Abschied vom Unbedingten: Über den heterogenen Charakter moralischer Forderungen 9783495997581, 9783495481547, 3495481540


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German Pages [350] Year 2006

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Table of contents :
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Vorwort
Hinweise für die Leser
Einleitung
1 Der Plot
2 Begriffserläuterungen
3 Kapitelübersicht
4 Im Erklärungskarussell?
5 Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen
6 Schluss
1 Kleine Phänomenologie moralischer Forderungen
1.1 Merkmale moralischer Forderungen: Unausweichlichkeit, kaptivierender Charakter, Durchsetzungsfähigkeit
1.2 Die Autorität moralischer Forderungen
1.3 Erforderlichkeit, moralische Notwendigkeit und angeblicher Verpflichtungscharakter
1.4 Moralische Reaktionen
1.5 Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis
1.6 Begründungsaspekte moralischer Forderungen
1.7 Schluss
2 Die Kantianische Konzeptualisierung
2.1 Moralphänomenologie und ethische Theorie
2.2 Kantianisch konzipierte Moralgebote
2.2.1 Das radikale Anderssein moralischer Forderungen
2.2.2 Unbedingt und kategorisch
2.2.3 Pflicht
2.2.4 Prinzipien
2.2.5 Universalismus
2.2.6 Unausweichlichkeit
2.2.7 Apriorische Vernunftgebote
2.3 Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen
3 Der umstrittene Charakter moralischer Forderungen
3.1 Arthur Schopenhauer
3.2 Elisabeth Anscombe
3.3 Philippa Foot
3.4 Ernst Tugendhat
3.5 Richard Rorty
3.6 Harry Frankfurt
3.7 BernardWilliams
3.8 Schluss
4 Hypothetische Moralgebote
4.1 Religiöse Voraussetzungen?
4.2 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Entfaltung
4.3 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Kritik
4.4 Sanktionierte hypothetische Moralgebote und der ›interne‹ Charakter moralischer Reaktionen
4.5 Foots Kritik am kategorischen Charakter moralischer Forderungen: kritisch beleuchtet
4.6 Für einen guten Zweck
4.7 Vernunftethisches ›Roll-back‹
4.8 Schluss
5 Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen
5.1 Kategorische Imperative
5.2 Unbedingt notwendig
5.3 Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten
5.4 Kritik der Bedingungsanalyse
5.5 Der ›reasons approach‹
5.6 Moralische Gründe für etwas unbedingt Erforderliches
5.7 Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen
5.8 Gefordert: ›Moralität‹
5.9 Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen
6 Abschied vom Unbedingten
6.1 Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht
6.2 Prinzipienfixierung
6.3 Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten
6.4 Ethischer Holismus
6.5 Moralische Unbedingtheit, moralisches Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung
6.6 Existenzielle Notwendigkeiten
6.7 Existenzielle Notwendigkeiten bei Frankfurt, Rorty und Williams
6.8 Unbedingte Moralgebote, moralisches Selbstverständnis, moralische Selbstgefälligkeit
6.9 Resümee: Die Heterogenität moralischer Forderungen und der Abschied vom Unbedingten
Literatur
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Abschied vom Unbedingten: Über den heterogenen Charakter moralischer Forderungen
 9783495997581, 9783495481547, 3495481540

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Harald Khl

Abschied vom Unbedingten ber den heterogenen Charakter moralischer Forderungen

BAND 74 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997581

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B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Der Autor über sein Buch: Dieses Buch ist ein radikaler Angriff auf kantianische Ethiken. Dabei richtet sich die Kritik gegen Grundannahmen einer solchen Ethik, die eher selten problematisiert werden und die für etliche Gegenwartsphilosophen den Status ethischer Selbstverständlichkeiten besitzen. Im Zentrum der Untersuchung steht die verbreitete Auffassung moralischer Forderungen als ›unbedingter‹ Handlungsvorschriften. Dieser Unbedingtheit läßt sich zwar, im Anschluß an Kant, ein plausibler Sinn geben. Aber sie ist keine notwendige und hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Moralgebotes. Denn zum einen besitzen auch ›hypothetische‹ Moralgebote einen legitimen Existenzanspruch. Und zum anderen gibt es auch nicht-moralische Forderungen, die in strukturell demselben Sinne ›unbedingt‹ sind wie kantische Moralgebote. Kantianische ›Essentials‹, die in diesem Buch bestritten werden, sind des weiteren die Auffassung, (i) daß moralische Forderungen immer eine moralische Notwendigkeit und Verpflichtungen ausdrücken; (ii) daß moralische Gründe ›im Prinzip‹ Prinzipiengründe sind; und (iii) daß eine Ethik hierarchisch aufgebaut sein muß, mit einem obersten Moralprinzip an der Spitze. Demgegenüber wird argumentiert, daß es moralische Gebote gibt, die weniger zum Ausdruck bringen als moralische Notwendigkeiten oder Verpflichtungen (z. B. ›moralische Ratschläge‹), und daß eine moralische Notwendigkeit nicht dasselbe ist wie eine Verpflichtung; der Kant’sche Pflichtbegriff wird demontiert. In Absetzung von einer Prinzipienethik wird an das vielgestaltige Universum moralischer Gründe erinnert. Als Alternative zu der kantianischen Hierarchievorstellung wird ein ethischer Holismus ins Auge gefaßt. Der Autor: Harald Köhl, geb. 1954. Studium der Philosophie und Germanistik in Heidelberg. Staatsexamen. Promotion an der FU Berlin bei Ernst Tugendhat. Heinz-Maier-Leibnitz-Preis für Praktische Philosophie des Bundeswissenschaftsministers. Habilitation an der LMU München. Lehrte zuletzt als Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, und an der Universität des Saarlandes. Veröffentlichungen: ›Kants Gesinnungsethik‹ ; Aufsätze zur praktischen Philosophie (Kant, Schopenhauer, Williams, Rorty; Entwurf einer Suchtethik), Erkenntnistheorie, Semantik.

https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Harald Khl Abschied vom Unbedingten

https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 74

https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Harald Khl

Abschied vom Unbedingten ber den heterogenen Charakter moralischer Forderungen

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Dieser Band wurde gefrdert durch einen Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fr Geisteswissenschaften.

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2006 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satz: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2006 ISBN-13: 978-3-495-48154-7 ISBN-10: 3-495-48154-0

https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Inhaltsverzeichnis

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Hinweise für die Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 2 3 4 5

Vorwort

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17 20 25 28

6

Der Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffserläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitelübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Erklärungskarussell? . . . . . . . . . . . . . . Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . . . .

30 35

1

Kleine Phänomenologie moralischer Forderungen

. . .

36

1.1 Merkmale moralischer Forderungen: Unausweichlichkeit, kaptivierender Charakter, Durchsetzungsfähigkeit . . . . 1.2 Die Autorität moralischer Forderungen . . . . . . . . . 1.3 Erforderlichkeit, moralische Notwendigkeit und angeblicher Verpflichtungscharakter . . . . . . . . . . . 1.4 Moralische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Begründungsaspekte moralischer Forderungen . . . . . . 1.7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 48

Die Kantianische Konzeptualisierung . . . . . . . . . . .

68

2.1 Moralphänomenologie und ethische Theorie . . . . . . . 2.2 Kantianisch konzipierte Moralgebote . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das radikale Anderssein moralischer Forderungen .

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52 56 63

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2 Unbedingt und kategorisch . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Unausweichlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.7 Apriorische Vernunftgebote . . . . . . . . . . . 2.3 Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 75 . 83 . 85 . 90 . 97 . 103

3

Der umstrittene Charakter moralischer Forderungen

. 112

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Arthur Schopenhauer Elisabeth Anscombe . Philippa Foot . . . . Ernst Tugendhat . . . Richard Rorty . . . . Harry Frankfurt . . . Bernard Williams . . Schluss . . . . . . .

4

Hypothetische Moralgebote . . . . . . . . . . . . . . . 155

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. . . . . . . .

. . . . . . . .

4.1 Religiöse Voraussetzungen? . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Sanktionierte hypothetische Moralgebote und der ›interne‹ Charakter moralischer Reaktionen . . . . . 4.5 Foots Kritik am kategorischen Charakter moralischer Forderungen: kritisch beleuchtet . . . . . . . . . . . 4.6 Für einen guten Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Vernunftethisches ›Roll-back‹ . . . . . . . . . . . . . 4.8 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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. 109

. . . . . . . .

113 117 119 127 133 141 146 153

. . 156 . . 158 . . 162 . . 167 . . . .

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Harald Köhl

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Inhaltsverzeichnis

5

Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9

Kategorische Imperative . . . . . . . . . . . . . . . . Unbedingt notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten . . . . . . . Kritik der Bedingungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . Der ›reasons approach‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Gründe für etwas unbedingt Erforderliches Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen . . . . . . . . . . Gefordert: ›Moralität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Abschied vom Unbedingten

. . . . . . . .

193 201 206 218 223 230 236 244

. 249

. . . . . . . . . . . . . . . 253

6.1 Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht . . 6.2 Prinzipienfixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten . . . 6.4 Ethischer Holismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Moralische Unbedingtheit, moralisches Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung . . . . . . . . . . . 6.6 Existenzielle Notwendigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Existenzielle Notwendigkeiten bei Frankfurt, Rorty und Williams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Unbedingte Moralgebote, moralisches Selbstverständnis, moralische Selbstgefälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . 6.9 Resümee: Die Heterogenität moralischer Forderungen und der Abschied vom Unbedingten . . . . . . . . . . .

257 270 280 294 304 311 319 327 333

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

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Für Juliane

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Vorwort

Mit einer früheren Fassung dieser Arbeit habe ich an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität habilitiert. Diese Hochschule hat ihren Namen von einem Herzog von Zweibrücken, meiner pfälzischen Heimatstadt. Meinen Habilitationsgutachtern Dieter Birnbacher, Karl Homann, Wilhelm Vossenkuhl und Günter Zöller danke ich für ihre anerkennungsvolle Auseinandersetzung mit meiner Schrift. Es war Wilhelm Vossenkuhl, der mich dereinst dazu einlud, in München zu habilitieren. Dafür, und für vieles mehr, bin ich ihm sehr dankbar. Besonderen Dank schulde ich Dieter Birnbacher. Seit wir uns vor etlichen Jahren kennengelernt haben, hat er meine philosophische Arbeit mit großem Interesse begleitet und sehr viele meiner Texte gelesen. Er hat mich kontinuierlich und zuverlässig auf vielerlei Weise unterstützt. Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht. Als Gastprofessor an der Berliner Humboldt-Universität habe ich im Wintersemester 2004/05 eine Vorlesung über den Stoff meines Buches gehalten. Ich danke den Berliner Studenten für ihr Interesse und die kritische Resonanz, die der Endfassung meiner Schrift zugute gekommen ist. Dem Alber-Verlag bin ich dankbar dafür, dass er meine Arbeit in sein Programm aufgenommen hat. Die immense Freundlichkeit, mit der mir der Verlagsleiter Lukas Trabert von Anfang an entgegen gekommen ist, hat mir bei der Fertigstellung des Buchtextes sehr geholfen. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für einen Druckkostenzuschuss. Gewiss doch, es dient dem Verständnis, wenn man den Autor eines Textes persönlich kennt. Ich habe dieses Glück mit etlichen der Philosophen gehabt, über die ich in diesem Buch schreibe. Fünf von ihnen, die ich als meine Lehrer betrachte, möchte ich herausheben. A

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Vorwort

Meinen Doktorvater Ernst Tugendhat kenne ich seit über 25 Jahren. Ihm verdanke ich, falls ich ihn denn besitze, einen Sinn für Klarheit und Genauigkeit. Mit ihm geht es mir wie jenem Mann, der nach langen Ehejahren gefragt wird, was ihn denn immer noch an seiner Frau reize. Seine Antwort: jedes Wort. Von Günther Patzig habe ich, so bilde ich mir ein, (nicht nur akademische) Manieren gelernt. Durch sein Beispiel weiß ich überdies, was das ist: ›sophisticated common sense‹. Der junge, noch sehr viel engköpfigere Analytiker Harald Köhl hatte in Jürgen Habermas ein Feindbild. In dessen Frankfurter Oberseminar erlebte ich dann einen überaus kraftvollen, häufig überlegenen Denker. Sein rheinisches Naturell passte mit meinem zusammen, wir nahmen einander ernst. Für ihn war ich ›der einzige Tugendhat-Schüler mit Humor‹. Nun ja. Richard Rorty kenne ich ungefähr so lange wie Tugendhat. In all den Jahren war er stets dialog- und hilfsbereit – und ich war aufnahmebereit für seine Leichtigkeit und seinen Ernst: und allemal für seine philosophischen Provokationen. Als ich ein Forschungsprojekt über ›moralische Gefühle‹ verfolgte, machte er mich mit ›dem‹ Spezialisten bekannt: mit seinem Freund J. B. Schneewind. Durch dessen Aufsatz »Moral Knowledge and Moral Principles« – ein moraltheoretisches Gegenstück zum konstruktiven Teil von Quines »Two Dogmas« – lernte ich überdies, was Pragmatismus in der Ethik und was Ethischer Holismus ist. Diesen Aufsatz habe ich für das vorliegende Buch regelrecht ausgeschlachtet. In Schneewind lernte ich einen liebenswürdigen, ja gütigen älteren Kollegen kennen: geprägt von der Bescheidenheit, die alle großen Philosophen auszeichnet und die von einem Lebenswissen herrührt, das einen vor der übermütigen Schätzung der eigenen Bedeutsamkeit bewahrt. Ich widme dieses Buch meiner Tochter Juliane. Es ist kein Zuckerschlecken, einen Moralphilosophen zum Vater zu haben. Zumal wenn dieser bisweilen ins ›moralistische‹ Fach abgleitet. Gegen solche Anwandlungen hat sich meine Tochter tapfer gewehrt. Ich bin Dir dafür, und für so vieles mehr, unendlich dankbar. Harald Köhl

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Darmstadt/Berlin/Saarbrücken

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Harald Köhl

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Hinweise für die Leser

1.

2.

3.

4.

Zum Nachweis der zitierten Literatur werden in den Fußnoten nach dem Verfassernamen nur Buch- bzw. Aufsatztitel genannt. Zusätzliche Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende der Schrift. Buchtitel sind kursiv gesetzt, ebenso (im Literaturverzeichnis) die Namen von Zeitschriften; Aufsatz-Titel stehen in doppelten Anführungszeichen. Für häufiger zitierte Titel habe ich, bei ihrem ersten Auftreten und im Literatur-Verzeichnis, Abkürzungen eingeführt. Zitate stehen in doppelten Anführungszeichen. Ich verwende einfache Anführungszeichen, wo ich über sprachliche Ausdrücke oder Begriffe spreche, bei ›uneigentlicher Rede‹ und um Ausdrücke schwach hervorzuheben. Stärkere Hervorhebungen stehen in Kursivschrift. Zitate aus englischen Originaltexten erscheinen im Haupttext in deutscher Übersetzung. Wo ich eine vorhandene Übersetzung benutzt habe, ergibt sich dies aus den Nachweisen. Alle anderen Zitate habe ich selber übersetzt. Ich habe mich an der Neuen Rechtschreibung orientiert – soweit sie mir einleuchtet.

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Einleitung

»Die Menschen sind gut, bloß die Leute sind schlecht.« Weil mehr als eine oder einer denkt, dass wenigstens die zweite Hälfte dieser Erich Kästner-Weisheit stimmt 1 , deshalb – mutmaßlich nicht nur deshalb – gibt es sie: die Forderungen der Moral. Wie hat man diese zu verstehen? Wodurch sind sie von andern unterschieden? Woher nur haben sie die Kraft, uns so zu drangsalieren, und unser Wollen, Tun und Lassen ohne Pardon mit festem Griff zu fassen? Dies sind die Fragen. Von einer Theorie moralischer Forderungen wird man darauf Antworten erwarten. In einer ungebundeneren Sprache formuliert, wird man sich von einer philosophischen Untersuchung moralischer Vorschriften eine Auskunft zu folgenden Fragen erhoffen: 1. Wie sind moralische Forderungen angemessen zu beschreiben und was unterscheidet sie von andersartigen Handlungsdirektiven? 2 2. Aufgrund wovon besitzen moralische Gebote ihre Verbindlichkeit und ihr Durchsetzungsvermögen? 3. Genießen Moralvorschriften einen Vorrang vor allen anderen Handlungsvorschriften? Von diesen drei Fragen scheint die erste die uninteressanteste zu sein. Das größte Interesse wird wohl die dritte Frage nach dem Vorrang moralischer Vorschriften vor allen andersartigen Forderungen auf sich ziehen. Diese lässt sich als eine verschärfte Version der zweiten Frage nach der Verbindlichkeit moralischer Forderungen auffassen. So verstanden fragt sie danach, ob Moralgebote eine besondere VerVgl. Erich Kästner, das Gedicht »Für Stammbuch und Stammtisch«, in: Kurz und bündig. Epigramme. 2 Bei Emile Durkheim, der sich am Begriff einer moralischen ›Regel‹ statt am Begriff einer moralischen ›Forderung‹ orientiert hat, lautet diese Frage schlicht: »Was also unterscheidet die moralischen Regeln von anderen Regeln?« Vgl. ders., »Bestimmung der moralischen Tatsache« (= ›Tatsache‹): 85. 1

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Der Plot

bindlichkeit besitzen. Wo diese Besonderheit behauptet worden ist, hat man sie verschiedentlich als ›ausnahmslosen‹, ›unausweichlichen‹, ›universellen‹ ›Geltungsanspruch‹ moralischer Vorschriften ausbuchstabiert – und auf die vornehme ›Herkunft‹ moralischer Forderungen zurückgeführt. Man hat sich an die Vorstellung gewöhnt, dass moralische Forderungen, wo sie mit anderen in Konflikt geraten, als die ›geborenen‹ Sieger anzusehen sind. Wenn demnach die Frage nach der besonderen Verbindlichkeit moralischer Vorschriften unser größtes Interesse zu verdienen scheint, muss es die Leserinnen und Leser enttäuschen, wenn sie erfahren: Es ist die erste Frage nach dem spezifischen Charakter moralischer Forderungen, die in meiner Abhandlung im Mittelpunkt steht und darin eine nicht einmal erschöpfende Untersuchung erfährt. Warum steht diese Frage im Zentrum? Weil diese erste Frage vordringlich abzuhandeln ist. Aufschlüsse für die Beantwortung der dritten (und zweiten) Frage wird man sich zunächst von einer Antwort auf diese erste Frage erhoffen. Denn was sonst, wenn nicht die Eigenschaften, durch die sich Moralvorschriften von Rechtsnormen, Klugheitsgeboten, Gebrauchsanweisungen oder ästhetischen Richtlinien usw. unterscheiden, sollte es verständlich machen, dass sie uns als (besonders) verbindlich erscheinen; dass sie sich / dass wir sie häufig gegen widerspenstige Handlungsantriebe und gegen andersartige Forderungen durchzusetzen vermögen; und dass sie den Vortritt vor anderen Handlungsanforderungen zu verdienen scheinen? Durch ihre Funktion für die Beantwortung der dritten (und zweiten) Frage erhält also die erste Frage, und somit das Thema dieser Abhandlung, eine größere Bedeutung, als es zunächst den Anschein haben kann.

1

Der Plot

Die Antwort, die ich in der vorliegenden Untersuchung auf die Frage nach dem spezifischen Charakter moralischer Forderungen geben werde, ist in dem Sinne vorläufig, dass sie eine systematische Theorie moralischer Forderungen bestenfalls vorbereitet. 3 Meine Abhandlung dieser Frage ist auch deshalb nur vorläufig, weil sie von der Aus-

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Hauptstücke einer solchen Theorie werden im 5. Abschnitt dieser Einleitung skizziert. A

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Einleitung

einandersetzung mit Kant, seinen Anhängern und Kritikern bestimmt wird. Eine systematische Theorie moralischer Gebote hätte sich mehr von diesem Kant-Bezug zu lösen. Meine Antwort auf die Frage nach dem Charakter moralischer Forderungen ist zunächst einmal eine ›negative‹. Ich möchte meine Leser davon überzeugen, dass es eine allen gemeinsame und spezifische Eigenschaft moralischer Präskriptionen nicht gibt. Moralvorschriften besitzen keinen einheitlichen Charakter. Dies ergibt sich jedenfalls dann, wenn man sie, wie man es m. E. tun sollte, in Termini von Gründen für die jeweils geforderten Handlungen analysiert – und wenn man sich von der Existenz verschiedenartiger Handlungsgründe für moralisch Gebotenes überzeugen lässt. Also sind moralische Vorschriften auch nicht durchgängig unbedingte Handlungsgebote, wie die herrschende Lehrmeinung annimmt. Somit lassen sich auch die Vorrangsprätentionen, die mit Moralvorschriften weithin verbunden werden, nicht auf einen ›unbedingten‹ Forderungscharakter stützen. Die negative Formulierung meines Ergebnisses erklärt den Titel meiner Untersuchung: Abschied vom Unbedingten. Eine solche kritische Einsicht, wenn es sich denn um eine Einsicht handelt, kann durchaus einen wichtigen Erkenntnisgewinn bedeuten. Schreiten doch auch ›die Wissenschaften‹ guten Teils dadurch voran, dass bis dato als aussichtsreich gehandelte ›Wahrheitskandidaten‹ mit Gegengründen verworfen werden. Mein Untersuchungsergebnis lässt sich aber auch positiv formulieren. Es besteht dann in der Behauptung des heterogenen Charakters moralischer Forderungen. Damit ist der Untertitel meiner Untersuchung erklärt. Gibt es doch, der von mir erarbeiteten Auffassung zufolge, sowohl ›unbedingte‹ als auch ›bedingte‹ Moralgebote. Bleibt ein wesentliches Element meiner Position nachzutragen. Nicht nur gibt es m. E. neben ›unbedingten‹ Moralvorschriften die ›hypothetischen‹ Imperative der Moral, wie sie verschiedentlich schon gegen die herrschende Lehrmeinung geltend gemacht wurden. Sondern es gibt, neben ›unbedingten‹ Moralgeboten, noch andere, nicht-moralische Handlungsvorschriften, die in strukturell demselben Sinne ›unbedingte‹ Forderungen sind. Die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung ist also nicht nur deshalb nicht das vermutete Erkennungsmerkmal moralischer Forderungen, weil sie (angesichts hypothetischer Moralgebote) keine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Moralvorschrift darstellt. Sondern jene Unbedingtheit ist 18

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Der Plot

auch (angesichts nicht-moralischer Unbedingtheiten) keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Moralgebots. Soeben habe ich von der ›herrschenden Lehrmeinung‹ über die Eigenart moralischer Vorschriften gesprochen und damit die These von einem durchgängig ›unbedingten‹ moralischen Forderungscharakter gemeint. Diese philosophische Auffassung ist mit dem Namen Immanuel Kants verbunden. Sie wird auch heute noch von etlichen namhaften Philosophen, und zwar nicht nur von Kantianern, für überzeugend gehalten. Kant hat mit seiner Konzeptualisierung moralischer Vorschriften als ›kategorisch-unbedingte‹ Imperative einen scheinbar ahistorischen Konsens begrifflich auf den Punkt gebracht. Und er wirkt durch seine Schriften bis heute erfolgreich auf unsere diesbezüglichen ›Intuitionen‹ ein. Er hat sie (mit-) geprägt; wo diese ohnehin kantianisch zu sein scheinen, hat er sie noch verstärkt. Mit der Folge, dass ein zeitgenössischer Kantianer wie Jürgen Habermas überhaupt kein Erklärungsbedürfnis zu verspüren scheint, wenn er wie selbstverständlich vom ›unbedingten‹ oder ›kategorischen‹ Charakter ›des moralischen Sollens‹, also moralischer Forderungen, spricht. 4 Aber auch Selbstverständlichkeiten haben nur einen »Vergänglichkeitswert« 5 , mit dieser Selbstverständlichkeit wird in der folgenden Untersuchung aufgeräumt. Wenn eben behauptet wurde, es gebe nicht-moralische Handlungsvorschriften, die in strukturell demselben Sinne ›unbedingt‹ genannt zu werden verdienen wie, nun ja: eine Klasse der moralischen: dann wird man wissen wollen, in welchem Sinne genau hier von ›Unbedingtheit‹ geredet wird. Für die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist die kantische Forderungstheorie ausgesprochen hilfreich. In seinen m. E. besten Momenten gibt Kant eine Analyse unbedingter und bedingter Handlungsgebote – respektive kategorischer und hypothetischer Imperative – in Termini unterschiedlicher Gründe für das damit jeweils geforderte Verhalten. Wenn man diesen reasonsapproach zur Charakterisierung unterschiedlicher Forderungen von Kants Identifizierung des Unbedingten mit dem Moralischen ablöst, ergibt sich das folgende Bild: Im Unterschied zu den ›funktionalen‹ Gründen für die Wahl geeigneter Mittel zu (moralischen oder nicht-moralischen) Zwecken 4 5

Vgl. dazu im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.2: Unbedingt und kategorisch. Vgl. Sigmund Freud, »Vergänglichkeit«: 225. A

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Einleitung

sind ›unbedingte‹ Forderungen durch andersartige Handlungsgründe zu charakterisieren. Eine ›unbedingt‹ erforderliche Handlung ist deshalb auszuführen, weil sie mit einem (moralischen oder nicht-moralischen) ›Standard‹ übereinstimmt. Mit solchen Standards meine ich Prinzipien, Wertvorstellungen, Ideale usw. Im Rest dieser Einleitung gebe ich einen Überblick über die Kapitel meines Buchs. Dem folgt die prophylaktische Antwort auf einen naheliegenden Zirkeleinwand gegen die eben angedeutete Analyse moralischer Forderungen in Termini von moralischen Gründen. Anschließend zeichne ich die Umrisse einer systematischen Theorie moralischer Forderungen, zu der die vorliegende Schrift ein Vorspiel darbietet. Vor alledem sind aber einige Begriffsklärungen und begriffliche Unterscheidungen am Platz.

