Gatten, der sich in düsteren Tagen deutscher Geschichte mit seiner ganzen Kraft erst recht für das Wohl seines Volkes einsetzte“, hervor.252 In der sozialdemokratischen „Gesellschaft“ würdigte Hajo Holborn den verstorbenen Gelehrten: In ihm habe die Republik einen ihrer wichtigsten Bürgen verloren.253
252 253
Müller an Amalie von Harnack, in: Nl. Harnack, K. 38, Korr. H. Müller. Hajo Holborn: Adolf von Harnack, in: Die Gesellschaft 7/II (1930), 18–23.
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VII. Schlußbemerkung: Vom liberalen Monarchisten zum Republikaner aus historischer Einsicht Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammengefaßt und analytisch in den Blick genommen werden. Harnacks politischer Weg offenbart, daß auch eine enge Verbundenheit mit dem wilhelminischen Reich nicht zwangsläufig in antirepublikanisches Engagement nach 1918 einmünden mußte. Freilich gehörte Harnack schon vor dem Weltkrieg zu dem auf Reformen drängenden Teil der wilhelminischen Führungseliten. Versucht man, Harnacks Weg zu erklären, dann sind mehrere Faktoren heranzuziehen. Zunächst muß noch einmal auf Harnacks baltische Prägung verwiesen werden. In den baltendeutschen Kreisen war Harnack mit seiner politischen Position eine Ausnahmegestalt, hier dominierten ansonsten eindeutig konservative bis völkische Orientierungsmuster, wie die Biographien Theodor Schiemanns, Johannes Hallers und Reinhold Seebergs zeigen. Der Grund für die abweichende Position Harnacks lag wohl nicht allein darin, daß er zu einer Generation gehörte, die in ihrer Jugend den Russifizierungsdruck noch nicht in der Intensität erlebt hatte wie Seeberg oder Haller. Vielmehr kam hier die familiäre Prägung durch die Kontakte zu den liberalen und reformkonservativen Kreisen des baltischen Adels ebenso zum Tragen wie Harnacks in den Konflikten der Studienjahre gewonnene Fähigkeit zum kritischen Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Heimat. Wichtig war aber auch die Begegnung mit dem Erbe von Aufklärung und Idealismus, aus dem die Sensibilisierung für den Ausgleich von Kosmopolitismus und Nationalgedanken herrührte. Dieses Erbe wurde in den Leipziger und Gießener Jahren theologisch vertieft und in einen kulturtheologischen Entwurf eingearbeitet. Die Leipziger und Gießener Zeit brachte zudem den Beginn der lebenslangen Auseinandersetzung mit der sozialen Frage. Harnack behandelte sie vorrangig als Kultur- und Bildungsfrage, ohne allerdings dabei – wie die Auseinandersetzungen in den 1890er Jahren zeigen – die praktischen sozialpolitischen Probleme aus dem Blick zu verlieren. Harnack umschrieb die Bedeutung des Christentums wiederholt mit dem Begriffspaar Gesinnung und Tat. Die soziale Frage wurde, in ähnlicher Weise wie die Wissenschafts-
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VII. Schlußbemerkung
politik, zu einem Ort der alltagspraktischen Bewährung protestantischer Selbst- und Weltdeutung. Zentral blieb in diesem Entwurf die unverletzbare Freiheit und Würde des Individuums, die Harnack systematisch-theologisch mit seiner Umformung der traditionellen Rechtfertigungslehre zum Ort der Sicherstellung von Individualität und Personalität einholte. Daneben stand der Reich-Gottes-Gedanke für die universale Sozialisation der Menschheit sowie die Pflicht zur verantwortlichen Gestaltung der eigenen Gegenwart. Diese Pflicht lag für Harnack im freiheitlichen und zugleich sozial ausgewogenen Auf- und Ausbau einer bürgerlichen Lebens- und Gesellschaftsordnung, die der Individualität des Einzelnen Rechnung trug. Dabei rangierte die Individualmoral für Harnack vor der Sozialmoral, wie seine Beiträge auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß verdeutlichten. Damit distanzierte er sich von konservativ-autoritären Ordnungsmodellen ebenso wie von den materialistischen Weltdeutungen weiter Teile der Arbeiterbewegung, aber auch von einer Überspannung staatssozialistischer Überlegungen im Lager der bürgerlichen Sozialreformer, dem Harnack zuzurechnen ist, und setzte ganz auf die kultur- und bildungspolitische Stärkung der Einzelpersönlichkeiten. Der Protestantismus erschien ihm dabei als unverzichtbares Integral von bürgerlicher Persönlichkeitskultur wie auch des als Rechts- und Kulturstaat weiter auszubauenden Nationalstaates1, ohne daß der Protestantismus in diesen Sphären kultureller Vergesellschaftung gänzlich aufging. Im Vergleich mit Theodor Mommsen änderte sich zwar Harnacks Wirkungsweise – er war Gelehrtenpolitiker und nicht politischer Professor –, doch die Ziele und die Reformorientierung beider ähnelten sich. Mommsens Ausspruch „ich wünschte ein Bürger zu sein“2 traf auch auf Harnack zu. Harnack hat 1927 im Briefwechsel mit Roderich von Engelhardt seine eigene, explizit gegen Engelhardts Weltanschauung eines „aristokratischen Biologismus“ gerichtete „Lebensphilosophie“ wie folgt dargestellt: „Mein idealer Boden u. deshalb mein Ziel ist das, was theologisch das Reich Gottes heißt, d. h. aus der Gottes- und Nächstenliebe heraus an der Gemeinschaft bauen zu helfen, die einen Bund darstellt, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. So gut ich es bei meiner Schwachheit und Trägheit vermag, halte ich mir bei allem, was ich tue, treibe, wirke u. schaffe, dieses Ziel vor Augen […]. Der Mensch ist zum Handeln und Schaffen da; alles Ideologische ist nur Hilfsmittel u. wenn es sich auf sich selbst beschränkt, schädlich. […]. Ich begnüge mich, u. das ist mir eine heilige Pflicht, und es ist mir ein köstlicher Gewinn, an die Zustände u. das Leben heranzukommen, wie es ist und es so um einen Schritt vorwärts zu bringen. 1 Vgl. dazu Martin Rade: Machtstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat, in: ChW 22 (1908), 505–512. 2 Vgl. Lothar Gall: „Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: HZ 245 (1987), 601–623.
VII. Schlußbemerkung
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Auf den Boden seiner Armseligkeit stelle ich mich, und suche es um eine Linie vorwärts zu schieben. Das allein ist praktische u. zugleich schlechthin notwendige und zugleich die einzige Politik, die Verheißung hat, daß sie etwas schafft.“3 Man wird Harnacks Ausführungen über den „nächsten Schritt“ ebenso wie die wiederholt beschriebene „mittlere Linie“ auch als Umschreibung des gelehrtenpolitischen Agierens unter den Bedingungen des Kaiserreichs zu lesen haben. Sie zeugen von einer konsequenten und beharrlichen Reformorientierung, spiegeln aber ebenso die Verwerfungen des politischen Systems wider. Auf Einzelpersönlichkeiten und die Kooperation mit den geschichtlich gewordenen Institutionen konzentriert und so auf eine allmähliche Weiterentwicklung der bestehenden Ordnung setzend, konnte dieses Engagement auch zur Festigung bestehender Machtstrukturen führen. Das galt insbesondere für die Stellungnahmen zur Flottenrüstung, auch wenn hier bei führenden Gelehrtenpolitikern nicht zuletzt Reformperspektiven im Hintergrund standen. Harnack hat besonders auf Grund seiner positiven Erfahrungen die Reformmöglichkeiten im Zusammenspiel mit Teilen der Bürokratie überschätzt. Die Erfahrungen der Wissenschafts- und Bildungspolitik ließen sich, wie spätestens der Weltkrieg zeigte, nicht auf den Gesamtstaat übertragen. Daß ein Kultusminister Harnack trotz wiederholter Spekulationen letztlich nicht möglich war, zeigte die Grenzen auf, die selbst Harnack innerhalb des Kaiserreichs gesetzt waren. Insofern war es bezeichnend, daß Harnacks führende Stellung als Wissenschaftsorganisator nicht an der Spitze einer staatlichen Behörde, sondern einer Stiftung unter kaiserlichem Protektorat ihren institutionellen Niederschlag fand. Der Weltkrieg offenbarte das Scheitern der gelehrtenpolitischen Reformversuche, die erst unter Max von Baden im Oktober 1918 zum Zuge kamen. Harnacks anfängliche Kriegsbegeisterung zeigte die nationalistischen Einbruchstellen seines Denkens auf. Gleichwohl muß festgehalten werden, daß Harnack schon 1915 mit seiner Absage des ihm zugedachten Beitrags über „deutsche Kultur im Weltkrieg“ für den offiziösen Sammelband „Deutschland im Weltkrieg“4 das Scheitern der Wege in den Kulturkrieg eingestehen mußte, denn „wie immer ich es anpacken wollte, es kam entweder eine Apologie Deutschlands heraus […] oder ein Haufen geordneter Trivialitäten über unsere Leistungen.“5 In den Notizen Harnacks für diesen Beitrag findet sich denn auch eine Formulierung, die sich bereits als Leitlinie seines Engagements nach 1918 lesen läßt. Der Ausgleich zwischen 3 Harnack an Roderich von Engelhardt am 16.2.1927, in: Nl. Harnack, K. 30, Korr. R. v. Engelhardt. 4 Otto Hintze / Friedrich Meinecke / Hermann Oncken / Hermann Schumacher (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig/Berlin 1915. 5 Harnack an Schmidt-Ott, in: GStA-PK, Rep. 92, Nl. Schmidt-Ott, B LXXXVII, Mappe 2, Bl. 31f.
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VII. Schlußbemerkung
Deutschland und dem Westen, den Harnack befürwortete, lag in der ausdrücklichen „Anerkennung der liberal-rationell-demokratischen politischen Ideale“ des Westens „unter dem Prinzipat einer tieferen idealistischen Weltanschauung.“6 Sein Eintreten für die Republik war wohl auch das implizite Eingeständnis wenn nicht der Reformunfähigkeit des Kaiserreiches, so doch der prinzipiellen Reformunwilligkeit wesentlicher Teile seiner politischen Führungsschicht, wie sie der Krieg offenbart hatte. Harnacks Entschluß zur positiven Mitarbeit nach 1918 entsprang dabei natürlich zunächst seinem Willen zum Wirken, war also in erheblichem Maße von Pragmatismus bestimmt sowie von der Einsicht, sich in der Stunde der Not der Arbeit in den Institutionen, an deren Spitze er gestellt war, nicht entziehen zu können. Die Lähmungen durch den „täglich niederdrükkenden Schmerz um das Vaterland“ waren für Harnack, wie er 1921 an Bülow schrieb, nur „durch rastlose Tätigkeit zu paralysiren – das einzige Mittel, das ich besitze neben jenem Optimismus: ‚auf Hoffnung, obschon doch nichts zu hoffen ist.‘ Ich bin sonst kein Anhänger der Philosophie des ‚Als ob‘; aber in Bezug auf das Vaterland kann man geistig u. seelisch heute nur bestehen, wenn man schafft, ‚als ob‘ gewiß auch alles wieder gut würde. Einen gewissen Trost bietet mir auch die Geschichte, wenn man seinen Ausgangspunkt hoch genug nimmt.“7 Mit seiner Sicht der Geschichte sprach Harnack einen zweiten Punkt an, der für sein Engagement nach 1918 entscheidend war. Entwicklungsgeschichtlichem Denken sowie dem Glauben an in der Geschichte sich immer mehr verwirklichenden Kulturwerten verhaftet, konnte Harnack den Weg zur Republik auch mit den Mitteln der Historie deuten. Die Republik entsprach den inzwischen in Deutschland erreichten kulturellen und politischen Standards, so daß in seinem Denken an die Stelle der „sozialen Monarchie“ die „soziale Republik“ trat. Das verband sich bei Harnack mit Aufrufen zur positiven Mitarbeit – „Gottes Mitarbeiter wollen wir sein“8, „Nur vorwärts und nicht verzweifeln“9 oder „Hingebende Arbeit aber ist ist die Brunnenstube aller bürgerlichen Tugenden, schafft einen Chor von solchen und überwindet die Anläufe der schlimmen Mächte“10 –, die den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Revolution und der mit ihr zum Ausdruck kommende politische und kulturelle Modernisierungsschub gar nicht stattgefunden. Andererseits bemühte sich Harnack doch auch um eine Verarbeitung dieser Erfahrungen jenseits von Kulturseligkeit auf der einen und radikalen Diastase- und Krisenmodellen auf der anderen Seite. Insofern ist gera6 Konvolut „Die geistige und kulturelle Leistung der Deutschen“, in: Nl. Harnack, K. 13, Nr. 71, Bl. 9. 7 Harnack an Bülow am 4.6.1921, in: BA Koblenz, Nl. Bülow, Nr. 83. 8 RANF 4, 410. 9 RANF 4, 415. 10 RANF 5, 61.
VII. Schlußbemerkung
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de Harnacks erneute Hinwendung zu einer Gestalt wie Marcion – allerdings ohne sich dessen dualistisches Weltbild zu eigen zu machen –, von besonderem Interesse: „Unsere gegenwärtige Zeit war ganz etwas für ihn; denn den Natur- und Geschichtsverlauf hielt er zwar für gesetzmäßig und gerecht, aber für abominabel u. gottlos; das Reich Gottes ragte als etwas Fremdes ihm in das Reich des Kleinen und Gemeinen hinein u. hatte außer in den Herzen einiger erlöster Menschen fast nirgends eine Stätte.“11 Angesichts der „antihistoristischen Revolution“12 in Theologie und Philosophie stieß Harnack damit aber auf wenig Resonanz und galt weithin als überholt und veraltet. Ein Zusammenhang von liberaltheologischer Position und prorepublikanischer Orientierung ist zwar nicht zwingend, läßt sich aber zumindest bei führenden liberalen Theologen aus der Generation der 1845 bis 1865 Geborenen, wie neben Harnack Wilhelm Herrmann, Otto Baumgarten, Martin Rade und Ernst Troeltsch, feststellen. Harnacks theologische Position, die ganz auf eine traditionskritische Persönlichkeitsreligion hinauslief, dürfte ihm die Bewältigung des Systemwechsels erleichtert haben, da auch diese Position die äußere Ordnung eben daran maß, inwiefern sie zur Entfaltung freier Persönlichkeiten beitrug. Genau dies leistete die neue Demokratie für Harnack dadurch, daß sie das Verantwortungs- und das Pflichtbewußtsein des Einzelnen ebenso steigerte wie die Bildung und das Allgemeinwissen. Gerade weil Harnack an diesen klassisch liberalen Positionen gewissermaßen als Traditionalist festhielt, konnte er die neue Ordnung bejahen, auch wenn ihn dies in den Augen vieler Zeitgenossen – darunter nicht zuletzt ein Großteil der jüngeren Theologen – als altmodisch und überholt erscheinen ließ. Ähnlich wie für Friedrich Meinecke gilt für Harnack, daß sein „weltanschaulicher Traditionalismus […] nicht Hindernis, sondern Bedingung seiner politischen Liberalität“ war.13 Insofern kann von einer relativ geradlinigen Entwicklung Harnacks gesprochen werden. Das schloß Brüche und „Schockerfahrungen“ nicht gänzlich aus, doch verfügte er über ein Instrumentarium, das dabei half, diese in angemessener Weise zu bewältigen. Für diesen Zusammenhang von Harnacks Theologie und seiner politischen Bejahung der Republik spricht auch der Umstand, daß sich die meisten der einschlägigen Äußerungen Harnacks nach 1918 wohl ganz bewußt in besinnlich-religiösen Texten finden.14 Man 11 Harnack an seine Tochter Elisabet am 28.7.1919, in: SBB-PK, Nl. E. von Harnack, Nr. 592 b. 12 Vgl. dazu grundlegend Kurt Nowak: Die „antihistoristische Revolution.“ Symptom und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, 133–171. 13 Stefan Meineke: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, 304. 14 Daher dürfte die Begründung Dörings, Harnack eben deshalb nicht genauer zu untersuchen, zu kurz greifen, vgl. Herbert Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum po-
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VII. Schlußbemerkung
kann darum Harnacks politische Entwicklung als die eines sozialliberalen Monarchisten im weiteren Umfeld Naumanns hin zu einem liberal-konservativ orientierten Republikaner aus historischer und theologischer Einsicht beschreiben. Für seine liberale Kulturtheologie gilt ebenso wie für seine historische Weltorientierung ein von Kurt Nowak auf Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke und Hans Delbrück gemünztes Urteil: „In einem sich recht verstehenden Historismus sind starke Gegengehalte gegen ein Verlassen des Raumzeitkontinuums Geschichte eingebaut, gegen die Versuchung, an die Stelle der Wirklichkeit Axiome zu setzen und Willensziele zu proklamieren. In diesem Sinne ist dem Historismus ein gesellschaftlicher Auftrag immer schon mitgegeben.“15 Ein dritter und letzter, mit diesem „gesellschaftlichen Auftrag“ verbundener Grund tritt noch hinzu. In einer Langzeitperspektive war nicht die Revolution von 1918 die entscheidende Zäsur für Harnacks Denken, sondern die Spaltung der civitas academica an der Frage nach Kriegszielen, außenpolitischer Orientierung und innenpolitischen Reformprojekten. Harnack hatte seit den 1890er Jahren auf vorsichtige Reformen im Zusammenspiel mit Teilen der bürokratischen Funktionselite – besonders repräsentiert durch eine Gestalt wie Althoff – gesetzt und dabei seine Einflußmöglichkeiten auf Grund seiner Erfahrungen mit der preußischen Unterrichtsverwaltung deutlich überschätzt. Der Weltkrieg und besonders das Jahr 1917 bedeuteten mit dem Sturz Bethmanns Hollwegs und Valentinis dann das Scheitern dieses Versuchs. Wichtige Führungsgruppen wie Teile der Beamtenschaft und die Militärführung hatten sich diesen Versuchen nicht nur entzogen, sondern sich sowohl unfähig als auch unwillig erwiesen, einen allmählichen Wandel zuwege zu bringen. Besonders die Militärführung hatte durch ihr Verhalten im Oktober und November 1918 selbst die Revolution mit ausgelöst und so auch den letzten, verspäteten Reformversuch zunichte gemacht. Die Erfahrungen des Mißerfolgs seiner Bemühungen gerade bei den politischen Eliten des wilhelminischen Deutschland haben, wie schon Hajo Holborn 1930 festgestellt hat, Harnacks Bereitschaft zur Mitarbeit in der ersten deutschen Demokratie wohl wesentlich erleichtert.16 Die Republik konnte er schließlich auch deshalb als historisch notwendige Entwicklungsstufe deuten, weil die Reform des alten Systems an den konservativen Kräften gescheitert war. Die Demokratisierung, die Harnack gesellschaftlich schon vor 1914, politisch spätestens seit 1915/16, gefordert hatte, schien ihm mit dem neuen Staat einen wichtigen Schritt vorangekommen zu sein, so daß die Frage der Staatsform – solange sie diesen Anforderungen genügte – in den Hintergrund trat. Entscheidend blieb das „sozial“, zweitrangig die litischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975, 150f. 15 Nowak: Revolution (Anm. 12), 169. 16 Vgl. Hajo Holborn: Adolf von Harnack, in: Die Gesellschaft 1930/II, 18–23.