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Begriffserläuterungen

Mit ›moralischen Forderungen‹ sind jene ›kulturellen Gebilde‹ gemeint, mit denen wir, meistens in Form sprachlicher Handlungen, von andern oder von uns selber (und häufig gegenseitig) moralisches Verhalten verlangen. Von einer ›moralischen Forderung‹ spreche ich gleichbedeutend mit den Ausdrücken ›Moralgebot‹ und ›Moralvorschrift‹. Bisweilen rede ich, der Abwechslung halber, auch von moralischen ›Direktiven‹, ›Handlungsanweisungen‹, ›Präskriptionen‹, ›Appellen‹ oder ›Imperativen‹. Solche Forderungen unterscheiden sich dadurch von schlichten Aufforderungen, wie z. B. Bitten oder militärischen Befehlen, dass sie mit der Erwartung verbunden sind, begründbar zu sein und von denen ggf. begründet zu werden, die damit von anderen etwas fordern. Dafür, dass ich mich in erster Linie an moralischen ›Forderungen‹ und nicht (wie z. B. Ernst Tugendhat und Habermas) an moralischen ›Normen‹ oder (wie der Soziologe Emile Durkheim) an moralischen ›Regeln‹ orientiere, gibt es mehrere Gründe: Ein erster Grund betrifft das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Begriffen. Moralische Normen (oder Regeln) sind generelle moralische ›Forderungen‹. Der Begriff einer moralischen ›Norm‹ kann demnach durch den Begriff speziellerer Moralgebote eingeführt werden, das Umgekehrte gilt nicht so ohne weiteres. Dies spricht dafür, dass eine moralische ›Forderung‹ das einfachere Phänomen ist. Zweitens hält die Orientierung an der Rede von moralischen 20

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Begriffserläuterungen

›Forderungen‹ statt von ›Normen‹ eher die Möglichkeit offen, dass sich moralische Präskriptivität nicht in jedem Falle explizit oder implizit im Rückgriff auf ›Regeln‹ verstehen lässt. 6 Drittens kommt bei einer Orientierung an konkreten Forderungen statt an Normen der kaptivierende Charakter moralischer Handlungsaufforderungen besser in den Blick. 7 Denn die Vorstellung einer konkreten moralischen Forderung beinhaltet die Beziehung eines identifizierbaren Fordernden zu einem bestimmten Forderungsadressaten, dem gegenüber eine Forderung erhoben wird und der dadurch in einer Weise mit ihr konfrontiert ist, die ihm ein Ausweichen schwer macht. Demgegenüber ist der Status einer moralischen Norm ›abstrakter‹. Das ermöglicht ihren Adressaten eine Distanznahme, die es ihnen leichter macht, sich dem ›normativen Zugriff‹ zu entziehen. – Diese Distanziertheit mag u. a. daher rühren, dass bei Normen es nicht immer offenkundig ist, wer als Normenautor firmiert. Den Urheber einer Forderung zu kennen mag aber schon deshalb von Belang sein, weil die Auffassung einer erhobenen Forderung z. B. als eine moralische von der Einstellung des Fordernden zu seiner Forderung abhängen könnte. 8 Mit diesen Überlegungen soll nicht in Frage gestellt werden, dass Wissenschaften wie die Soziologie gut daran tun können, sich am Begriff von (moralischen und andersartigen) gesellschaftlichen Normen oder Regeln zu orientieren. Die Distanz ermöglichende Abstraktheit von Normen könnte gerade ein Charakterzug sein, der etwas von ihrer gesellschaftlichen Existenzweise erfasst. Demgegenüber mag für eine moralpsychologische oder moralphilosophische Thematisierung moralischer Präskriptivität die Orientierung an Forderungen ratsam sein: je nachdem, für welche Fragen man sich interessiert. Ob in der Ethik, für bestimmte Fragen, eine Orientierung an moralischen Forderungen statt an Normen wirklich ergiebiger ist, könnte am Ende nur eine systematisch durchgeführte Theorie moralischer Forderungen zeigen, und ihr Vergleich mit normenorientierten Theorieansätzen. Für die Orientierung an moralischen ›Forderungen‹, statt der Vgl. dazu Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (= VüE), 41 f., sowie die 11. VüE. Vgl. dazu die Phänomenologie moralischer Forderungen im 1. Kapitel dieser Untersuchung. 8 Vgl. dazu im 1. Kapitel den Abschnitt 1.5: Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis. 6 7

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Einleitung

sprachanalytischen Orientierung an bestimmten sprachlichen Ausdrücken – einem angeblich moralischen ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ –, spricht der im Laufe dieser Untersuchung untermauerte Eindruck: (a) dass ein ›Sollen‹ bisweilen zu schwach erscheint, um den Charakter bestimmter Präskriptionen zu erfassen; und dass (b) ein ›Müssen‹, mithin der Ausdruck einer moralischen ›Notwendigkeit‹, stärker ist, als manche Moralvorschrift gemeint ist. 9 – Gegen den sprachanalytischen Zugang zu unserer Problematik sprechen des weiteren ernst zu nehmende Zweifel daran, ob die Unterschiede zwischen verschiedenartigen Handlungsvorschriften überhaupt als Bedeutungsunterschiede zwischen verschiedenen ›Sollens‹- oder ›Müssens‹-Sätzen zu beschreiben sind. Gibt es das überhaupt, ein sog. moralisches ›Sollen‹ oder ›Müssen‹, also ein ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ in einer moralspezifischen Bedeutung? – Gegen den sprachanalytischen Zugang zur Moral spricht nicht zuletzt die unkontrollierte Weise, in der manche sprachanalytische Ethiker die anspruchsvollsten Theoreme aus dem Hut der ›Begriffsbedeutung‹ meinten herauszaubern zu können. Für Tugendhat z. B. folgt aus dem Sinn eines ›moralischen Urteils‹ (unter welchen Begriff er auch moralische ›Sollens‹- bzw. ›Müssens‹-Sätze fasst 10 ) der so genannte moralische Universalismus. 11 Soeben habe ich argumentiert, dass sich eine moralphilosophische Betrachtung an moralischen Forderungen und nicht an moralischen Normen oder an normativen sprachlichen Ausdrücken wie ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ orientieren sollte. Man kann aber auch meinen, dass eine solche Betrachtung von moralischen Urteilen ausgehen sollte. Dies denkt zum Beispiel Dieter Birnbacher: Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. […] Es gibt einen guten Grund, moralischen Bewertungen einen zentralen Platz und eine grundlegendere Rolle im Ganzen der Moral zuzuweisen als moralischen Forderungen oder ›Imperativen‹. Wir können Forderungen durch Bewertungen begründen, aber nicht andersherum. […] Es wäre […] abwegig, die Bewer-

Vgl. dazu im 6. Kapitel den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 10 Vgl. Tugendhat, VüE: 2. Vorlesung. 11 Vgl. Tugendhat, VüE, die 1.–5. Vorlesung. – Vgl. zum sog. Moralischen Universalismus im 2. Kapitel meiner Untersuchung den Abschnitt 2.2.5: Universalismus. 9

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Begriffserläuterungen

tung, nach der Lügen moralisch falsch ist, […] dadurch begründen zu wollen, dass man nicht lügen sollte. 12

Was ist von diesem Argument zu halten? Es enthält implizit die Prämisse, dass am ›moralischen Phänomen‹ der Aspekt der Begründungsweise moralischer Verlautbarungen der wichtigste ist. Was diesen Begründungsaspekt anbelangt, will ich (erstens) Birnbacher insoweit Recht geben, dass in einer Welt ohne Bewertungen ein jedes ›Sollen‹ in der Luft hinge und vermutlich unverständlich wäre. Sobald jedoch bestimmte ›Sollens‹-Forderungen, auf der Basis von Bewertungen, etabliert sind, ist es nicht sinnlos, bestimmte Bewertungen auf bestimmte, etablierte Forderungen zu stützen. – Zweitens: Steht denn bei dem, was ich ›das moralische Phänomen‹ genannt habe, tatsächlich der Aspekt der Begründungsweise moralischer Verlautbarungen im Vordergrund? Moralische Urteile kann man relativ ›cool‹ und distanziert fällen. Als Kindern und auch später noch begegnet uns die Moral jedoch ›zunächst und zumeist‹ nicht in Form von mehr oder weniger distanzierten Beurteilungen. Viel massiver tritt sie uns entgegen, nämlich als schier unabweisbare Verhaltenszumutung. Sie mutet uns zu, unsere Handlungsfreiheit einzuschränken. Diese Zumutung kommt eher in Forderungen zum Ausdruck, die den angedeuteten kaptivierenden Charakter besitzen. Deshalb meine ich, dass man sich, beim Erfassen des Moralphänomens, an Forderungen orientieren sollte. – Drittens: Der Begründungsaspekt, den Birnbacher in den Vordergrund stellt, ergibt sich am handgreiflichsten daraus, dass die Moral uns in Form von Forderungen entgegen tritt. Gewiss, auch moralische Bewertungen können, zumal wo sie uns schmerzen, uns als ungerecht erscheinen usf., unser Bedürfnis wecken, sie begründet zu bekommen. Eine Begründung erscheint uns jedoch bei Forderungen, die in massiver Weise die Zumutung von Verhaltenseinschränkungen beinhalten, am dringlichsten. Bisher habe ich erläutert, wie ich in dem Ausdruck ›moralische Forderungen‹ den Teilausdruck ›Forderungen‹ verstehe und warum ich moralische Forderungen in den Vordergrund meiner Untersuchung stelle. Um zu erfassen, was unter einer moralischen Forderung zu verstehen ist, ist es ratsam, drei Verwendungsweisen des Ausdrucks ›moralisch‹ zu unterscheiden, unter Berücksichtigung der jeweiligen Gegenteile: 12

Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik: 12–14. A

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Einleitung

1. moralisch vs. nichtmoralisch, 2. moralisch akzeptabel vs. moralisch inakzeptabel, 3. moralisch gut bzw. wertvoll vs. moralisch schlecht. Der Ausdruck ›moralisch‹, wenn er im 1. Sinne verwendet wird, dient der Abgrenzung eines Bereichs von Forderungen – nämlich der moralischen – von allen nicht-moralischen Handlungsvorschriften: von Forderungen des Rechts, der Klugheit, der Schönheit; von Regeln der Schicklichkeit und der Geschicklichkeit; von politischen Forderungen, gesellschaftlichen Tabus; von Spielregeln usw. Hingegen werden durch die Unterscheidungen des moralisch Korrekten vom Inkorrekten (2.) und des moralisch Guten vom Schlechten (3.) Wertdifferenzierungen innerhalb des Moralbereichs getroffen. (Der Unterschied von 2. und 3. verläuft parallel zu der geläufigen kantischen Unterscheidung zwischen der bloßen Pflichtmäßigkeit und der Pflichtmotiviertheit eines Handelns.) Wenn ich im Folgenden von einer ›moralischen‹ Forderung spreche, ist damit die 1. der unterschiedenen Verwendungsweisen von ›moralisch‹ gemeint. Ich möchte etwas über den Unterschied, oder die Unterschiede, zwischen moralischen und nicht-moralischen Handlungsvorschriften herausfinden. Was im 2. und 3. Sinne ›moralisch‹ genannt wird, sind in paradigmatischen Fällen (ggf. geforderte) menschliche Handlungen. Wenn man von einer Forderung selber sagt, sie sei moralisch ›akzeptabel‹ (2.) oder moralisch ›gut‹ (3.), klingt dies merkwürdig. Es kann damit genau genommen nur gemeint sein, dass das Erheben oder Unterstützen einer Forderung (in einer bestimmten Situation oder generell) korrekt oder gut ist, oder dass die geforderte Handlung als moralkonform oder moralisch wertvoll betrachtet wird. Soviel zu den Unterschieden zwischen den unterschiedlichen Verwendungen des Ausdrucks ›moralisch‹. Es gibt aber auch, wie sich im Laufe dieser Untersuchung zeigen wird, einen wichtigen Zusammenhang zwischen ihnen. Moralische Forderungen, im 1. Sinne des Ausdrucks ›moralisch‹, verlangen Handlungen, die nicht nur, im 2. Sinne, moralkonform, sondern die in letzter Instanz moralisch motiviert sind (im Sinne von 3.). 13

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Vgl. dazu im 5. Kapitel den Abschnitt 5.8.: Gefordert: Moralität.

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Kapitelübersicht

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Kapitelübersicht

Im 1. Abschnitt dieser Einleitung wurde ein Hauptergebnis dieses Buches vorweggenommen: Nicht alle moralischen Forderungen sind ›unbedingte‹ Handlungsgebote. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat man zu untersuchen, in welchem guten Sinne eine Forderung ›unbedingt‹ genannt werden kann (5. Kapitel) und ob tatsächlich alle und nur moralische Forderungen in diesem Sinne ›unbedingte‹ Handlungsvorschriften sind (4. und 6. Kapitel). Die ersten drei Kapitel führen zu meiner Auseinandersetzung mit diesen Kernfragen hin. Das 1. Kapitel entwickelt eine Kleine Phänomenologie moralischer Forderungen. Am Ausführlichsten behandele ich dabei das System moralischer Reaktionen, mit denen die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft Forderungs(un)gehorsam quittieren, sowie diverse Begründungsaspekte von Moralgeboten. Insgesamt wird in diesem Kapitel der Versuch unternommen, moralische Forderungen unterhalb des Niveaus ihrer kantianischen Thematisierung zu beschreiben. Damit wird eine Folie ausgerollt, auf deren Hintergrund sich die viel anspruchsvollere Kantianische Konzeptualisierung abheben lässt. Diese wird im 2. Kapitel entfaltet. Da es sich dabei um die dominierende philosophische Auffassung moralischer Forderungen handelt, liegt es nahe, sie in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. In diesem Kapitel wird die Kantianische Konzeptualisierung zunächst präsentiert: gestützt auf Verlautbarungen ihres Namensgebers und einiger seiner heutigen Anhänger. Für Kant waren moralische Forderungen dadurch ›radikal anders‹ als alle anderen, dass sie ihm ›unbedingte Vernunftgebote‹ zu sein schienen. Die anderen Eigenschaften, die er ihnen zugesprochen hat, scheinen sich aus dieser ersten Charakteristik zu ergeben. Hierzu gehört der ›universalistische Anspruch‹, den Kant und seine Anhänger mit Moralvorschriften verbunden sehen. Wie sich, entgegen der gewöhnlichen Auffassung, zeigen wird, handelt es sich bei dem sog. ›moralischen Universalismus‹ um mehr als eine moralphilosophische Position. Folglich hat man mehrere Formen des Universalismus zu unterscheiden, zueinander in Beziehung zu setzen und zu gewichten: mit überraschendem Resultat. Weitere Versatzstücke der Kantianischen Konzeptualisierung sind ihre Notwendigkeits- und Pflicht-Fixierung; ihre PrinzipienOrientierung und ein damit zusammenhängendes hierarchisches A

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Einleitung

Ethik-Modell. Damit meine ich Kants Thesen, (1.) dass moralische Forderungen allemal eine moralische Notwendigkeit und Verpflichtungen ausdrücken, (2.) dass moralische Gründe ›im Prinzip‹ Prinzipiengründe sind, und (3.) dass es eine feststehende Hierarchie moralischer Gründe gibt mit einem obersten Moralprinzip an der Spitze. Wer, wie der Verfasser und mit ihm eine beträchtliche Zahl heutiger Moralphilosophen, die Verteidigung des Vernunftaspektes kantisch konzipierter Moralvorschriften für aussichtslos hält 14 : für den bleibt als zentraler Bestandteil der Kantianischen Konzeptualisierung die angebliche ›Unbedingtheit‹ moralischer Gebote. So wird (im 5. und 6. Kapitel) zu untersuchen sein, ob sich, auch ohne den kantischen Vernunfthintergund, dem ›unbedingten‹ Charakter eines Gebotes ein plausibler Sinn abgewinnen lässt; und ob andere Bestandteile der Kantianischen Konzeptualisierung sich aus der (dann explizierten) ›Unbedingtheit‹ ergeben. Im 3. Kapitel kommen die wichtigsten Kritiker an der kantischen ›Unbedingtheits‹-Konzeption moralischer Forderungen zu Wort. Zur Darstellung kommen dabei Arbeiten von Elisabeth Anscombe und Philippa Foot, Arthur Schopenhauer und Ernst Tugendhat, Richard Rorty, Harry Frankfurt und Bernard Williams. Neben ihrer Kant-Kritik enthalten einige ihrer Texte die Existenzbehauptung ›nicht-moralischer unbedingter‹ Forderungen, mithin einen Angriff auf das Unbedingtheits-Monopol ›moralischer‹ Gebote. Einige der Kritiker entwickeln, als Konsequenz aus ihrer Kritik am ›unbedingten‹ moralischen Forderungscharakter, den Vorschlag, Moralvorschriften in der ein oder anderen Weise als bedingte Gebote, als hypothetische Imperative aufzufassen. Im 4. Kapitel werden einige der zuvor dargestellten Diskussionsbeiträge geprüft. Kritisch gewürdigt werden hier die Positionen von Schopenhauer, Anscombe, Tugendhat (partiell) und Foot. Die Auseinandersetzung mit anderen Beiträgen setzt ein elaboriertes Unbedingtheitsverständnis voraus. Die Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Frankfurt, Rorty, Williams und wiederum Tugendhat wird deshalb auf das 6. Kapitel verschoben. Die Überschrift des 4. Kapitels: ›Hypothetische Moralgebote‹, verrät, dass sich der Verfasser von den Argumenten Foots, Tugendhats und Rortys zugunsten eines Existenzrechts ›bedingter‹ Moralvorschriften hat beeindrucken Vgl. im 6. Kapitel den Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten.

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Kapitelübersicht

lassen. Hier wird also bereits einer der Pflöcke eingeschlagen für die systematische Gesamtposition, für die ich in meinem Buch argumentiere. Das 5. Kapitel analysiert die kantische ›Unbedingtheits‹-Konzeption moralischer Forderungen. Das Bild, das von ihr im 2. Kapitel aufgenommen wird, bleibt dort bewusst unterbelichtet. Die Analysen des 5. Kapitels sollen eine scharf konturierte Aufnahme dieser Forderungseigenschaft liefern. Um den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen herauszuarbeiten, hat Kant zunächst die Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen ›Imperativen‹ eingeführt, ihr dann aber die Unterscheidung zwischen unbedingten und bedingten ›Geboten‹ zugrunde gelegt. Man kann sich also, um die kantische Konzeption einer Moralvorschrift zu erfassen, auf die Explikation ihrer angeblichen ›Unbedingtheit‹ konzentrieren. Wie sich zeigen wird, ist für Kant die Unbedingtheit einer Forderung eine Modifikation der praktischen Notwendigkeit der geforderten Handlung. M. a. W. ist eine moralisch geforderte Handlung etwas, das ›unbedingt getan werden muss‹. Diese Redewendung erfasst prägnant den Ort des ›Unbedingten‹ in der kantischen Sprache der Moral. Kants Versuch, den Unterschied zwischen bedingten und unbedingten Forderungen durch eine ›Bedingungs-Analyse‹ herauszuarbeiten, erweist sich als verfehlt. Damit ist eine Explikation in Termini der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit einer Forderung von Zweckbedingungen gemeint. (Erstaunlicherweise gibt sich ein Großteil der Kant-Literatur mit einer solchen Analyse zufrieden.) Als erfolgreich erweist sich hingegen Kants Versuch, den explikationsbedürftigen Unterschied durch die Angabe unterschiedlicher Gründe für die jeweils geforderten Handlungen zu erklären. Ich habe diesen ›reasons approach‹ bereits im Anfangsteil dieser Einleitung eingeführt. Gründe für eine moralisch-unbedingte Forderung behaupten, Kant zufolge, die Übereinstimmung der geforderten Handlung mit einem bzw. dem moralischen Prinzip. Wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, kann man die ›Unbedingtheit‹ kantischer Moralgebote ohne den Vernunftrückhalt verständlich machen, den Kant ihnen gegeben hat. Dieses 6. Kapitel hat die systematische Hauptlast meiner Untersuchung zu tragen. In seinem Zentrum steht der Versuch, nicht-moralische Forderungen zu etablieren, die in strukturell demselben Sinne wie kantische Moralgebote ›unbedingte‹ Handlungserfordernisse zum Ausdruck bringen. Zur Plausibilisierung ihrer Existenz werden A

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Einleitung

(aus dem 3. Kapitel) die Beschreibungen wieder aufgenommen, die Frankfurt, Rorty und Williams von ihnen gegeben haben. Wenn es solche nicht-moralischen Unbedingtheiten gibt, hat man die im 5. Kapitel gegebene Unbedingtheitserklärung zu modifizieren, nämlich zu ›ent-moralisieren‹. Was demnach eine unbedingte (moralische oder nicht-moralische) Forderung charakterisiert, sind Gründe der Übereinstimmung der jeweils geforderten Handlungen mit einem (moralischen oder nicht-moralischen) Prinzip. Weitere Modifikationen der bisherigen Unbedingtheits-Explikation werden sich als erforderlich erweisen. Damit habe ich, in diesem Schluss-Kapitel des Buches, alle Versatzstücke beieinander, die zusammen meine im 1. Einleitungsteil beschriebene Gesamtposition ausmachen. Der in diesem Kapitel vollzogene Abschied vom Unbedingten meint in der Hauptsache ein Abschiednehmen von der Vorstellung, wir hätten mit der ›Unbedingtheit‹ einer Handlungsvorschrift ein Kriterium – eine notwendige und hinreichende Bedingung – für ihren ›moralischen‹ Charakter an der Hand. Das haben wir nicht. Überdies werden in diesem Kapitel einige Charakteristika kantischer Moralgebote wieder aufgenommen und kritisch beleuchtet, die im 2. Kapitel zur Darstellung kamen und zusammen mit dem Unbedingtheits-Merkmal die sog. Kantianische Konzeptualisierung ausmachen. Gemeint sind die kantische Notwendigkeits- und PflichtFixierung, seine Prinzipien-Orientierung und sein damit zusammenhängendes hierarchisches Ethik-Modell. Gegen Kant versuche ich zu zeigen, dass es moralische Gebote gibt, die weniger zum Ausdruck bringen als moralische ›Notwendigkeiten‹ oder ›Verpflichtungen‹ (z. B. ›moralische Ratschläge‹). Im Anschluss an J. B. Schneewind werde ich an das vielgestaltige Universum moralischer Gründe erinnern und, in Absetzung von der kantischen Hierarchievorstellung, einen ›ethischen Holismus‹ ins Auge fassen.

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Im Erklärungskarussell?

Es dürfte ratsam sein, vorbeugend auf einen Einwand einzugehen, den die in dieser Einleitung vorgestellte ›reasons‹-Analyse moralischer Vorschriften auf sich zieht. Der folgende Versuch, den Einwand zu entkräften, leitet zugleich über zu der angekündigten Skizze einer systematischen Theorie moralischer Forderungen. 28

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Im Erklärungskarussell?

Der zu erwartende Einwurf stellt einen Zirkelverdacht in den Raum. Ausgezogen war ich mit dem Vorsatz, den Unterschied zwischen moralischen und andersartigen Handlungsvorschriften ans Licht zu bringen. Was am Ende herauszukommen scheint, ist die Auffassung, dass moralische Forderungen durch moralische Gründe zu spezifizieren seien. Das kann so aussehen, als solle hier der Ausdruck ›moralisch‹ durch den Ausdruck ›moralisch‹ erklärt werden. Das kann er nicht, er bleibt vielmehr unerklärt. Mithin »ein grober Zirkel im Erklären«? 15 Dem wäre so, ließe man es mit dem bis dahin erreichten Stand der Analyse moralischer Forderungen bewenden. Das darf man nicht. Mithin ist der ›reasons approach‹ zum Verständnis moralischer Vorschriften durch jenen Einwand deshalb nicht ›am Ende‹, weil deren Analyse mit jenem ersten, aber entscheidenden Schritt: von moralischen Forderungen zu moralischen Gründen, noch nicht ›zu Ende‹ ist. Was ist es denn, was jenen Zirkeleinwand provoziert? Es sind nachgerade die tragenden Einsichten – wenn es sich denn um solche handelt –, die in der vorliegenden Untersuchung gewonnen werden, die mich in die Bredouille zu bringen scheinen. Diese Notlage ist zum einen eine Folge der Annahme sowohl unbedingter wie hypothetischbedingter Moralgebote, und zum anderen der Annahme nicht-moralischer Unbedingtheiten neben unbedingten Moralvorschriften. Die erste Annahme, mithin die behauptete ›Heterogenität‹ moralischer Forderungen, zwingt mich dazu, das Wort ›moralisch‹ bei der Erklärung ›hypothetischer Moralgebote‹ wieder zu verwenden. Denn ich kann diese, im Unterschied zu nicht-moralischen hypothetischen Imperativen, nur durch Gründe erläutern, die eine geforderte Handlung als Mittel zu einem als moralisch betrachteten Zweck ausweisen. Dasselbe gilt, wegen der Annahme unbedingter nicht-moralischer Forderungen, für die Erklärung ›unbedingter‹ Moralvorschriften. Muss man doch, infolge dieser Unterscheidung, unbedingte Moralgebote so beschreiben, dass eine von ihnen geforderte Handlung deshalb als erforderlich erscheint, weil sie anscheinend mit einem moralischen Standard übereinstimmt; im Unterschied zu unbedingten nicht-moralischen Forderungen, bei denen die Übereinstimmung des Geforderten mit einem nicht-moralischen Standard die Handlungsnotwendigkeit schafft. Es sind also die zusätzlichen Differenzie15

Kants Formulierung. Vgl. die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= GMS): 443. A

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Einleitung

rungen, die ich im Forderungsbereich für nötig erachte, die es mit sich bringen, dass bei der Erklärung ›moralischer Forderungen‹ das ›Moralische‹ daran nur weitergeschoben wird in die Rede von ›moralischen Gründen‹ : und damit (vorerst) unanalysiert bleibt. Weshalb die Analyse hier nicht stehen bleiben kann. Kant, mit seinem kleineren Unterscheidungsinventar, hätte es schaffen können, mit einem Erklärungsschritt aus der Rede vom ›Moralischen‹ herauszuspringen. Denn er konnte sagen: ›Moralische Forderungen sind unbedingte Gebote‹ – und musste in dieser Erklärung den Ausdruck ›moralisch‹ nicht wieder verwenden. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn die Gleichsetzung des Moralischen mit dem ›unbedingt‹ Erforderlichen zur Disposition steht. Dann muss man zwischen moralischen und nicht-moralischen Unbedingtheiten unterscheiden, und dann muss man weiterfragen, worin das Moralische an moralischen Forderungen besteht.

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Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen

Den Analyse-Schritt von moralischen Forderungen zu (einer Pluralität von) moralischen Gründen habe ich vorhin den ›entscheidenden‹ genannt. Er ist deshalb entscheidend, weil er die Richtung bestimmt, in welche die Untersuchung fortzuschreiten hat. Er legt die Hinsicht fest, in der verschiedenartige moralische und andersartige Forderungen zu charakterisieren und voneinander zu unterscheiden sind. Sie sind zu spezifizieren hinsichtlich der Gründe für das jeweils Geforderte. Was aber sind moralische Gründe für moralische Forderungen? Gründe für eine Forderung ›überhaupt‹ haben die Funktion, diese zu ›untermauern‹. Sie bewerkstelligen dies, indem sie den jeweils geforderten ›Handlungen‹ durch (Wert-) Prädikate bestimmte Eigenschaften zuschreiben. Bei ›moralischen‹ Forderungen sind dies ›moralische‹ Prädikate, mit denen wir geforderten Handlungen moralische Eigenschaften zuschreiben: z. B. rücksichtsvoll, gerecht oder hilfreich zu sein. – Wiederum ist damit die Analyse des Ausdrucks ›moralisch‹ nur ein Stück weiter geschoben worden. Denn was sind ›moralische‹ Prädikate bzw. ›moralische‹ Eigenschaften? Hier hat die weitere Analyse anzusetzen. Zuversichtlich, dass das an dieser Stelle gelingt, wird sie, was moralische Prädikate bzw. Eigenschaften sind, 30

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Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen

zu erklären versuchen, ohne wiederum den Ausdruck ›moralisch‹ verwenden zu müssen. Die in Aussicht gestellte systematische Theorie moralischer Forderungen sollte überdies Auskünfte zu folgenden Themen geben können: 1. Ordnung unter moralischen Gründen. Die Vielfalt moralischer Wertprädikate ermöglicht eine Mannigfaltigkeit moralischer Gründe. Um der drohenden Unübersichtlichkeit zu wehren, wird eine Theorie moralischer Gründe den Versuch machen müssen, diese unter einigen Gesichtspunkten zusammenzufassen. Beim Prüfen der Frage, ob es ein ›inneres Band‹ zwischen ihnen gibt, aufgrund dessen sie alle ›moralisch‹ genannt werden, sollte uns die Erinnerung an Wittgensteins Begriffstheorie (›Familienähnlichkeiten‹) vor der platonistischen Annahme warnen, dass allen moralischen Gründen etwas ›Wesentliches‹ gemeinsam sein müsse. 2. Worauf beziehen sich die Gründe für eine (moralische) Forderung? Man hat verschiedentlich ein Problem für die Begründung moralischer Gebote an deren ›präskriptivem‹ Charakter festgemacht. Imperativische Äußerungen seien, anders als Aussagen, nicht wahr oder falsch. Während sich Gründe für Aussagen auf dasselbe zu beziehen scheinen, das an ihnen wahr oder falsch sein kann (Freges ›Gedanken‹), sei dergleichen bei Aufforderungen nicht zu identifizieren. ›Tugendhats Problem‹, wie ich diesen Einwand nennen möchte, ist natürlich nicht nur sein Problem. 16 Obzwar dieser Zweifel nicht nur die Begründungsmöglichkeit moralischer Forderungen betrifft, ist er, angesichts von deren besonderer Begründungsbedürftigkeit, bei ihnen von besonderer Brisanz. Die nahe liegende Replik kann jedoch moral-unspezifisch formuliert werden. Die vorhin gegebene Darstellung der Funktionsweise von Gründen für eine Forderung enthält eine Lösung für Tugendhats Problem, indem sie einen ›gedanken‹-analogen Bezugspunkt für praktische Gründe namhaft macht: Die Gründe für eine Forderung beziehen sich auf die geforderte Handlung, und die Forderungsbegründung besteht in der Behauptung, dass jene Handlung eine bestimmte Werteigenschaft besitzt. Das mit dieser Behauptung BeVgl. zu einem ähnlichen Gedankengang mit Bezug auf moralische Normen: Ernst Tugendhat, Dialog in Letitia (= ›Letita‹), den I. Dialog, sowie ders.: »Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik«, die 1. Vorlesung.

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hauptete (im vorigen Satz kursiv gesetzt) ist der ›praktische Gedanke‹, auf den praktische Gründe sich beziehen. 3. Die Widerlegung konkurrierender Theorieansätze. Der soeben zurückgewiesene Einwand gegen eine Forderungsanalyse in Termini von ›Gründen‹ für das jeweils Geforderte mag ein Grund dafür gewesen sein, dass manche Theoretiker einen solchen ›reasons approach‹ für wenig aussichtsreich gehalten und sich an alternativen Konzeptionen versucht haben. Man wird von einer gründeorientierten Forderungstheorie erwarten, dass sie die Auffassungen ihrer Konkurrenten diskutiert und ihre eigene Überlegenheit zu demonstrieren versteht. Ein ernstzunehmendes Konkurrenzunternehmen ist sicherlich die ›Sanktionstheorie von Forderungen‹. 17 Ihr zufolge hat man Forderungen generell 18 , oder wenigstens soziale Normen, in Termini von Reaktionen auf Forderungs(un)gehorsam zu beschreiben. Die differenzierteste dieser Positionen stammt von Ernst Tugendhat, der zu der Auffassung gelangt ist, dass für die Bedeutung (jetzt:) ›moralischer‹ Normen moralspezifische Gefühlsreaktionen konstitutiv sind. 19 Die Kritik an verschiedenen Versionen der ›Sanktionstheorie‹ wäre ein langes Kapitel für sich. 20 Glückt diese Kritik, mag man sich in der Auffassung bestätigt fühlen, dass die ›Bedeutung‹ einer (moralischen) Forderung (und die unterschiedliche Bedeutung verschiedenartiger Forderungen) nicht anders als die Bedeutung eines Aussagesatzes zu erfassen ist: nämlich in Termini von Wahrheits- bzw. Verifikationsbedingungen, hier also durch die Gründe für das jeweils Geforderte. 4. Meine Eingangsfragen nach der Verbindlichkeit, und gegebenenfalls der besonderen Verbindlichkeit moralischer Forderungen, Vgl. zum Beispiel Durkheim, ›Tatsache‹, sowie ders., Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vgl. Tugendhat, VüE, die 2, Vorl., sowie eine Reihe anderer seiner ethischen Schriften. 18 Vgl. Tugendhat, a. a. O.: »[…] daß zu jedem praktischen ›muß‹-Satz eine Sanktion gehört […]. Es ist nicht zu sehen, welchen Sinn die Rede von einer praktischen Notwendigkeit (dem ›muß‹ oder ›soll‹) noch haben könnte, wenn man eine solche Sanktion […] nicht unterstellt.« (43) 19 Vgl. hierzu detailliert im 1. Kapitel den Abschnitt 1.4: Moralische Reaktionen, und im 3. Kapitel den Abschnitt 3.4. über Tugendhat. 20 Eine Kritik an der ›Sanktionstheorie der Forderungesbedeutung‹ wird ansatzweise im 4. Kapitel der vorliegenden Untersuchung durchgeführt. Vgl. dort den Schopenhauerkritischen Abschnitt 4.3.: Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Kritik. 17

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Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen

harren einer Antwort. Für die ›Verbindlichkeitserklärung‹ einer (moralischen) Forderung kann man sich an dem Modell orientieren, anhand dessen sich Kant das ›Nötigungspotential‹ eines Imperativs klar gemacht hat. 21 Er gibt diese Erklärung durch eine Beschreibung der Art und Weise, in der eine solche Handlungsvorschrift begründet wird. Das Verbindlichmachen einer Forderung wäre demnach eine ›Nötigung durch praktische Gründe‹. Wie bei einem ›hypothetischen‹ Imperativ kann Kant sich auch den nötigenden Grund für eine kategorisch-moralische Forderung nur als eine ›deduktive‹ Beziehung zwischen zwei Wollens-Instanzen vorstellen: einem attraktiven übergeordneten Wollen und dem daraus ableitbaren Wollen der geforderten Handlung. Während das übergeordnete Wollen bei hypothetischen Imperativen eine ›vorausgesetzte Zwecksetzung‹ des Forderungsadressaten ist, sieht Kant einen moralisch geforderten Menschen unter einem Gesetz stehen, das von einer reinen ›praktischen Vernunft‹ hervorgebracht wird. Diese meint, in umgekehrter Wortstellung, einen ›vernünftigen Willen‹, der bei versuchungsanfälligen Wesen die Gestalt eines ›Imperativs‹ annimmt und die moralischen ›Befehlsempfänger‹ zu forderungskonformem Verhalten verbindet. 22 Die von mir ins Auge gefasste alternative Verbindlichkeitserklärung moralischer Forderungen lässt sich im Rahmen des kantischen Strukturmodells entfalten. An die Stelle seiner praktischen Vernunft setze ich ein ›moralisches Selbstverständnis‹, das die ›praktische Identität‹ eines Menschen als Mitgliedes einer erweiterungsoffenen ›moralischen Gemeinschaft‹ artikuliert. An die Stelle des kantischen Vernunft-Wollens tritt ein individuelles und zugleich kollektives ›Moralisch-sein-wollen‹ : das ›Wir-wollen‹ (so und so sein) eines Mitgliedes einer moralischen Gemeinschaft. Dieser moralische Gemeinschaftswille konkretisiert sich in geteilten moralischen Standards (Prinzipien, Idealen usw.), zu denen das Wollen konkret geforderter Handlungen in Begründungsbeziehungen gebracht werden kann. 23 Dadurch wird, verstärkt durch ein System moralischer Reaktionen auf Forderungs(un)gehorsam, ein (deshalb nicht nur) ›logiVgl. Kant, GMS: 417. Vgl. ders., im 3. Abschnitt der GMS: 454. 23 Vgl. die Ansätze zu einer moralischen Begründungstheorie im 6. Kapitel dieser Untersuchung, in den Abschnitten 6.2.: Prinzipienfixierung, sowie 6.4.: Ethischer Holismus. 21 22

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Einleitung

scher‹ Druck auf den individuellen Willen ausgeübt, der sich nicht immer nach moralischen Regeln richten mag. Auf diese Weise wird die Ausführung einer geforderten Handlung verbindlich gemacht. 24 Was bei Kant die besondere Verbindlichkeit moralischer Präskriptionen zu stiften scheint, ist ein ›moralisierter‹ autonomer Wille, in dem die bessere, vernünftige Hälfte der menschlichen Natur aufgehoben ist. In Absetzung von diesem Modell möchte ich die Frage nach der eventuell ›besonderen‹ Verbindlichkeit moralischer Forderungen so behandeln, dass ich die Frage nach der Wichtigkeit eines moralischen Selbstverständnisses zu beantworten versuche. Hierfür lassen sich die anerkennungstheoretischen Ansätze fruchtbar machen, die im Anschluss an den jungen Hegel entwickelt worden sind. 25 Das menschliche Grundbedürfnis, als Person anerkannt zu werden, ist offenbar nur zu befriedigen, indem der Anerkennungsbedürftige diejenigen ihrerseits anerkennt, deren Anerkennung er bedarf. Ansonsten könnte ihm deren Anerkennung nichts bedeuten. Das ›Ernstnehmen‹ der Anderen kann sich aber wohl nur konkretisieren, indem man sich an die intersubjektiven Regeln der Rücksichtnahme aufeinander usw. hält, deren Einhaltung die Gemeinschaft der Anderen (zu der man selber gehört) von ihren Angehörigen erwartet. Nur durch die Befolgung jener Regeln 26 wird man sich als anerkennungswürdig empfinden, ohne eine solche Selbst(ein)schätzung ist das Anerkennungsbedürfnis nicht zu befriedigen. Diese Regeln kann man sicherlich als ›moralische‹ auffassen. Es ist demnach die ›Macht‹ einer moralischen Gemeinschaft, greifbar in einem System moralischer Reaktionen, und das (im gewöhnlichen Sinne) ›vernünftige‹ Bestreben eines Anerkennungsbedürftigen, ›dazugehören zu wollen‹, was ggf. die besondere Verbindlichkeit moralischer Forderungen erklärt – und ebenso die subjektive Kehrseite dieser Verbindlichkeit: das Motiviertsein zu moralischem Verhalten.

Vgl. zum Zusammenhang von moralischem Selbstverständnis, moralischer Gemeinschaft und der Funktionsweise moralischer Reaktionen die Darstellung im 1. Kapitel. 25 Vgl. zum Beispiel Axel Honneth, »Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung«. 26 Ich verwende hier den Ausdruck einer ›Regel‹ im selben weiten Sinn wie zuvor den Ausdruck ›Standards‹, der auch Ideale, Wertvorstellungen usw. mit einschließt. 24

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Schluss

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Schluss

Donald Davidson hat die verbreitete Einsicht formuliert, wonach es bei philosophischen Analysen nicht einfach ist, eine Sache klar zu kriegen, ohne dass das Aufregende daran verloren geht. 27 Es wäre zu schön (um wahr zu sein), wäre mir in diesem Buch beides gelungen. Selbst wenn man den gänzlich unspektakulären Sinn versteht, in dem eine Forderung ›unbedingt‹ sein kann, ist es nicht unaufregend, dass es solche Handlungsvorschriften gibt – und nicht nur Gebote der Zweckmäßigkeit.

»[…] as so often in philosophy, it is hard to improve intelligibility while retaining the excitement.« Vgl. Davidson, »On the Very Idea of a Conceptual Scheme«: 183.

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1 Kleine Phänomenologie moralischer Forderungen

Mit Forderungen sind wir seit Kindestagen vertraut. ›Leg den Schal um, du erkältest dich!‹ ›Streif deine Schuhe ab, sonst setzt es was!‹ »Was du versprochen hast, das mußt du halten.« 1 ›Nimm das Messer aus dem Mund!‹ ›Quäl den Hamster nicht!‹ ›Hilf der Oma mal beim Tragen!‹ ›Pack die Badehose ein!‹ ›Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!‹ Derlei Aufforderungen, begleitet oder unbegleitet von Erläuterungen, Begründungen oder Drohungen, gehören zu den ersten Gesellschaftsspielen, mit denen uns die Erwachsenenwelt auf ihre Regeln einschwört. Es kann gut sein, dass Kinder solche imperativischen Sprachspiele früher lernen und verstehen lernen als die darstellende Funktion der Sprache im assertorischen Sprachmodus. 2 Offenbar verstehen es Kinder schon früh, verschiedene Arten von Handlungsvorschriften voneinander zu unterscheiden. 3 Sie lernen dies u. a. durch den unterschiedlichen Nachdruck oder die unterschiedliche Strenge, die von den Erwachsenen in ihre Forderungen gelegt werden. Die Kleinen machen zudem die Erfahrung, dass manche Gebote Ausnahmen erlauben, andere hingegen nicht, und dass bei manchen Forderungen, nicht bei allen, die Eltern mit sich verhandeln lassen. Bei manchen Regeln bekommen die Kinder den Eindruck, dass sie geändert werden können, während andere ein für allemal festzustehen scheinen. Sie erkennen den größeren oder Diese moralische Forderung ist dem Grimm’schen Märchen vom »Froschkönig« entnommen. Darin findet sich außerdem das Gebot: »Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.« Die sehr moralischen Märchen der Gebrüder Grimm bieten reiches Anschauungsmaterial für die Betrachtung moralischer Forderungen und der damit zusammenhängenden Phänomene. 2 Man denke z. B. an das paradigmatische, imperativische Sprachspiel in den ersten Paragraphen von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, welches dem Herbeiholen von Bausteinen gilt. 3 Vgl. zu diesem und dem nächsten Absatz: Gertrud Nunner-Winkler, »Moralisches Wissen – moralische Motivation – moralisches Handeln. Entwicklungen in der Kindheit«, sowie dies., »Zur moralischen Sozialisation«. 1

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Merkmale moralischer Forderungen

geringeren Geltungsbereich von Forderungen. Sie bemerken, dass sich unterschiedliche Forderungsarten hinsichtlich dessen unterscheiden, was an Erfreulichem resp. Unerfreulichem in Aussicht steht oder passiert, wenn man sie befolgt oder missachtet. Nicht zuletzt lesen Kinder den Unterschied zwischen verschiedenartigen Handlungsvorschriften daran ab, ob die Älteren deren Begründung für erforderlich halten oder nicht, sowie an der Art der Gründe, mit denen Forderungen untermauert werden. Neuere Kohlberg-kritische Untersuchungen zeigen, dass schon jüngere Kinder schlichte Bitten, Spielregeln, soziale Konventionen (Sitten) und Klugheitsregeln von moralischen Regeln zu unterscheiden wissen und mit letzteren moraltypische, altruistische Handlungsmotive verbinden. Bereits kleinen Kindern scheint deutlich zu sein, dass moralische Vorschriften ein besonderes Gewicht haben. Streng ist dabei häufig der fordernde Ton; streng sind, im Falle des Zuwiderhandelns, gegebenenfalls Tadel oder Bestrafung. Dem Ungehorsamen wird bei dieser Art von Geboten (anders als bei nicht-moralischen Regelverstößen) zugemutet, seine Missetat zu bereuen (und nicht nur zu bedauern), sich dafür schuldig zu fühlen (oder sich zu schämen) und sich zu entschuldigen. Verhandlungsversuche erweisen sich gewöhnlich als aussichtslos, wo den Kindern etwas als moralisch erforderlich hingestellt wird. Begründungen für das moralisch Gebotene werden ihnen eher selten gegeben: nicht, weil es hier nichts zu begründen gäbe, sondern weil als selbstverständlich gilt, ›dass man so etwas nicht tut‹. Aber auch kleinen Kindern ist das moralische Begründungsspiel durchaus schon nahezubringen.

1.1 Merkmale moralischer Forderungen: Unausweichlichkeit, kaptivierender Charakter, Durchsetzungsfähigkeit Auch für die meisten Erwachsenen haben moralische Forderungen besonderes Gewicht und eine herausgehobene Wichtigkeit. Man kann sich ihnen kaum entziehen, sie sind schier unabweisbar. Nicht nur begegnet man ihnen unausweichlich. Sie selber scheinen in dem Sinne unausweichlich zu sein, dass man kaum auf andere als die geforderten Handlungswege auszuweichen vermag. Forderungen der Zweckmäßigkeit oder der Klugheit kann man loswerden, indem man ein Ziel oder Projekt aufgibt, zu dessen Verwirklichung die verlangten Handlungen erforderlich wären. Bei moralischen ForderunA

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gen scheint es hingegen nichts zu geben, dessen man sich so einfach entledigen könnte, um ihrem Appell zu entkommen. Wir haben ihnen zu folgen, so scheint es, was immer unsere Wünsche und Interessen sein mögen. Diese bedrängende Unausweichlichkeit scheint, neben anderem, moralische von anderen Arten von Forderungen zu unterscheiden. Jedenfalls ist der von ihnen erzeugte Eindruck ihrer Unausweichlichkeit für Moralgebote charakteristisch. Von der anscheinenden ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Vorschriften kann in einem psychologischen oder in einem epistemischen Sinn die Rede sein. Moralische Gebote machen es uns offenbar schwer, und es fällt uns schwer, ihnen zuwiderzuhandeln. Wir fühlen uns gegebenenfalls nicht dazu in der Lage, ihnen auszuweichen. 4 Forderungsungehorsam in moralischen Dingen verlangt gewöhnlich einen beachtlichen Willensaufwand. Von dieser ›psychologischen‹ Unfähigkeit – oder doch den Schwierigkeiten, die man damit hat, moralischen Appellen zu widerstehen – ist der Eindruck zu unterscheiden, dass es ›zwingende Gründe‹ gibt, dem moralisch Erforderlichen gegenüber allem sonstwie Geforderten einen Vorrang zuzubilligen. Moralische Forderungen erscheinen, in diesem Sinne, deshalb als unausweichlich, weil es keine wirklich guten Gründe für die Nichtbefolgung einer Moralvorschrift zu geben scheint; und, im Konfliktfall mit andersartigen Direktiven, keine guten Gründe, deren Befolgung voranzustellen. Dieser Eindruck, dass die moralische Stimme (der Allgemeinheit) dem Lockruf individueller ›Neigungen‹ und den Anratungen persönlicher Klugheit, mithin den Ambitionen der Besonderheit, allemal vorgeht, ist durchaus im moralischen Common sense zu Hause. Um die Dinge so zu sehen, bedarf es keines religiösen, metaphysischen oder vernunftethischen Hintergrundes. 5 Natürlich wird eine solche Sichtweise z. B. durch eine christliche Grundhaltung oder eine kantianische Fixierung begünstigt. 6 Der ›subjektive‹ Eindruck ihrer Unausweichlichkeit hat als ›ob4 »[…] we feel ourselves unable to escape« ist z. B. für Philippa Foot der unkontroverse Kern moralischer Unausweichlichkeit. Vgl. dies., »Morality as a System of Hypothetical Imperatives« (= ›Hypothetical Imperatives‹): 162. 5 Es ist also wohl unzutreffend, wenn Foot in demselben Aufsatz den Eindruck erweckt, als sei die Annahme einer nicht nur psychologischen Unausweichlichkeit moralischer Forderungen eine kantianische Besonderheit. Auch für die Auffassung, dass Verpflichtungen, die in moralischen Forderungen zum Ausdruck kommen (können), unausweichlich sind, muss man kein Kantinaner sein: wie z. B. Bernard Williams suggeriert. Vgl. ders., Ethics and the Limits of Philosophy (= ›Ethics‹): 177 f. 6 Die angebliche Unausweichlichkeit moralischer Forderungen wird, unter kantia-