VII. Schlußbemerkung
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Frage Monarchie oder Republik. Nur solange die Monarchie individuelle Freiheit und sozialen Fortschritt sicherte, diente er ihr loyal. Hätte er aber dem Verfassungswechsel nicht zustimmen können, so Harnack 1925, dann wäre es als Beamter seine Pflicht gewesen, „seinen Abschied zu nehmen.“17 Es sprach trotz aller Abständigkeit mancher der kulturellen Debattenbeiträge Harnacks nach 1918 für dessen politische Einsicht, daß er das Überleben der Republik ganz wesentlich von der Bereitschaft des Bürgertums zur konsequenten Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie abhängig sah. In diesem Sinn beabsichtigte Harnack mit seinem Engagement angesichts der breiten moralischen Autorität, über die er auf Grund seiner theologischen wie wissenschaftsorganisatorischen Arbeit verfügte, wohl auch noch einmal in Gesinnung und Tat der bürgerlichen Öffentlichkeit voranzuschreiten. Die 1933 eintretende „deutsche Katastrophe“18 zu erleben, ist Harnack erspart geblieben. Es war auch die Katastrophe, die Harnack für den Fall erwartet hatte, daß große Teile des Bürgertums die von den Sozialdemokraten zur Kooperation ausgesteckte Hand „in Verblendung“ zurückwiesen. Harnack war kein vorbehaltloser Protagonist des „langen Wegs nach Westen.“19 Gleichwohl knüpfte die junge liberaldemokratische Republik seiner Meinung nach an die 1848 nicht gelöste Frage der Verbindung von Einheit und Freiheit an. Auch das sprach nach Harnack für die Berechtigung des neuen Staates. Indem Harnack die erste deutsche Demokratie nicht nur hinnahm, sondern ausdrücklich unterstützte und den Einklang von Demokratie und Nation betonte, ist er kulturell, theologisch und nicht zuletzt politisch ein wichtiges Stück dieses Weges nach Westen mitgegangen.
17 Harnack an Hermann Kötter am 3.1.1925 (Abschrift), in: Nl. Harnack, K. 35, Korr. Kötter. 18 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Zürich/Wiesbaden 1946. 19 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung. 2 Bände, München 2000.
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VI. Harnack und die erste deutsche Demokratie
Nachwort zur 2. Auflage 1. Zum gegenwärtigen Stand der Harnack-Forschung Das hier erneut vorgelegte Buch ist eine historische Dissertation, die zugleich versucht, interdisziplinäre Zugänge zwischen Theologie und Geschichtswissenschaften zu erkunden. Der Verfasser leugnet nicht, dass er – darin gewiss in der Tradition einer historisch-kritischen Theologie, wie sie nicht zuletzt von Harnack oder Ernst Troeltsch vertreten wurde – die Theologie wie die Geschichtswissenschaft auch als historische Kulturwissenschaften begreift.1 Insofern gehört es – wie in der Einleitung ausgeführt – in eine ganze Reihe neuerer theologischer wie historischer Versuche, das Verhältnis von Protestantismus, Kultur und Politik auszuleuchten und historische wie gegenwartskulturell bedeutsame Zuordnungsversuche auszuloten. Dazu sei noch einmal ausdrücklich an die in der Einleitung herangezogenen Arbeiten Kurt Nowaks als dem eigentlichen Initiator der neueren Harnack-Forschung sowie die Forschungen Wolfgang J. Mommsens, Rüdiger vom Bruchs und Gangolf Hübingers zur Geschichte der Intellektuellen im Kaiserreich und zur Gelehrtenpolitik erinnert. Gleiches gilt für das Bemühen um eine systematische wie editorische Erschließung klassischer Gestalten eines „aufgeklärten Protestantismus“ wie Friedrich Schleiermacher und Ernst Troeltsch, für die in diesem Zusammenhang die vielfältigen Beiträge von Ulrich Barth, Friedrich Wilhelm Graf und Trutz Rendtorff genannt seien. Die erneute Beschäftigung mit dem Thema Protestantismus und Kultur ist nicht auf den akademischen Betrieb beschränkt geblieben, sondern ist auch im kirchlichen Protestantismus der Gegenwart auf Resonanz gestoßen. Das Thema Protestantismus und Kultur hat in den letzten 15 Jahren weiter an theologischer wie kirchenpolitischer Bedeutung gewonnen, die sich u. a. im Jahre 2006 in der Errichtung des Amtes eines „Kulturbeauftragten“ des Rates der EKD niedergeschlagen hat. Auch im Rahmen der seit 2006 in wechselnder Intensität geführten Diskussion um eine strukturelle wie inhaltliche Reform des kirchlichen Protestantismus ist vom damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber die Bedeutung des „Kulturprotestantismus“ für die Gegenwartsdebatten betont worden. Anlässlich der Eröffnung des 1 Friedrich Wilhelm Graf: Wozu noch Theologie?, in: Ders.: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 249–278, v. a.261–267.
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„Zukunftskongresses“ der EKD im Januar 2007 in Wittenberg nannte Huber die im Glauben des Menschen begründete „Freiheit der Person und ihres Gewissens den entscheidenden Beitrag der evangelischen Christenheit zum christlichen Zeugnis unserer Zeit.“ Dabei gehe es keineswegs um eine „schlichte Anknüpfung an einen neuprotestantischen Kulturprotestantismus. Vielmehr muss man auch Friedrich Schleiermacher und Adolf von Harnack, die in solchen Zusammenhängen immer genannt werden, zutrauen, dass sie genau an dieser Stelle einen urreformatorischen Impuls aufgenommen haben.“2 Auch die vielfältigen Aktivitäten, die die EKD im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 2017 unternimmt, gehören in diesen Zusammenhang. Gerade die „Reformationsdekade“, die mit ihren unterschiedlichen Jahresthemen verschiedene Aspekte der Wirkung – oder, wie man zu Harnacks Zeiten gesagt hätte, der „Kulturbedeutung“ – der Reformation wie des Protestantismus herausgestellt hat, belegt dies bei aller Kritik, die man an ihr im Einzelnen üben kann. Besonders in den reflektierteren Beiträgen zu diesem Thema folgt sie dabei – ohne es immer explizit zu machen – einer Grunderkenntnis des theologischen Historismus, indem keine zu einlinigen oder recht ungebrochenen Wirkungszusammenhänge postuliert werden, aber zugleich die Relevanz reformatorischer Einsichten unter gänzlich veränderten kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen plausibel gemacht werden soll. Darauf wird am Ende dieses Nachwortes noch zurück zu kommen sein. Natürlich ist die Beschäftigung mit Harnack in den vergangenen Jahren weitergegangen. Hier sind weniger weitere Gesamtdeutungen zu nennen als vielmehr zunächst Quelleneditionen. Aus den Brief korpora ist durch Joachim Weinhardt der Briefwechsel mit Albrecht Ritschl herausgegeben worden.3 Hinzu kommen die Briefwechsel mit Harnacks Jugendfreund Gustav von Bunge4 und einige neue Brieffunde zum Verhältnis Harnacks zu Erik Peterson.5 Wertvolles Briefmaterial enthalten sodann die Aufsätze von Claus-Dieter Osthövener über Harnacks Verhältnis zu seinen Schülern
2
Wolfgang Huber: Evangelisch im 21. Jahrhundert, in: Ders.: Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012, 37–56, hier 46. 3 Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf von Harnack 1875–1889, Tübingen 2010. 4 Christian Nottmeier/Claus-Dieter Osthövener: Adolf von Harnacks Briefwechsel mit Gustav von Bunge, in: ZNThG/JHMTh 12 (2005), 287–340. 5 Christian Nottmeier (Hg.): Neu entdeckte Brief Erik Petersons an Adolf von Harnack (1926–1930), in: Giancarlo Caronello (Hg.): Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012, 153–160.
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Friedrich Loofs6 und Hermann Gunkel7. Friedemann Steck hat zudem Harnacks unveröffentlichte Vorlesung über „Encyklopädie der Theologie“, die er 1884 in Gießen gehalten hat, zugänglich gemacht.8 Björn Biester ist den Bezügen Harnacks in den USA in den 1890er Jahren nachgegangen.9 Zudem ist jüngst eine Nachschrift von Harnacks Vorlesung über „Einleitung in das Neue Testament“ vom Wintersemester 1899/1900 ediert worden.10 Wichtige Einblicke, auch in Harnacks Beziehungen und Förderungen der bürgerlichen Frauenbewegung, gibt die inzwischen vorliegende Biographie über Harnacks Tochter Agnes von Zahn-Harnack.11 Zahn-Harnacks Lebenslauf zeigt zudem eindringlich, wie sie sich nicht zuletzt in der Beschäftigung mit Theologie und Biographie des Vaters als „liberale (Laien)Theologin im Lager der Bekennenden Kirche sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch gegen eine durch Dogmatismus und Ahistorizität verengte Theologie“ positionierte.12 Zur Familie Harnacks und ihren Schicksalen in den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts hat Friedhilde Krause einen instruktiven Überblick veröffentlicht13, während Björn Biester dem Schicksal der Bibliothek Harnacks nachgegangen ist.14 Für die theologischen Anfänge Harnacks sei an dieser Stelle noch einmal auf die von Friedemann Steck aufgefundene und mustergültig edierte Edition von Harnacks Preisarbeit über Marcion aus dem Jahr 1870 verwiesen.15 Die Preisschrift ist nicht nur als Dokument der lebenslangen Beschäftigung Harnacks mit Marcion von Interesse, sondern sie zeigt ebenso Harnacks historiographische wie theologische Grundanliegen in einer ersten frühen 6
Claus-Dieter Osthövener: Historismus und Tradition. Zur Gelehrtenfreundschaft zwischen Friedrich Loofs und Adolf von Harnack, in: Jörg Ulrich (Hg.): Friedrich Loofs in Halle. Berlin/New York 2010, 63–119. 7 Claus-Dieter Osthövener: „Eine neue Flutwelle historischen Geistes“. Hermann Gunkel und Adolf von Harnack, in: Thomas Wagner (Hg.): Kontexte. Biografische und forschungsgeschichtliche Schnittpunkte der alttestamentlichen Wissenschaft. NeukirchenVluyn 2008, 131–156. 8 Friedemann Steck (Hg.): Adolf Harnacks Vorlesung über ‚Encyklopädie der Theologie‘ (1884), in: ZNThG/JHMTh 13 (2006), 179–226. 9 Björn Biester: Adolf von Harnack und die New Yorker Zeitschrift „The Outlook“, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 18 (2005), 49–67. 10 Adolf von Harnack: Einleitung in des Neue Testament. Berliner Vorlesung im Wintersemester 1899/1900. Eine Nachschrift von Carl Richard Schenkel. Hgg. von Johann Anselm Steiger, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 11 Gisa Bauer: Kulturprotestantismus und frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950), Leipzig 2006, v. a. 71–88. 12 AaO., 295. 13 Friedhilde Krause: Menschen, Bücher und Bibliotheken. Adolf von Harnack und seine Familie (I und II), in: Marginalien 2/2003, 26–41 und 3/2003, 3–21. 14 Björn Biester: Eine Gelehrtenbibliothek im 20. Jahrhundert: Adolf von Harnack, in: Aus dem Antiquariat 2/2006, 102–110. 15 Adolf Harnack: Marcion: Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator. Die Dorpater Preisschrift (1870). Hgg. von Friedemann Steck, Berlin/New York 2003.
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Gestalt. Sie belegt die sich dann in ihrer Ausführung noch verändernden, aber zugleich bis ans Lebensende bedeutsamen Grundfragen der Theologie Harnacks nach dem Verhältnis von religiöser Subjektivität, Lehrbildung und Institutionalisierung der Religion. Auch das Problem der Wesensbestimmung lässt sich bereits in der Preisschrift finden. Harnacks Beschäftigung mit Marcion wie sein Verhältnis zum Judentum ist in der 2004 erschienenen Studie von Wolfram Kinzig untersucht worden.16 Kinzigs Studie zeigt deutlich, dass Harnacks Stellungnahmen zum Antisemitismus seiner Zeit durchgehend ablehnend ausfallen. Die von Kinzig zugleich editierte Korrespondenz mit Houston Stewart Chamberlain unterstreicht dies noch. Ob – wie Kinzig behauptet – allein schon der Umstand dieser Korrespondenz „einen dunklen Schatten auf die Biographie des großen Kirchenhistorikers“ werfe17, muss aber angefragt werden. Dieses Urteil unterschätzt die starke Faszinationskraft, die Chamberlain nicht nur auf Theologen wie Reinhold Seeberg oder Albert Schweitzer, sondern selbst auf jüdische Intellektuelle wie Martin Buber ausübte, der Chamberlain 1905 sogar für einen Beitrag zur „Rassenfrage“ in seiner Schriftenreihe „Die Gesellschaft“ gewinnen wollte.18 Dass Harnack gar fasziniert von dem „geschlossene(n) Deutungsangebot“19 Chamberlains gewesen sei, wird aus den Quellen nicht belegt. Tatsächlich dürfte auch das Gegenteil der Fall sein. Harnack nahm durchaus sensibel die Brüchigkeit der religiösen wie historischen Weltanschauungen der Moderne wahr und blieb so geschlossenen Weltdeutungsangeboten gegenüber ausgesprochen reserviert. Das teilte er auch Chamberlain mit, als er diesem seine Reserven gegenüber Richard Wagner und dem Bayreuther Kreis erläuterte: „In diesem meinem Subjekt verbinde ich Religion, Wissenschaft und Kunst, aber im Objekt halte ich sie auseinander und schöpfe aus der Verbindung dort keine Kraft noch Klarheit.“20 Kinzigs starke Betonung von Harnacks Marcion-Beschäftigung aus der Perspektive der Kanonfrage wie auch seine Bewertung von Harnacks Verhältnis zum Judentum ist in jüngster Zeit von Ekkehard Mühlenberg hinterfragt worden.21
16 Wolfram Kinzig: Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentieren Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, Leipzig 2004. 17 AaO., 231. 18 Dazu jetzt Sven Brömsel: Exzentrik und Bürgertum. Houston Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer Intellektueller, Berlin 2015. 19 Kinzig (Anm. 16), 230 f. 20 Harnack an Chamberlain am 15.6.1911, in: aaO., 250 f. 21 Ekkehard Mühlenberg: Adolf von Harnack – Marcion und die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments, in: Ulrich Barth/Roderich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hgg.): Christentum und Judentum. Berlin – New York 2012, 574–591.
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Natürlich klingt mit Marcion das auch in jüngster Zeit äußerst heftig diskutierte Verhältnis Harnacks zum Judentum an 22 – erneut auch ausgelöst durch einen Aufsatz Notgers Slenczkas zum Umgang mit der Kanonizität des Alten Testaments, in dem Positionen Schleiermachers und Harnacks aufgegriffen werden.23 Es ist hier nicht der Ort, diese im Verlauf wie in der Intensität in vielfacher Hinsicht merkwürdige Debatte zu verfolgen. Es wäre in diesem Zusammenhang jedoch spannend, den hier zugrunde gelegten Begriff des Kanons zu thematisieren, der sich in den Beiträgen Kinzigs wie dann auch Slenczkas v. a. auf den Kanon als Lehrnorm bezieht. Es dürfte insgesamt schwierig sein, Harnacks Beschäftigung mit Marcion vorrangig von der Frage der Kanonizität des Alten Testaments her zu interpretieren. Das ist mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Buches zweifellos wichtig und notwendig, verkürzt jedoch zu die vielfältigen Deutungs perspektiven, unter denen Harnacks Beschäftigung mit Marcion stand. Man kann jedoch kritisch fragen, ob Harnack hier nicht selbst einen zu normativen Begriff des Kanons als Norm christlicher Lehre vertritt und damit einer allein auf die Kanonfrage fixierten Interpretation dieses Buches Vorschub geleistet hat.24 22
Vgl. dazu jetzt Christian Nottmeier: Der späte theologische Liberalismus: Harnack, Rade, Naumann, in: Martin Ohst/Andreas Stegmann/Dorothea Wendebourg (Hgg.): Protestantismus – Antijudaismus – Antisemitismus, Tübingen 2017, 342–369. Methodisch wie inhaltlich höchst problematisch ist die schmale Dissertation von Sonja Lukas-Klein: Das ist (christliche) Religion. Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“, Berlin 2014. Lukas-Klein stellt die These auf, Harnack „entwarf mit seinen wissenschaftlichen Hintergrundüberzeugungen Negativbilder von „den Anderen“ und trug so zu ihrer Ausgrenzung und Diffamierung bei“ (168). Das wird mit Blick auf Judentum, Katholizismus und konservativen Protestantismus behauptet, ohne das eine diskurshistorische Einordnung erfolgt, was bei so weitreichenden Thesen aber unbedingt notwendig wäre. Mit Blick auf Harnacks Bild des Judentums heißt es: „Harnacks jüdische Fremdheitskonstruktion ist von „antisemitischen Normalformen“ geprägt“ (146). Diese und andere weitreichenden Thesen bis hin zum breit verhandelten Kolonialismus werden allerdings kaum mit Texten Harnacks belegt, was mit Blick auf den Begriff der Rasse auch nicht möglich ist, da Harnack diesen ausdrücklich ablehnt. Dass bei Harnack der Religionsbegriff diese Funktion übernehme (147), wird nicht plausibel gemacht. Von Harnacks öffentlicher Kritik am modernen Antisemitismus erfährt man nichts – die entsprechenden Texte Harnacks finden sich auch nicht im Literaturverzeichnis, das neben der Wesensschrift lediglich das Marcion-Buch und einen kurzen weiteren Titel aus der Feder Harnacks nennt. Das ist aber der Wichtigkeit wie der Brisanz des Themas schlicht nicht angemessen. 23 Notger Slenczka: Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt (Hg.): Das Alte Testament in der Theologie, Leipzig 2013, 83–119, v. a.89–95. 24 Sowohl Kinzig wie Slenczka – und dessen zahlreiche Kritiker – scheinen mir letztlich die autoritative Lehrform im Verständnis des Kanons zu überschätzen, vgl. dazu auch Ulrich Barth: Symbolisches Kapital. Gegen eine christliche Relativierung des Alten Testaments, in: Zeitzeichen 10 (2015), 12–15 sowie Rochus Leonhardt: Viel Lärm um Nichts. Beobachtungen zur aufgeregten Diskussion um den Berliner Theologen Notger Slenczka, in: Zeitzeichen 6/2015, 13–16.
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In den vergangenen Jahren sind zudem zwei wichtige Werke Harnacks neu aufgelegt worden. Das gilt für das „Lehrbuch der Dogmengeschichte“, das seit 2015 in einem Nachdruck der vierten Auflage von 1909 vorliegt und dazu mit einem kenntnisreichen und instruktiven Vorwort von Christoph Markschies versehen wurde.25 Schon 2005 hat Claus-Dieter Osthövener eine ausgezeichnete kritische Ausgabe der Wesensschrift vorgelegt, die 2012 in dritter Auflage erschienen ist.26 Osthövener bietet neben dem Text dieses zweifellos weitverbreitetsten und einflussreichsten Werks Harnacks weitere Materialien aus dem Nachlass. Zudem geben umfangreiche Anmerkungen einen faszinierenden Einblick in die theologie- wie werkgeschichtlichen Zusammenhänge dieses Buches. Ein Nachwort bietet einen präzisen und nuancierten Überblick über die Biographie wie Theologie Harnacks und erläutert die grundsätzliche Konzeption sowie die historiographischen wie theologischen Zentralthesen dieser „Darstellung des Christentums in einem freien Geist.“27 Osthövener hat mit dieser Ausgabe zugleich seine Bemühungen fortgesetzt, Harnacks systematisch-theologische Prämissen wie seinen reflektierten theologischen Historismus zu rekonstruieren und ihn auch als Systematiker zu präsentieren.28 In dieser Linie liegen auch seine Ausführungen zur Rolle Harnacks im Apostolikumstreit von 189229 sowie seine Rekonstruktion des für Harnacks historiographische Arbeiten wichtigen Begriffs der Transformation.30 Der systematischen wie theologiehistorischen Rekonstruktion wesentlicher Aspekte der Theologie Harnacks widmet sich Roderich Barth mit seiner präzisen Untersuchung des Seelenbegriffs Harnacks.31 Da Harnack bekanntlich in seiner berühmten Wesensbestimmung mit der Formulierung 25 Christoph Markschies: Vorwort, in: Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 1. Bd. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Um ein aktuelles Vorwort erweiterter reprographischer Nachdruck der 4., neu durchgearbeiteten u. vermehrten Auflage, Tübingen 1909, Darmstadt 2015 (12 unpaginierte Seiten vor S. V). 26 Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Hgg. v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 32012. 27 AaO., 292. 28 Claus-Dieter Osthövener: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296–331. Vgl. als Überblick zum systematischen Profil Harnacks auch Christian Nottmeier: Adolf von Harnack. Die Religion der individuellen Freiheit, in: Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hgg.): Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 39–50. 29 Claus-Dieter Osthövener: Bekenntniskritik im Namen des Evangeliums – am Beispiel des Apostolikumstreits, in: Peter Gemeinhardt/Bernd Oberdorfer (Hgg.): Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, Gütersloh 2008, 184–204. 30 Claus-Dieter Osthövener: Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, 267–279. 31 Roderich Barth: Seele nach der Auf klärung. Studien zu Herder und Harnack, Tübingen 2017 (im Erscheinen). Ich danke Roderich Barth, der mir freundlicherweise das Manuskript seiner Arbeit vorab zur Verfügung gestellt hat.
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vom „unendlichen Wert der Menschenseele“ den Seelenbegriff an einer systematisch entscheidenden Stelle seiner Christentumsdeutung gebraucht, führt Barths anregende Studie in das Zentrum der Theologie Harnacks. Barth widmet sich dabei in drei Schritten dem methodischen Profil in der Auseinandersetzung mit Dilthey, verfolgt dann die Grundlegung seines Seelenbegriffs in der Deutung Augustins und rekonstruiert schließlich die zentrale Funktion des Seelenbegriffs im „Wesen des Christentums“, um abschließend das systematische Profil von Harnacks Seelenverständnis prägnant zu skizzieren. Der kaum zu unterschätzenden Bedeutung Augustins für Harnack hat sich zudem Martin Ohst gewidmet und Harnacks Augustindeutung nicht nur in die Entwicklung der Augustinforschung von Ritschl über Harnack bis zu Holl eingeordnet, sondern zugleich die ihr zugrundeliegenden historiographischen wie systematisch-theologischen Reflektionsleistungen Harnacks gewürdigt.32 Ohst legt dabei zugleich den inneren Zusammenhang zwischen Harnacks Augustin- und Lutherdeutung offen.33 Auf einen wichtigen Aspekt der Biographie Harnacks hat Johann Hinrich Claussen durch die Veröffentlichung zweier bisher unbekannter Brief Harnacks an seine Nichte Emmi Delbrück hingewiesen: 34 Harnack als Seelsorger, der mit feinem Gespür die je individuellen Fragen und Nöte seines Gegenübers aufnimmt und diese in unaufdringlicher und behutsamer Weise in die Sinn- und Deutungszusammenhänge des christlichen Glaubens einzuspielen versucht. Ähnliche seelsorgerliche wie homiletische Kompetenz belegen die schon 1931 erschienenen Andachten Harnacks, die er an einige wenige Familienmitglieder gerichtet hatte.35 Die vielleicht größte öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr Harnack allerdings im Rahmen des Deutschlandbesuchs von Papst Benedikt XVI. im September 2006.36 Die Debatte um dessen Regensburger Rede führte in gewisser Weise sowohl ins Zentrum der theologischen Bemühungen Joseph 32 Martin Ohst: Augustindeutungen des protestantischen Historismus, Norbert Fischer (Hg.): Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Bd. 2: Von Descartes bis zur Gegenwart, Hamburg 2009, S. 147–195. 33 AaO., 181–184. 34 Johann Hinrich Claussen: „Auf Gott hin geschaffen“. Adolf von Harnack: Zwei Briefe an Emmi Delbrück, in: ZThK 100 (2003), 22–43. 35 Adolf von Harnack: Vom inwendigen Leben. Betrachtungen über Bibelworte und freie Texte, Heilbronn 1931. Einen guten Einblick in die Praxis der Andachten im Hause Harnack geben auch die beiden Texte „Wie Adolf von Harnack Hausandacht hielt“ und „Wie unser Sonntag weiterging“, die Agnes von Zahn-Harnack 1946 veröffentlichte. Beide Texte sind zugänglich bei Hans Cymorek/Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.): Zwei unbekannte Texte Agnes von Zahn-Harnacks über ihren Vater, in: Mitteilungen der ErnstTroeltsch-Gesellschaft 17 (2004), 83–94. Eine sensible Deutung der Andachten Harnacks findet sich bei Johann Hinrich Claussen: Religion ohne Gewißheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: Pastoraltheologie 94 (2005), 439–454, v. a. 447–451. 36 Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. (Vorlesung an der Universität Regensburg am 12. September 2006), in: FAZ, Nr. 213, 13.09.2006, S 8.
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Ratzingers/Benedikt XVI. wie auch Adolf von Harnacks, was in der öffentlichen Wahrnehmung freilich durch die päpstliche Verwendung eines Zitats des spätbyzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos zum Verhältnis von Islam und Gewalt zunächst weitgehend verdeckt worden ist. Tatsächlich widmet sich aber fast die Hälfte des Vortrags der durchgehend kritischen Auseinandersetzung mit den Traditionen von Protestantismus und Auf klärung. Dabei kommt Harnack eine prominente Rolle zu. Dessen Versuch, das Christentum mit der Moderne zu versöhnen, so Benedikt, lasse von diesem nur ein „armseliges Fragmentstück“ übrig.37 Benedikts Überlegungen sollen die These abstützen, dass „das kritisch gereinigte griechische Erbe wesentlich zum christlichen Glaube“ gehöre. Dem stehe das in drei Wellen erfolgte Programm einer „Enthellenisierung des Christentums“ entgegen, womit Benedikt Harnacks berühmtes Diktum, das „Dogma ist seiner Conception und in seinem Auf bau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums“38 , aufnahm und ihm zugleich entschieden widersprach. Offensichtlich können diese Entwicklungen nur als eine Degenerierung und Selbstauflösung des christlichen Glaubens verstanden werden und widersprechen nach Benedikt seinem eigentlichen Kern. Benedikt nennt als die drei genannten Wellen die Reformation des 16. Jahrhunderts, die dann v. a. von Kant in radikaler Form weitergeführt worden sei, sodann die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, für die Harnack exemplarisch steht, und schließlich die modernen Formen kontextueller Theologie sowie die Theorien einer Inkulturation des Christentums, womit vermutlich insbesondere die verschiedenen Formen der Befreiungstheologien in Lateinamerika und Afrika im Blick sind. Wie immer man zu dieser These stehen mag, so ist doch unverkennbar, dass sich das theologische Werk Ratzingers/ Benedikts seit den späten 1950er Jahren auch als klarer Gegenentwurf zur Theologie und zum Christentumsverständnis Harnacks interpretieren lässt. Harnacks Impulse seien – wie der Papst selbst bekannte – in „der Zeit, in der ich studierte, wie in den frühen Tagen meines akademischen Wirkens … auch in der katholischen Theologie kräftig am Werk“ gewesen.39 Entscheidende Vermittlungsgestalt für diese Auseinandersetzung war Erik Peterson, der 1930 zum Katholizismus konvertiert war und in einem Briefwechsel mit Harnack schon 1928 die weltanschauliche Alternative zwischen aufgeklärtem Protestantismus und autoritätsorientierter römisch-katholischer Kirche diskutiert hatte.40 Konsequent veröffentlichte Peterson denn 37 Ebd.
38 LDG 4 1, 20. Zur Debatte um das Hellenisierungsparadigma insgesamt Christoph Markschies: Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie, Leipzig 2012. 39 Benedikt XVI. (Anm. 36), 8. 40 Dazu Christian Nottmeier: Evangelische Kirche zwischen Geistesfreiheit, Biblizismus und Rekatholisierung: Adolf von Harnack und Erik Peterson, in: Caronello (Anm. 5 ), 129–152.
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auch 1932 Teile dieses Briefwechsels als theologische Rechtfertigung seines Konfessionswechsels. Zu Recht hat Benedikt deshalb darauf hingewiesen, dass für Peterson gerade der Briefwechsel mit Harnack ihm die Überlegenheit der katholischen Verbindung von Schrift und Überlieferung in Auslegung durch das in der apostolischen Sukzession stehende Lehramt gegenüber dem reformatorischen Schriftprinzip bestätigt habe. In diesem Sinne hatte Benedikt schon in seiner Funktion als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre Petersons Briefwechsel mit Harnack gegen das protestantische sola scriptura in Stellung gebracht.41 Insofern führt die Beschäftigung mit Harnack in Fundamentalfragen des ökumenischen Dialogs, aber auch grundlegende Probleme des protestantischen Selbstverständnisses.42
2. Ein nicht aufgebrauchtes Erbe? Überlegungen zur bleibenden Aktualität der Theologie Harnacks Dieser kurze Überblick über die Debattenlage seit Erscheinen des Buches zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk wie der Biographie Harnacks weiterhin ein lohnendes und spannendes Unternehmen ist. Harnacks Theologie stellte den Versuch einer historischen Plausibiliserung des Christentums unter den Bedingungen der Moderne dar43 – einer Moderne allerdings, die ihrerseits vielfältige Momente der Erschütterungen und Krisenphänomen kannte, die dann spätestens mit dem Kriegsausbruch 1914 auch politisch offen zu Tage traten und Harnacks späten Lebensweg entscheidend mitgeprägt haben. Harnack konnte mit seiner Theologie diesen Umschwüngen auch deshalb begegnen, weil die Beschäftigung mit dem spannungsvollen Verhältnis von Christentum und Kultur sowie die Frage nach dem wesentlich Christlichen im Wandel der Zeiten und schließlich ein waches Bewusstsein dafür, dass das Christentum seinerseits einem tiefgreifenden Wandel unterworfen ist, der mit Reformation und Auf klärung begonnen, aber keineswegs abgeschlossen ist, zu den Konstanten seines theologischen Nachdenkens gehörten. Sie lagen auch seinen Gestaltungsversuchen in Kirche, Wissenschaft und Politik zu Grunde. In diesem Sinne konnte Jörg Lauster jüngst mit Blick auf die Theologie Harnacks sowie den Kulturprotestantismus insgesamt formulieren: „Er hinterlässt ein reiches Erbe an prak41 Vgl. Ratzingers Äußerungen in einem Gespräch mit der FAZ, in: FAZ Nr. 2 21 vom 22.9.2000. 42 Vgl. dazu aus der Vielzahl der Debattenbeiträge nur Wolfgang Huber: Glaube und Vernunft, in: FAZ vom 31.10.2006; Ulrich Barth: Vernunft der Religion. Das Erbe der Auf klärung, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 452–468. 43 Dazu Christian Nottmeier: Protestantismus und Moderne: Adolf von Harnacks Programm einer historischen Plausibilisierung des Christentums, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.); Intellektuellen-Götter, München 2009, 61–81.
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tischen Versuchen und theologischen Gedanken, das noch lange nicht aufgebraucht ist.“44 Wissenschaftliches Ethos, kirchliches Interesse und eine tiefe persönliche Frömmigkeit gingen im Falle Harnacks eine eigentümliche Verbindung ein. Das kommt auch in Harnacks Bekenntnis zum Ausdruck, er habe den „Doppelberuf “, der „Kirchenhistorie zu dienen und der evangelischen Kirche.“ So heißt es in einem Brief an Gustav Krüger: „Ich liebe die Priester nicht, weder die „beeidigten noch die unbeeidigten“, ich liebe auch die Landeskirchen nicht, weder die königlichen noch die synodalen, aber ich habe eine mir selbst unerklärliche Liebe und Sorge für die evangelische Kirche – meinethalben der Kirche in abstracto, u. ich kann nicht davon lassen, darüber nachzudenken, was ihr frommt, sowohl für eine späte Zukunft, als von heute auf morgen. Ich weiß, daß von dieser Sorge und diesem Nachdenken sich auch in den historischen Arbeiten etwas abspiegelt, vielleicht nicht immer ohne Nachtheil für die reine Geschichte, aber immer ungesucht und niemals absichtsvoll gewollt. (…). Ich werde mich in dieser Hinsicht schwerlich mehr ändern, weil diese Art außerhalb reflectirter Thätigkeit bei mir liegt, und weil sie bei mir zusammenhängt mit den letzten Ideen, Motiven und Maximen, die meinem Leben u. so auch meiner historischen Imagination Kraft u. Inhalt geben. Andere mögen es anders machen; denn, Gott sei Dank, ist die Historie kein Rechenexempel mit vorgeschriebener Auflösungsform. Aber irgendwelche Farbe von der Palette ihres Herzens, ihrer Gesinnungen u. Weltbetrachtungen werden sie auch hinzufügen müssen, wenn sie nicht bei der historischen Häckselbank verharren wollen.“45 Diese Grundvoraussetzung hat Harnack auch in seine Bestimmung der Aufgabe der evangelischen Theologie einbezogen. „Die Theologie, wie sie sich uns darstellt“, so hat er 1899 in einem Vortrag über „Die Evangelische Theologie“ formuliert, ist „die Wissenschaft von der christlichen Religion im Sinne einer freudigen Wertschätzung des Evangeliums und seiner durch die Reformation begründeten Erneuerung. Darum ist sie das intellektuelle Gewissen der evangelischen Kirchen.“46 Sie ist dabei geschichtliche Wissenschaft, lässt aber einer rein kausalen Geschichtsbetrachtung nicht das letzte Wort, weil die „Persönlichkeit“ sich in der „höheren Religionsgeschichte in besonders kräftiger Weise geltend“ mache: „Die Persönlichkeit ist aber niemals ohne Rest aus den Vorstufen abzuleiten und hat außerdem in Anschau44 Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 22015, 526–530, hier 530. 45 Harnack an Gustav Krüger am 11.9.1896, in: Nl. Harnack, K. 35 (Korr. G. Krüger). Dieses Zitat auch bei Claus-Dieter Osthövener: Nachwort, in: Harnack: Wesen (Anm. 26), 291. 46 Adolf Harnack: Die evangelische Theologie (Leitsätze), abgedruckt in: Harnack: Wesen (Anm. 26), 185 f., hier 185.
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ung und Gefühl, in Berufsbewußtsein und Tat ihr besonderes Geheimnis.“47 Zudem müsse die Theologie sich immer neu daran erinnern, dass sie es „mit einem eigentümlichen Leben“ zu tun habe, dieses aber nur an „seinen Hervorbringungen zu erkennen und zu beurtheilen“ sei.48 Schließlich sei es Aufgabe der Theologie, sich zwar nicht „in die kirchlichen Kämpfe des Tages (zu) verstricken, aber jedem ernsten Christen, der durch Wahrheit zur Freiheit strebt, zur Seite zu stehen.“49 Diese „pädagogisch-didaktische Aufgabe“ der Theologie bedeutete nach Harnack zweierlei: Die Theologie soll „das von ihr mit Sicherheit Erkannte im Leben der Kirche zum Ausdruck bringen.“ So sehr sie aber auch vom Hineinmischen in die Tagesfragen abzusehen habe, dürfe sie „doch nimmer schweigen, wenn die evangelische Wahrheit vergewaltigt und die Freiheit niedergehalten wird.“50 Harnack hat gerade sein wissenschaftliches Werk immer auch als einen freien Dienst an der Kirche verstanden. In diesem Sinne hat er schon früh profundes und intensives Quellenstudium mit weiträumigen Deutungsperspektiven verbunden. Natürlich ist Harnacks Werk auch Dokument der Zeit, in der es entstanden ist. Gleichwohl lassen sich vielleicht in aller Vorsicht drei Impulse aus der Beschäftigung mit dieser Zentralfigur des neuzeitlichen Protestantismus gewinnen, die auch in den gegenwärtigen Debattenlagen noch von Bedeutung sein könnten. Diese drei Impulse beziehen sich 1. auf das theologische Anliegen Harnacks, 2. auf die gesellschaftlich-politische Realisierung dieses Anliegens und 3. auf den spezifisch protestantischen Bezug dieses Anliegens im Kontext der kirchlichen Gestalt des Protestantismus.
2.1. Krisendiagnostik und Wesensbestimmung: Der „unendliche Wert der Menschenseele“ „Das Evangelium hat zur Zeit unter uns keinen öffentlichen, festen Ausdruck, den man sich, wie einst die Apologeten des 2. Jahrhunderts, mit voller Freude, mit unverletztem Wahrheitssinn und mit vollkommener Ehrfurcht hingeben könnte. Man soll das Evangelium nicht an die Welt verkaufen und es nicht um einen heiligen Ernst und um die Verheißung des zukünftigen Lebens bringen; aber man kann andererseits nicht mit erkannten Wahrheiten capituliren, und diese schneiden den Bekenntnißen ins Mark, mögen wir Theologen auch einen unvergänglichen Kern in ihnen ermitteln. Das ist die Krise der Krisen.“51 Mit diesen deutlichen Worten kom47 Ebd.
48 AaO., 49 Ebd.
50 Ebd.
186.
51 Adolf Harnack: Rezension von Rudolph Sohm, Kirchengeschichte im Grundriß (1888), in: ThLZ 13 (1888), 49–55, hier 55.
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mentierte der junge Harnack 1888 seine Wahrnehmung einer tiefgreifenden Umformungs- und Plausibilitätskrise des Christentums. Von dieser Krisendiagnose her, die weder eine umstandslose Synthese von Christentum und moderner Kultur noch eine restaurative Festigung einer gleichsam sich als Gegenkultur etablierenden Bekenntniskirche erlaubte, hat Harnack sein Programm eines kritischen theologischen Historismus entwickelt. Einerseits werden mit der These, mit Luther habe das undogmatische Zeitalter des Christentums begonnen, die traditionellen normativen Geltungsansprüche relativiert und so einer kritischen Reduktion das Wort geredet. Andererseits bieten sich für Harnack – mit aller dem Historiker gebotenen Skepsis – zugleich in der Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums selbst zumindest Ansatzpunkte für eine gegenwärtig verantwortbare Deutung des Lebens aus der Perspektive des christlichen Glaubens wie auch für eine entsprechende praktische Lebensführung und Weltgestaltung. Wenn Harnack gar von „Bildung als wiedergewonnener Naivität“52 sprechen kann, bedeutet das, dass die kritische Sichtung durchaus zu einer „einfachen“ Glaubensauffassung führen kann, die die im Evangelium Jesu gegebene Gotteskindschaft des Menschen und seinen unhintergehbaren Wert als Gabe wie Aufgabe beinhalten. Die von Harnack vorgenommene Wesensbestimmung des Christlichen zielt auf eine reflektierte Elementarisierung des Glaubens, der ihn sowohl von theologischer Wissenslast wie kirchlichem Autoritätsdruck befreit. Sie zielt damit auf religiöse wie ethische Eigenverantwortlichkeit. Glaube ist keine Lehre, sondern zuallererst Leben. Der Glaube soll für das religiöse Subjekt gerade nichts Fremdes oder Angelerntes sein, sondern er bedarf der je individuellen Aneignung. Wesenskern des Christentums ist dabei ein evangelischer Fiduzialglaube, den Harnack aus der Betrachtung des Jesusbildes gewinnt und der sich zugleich in der Begegnung mit den großen Persönlichkeiten der christlichen Geschichte erkennen lässt. Seinen innersten Kern bestimmt Harnack mit der berühmten Formel vom „unendlichen Wert der Menschenseele“. Damit gewinnt Harnack eine – freilich in ihrem gedanklichen Facettenreichtum aller augenscheinlichen Schlichtheit zum Trotz wiederum höchst komplexe – Formel, die nicht nur sein theologisches Anliegen beschreibt, sondern die er konsequent in alle seine Bemühungen protestantisch-christlicher Lebensführung und Weltgestaltung einbringt. Christlicher Glaube geht gerade nicht in Lehr- und Begriffsarbeit auf, sondern realisiert sich innerlich im Gottvertrauen, äußerlich in der Nächstenliebe. Der „unendliche Wert der Menschenseele“ beschreibt dabei den Kern menschlichen Personseins im Licht des Gottesverhältnisses. Er gewinnt seine Bedeutung dadurch, dass so zugleich die Würde und Freiheit jedes Men52 Adolf Harnack: Über Wissenschaft und Religion. Angeeignetes und Erlebtes, in: RA 2, 369–379, hier 374.