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jektive‹ Kehrseite den kaptivierenden Charakter der moralischen Forderungen selber. 7 Sie ergreifen ihre Rezipienten und nehmen sie gefangen. Moralische Gebote ›binden‹ 8 den Willen ihrer Adressaten, sie »nötigen« 9 ihn oder üben »Zwang« 10 gegen die Forderungsempfänger aus, um sie zu ›disziplinieren‹ 11 . Auf Seiten des Forderungsadressaten entspricht dem ein (häufig nötiger) »Selbstzwang« 12 . An diesem ›bezwingenden‹ Charakter moralischer Gebote zeigt sich ihre besondere ›Power‹. Es ist keine unmäßige Übertreibung, wenn man bisweilen von der »magischen« oder »mesmerischen Kraft« moralischer Forderungen gesprochen hat. 13 Diese besondere, Folgschaft stiftende Kraft moralischer Vorschriften kann man als ihr Durchsetzungsvermögen bezeichnen. Sie lassen sich gewöhnlich gegen andersgerichtete Handlungswünsche ihrer Adressaten (der Adressat kann auch man selber sein) und gegen andersartige Forderungen an dieselben durchsetzen. Nicht allein moralische Forderungen besitzen eine bisweilen beträchtliche Durchsetzungskraft. Man denke bloß an die handlungsnischem Vorzeichen, im 2. Kapitel dieser Untersuchung wieder aufgenommen. Vgl. dort den Abschnitt 2.2.7 7 Darwall/Gibbard/Railton sprechen von »morality’s normative grip«, in: dies., »Toward Fin de siècle Ethics: Some Trends«: 137. 8 »People talk, for instance, about the ›binding force‹ of morality«. Vgl. Foot, a. a. O.: 162. – Habermas schreibt: »Pflichten [die ihm zufolge von allen moralischen Geboten zum Ausdruck gebracht werden] binden den Willen der Adressaten, aber sie beugen ihn nicht.« Vgl. ders., »Erläuterungen zur Diskursethik« (= ›Erläuterungen‹): 144 – Einf. HK. Habermas stellt die Frage, wie »die spezifisch bindende Kraft von Normen [also allgemeinen Moralgeboten] und Werten überhaupt begründet werden kann«. Vgl. ders., »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral« (= ›Betrachtung‹): 16 – Hervorh. und Einf. HK. 9 Vgl. Kant, GMS: 413, 434 u. ö. 10 Die ›Obligation‹, die Durkheim zufolge von einer moralischen ›Regel‹ (einem allgemeinen moralischen Gebot) ausgedrückt wird, hat als »ihr spezifisches Merkmal […], dem Wunsch in gewissem Maße Zwang anzutun«. Vgl. ders., ›Tatsache‹ : 99 – Hervorh. HK. 11 Vgl. ders, die zweite, dritte und vierte Vorlesung über den »Geist der Disziplin«, in ders., Erziehung, Moral und Gesellschaft. Durkheim betont aber auch (in den zitierten Schriften) die ›attraktive‹ Seite, die das moralisch Gebotene haben muss, damit eine diesbezügliche Forderung durchsetzungsfähig ist. Das derart Geforderte müsse als etwas ›Erstrebenswertes‹, ›Gutes‹ erscheinen können. Vgl. ders., ›Tatsache‹ : 85. 12 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (= MdS), Einleitung zur Tugendlehre I: 379 f.; vgl. auch Durkheim, ›Tatsache‹ : 85, 96. 13 Von einer »magic force« spricht Philippa Foot, a. a. O.: 167; »mesmeric force« ist Elisabeth Anscombes Ausdruck, in: »Modern Moral Philosophy«: 32. A

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wirksame Kraft von Geboten der Zweckmäßigkeit oder der Klugheit, oder an das ›Zwingende‹, welches Erfordernisse der Schicklichkeit für manche Menschen haben. Man erinnere sich auch an die Bindungswirkung religiöser Vorschriften und staatlicher Gesetze sowie an die imperativischen Manifestationen der ›Macht des Stärkeren‹. Moralische Forderungen aber scheinen (jedenfalls oft) eine darüber hinausgehende, oder doch eine besondere und eigentümliche Durchsetzungskraft zu besitzen. Eine Theorie moralischer Forderungen, die den phänomenologischen Befund ernst nimmt, muss diese Kraft zu verstehen trachten. Man könnte geneigt sein, zur Charakterisierung der eigentümlichen Stärke moralischer Forderungen lieber von ›Überzeugungskraft‹ als von ›Durchsetzungsvermögen‹ zu reden. Diese Kraft haben solche Vorschriften aber auch für manche Zeitgenossen, die von der Trefflichkeit des Geforderten nicht überzeugt sind. Umgekehrt sichert das bloße Überzeugtsein von einer Forderung noch nicht deren Befolgung. Überdies würde die Rede von der ›Überzeugungskraft‹ moralischer Gebote die Auffassung präjudizieren, dass deren Potenz allein auf der sanften Macht von Gründen beruht. Aber es ist gar zu wahr, dass die Moral über noch andere Machtmittel verfügt, als gute Gründe es bisweilen sind. Die Anerkennung der Durchsetzungsfähigkeit moralischer Vorschriften erfordert die Korrektur der häufig gehegten Vorstellung, dass solche Forderungen im Konflikt etwa mit Erfordernissen der Klugheit oder mit menschlichen ›Neigungen‹ auf verlorenem Posten stünden. Aus einer ›hobbesianischen‹ Sicht sind wir ›im Grunde‹ alle Hedonisten oder (bestenfalls rationale) Egoisten. Moralische Gebote hätten demnach nur dann eine Chance gegen die finsteren Forderungen des Eigennutzes, wenn das hedonistische Ego in uns den Schlaf der Ungerechten schläft. ›Die Phänomene‹ sprechen eine andere Sprache. Bei vielen von uns dominiert immer noch – trotz gewisser ›Auflösungserscheinungen‹ – die Macht der Moral. Nicht wenige unter uns haben Mühe, »das liebe Selbst« 14 , das uns angeblich ständig in Versuchung führt, gegen das erdrückende Gewicht moralischer Obliegenheiten überhaupt zur Geltung zu bringen. Gelingt es solchen Menschen doch einmal (aus, wie ihnen scheinen mag, guten Gründen), einer ›Versuchung‹ nicht zu widerstehen und ›einmal an sich selbst zu denken‹, geschieht dies häufig nur mit Gewissensbissen 14

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Vgl. Kant, GMS: 407.

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Die Autorität moralischer Forderungen

oder anderen Symptomen einer tief empfundenen Verfehlung. Die Fälle, in denen wir nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss kommen, wir hätten den berechtigten Ansprüchen anderer auf Respekt und Unterstützung Genüge getan und dürften unsere eigenen Interessen verfolgen, und in denen wir dennoch von nachträglichen Zweifeln und Gewissensängsten geplagt werden: diese Fälle sind zu häufig, als dass sie generell als ›pathologisch‹ abgetan werden dürften. Sie legen vielmehr Zeugnis davon ab, dass hierbei (wenigstens aus der Perspektive der Handelnden) eine gewichtige Stimme überstimmt worden ist, die nicht nur psychologisches Gewicht besitzt. Selbst noch in Fällen ihres Misserfolgs zeigt sich also die Kraft moralischer Forderungen. Sie zeigt sich auch daran, dass moralische Gebote bisweilen gegen religiöse und rechtliche Forderungen obsiegen. Für den letzteren Fall sei hier an Akte des moralisch motivierten Gesetzesbruchs erinnert, die man in spezifischen Fällen ›bürgerlichen Ungehorsam‹ nennt, oder an moralisch gespeisten ›Widerstand gegen die Staatsgewalt‹ bis hin zu revolutionärer Tätigkeit. Es dürfte den Vertretern eines hobbesianischen Menschenbildes schwer fallen, sämtliche Akte eines solchen, wie immer auch verfehlten Moralgehorsams (ggf. bis hin zur Selbstaufgabe) als camouflierte Befolgung von Imperativen der Selbsterhaltung zu entlarven.

1.2 Die Autorität moralischer Forderungen Die Durchsetzungsfähigkeit moralischer Forderungen ist Ausdruck und Folge ihrer Autorität. Gleichzeitig beruht ein Teil dieser Autorität auf dem Gewahren ihrer Durchsetzungskraft. Die Autorität, die jemand oder etwas genießt, bedeutet dessen dauerhaftes Ansehen, anhaltende Anerkennung und vertrauensvollen Kredit seitens seiner ›Anhänger‹ sowie starken Einfluss auf dieselben. 15 Insofern die Durchsetzungskraft moralischer Vorschriften starken Eindruck auf ihre Adressaten macht und diesen Forderungen ein hohes, von Furcht und Ehrfurcht gespeistes Ansehen verschafft, verstärkt oder erneuert sie deren Autorität. Auch andere Arten von Forderungen als die moralischen besitVgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹ : 24 f., der sich dort auf die Autorität Montaignes und Pascals stützt.

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zen gegebenenfalls Autorität. Wenn z. B. manchmal von einer ›Autorität der instrumentellen Vernunft‹ gesprochen wird, ist damit das Ansehen gemeint, in dem solche Imperative der Zweckmäßigkeit stehen, die uns erfolgreich den Weg zu angestrebten Zielen weisen. Moralische Forderungen aber scheinen für viele von uns eine besondere Autorität zu besitzen. 16 Die Frage, woher sie diese haben mögen, würde uns von der Ebene der ›Beschreibung‹ jener Phänomene, die mit moralischen Forderungen verbunden werden, wegführen: hin zu ›theoretischen‹ Erklärungsbemühungen. Wir bleiben aber bei ›den Phänomenen‹, wenn wir die Frage aufwerfen, worauf die beeindruckten Adressaten moralischer Vorschriften deren Beeindruckungsvermögen zurückführen. Die Autorität, welche moralischen Forderungen eigen ist, erwächst ihnen von Seiten einer Autoritätsinstanz. Soviel scheint unkontrovers und auch unproblematisch zu sein. Gemeint ist mit dieser Instanz ein machtvoller Urheber, der solche Vorschriften aufstellt, der hinter ihnen steht und ihnen ihren autoritativen Charakter verleiht. Die Autorität moralischer Forderungen ist demnach als eine abgeleitete anzusehen. 17 Ihre Adressaten sehen sich durch sie mit einer Autorität konfrontiert, die von solchen Forderungen – und den Fordernden – bloß repräsentiert wird. Die moralisch Fordernden sprechen im Namen einer ›übergeordneten Stelle‹, die ihre Forderungen ›autorisiert‹. Erst bei der Spezifizierung dieser Instanz gehen die Meinungen auseinander: Die Lokalisierung der Autoritätsquelle moralischer Vorschriften hängt von der ›Weltanschauung‹, von der religiösen oder philosophischen Ausrichtung ihrer Adressaten ab. In religiösen Traditionen führt man die Autorität dieser Forderungen häufig auf ein ›höheres Wesen‹ (eine göttliche Autoritätsperson) zurück; oder, wie auch in gewissen ›metaphysischen‹ Anschauungen, auf eine ›Natur‹ oder ein ›Wesen‹ des Menschen (die aufgrund religiöser oder anderer

Auch für Durkheim sind moralische Forderungen (bzw. ›Regeln‹) »mit einer besonderen Autorität ausgestattet«. Vgl. ders., ›Tatsache‹ : 85, 87. – Auch Habermas kennt »die eigentümliche Autorität« moralischer Forderungen bzw. (wie er formuliert) »des [moralischen] Sollens«. Vgl. ders., ›Betrachtung‹ : 16, Einf. und Hervorh. HK. 17 So ist für Durkheim die Autorität moralischer Forderungen (›Regeln‹) etwas, das sich von einer »moralische(n) Autorität«, bei ihm: »die Gesellschaft«, »auf bestimmte, der Gesellschaft besonders wichtige Verhaltensregeln überträgt«: nämlich auf die moralischen. Vgl. ders., ›Tatsache‹ : 87 – Hervorh. HK. 16

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Die Autorität moralischer Forderungen

nicht-empirischer Einsicht als bekannt vorausgesetzt werden). 18 Den Erben der Aufklärung ist als Stifterin der Autorität moralischer Vorschriften höchstens die gänzlich irdische Autorität von gesellschaftlich organisierten Menschenkindern einsichtig: ›die Gesellschaft‹ (Durkheim) oder die (oder eine) ›moralische Gemeinschaft‹ (Habermas, Tugendhat, Rorty). Für die aufgeklärte Auffassung gibt es »keine höhere [moralische] Autorität […] als der gute Wille und die Einsicht derer, die sich miteinander über Regeln ihres Zusammenlebens verständigen«. 19 Eine Beschreibung des Unterschiedes zwischen einer ›traditionellen‹ oder religiösen Moralauffassung und einer aufgeklärten, ›modernen‹ Konzeption scheidet damit aus. Der Unterschied in diesen Vorstellungen besteht nicht darin, dass erstere zur Erklärung der Verbindlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder Autorität moralischer Forderungen auf eine übergeordnete Autorität Bezug nehmen würden, und letztere nicht. Die Bezugnahme auf eine Autorität ist ihnen vielmehr gemeinsam. 20 Der Unterschied besteht auch nicht darin, dass Moralvorschriften in traditionellen Moralen, im Unterschied zu modernen Moralvorstellungen, einer Begründung nicht bedürftig oder nicht zugänglich wären. In jedem Fall führen »[m]oralische Äußerungen […] ein Potential von Gründen mit sich, das in moraPhilosophisch betrachtet hat nicht nur der Rückgriff auf einen göttlichen Autor moralischer Erlässe für die Meisten ausgedient. Als erledigt darf auch die Auffassung gelten, wonach »der Grund der Verbindlichkeit […] in der Natur des Menschen oder den Umständen der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse«: schreibt Kant (vgl. GMS: 389). Nicht besser steht es freilich um seine eigene Idee, die menschliche Vernunft in ein sublimes Jenseits der menschlichen Natur zu versetzen und die moralische Autorität »a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« und in der Verfassung von Vernunftwesen zu suchen (a. a. O.). Die kantianische Autorität der Vernunft lebt nur noch von der Autorität Kants. Gleichgültig, ob man das ›Wesen‹ des Menschen in seine Vernunft (und sei es eine besondere Vernunft) setzt oder in etwas anderes, ist ein solcher Versuch, die Autoritätsquelle moralischer Forderungen zu lokalisieren, einem Einwand ausgesetzt, den Tugendhat mit den Worten formuliert: »Jeder Rekurs auf eine angebliche Natur des Menschen ist versteckt zirkulär: es wird etwas implizit normativ gesetzt, woraus dann das Normative abgeleitet wird.« Vgl. ders., VüE: 71. 19 Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 37. 20 Dass auch eine moderne Moral durchaus auf eine Autorität bezogen ist, hat Tugendhat folgendermaßen deutlich zu machen versucht. Es scheint ihm »im Schuldbewußtsein […] zum Ausdruck zu kommen […], daß ich gegen die Gebote der für mich maßgebenden Autorität verstoßen habe; die für mich maßgebende Autorität ist eben die Gemeinschaft, als deren Glied ich mich verstehe bzw. auch die göttliche Autorität, die hinter dieser Gemeinschaft steht.« Vgl. ders., »Zum Begriff und zur Begründung von Moral«: 321. 18

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lischen Auseinandersetzungen aktualisiert werden kann«. 21 Auch in gewissen traditionellen Moralen sind moralische Forderungen durch Gründe abgestützt, die den Imperativen der jeweiligen Autorität, der Mächtigen oder eines Allmächtigen zumindest den Anschein von Legitimität geben. So enthält die christliche Ethik sogar Gründe für die Anerkennungswürdigkeit der göttlichen Autorität selber, und damit auch für die Akzeptabilität der göttlichen Gebote. 22 Sie enthält damit auch Mittel zur Kritik an jenen Geboten. Es wäre demnach auch falsch, wollte man die Differenz zwischen traditionellen und modernen Moralauffassungen so fassen, dass in ersteren die Vorschriften der moralischen Autorität allemal nicht hinterfragbar wären, oder nicht bezweifelt werden dürften: im Unterschied zu modernen Konzeptionen. Vielmehr ist der gesuchte Unterschied zwischen traditionellen und modernen Moralen ein ›Status‹-Unterschied hinsichtlich der jeweiligen Autoritätsinstanz. In traditionellen Ethiken wird diese Instanz als unabhängig von den Individuen existierend angenommen, die ihren Forderungen unterworfen sind. Anders in einer modernen Konzeption, in welcher der Wille der Forderungsadressaten den gemeinsamen Willen konstituiert, der die moralische Autoritätsinstanz, d. i. eine moralische Gemeinschaft, ausmacht. Hier sind die Empfänger moralischer Forderungen zugleich Forderungsautoren und in dieser Eigenschaft Teilhaber an der moralischen Autorität. Zwar ist auch in traditionellen Moralvorstellungen die Anerkennung einer Autoritätsinstanz dafür erforderlich, dass letztere Autorität besitzt und legitimerweise etwas fordern kann. 23 Der Wille jener Autorität ist für die Forderungsempfänger gleichwohl ein fremder, den sie sich lediglich – gegebenenfalls mit Gründen – zu Eigen machen können. Hingegen sind die Forderungen, welche die Mitglieder einer Vgl. Habermas, a. a. O.: 11. »Die Gebote [der christlichen Moral] entspringen nicht der Willkür eines Allmächtigen, sondern sind Willensäußerungen eines ebenso weisen Schöpfers wie gerechten und gütigen Erlösergottes. Aus beiden Dimensionen der Schöpfungsordnung und der Heilsgeschichte können ontotheologische und soteriologische Gründe für die Anerkennungswürdigkeit der göttlichen Gebote gewonnen werden.« Vgl. ders., a. a. O.: 17 f. – Einf. HK. 23 Der autoritative Bezugspunkt einer modernen Moral, nämlich die ›moralische Gemeinschaft‹, ist für ›mich‹ (und jeden anderen) nur deshalb eine Autorität, weil ich mich, wie Tugendhat sagt, »als deren Glied […] verstehe«. Diese Autorität hängt also von meinem Willen ab, meiner Entscheidung nämlich, zu einer solchen Gemeinschaft dazugehören zu wollen. Vgl. Tugendhat, »Zum Begriff und zur Begründung von Moral«: 321 – Hervorh. HK. 21 22

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Erforderlichkeit, moralische Notwendigkeit und angebl. Verpflichtungscharakter

moralischen Gemeinschaft aneinander richten, Ausdruck ihres eigenen gemeinsamen Willens. Die moderne Moralauffassung ist, mit anderen Worten, eine Ethik der Autonomie. 24

1.3 Erforderlichkeit, moralische Notwendigkeit und angeblicher Verpflichtungscharakter Mit moralischen Forderungen, wie mit anderen Forderungen auch, werden den ›Geforderten‹ Vorschriften gemacht. Wir adressieren damit an diese eine »Aufgabe«. 25 Ihnen wird aufgegeben, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen, oder (seltener) als Person so oder so zu sein. Mit einem Gebot stellen wir gewöhnlich nicht einfach eine Forderung in den Raum, sondern wir erklären damit das Geforderte für ›er-forderlich‹. Diese Erforderlichkeit, die von Forderungen zum Ausdruck gebracht wird, verweist auf Gründe, die das Geforderte anscheinend erforderlich machen. ›Moralische‹ Forderungen würden demnach ein Verhalten verlangen, das dem Forderungsautor in moralischer Hinsicht, aus moralischen Gründen als erforderlich erscheint. Auf diese epistemische Dimension von (moralischen) Forderungen gehe ich später in diesem Kapitel (im Abschnitt 1.6) ausführlich ein. Etwas Gefordertes, auch etwas moralisch Gefordertes, kann den Fordernden und den Forderungsadressaten mehr oder weniger erforderlich, dringlich oder vordringlich erscheinen. Diesem Sachverhalt hat man bei der philosophischen Thematisierung des moralischen Forderungscharakters kaum Rechnung getragen. Zwar ist es richtig, dass Moralvorschriften häufig durch ein ›Müssen‹ ausgedrückt werden – oder durch ein ›Sollen‹ 26 , das gleichbedeutend zu sein scheint. Aber in ihrer moralphilosophischen Behandlung herrscht fast durchgängig »die Sprache der Notwendigkeit« 27 . Demnach würde in allen (nicht nur moralischen) Geboten eine ›praktische‹, und in moraJ. B. Schneewind hat, im Anschluss an Kant, das ›Prinzip der Autonomie‹, welches konstitutiv ist für eine moderne Ethik, folgendermaßen formuliert: »It is only because of the legislative action of our will that we are under moral law«. Vgl. ders., The invention of autonomy: 6. 25 Vgl. Derrida, a. a. O.: 9. 26 So sind für Habermas »Sollsätze […] die zentralen Elemente der Sprache, in denen sich die Moral zu Wort meldet«. Vgl. ders., ›Erläuterungen‹ : 143 – Hervorh. HK. 27 Dies ist eine Redewendung von Williams, in: ders., »Practical Necessity« (= PN): 126. 24

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lischen Vorschriften eine ›moralische‹ Notwendigkeit zum Ausdruck kommen. 28 Um das moralisch Erforderliche vom sonstwie Erforderlichen zu unterscheiden, kann man prinzipiell zwei Wege beschreiten. Unter der Annahme eines einheitlichen Forderungs-Charakters oder -Begriffs – demgemäß eine Forderung etwa als eine Aufforderung zu verstehen wäre, die mit einer Begründungserwartung verbunden ist – kann man verschiedenartige Forderungen durch die unterschiedlichen Erwägungen zu unterscheiden versuchen, die zugunsten des jeweils Geforderten angestellt werden. Wer die Dinge so sieht, muss bei den Vorschriften, die eine praktische ›Notwendigkeit‹ zum Ausdruck bringen, nicht für die unterschiedlichen Forderungsarten einen jeweils eigenen Begriff ›praktischer Notwendigkeit‹ annehmen, oder verschiedene Bedeutungen des ›Sollens‹ oder ›Müssens‹ in moralischen oder andersartigen Forderungen. Er muss keine spezifisch ›moralische‹ Notwendigkeit annehmen und die Bedeutung eines ›moralischen Müssens‹ ergründen. Vielmehr wird er eine Beschreibung moralischer Forderungen zu geben versuchen, welche die dadurch ausgedrückte Handlungserforderlichkeit in einen allgemeinen Begriff praktischer Erforderlichkeit einbettet. 29 Die moralphilosophische Mehrheitsfraktion hat einen anderen Weg eingeschlagen. Ihr zufolge ist die praktische Notwendigkeit moralisch geforderter Handlung eine ganz besondere, und der moralische Forderungscharakter ein eigentümlicher. Die Annahme einer moralspezifischen Bedeutung von ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ gilt ihr als selbstverständlich. 30 So konnte die (wohl irrige) ›Beobachtung‹, dass moralische ›Müssens-‹ oder ›Sollens‹-Sätze (zumindest grammatisch) eine charakteristische Verwendungsweise haben 31 , die sprachanalytische Hoffnung aufkeimen lassen, man könne den Charakter moralischer Forderungen durch die Analyse der Bedeutung mora28 Diese Auffassung wird im 6. Kapitel der vorliegenden Untersuchung in Frage gestellt. Vgl. den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 29 Einige Überlegungen von Williams weisen in diese Richtung. Vgl. ›Ethics‹, das 1. Kapitel. Vgl. auch G. H. von Wrights Strategie in The Varieties of Goodness. 30 »It is […] centrally important that such words as ›ought‹ and ›should‹ in our normal discourse are given a peculiar force when they are used to express the notions of being ›obliged‹ or ›bound‹ or ›required‹ to perform some particular action or type of action.« Vgl. Alasdair MacIntyre, in seiner »Introduction« zu Revisions: Changing Perspectives in Moral Philosophy: 7. 31 Vgl. Tugendhat, VüE: 37.