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schen sichergestellt werden. Die im „unendlichen Wert der Menschenseele“ vor Gott bestimmte Begründung personaler Identität vermag dem eigenen Leben „Ewigkeitsgehalt“ zu geben. Harnacks Programm läuft so auf eine religions- und christentumstheoretische Begründung des unverwechselbaren Werts menschlichen Lebens und menschlicher Würde hinaus. Dabei belässt Harnack es allerdings nicht mit einer bloßen Kritik der Lehrgestalt des Christentums. Die Geschichte des Christentums belegt ihm zugleich die „Continutiät des christlichen Gedankens und seine wunderbare Anpassungsfähigkeit an die wechselnden Bedingungen des gemeinschaftlichen Lebens.“53 Damit kommt der christlichen Überlieferung und hier besonders den großen Gestalten der Christentumsgeschichte nicht als verbindlicher Lehrgestalt oder richtungsweisenden Lehrautoritäten, wohl aber als Anschauungsmaterial für die nicht auf hörende, sondern sich vielmehr immer weiter entfaltende Wirkung des Evangeliums selbst, Bedeutung zu. Die Geschichte hat dabei zugleich eine bleibend kritische Funktion, vermag die historische Theologie doch davor zu bewahren „einen erträumten Christus für den wirklichen“ einzutauschen. Sie stehe so jedem „Freibrief für jede beliebige Phantasie und jede religiöse Diktatur, die das geschichtliche unserer Religion auflöst und die Gewissen Anderer mit der eigenen Erfahrung zu foltern versucht“54, entgegen. Als Historiker verbindet Harnack zur Realisierung dieses Anliegens konsequente Materialbeherrschung mit systematisch-theologischen Deutungsperspektiven, die sich v. a. an den großen Gestalten der Christentumsgeschichte sowie entscheidenden Epochewenden und Wegscheiden der historischen Entwicklung verdeutlichen lassen. Ausdrücklich erkennt Harnack trotz aller pointiert protestantischen Profilierung seiner Wesensbestimmung den Wert und das Eigenrecht der anderen christlichen Konfessionen an, die jeweils auf ihre Art bestimmte Elemente des Evangeliums bewahren. So bekannte er sich zu einer Annäherung der Konfessionen, die allerdings nicht darin bestehen könne, „Dogmen und Formeln zusammen (zu) schieben oder gar der Hierarchie Konzessionen (zu) machen.“ Vielmehr ging es ihm darum, „daß der Christenstand überall wichtiger werde als der Konfessionsstand, daß die gemeinsame Arbeit der Konfessionen sie mehr beschäftigen möge als die Verteidigung und Auszierung des eigenen Hauses (…).“55 Man mag die Fragestellung nach dem „Wesen“ für ebenso überholt halten wie die Verwendung des begrifflich in der Tat nicht unproblematischen Seelenbegriffs. Dahinter verbirgt sich aber ein bis heute nicht erledigtes Prob53 Adolf Harnack: Vorrede des Übersetzers, in: Edwin Hatch: Die Grundlegung der Kirchenverfassung Westeuropas im frühen Mittelalter, Gießen 1888, VI. 54 Harnack an Karl Barth in der Debatte von 1923, in: Karl Barth: Offene Brief 1909– 1935. Herausgegeben von Diether Koch, Zürich 2001, 62 und 72. 55 Adolf Harnack: Protestantismus und Katholizismus in Deutschland, in: RANF 1 226–250, hier 235.
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lem. Wie bestimmt man in einer auch religiös pluralen Gesellschaft christlichen Glaube und christliche Identität und welchen Beitrag können diese in gesellschaftlichen Umbrüchen und Pluralisierungsschüben leisten, die zugleich mit Verlustängsten, Krisenerwartungen und Bedrohungen menschlicher Freiheit und Würde verbunden sind? Welche Beziehung gewinnt der christliche Glaube in seinen unterschiedlichen konfessionellen und zunehmend auch individualisierten Ausformungen zu der Kultur und der Lebenswelt, in die er eingebettet und deren Teil er ist? Harnacks historische Plausibilierung des Christentums unter den Bedingungen der Moderne setzte eben darin ein, dass sie den Individualitätsgedanken mit der religiösen Begründung des Eigenwertes und der Würde menschlichen Lebens verband. In den Modernisierungs- und Rationalisierungsschüben, den Rollenzuschreibungen und Verhaltenserwartungen geht menschliches Leben und sein Wert gerade nicht auf. Genau das wird religiös formuliert, wenn vom „unendlichen Wert der Menschenseele“ bei Harnack die Rede ist. Insofern steht Harnacks Theologie auch für den Versuch der christlichen „Verteidigung des Menschen“56 im Zeitalter der Extreme – eine Aufgabe, die auch unter den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhundert aktuell sein dürfte.
2.2. Der unendliche Wert der Menschenseele und christliche Weltverantwortung: Protestantische Ethik und Politik Die Zeit des Weltkriegs und den Übergang zur Republik erlebte Harnack im reiferen Lebensalter. Zum Zeitpunkt der Revolution von 1918 war er 67 Jahre alt. Krieg und Revolution, sowie die daraus gewonnene Erkenntnis, diese Ereignisse eben nicht nur als Katastrophe, sondern auch als Chance und Wegmarke politischer Veränderung zu sehen und diese den eigenen Möglichkeiten entsprechend mitzugestalten, machen diese Jahre zu einer Wegmarke und Bewährungsprobe der theologischen wie politischen Biographie Harnacks. Die hier erneut vorgelegte Arbeit versucht genau diesen Weg Harnacks vom liberalen Monarchisten zum Befürworter von Republik und Demokratie nachzuzeichnen. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont, dass Harnack dabei gerade die Form religiöser Texte zur Gegenwartsdeutung nutzte. Dass er etwa in einer Predigt vom 2. Februar 1919 im Berliner Universitätsgottesdienst ausgerechnet die Geschichte Lk 5, 1–11 vom Fischzug Petri auswählte, war Programm.57 Harnacks Auslegung konzentrierte sich ganz auf die Person des Petrus, der nach einem erfolglosen nächtlichen Fischzug nicht nur vergeblich gearbeitet hat, sondern in den 56 57
So der Titel eines Buches von Jan Roß (Berlin 2012). Die Predigt Harnacks ist abgedruckt in: RANF 4, 403–411.
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Grundlagen seiner Existenz bedroht ist. Aber auf Jesu Aufforderung, nochmals hinauszufahren, antwortet Petrus: „Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen.“ Genau dieses Wort wird von Harnack nun in der Situation von Niederlage, Revolution, aber eben auch der erfolgreich durchgeführten Wahl zur Nationalversammlung auf die eigene Gegenwart hin ausgelegt. Harnack setzte sich zugleich kritisch mit der grassierenden Dolchstoßlegende auseinander – die nicht zuletzt die neue demokratischen Ordnung delegitimieren sollte – und signalisierte seine Bereitschaft, auch in der republikanischen neuen Ordnung positiv mitzuarbeiten. Deutlich war dabei, dass für Harnack dies nicht nur ein Gebot der politischen Vernunft, sondern zugleich Ausdruck christlicher Weltverantwortung war, denn „im Bunde mit Gott Großes tun und Großes erwarten, das ist die Sache der Christen. Und es ist wahrlich etwas Großes zu wissen, daß unsere Arbeit keine vergebliche sein wird, und daß unser Gewinn in unseren Brüdern, deren Herzen und Sinn wir gewinnen sollen, bestehen wird.“58 Harnacks alter Marburger Freund Wilhelm Herrmann nahm diese Bereitschaft Harnacks zur Mitarbeit an der neuen Ordnung begeistert auf und formulierte dabei Überzeugungen, die denen Harnacks nahe gekommen sein dürften. An dieser Predigt, so schrieb er Harnack, „erfreut mich zunächst die Kraft, sie unter den bedrückenden Verhältnissen zu halten. Aber auch der Inhalt ist mir eine Herzstärkung, besonders wegen des getrosten Ausblicks in die Zukunft. Diese Stimmung teile ich auch. Deshalb bin ich Demokrat und lache über die Kollegen, die uns (…) Mammonsknechte schelten. (…). Nun machte ich in dieser Predigt aber noch eine andere erfreuliche Entdeckung. Seit 4 Uhr wach, überlegte ich einen neuen § meiner Ethik „Die Barbarei der bisherigen Kulturgesellschaft“. Als ich aufstand, sah ich aus meinen Notizen, daß ich die Barbarei so bezeichnet hatte: eitle Ehre, Mammonsdienst, Antisemitismus, Sklaverei. Als Ziel hatte ich notiert, die S.D. [Sozialdemokratie, CN] dahin zu fördern, daß sie weiter zur Vernunft kommt und nicht aus ihrem Sieg eine Parteiherrschaft macht, sondern einen Dienst am Volke. Dann kam deine Predigt mit ihrem Schluß, „daß unser Gewinn in unsern Brüdern, deren Herz und Sinn wir gewinnen sollen, bestehen wird.““59 Herrmanns Brief gab relativ präzise nicht nur die eigene, sondern auch Harnacks politische Positionierung zu Beginn des Jahres 1919 wieder. Harnacks Weg, der von vielen anderen liberalen Theologen der älteren und mittleren Generation wie Herrmann, Rade, Jülicher und Troeltsch mitvoll58 AaO.,
411. Wilhelm Herrmann an Adolf von Harnack am 21.2.1919, in: Nl. Harnack, K. 33, Korr. W. Herrmann. Eine entsprechende Neuauflage von Hermanns „Ethik“ ist nicht erschienen. Stattdessen erschien 1921 ein Nachdruck der 5. Auflage aus dem Jahr 1913. Der systematische Ort des erwähnten Paragraphen wäre vermutlich nach § 28 „Der Dienst Gottes in der Kulturgesellschaft“ gewesen, vgl. Wilhelm Herrmann: Ethik, Tübingen 51913, 191–213. 59
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zogen wurde, ist im Protestantismus seiner Zeit eine Minderheitenposition gewesen. Ähnlich wie in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit ist er von den Gegnern der neuen Ordnung mit zum Teil äußerster Verbitterung beschimpft und verleumdet worden. Die Ursprünge dieses Weges liegen in Harnacks liberaltheologischem Programm sowie seinem Engagement im liberalen Sozialprotestantismus, wie er sich insbesondere im Evangelisch-sozialen Kongress der Vorkriegszeit manifestierte. Die Bedeutung des Evangelisch-sozialen Kongresses für die Geschichte der politischen Ethik des Protestantismus liegt nach Arnulf von Scheliha in drei Punkten: „in der Aneignung des Begriffs der Menschenwürde, in der Formulierung konkreter sozialpolitischer Forderungen und in der politischen Annäherung an die Sozialdemokratie.“60 Harnack war hierfür sowohl als Theologe wie als langjähriger Präsident des Kongresses eine herausragende Gestalt. Diese Tätigkeit war eine Vorbedingung für den Übergang von der Monarchie zur Republik, für die wiederum die Erfahrungen des Weltkrieges von entscheidender Bedeutung waren. Es war Harnacks theologische Zentralformel vom „unendlichen Wert der Menschenseele“, die im Christentum zu Anerkennung gelangt und in der Gotteskindschaft zugleich individuelle wie gesellschaftliche Gabe und Aufgabe des Christen darstellt, die ihm den Übergang vom Kaiserreich in die Republik von Weimar ermöglichte. Diese Formel konnte Harnack in nahezu alle Kontexte seines Werkes einstellen. Sie war eine ebenso demokratiefähige wie antitotalitäre Chiffre individueller und zugleich in Gott gegründeter Freiheitsrechte. Natürlich war dieses Konzept nicht vor Einbruchstellen und politischen Irrtümer gefeit. Man kann dabei an Harnacks Kriegsbegeisterung von 1914 denken, darf dabei aber nicht vergessen, dass Harnack sich schon während des Krieges diesbezüglich einer Selbstrevision unterzogen hat und – ähnlich wie Ernst Troeltsch – sich mit Hilfe seines theologischen Historismus auf die neue Situation einstellen und sie so positiv gestalten konnte.61 Vergleicht man Harnacks politische Option nach 1918 etwa mit der seines Konkurrenten und Fakultätskollegen Reinhold Seeberg, der gerade im Protestantismus nach 1918 überaus einflussreich gewesen ist, zeigt sich einmal mehr, wie entscheidend nicht nur das Engagement vor 1914, sondern auch die unterschiedliche Deutung des Krieges und der sich aus ihr ergebenden Hand60 Arnulf von Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 144– 152, hier 146. 61 Dazu mit Blick auf Troeltsch Jörn Leonhard: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“ – Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006, 205–230; vgl. ferner Friedrich Wilhelm Graf: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011.
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lungsvorstellungen und Politikmodelle gewesen sind.62 Entscheidend ist hier nicht die möglicherweise gemeinsame Affirmation der deutschen Politik bei Kriegsausbruch – die im Übrigen, wie die Publikationen anlässlich des Gedenkens an den 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs zeigen, wesentlich differenzierter gesehen wird als noch zu Zeiten der Fischer-Kontroverse in den 1960er und 1970er Jahren63 –, sondern welche geschichtspolitischen Deutungen der „Ideen von 1914“ und welche gesellschafts- und verfassungspolitische Zielvorstellungen sich im Laufe der Kriegszeit und im Übergang zur Republik daraus ergaben.64 Allerdings war Seeberg mit Blick auf die politische Mobilisierung der protestantischen Milieus, aber auch in der Kirche und nicht zuletzt in der Inneren Mission als der Vorgängerorganisation des heutigen Diakonischen Werkes wesentlich erfolgreicher als Harnack und die „Vernunftrepublikaner“ aus dem Lager des liberalen Protestantismus. All das enthebt Harnacks nicht jeglicher Kritik. Aber dass ausgerechnet mit Blick auf Harnack in einer weitverbreiteten Publikation wie dem evangelischen Magazin „chrismon“ zu lesen war, aus „guten Grund“ habe die „bedeutsamste Richtung evangelischer Theologie in jenen Zeiten, die sich „liberal“ nennt und mit dem Namen des Kaiser-Vertrauten Adolf von Harnack verbunden ist, seit dem ersten Weltkrieg für lange Zeit ihr Renommee und ihre Glaubwürdigkeit verloren“65, ist angesichts der Quellenlage wie des Forschungsstandes zumindest verwunderlich. 62 Vgl. dazu auch Thomas Kaufmann: Die Harnacks und die Seebergs. „Nationalprotestantische Mentalitäten“ im Spiegel zweier Theologenfamilien, in: Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hgg.): Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungs linien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, 165–222, sowie v. a. mit Blick auf den Weltkrieg und die Zeit der Weimarer Republik, Christian Nottmeier: Theologie und Politik in der ersten deutschen Demokratie: Adolf von Harnack und Reinhold Seeberg, in: Dieter Dowe (Hg.): Hans Rosenberg-Gedächtnispreis 2006, Bonn 2006, 19–57; auch online unter http://library.fes.de/pdf-files/historiker/03883.pdf (zuletzt abgerufen am 13.2. 2017). 63 Vgl. aus der Fülle an Literatur nur Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, Stuttgart 1913. Auf dem Schutzumschlag dieses Buches ist übrigens ein Bild Wilhelms II. zu sehen, der von Harnack und weiteren Honoratioren auf dem Weg zur Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für experimentelle Therapie in Berlin-Dahlem 1913 begleitet wird; vgl. ferner Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014; sehr aufschlussreich auch Alexander Watson: Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary at War, 1914–1918, London 2014. 64 Dazu ausführlicher Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 65 Eduard Kopp: Christen im Krieg. Verführungskraft religiöser Worte, in: Chrismon 7/2014. Zugleich wird behauptet, Harnack sei wenige Monate nach Kriegsausbruch – vermutlich ist gemeint: als Anerkennung seiner Zuarbeit für den Aufruf Wilhelms II. vom 6. August 1914 – der erbliche Adel verliehen worden, was schlechterdings fasch ist. Harnacks Erhebung in den Adel erfolgte bekanntlich im März 1914, also vor Ausbruch des Krieges als Anerkennung seiner wissenschaftsorganisatorischen Verdienste, was im Übrigen, wie die Beispiele andere Gelehrter wie Gustav Schmoller oder Theodor Zahn zeigen, nicht unüblich
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Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass Harnack mit der ihm eigenen Verbindung eines liberalen Kulturluthertums mit sozial- und bildungspolitischem Engagement sowie politischem Reformwillen im Sinne eines milden Linksliberalismus einer der wenigen protestantischen Theologen war, die aktiv an der politischen wie theologischen Stärkung der Republik mitwirkten. Kurt Nowak konnte deshalb nicht ohne Grund bemerken: „Tatsächlich waren es nicht die Repräsentanten der „Diastase“, sondern Theologen der „Synthese“, welche den im kirchlichen Protestantismus so schmerzlich vermißten Beitrag zur Stärkung der Demokratie leisteten.“66 Das Konzept des unendlichen Werts der Menschenseele war Harnacks Beitrag zur theologischen Beförderung der protestantischen Aneignung dessen, was Heinrich August Winkler das „normative Projekt des Westens“ genannt hat.67 Insofern gehört Harnacks theologischer Liberalismus in die Geschichte des spannungsreichen und widersprüchlichen „lang(en) Weg(es) zur Demokratie“ (Arnulf von Scheliha), der für die politische Ethik des deutschen Protestantismus mindestens bis zur EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 198568 – zum Teil aber wohl noch darüber hinaus – kennzeichnend war. Harnack steht hier im Kontext des Protestantismus um 1900 zusammen mit Rade und Troeltsch für einen „Strukturwandel protestantischen Politikdenkens“69, deren theologisches Erbe erst mit erheblicher Verzögerung rezipiert und in die Überlegungen für die protestantische Bewertung von Demokratie und Rechtsstaat Eingang gefunden hat.70 war. Vgl. als Beispiel einer kritischen und zugleich die konkreten historischen Kontexte beachtenden Auseinandersetzung mit den theologischen Deutungen des Krieges Arnulf von Scheliha: Arnulf von Scheliha: „Unser Krieg ist eine Frage an Gott“. Theologische Deutungen des Ersten Weltkrieges, in: Notger Slenczka (Hg.): Faszination und Schrecken des Krieges. XXIII. Reihlen-Vorlesung, Leipzig 2015, 61–80. Ferner Christoph Markschies: Revanchismus oder Reue? Der Erste Weltkrieg und die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität im Denken von Reinhold Seeberg, Adolf Deissmann und Adolf von Harnack, in: Joachim Negel/Karl Pinggéra (Hgg.): Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914– 1914 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg/Basel/Wien 2016, 242–280. 66 Kurt Nowak: Adolf von Harnack in Theologie und Kirche in der Weimarer Republik, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle/Trutz Rendtorff/Kurt-Victor Selge (Hgg.): Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, Göttingen 2003, 207–235, hier 234. 67 Dazu Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. 4 Bände, München 2009– 2015. 68 Hannover 41990, online unter: http://www.ekd.de/download/evangelische_kirche_ und_freiheitliche_demokratie_1985.pdf (zuletzt abgerufen am 3.2.2017). 69 Gangolf Hübinger: Harnack, Rade, Troeltsch. Wissenschaft und politische Ethik: in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, 85–102, 89. 70 Dazu von Scheliha: Protestantische Ethik (wie Anm. 6 0), 154–218. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Ausführungen von Trutz Rendtorff: Ethik. Grund element, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie. Band 2, Stuttgart/ Berlin/Köln 1991, v. a. 72 ff., 119 ff., 163 ff. u. ö.