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Erforderlichkeit, moralische Notwendigkeit und angebl. Verpflichtungscharakter

lischer ›Soll‹- oder ›Muss‹-Sätze erfassen. Kant hat diesen Weg vorgezeichnet 32 , die in vielem sehr kantianische sprachanalytische Ethik ist ihm darauf gefolgt. 33 Fügt man dem sprachanalytischen Programm die (nicht nur kantianische) ›Intuition‹ hinzu, es ließe sich die anscheinend ›besondere Apodiktizität‹ moralischer Erforderlichkeit durch die Idee der Unbedingtheit moralischer Gebote erfassen, wird man sich zum Ziel setzen, den Begriff eines ›unbedingten Sollens‹ (oder ›Müssens‹) zu verstehen. Diese Vorstellung praktischer ›Unbedingtheit‹ wird uns durch dieses Buch hindurch verfolgen. Sie gehört, in Form der ›Intuition‹, dass etwas moralisch Erforderliches ›unbedingt getan werden müsse‹, durchaus zum vorphilosophischen Verständnis moralischer Forderungen. Die Erklärung dessen, was im moralischen Common sense damit gemeint ist, stelle ich bis zum 2. Kapitel meiner Abhandlung zurück. Sie dient dort als Folie, auf der sich einige Besonderheiten des kantischen Unbedingtheitsverständnisses abheben lassen. 34 Nicht nur kantianische Philosoph(inn)en finden es selbstverständlich, dass mit dem »starken, emphatischen Sinn« des angenommenen ›moralischen Sollens‹ oder ›Müssens‹ zum Ausdruck gebracht wird, dass moralische »Imperative auf besondere Weise bindend sind«. 35 In seiner moralischen Verwendungsweise soll das ›Sollen‹ eine »eigentümliche Kraft« besitzen 36 , die angeblich einen »besondere[n] Verpflichtungscharakter« 37 der betreffenden Forderungen zur Folge hat. Die Annahme, dass man mit moralischen ›Sollens‹- oder »Die Vorstellung eines objektiven Prinzips«, d. h. einer als begründbar betrachteten Forderung, nennt Kant »ein Gebot und die Formel des Gebots heißt Imperativ. Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt.« Vgl. Kant, GMS: 413. In der Folge möchte er durch die Unterscheidung und Charakterisierung verschiedener Arten von Imperativen, sprich: Sollsätzen, den speziellen Charakter moralischer Gebote herausarbeiten. 33 So ist für Ursula Wolf der Nachdruck, mit dem moralische Forderungen häufig erhoben werden, »die Nachdrücklichkeit des moralischen ›soll‹«, und das Gewicht derselben, zeigt sich ihr am »besondere[n] Gewicht des moralischen ›soll‹«. Vgl. dies., Das Problem des moralischen Sollens: 3, 6 – Hervorh. HK. 34 Vgl. im 2. Kapitel meiner Untersuchung den Abschnitt 2.2.2: Unbedingt und kategorisch. 35 Vgl. Wolf, a. a. O.: 3. 36 Anscombe redet von der »peculiar force« des ›Sollens‹, die man ihm nachsage, wenn es »in a ›moral sense‹« verwendet werde. Vgl. dies., »Modern Moral Philosophy«: 31. Wie im 3. Kapitel meiner Schrift zu sehen sein wird, sieht Anscombe diese Kraft aber von Voraussetzungen abhängen, die sie für obsolet hält. 37 Vgl. Wolf, a. a. O. – Hervorh. HK. 32

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›Müssens‹-Sätzen allemal Verpflichtungen zum Ausdruck bringe 38, hat wiederum sprachanalytische Hoffnungen genährt: die Erwartung nämlich, man könne in eins mit der Bedeutung des moralischen ›Sollens‹ oder ›Müssens‹ auch den Begriff einer moralischen Verpflichtung aufklären. 39 Die Gleichsetzung von moralischer ›Notwendigkeit‹ mit moralischem ›Verpflichtetsein‹ ist freilich umstritten. 40 Die Auffassung, dass nicht nur viele, sondern alle moralischen ›Soll‹- oder ›Muss‹Sätze tatsächlich Pflichten artikulieren, sollte deshalb nicht zum selbstverständlichen Bestand einer Phänomenologie moralischer Forderungen gerechnet werden. Die These vom durchgängigen Verpflichtungscharakter moralischer Vorschriften ist freilich konstitutiv für die Kantianische Konzeptualisierung solcher Gebote, die im 2. Kapitel entfaltet wird.

1.4 Moralische Reaktionen Moralische Forderungen, spezielle und allgemeine, sind mit sozialem Druck und Nachdruck verbunden. Sie sind begleitet von der sozialen Erwartung ihres Befolgtwerdens und von erwartbaren moralischen Reaktionen auf ihre Erfüllung oder Nichterfüllung. Zu dem moralischen feedback von Seiten anderer kommt für den Forderungsempfänger die Reaktion des eigenen Gewissens. Die moralischen Reaktionen sind regelhaft mit forderungsgemäßem oder forderungswidrigem Verhalten verbunden. 41 Diese Habermas behauptet das mit derselben Selbstverständlichkeit wie Wolf, Derrida und Tugendhat. »Sollsätze […] bringen Verpflichtungen zum Ausdruck«, meint Habermas in seinen ›Erläuterungen‹ : 143. In seiner genealogischen Moral-›Betrachtung‹ spricht er von der »verpflichtenden Kraft moralischer Normen«: 28. – Nicht anders Wolf: »Handelt es sich um das moralische Sollen, also den Ausdruck einer Verpflichtung?« Vgl. dies., »Zur Struktur der Frage nach dem guten Leben«: 37. – Auch Derrida spricht von ›Sollen‹ und ›Müssen‹, einerseits, und von ›Notwendigkeit‹ und ›Pflicht‹, andererseits, in einem Atemzug. Vgl. ders., a. a. O.: 9. – Vgl. bei Tugendhat die VüE: 63, und vor allen 40. 39 »Die Klärung des ›muß‹ oder ›soll‹, das in den moralischen Urteilen enthalten ist, ist identisch mit der Klärung des eigentümlichen Verpflichtungscharakters der moralischen Normen.« Denn: »das Moralische«, oder »mindestens ein Teil davon ist offensichtlich in dem Verpflichtungscharakter enthalten, der im ›muß‹ zum Ausdruck kommt«. Vgl. Tugendhat, VüE: 40. 40 Vgl. Williams, ›Ethics‹, das 10. Kapitel. Vgl. auch im 6. Kapitel meiner Abhandlung den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 41 Diese Behauptung ist bewusst schwächer formuliert als Tugendhats These, der zufol38

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Moralische Reaktionen

Verbindung wird gewöhnlich in jungen Jahren durch die moralische Sozialisation im Elternhaus und in der peer group hergestellt. 42 Moralische Reaktionen (bzw. die Aussicht auf sie) unterstützen moralische Forderungen und begünstigen ihre Nachachtung. Wer einen Frosch »aus allen Kräften wider die Wand wirft« – wie die Königstochter im Märchen vom »Froschkönig« –, erntet gewöhnlich keinen heiratswilligen Königssohn, sondern nur den zornigen Unwillen des Vaters. Sie wird dadurch zu einem Benehmen angehalten, das der Traumerfüllung durch den Märchenprinzen würdiger ist. Es gibt mindestens vier verschiedene Arten moralischer Reaktionen. In einer ersten Gruppe kann man die reaktiven moralischen Gefühle mit gefühlsbetonten Expressionen moralischer Wertschätzung, moralischen Vorwürfen und emotionsgeladenen moralischen Vorhaltungen, Beurteilungen und Verurteilungen zusammenfassen. Ihr Kennzeichen ist die Undistanziertheit der Reaktion. Eine zweite Gruppe sind distanziertere Reaktionen, wie moralisches Lob oder moralischer Tadel, moralische Kritik und viele unserer (reaktiven) moralischen Urteile. Als eine dritte Kategorie moralischer Reaktioge ein Bedeutungszusammenhang zwischen moralischen Forderungen (›Normen‹) und moralischen Reaktionen besteht. Ihm zufolge verstehen wir eine Norm (den »Sinn einer jeweiligen praktischen Notwendigkeit«) nur dann, wenn wir wissen, »was passiert, wenn die Person nicht so handelt«. ›Was passiert‹ sind (bei moralischen Normen: moralische) Reaktionen (Tugendhat: »Sanktionen«), d. i. »etwas, was für den Handelnden negativ wäre«: »zu jedem praktischen ›muß‹-Satz [gehört] eine Sanktion«. Diese scheint ihm konstitutiv für die Bedeutung einer (moralischen oder nicht-moralischen) Norm zu sein – die für ihn allemal eine ›praktische Notwendigkeit‹ ausdrückt: »Es ist nicht zu sehen, welchen Sinn die Rede von einer praktischen Notwendigkeit […] haben könnte, wenn man eine […] Sanktion nicht unterstellt.« Vgl. ders., VüE: 43 – Hervorh. und Einf. in den Zitaten: HK. Eine solche Erklärung des ›Sollens‹ moralischer (und nicht-moralischer) Forderungen durch entsprechende Reaktionen auf Forderungsungehorsam ist jedenfalls für moralische Forderungen dann zirkulär, wenn das Verständnis dieser Reaktionen – bei Tugendhat moralische Gefühle – ihrerseits das Verständnis moralischer Urteile (zu denen für den Tugendhat der VüE auch moralische Forderungen/Normen gehören) voraussetzt: wie er selber behauptet. Vgl. z. B. VüE: 20. Was außerdem an Tugendhats Auffassung befremden kann, ist seine fast ausschließliche Berücksichtigung negativer moralischer Reaktionen auf Forderungsungehorsam. Allenfalls aus heuristischen Gründen mag es sinnvoll sein, die negativen Reaktionen in den Vordergrund zu stellen. Vgl. zu letzterem Punkt: Durkheim, ›Tatsache‹ : 95. 42 »[…] we may find ourselves puzzled about what the words [die sprachlichen Ausdrücke, mit denen wir moralische Forderungen formulieren] can even mean, unless we connect them with the feelings that […] stringent teaching implants«. Vgl. Foot, ›Hypothetical Imperatives‹ : 162 – Einf. HK. A

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nen kann man Verhaltensveränderungen oder die Verhaltensstabilisierung auf Seiten anderer gegenüber einem moralischen Wohl- oder Übeltäter betrachten. Eine vierte Sorte sind die reaktiven Einstellungen oder Haltungen moralischer Kommunikationsteilnehmer. Auch diese können sich aufgrund von jemandes vorschriftsmäßigem oder gebotswidrigem Verhalten ändern oder stabilisieren. 43 In der philosophischen Literatur hat man sich besonders an den zur ersten Gruppe gehörenden moralischen Gefühlen orientiert. 44 Dies kann man in mindestens einer Hinsicht problematisch finden. Sind doch die Einstellungs- und Verhaltensänderungen (aus der dritten und vierten Gruppe moralischer Reaktionen), mit denen wir bisweilen auf moralisches Fehlverhalten reagieren, häufig wirksamer und nachhaltiger wirksam, und für die Betroffenen ›einschneidender‹ und deshalb mehr zu fürchten, als spontane moralische Gefühlsaufwallungen. Exemplare der verschiedenen Arten moralischer Reaktionen hängen untereinander systematisch zusammen. Meine Empörung über jemandes Unzuverlässigkeit veranlasst mich gegebenenfalls dazu, ihn zu tadeln oder zu kritisieren. Wenn ich daraufhin eine vorsichtige oder misstrauische Einstellung zu ihm entwickele, werde ich Eine Kategorie sui generis moralischer Reaktionen bildet möglicherweise der Skandal. Dieser ist nicht nur eine moralische Reaktion auf einen öffentlichen Missstand und Indikator desselben. Er ist auch, »unbeschadet seines häßlichen Äußeren, ein moralisches Instrument, insofern, als er auf die Korrektur eines verfahrenen Zustandes abzielt, auf ethischen Gewinn also«. Die Skandalforschung stellt als weiteren »sittlichen Nutzen« ihres Forschungsgegenstandes heraus, dass dieser »das Ausstanzen von Normen aus der Grauzone des Ungeregelten« beschleunige. Während die anderen Arten moralischer Reaktionen schwerlich aus einer Ansammlung von Menschen wegzudenken sind, ist ein Skandal insofern das Außergewöhnliche, als diese Reaktion der Öffentlichkeit von kontingenten historischen Umständen anhängt, die selten sind und womöglich immer seltener werden. So braucht es z. B. für einen ordentlichen politisch-moralischen Skandal ein politisches Personal von einer gewissen »moralischen Fallhöhe«. Vgl. »Das Streiflicht« in der Süddeutschen Zeitung vom 16. 2. 1997. 44 Ich denke hierbei an Arbeiten von Habermas, Tugendhat, Lutz Wingert und R. Jay Wallace. Vgl. bei Habermas z. B. »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm« (= ›Diskursethik‹): 55 ff., bei Tugendhat z. B. »Über die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen philosophischer und empirischer Forschung bei der Klärung der Bedeutung des moralischen Sollens«, sowie Wingert, Gemeinsinn und Moral, 3. Kapitel, (b), (3). Vgl. Wallace, Responsibility and the Moral Sentiments. – Strawsons Phänomenologie moralischer Reaktionen, auf welche diese Autoren sich stützen, war hingegen reichhaltiger und kannte nicht nur moralische Gefühle. So spricht Strawson denn auch öfters zusammenfassend von »reactive attitudes and feelings« (er hebt ›reactive‹ hervor), und von reaktiven »practices«. Vgl. ders., »Freedom and Resentment«: 6, 4. 43

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nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten wollen oder ihm überhaupt aus dem Weg gehen. Die so genannte schöne Literatur bietet reiches Anschauungsmaterial für moralische Reaktionen. In Kleists Novelle »Michael Kohlhaas« finden wir eine Palette von Empörungsreaktionen ausgemalt. Italo Svevos Erzählung »Der alte Mann und das schöne Mädchen« enthält die anschaulich-drastische Beschreibung einer selten beachteten moralischen Gefühlsreaktion: Ein »moralischer Aufruhr in seiner Brust« erschüttert den in Liebe zu dem Mädchen entbrannten Greis, seine »Gewissensbisse« bescheren ihm ein »moralisches Elend«. Er fühlt sich elend – angesichts seiner erotischen Wünsche und seines daraus resultierenden schändlichen Verhaltens, in Anbetracht seiner moralischen Schwäche und Schlechtigkeit. – Zu denken ist nicht zuletzt an die ›moralischen‹ Erziehungsmittel von Kafkas Vater, an seine ›moralischen‹ Reaktionen auf das Verhalten des jungen Franz, wie sie im »Brief an den Vater« überliefert sind. Berichtet wird darin von einer Fülle von Vorhaltungen, Vorwürfen, Verurteilungen, Beschimpfungen und Verachtungsbezeugungen, welche bei dem Sohn lebenslange Schuld- und Schamgefühle eingerammt haben. Die offenkundige Ungerechtigkeit der väterlichen Vorwürfe gegen den jungen Herrn K. macht deutlich, in welchem Sinn des Ausdrucks ›moralisch‹ hier allein von moralischen Reaktionen die Rede ist. Im gemeinten Sinn kann eine ›moralische‹ Reaktion durchaus unangemessen oder ungerecht, mithin unmoralisch sein. Die Rede von ›moralischen‹ Reaktionen ist also gegenüber dem moralisch ›Guten‹ oder ›Schlechten‹ indifferent. Im selben Sinne wurde in der Einleitung meiner Untersuchung die Rede von ›moralischen Forderungen‹ eingeführt. An den moralischen Gefühlen kann man sich die ›Organisationsstruktur‹ der moralischen Reaktionen gut klar machen. Das System moralischer Gefühlsreaktionen ist analog dem Verweisungszusammenhang zwischen den Personalpronomina geordnet. Der gekränkten Reaktion einer 2. Person über mein verletzendes Benehmen entsprechen gegebenenfalls die Empörung 3. Personen über mich, sowie (in 1. Person) mein Schuld- oder Scham- oder Reuegefühl. Dieser emotionalen Ausstattung für den Fall moralwidrigen Verhaltens entspricht eine Palette anerkennender Reaktionen von Seiten 1., 2. und 3. Personen auf forderungsgemäßes (oder über das Forderbare hinausgehendes, ›supererogatorisches‹) Verhalten. Man A

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denke dabei an Gefühle der Dankbarkeit oder der Bewunderung von Seiten 2. oder 3. Personen – und an moralische Genugtuung oder moralischen Stolz auf Seiten des folgsamen Forderungsadressaten. Ähnliche Verweisungszusammenhänge lassen sich sicherlich auch für die weniger emotionsgeladenen moralischen Reaktionen beschreiben. Damit es sich bei moralischen Reaktionen um moralische handelt, müssen die von den unterschiedlichen Positionen aus erfolgenden Reaktionen ineinander ›übersetzbar‹ sein. So ist der ›Zorn‹ meines Gegenübers über mein verletzendes Benehmen nur dann eine ›moralische‹ Reaktion, wenn zu erwarten ist, dass auch weitere Personen mein Verhalten empörend finden. Für mich ist eines andern Zorn nur dann ein ›moralisches‹ Gefühl, wenn ich für den Fall, dass ich ihn berechtigt finde, zu selbstreaktiven moralischen Empfindungen, wie Schuld oder Scham, disponiert bin. Auch werde ich mich wohl nur dann für mein Verhalten schuldig fühlen, wenn ich bei einem ähnlichen Verhalten anderer es angemessen fände, empört zu sein und ihnen Vorwürfe zu machen.

1.5 Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis Die sozialen Reaktionen, die mit der Einhaltung oder der Verletzung von Moralvorschriften verbunden sind – und die theoretische Bezugnahme auf sie –, erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen. Erwähnt wurde bereits ihre Dienlichkeit zur Durchsetzung moralischer Forderungen. Des weiteren muss man wohl auf solche Reaktionen zu sprechen kommen, wenn man erklären will, was es heißt, dass eine moralische Norm ›gesellschaftliche Geltung‹ besitzt, mithin ›in Kraft ist‹. Für eine weitere Funktionsbestimmung moralischer Reaktionen muss man sich die Gemeinschaftsbezogenheit des moralischen Forderungsspiels klar machen: Die vorhin beschriebene Ordnungsstruktur moralischer Reaktionen impliziert eine Pluralität moralischer Akteure und ›Re-Akteure‹. Beim Austausch moralischer Forderungen und Reaktionen sind mehrere, aufeinander bezogene, Rollen besetzt. Ein Forderungsadressat, auf dessen Verhalten andere Kommunikationsteilnehmer moralisch reagieren, nimmt relativ auf die 1. Person des Fordernden die Position einer 2. Person ein. Diejenigen, die auf sein vorschrifts52

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Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis

mäßiges oder forderungswidriges Verhalten reagieren, besetzen ihm gegenüber, als von seinem Verhalten direkt oder indirekt Betroffene, die Positionen einer 2. oder 3. Person. Die Funktionsweise moralischer Reaktionen und der Forderungen, auf die damit reagiert wird, setzt also eine, und sei es nur kleine, moralische Gemeinschaft voraus. Das bisweilen bitter ernste ›Spiel‹ der Moral ist ein Gesellschaftsspiel. Die angedeutete weitere – und womöglich zentrale – Aufgabe moralischer Reaktionen wird deutlich, wenn man das moralische Spiel, das die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft mit reaktiven moralischen Gefühlen treiben, ein Stück weit verfolgt. Der ›heilige Zorn‹ Dritter über sein Fehlverhalten mag einen einsichtigen und deshalb reuigen ›Sünder‹ dazu bewegen, sich bei seinem ›Opfer‹ (oder auch gegenüber dem empörten ›Publikum‹) zu entschuldigen und den Versuch zu machen, dem Verletzten womöglich Wiedergutmachung zu leisten. Gegebenenfalls wird ihm daraufhin von seinen ›Anklägern‹ verziehen. Damit wäre das soziale Netz, welches durch Forderungsungehorsam partiell beschädigt worden war, repariert – und der Forderungsverletzer ›resozialisiert‹. Das an einer Stelle aufgescheuerte soziale Band wäre erneuert worden. Nur in Extremfällen dienen moralische Reaktionen der ›Exkommunikation‹ eines Gemeinschaftsmitgliedes 45, dort etwa, wo wir Abscheu oder Entsetzen gegenüber einem Verhalten empfinden, mit dem jemand, wie gesagt wird, sich selber außerhalb jeder Gemeinschaft gestellt hat. Wie bei anderen Gesellschaftsspielen gibt es jedoch auch beim Ausspielen moralischer Reaktionen eine differenzierte Sanktionspraxis. Erst recht die Würdigung der Rolle ›positiver‹ Anders wird das von Tugendhat gesehen. »Die Annahme, […], dass darin [in Tadel und Empörung] eine tendenzielle Exkommunikation liegt, scheint mir richtig, weil man sonst nicht recht verstände, worin der Forderungs- bzw. Sanktionscharakter von Tadel und Empörung liegen soll.« Vgl. ders., ›Letitia‹ : 56 – Einf. HK. Eine Gemeinschaft, deren Glieder bei jedem tadels- und empörungswürdigen Verhalten ›tendenziell exkommuniziert‹ würden, müsste sich nicht über Mitgliederschwund beklagen. Die einen würden sich ausgeschlossen finden, andere würden angesichts dieser Rigidität von sich aus ins Lager der Amoralisten wechseln. Für seine ›extremistische‹ Sicht der Funktion moralischer Reaktionen hat Tugendhat in Rorty einen Verbündeten. Im Anschluss an Wilfried Sellars, für den die Moral eine Sache von ›we-intentions‹ ist, interpretiert Rorty eine ›unmoralische‹ Handlung als »the sort of thing we don’t do«. Um fortzufahren: »If done by one of us, or if repeatedly done by one of us, that person ceases to be one of us. She becomes an outcast«. Vgl. Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity: 59.

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Reaktionen auf forderungskonformes Verhalten macht die Annahme plausibel, dass die primäre Funktion des Systems moralischer Reaktionen eine sozialintegrative ist. 46 Die bzw. eine moralische Gemeinschaft kann (wie bereits angedeutet) durchaus eine begrenzte, partikulare sein. Man muss sich also davor hüten, aus dem Verweisungssystem moralischer Reaktionen ein Argument für den moralischen Universalismus drechseln zu wollen. 47 Der soeben eingeführte Begriff einer ›moralischen Gemeinschaft‹ erfreut sich in der neueren ethischen Literatur einer gewissen Beliebtheit 48 , ohne dass er (soweit ich weiß) selber zum Gegenstand einer gründlichen Behandlung gemacht worden wäre. 49 Diese ist auch hier, so nebenbei, nicht zu leisten. Die folgenden Erläuterungen werden jedoch für den Kontext dieser Abhandlung genügen. Dass die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft das ausschnittweise beschriebene Spiel (gutenteils wechselseitiger) moralischer Forderungen und Reaktionen spielen, ist für eine solche Gemeinschaft konstitutiv. Die Basis gegenseitiger Forderungen und Reaktionen sind dabei geteilte Verhaltenserwartungen, in Form einer ›Anhänglichkeit‹ der Gemeinschaftsmitglieder an gemeinsam befürwortete ›Normen‹, ›Werte‹, ›Ideale‹ usw. Dazu gehört wohl auch die gemeinsame Anerkennung einer moralischen Autoritätsinstanz, die zur Normensetzung und Normenkontrolle berechtigt ist. Nur die implizite Bezugnahme auf geteilte Erwartungen innerhalb einer moralischen Gemeinschaft macht die Reaktionen auf anderer Leute Benehmen überhaupt zu moralischen Reaktionen. So ist ein Gekränktsein infolge einer erfahrenen Missachtung, im Unterschied zu einer bloßen Empfindlichkeits-Reaktion, nur dann Ausdruck moralischen Verletztseins, und die Reaktion nur dann eine moVgl. Williams, dem zufolge gewisse moralische Gefühle »shared sentiments« sind; »they serve to bind people together in a community of feeling«. Es handele sich dabei um ›sozialisierende Gefühle‹. Vgl. Williams, Shame and Necessity: 80, sowie 195, Fn. 15. 47 Diese Warnung ist angesichts dessen angebracht, was Habermas aus dem »moralischen Kern [moralischer] Gefühlsrekationen« meinte herauslesen zu können. Vgl. ders., ›Diskursethik‹ : 58 f. – Einf. HK. 48 Vgl. zum Beispiel Tugendhats ›Letitia‹-Dialog. 49 Vgl. zum Begriff einer ›moralischen Gemeinschaft‹ inzwischen: Harald Köhl, »Moralischer Universalismus und der Begriff der moralischen Gemeinschaft«, den Schlussteil. 46

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ralische, wenn eine gemeinsame Verhaltenserwartung innerhalb einer ›Gruppe‹ besteht, zu welcher die gekränkte Person und ihr ›Peiniger‹ gehören. Nur in diesem Fall ist auch die missachtete Forderung als eine moralische zu qualifizieren. Allein unter der Annahme einer gemeinsamen Erwartung unter Gemeinschaftsmitgliedern ist es auch zu verstehen, wenn scheinbar unbeteiligte Personen, die von dem Verhalten eines Forderungsadressaten weder als Opfer noch als Nutznießer direkt betroffen sind, gleichwohl auf dessen Verhalten emotional beteiligt reagieren. Ohne gemeinschaftliche Verhaltenserwartungen hat kein Verletzter Grund zu Reaktionen, die als moralische gelten können. Die in der kommunalen moralischen Reaktionspraxis vorausgesetzten Verhaltenserwartungen liefern allererst Gründe, und einen Maßstab der Angemessenheit, für solche Reaktionen – und für die Forderungen (und ihre Angemessenheit), auf die damit reagiert wird. Damit ist wiederum der Begründungsaspekt von Moralvorschriften berührt. Dieser ist mein Thema im folgenden Kapitel-Abschnitt. Die Voraussetzung gemeinsamer Verhaltenserwartungen für moralische Forderungen und Reaktionen bedeutet, dass die Beteiligten am moralischen Rollenspiel als Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft agieren und reagieren; dass sie in eigener Person und stellvertretend für alle Mitglieder Forderungen aufstellen und deren Erfolg kontrollieren. Dieser Gedanke beinhaltet zum einen, dass die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft ein moralisches Selbstverständnis besitzen, und zum anderen, dass dieses Selbstverständnis ein kommunales ist. Es ist das Selbstverständnis der Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich in dem Sinne als Gemeinschaftsmitglieder verstehen, dass sie nicht nur wissen, dass sie zu dieser Gemeinschaft gehören. Sie stehen auch zu ihrer Mitgliedschaft, sie wollen zu dieser Gemeinschaft dazugehören. 50 Dieser voluntative Aspekt ist eine Spiegelung der Tatsache, dass es sich bei dem Selbstverständnis, von dem hier die Rede ist, um ein praktisches handelt. Gemeint ist damit das handlungsorientierte Be»[…] das an der Moral Besondere« ist, dass bestimmte ›Wir‹-Intentionen nicht nur »geteilt werden mit anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft, sondern dass unsere Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft essentiell für unsere Identität ist«. Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«: 462.

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wusstsein einer Person davon, wie sie in (für sie selber) grundlegenden Angelegenheit zu agieren gedenkt und was für ein Mensch sie sein möchte. Zu einem moralischen Selbstverständnis gehört die bereitwillige Anbindung des je eigenen Selbstwertgefühls an die eigene Erfüllung der gemeinschaftlichen Moralvorchriften Forderungen. Dies bedeutet zugleich die Bereitschaft, sich von den moralischen Reaktionen anderer Gemeinschaftsmitglieder beeindrucken zu lassen. Auch darin ist der Wille impliziert, sich als Mitglied einer Gemeinschaft zu verstehen, also zusammen mit anderen das ›moralische Spiel‹ zu spielen. Die voranstehenden Überlegungen lassen die Auffassung als plausibel erscheinen, dass die moralischen Reaktionen – und die moralischen Forderungen, auf die damit reagiert wird – ein moralisches Selbstverständnis der Interagierenden nicht nur voraussetzen und zum Ausdruck bringen. Zusätzlich fordern die Mitglieder einer Gemeinschaft von Menschen, die sich moralisch verstehen, wohl voneinander, dass sie moralische Forderungen aus einem moralischen Selbstverständnis heraus, also letztlich aus moralischen Gründen, befolgen. Von einem moralischen Gebot würde demnach nicht nur moralkonformes, sondern moralisch motiviertes Handeln verlangt werden. Dieser Gedanke ist uns von Kant 51 , aber natürlich nicht nur von Kant her vertraut. Der Unterschied zwischen der kantischen und der von mir angedeuteten Auffassung besteht freilich darin, dass für ihn in der Selbstauffassung der Glieder in einem ›Reich der Zwecke‹ wesentlich deren ›Vernunftnatur‹ zum Ausdruck kommt. Deshalb ist ihm die Bezugnahme auf eine Gemeinschaft von Vernunftwesen nicht als wesentlich erschienen. Wohingegen für mich, aufgrund der Betrachtungen in diesem Kapitel-Abschnitt, der kommunale Charakter eines moralischen Selbstverständnisses zentral ist.

1.6 Begründungsaspekte moralischer Forderungen Moralische Forderungen werden aufgestellt in einem Raum von Gründen. Es handelt sich dabei um praktisch-moralische Gründe für das damit Geforderte. Dieses ist in der Regel eine Handlung oder eine Handlungsweise. Dass moralische Vorschriften in einem Begrün-

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Vgl. dazu im 5. Kapitel den Abschnitt 5.8. Gefordert: Moralität.

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dungskontext stehen, dafür spricht nicht nur eine geläufige Begründungspraxis. Dafür spricht auch die Selbstverständlichkeit, mit der die Berechtigung solcher Forderungen – zumal von ihren Adressaten – in Frage gestellt wird. Diese Praxis des Begründens und Bezweifelns, und des begründeten Zurückweisens, spricht dafür, dass moralische Forderungen, wenigstens in der Meinung der kritisch Nachfragenden, im Prinzip etwas sind, das durch Gründe gestützt werden muss. Und gestützt werden kann: mehr oder weniger gut, mit besseren oder schlechteren Argumenten. Das Verlangen von Gründen für etwas, das als moralisch erforderlich hingestellt wird, kann prinzipiell gemeint sein und betrifft dann die Legitimität moralischen Forderns überhaupt. Eine ausbleibende oder unbefriedigende Antwort auf diese Frage kann als Einladung zur moralischen Emigration aufgefasst werden: in ein Land ›Jenseits von Gut und Böse‹. Die Begründungsabhängigkeit moralischer Vorschriften eröffnet aber auch den loyalen Bewohnern der moralischen Welt die kleinen Fluchten immanenten Zweifels, der partikularen Kritik und der selektiven Gehorsamsverweigerung. Gegen bestimmte moralische Gebote und ihre Berechtigung können auch moralische Patrioten Bedenken tragen oder sogar rebellieren. Die Frage nach der ›Berechtigung‹ einer Moralvorschrift kann zweierlei bedeuten. Einmal kann damit nach der Legitimation eines Fordernden gefragt sein, also nach seinem Recht, überhaupt moralisch zu fordern oder diese bestimmte Forderung zu erheben. Oder die kritische Frage zielt auf die Berechtigung einer Forderung selber, also auf das Begründetsein des damit Geforderten. Dabei ist wiederum dessen prinzipielle Begründungsfähigkeit vorausgesetzt. Allein in dieser Lesart soll uns die Frage hier interessieren. Die Vorstellung von einer ›Begründungsfähigkeit‹, aber auch von der ›Begründungsbedürftigkeit‹ moralischer Forderungen (und Normen), kommt in der zeitgenössischen Ethik so selbstverständlich daher wie die Rede von einem ›Begründungsanspruch‹, der mit solchen Forderungen angeblich verbunden ist. Zumindest der erste und der dritte dieser substantivischen Ausdrücke ist freilich unglücklich gewählt. Wird doch damit der irreführende Eindruck erweckt, als sei den moralischen Forderungen selber ein Bedürfnis nach Begründung eigen; als sei mit ihnen selber der Anspruch verbunden, begründet werden zu können. Vielmehr sind es ja wohl die moralisch Kommunizierenden, die das Bedürfnis verspüren, eine Forderung begründet zu wissen und ggf. begründet zu bekommen; die sie mit einer A

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epistemischen ›Anspruchshaltung‹ verbinden oder ihr mit dem ›Anspruch‹ begegnen, sie begründet zu bekommen. Einzig bei der Rede von der ›Begründungsfähigkeit‹ einer Moralvorschrift liegt es nahe, dabei nicht nur an die Verfügbarkeit von Gründen und an die Begründungskompetenz der moralischen Kommunikationsteilnehmer zu denken, sondern auch an Eigenschaften jener Forderungen selber, auf die sich Begründungsbemühungen beziehen könnten. Es lohnt sich, etwas genauer zu betrachten, was mit der Rede von der (offenkundigen) Begründungsbedürftigkeit moralischer Forderungen, dem mit ihnen (angeblich) verbundenen Begründungsanspruch sowie ihrer (öfters als problematisch erscheinenden) Begründungsfähigkeit sinnvollerweise gemeint sein kann – und wie diese epistemischen Charakterisierungen miteinander zusammenhängen. 1. Begründungsbedürftigkeit. Wie schon angedeutet, sind es in erster Linie die Adressaten einer moralischen Forderung, die das Bedürfnis haben werden, sie begründet zu bekommen. Eine solche Forderung verlangt von ihnen gegebenenfalls, anders zu handeln, als sie bis dahin handeln wollten und gerne handeln würden. Moralvorschriften drängen die damit Angesprochenen nur zu oft dazu, Wünsche zurückzustellen oder aufzugeben, oder andersartige Anforderungen hintanzustellen. Die einem Forderungsempfänger derart angesonnenen Verhaltens- und damit Freiheitseinschränkungen wird er, in nicht-autoritären Verhältnissen, so lange als Zumutung empfinden und zurückweisen, wie sie ihm nicht plausibel begründet worden sind. In diesem Sinne sind moralische Forderungen ›begründungsbedürftig‹. Dass eine Moralvorschrift etwas ist, das allemal der Untermauerung durch Gründe bedarf, zeichnet sie möglicherweise gegenüber vielen anderen Handlungsvorschriften aus. 52 Die moralisch Fordernden können das Bedürfnis nach einer Begründung ihrer Appelle durchaus mit deren Adressaten teilen. Zumal solche Forderungsautoren, die ein Gespür für die Zumutung besitzen, die mit einer moralischen Forderung für die dadurch Geforderten verbunden sein kann, werden sich der Zumutbarkeit des Geforderten vergewissern wollen, indem sie sich die Gründe daEine solche Auffassung formuliert Schneewind: »For it is a defining characteristic of moral directives, as contrasted with those of law, tradition, custom, or manners, that none of them can be always relieved of the need to be justified.« Vgl. ders., The invention of autonomy: 255.

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für klarmachen. Natürlich können auch beliebige Andere die Begründung eines Moralgebotes wünschen. 2. Begründungsanspruch. Nicht nur in südamerikanischen Dialogen – wie in Tugendhats Dialog in Letitia – bekommt man zu lesen, dass »der Anspruch des Begründetseins […] ein definitorisches Charakteristikum alles Moralischen« sei. Entsprechend sei »der Anspruch, begründet zu sein, charakteristisch […] für […] moralische Normen«, mithin für moralische Forderungen. 53 Die Rede von einem mit Moralvorschriften verbundenen ›Begründungsanspruch‹ ist freilich zweideutig. Sie verhüllt, dass bei solchen Forderungen zweierlei Ansprüche im Spiel sind: einmal ein Anspruch eines Forderungsadressaten an den Fordernden, das andere Mal ein Anspruch, den der Fordernde selber damit erheben kann: Einerseits haben in erster Linie die Forderungsadressaten einen ›Anspruch‹ auf eine Begründung, durch den Fordernden oder durch andere Befürworter der Forderung. Gewöhnlich haben erstere sogar einen begründeten Anspruch bzw. ein Recht darauf, einen an sie gerichteten moralischen Appell begründet zu bekommen. Sie haben diesen ›Rechtsanspruch‹ – und damit die Möglichkeit, diesen Anspruch geltend zu machen – aufgrund der beschriebenen Zumutung, ihr Verhalten vorschriftsmäßig anpassen zu sollen. Dem Recht des Forderungsadressaten auf eine Begründung entspricht auf Seiten eines Fordernden eine Begründungsverpflichtung. Wer moralisch fordert, der schuldet dem Empfänger, und gegebenenfalls noch anderen, eine Begründung. Zumal dann ist er eine Begründung schuldig, wenn diese von ihm verlangt wird; und er schuldet sie erst recht, wenn mehr als das Selbstverständliche gefordert ist. 54 Der bisher beschriebene Anspruch auf Forderungsbegründung ist ein Anspruch an den Fordernden, der von Seiten anderer an ihn gestellt wird. Andererseits ist mit jenem Begründungsanspruch (allemal bei Habermas und in der von ihm geprägten Literatur) ein Anspruch des Fordernden gemeint, den er fordernd erhebt und geltend Vgl. Tugendhat, ›Letitia‹ : 14 – Hervorh. HK. Tugendhat meint mit moralischen Normen generelle, wechselseitige, sozial sanktionierte Forderungen. 54 Man könnte (wie manche Konservative) meinen, die allermeisten moralischen Forderungen und ihre Befolgung seien selbstverständlich, weil Moralischsein sich von selbst verstehe. Man unterläge damit vermutlich einem Irrtum. Denn das Selbstverständliche wird gewöhnlich gerade nicht gefordert, weil es nicht gefordert zu werden braucht. Statt das Selbstverständliche zu verlangen, ist man eher realistisch und fordert das Unmögliche. 53

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macht. 55 Diese ›Anspruchshaltung‹ eines Forderungsautors ist wohl gemeint, wenn vom ›Begründungsanspruch‹ einer moralischen Forderung so geredet wird, als träte sie selber mit dem Anspruch auf, begründet und also begründbar zu sein: wie in dem vorigen Tugendhat-Zitat. Der Fordernde erhebt den Anspruch, dass seine Forderung begründet oder begründbar ist oder von ihm begründet werden kann. Dass er dabei angeblich einen ›Anspruch‹ erhebt, diese Redeweise kann gleichwohl befremden. So hat Rorty in aller Unschuld versichert, dass er, Habermas zum Trotz, mit Aussagen oder mit Forderungen keinen ›Anspruch‹ erhebe. Erst recht will er damit noch nie einen ›universellen Geltungsanspruch‹ erhoben haben. 56 Das kann immerhin stutzig machen und das Bedürfnis schaffen, der Rede von einem erhobenen Begründungs-›Anspruch‹ einen expliziten und womöglich unproblematischen Sinn zu geben. Dieses Bedürfnis ist erfüllbar, wenn man sich an dem orientiert, was für Rorty selber zum Aufstellen einer Forderung (wie auch einer Behauptung) gehört: Das ist zunächst einmal die Bereitschaft, sie vor kompetenten Zuhörerschaften zu begründen. 57 Es kommt hinzu, dass ein Fordernder gewöhnlich wohl weiß, dass seine Bereitschaft von anderen gegebenenfalls ›in Anspruch genommen‹ werden wird, indem diese eine Begründung von ihm verlangen. Überdies wird ein moralisch Fordernder gewöhnlich annehmen, meinen oder davon überzeugt sein, dass er eine Begründung zu geben vermag. Er sollte, mit anderen Worten, nicht nur bereit und willens sein, seiner Forderung eine Begründung nachzuschieben. Sondern er wird sich dazu gewöhnlich auch für fähig halten; er wird sich eine Begründung also zutrauen. So jemand ›nimmt für sich in Anspruch‹, eine Begründung leisten zu können. Er hat damit aber auch ›einen Anspruch an sich selber‹ : er verlangt sich ab, eine Begründungsleistung erbringen zu können und erforderlichenfalls zu erbringen. Des weiteren stellt, wer etwas fordert, damit gewöhnlich nicht einfach bloß eine Forderung in den Raum. Vielmehr steht er meistens für seine Forderung ein – und hat dafür einzustehen. Wer etwas fordert, geht damit ein Blamagerisiko ein, für den Fall, dass er die damit suggerierte Begründungskompetenz nicht unter Beweis stelVgl. dazu im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.5 Universalismus, sowie Köhl, »Moralischer Universalismus und der Begriff der moralischen Gemeinschaft«. 56 Vgl. Rorty, »Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche?« (= Aussagen): 983 f. 57 Vgl. ders., a. a. O.: 982, 984. 55

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len kann. Er übernimmt mit seiner Forderung eine Begründungslast, mithin eine Begründungsverpflichtung gegenüber anderen – und gibt damit diesen den schon erwähnten ›Rechts-Anspruch‹, eine Begründung zu bekommen. – Damit ist die Rede von einem ›Begründungsanspruch‹ verdeutlicht. Dass all dies mit dem Aufstellen einer Forderung verbunden zu sein scheint, mag von dem Bedürfnis auch des Fordernden herrühren, sich zu vergewissern, dass das Erheben seiner Forderung keine willkürliche Anmaßung darstellt. 3. Begründungsfähigkeit. Bei der Frage nach der ›Begründungsfähigkeit‹ moralischer Forderungen kann es sich einerseits darum handeln, ob der Fordernde zu einer Begründung fähig ist. Ob er also den Anspruch, den er (im beschriebenen Sinne) fordernd erhebt, auch einzulösen vermag. Dafür ist vorausgesetzt, dass es so etwas wie moralische Gründe – am besten: überzeugende moralische Gründe – überhaupt geben kann und für das jeweils Geforderte gibt; bzw. dass wir eine Begründungsweise (oder Begründungsweisen) für moralische Forderungen, und für die jeweilige Forderung, kennen. Ich komme darauf am Ende dieses Kapitel-Abschnitts zurück. Die Frage nach der Begründungsfähigkeit oder, wie man jetzt besser sagen wird: der Begründbarkeit einer moralischen Forderung, betrifft aber auch das ›Potenzial‹ dieser Forderungen selber, also ihre Eigenschaften. 58 Ob moralische Forderungen überhaupt begründbar sind, hängt davon ob, ob Forderungen generell etwas sind, auf das sich Gründe beziehen lassen. Oder ob es wenigstens etwas an ihnen gibt, das eine begründende Bezugnahme ermöglicht. Es handelt sich dabei um ›Tugendhats Problem‹, das ich in der Einleitung zu diesem Buch beschrieben und für das ich dort eine Lösung angedeutet habe. Einer Betrachtung wert sind einige Beziehungen zwischen der ›Begründungsbedürftigkeit‹, dem ›Begründungsanspruch‹ und der ›Begründungsfähigkeit‹ einer moralischen Forderung. Was das Verhältnis der ersten beiden Zuschreibungen zueinander angeht, so haben zum einen die Adressaten einer solchen Forderung das ›Bedürfnis‹, diese begründet zu bekommen, und deshalb, und wegen der ihnen zugemuteten Verhaltenseinschränkung, einen ›Anspruch‹ (ein Recht) auf eine Begründung.59 Andererseits sieht sich, in AnerkenVgl. dazu Tugendhat, ›Letitia‹ : 15 ff. So sieht auch Tugendhat das Abhängigkeitsverhältnis von Begründungsbedürfnis und Begründungsanspruch. Er sagt z. B. über Spielregeln, dass sie »keinen Anspruch«

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nung des Begründungs-›Bedürfnisses‹ und des berechtigten Begründungs-›Anspruchs‹ auf Seiten der Forderungsadressaten, der Fordernde unter einen Begründungs-›Anspruch‹ gestellt. Anständigerweise stellt er sich selber unter diesen Anspruch: um jenem Bedürfnis Genüge zu tun und den an ihn gerichteten Anspruch zu erfüllen. Betrachten wir nun ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Begründungsfähigkeit einer Forderung, einerseits, und ihrer Begründungsbedürftigkeit 60 und dem damit erhobenen Begründungsanspruch 61 , andererseits. Wird das ›Bedürfnis‹ eines Forderungsadressaten, eine bestimmte Forderung begründet zu bekommen, insofern frustriert, als deren Vertreter sie (vorerst) nicht zu begründen ›fähig‹ sind, besteht zusammen mit dem Bedürfnis der Adressatenanspruch auf Begründung fort. Dass er uneingelöst bleibt, ist ein (gewöhnlich hinreichender) Grund, die Forderung (vorerst) zurückzuweisen. Lässt sich plausibel machen, dass diese Forderung, oder eine Art von Forderungen (etwa die moralischen), auch in Zukunft oder prinzipiell nicht begründet werden kann 62 , dann bleibt das Bedürfnis auf Dauer frustriert. Entweder es verschwindet dann, oder sein Fortbestehen ist irrational. Auf ein verschwundenes oder irrationales Bedürfnis lässt sich aber kein Anspruch gründen: weder das erheben, »begründet zu sein«, weil sie »auch nicht begründungsbedürftig sind« (vgl. ders., ›Letitia‹ : 14). 60 Tugendhat schreibt, am Beispiel von Spielregeln, zum Verhältnis von Begründungsbedürftigkeit und Begründungsfähigkeit: »Spielregeln scheinen einer Begründung nicht fähig zu sein, und zwar deswegen nicht, weil sie einer Begründung auch nicht bedürftig sind.« Vgl. ders., »Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik«: 75. – Die in dem Zitat enthaltene These zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Begründungsbedürftigkeit und Begründungsfähigkeit ist schwer nachzuvollziehen. Ihre Unplausibilität wird noch deutlicher, wenn man explizit, statt wie Tugendhat über das Bedürfnis einer Norm, über die Bedürfnisse der am Forderungsgeschehen Beteiligten spricht. Es ist nämlich nichts Widersprüchliches an der Vorstellung, dass eine bestimmte Norm oder sogar eine Art von Normen begründbar ist, aber niemand ein Bedürfnis nach deren Begründung verspürt: etwa, weil alle die betreffende(n) Norm(en) für wohlbegründet halten oder ganz selbstverständlich danach handeln. 61 Zum Verhältnis von Begründungsfähigkeit und Begründungsanspruch behauptet Tugendhat: »Wo immer ein Satz begründbar ist, muß er schon selbst einen Begründungsanspruch erheben.« Vgl. ders., a. a. O.: 76. 62 Wer glaubt, dass Moralvorschriften generell oder prinzipiell nicht begründbar sind, ist deshalb allein noch kein Amoralist. Denn er mag ja bereit sein, sich moralischen Geboten ohne Grund zu beugen. Er ist dann freilich ein Irrationalist, oder besser ein A-Rationalist: jedenfalls in der Moral.

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Verlangen eines Forderungsadressaten, noch die Prätention eines Fordernden. 63 Die soeben dargestellten Zusammenhänge zwischen Begründungsbedürftigkeit, Begründungsanspruch und Begründungsfähigkeit bei moralischen Forderungen machen deutlich, dass die grundlegende Frage die nach deren Begründungsfähigkeit oder Begründbarkeit ist – bei einzelnen Moralvorschriften, bei Moralvorschriften generell, und bei Forderungen überhaupt. 64 Denn bei diesen allen ist das Begründungsbedürfnis obsolet und ein Begründungsanspruch dahin, wenn sie sich als unbegründbar erweisen. Das Bedürfnis nach ihrer Begründung kann man sich dann abgewöhnen. Die Begründungsansprüche von Forderungsautoren und -empfängern, die durch jenes Bedürfnis aufgekommen sind, müssen dann aufgegeben werden. Damit sind wichtige Aufgaben einer systematischen Theorie moralischer Forderungen vorgezeichnet. Zum einen zeigt sich damit erneut die Brisanz von ›Tugendhats Problem‹, und die Wichtigkeit seiner Lösung. (Moralische) Forderungen müssen Eigenschaften oder Aspekte besitzen, die einen Ansatzpunkt für Begründungen hergeben. Falls man sich dessen versichern kann, dann besteht das weitere Desiderat in einer Theorie der moralischen Forderungsbegründung. Diese bestünde in einer Darlegung plausibler Begründungsverfahren. Dazu gehörte die Entfaltung der vermutlich vielgestaltigen moralischen Begründungsressourcen, mithin eine Theorie moralischer Gründe.