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2.3. Protestantismus und Erinnerung: Die Ambivalenz des reformatorischen Erbes und der Abschied vom „ganzen Luther“ Mitten im Ersten Weltkrieg wurde 1917 das 400. Jubiläum der Reformation gefeiert.71 Harnack legte im Rahmen dieses Jubiläums zwei Veröffentlichungen vor. Einmal publizierte er einen Aufsatz über „Die Reformation und ihre Voraussetzung“, indem er Luthers reformatorische Tat als „Anfang der Neuzeit“ bezeichnete72 , aber zugleich feststellte, Luther sei „als Denker ein mittelalterlicher Mensch und hat das Neue, das er besaß, in die alten Schläuche gießen müssen.“73 So sehr Harnack dabei die Wiederherstellung des Christentums als Religion als Verdienst Luthers würdigen konnte – „er war nur in einem groß und gewaltig, hinreißend und unwiderstehlich, der Herr eines Zeitalters, siegreich hinwegschreitend über die Geschichte eines Jahrtausends, um seine Zeit aus ihren Bahnen zu werfen und in neue Bahnen zu zwingen – er war nur groß in der am Evangelium, d. h. an Christus wiederentdeckten Erkenntnis Gottes“74, so sehr konnte er die Ambivalenzen der Reformation und ihrer Wirkungen thematisieren. Kritisch setzte sich Harnack in diesem Zusammenhang auch mit einer zu engen gedanklichen Verzahnung von deutscher Nation und lutherischer Konfession auseinander.75 Auch Luthers Freiheitsbegriff habe zumindest indirekt auf die „westeuropäische-kalvinische Freiheit, aus der die bürgerlichen Freiheiten entsprungen sind“76 , gewirkt, die so als legitime Wirkungen der Reformation und Luthers selbst gewürdigt wurden – eine Aussage, die im Reformationsjahr 1917 mit den zahlreichen Versuchen, Luther auch in politischer Hinsicht gegen die westlichen Kriegsgegner England, Frankreich und die USA ideenpolitisch in Stellung zu bringen, bemerkenswert ist. Entscheidend und bleibend an der Reformation waren aus der Sicht Harnacks weniger die diversen theologischen Topoi einschließlich der Rechtfertigungslehre als vielmehr der Eigenwert der Religion, die in ihr gegründete Freiheit des Menschen sowie die grundsätzliche Anerkennung des Eigenwertes der verschiedenen funktional differenzierten Lebensbereiche. So formulierte er in seiner zweiten Publikation zum Reformationsjubiläum, einem an den Schulen der Hauptstadt als „Festschrift der Stadt Berlin zum 31. Oktober 1917“ verteilten Büchlein über „Martin Luther und die Grundlagen der Reformation“ als Kerngedanken der Reformation, „daß alles Hei71 Vgl.
dazu Dorothea Wendebourg: Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: ZThK 108 (2011), 270–335. Wendebourg behandelt auch ausführlich das Jubiläum von 1917. 72 Adolf von Harnack: Die Reformation und ihre Voraussetzung, in: RANF 4, 72– 140, 110. 73 AaO., 127. 74 LDG 4 3, 812. 75 RANF 4, 135 f. 76 AaO., 138.
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lige und Ewige, von dem die Seele lebt, nicht Gesetz, sondern Gabe Gottes ist, und daß es uns gegeben ist, damit wir zu inneren Freiheit gelangen, die das Gute tut, nicht weil sie soll, sondern weil sie es will. (…). Glaube an den lebendigen Gott, der unser Vater ist, und in solchem Glauben freie Herrschaft über alle Dinge. Das hat Luther gepredigt!“77 Damit habe Luther zugleich einen weiteren Missstand versucht zu beseitigen: „In der mittelalterlichen Kirche war die Religion tyrannisch über alle Gebiete des Lebens gezogen, und Staat und Familie – man muß hinzufügen: Erkenntnis und Wissenschaft, Wirtschaftsleben und Politik – hatten ihre eigenen Rechte verloren. Indem Luther die Religion aus allen diesen Verbindungen herausführte, in denen sie selbst zu ersticken drohte, hat er jene großen Gebiete befreit und ihre selbständige Entwicklung begründet. Die Reformation hat den Freiheitsbrief für jeden einzelnen gebracht und den Freiheitsbrief für alle großen Güter und Ordnungen des Lebens; sie sollen fortan nach ihrem eigenen Gesetz entfaltet werden.“78 Die Grundlinien seiner überaus differenzierten und kritischen Lutherinterpretation hatte Harnack bereits in seinem „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ entfaltet.79 Harnack sah Luthers Verdienst weniger in der Formulierung oder Weiterentwicklung bestimmter Lehrbestände als vielmehr in einem neuen Christentumsverständnis. Dennoch konnte er zugleich in unmissverständlicher Schärfe die Schranken Luthers herausarbeiten. Dabei fußte Harnacks Lutherdeutung einerseits auf seiner These, daß das dogmatische Zeitalter des Christentums an sein Ende gekommen sei. Deshalb war nicht Luthers Theologie entscheidend, sondern seine religiöse Erfahrung, die sich in seinem Christentumsverständnis niederschlug: „Unwandelbares Vertrauen des Herzens auf ihn [Gott, CN], der sich in Christus zu unserem Vater gegeben hat, persönliche Glaubenszuversicht, denn Christus steht für uns ein – das wurde ihm die ganze Summe der Religion.“80 Andererseits entsprach dem die Einschätzung Luthers und seiner Reformation als „kritische Reduktion.“81 Dabei muss Luther an den vorgefundenen Lehrbestand anknüpfen. Luther kann so seine reformatorische Einsicht an den unterschiedlichsten Themen und Lehrgegenständen von der Trinitätslehre über die Soteriologie bis hin zur Prädestinationslehre entfalten. Das hat zur Folge, dass Harnack in seiner Lutherdeutung die noch von Ritschl hochgeschätzte 77 Adolf von Harnack: Martin Luther und die Grundlegung der Reformation. Festschrift der Stadt Berlin zum 31. Oktober 1917, Berlin 1917, 63. Ein Tonaufnahme Harnacks vom 13.9.1917, auf der er aus der Einleitung und dem Schlusswort dieser Schrift liest, findet sich unter http://www.dra.de/online/hinweisdienste/wort/2001/mai07b.html (zuletzt abgerufen am 13.2.2017). 78 Ebd. 79 Dazu als Überblick Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus und Erinnerungskultur, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 3–23, v. a. 14–17. 80 LDG 4 3, 824. 81 Harnack: Wesen (Anm. 2 6), 152.
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Rechtfertigungslehre Luthers gerade nicht in den Mittelpunkt seiner Lutherdeutung stellt, sondern die ihr zugrundeliegende religiöse Erfahrung unter dem Titel „Das Christenthum Luther’s“82 beschreibt und ausdrücklich feststellt, diese lasse sich beschreiben, ohne den Terminus der Rechtfertigung überhaupt zu gebrauchen. Luther konnte seine religiöse Erfahrung vielmehr in alle dogmatischen Lehrstücken so zur Geltung bringen, daß „er in jedem von ihnen, richtig verstanden, die ganze Lehre ausgedrückt fand.“83 Indem Luther damit notgedrungen an den vorgefundenen Lehrbeständen anknüpfte, wird er zugleich ungewollt zum Restaurator des alten Dogmas und einer wenn auch erneuerten, so doch nicht minder lehrhaften Gestalt des Christentums, die den Protestantismus schon bei Luther zu einem „Theologenund Pastorenchristenthum“84 werden lässt. So stellt Harnack fest: „Wunderbare Verkettung der Dinge! Derselbe Mann, der das Evangelium von Jesu Christo aus dem Kirchenthum und dem Moralismus befreit hat, hat seine Geltung in den Formen der altkatholischen Theologie verstärkt, ja, diesen Formen nach Jahrhunderte langer Quiescirung erst wieder Sinn und Bedeutung für den Glauben verliehen. (…) Man wird dem ’ganzen Luther’ wahrlich nicht gerecht, wenn man diese Seite seiner reformatorischen Bedeutung, die für ihn selbst mit der evangelischen unauflöslich zu einer Einheit verknüpft war, vertuscht oder gering anschlägt. Luther ist der Restaurator des alten Dogmas gewesen.“85 Aus dieser These erklärt sich die scharfe Kritik, mit der Harnack Luthers Werk beurteilt. Methodisch, so beschreibt es Harnack, bringe seine Betrachtungsweise „Luther mit sich selbst in Streit.“86 So kann Harnack schonungslos die Defizite der Theologie Luthers, aber auch seine scharfe Polemik wie seine Unversöhnlichkeit erklären, die nicht nur den Zeitumständen geschuldet sind, sondern zumindest in Teilen bis an den Kern der Sache reichen: „Diese Schranken waren nicht nur leichte Hüllen, wie man uns wohl einreden möchte, so dass erst Melanchthon und die Epigonen in ihrem Unverstand die Verengung verschuldet hätten, sondern Luther empfand sie mit als die Wurzeln seiner Kraft und hat sie in diesem Sinne geltend gemacht.“87 Eben deshalb ist eine unmittelbare Anknüpfung an Luther für den modernen Protestantismus nicht möglich: „Und dann – wer wagt es denn wirklich, den „ganzen Luther“ zu repristiniren mit der Massivität seines mittelalterlichen Aberglaubens, den vollendeten Widersprüchen seiner Theologie, der seltsamen Logik seiner Argumente, den Fehlern seiner Exegese und der Ungerechtigkeit und Barbarei seiner Polemik? Sollen wir das denn alles vergessen, was wir gelernt haben und was Luther 82 LDG 4
3, 820–847. AaO., 835. 84 AaO., 872. 85 AaO., 814. 86 AaO., 809. 87 AaO., 811. 83
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nicht kannte, die Forderungen einer reinen, nur durch die Sache bestimmten Erkenntniss, die Relativität des geschichtlichen Urteils, das Mass der Dinge und das bessere Verständniss des NT.’s? Fordert das Christenthum, je strenger man es als geistige Religion fasst, nicht den Einklang mit dem gesammten Leben unseres Geistes und kann man aufrichtiger Weise sagen, dass uns das Christenthum Luthers’s den bietet?“88 So wenig Harnack die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation und ihren welthistorischen Rang in Frage stellen will, weil sie das „souveräne Recht der Religion in der Religion wiederhergestellt hat“89, so wenig verschließt er sich der Einsicht, dass das Erbe der Reformation insgesamt höchst widersprüchlich ist. Luther wird bei Harnack zu einer zutiefst ambivalenten Gestalt, die gerade in ihrem schwer erklärbaren Ineinander von tiefer religiöser Innerlichkeit und Ernsthaftigkeit auf der einen Seite und den zahlreichen theologischen Widersprüchen und zum Teil hasserfüllten Tiraden gegen innerchristliche Kontrahenten aber auch das Judentum eine widersprüchliche Einheit bildet. Die Wahrnehmung dieser Differenzen bildet erst die Voraussetzung, um sich auf Luthers Wiederentdeckung des Evangeliums, die neu begründete christliche Freiheit und eine ihr entspringende neue Weltzugewandtheit des christlichen Glaubens konzentrieren zu können. Die Erinnerung an Luther entzieht sich so auch eben jener Gefahr der politischen, kirchlich-institutionellen oder auch volkspädagogischen Verzweckung des Reformationsgedenkens. Ähnlich wie Troeltschs Protestantismusdeutung, die eng an Harnacks Überlegungen anschließt, entzog Harnacks Lutherdeutung einer unmittelbar konstruierten Kontinuität von Reformation und der eigenen Gegenwart den Boden – ein Umstand, der im Kampf um die politische Orientierung Deutschlands sowohl in Harnacks sozialpolitischen Wirken wie auch in den Auseinandersetzungen über die Umgestaltung des Regierungssystems in Weltkrieg und Republik auch politische Bedeutung und damit auch eine gegenwartkritische Wendung erlangte.90 Im „Wesen des Christentums“ konnte er schon zur Jahrhundertwende neben der „Indifferenz der Massen“ und einem Verständnis der Religion sei es als „Rückversicherung“ oder „ästhetische Verklärung“ schließlich auch den Staat, der „in der Religion und in den Kirchen vor allem das Konservative und die Nebenwirkungen, die sie in Hinsicht auf Pietät, Gehorsam und Ordnung leisten“91, als eine Bedrohung für einen Protestantismus der Gegenwart ausmachen, der sich v. a. als Sachwalter der Eigenständigkeit des Religiösen, einer weltzugewandten christlichen Freiheit und der unhintergehbaren Würde menschlichen Lebens verstand. Insofern blieb und bleibt die Reformation eine unvol88 AaO.,
817. AaO., 813. 90 Vgl. dazu v. a. mit Blick auf Ernst Troeltsch, aber auch Harnack, die kurze Skizze bei Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation in Deutschland, Berlin 2016, 756–759. 91 Harnack: Wesen (Anm. 2 6), 165 f. 89
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lendete und zugleich fortschreitende Aufgabe, die sich im Übrigen nicht auf die eigene Konfessionskirche beschränkte und die auch im ökumenischen Miteinander sich weniger an der Erarbeitung von Lehrgemeinsamkeiten als vielmehr der gemeinsamen Lösung praktischer Anliegen orientieren sollte. Interessanterweise hat Harnack sein eigenes religiöses Ideal nicht im Zusammenhang der Deutung Luthers, sondern der Augustins entfaltet: „Wenn sich beides vereinen ließe in der Wissenschaft und in der Stimmung, die Frömmigkeit, Innerlichkeit und Innenschau Augustin’s mit der Weltaufgeschlossenheit, dem ruhigen, kräftigen Wirken und der klaren Heiterkeit der Antike, dann wäre wohl das höchste Ideal erreicht! Man sagt uns, diese Verbindung sei ein Phantom, ja ein absurder Gedanke. Aber verehren nicht die großen Geister, die uns seit Luther geschenkt worden sind, eben deshalb, weil sie es versucht haben, dieses „Phantasiebild“ zu verwirklichen? (…). Liegt nicht die Bedeutung des evangelisch-reformatorischen Christenthums, wenn es wirklich etwas Anderes ist als Katholicismus, in diesem Ideal beschlossen?“92 Gesinnung und Tat, religiöse Innerlichkeit und eine in der libertas christiana begründete Weltaufgeschlossenheit waren so die beiden Hauptgedanken, die im Protestantismus zu Geltung kommen und weiterentwickelt werden mußten. Die Sicherstellung der Würde des Individuums durch den Ewigkeitsgehalt seiner Gottesbeziehung auf der einen und die alltagspraktische Bewährung des Glaubens in den entsakralisierten Lebensordnungen von Wissenschaft, Recht, Staat, Wirtschaft und Familie auf der anderen Seite, markierten für Harnack die Gegenwartsbedeutung des Protestantismus. Dieses Ideal konnte Harnack bei allen Einschränkungen und Hindernissen in der Reformation Luthers, den er darin zugleich als Vollender und Überbieter Augustins darstellte, erkennen. Luther habe, so Harnack, „nicht ein Fertiges (…) der Christenheit übergeben (…), sondern eine Aufgabe, aus manchen Hüllen zu entwickeln, in stetigem Zusammenhang mit dem gesammten Leben des Geistes und mit der socialen Lage der Menschheit zu behandeln, aber nur im Glauben selbst zu lösen. Fortschreitend muss die Christenheit lernen, dass auch in der Religion das Einfachste das Schwerste ist, und das Alles, was die Religion belastet, ihren Ernst abstumpft. Darum kann das Ziel aller christlichen Arbeit, auch aller theologischen, nur das sein, immer sicherer die Schlichtheit und den Ernst des Evangeliums zu erkennen, um in der Gesinnung immer reiner und lebendiger, in der That immer liebevoller und brüderlicher zu werden.“93 Dies allerdings war nach Harnack nicht nur eine Aufgabe des Protestantismus, sondern 92 LDG 4
3, 107. 3, 902. Harnack spielte mit der letzten Formulierung auf eine späte Äußerung Goethes gegenüber Eckermann am 11. März 1832 an: „Auch werden wir Alle nach und nach von einem Christentum des Wortes und des Glaubens zu einem Christentum der Gesinnung und der Tat kommen“, in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hgg. von Christoph Michel, Frankfurt am Main 1999, 749. 93 LDG 4
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eben der gesamten Christenheit, so sehr er dieses Ideal auch am Ehesten in einem aufgeklärten Protestantismus verwirklicht sah. Innerhalb der Christenheit kam diesem aber eine besondere Aufgabe zu, an die Harnack schon beim Lutherjubiläum 1883 erinnerte: „Zu überwundenen Stufen geistiger Entwicklung können wir allerdings nicht mehr zurückkehren. Aber Luther hat uns kein Religionssystem fertig gezimmert – Systeme entstehen und vergehen –, sondern er hat uns auf einem festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir sollen uns auf dem Grund des Evangeliums stets aufs neue reformieren und wider Gesinnungslosigkeit und Machtsprüche mutig allzeit protestieren. Auf dem Grunde des Evangeliums, denn – „mag die geistige Kultur nur immer fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitern wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“ Wohl müssen wir die alten Bäume niederschlagen, wenn sie überstämmig und Morsch geworden sind; aber wir rotten nicht den Wald aus, sondern wir versuchen ihn dadurch frisch und kräftig zu erhalten.“94 Es wäre zu wünschen, dass das Reformationsgedenken des Jahres 2017 auch diese Impulse aufnimmt: die Orientierung am Evangelium Jesu Christi, das Menschen im Bild der Gotteskindschaft einen unvergänglichen Wert zuspricht, eine eben darin gegründete geistliche Verbundenheit jenseits der Schranken gewiss auch heute noch notwendiger und veränderungsbedürftiger Kirchen und Konfessionen und schließlich die Einsicht, dass sich christliche Existenz immer auch in Differenzen und Widersprüchlichkeiten realisiert, die weder durch institutionelle Bevormundung noch durch politische Instrumentalisierung oder klerikale Machtansprüche begrenzt werden können. Sie sind vielmehr auszuhalten, ja durchaus auch als Reichtum christlicher Lebensideale wahrzunehmen.95 Die Schwierigkeit, aber auch die Stärke des Protestantismus dürfte gerade darin liegen, dass er in sich selbst das Spiegelbild einer vielfältigen religiösen Differenzierung- und Pluralisierungsgeschichte ist, die kulturell weit über das eigene kirchlich-konfessionelle Milieu Wirkung entfaltet hat und noch entfaltet. Das macht den oft schwer identifizierbaren Schwebezustand des Protestantismus aus, der einlinigen Aneignungsprozessen entgegensteht. Das gilt nicht zuletzt für die Reformation und für den Reformator Martin Luther selbst. Insofern ist bezüglich der Lutherdeutung Harnacks in der „Dogmengeschichte“ dem Urteil zuzustimmen, dass derjenige, der diese „durchgearbeitet hat, für immer gefeit gegen 94 Adolf Harnack: Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883), in: RA 1, 143–169, hier 168 f. Das von Harnacks verwendete Zitat stammt wiederum aus einem Gespräch Eckermanns mit Goethe, vgl. Eckermann: Gespräche (Anm. 93), 748. 95 Dazu neben den Ausführungen bei Kaufmann: Geschichte (Anm. 9 0), 771–774, sowie Ulrich Barth: Gedanken zur Zukunft des Protestantismus, in: Ders.: Protestantismus (wie Anm. 79), 389–396 und Johann Hinrich Claussen: Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen, München 2016, 158–166.
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idealisierende Verklärungen und museale Fiktionen“ ist.96 Was mit Blick auf das Reformationsgedenken und die Bezugnahme auf Luthers Leben und Werk heute noch bedeutsam und in Kritik wie Konstruktion vermutlich immer nur selektiv anzueignen ist, bleibt Sache des vernünftigen und selbstverantworteten Nachdenkens und je eigener mündiger Entscheidung des Gewissens – ein sicher im guten Sinne lutherischer Gedanke, der zum Gebrauch einer christlichen Freiheit ermuntert, in der sich ihre individuell-religiöse Dimensionen mit Weltzugewandtheit und Weltgestaltung verbinden.97 In diesem Sinne dürfte ein Reformationserinnern 2017 dann gelungen sein, wenn unter den vielfältigen Aspekten, die solches Erinnern ausmachen, auch die von Harnack unkonfessionalistisch formulierte Einsicht zur Geltung käme: „die „konsequente Form der protestantischen Frömmigkeit ist die Freiheit.“98 Protestantismus wäre dann – so hat es Ulrich Barth in treffender Weise formuliert – nicht zuletzt auch „der Traum einer Religion für freie Geister.“99
96
Barth: Protestantismus (Anm.79), 16. dazu die Beiträge von Martin Ohst: Freiheit zum Glauben oder Freiheit des Glaubens – Freiheit der Kirche oder Freiheit des Christen. Historische Perspektiven, und von Martin Laube: Die Dialektik der Freiheit. Systematisch-theologische Perspektiven, in: Martin Laube (Hg.): Freiheit, Tübingen 2014, 59–118 bzw. 119–191. 98 Adolf Harnack: Religiöser Glaube und freie Forschung, in: RANF 2, 269. 99 Ulrich Barth: Gedanken zur Zukunft des Protestantismus, in: Ders.: Protestantismus (wie Anm. 79), 396. 97 Vgl.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis A. Archivalien Öffentliche Bibliothek Universität Basel (ÖB Basel) Nl. Franz Overbeck Nl. Eberhard Vischer Nl. Paul Wernle Richard-Wagner-Gedenkstätte der Stadt Bayreuth (RWG) Nl. Houston Stewart Chamberlain Archiv des Diakonischen Werkes, Berlin Bestand Kirchlich-soziale Konferenz Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Berlin, Akademiearchiv Nl. Konrad Burdach Nl. Hermann Diels (Teil-) Nl. Max Lenz Nl. Eduard Meyer Nl. Hermann Mulert (Schleiermacheriana) Bundesarchiv Berlin (BA Berlin) Nl. Ernst Francke Nl. Theodor Lewald Nl. Georg Michaelis Nl. Friedrich Naumann Nl. Constantin Rößler Nl. Paul Rühlmann Nl. Kuno Graf von Westarp R 43: Akten der Reichskanzlei – Der Reichskanzler R 901: Auswärtiges Amt – Zentralstelle für Auslandsdienst R 8048: Volksbund für Freiheit und Vaterland R 8054: Baltischer Vertrauensrat Kirchliches Archivzentrum – Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA Berlin) EZA 7: Akten des Evangelischen Oberkirchenrates EZA 44: Akten der sozialen Geschäftsstelle für das Evangelische Deutschland EZA 51: Ökumenisches Archiv EZA 623: Nl. August Wilhelm Schreiber EZA 654: Familienarchiv Lisco
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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (GStA-PK) Rep. 76: Preußisches Kultusministerium Rep. 77: Preußisches Ministerium des Inneren Rep. 89: Geheimes Zivilkabinett Rep. 92: Nachlässe Nl. Friedrich Althoff Nl. Carl Heinrich Becker Nl. Hans Hermann Freiherr von Berlepsch Nl. Friedrich Meinecke Nl. Theodor Schiemann Nl. Friedrich Schmidt-Ott Nl. Gustav von Schmoller Nl. Adolf Stoecker (Teil-)Nl. Arthur Titius Nl. Rudolf von Valentini Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv (UA Berlin) Bestand Theologische Fakultät – Dekanat Bestand Rektor und Senat Personalakte Adolf von Harnack (Teil-)Nl. Arthur Titius (Teil-)Nl. Wolf Wilhelm Graf von Baudissin Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK) Nl. Theodor Brieger (Teil-)Nl. Hans Delbrück Nl. Adolf von Harnack Nl. Elisabet von Harnack Nl. Otto Harnack Nl. Emil Jacobs (Teil-)Nl. Max Lenz Nl. Felix von Luschan Nl. Heinrich Meisner Nl. Hans von Soden Autographensammlung: Harnack, Adolf von Autographensammlung Darmstädter Zentral und Landesbibliothek Berlin, Haus Berliner Stadtbibliothek (ZLB-BStB) Nl. Adolf Deißmann Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn/Berlin (PA) R 9303: Die Enzykliken des Papstes, Bd. 1 R 14088: Türkei 183, Bd. 39 R 14089: Türkei 183, Bd. 40
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Universitätsbibliothek Heidelberg (UB Heidelberg) Nl. Heinrich Rickert Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB Jena) Nl. Heinrich Weinel Nl. Hans Hinrich Wendt Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) Nl. Lujo Brentano Nl. Bernhard von Bülow (Teil-)Nl. Hans Delbrück Nl. Paul Rohrbach Nl. Eugen Schiffer Nl. Erich Seeberg Nl. Reinhold Seeberg Nl. Gottfried Traub Historisches Archiv der Stadt Köln (HA Köln) Nl. Wilhelm Marx Archiv der Universität Leipzig (UA Leipzig) Akten der Theologischen Fakultät Nl. Johannes Herz Nl. Hermann Mulert Nl. Wilhelm Wundt Evangelische Versöhnungsgemeinde Leipzig, Archiv des Evangelisch-sozialen Kongresses (ESK-Archiv) Protokolle der Sitzungen des Aktionskomitees 1898–1940 Akten und Schriftwechsel 1890–1922 Akten und Schriftwechsel 1923–1930 Chemnitzer Tagung Pfingsten 1910 Leipziger Tagung Oktober 1918 Zur Geschichte des Kongresses Universitätsbibliothek Leipzig (UB Leipzig) Nl. Hans Driesch Nl. Caspar René Gregory Nl. Friedrich Zarncke Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar (DLA Marbach) Autographen A. v. Harnack Universitätsbibliothek Marburg (UB Marburg) Nl. Adolf Jülicher Nl. Martin Rade
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B. Zeitungen, Zeitschriften und Periodica An die Freunde (AdF) Berliner Tageblatt (BT) Christliche Welt (ChW) Chronik der Christlichen Welt (CCW) Deutsche Evangelische Kirchenzeitung (DEKZ) Die Eiche Evangelische Freiheit (EvF) Evangelisch-sozial (EvS) Frankfurter Zeitung (FZ) Germania Die Hilfe Internationale Wochenschrift (IW) Internationale Monatsschrift (IM) Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses (MESK)
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C. Schriften Adolf von Harnacks 1. Bibliographische Hilfsmittel BJÖRN BIESTER: Harnack-Bibliographie. Verzeichnis der Literatur über Adolf von Harnack 1911–2002, Erfurt und München 2002. JÜRGEN HÖNSCHEID (unter Mitarbeit von MICHAEL SCHWABE): Kurzgefaßtes Verzeichnis der Korrespondenz Adolf von Harnacks, in: ZKG 88 (1977), 285–301. HANNS-CHRISTOPH PICKER: Ergänzungen zur Personalbiographie Adolf von Harnacks, in: KURT NOWAK (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/ New York 1996, 1655–1683. FRIEDRICH SMEND: Adolf von Harnack. Verzeichnis seiner Schriften. Mit einem Geleitwort und bibliographischen Nachträgen bis 1985 von JÜRGEN DUMMER, München/New York/London/Paris 1990. 2. Häufig zitierte Schriften (mit Sigelverzeichnis) a) Publikationen Harnacks Dogmengeschichte, Tübingen 61922 [ Smend Nr. 1353]. Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 3 Bände, Berlin 1900 [700]. KS 1–2 Kleine Schriften zur Alten Kirche. Mit einem Vorwort von JÜRGEN DUMMER. 2 Bände, Leipzig 1980 [1658]. LDG Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bände, Tübingen 1886–1890 [317, 368, 470]. Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bände, Tübingen 41909–1910 [984, LDG4 1019]. MAC Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41923 [1370]. RA 1–2 Reden und Aufsätze. 2 Bände, Gießen 1904 [829]. RANF 1–2 Aus Wissenschaft und Leben. Reden und Aufsätze. Neue Folge. 2 Bände, Gießen 1911 [1047]. RANF 3 Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge Band 3, Gießen 1916 [1223]. RANF 4 Erforschtes und Erlebtes. Reden und Aufsätze. Neue Folge Band 4, Gießen 1923 [1369]. RANF 5 Aus der Werkstatt des Vollendeten. Als Abschluß seiner Reden und Aufsätze herausgegeben von AXEL VON HARNACK, Gießen 1930 [1581]. DG GAW
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RÜI
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BwM
BwR
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Namenregister
Namenregister
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Namenregister Das nachstehende Namensregister ist als Erschließungshilfe der im Text und in den Anmerkungen erwähnten Personen angelegt. In den bibliographischen Nachweisen auftauchende Autoren- und Herausgebernamen sind nicht notiert. Gleiches gilt für Briefabsender und -empfänger. Personennamen, die in den Anmerkungen erscheinen, sind mit kursiven Seitenzahlen vermerkt. Arons, Leo 160, 181f. Albrecht von Riga 21 Alexander II., russischer Zar 24 Althoff, Friedrich 19, 20, 42, 57f., 102f., 107–115, 124f., 130, 132f., 137, 145, 147, 149–151, 158–173, 181, 183, 233, 245, 247–253, 260–265, 269– 277, 286, 290, 299–304, 323, 330, 356f., 520 Anders, Wilfried 43, 51f. Anrep, Fanny von 56, 77 Anschütz, Gerhard 384, 419 Aquin, Thomas von 324 Arndt, Ernst Moritz 26, 33, 40, 116, 205, 358, 378 Arndt, Theodor 205 Arnhold, Eduard 233, 279, 482 Asquith, Herbert 375 August Wilhelm, Prinz von Preußen 234 Auguste Viktoria, deutsche Kaiserin 247f., 270f. Augustin 81f., 86f., 96, 105, 314, 317, 324, 359, 487 Bachem, Julius 298 Baden, Max von 19, 302, 312, 353, 405, 450, 454, 456, 458, 461, 463, 490, 517 Baeck, Leo 240f., 244, 486 Baer, Karl Ernst von 25, 46–48, 218 Baker, Joseph, Allen 370 Ballin, Albert 261, 310, 405
Bamberger, Ludwig 145, 287 Barth, Karl 4f., 73, 85, 486, 487, 488f. Batocki, Adolf Tortilowicz von 409 Bassermann, Ernst 361, 373, 405 Battenberg, Alexander von 362 Baudissin, Wolf Graf 64f., 69, 76, 80, 83, 103f., 446 Bauer, Bruno 67 Bauer, Gustav 361 Bauer, Max 445, 454 Bäumer, Gertrud 270, 337, 340, 361, 504 Baumgarten, Hermann 199 Baumgarten, Otto 137 169, 215, 225, 228, 230f., 336f., 341, 349–354, 386, 419, 476, 507, 519 Baur, Ferdinand Christian 67, 71, 74, 78, 92, 135 Bebel, August 134, 185, 295, 354, 361 Becker, Carl Heinrich 470–472, 479, 482f. Behrens 409 Below, Georg von 12, 382, 417, 448 Berg, Friedrich von 454 Bergmann, Ernst von 57f. Berlepsch, Hans Hermann Freiherr von 200, 204, 226f., 229, 306, 334, 351 Bernhard, Leopold 345 Bernhard, Ludwig 345 Bernhardi, Friedrich von 394 Bernstein, Eduard 182, 345, 361 Bestmann, Hugo Johann 92f.
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Namenregister
Bethmann Hollweg, Theobald von 19, 233, 288, 302, 307–309, 311f., 326, 347, 357, 381, 386, 406, 409, 413, 416, 420f., 424–427, 429f., 432, 435–440, 442–448, 452, 454f., 460, 502, 520 Beyschlag, Willibald 196 Biedermann, Alois Immanuel 85 Bismarck, Herbert Fürst von 287f. Bismarck, Otto Fürst von 32, 40, 73, 108–112, 115, 117, 119, 122, 128, 146, 149, 161, 173f., 182, 204, 207, 247, 259f., 287f., 318, 362, 463 Blücher, Gebhard Leberecht Fürst 33, 40 Bodenhausen-Degener, Eberhard von 435 Boettinger, von 233 Bonhoeffer, Dietrich 6, 245, 484 Bonwetsch, Nathanael 170 Bornemann, Wilhelm 84, 105, 367 Borsig, Ernst von 408 Bosse, Robert 130–133, 150, 160f. Bourdieu, Pierre 12 Bousset, Wilhelm 134, 168, 276, 282 Brakelmann, Günter 452f. Braun (Hofprediger, Stuttgart) 209 Braun, Otto 513 Brentano, Lujo 140, 185f., 305, 417f., 481 Brieger, Theodor 103 Brockdorff, Therese Gräfin von 271 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von 452 Brocke, Bernhard vom 160, 165 Broedrich, Silvio 420–422 Bruch, Rüdiger vom 15, 139, 200, 249, 254 Bruiningk, Hermann Baron von 52f. Brüning, Heinrich 513 Bülow, Bernhard Fürst von 3, 19, 20, 140, 146, 156, 162, 183, 249, 259, 261, 263, 270–275, 287–295, 300–312, 347, 354, 367, 372, 377, 451f., 476, 508f., 518 Bülow, Marie Fürstin von 288, 300f. Bunge, Gustav von 46, 48–53, 65, 85, 94,170
Butler, Nicolas 269 Caprivi, Leo von 133, 177–179, 184, 204 Carlyle, Thomas 395, 470 Chamberlain, Houston Stewart 253– 259 Chickering, Roger 11 Claß, Heinrich 416f., 448 Clemenceau, Georges 480 Cohen, Hermann 104, 118, 243 Cohn-Nordhausen, Oskar 473 Cremer, Hermann 169, 198, 201, 208, 359 Cromwell, Thomas 396 Cymorek, Hans 12 Damaschke, Adolf 340 Darwin, Charles 46f., 218 Daub, Carl 67 David, Eduard 361, 383f., 407, 445, 475, 505 Davidson, Randall Thomas 370, 374f. Deißmann, Adolf 337, 345, 350, 375, 379, 386, 390, 417, 476 Delbrück, Clemens von 347, 353, 380, 461, 475 Delbrück, Hans 14, 19, 57, 109, 119f., 123f., 126, 140–144, 146, 152, 155f., 158, 160, 162, 164–166, 177–189, 197f., 200f., 205–207, 209, 216, 220– 222, 226, 229–231, 238, 247, 263, 279, 288f., 293–295, 298f., 305f., 312, 321, 326f., 330, 332, 334f., 342, 345, 351, 353, 355, 357, 360, 365, 371–373, 376, 380, 384, 405–408, 411, 413f., 417–426, 429–431, 433, 437–442, 445, 447–456, 458, 460f., 466f., 475f., 497, 509–511, 520 Delbrück, Lina 148 Delbrück, Max 149, 187 Delbrück, Rudolf von 146 Delitzsch, Franz 64 Delitzsch, Friedrich 244, 247, 255, 485f. Denck, Hans 225 Dernburg, Bernhard 288, 294, 361, 405, 418f., 504
Namenregister
Dibelius, Martin 513 Dibelius, Otto 472 Diels, Hermann 399 Dillmann, August 170 Dilthey, Wilhelm 123, 131, 237, 287 Dittrich, Franz 291 Doehring, Bruno 508 Döllinger, Ignaz 317 Doering-Manteuffel, Anselm 118 Dominicus 445 Döring, Herbert 15 Dorner, August 169 Dorner, Isaak August 74, 78 Drews, Paul 84, 105, 168, 276, 344 Dreyer, Otto 127 Dryander, Ernst von 222, 282f., 367 Duisburg, Carl 350 Ebert, Friedrich 2f., 469, 474, 478, 505–507, 509, 511 Eduard VII., englischer König 370 Ehrhard, Albert 171, 317, 324 Einstein, Albert 399, 419 Eliot, Charles 269f. Engelhardt, Moritz von 42, 44–46, 54, 56, 68, 74–78, 83, 91f. Engelhardt, Roderich von 58f., 61, 457, 497, 516 Erzberger, Matthias 299, 330, 408, 425, 432, 474 Eucken, Rudolf 324, 383, 390 Eulenburg, Botho von 133, 179 Eulenburg, Philipp von 260f., 303f. Euripides 57 Ewers, Gustav von 25, 27 Ewers, Marie von 27 Fahud von Ägypten 482 Falk, Adalbert 127 Fichte, Johann Gottlieb 40, 239, 464, 468 Fischer, Emil 233, 282, 390, 399, 409, 445, 482, Fischer, Fritz 420f. Foerster, Erich 104f., 486 Fontane, Theodor 179, 183 Franck, Sebastian 225 Francke, Ernst 185, 306, 334, 337, 361, 449f., 459
595
Frank, Franz Hermann Reinhold 43, 78 Frank, Ludwig 361 Freese, Heinrich 226 Freytag, Gustav 183 Friedberg, Robert von 405, 409 Friedländer, Moriz 243f., 486 Friedrich II., preuß. König 254 Friedrich III., deutscher Kaiser 109– 111, 114, 146, 149, 247 Friedrich Wilhelm I., preuß. König 250 Friedrich Wilhelm III., preuß. König 245 Friedrichs, Heinrich 408 Frucht, Anna s. Harnack, Anna (Tochter) Fulda, Ludwig 390 Funk, Franz Xaver 171 Gebhardt, Oskar von 64f., 76, 264 Gebsattel, Konstantin Freiherr von 434–436 Gerlach, Helmut von 207 Giercke, Otto von 229–231 Giesberts, Johannes 408 Glum, Friedrich 482 Gnauck-Kühne, Elisabeth 202 Gneisenau, August Graf Neidhardt von 33 Goethe, Johann Wolfgang 33, 36–39, 98, 138, 257f., 395, 468 Göhre, Paul 191, 199, 203, 206, 210f., 216f., 219, 221–223, 469 Goltz, Hermann von der 107, 113, 126 Göring, Carl 85 Goßler, Gustav von 103, 106–1153 Gottschick, Johannes 89f., 195f. Grabowsky, Adolf 459 Graf, Friedrich Wilhelm 15, 17 Gregory, Caspar René 84, 211, 224, 229, 337, 353 Grimme, Adolf 483 Grunow, Johannes 140 Gunkel, Hermann 282 Gustav Adolf, schwedischer König 22 Gwinner, Arthur von 405, 408, 412 Haase, Hugo 469
596
Namenregister