1.7 Schluss In diesem 1. Kapitel habe ich charakteristische Merkmale moralischer Forderungen in Erinnerung gerufen, sowie einige Phänomene, die gewöhnlich mit ihnen in Verbindung gebracht werden. ZuAuch Tugendhat meint, dass moralische.Normen, sprich (allgemeine) Forderungen, »wenn sie nicht begründungsfähig sind, auch keinen Anspruch mehr erheben können, begründet zu sein«. Vgl. ders., ›Letitia‹ : 15 f. – Hervorh. HK. 64 Habermas gießt die prinzipiell verstandene Frage nach der Begründbarkeit moralischer Forderungen in die Worte: »Das moraltheoretisch erklärungsbedürftige Grundphänomen ist […] die Sollgeltung von Geboten oder Handlungsnormen.« Vgl. ders., »Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?« (= ›Hegels Einwände‹): 11. 63

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nächst wurden die anscheinende Unausweichlichkeit, die besondere (Durchsetzungs-) Kraft und die Autorität solcher Forderungen betrachtet. Sodann wurde ihr, angeblich ganz besonderer, Forderungscharakter thematisiert, der sie allerdings nicht immer (wie manche gemeint haben) moralische Notwendigkeiten und Verpflichtungen zum Ausdruck bringen lässt. Darauf habe ich die moralischen Reaktionen auf die Erfüllung oder Nichterfüllung moralischer Vorschriften in den Blick genommen, insbesondere den Austausch moralischer Gefühle seitens der moralischen Kommunikationsteilnehmer. Moralische Gebote, war sodann zu sehen, sind in einem moralischen Selbstverständnis der Fordernden verankert und berühren auch das moralische Selbstverständnis ihrer Adressaten. Dieses Selbstverständnis wurde als ein kommunales ausgezeichnet. Das moralische Forderungsgeschehen erwies sich als ein ›Spiel‹ innerhalb einer moralischen Gemeinschaft. Schließlich wurde das Begründungsbedürfnis thematisiert, das sich auf solche Forderungen richtet, sowie der Begründungsanspruch, der mit ihnen verbunden ist, und die Frage ihrer Begründbarkeit. Ein philosophischer Ertrag einer solchen phänomenologischen Bestandsaufnahme besteht darin, dass sie es uns, durch die Verknüpfung der dargestellten Phänomene, erlaubt, einen gehaltvollen Begriff einer ›Moral‹ zu gewinnen. 65 Eine Moral, das wäre demnach ein System von kraftvollen und autoritativen, mithin durchsetzungsMeine Rede von ›einem Begriff einer Moral‹ steht in beabsichtigtem Kontrast zu Tugendhats Rede von dem Begriff »einer Moral«. Vgl. ders., VüE: 26; vgl. 27, 32 f., 40. Tugendhat erwartet von seinem so genannten »formalen Moralbegriff« (33), dass dieser festlege, »was sie [nämlich unterschiedliche Moralkonzeptionen] überhaupt alle zu Moralkonzeptionen macht« (27 – Hervorh. und Einf. HK). Diese Vorstellung setzt einerseits eine platonistische Begriffstheorie voraus. Andererseits führt sie in den VüE dazu, dass Tugendhat fast alle konkurrierenden inhaltlichen Moralentwürfe auch deshalb verwirft, weil sie (im Sinne seines Moralbegriffs) gar keine ›Moral‹ verkörpern. Dies passiert ihm trotz seiner selbstadressierten Warnung, »daß es wichtig sein wird, schon bei der Definition von dem, was eine Moral ist, dafür Sorge zu tragen, dass man von den verschiedenen moralischen Positionen aus mit den jeweils anderen diskutieren kann, statt sich wechselseitig implizit abzustreiten, überhaupt eine Moral zu sein und so eine Auseinandersetzung, die eigentlich eine moralische sein muß, definitorisch (semantisch) vorzuentscheiden.« (27) – Die Alternative zu Tugendhats restriktivem Vorgehen ist die liberalere Konzeption, einen Begriff einer (statt der) Moral vorzuschlagen und gegenüber Vertretern anderer Moralbegriffe dafür zu werben. Unsere Konkurrenten müssen nicht alle Bestandteile unseres Vorschlags akzeptieren, damit wir ihnen den Besitz einer Moralvorstellung oder einer moralischen Theorie zubilligen. Diese offenere Sichtweise ist gut vereinbar mit der Alternative zu Tugendhats platonistischer Begriffs-

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fähigen und schwer umgehbaren wechselseitigen Forderungen, die durch wechselseitige moralische Reaktionen und Begründungen von Seiten moralischer Gemeinschaftsmitglieder abgestützt und in einem kommunalen moralischen Selbstverständnis der Beteiligten verankert sind. Eine systematische Theorie moralischer Forderungen, wie sie mit der vorliegenden Untersuchung noch nicht angestrebt ist, hat also eine ganze Reihe von Merkmalen und Phänomenen zu betrachten und zu verstehen, die solchen Vorschriften eigen sind oder mit ihnen zusammenhängen. Dies sollte das Durchgehen einiger Aspekte moralischer Forderungen deutlich gemacht haben. Die Aufgabe einer solchen Theorie hätte dann unter anderem darin zu bestehen, die thematisierten Forderungsaspekte auf erhellende Weise in einen Zusammenhang untereinander und in eine Ordnung zu bringen. Demzufolge wäre der Versuch, sich für das Verständnis moralischer Forderungen auf einen der betrachteten Aspekte zu beschränken – indem man etwa die moralischen Gefühlsreaktionen als Generalschlüssel zum Verständnis des Ganzen ansähe –, zu kurz gegriffen und unbefriedigend für ein phänomenologisch informiertes Verständnisbedürfnis. Ordnung zu stiften unter der Vielzahl von Phänomenen, die ich in Augenschein genommen habe, muss sicherlich mehr bedeuten, als diese in eine einleuchtende Reihenfolge zu bringen – wie ich es in diesem Kapitel versucht habe. Gesucht ist eine Ordnung von Abhängigkeiten und sich daraus ggf. ergebender Prioritäten. So war bei der Betrachtung moralischer Reaktionen zu sehen, dass diese auf Gründe für ihre Angemessenheit verweisen. Sie sind nur angemessen, wenn die Forderungen, auf die derart reagiert wird, den Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft als gerechtfertigt erscheinen. Solche Fragen überfordern naturgemäß die Möglichkeiten einer bloß phänomenologischen Befunderhebung beim ›gewöhnlichen Moralbewusstsein‹ und seinen ›Intuitionen‹.

auffassung, nämlich Wittgensteins Begriffs-›Theorie‹ nach dem Modell von ›Familienähnlichkeiten‹. Mein ›inhaltlicher‹ Vorschlag zum Verständnis einer ›Moral‹ ist eher anspruchsvoller als der Tugendhats, für den eine Moral ein System moralspezifisch sanktionierter wechselseitiger Forderungen ist. Aber eben, er ist nur ein Vorschlag (was mir ein Vorteil zu sein scheint), und er ist frei von der starken Ausschließungstendenz, die Tugendhats relativ willkürlicher ›Festsetzung‹ eigen ist. A

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Kleine Phänomenologie moralischer Forderungen

Die vorgelegte ›Kleine Phänomenologie‹ moralischer Vorschriften hat deutlich werden lassen, wie schwer es (nicht nur diesem Philosophen) fällt, moralische Phänomene zu ›beschreiben‹, ohne ›theoretisch‹ zu werden. ›Rufen‹ doch die Phänomenbeschreibungen förmlich nach ihrer theoretischen Durchdringung. Dem war nicht immer zu widerstehen, weshalb mir in diesem Kapitel verhaltene Ansätze zu einer philosophischen Vertiefung des Beschriebenen ›unterlaufen‹ sind. Oft ist aber auch, ganz unabhängig von subjektiven Unfähigkeiten, nicht genau zu sagen, wo die bloße ›Beschreibung‹ – wahrlich nicht in einer theoriefreien Sprache – aufhört, und wo die ›Analyse‹ beginnt. Am deutlichsten ›theoretisiert‹ habe ich sicherlich bei der Behandlung der verschiedenen Begründungsaspekte moralischer Gebote. In einer Hinsicht enthält meine Beschreibung moralischer Forderungen sogar eine theoretische Vorentscheidung. Es schien mir selbstverständlich, die mit solchen Forderungen verbundenen Begründungsaspekte ernst zu nehmen. Der moralische Common sense ist klarerweise ›kognitivistisch‹. Eine ›non-kognitivistische‹, ›emotivistische‹ oder ›expressivistische‹ Auffassung von Moralvorschriften will dem Verfasser der vorliegenden Untersuchung vorkommen wie ein meta-ethisches Gegenstück zu dem, was Peter Strawson »revisionäre Metaphysik« genannt hat, im Gegensatz zu einer »deskriptiven«. 66 Zu so drastischen Gegenentwürfen, konträr zu den sich aufdrängenden Beschreibungen unserer moralischen Praxis, sollte man nur Zuflucht nehmen, wenn diese sich partout nicht ›rational rekonstruieren‹ lässt. Mir will jedoch scheinen, dass die im 5. Kapitel dieses Buches ausgeführte (und in der Einleitung vorweggenommene) Analyse moralischer Forderungen, in Termini von Gründen, eine schwer abzuweisende Evidenz besitzt. In diesem Kapitel ging es mir nicht zuletzt darum, eine Folie auszurollen, auf deren Hintergrund sich anspruchsvollere Konzeptualisierungen unseres Phänomenbereichs abheben lassen. Gemeint ist damit vor allem die kantianische Steigerung der hier gelieferten, relativ ›bodenständigen‹ Beschreibung moralischer Handlungsvorschriften. Angestrebt war in diesem Kapitel eine nicht-kantische oder vorkantische Phänomenologie. War diese gewiss nicht theoriefrei zu haben, so sollte sie jedenfalls keine Kant-spezifischen Voraussetzun-

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Vgl. P. F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics: 9.

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Schluss

gen enthalten. 67 Wäre dies halbwegs gelungen, dann sollte damit die Grundlage für ein Kontrasterlebnis geschaffen sein: beim Nachvollzug der Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen im folgenden Kapitel.

Es könnte insofern als problematisch erscheinen, dass ich bisweilen, zur Unterstützung meiner Befunde, auf Äußerungen von Autoren zurückgegriffen habe, deren eigene moralphilosophische Auffassungen stark von Kant geprägt sind (Durkheim, Habermas, Tugendhat). Dem Bedenken ist entgegenzuhalten, dass nicht jede Äußerung eines Kantianers spezifisch kantianisch ist. Ich habe hoffentlich viele Kant-unspezifische Zitate erwischt.

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2. Die Kantianische Konzeptualisierung

Eine moralphilosophische Untersuchung sollte die Phänomene vor Augen haben, die sie erhellen möchte, und sie möglichst nicht aus dem Blick verlieren. Bernard Williams ist also darin beizustimmen, »dass man zuallererst den moralischen Phänomenen gegenüber verantwortlich ist, so wie man sie in der eigenen Erfahrung und Vorstellung zu fassen bekommt«. 1 Das im 1. Kapitel dieses Buches gezeichnete Porträt moralischer Forderungen war ein Versuch, diese Einsicht zu beherzigen. Bevor ich im jetzigen Kapitel die kantianische Auffassung moralischer Forderungen darlege, möchte ich mich vergewissern, welchen theoretischen Stellen- und Nutzwert die zuletzt angestrengte phänomenologische Bemühung besitzt.

2.1 Moralphänomenologie und ethische Theorie Von einer Moralphänomenologie darf man nicht zu viel erwarten, und nicht das Falsche. Das Erfassen der eigenen Erfahrung, von dem Williams spricht, bedeutet ja allemal eine Konzeptualisierung. Bloße »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« 2 , sie allein lassen uns nichts sehen. Wir haben die Dinge nicht ohne unsere Beschreibungen von ihnen. Auch nicht-inferenziell gewonnene und relativ risikolos erscheinende Phänomen-›Darstellungen‹ sind begrifflich verfasste Reaktionen auf Wahrgenommenes, behaftet mit dem prinzipiellen Risiko des Irrtums. Denn eine jede Konzeptualisierung, mit der etwas beschrieben werden soll, geschieht im Rahmen einer Meinungsbildung. Unsere zu deskriptiven Zwecken verwendeten Begriffe haben Funktion und Bedeutung nur im Kontext eines Urteils, Phänomenbeschreibungen 1 2

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Vgl. Bernard Williams, Morality: xxi. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (= KdrV): B 75.

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Moralphänomenologie und ethische Theorie

werden im Rahmen von konstatierend verwendeten Sätzen artikuliert. So genannte ›Beobachtungssätze‹, so hat sich herumgesprochen, hängen semantisch und epistemisch von wahrnehmungsferneren, ›theoretischen‹ Überzeugungen ab. Deshalb sind noch so unschuldig aussehende Phänomenbeschreibungen ›theoriegeladen‹ 3 , deshalb sind sie auch nicht »immun gegen Revisionen«. 4 Die ›Sprache der Phänomene‹ ist unser Sprechen über sie. 5 Und dieses Sprechen ist so veränderlich, wie unsere Überzeugungen und Theorien es sind. Die Phänomenologie eines Wirklichkeitsbereichs besteht demnach lediglich in einer Auflistung derjenigen durch ›Beobachtung‹ gewonnen Überzeugungen ihres Verfassers, die er (im erhofften Einklang mit anderen) für unproblematisch hält. Dies gilt nicht weniger für die Phänomenologie der moralischen Welt – wobei hier der Begriff der ›Beobachtung‹ hinreichend weit zu wählen ist, allemal weiter als im klassischen oder Logischen Empirismus. Auch die Moralphänomenologie ist keine bloße Wiedergabe, ist keine vortheoretische und deshalb theoriefreie Reportage moralischer Erscheinungen. Moralphänomenologische Beschreibungen sind nicht weniger ›theoriegeladen‹ als die Konfirmation verheißenden ›Konstatierungen‹ eines Naturwissenschaftlers. Das so genannte ›Gegebene‹ ist auch hier nur ein ›Mythos‹. 6 Auch moralische Phänomenbeschreibungen sind potenzielle Revisionsopfer. 3 Vgl. dazu N. R. Hanson, Patterns of Discovery, besonders das 1. Kapitel, sowie ders., »Observation and Interpretation«. 4 Vgl. dazu den Schlussteil von W. V. O. Quine, »Two Dogmas of Empiricism«. Der Verfasser erläutert dort seinen Theorien-Holismus. Einerseits könne man prinzipiell an jeder Meinung festhalten, komme was da wolle: wenn man seine anderen Auffassungen in geeigneter Weise anpasse. Andererseits sei keine einzige Meinung immun gegen Revisionen. Vgl. a. a. O.: 43. 5 Was wir ›Phänomene‹ nennen, sind nichts weiter als die intentionalen Referenzpunkte derjenigen unserer Beschreibungen, in denen wir gewöhnlich übereinstimmen. Ein Phänomen ist nichts anderes als ein ›deskriptives Zentrum‹, ein Konvergenzpunkt von Beschreibungen. – Diese Sicht der Dinge hat Daniel Dennett in seinem Buch Consciousness Explained entwickelt. Er empfiehlt darin, das ›Ich‹ oder das ›Selbst‹ einer Person als ein ›narratives Gravitationszentrum‹ zu begreifen. Richard Rorty schlägt vor, die These zu verallgemeinern: »ein Pragmatist sollte alle Gegenstände als deskriptive Gravitationszentren begreifen«. Vgl. ders., »Ethics without Principles«: 89, Fn. 15 – Hervorh. HK. Rorty entwickelt diese These ausführlicher in »Daniel Dennett on Intrinsicality«. 6 Dies ist eine Anspielung auf den von Wilfried Sellars so genannten ›Mythos des Gegebenen‹, nämlich die in der Erkenntnistheorie vertraute Annahme eines sinnlich emp-

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Die Kantianische Konzeptualisierung

Dass auch die ›natürlichsten‹ und langlebigsten unserer (moralischen) Beschreibungen revisionsbedroht, mithin nicht alternativlos sind; dass sie ihre Zeit haben und absterben können: diese ›Kontingenz der (moralischen) Sprache‹ 7 hat zur Kehrseite die ›prinzipielle‹ Optionalität 8 unserer Beschreibungsmittel. Die Sprache, die wir für die Beschreibung von (moralischen) Phänomenen wählen, ist tatsächlich gewählt. Sie ist nichts naturhaft Vorgegebenes, an das man sich halten muss. Auch ›die Sprache der Moral‹ ist nicht die Sprache der Moral, wie R. M. Hares meta-ethisches Standardwerk mit seinem Titel suggeriert. Sie lebt und ist lebendig, solange wir sie am Leben erhalten und mit neuem Leben erfüllen. Dies gilt auch für das Finden, oder Erfinden, neuer moralischer Beschreibungen. Angewandt auf die im 1. Kapitel entfaltete Lehnstuhl-Phänomenologie moralischer Forderungen bedeuten diese Überlegungen, dass ich mitnichten sicher sein kann, dass meine Beschreibungen frei und unabhängig von anspruchsvollen moralischen, moraltheoretischen oder anderen theoretischen Annahmen gewesen sind. Und wir können uns keine Sicherheit darüber verschaffen, weil eine scharfe Trennungslinie zwischen Theorie und Wahrnehmung nicht zu ziehen ist. 9 Wir haben diese Unterscheidung nur in klaren Fällen ›ziemlich theoretischer‹ Aussagen, einerseits, und ›ganz unkontroverser‹ Beschreibungen, andererseits. Die variable Theorienladung und die prinzipielle Optionalität phänomenologischer Beschreibungen hat zur Folge, dass nicht jeder, wenn er nur ›die Phänomene‹ auffangenen, nicht-konzeptualisierten Elementes empirischer Erkenntnis. Vgl. ders., Empiricism and the Philosophy of Mind. 7 »Die Kontingenz der Sprache«: So ist das 1. Kapitel von Rortys Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität überschrieben. Die dort entwickelte Auffassung gilt natürlich auch für jene sprachlichen Mittel, mit denen wir die Moral zur Sprache bringen. 8 Auch für die Ethik gilt, »daß wir nur mit Hilfe mehr oder weniger fakultativer Beschreibungen über die Dinge sprechen können«. Vgl. Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis: 68. Rorty betont die Optionalität und die daraus folgende Flexibilität unserer Beschreibungen, auch der moralischen. Gernot Böhme erinnert zusätzlich an die Beharrungskraft des lange Eingespielten. Gewohnheiten (gerade auch die schlechten) wird man nur schwer wieder los. Dies gilt auch für eingefahrene Beschreibungen, die durch den Gewöhnungseffekt als ›natürlich‹ erscheinen. Vgl. ders., Weltweisheit – Lebensform – Wissenschaft, Teil I, 1. Kapitel, das betitelt ist: »Die begriffliche Verfaßtheit der Wirklichkeit«. 9 »[…] doch niemand wüßte zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen«, formulierte weiland ein Weimarer Klassiker. Das gilt auch für moralische Naturphänomene und das Kunsthandwerk der ethischen Theorienbildung. – Das Zitat entstammt J. W. Goethes »Novelle«.

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Moralphänomenologie und ethische Theorie

merksam und unvoreingenommen würdigt, meinen Beschreibungen zustimmen muss. Die allgemeine Konsensfähigkeit der im 1. Kapitel entfalteten Phänomenologie moralischer Forderungen wäre also überraschend. Gleichwohl hege ich die Hoffnung, dass meine Beschreibungen nicht spezifisch für eine bestimmte ethische Theorie gewesen sind. Sollte dies geglückt sein, dann könnten sich zwar nicht alle 10, aber doch verschiedene Ethiken, und Ethiken unterschiedlichen Typs, an dieser Phänomenologie orientieren. Nicht Theoriefreiheit, aber relative Theorieneutralität war bei meinen phänomenologischen Bemühungen das leitende Ziel. Weil man sich in dem Eindruck, nur die theoretisch unschuldigsten Beschreibungen gewählt zu haben, täuschen kann, hat auch die Moralphänomenologie für die Moraltheorie nicht das letzte, sondern nur das erste Wort. 11 Dass man sich hierin zu täuschen vermag, kann im konkreten Fall dadurch verursacht sein, dass wir die ethische Theorie, die in bestimmten Phänomenbeschreibungen steckt, nicht oder nicht mehr gewahren. Letzteres kann dort passieren, wo es sich um eine überaus erfolgreiche und deshalb ins allgemeine Phänomenverständnis hineingewachsene Theorie handelt. In unserem Kulturkreis verhält es sich so mit der christlichen Ethik – und mit vielen, zum Teil auf christlichem Boden gewachsenen, Errungenschaften der Ethik Immanuel Kants. Deshalb lag im 1. Kapitel mein besonderes Augenmerk darauf, bei der Charakterisierung moralischer Handlungsvorschriften wenigstens Kant und der spezifisch Kantianischen Konzeptualisierung dieser Forderungen nicht ins Garn zu gehen. Kants Einfluss auf unser Moralverständnis ist gar nicht zu überschätzen, er reicht möglicherweise bis hinein ins Moralbewusstsein jener Banausen, die den ›Kategorischen Imperativ‹ nicht einmal dem Namen nach kennen. Überdies ist ein großer Teil der zeitgenössischen Moralphilosophie, nicht immer durchgängig bewusst, kantianisch. So könnte sich die landläufige philosophische (wie auch die nicht-philosophische) Lesart ›der‹ moralischen Phänomene durchaus als eine kantianische Moralphänomenologie herausstellen. Die ›Schule der Geläufigkeit‹, mit der wir viele moralisch bedeutsame Im 1. Kapitel habe ich zugegeben, dass die darin entfaltete Phänomenologie moralischer Forderungen eine kognitivistische Schlagseite besitzt. 11 Dies ist eine Abwandlung von Austins berühmtem Diktum über die sog. natürliche Sprache. 10

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Die Kantianische Konzeptualisierung

Sachverhalte herunterklimpern, könnte eine kantianische Lehranstalt gewesen sein. ›Unsere moralischen Intuitionen‹ wären dann Nachwehen ›Seiner‹ Überzeugungen. Die ›Natürlichkeit‹ unserer moralischen Beschreibungen wäre dann bloß das Echo eines Theorieerfolgs von historischer Dimension.

2.2 Kantianisch konzipierte Moralgebote Die Kantianische Konzeptualisierung ist die in unserer Weltgegend dominante philosophische Lesart moralischer Forderungen. Diese Konzeption moralischer ›Forderungen‹ ist Teil einer umfassenderen Vermessung des moralischen Geländes. Zu den (mehr oder weniger umstrittenen) Errungenschaften der Kant’schen Moralphilosophie gehören sein gesinnungsethischer Ansatz 12 , die ›Entdeckung‹ des Kategorischen Imperativs, die Auffassung des Menschen als eines ›Zwecks an sich‹, ein anspruchsvoller Begriff von Freiheit (= Autonomie) sowie die metaphysische Annahme zweier Welten, zur Erklärung der menschlichen Freiheit und der nötigenden Kraft des moralischen Gesetzes. ›Kantianische Konzeptualisierung‹ ist meine Überschrift für diejenigen Eigenschaften, die Kant und seine Nachfolger moralischen Vorschriften zugeschrieben haben. Man kann diese Konzeptualisierung fast durchgängig als eine ›rigoristische Steigerung‹ der im 1. Kapitel entfalteten Phänomenologie betrachten. Für Kant sind moralische Forderungen ›unbedingte‹ Handlungsgebote, die in ›kategorischen Imperativen‹ zum Ausdruck kommen und durchweg ›Pflichten‹ zum Ausdruck bringen. Die Begründung solcher Gebote kann er sich nur als ihre Ableitung aus ›Prinzipien‹, am Ende aus einem ›obersten‹ Moralprinzip, vorstellen. Den im vorigen Kapitel beschriebenen Begründungsanspruch moralischer Forderungen verschärft der ethische Kantianismus ›universalistisch‹. Die von solchen Vorschriften angeblich ausgedrückte unbedingte Handlungsnotwendigkeit ist für Kant ein Hinweis auf ihren ›apriorischen Vernunftcharakter‹. Zum so genannten ›Rigorismus‹ der kantischen Ethik gehört die Annahme der ›ausnahmslosen Gültigkeit‹ moralischer Gebote. Zusammengenommen erzeugen die aufgezählten Charakteristika, durch welche Kant moralische Vorschriften ausgezeichnet sah, den Ein12

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Vgl. dazu H. Köhl, Kants Gesinnungsethik.

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Ihr radikales Andersein

druck, dass diese ›etwas ganz Besonderes‹ sein müssen. Was Wunder, wenn ihr Schöpfer ihnen aufgrund dessen eine ›prinzipielle Vorrangstellung‹ vor allen anderen Handlungsvorschriften zugebilligt hat. Im Rest dieses Kapitels wird zunächst diese, angeblich radikale, ›Alterität‹ moralischer Forderungen erläutert. Es folgt die unterschiedlich ausführliche Entfaltung der anderen, eben aufgeführten Charakteristika der Kantianischen Konzeptualisierung: gestützt auf Verlautbarungen ihres Namensgebers und einiger seiner zeitgenössischen Anhänger. Man tut Kant kaum Unrecht mit der Vereinfachung, dass moralische Forderungen für ihn im wesentlichen unbedingte Vernunftgebote gewesen sind. Die anderen Eigentümlichkeiten kantischer Moralgebote scheinen sich sowohl aus ihrem Vernunftcharakter wie aus ihrer ›Unbedingtheit‹ zu ergeben, welcher Kant ihrerseits noch eine ›Vernunft‹-Stütze zuteil werden ließ. 13 Teilt man die verbreitete Einschätzung, dass die These vom Vernunftcharakter moralischer Vorschriften ihre besten Jahre hinter sich hat, dann bleibt als zentrales Charakteristikum ihrer Kantianischen Konzeptualisierung die sog. ›Unbedingtheit‹ übrig. Der absichtsvoll zurückhaltenden Explikation dieser Unbedingtheit, im gegenwärtigen Kapitel, folgt im 5. Kapitel die gründliche Analyse. 2.2.1 Das radikale Anderssein moralischer Forderungen Eine nahe liegende Weise, verschiedene Forderungsarten voneinander zu unterscheiden, besteht in der Entwicklung von Gesichtspunkten, hinsichtlich deren man Forderungen betrachten kann, und ihrer anschließenden Beschreibung gemäß den entwickelten Hinsichten. So könnte man Vorschriften z. B. nach ihrem Geltungsbereich, der Art ihres Festgelegtseins oder hinsichtlich der sozialen Reaktionen unterscheiden, die mit ihnen verbunden sind. Staatliche Gesetze zum Beispiel gelten mindestens für alle, die sich in einem bestimmten Staatsgebiet aufhalten. Sie sind ebenso in Gesetzbüchern niedergelegt wie die mit ihnen verbundenen Sanktionen. Spielregeln hingegen gelten nur für freiwillige Mitspieler. Nur zum Teil sind sie schriftlich fixiert, wie etwa beim Schach. Die gegebenenfalls zum Diese Auffassung wird im letzten Teil dieses Kapitels (1.3) begründet, in dem die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Kantianischen Konzeptualisierung betrachtet werden.