Haber, Fritz 12, 390, 399, 400–403, 479f., 483 Hackenberg, Albert 229– 231 Haeckel, Ernst 47 Haenisch, Konrad 471f., 502, 505 Hahn, Kurt 405f., 429, 445, 454, 458 Hall, Thomas 494 Halle, Ernst von 305 Haller, Johannes 36, 423, 448, 515 Hamm, Eduard 505 Hammann, Otto 427 Hammer, Karl 381 Hammerstein, Wilhelm 108f., 111, 113 Harden, Maximilian 249, 304 Harleß, Adolf von 30–32 Harnack, Agnes (Tochter, s. auch ZahnHarnack, Agnes von) 88 Harnack, Amalie (Frau) 88, 173 Harnack, Anna (Schwester) 27 Harnack, Anna (Tochter) 88, 470 Harnack, Axel (Bruder) 26, 31, 48, 50f. Harnack, Axel (Sohn) 88, 380, 470 Harnack, Elisabet (Tochter) 88, 427, 448, 470, 505, 519 Harnack, Erich (Bruder) 27, 31, 49–51 Harnack, Ernst (Sohn) 2, 88, 469f. Harnack, Helene (Stiefmutter) 31, 34, 56 Harnack, Karl Theodosius (Sohn) 88 Harnack, Margarete (Tochter) 88 Harnack, Marie (Mutter) 27f., 31 Harnack, Otto (Bruder) 27, 31, 34, 41, 55–57, 99, 125, 144, 170, 358, 362 Harnack, Theodosius (Vater) 24, 26–34, 42, 50, 54, 56, 65, 74, 92, 99–102, 145 Hatzfeld-Trachenberg, Hermann Fürst von 495, 407, 418f. Hauptmann, Gerhart 90, 487, 494 Haußleiter, Johannes 283 Heeringen, August von 186 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36f., 67f., 70, 173, 395 Hegel, Immanuel 107, 127 Heilmann, Ernst 346 Heine, Wolfgang 445 Hellpach, Willy 507 Helmholtz, Hermann von 234 Helmholtz, Anna von 287
Hengstenberg, Ernst Wilhelm 26, 30, 127, 283 Henschke, Margarete 344 Herder, Johann Gottfried 24, 37, 138 Herkner, Heinrich 337, 344f., 361, 425f., 509 Herrmann, Wilhelm 4, 78, 87, 93, 103f., 118, 198, 211, 324, 390, 419, 490, 519 Herrmann, Emil 127 Hertling, Georg von 162, 299f., 330, 451–453 Herz, Johannes 354, 490 Heuß, Theodor 3, 504 Hieber, Johannes 229 Hindenburg, Paul von 3, 312, 507–509, 513 Hintze, Otto 373, 440 Hirsch, Emanuel 500 Hirschfeld, Otto 145 Hitler, Adolf 498, 504, 513 Hobohm, Martin 455 Hoensbroech, Paul von 319f. Hoffmann, Adolf 467 Hofmann, Johann Christian Konrad von 30–32, 44, 144 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 151 Holborn, Hajo 514, 520 Holl, Karl 168, 265, 446, 453, 477 Holle, Ludwig 274f., 302, 304 Hollmann, Friedrich von 255 Hoerschelmann, Wilhelm 65 Huber, Wolfgang 10 Hübinger, Gangolf 15 Hugenberg, Alfred 498 Humboldt, Alexander von 234 Humboldt, Wilhelm von 234, 245, 252, 467, 509 Jäckh, Ernst 295 Jagow, Gottlieb von 233, 429f. Jantsch, Johanna 7 Jastrow, Ignaz 294 Jatho, Carl 35, 136, 138, 282f., 352 Jeremia 257 Jesaja 257 Jesus 176, 212, 215, 235, 236f., 239, 241–244,248, 255, 485
Namenregister
Jülicher, Adolf 20, 168, 276, 476
597
Kaftan, Julius 64, 69, 76, 78, 93, 104, 106, 127, 134f., 183, 192, 195, 197f., 202, 205f., 226, 228, 239, 282f., 285, 338, 446 Kaftan, Theodor 207, 222, 225, 228, 231 Kahl, Wilhelm 282, 285, 305, 405, 407–410, 418, 433, 473, 510 Kähler, Martin 198 Kahnis, Karl Friedrich August 62 Kaltenborn, Carl-Jürgen 6 Kant, Immanuel 24, 43, 49, 52, 70, 73, 138, 254, 314, 395, 397, 468, 506 Kapp, Wolfgang 448, 459, 476, 500 Katharina II., russische Zarin 26 Kattenbusch, Ferdinand 78, 89f., 93, 168 Kautsky, Karl 182, 186 Keim, August 184 Keller, Ludwig 334 Keyserling, Graf Alexander 40 Kiderlen-Wächter, Alfred Graf von 373 Kierkegaard, Sören 489 Kjellen, Rudolf 381 Kleist-Retzow, Hans von 109 Klemperer, Viktor 280 Klöckner, Friedrich 435 Koch-Weser, Erich 479, 490, 504 Kocka, Jürgen 383 Kögel, Rudolf 107f., 110, 112f., 127, 283 Köller, Ernst von 133, 150, 179 Kopp, Georg Kardinal 270, 299, 323 Krause 405, 407 Kropatschek, Hermann 190, 198 Krüger, Gustav 91, 93, 135,161 Krüger, Paul 262f. Krupp von Bohlen-Halbach, Gustav von 233, 279, 350, 411 Kruse, Francis 412, 416 Kübel, Johannes 508 Kühlmann, Richard von 451, 455f. Kulemann, Wilhelm 207
Lange, Helene 270, 361 Langen, Joseph 170 Langewiesche, Dieter 15 Lasson, Adolf 149 Ledebour, Georg 451 Legien, Carl 361, 459 Lehmann, Ernst 337 Lehmann, Hartmut 401f. Lehmann, Julius 256 Lehmann, Max 183 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 234, 245 Lenger, Friedrich 12 Lenz, Max 390, 425f., 437f. Leo XIII. 321 Lepsius, Johannes 227, 365f. Lepsius, M. Rainer 15 Lessing, Gotthold Ephraim 172 Lexis, Wilhelm 305 Lezius, Friedrich 208, 225 Liebermann, Max 186, 390 Liebig, Justus von 88 Liebknecht, Karl 409 Liebster, Georg 344, 347, 349, 352 Lipsius, Richard 67, 85 Löbe, Paul 505 Loebell, Friedrich Wilhelm von 270, 307 Loisy, Alfred 239, 322 Loofs, Friedrich 20, 84, 91, 93, 100, 105, 134f., 170, 245, 250, 283, 406, 497 Lorentz, H.A. 399 Lotze, Hermann 86 Lübbe, Hermann 381 Lucanus, Herrmann von 151, 251f., 265 Lucian 210 Ludendorff, Erich 504 Ludwig, Emil 508 Luthardt, Christoph Ernst 62f., 74, 78, 92, 102, 107 Luther, Hans 504 Luther, Martin 11, 73f., 81, 92, 94, 96–98, 100, 115, 120f., 225, 254, 318, 321, 331, 359, 395f., 430, 452f., 460, 485
Lahusen, Friedrich 376 Lamprecht, Karl 11, 390
Mahling, Friedrich 276, 472 Mann, Golo 461
598
Namenregister
Marcion 45, 484, 486–488 Marcks, Erich 417, 425f. Martin, Marie 270f., 335, 340 Marx, Wilhelm 505, 507–509, 511 Maydell, Dorothea Freiin von 27, 29 Maydell, Helene Baronesse von (s. Harnack, Helene) McLeod, Hugh 17 Mecklenburg, Johann Albrecht Herzog von 448 Mehring, Franz 239f. Meinecke, Friedrich 11, 14f., 18, 151, 155f.,184, 268, 383f., 389, 405f., 416, 420, 423–426, 439–442, 445, 447, 449f., 455, 458, 468, 475f., 494, 498, 509f., 519f. Meineke, Stefan 11, 18, 475 Meitzen, August 132 Mendelssohn, Franz von 233, 505 Merkle, Sebastian 298, 317, 328 Metzentin 219 Meyer, Eduard 269, 390, 398f., 417, 459 Michaelis, Georg 164, 312, 447–451 Mill, John Stuart 49 Miquel, Johannes von 151 Molkenbuhr, Hermann 361 Möller, Eduard von 159 Moltke, Helmuth Graf von 40 Mommsen, Theodor 7, 19, 120, 123f., 144–146, 150, 162, 164f., 170f., 177, 179, 183, 234, 246, 248, 251, 263, 277, 287, 516 Mommsen, Wolfgang 10 Morgenstern, Karl 25 Mühlau, Ferdinand 42, 170 Mulert, Hermann 5, 476 Müller, Georg Alexander von 428 Müller, Hermann 505, 514 Müller, Johannes 490 Müller, Julius 67 Müntzer, Thomas 212 Muthesius, Karl 344 Nansen, Fritjof 387 Napoléon I. 439f. Nathusius, Martin von 196, 198, 202, 208, 212f.
Natorp, Paul 104, 118 Naumann, Friedrich 2f., 16, 19, 120, 140, 156f., 180f., 191,193, 202–207, 210–227, 229–232, 244, 295, 299f., 310, 313, 326, 328, 335, 337, 339– 341, 344, 347, 350, 352–357, 361, 366, 384, 390, 413f., 433, 441, 465f., 473f., 492, 520 Naumann, Otto 276 Neander, August 126, 170 Nernst, Walter 390, 400, 445 Neufeld, Karl-Heinz 6 Nietzsche, Friedrich 49, 86, 360 Nikolaus I., russischer Zar 23 Nipperdey, Thomas 8, 309 Nippold, Friedrich 89 Nithack-Stahn, Walter 376 Nobbe, Moritz August 198f., 203, 205–207, 209, 212, 217–232, 334f. Nowak, Kurt 4, 6f., 111, 520 Oettingen, Alexander von 26, 34, 36f., 42–44, 54, 83, 92 Oettingen, Arthur von 170 Oettingen, August von 34 Oettingen, Burchard von 51 Oettingen, Nikolai von 34f., 116 Oexle, Otto Gerhard 7 Oldenberg, Carl 220f. Oncken, Hermann 384, 386, 420, 422, 425f., 433 Oskar, Prinz von Preußen 234 Ostwald, Wilhelm 36, 47 Otto, Rudolf 443 Overbeck, Franz 86 Pachaly, Erhard 10 Paulsen, Friedrich 160, 164, 183, 226, 270, 324, 325 Payer, Friedrich von 361, 433 Peterson, Otto 59 Pfannkuche, August 337 Pfleiderer, Otto 67f., 78, 89, 106, 142, 183, 256, 276 Philippi, Friedrich Adolf 26–28 Pius IX. 322 Pius X. 321f. Planck, Max 123, 390, 399f.
Namenregister
Platon 254 Plenge, Johannes 381 Posadowsky-Wehner, Arthur von 288, 302, 341f., 345, 351, 356, 361 Preuß, Hugo 361 Quidde, Ludwig 361 Raabe, Wilhelm 86 Radbruch, Gustav 510 Rade, Martin 4, 7, 74, 80, 84f., 91, 98, 105, 128, 131–133, 135f., 140f., 150, 156, 178, 183, 191f., 194–197, 210f., 222–225, 228–232, 250, 265, 277, 282, 286f., 292, 321f., 332, 337, 339f., 342f., 345–347, 350, 352–355, 364–367, 419, 427, 433, 456, 476, 498, 507f., 519 Ranke, Ernst von 103, 167 Ranke, Leopold von 103, 236 Rassow, Hermann 461 Rathenau, Walter 288, 405, 493f., 508 Rathgen, Karl 227 Rauch, Georg von 25 Raumer, Carl Georg von 33 Rebenich, Stefan 7 Reicke 233 Reimer, Karl 148 Reinhardt, Max 390, 398 Renan, Ernest 121, 144 Renvers, Rudolf von 273f., 289 Reventlow, Ernst Graf zu 447 Richter, Eugen 119 Rickert, Heinrich 87 Riga, Albrecht von 21 Ringer, Fritz K. 14 Rintelen, Viktor 179 Rippler, Heinrich 427 Ritschl, Albrecht 43–45, 49, 64, 66–87, 89, 92–95, 99, 102, 110, 135,197, 208, 239, 254 Ritschl, Otto 168 Röchling, Hermann 435 Röchling, Louis 435 Rockwell, William Walker 394 Roeren, Hermann 299, 326, 330 Roethe, Gustav 279 Roggenbach, Franz von 159
599
Rohrbach, Paul 364–366, 445 Rollfs, Ernst 381 Roloff, Gustav 452 Roosevelt, Theodore 269 Rosen, Friedrich von 481 Rößler, Constantin 149 Rothe, Richard 64, 68 Rottenberg 112 Rothfels, Hans 22, 40 Rousseau, Jean Jacques 37, 254 Ruprecht von Bayern 511 Rushbrooke, Henry 370 Salomon, Alice 340 Sardes, Melito von 46 Saunders, Thomas Bailey 367 Sayor, A.H. 394f. Schacht, Hjalmar 505 Schäfer, Dietrich 143, 185, 269, 294, 376, 398, 399, 420, 424f., 436, 439, 445f., 448, 454, 459 Scheel, Otto 453 Scheidemann, Philipp 445 Scheler, Max 386 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 36, 39 Schiemann, Theodor 34, 36, 52, 57f., 59f., 275, 311, 423f., 515 Schiffer, Eugen 405, 407f., 410, 423, 504, 512 Schiller, Friedrich 36, 39, 138, 468 Schirren, Carl 39f. Schlatter, Adolf 130, 390 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 43, 45, 66–68, 70, 97, 127, 138, 170, 237, 488 Schlosser, Gustav 120 Schmeling, Max 1 Schmidt, Robert 361 Schmidt-Ott, Friedrich 160, 252, 268, 276f., 279, 401, 459, 468, 478–480 Schmoller, Gustav 117f., 126, 131, 140–143, 149f., 152–156, 158, 162, 164f., 184–189, 201, 217, 220f., 226, 238, 246, 265, 273, 287–289, 293f., 298, 302, 305f., 308, 310–312, 334, 344f., 347f., 390, 425f. Schmoller, Lucie 201, 229, 334
600
Namenregister
Schneemelcher, Wilhelm 335, 340–343, 351–353 Schnitzer, Joseph 298, 317, 324 Scholz, Heinrich 192, 201 Scholz, Hermann 126, 192, 201, 283, 285 Schöne, Richard 145 Schopenhauer, Arthur 49, 52, 86 Schreiber, Georg 505 Schrempff, Christoph 128 Schroeder, Leopold von 40, 51f. Schulze-Gävernitz, Gerhard von 186, 210, 337, 339, 344, 351 Schürer, Emil 64f., 76, 83, 89f., 168 Schwab, Gottfried 187 Schwabach, Paul von 405, 408f., 433 Schwabe, Klaus 14, 420 Schwartz, Eduard 170 Schwartzkopff, Philipp 270, 275f. Schweinburg, Victor 187 Schweizer, Alexander 68 Schwerin von Löwitz 233 Seeberg, Erich 3, 259 Seeberg, Reinhold 7, 27, 36, 41, 59, 73, 130, 142f., 183, 207, 247, 259, 270, 276, 283, 315, 335, 359f., 382, 386, 390, 417, 420, 423, 453, 459, 468, 472, 515 Seidlitz, Woldemar von 51 Semisch, Karl 103f., 106 Semler, Johann Salomo 45 Sering, Max 185, 345, 405, 411, 440 Shakespeare, William 36f., 395, 398 Siebeck, Werner 489f. Siegmund-Schultze, Friedrich 369, 373, 375f. Siemens, Carl Friedrich von 408 Siemens, Georg 287 Siemens, Werner von 126 Simmel, Georg 382f. Simons, Walter 491 Singer, Paul 185 Soden, Hans von 4, 513 Soden, Hermann von 126, 189–198, 201, 205, 209, 220f., 228–231, 350 Söderblom, Nathan 268, 366, 478, 489, 491 Sohm, Rudolph 211, 213, 215
Solf, Wilhelm 312, 405, 440, 452, 454, 456, 458, 469 Sombart, Werner 11, 11f., 122f., 386f. Spahn, Martin 162, 16–166, 291, 300, 324, 390 Spengler, Oswald 487 Spieker, Friedrich Albert 369, 375 Spitzemberg, Hildegard Freifrau von 260, 287 Stade, Bernhard 64, 76, 83, 88f. Stahl, Friedrich Julius 30, 127 Stapel, Wilhelm 509 Stegerwald, Adam 433, 459 Stein, August 418 Stein, Lorenz von 441 Stein, Ludwig 288 Stieda, Wilhelm 226 Stier, Ewald 364–366 Stöcker, Lydia 340 Stoecker, Adolf 19, 108–115, 117, 119, 126, 128, 151, 174, 182, 190–213, 219, 224, 228, 231f., 328, 335 Strauß, David Friedrich 42f., 67, 128 Stresemann, Gustav 20, 361, 496f., 504f., 511 Strümpell, Wilhelm 36, 39, 51, 55 Studt, Konrad 151, 183, 265, 273f., 302 Stumm, Freiherr von 124, 180f., 188, 204, 210, 220, 228, 246, 302 Südekum, Albert 361, 433 Sudermann, Hermann 390 Sulze, Emil 193f. Sybel, Heinrich von 123, 145, 183 Szöllösi-Janze, Margit 12 Teichmüller, Gustav 72 Tertullian 45 Thiersch, Amalie (s. Harnack, Amalie) 88 Thiersch, Carl 88 Thiersch, Lina 148 Thimme, Friedrich 445 Tholuck, Friedrich 67 Thomasius, Gottfried 30 Thyssen, August 433, 435 Tirpitz, Alfred 186, 272, 287f., 373, 376, 425, 428, 447f., 459
Namenregister
Titius, Arthur 209–211, 215, 224f., 228, 345, 350f., 476 Tobler, Adolf 145 Tönnies, Ferdinand 185 Traub, Gottfried 136, 215, 248, 282, 284, 337, 476 Treitschke, Heinrich von 117f., 131, 147f., 151, 183, 347 Troeltsch, Ernst 59, 134, 138f., 162, 168, 236, 238, 269, 276, 282, 298, 314, 324, 335, 337–339, 343, 350f., 353, 384, 389, 396, 398, 405, 419, 425f., 440, 445, 449f., 453, 458f., 461, 467f., 471f., 476, 519f. Twesten, August 68 Uhlhorn, Gerhard 193 Vahlen, Theodor 479 Valentini, Rudolf von 20, 311, 401, 406, 411, 413–416, 423, 427–429, 432, 447, 450–455, 520 Veh, Otto von 59 Victoria, deutsche Kaiserin 146f., 149, 247 Vietinghoff-Scheel, Leopold von 422f. Virchow, Rudolf 145, 179, 183 Voelter, Immanuel 205, 219 Volck, Wilhelm 42, 46 Vollmar, Georg von 345 Voltaire 254 Wagner, Adolph 43, 117, 174, 180, 184–189, 190f., 198, 200, 203, 206, 209, 219f., 228–231, 288f., 305, 335, 338, 417, 428 Wagner, Eva 256 Wagner, Richard 86, 254, 256 Wahnschaffe, Arnold 427, 435, 439, 455 Waldemar, Prinz von Preußen 146 Waldeyer-Hartz, Wilhelm von 400, 450 Wattenbach, Wilhelm 145 Weber, Alfred 140f., 143, 166, 419 Weber, Ludwig 190–192, 195, 202
601
Weber, Marianne 340 Weber, Max 10f., 140, 143, 154f., 158f., 162, 185, 199, 203, 210f., 213, 220f., 226, 269, 361, 381, 419, 433, 442, 476 Wedel, Karl Fürst 432 Wehler, Hans-Ulrich 8, 179 Weinel, Heinrich 20, 320, 376f., 476, 490 Weiß, Bernhard 102, 106–108, 110, 169 Weiß, Johannes 168 Wellhausen, Julius 183, 241, 282, 419 Wenck, Martin 337 Wendt, Hans Hinrich78, 220 Wermuth, Adolf 145, 233, 405 Wever, Hermann 276, 323 Wiese, Leopold von 345, 352 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 57, 152, 157, 164, 170, 183, 270, 279, 399, 400, 405, 417 Wildenbruch, Ernst von 183 Wilhelm I. 40, 108, 111, 127 Wilhelm II. 3, 19, 36, 60, 73, 110–115, 130, 147, 150, 172, 174, 177, 186, 204f., 209, 234, 246–265, 269, 274, 277, 286, 301, 303–305, 309–312, 349, 379f., 383, 390, 406, 423, 428, 438, 441, 460, 477, 483 Wilmanns, August 145, 264 Wilson, Woodrow 440f., 459, 475, 492, 497, 508 Windelband, Wilhelm 87, 390 Wirth, Joseph 494 Wolff, Theodor 391–393, 399, 418 Wrede, William 84, 168 Wundt, Wilhelm 390 Zahn-Harnack, Agnes von 3, 31, 57, 88, 135, 254, 259, 261, 297, 470, 490 Zedlitz und Neukirch, Octavio von 426f. Zedlitz-Trützschler, Robert von 177f. Zimmermann, Waldemar 361 Zurhellen-Pfleiderer, Else 460
576
Sachregister
Sachregister
577
Sachregister Das vorliegende Sachregister versteht sich nicht als erschöpfendes Stichwortverzeichnis, sondern als Ergänzung zum Inhaltsverzeichnis und bietet Verweise auf inhaltlich wichigte Sachbegriffe, aber auch auf Institutionen, Zeitschriften und die ausführlicher behandelten Hauptwerke Harnacks. Diese sind kursiv markiert. Anmerkungen sind nur dann aufgenommen, wenn sie sachlich wichtige Ausführungen enthalten. Sie sind durch kursive Zahlen kenntlich gemacht. Akademie der Wissenschaften, Preußische 124, 144, 170–173, 244– 246, 279, 398f., 500 Alldeutsche/Alldeutscher Verband 143, 293, 415f., 422, 432–434, 455, 460 Allgemeiner EvangelischProtestantischer Missionsverein 363f. Antisemitismus/Antijudaismus 129, 176, 182f., 194, 196f., 199, 202f., 240, 257f., 335, 485–487, 512f. Apostolikumstreit 91, 125, 126–132, 167, 169, 201f., 246f., 285 Armenier 215f., 364–366 Aufklärung 15, 24, 358, 489 „Augusterlebnis“ 357f., 378–384, 407, 431f.
Staatsbibliothek 233–235, 250f., 262–267, 272f., 400, 477f. Bildung 141, 226f., 491 – historische und religiöse 69, 80–82, 235–238, 334, 490f. Bildungsbürgertum 140f., 232 Biographie – Methodik der 11–14 – Projekt der eigenen 13, 53f., 100 „Bürgerreligion“ 17f. Bülow-Block 288f., 293–307, 343, 347 Bürgertum/Bürgerkultur 2, 10, 14–16, 140f., 150, 153, 217, 339, 358, 501, 503f., 512, 516 Bürokratie, staatliche 140f., 148, 152– 154., 158, 165f., 356f., 517 Burenkrieg 262f., 289
Baltischer Vertrauensrat 59f., 423 Beamtenregierung, überparteiliche 140f., 148f., 455 Bekenntnis/ Bekenntnisverpflichtung 17, 91, 126–129, 282–285, 472 Belgien 386, 389, 391, 414f., 422, 434f., 437, 444, 448f., 456 Berliner Universität 123, 286f., 467f. Berufungspolitik an theologischen Fakultäten 106–116, 136, 167–170, 276, 282 Bibel-Babel-Streit 244, 247, 255f. Bibliothek, Königliche/Preußische
Christentum – Absolutheit des Christentums 67, 238 – historische Plausibilisierung des Christentums 68f., 80–82, 235–238 – und Kultur 105, 358f., 486–489 – Kulturbedeutung 2f., 5, 13, 41f., 49f., 80f., 85, 98, 281, 363f. – und Politik 157, 212–216, 337, 339f., 342 – und soziale Frage 117, 174–176, 192–194, 224, 333f. „Christliche Welt“/Freunde der Christlichen Welt 3f., 16, 105, 115,
604
Sachregister
131, 134f., 151, 190–195, 282, 286f., 340, 490f. Christlich-soziale Bewegung 190, 203 Christologie 95f. Comenius-Gesellschaft 334 Daily-Telegraph-Affäre 304f., 310 Darwinismus 46–49, 217f. Demokratie 166, 295, 337, 464–467, 473, 495, 502, 518, 521 Demokratisierung 156, 346, 353f., 357, 442f., 460f., 520 Deutschbalten 21–26, 34–41, 56–61, 421–425 Deutsche Demokratische Partei 470, 474, 476, 500, 504, 507 Deutsche Freisinnige Partei/Deutsche Fortschrittspartei 119 Deutsche Friedensgesellschaft 371 Deutsche Gesellschaft 1914 404f., 458 Deutsche Vaterlandspartei 436, 448f., 454, 459 Deutsche Volkspartei 497, 504 Deutscher Flottenverein 186f., 189 Deutscher Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden 432–436 Deutscher Protestantenverein 16, 30, 66, 68, 115, 135f., 191, 198 Deutsches Staatslexikon 313–316, 331, 361f. Deutschkonservative Partei 108f., 112, 119, 203f., 355 Deutschnationale Volkspartei 470, 498, 504, 513 Dialektische Theologie 4, 488f. Dogma – altkirchliches 94–98 – neues 127 Dogmatik – klassische 49f., 75f., 80, 92, 485 – Umformung der 68–70, 76, 81f., 84f., 93–95, 134 Dogmengeschichte 94 Dolchstoßlegende 466, 470, 493 England 268, 348, 367–377, 385–388, 391–393, 397f., 411–415, 424, 428, 435–437, 481, 493
Erweckungsbewegung 26, 67, 70 Ethik, protestantische 157 Evangelischer Bund 318, 320, 508 Evangelischer Oberkirchenrat (EOK) 106–113, 127, 190, 282f. Evangelisch-sozialer Kongreß 16, 118, 124, 128, 140, 155f., 174, 178f., 187, 189–232, 272, 286, 331–362, 459, 490f. Evangelium 76f., 81, 333, 339f., 346 – Jesu 95f., 142, 235f., 242 – Evangelium und Kultur 9, 236, 486f. – und Geschichte 9, 68f., 236–238 „Fall Jatho“ 35, 282 „Fall Spahn“ 162–165, 262, 291, 322f. „Fall Traub“ 248, 282, 285 Flotte/Flottenagitation 124, 142, 183– 189, 289, 291f., 294, 299, 305, 362, 388 Freisinnige Vereinigung/Fortschrittliche Volkspartei 340, 354, 360f., 408, 425 Frankreich 268, 385–388, 411f., 415, 481, 493, 496 Frauenbewegung 202, 270–272, 334f., 337, 340, 361 Freie Kirchlich-soziale Konferenz 208, 228, 231, 335 Freie Vaterländische Vereinigung 407– 410 Freie Vereinigung für Flottenvorträge 186f., 362 Freiheit 81, 117, 137f., 153, 157, 175f., 296, 333f., 336, 344, 381, 395f., 521 Freikonservative Partei 109, 119f., 147, 181, 405, 407 Frieden/Friedensbewegung 355, 368f., 371, 495–497 Friedensfrage 435–439, 447–450, 456, 458f. Friedensvertrag von Versailles 474f., 481, 493–495 Gegeneingabe 416–424 Geist 18, 37f., 46f., 49, 70f., 80f., 138, 465, 471, 499, 501, 512 Geist von 1914 430, 434
Sachregister
Gelehrtenpolitik 3, 14f., 19, 120, 123– 125, 139–189, 224f., 286–312, 321f., 339, 343, 355, 368, 404–447, 454f., 469–471, 505 – Gouvernementalisierung der 140f., 262, 289f. – und Deutungskultur 140–143 – und Kirchenpolitik 135–139 – konservative 143 Geschichte – und Bildung 2f., 80–82, 235–238 – Prinzip der Wirkungsgeschichte 236f., 238 – Theorie der 18, 156f., 236–238, 240, 499 – und Gegenwartsdeutung 15f., 105, 142, 154, 156f., 297, 368, 487 Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 171f., 244–246 Gesellschaft für soziale Reform 306, 332, 334f., 343f., 352f., 360f. Gotteskindschaft 73 „Die Hilfe“ 204f., 211–213 Historismus 7, 520 Humanitätsidee 9, 37f., 72f., 157, 257, 267, 291, 339, 344, 363, 426f., 460, 471, 495f. Idealismus 296, 358, 489 Individualität 49, 70, 80f., 348, 393 Individualismus, religiöser 71f., 138f. Industrie 220, 350, 411, 416, 434–436, 482 Innere Mission 116f. Judentum 240–244, 255, 257f., 432, 485f. Kaisertum, soziales 441, 443f. Kapitalismus 118, 277f., 464, 475 Kapp-Putsch 476, 500 Katholizismus – römischer 129f., 162–165, 170f., 286, 291f., 295–298, 313–331, 360, 453, 491 – politischer (s. Zentrum)
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– Reformkatholizismus/ Modernismus 171, 239, 296, 315, 317, 322, 325f. Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 2f., 160, 235, 248,251f., 276–279, 302, 310, 349f., 355, 400–404, 436, 468, 477, 479, 482–484, 512 Kirche 90f., 490, 500 – Kirchenpolitik 63, 109, 114–116, 125–139, 281–285, 343 – Kirchenreform/Umbildung der Kirche 134–139, 283–285, 320f., 472, 491f. – Kirchenverständnis 81, 129f. – und soziale Frage 117, 189–199, 200f., 335 Kirchengeschichte 87, 90, 167, 169, 297 Kirchliches Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland 369–373 Kolonialpolitisches Aktionskomitee 294f., 305 Konservativismus, politischer 117, 295, 309f., 327f. Kriegsschuldfrage 385–388 Kriegszieldebatte 376, 387f., 402, 404, 409f., 410–445 Kultur – Deutungskultur 140–143, 516 – Kulturkampf 111, 115, 296, 318f., 321f., 328 – Kulturkrieg 383, 385, 387, 388–400, 517f. – Kulturkritik 122f., 382f. – Kulturprotestantismus 8, 16, 68, 78f., 485 – Kulturstaat 159, 370 – Kulturtheologie 18, 142, 332, 515 – Kulturtheorie 142, 393, 499 Kultusministerium, Teilung des preußischen 272–275 Lehrbuch der Dogmengeschichte 70–72, 79f., 93–104, 106f., 324f., 360, 489f. Lehrfreiheit, theologische 132–134, 169f. lex Arons 181
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Sachregister
lex Heinze 182, 294 Liberalismus – politischer 16, 116f., 145, 286, 293, 295, 310, 327, 336f., 340, 347, 354– 362 – theologischer (s. Theologie, liberale) „Literatentum“, baltisches 23–25, 34–36 Livonia 50–55 Lutherrenaissance 4, 488 Luthertum 10f., 74 – baltisches 24, 26f., 63, 101f. – konfessionelles 26, 30f., 54f., 62f., 66f., 69f., 91f., 98–100
Nationalismus 73, 157, 176, 182f., 339, 453 Nationalliberale Partei 109, 119, 181, 361, 470 Nationalökonomie 43, 142, 154f., 199 Nationalsozialer Verein 180f., 209–225, 337, 339f., 342, 350, 354f. Nationalsozialismus 3, 254, 498, 504, 513 Neukantianismus 86f., 104 Neuluthertum (s. Luthertum, konfessionelles) Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft 478–480
Mädchenschulreform 253, 270–272, 276, 290, 344 Marokko-Krise 371–375 Manifest der 93 4, 390–392, 399f., 480, 492 Marcion 484–487 Mechanismus und Vitalismus 47–49 Meinung, öffentliche 140f., 152–154, 166, 177f., 232, 289f., 294f., 321f., 332, 368, 404, 410, 425, 429, 455 Mensch, innerer/inwendiger 77, 80f., 238, 456f. Menschenrechte 257 Menschenseele, unendlicher Wert der (vgl. Individualismus, religiöser) 71f., 80, 142, 235, 333, 358, 393 Milieus, sozialmoralische 15–17, 141–143 Minderheiten, nationale 178, 292f., 421 – Dänen (Nordschleswig) 148, 288 – Polen (Provinz Posen) 148, 150, 183f., 288, 292f., 303, 328 Mission 363f. Mittwochabend 449, 405f., 407, 454f., 458–461, 469, 475, 510f. Mittwochsgesellschaft 143 Monismus 47f. Monarchie 148, 153, 303, 460f.
Oberste Heeresleitung (OHL) 439, 446, 454, 458, 460f., 466 Ökumene/kirchliche Verständigungsarbeit 367–376, 491f. Orthodoxie, östliche 41, 96 Orden pour le mérite 478 Ostseeprovinzen, russische 21–26, 34–61, 456
Nation/Nationalstaat 32f., 268, 290– 293, 330f., 339, 358–360, 419, 464, 497f., 502
Parlamentarisierung 148, 152f., 357 442f., 450, 455, 459, 511 Pazifismus (s. Frieden/Friedensbewegung) – realpolitischer 371, 437f. Persönlichkeit/Persönlichkeitsideal 9, 37, 49, 70, 121, 138, 157f., 172, 175, 227, 242, 281, 339f., 344, 360, 383, 464, 471, 516 Pharisäer 241–243, 486 Politik der mittleren Linie 2, 152–158, 283, 288f., 339, 433, 517 Politik – Bildungspolitik 151, 165, 172, 286, 333f., 357 – Kolonialpolitik 289, 293–295, 388 – Konfessionspolitik 160, 162–165, 214f., 286, 295–302, 313–331 – Kulturpolitik, auswärtige 251f., 267–270, 481f. – Schulpolitik 172, 177f., 250, 253, 270–272, 276, 357, 360–362, 473 – Sozialpolitik 117–120, 142, 151, 174f., 178f., 189f., 200f., 204, 286,
Sachregister
291f., 293, 300, 302f., 333, 343, 347– 349, 352f. – Universitätspolitik 109f., 133, 161–165 – Wissenschaftspolitik 110, 124, 151, 158–173, 248–253, 261–286, 357, 478–480 „Preußische Jahrbücher“ 147–149, 150 Preußisches Historisches Institut 291 Professorenaustausch, deutschamerikanischer (s. Kulturpolitik, auswärtige) Protestantismus – und Geistesfreiheit 137f., 320f., 329f., 491f. – und Katholizismus 295–297, 318–321, 329, 331 – liberaler 15–18, 115f., 117–119, 125–139, 168–170, 176, 189–209, 231f., 281f., 340, 343 – konservativ-orthodoxer 15, 78f., 85, 125–137, 189–209, 239, 248, 297 – Kulturbedeutung 9–11, 17f., 85, 105, 120, 138f., 142, 341, 515f. – als Leitkultur 101f., 176, 258, 329f. – und Moderne 2f., 138, 212f., 216, 284, 320f., 360 – und Nation 120f., 290f., 297, 359f., 331, 516 – Wesen des 93, 98, 101, 130, 137f., 212f., 318–321, 491f. Rasse/Rassenideologie 253–259, 292, 393 Rechtfertigung 69, 73, 76, 96, 516 Reden und Aufsätze 489 Reformation 15, 74, 76, 93, 97f., 120, 290f., 314f., 359f., 452f., 489 Reformen, innenpolitische 140f., 158, 430f., 441–445 Reich Gottes 69–73, 80, 235, 516 Reichsfinanzreform 304–307 Reichsgründung von 1870/71 40, 146 Religion 9, 17–19, 42, 70f., 76, 80–82, 96f., 121, 242f., 296, 313–315, 318, 334, 347, 360, 485, 499, 519 – und Erfahrung 50, 97, 314f.
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– und Kirche 313f., 320f. – und Leben 49f., 97 – und Theologie 97 Religionsgeschichtliche Schule 72, 134f., 162, 168, 282 Religionskritik 5, 53, 86 Religionsunterricht 473 Republik 312, 361, 466f., 469, 470–477, 481f., 503–514, 518, 520 Revolution 155 – von 1789 334 – von 1848 120, 145, 460 – von 1918 461–470 Rußland 21–24, 39–41, 56–59, 362, 385–388, 392–394, 397f., 411–415, 428, 435 Sächsische Evangelisch-soziale Vereinigung 343, 347 Säkularisierung 16f. Seeberg-Adresse 409, 416f., 419f. Seele 71f., 80f. Sozialdemokratie/ Arbeiterbewegung 32, 116–118, 129, 134, 147f., 160, 173–175, 179–182, 189f., 196f., 202f., 216f., 239f., 286, 291, 299f., 308f., 326, 345–347, 354–362, 379–384, 405, 407–410, 421, 425, 430f., 434, 441f., 451, 465, 470, 500f., 503–507, 512 Soziale Frage 32, 116–120, 173–176, 189–232, 335f., 490f., 515 Sozialismus 2, 343f., 465f. – religiöser 4, 343, 488 Sozinianismus 96, 360 Staatssozialismus 117, 175f., 200, 333, 352f. Staatswissenschaftliche Gesellschaft 143f. Subjektivität/Subjektivitätstheorie 18, 70f., 314f., 499 Sünde 73, 81f., 96 Theologie – historische 68f., 77f., 80–82, 166f., 169 – liberale 4f., 66, 67, 70, 78f., 85, 115f., 118f.
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Sachregister
– modern-positive 16, 73 – spekulative 66–68, 70, 78 Theologische Fakultäten (ev.) 109, 114f., 133f., 136f., 471f., 484 – Berlin 91f., 102, 106, 134, 276, 478 – Dorpat 26f., 33, 42–46, 82f. – Erlangen 30f., 63 – Gießen 87–91, 115, – Leipzig 54f., 62–64, 83–85, 87, 102 – Marburg 103–105, 113 Theologische Fakultäten (kath.) 291, 322–324 – Straßburg 162f., 263 „Theologische Literaturzeitung“ 64, 69, 83, 92f. U-Boot-Krieg 406, 411, 416, 424, 428f., 439f., 442, 454 Umformungskrise 2f., 11, 68–70, 74, 101f., 217f. Umsturzvorlage 150 Unabhängiger Ausschuß für einen deutschen Frieden 436, 439, 445, 448, 454 USA 91, 252f., 267f., 370, 374, 381, 383, 393–395, 397, 416, 424, 428f., 440, 481f., 493 Verband für internationale Verständigung 369, 377 Verein für Socialpolitik 140, 154, 200f., 203f., 221f., 224, 332, 334, 347 Vereinigung zur Förderung der Reichsfinanzreform 306f.
Vermittlungstheologie 66–68 Völkerbund 403, 457, 496f. Volksbund für Freiheit und Vaterland 449f., 455 Volkschulvorlage 177f., 294 Wahlrechtsreform 330, 355, 381, 406, 431, 435, 441–445, 449–452, 456 Weimarer Kreis 509–511 Weimarer Reichsverfassung 463, 466f., 472f., 476f., 500, 509 Weltbürgertum 37, 257 – und Nationalstaat 37, 268, 290f., 358–360, 456, 464, 497f. Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen 376 Weltkrieg 331, 353, 378–461 Weltpolitik 183–188, 227, 267, 362f., 367, 371 Werte/Werturteile 17f., 49, 70–72, 128, 154f., 157, 236, 343 Wesen/Wesensbestimmung 71f., 101, 105, 236–238 Wesen des Christentums 71f., 80, 134, 149, 235–244 Wissenschaft – Freiheit der 109, 114f., 130f., 158– 160, 162–165, 245, 252, 277f., 282 – Organisation der 38, 135, 144f., 171f., 235, 245f., 263, 279, 478–480 – Internationalisierung der 262f., 267– 270, 290f., 362f., 377, 398f., 480–482 Zabern-Affäre 310 Zentrum 162f., 291, 295–301, 309, 317, 321f., 326–331, 357, 361, 408, 474, 500, 507f.