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Spiel gehörenden Sanktionen sind gewöhnlich spielinterne Strafen oder Belohnungen, schlimme Regelverletzungen können den Spielausschluss nach sich ziehen. Moralische Gebote könnte man demgemäß von diesen und anderen Forderungsarten durch den Hinweis auf ihren Ländergrenzen überschreitenden Gültigkeitsanspruch, ihren gewöhnlich unkodifizierten Status und die informelle Durchsetzungspraxis unterscheiden. Das aber reicht den Anhängern der Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen nicht. Aus deren oben aufgezählten, eindrucksvollen Eigenschaften meinen Kantianer auf den ganz besonderen Charakter moralischer Gebote schließen zu müssen. Nur so finden sie deren ungewöhnliche Durchsetzungsfähigkeit und die außerordentliche Verbindlichkeit, die man ihnen zuschreibt, erklärlich. Die mit Moralvorschriften verbundenen Vorrangsprätentionen kommen ihnen nur begründbar vor, wenn sich eine Kluft zwischen solchen Vorschriften und allen anderen Lebensanforderungen auftut. Deshalb ziehen sie einen dicken Trennungsstrich zwischen moralischen Forderungen einerseits und zum Beispiel Klugheitsgeboten, Regeln der Geschicklichkeit oder der Schicklichkeit auf der anderen Seite. 14 Vertreter der Kantianischen Konzeptualisierung sehen also zwischen dem moralisch Gebotenen und dem sonstwie ›Anempfohlenen‹ keinen bloßen Artunterschied innerhalb ein und derselben Gattung, sondern einen Gattungsunterschied. 15 So wie für Kant das moralisch Gute »ein Gutes aus einem ganz andern Felde« 16 gewesen ist, hat er für das moralische Forderungsspiel eine eigene Spielklasse eingerichtet. Eine Folge dieser Sicht, oder (umgekehrt) mitursächlich für sie, ist die kantianische Auffassung, wonach das ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ in moralischen Forderungen ein ganz anderes ist als bei allen anderen Handlungsanweisungen. Kantianer ziehen erst gar nicht in Betracht, dass es eine allgemeine Analyse von ›Sollens‹- oder ›Müssens‹-SätEine solche Auffassung, der zufolge »morality’s concerns are highly distinctive and sharply opposed to the selfinterested concerns of the individual«, führt Samuel Scheffler auf die Wirksamkeit eines »Ideal of Purity« zurück. Vgl. ders., Human Morality: 6. 15 Kant wählt eine andere Charakterisierung, die auf dasselbe hinausläuft. Moralische und nicht-moralische Forderungen sind für ihn, nicht anders als die ihnen korrespondierenden Maximen, nicht »bloß dem Grade nach«, sondern »wesentlich, d. i. der Art nach, unterschieden«. Vgl. ders., »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (= Gemeinspruch’): 282. 16 Vgl. ders., a. a. O.: 283. 14

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zen geben könnte, mit den moralischen als einer ausgrenzbaren Unterart. Vielmehr erscheint es ihnen als natürlich, dass sich das angeblich dramatische Anderssein moralischer Gebote auch darin manifestiert, dass sie eine eigene Art von praktischer Notwendigkeit zum Ausdruck bringen, eine genuin »moralische Notwendigkeit«. 17 Die spezifische Differenz des von ihm als selbstverständlich angenommenen ›moralischen Müssens‹ markiert Kant mit dem Wörtchen ›unbedingt‹, dessen vorläufiger Erläuterung der nächste Kapitel-Abschnitt gewidmet ist. Zum jetzigen Abschnitt gehört aber noch die folgende Feststellung. Gerade die Art, in der Kant die angebliche ›Unbedingtheit‹ von Moralvorschriften auffasst, macht sie zu etwas ›ganz Anderem‹. Die Differenz zwischen unbedingten und bedingten Handlungsgeboten – so wie er sie erläutert, um die Differenz zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen herauszubringen –, ist tatsächlich all the difference in the world. 2.2.2 Unbedingt und kategorisch Moralische Forderungen sind für Kant und seine Anhänger unbedingte Handlungsgebote. Sie drücken, wenigstens in ihrer kantianischen Lesart, eine ›unbedingte (oder auch absolute) praktische Notwendigkeit‹ (416 18 ) aus. 19 Ihnen ist, wie gesagt wird, ›unbedingt‹ zu folgen. 20 Nach kantianischer Lehrmeinung kommen unbedingte moralische Forderungen in ›kategorischen Imperativen‹ zum Ausdruck (414 ff.). 21 Deren prominentester ist der Kategorische Imperativ. Vgl. ders., KprV: 81 – Hervorh. HK. Die in den Text dieses Kapitels eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf Kants Grundlegung (= GMS). 19 »[…] nur das [moralische] Gesetz führt den Begriff einer unbedingten […] Notwendigkeit bei sich«, im Gegensatz zu einer prudentiellen »Notwendigkeit […] unter subjektiver zufälliger Bedingung« […]; dagegen der kategorische Imperativ […] als absolut- […] notwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann.« Vgl. GMS: 416 – letzte Hervorh. HK. Vgl. Georg Simmels Rede von dem »absolute[n] Charakter, den das sittliche Sollen in jedem einzelnen seiner Akte an sich trägt«. Vgl. ders., Einleitung in die Moralwissenschaft. Erster Band: 46. 20 Kant drückt das im eben zitierten Satzzusammenhang so aus: »[Moralische] Gebote sind Gesetze, denen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muß«. Vgl. a. a. O. – Hervorh. HK. 21 Vgl. zum Verhältnis von ›unbedingten‹ Geboten und ›kategorischen‹ Imperativen im 5. Kapitel den Abschnitt 5.1.: Kategorische Imperative. 17 18

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Ihm ist in Kants Ethik eine Doppelrolle zugedacht. Selber ein kategorischer Imperativ, ist er die oberste Moralvorschrift, das allgemeinste Moralprinzip. Diese Spitzenstellung qualifiziert ihn, zweitens, zur höchsten moralischen Beurteilungsinstanz. Durch seine Anwendung soll es durchgängig möglich sein, einzelne Handlung(sabsicht)en und Maximen, spezifische Moralgebote und minderrangige ethische Prinzipien moralisch zu evaluieren. Die Rede vom ›Unbedingten‹ und ›Kategorischen‹ ist keine ausschließlich philosophische Domäne. Vielmehr ist die Alltags-Rhetorik des ›Unbedingten‹ und ›Kategorischen‹ ubiquitär; man höre nur einmal Nachrichtensendungen daraufhin an. Die moralphilosophische Rede von ›unbedingten‹, ›kategorischen‹ Geboten kann mithin an gebräuchliche Redeweisen und vertraute Vorstellungen anknüpfen: ›Diesen Job musst du unbedingt annehmen!‹ ›Du musst unbedingt das verlangte Schutzgeld bezahlen!‹ In beiden Fällen signalisiert die beschworene ›Unbedingtheit‹ ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. ›Wenn du kulturell nicht abgehängt werden willst, musst du unbedingt einen Internet-Zugang besitzen!‹ 22 Mit der in solchen Äußerungen beschworenen ›Unbedingtheit‹ wird die Dringlichkeit, die Wichtigkeit, die höchste Priorität oder die rationale Alternativlosigkeit des jeweils Geforderten zum Ausdruck gebracht. Auch die kantianische Rede von kategorischen Imperativen kann an alltägliche Redeweisen anschließen. Eine ›kategorische Verurteilung‹ lässt keine mildernden Umstände gelten, ›kategorische Feststellungen‹ wollen Bedenkenträgerei ausschließen. Wer in der deutschen Politik eine Große Koalition ›kategorisch ablehnt‹ oder ›kategorisch ausschließt‹, will damit glaubhaft machen, dass ihm die Zustimmung zu derlei demokratischen Zumutungen unter keinen Umständen zu entlocken ist. Wer etwas ›kategorisch verlangt‹, will keine Bedingungen kennen, unter denen er seine Forderung zurückzuziehen bereit wäre. In all diesen Fällen fungiert das ›Kategorische‹ als ein »Modus des Gebietens« 23 . Es wird damit eine besondere EntTreue ist gut, unbedingte Treue wird häufig verlangt. ›Wahre‹ Liebe ist unbedingt, mithin ›bedingungslos‹ : Ein wahrhaft Liebender stellt keine Bedingungen für seine Hingabe. – Der ›unbedingte Gehorsam‹, den ein Befehlshaber verlangt, ist in dem Sinne ›unbedingt‹, dass es aus seiner Sicht keine Bedingungen gibt, unter denen ihm eine Gehorsamsverweigerung als erlaubt erscheint. 23 »Modus des Gebietens« ist eine Formulierung von Günther Patzig. Vgl. ders., »Die 22

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schiedenheit der Fordernden zum Ausdruck gebracht, oder eine Ausschließlichkeit des Geforderten. Eine solche Charakteristik hat Kant zunächst für den rein logischen Charakter ›kategorischer Urteile‹ festgehalten. 24 Von dort her hat er seine meta-ethische Redeweise von ›kategorischen Imperativen‹ genommen. Wie das damit in Erinnerung gerufene Alltagsgerede vom ›Unbedingten‹ und ›Kategorischen‹ zeigt, konnte Kant an vertraute Vorstellungen und Redeweisen anknüpfen mit seiner Auffassung, dass »der sogenannte moralische Imperativ […] als ein solcher kategorisch und unbedingt erscheint« (419). Aber auch zeitgenössischen Philosophen ist diese kantianische Auffassung nichts anderes als selbstverständlich. »[M]oralische, das heißt: unbedingte Forderungen«, findet Habermas. Der »kategorische Sinn moralischer Verpflichtungen« steht für ihn so wenig in Frage wie ihr »kategorischer Geltungsanspruch«. 25 »Verpflichtungen [wie sie, Habermas zufolge, allemal von einem moralischen Gebot ausgedrückt werden, sind] […] mit einem unbedingten Geltungsanspruch verknüpft«. 26 Ihm zufolge verlangt die Moral nach »unbedingter moralischer Rücksichtnahme«. 27 Der Einsatz der kantischen Unterscheidungen prägt auch die folgende Feststellung desselben Autors: Eine »Selbstbindung des Willens« an »technische Regeln der Geschicklichkeit oder pragmatische Ratschläge der Klugheit«, oder an »starke Wertungen« 28 , ergebe keine »Normativität« in einem »moralischen Sinn«. Sie ergebe »Imperative und Empfehlungen«, die »nur eine bedingte Gültigkeit beanspruchen« könnten. Letztere »gelten nur unter der Voraussetzung subjektiv gegebener Interessenlagen bzw. intersubjektiv geteilter Traditionen. Eine unbedingte oder kategorische Geltung erlangen moralische Verpflichtungen erst dadurch, daß sie sich […] von allen logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik«: 103. Patzig charakterisiert damit aber nicht die Common-sense-Rede von ›Unbedingtheit‹ und ›Kategorizität‹. Vielmehr meint er damit die Hinsicht anzugeben, in der sich Kants kategorische Imperative von hypothetischen unterscheiden. Dieser Interpretation wird im 5. Kapitel widersprochen. 24 »In kategorischen Urtheilen ist nichts problematisch, sondern alles assertorisch«. Vgl. Kant, Logik (Jaesche), § 25: 105. Zur Charakterisierung kategorischer Urteile bei Kant, vgl. a. a. O.: §§ 23 f. Vgl. auch die Urteilstafel in der KdrV: B 95. 25 Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 35 (für die ersten beiden Zitate) und 15, Hervorh. HK. – Es ist freilich unklar, was mit ›kategorischer Geltung‹ gemeint sein kann. Moralische Forderungen haben einfach häufig eine kategorische Form. 26 Vgl. ders., ›Erläuterungen‹ : 136 – Einf. und Hervorh. HK. 27 Vgl. ders., ›Betrachtung‹ : 36 – Hervorh. HK. 28 Vgl. dazu Charles Taylor, z. B. »What is human agency?« A

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zufälligen Bestimmungen emanzipieren«. 29 Der Annahme eines kategorisch-unbedingten Charakters moralischer Forderungen werden von Habermas große theoretische Lasten aufgebürdet: Ein »absoluter Vorrang des Gerechten vor dem Guten« (den er für ›unbedingt‹ erforderlich hält) hat, ihm zufolge, »den kategorischen Geltungssinn moralischer Pflichten« zur Voraussetzung. 30 – Wie Habermas hat auch Tugendhat konstatiert, dass »die Moral es mit eigentümlichen, irgendwie absoluten Verpflichtungen zu tun hat« 31 , wie sie, auch seines Erachtens, von einer jeden Moralvorschrift ausgedrückt werden. Die Anschlussfähigkeit der kantianischen Reden vom ›Unbedingten‹ und ›Kategorischen‹ an den allgemeinen Sprachgebrauch darf aber nicht über wichtige Unterschiede hinwegtäuschen. Die kantianischen Redeweisen unterscheiden sich signifikant vom Alltagsgebrauch dieser Ausdrücke, und zwar in zwei Hinsichten. Einerseits ist die Art, in der wir ›gewöhnlich‹ von ›kategorisch-unbedingten‹ Forderungen reden, nicht moralspezifisch: wie meine Beispiele gezeigt haben sollten. 32 Zum anderen sind viele dieser Forderungen, Vgl. Habermas., ›Betrachtung‹ : 47 f. – Hervorh. HK. Vgl. ders., a. a. O.: 41 – Hervorh. HK. 31 Vgl. Tugendhat, VüE: 40 – Hervorh. HK. Dass hier und andernorts in dieser Untersuchung Jürgen Habermas und Ernst Tugendhat als ›Kantianer‹ gehandelt werden, heißt natürlich nicht, dass sie Kants Ethik in allem unterschreiben würden. So haben beide nichts übrig für dessen aprioristische Auffassung moralischer Präskriptionen, wie sie in diesem Kapitel im Abschnitt 2.2.7 dargestellt wird. Ebensowenig teilen sie Kants vernunftethische Konzeption. Tugendhat reicht ein ›aristotelischer‹ Vernunftbegriff, Habermas ersetzt Kants reine praktische Vernunft durch eine ›kommunikative‹. Er hängt zwar noch an Kants Autonomie-Begriff, ist aber bestrebt, ohne dessen metaphysische Unterfütterung auszukommen. Anzukreiden ist Habermas und Tugendhat, dass sie nichts bzw. wenig unternommen haben, um den Sinn kantischer ›Unbedingtheit‹ aufzuklären. Habermas scheint nicht einmal das Bedürfnis zu verspüren, die Rede von ›unbedingten‹ Handlungsgeboten zu explizieren. Er schreibt so, als handele er damit vom Selbstverständlichsten in der Welt. Tugendhat hingegen bringt die Vorstellung von nicht-bedingten Sollsätzen vorschnell in Verbindung mit dem Vernunfthintergrund der kantischen Ethik und erklärt ein absolutes Vernunft-Sollen für »sinnwidrig«. Vgl. ders., VüE: 44. Vgl. dazu im TugendhatAbschnitt des 3. Kapitels der vorliegenden Untersuchung den Anfangsteil. 32 Auch ein Amoralist kann kategorisch-unbedingt verlangen, dass die Philosophie in ›Internationales Ideen-Design‹ umbenannt wird. – Max Frischs ›Herr Biedermann‹ hat ein amoralisch anmutendes »kategorisches Bedürfnis, Ruhe und Frieden zu haben«, und ist deshalb den fried- und ruhelosen Brandstiftern hilflos ausgeliefert. Vgl. ders., Herr Biedermann und die Brandstifter. Hörspiel. »Wo bleibt die kategorische Ablehnung des Bestehenden?« fragt die Süddeutsche Zeitung in ihrem Feuilleton vom 17. September 1998. Das SZ-Feuilleton ist vergesslich. 29 30

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kantisch gesprochen, hypothetische Imperative. Die ›unbedingt‹ formulierten Notwendigkeiten des bürgerlichen Heldenlebens stehen gewöhnlich unter Zweckbedingungen. Mein Internet-Beispiel war von dieser Art. Der ›unbedingte‹ Sprachgestus ist bei solchen ›hypothetisch-unbedingten‹ Aufforderungen nur der dramatisierende Hinweis auf ein ›hochqualifiziertes‹ Mittel zu einem für wichtig erachteten Zweck; ein Mittel, das (vor-) dringlich zu ergreifen ist oder als einziges in Frage zu kommen scheint. Den neuen Woody AllenFilm muss man ›unbedingt‹ gesehen haben: wenn man kulturell auf dem Laufenden sein will. ›Du musst unbedingt abnehmen, zunächst einmal aber musst du unbedingt das Schutzgeld bezahlen!‹ – falls du das Rentenalter oder wenigstens die nächste Woche noch erleben willst. Zweckbedingte Unbedingtheit, in allen solchen Fällen. Mithin ist die Moralisierung des Unbedingten, und die exklusive ›Kategorisierung‹ moralischer Forderungen, eine Königsberger Spezialität. Im Rest des jetzigen Kapitel-Abschnitts versuche ich ein vorläufiges Verständnis kantianischer ›Unbedingtheit‹ zu gewinnen und die ins Auge springenden Probleme anzureißen, die der Begriff einer Forderungs-›Unbedingtheit‹ aufwirft. Die kantianische Rede von ›kategorisch-unbedingten‹ Forderungen lebt vom Kontrast zu ›bedingten‹ Geboten resp. ›hypothetischen‹ Imperativen. Letztere ergehen unter Bedingungen, in Gestalt individueller Zwecksetzungen der Forderungsadressaten, von denen die Erforderlichkeit des damit Geforderten abhängt. 33 Ein Handeln, das nicht unter solchen Zweckvoraussetzungen erfolgt, nennt man deshalb bisweilen zweckfrei. Da individuelle Zwecksetzungen in einer kantianisch-hobbesianischen Vorstellungswelt gerne mit ›Eigennutz‹ assoziiert werden, nennt man ein moralisch-unbedingt gefordertes Handeln auch uneigennützig. Da ›bedingte‹ Forderungen das Ausführen von Handlungen unter der Bedingung verlangen, dass ihr Adressat einen damit erreichbaren Zweck erstrebt, kann man sich eine solche Vorschrift ›vom Hals schaffen‹, indem man jene Zwecksetzung aufgibt: »[…] weil, Denn schon am 20. 3. d. J. wusste der damalige Feuilleton-Chef der ›Süddeutschen‹, Claudius Seidl, die moralisch neutrale Antwort: »Pop formuliert, solange er neu und schnell klingt, die kategorische Unversöhnlichkeit mit dem Bestehenden.« Hervorh. HK. 33 Eine ausführlichere Charakterisierung ›hypothetischer Imperative‹ wird im 5. Kapitel gegeben. Vgl. dort den Abschnitt 5.3.: Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten. A

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was bloß zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu tun notwendig ist, an sich als zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los sein können, wenn wir die Absicht aufgeben« (420). Da nach Kantianischer Lehrmeinung moralische Forderungen solche sind, die Handlungen nicht unter der Bedingung ihrer Zweckdienlichkeit verlangen, kann man sich ihrer auch nicht entledigen, indem man eine bestimmte Zwecksetzung aufgibt. Sie sind also in dem Sinne ›unbedingte‹ Gebote, dass das von ihnen vorgeschriebene Verhalten unabhängig von subjektiven Zwecksetzungen verlangt wird. Die soeben gegebene ›Unbedingtheits‹-Erklärung handelt ihren Befürwortern zwei Probleme ein, die man lösen muss, will man den Charakter (ggf. nur bestimmter) Moralgebote durch ihre angebliche ›Unbedingtheit‹ spezifizieren. Zum einen handelt es sich dabei bloß um eine ›negative‹ Explikation (es wird gleich deutlicher werden, was damit gemeint ist). Zum anderen kann eine bloß negative ›Unbedingtheits‹-Exposition die Kraft und Verbindlichkeit der als ›unbedingt‹ charakterisierten Forderungen nicht verständlich machen. (a) Das Explikationsdefizit. Moralische Forderungen sollen, anders als die ›unbedingten‹ Forderungen des Alltagslebens, wirklich ›un-bedingt‹, mithin ›nicht-bedingt‹ von vorausgesetzten Adressatenzwecken sein. Die Bindestrich-Schreibweise des ›Unbedingten‹ lässt deutlicher werden, dass die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung zunächst einmal nur eine negative Charakterisierung ist. Diese sagt uns nur, was moralische Forderungen angeblich nicht sind, wovon sie angeblich nicht abhängen. Das Kreuz, das man mit dem Unbedingten hat, ist seine positive Explikation. Soll man sagen, dass eine Forderung, die ›un-bedingt‹ von Adressatenzwecken ist, vielleicht durch etwas anderes ›bedingt‹ ist? Wenn ja, wodurch? Und wäre dann die Rede vom ›Unbedingten‹ noch angebracht? Wäre eine andersgeartete ›Bedingtheit‹ vereinbar mit dem moralischen Charakter einer Forderung? Oder sollen wir annehmen, moralische Forderungen ergingen gänzlich bedingungslos? Was hätte eine solche ›Irrelationalität‹ zu bedeuten? – Wem sich das Sprachgefühl bei der Vorstellung sträubt, ein Negativum wie die Un-Bedingtheit einer Forderung müsse auch positiv zu charakterisieren sein, wird gleichwohl die folgendermaßen veränderte Fragestellung nicht abweisen können: Wie denn ist jener Charakterzug moralischer Forderungen, der mit dem Ausdruck ›unbedingt‹ anvisiert wird, positiv zu beschreiben? 80

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(b) Unersichtliche Verbindlichkeit. Zu dem Problem, das man mit dem Verständnis der einer Forderungs-›Unbedingtheit‹ hat, gesellt sich das Rätsel der angeblich besonderen Kraft und Verbindlichkeit unbedingter Moralgebote. Kant meinte offenbar, man könne die Kraft moralischer Vorschriften mit ihrem unbedingten Charakter erklären. So, wenn er schreibt: »[…] so bleibt doch jenes [moralische] Gesetz […] in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch [= unbedingt] gebietend ist«. 34 Eine bloß negative Explikation von ›Unbedingtheit‹ vermag aber die Kraft und die Verbindlichkeit moralisch-unbedingter Gebote nicht verständlich zu machen, geschweige denn deren angeblich besondere Kraft und vorrangige Verbindlichkeit. Warum nicht? Bei ›bedingten‹ Forderungen beruht deren Durchsetzungskraft offenbar auf der vom Forderungsadressaten gesehenen Tauglichkeit der geforderten Handlung zum Erreichen eines Zieles, das er selber anstrebt – und darauf, dass er es anstrebt. Diese Bedingungsabhängigkeit kann man als eine Schwäche solcher Forderungen betrachten. Entzieht man ihnen, indem man besagtes Ziel aufgibt, ihren Bezugspunkt, ist die Forderung nicht nur kraftlos, sondern hinfällig. Von dieser Schwäche können unbedingte Forderungen nicht angekränkelt werden. Denn wo keine Bedingung ist, kann keine entfallen. Hierin liegt wohl ein Teil der Attraktivität, welche die Vorstellung einer Forderungs-›Unbedingtheit‹ besitzt. Diese Attraktivität hat aber eine Kehrseite. Denn solange die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung nur negativ, als die Abwesenheit abhängig machender und disponibler Bedingungen verstanden wird, kann man in keiner Weise verstehen, woher diese Forderungen irgend eine Kraft und Verbindlichkeit haben sollen. Bei ›bedingten‹ Forderungen kann man dies verstehen. Dort resultiert die Kraft der Forderung aus ihrem Zweckbezug. Ihre Schwäche, die man in ihrer Abhängigkeit von optionalen Zwecken sehen kann, ist zugleich eine Stärke: solange ein gewisser Zweck verfolgt wird. Die geforderte Handlung ist hier ein Mittel, um etwas zu realisieren, was der Forderungsadressat selber erreichen will. Ein hypothetischer Imperativ ›hat es insofern gut‹ : er hat gegebenenfalls den Willen des damit Angesprochenen, und somit die motivationale Kraftquelle, auf seiner Seite. Hingegen eröffnet die nur negativ verstandene ›Unbedingtheit‹ einer Forderung, in Ermangelung eines 34

Vgl. Kant, GMS: 439 – Einf. und Hervorh. HK. A

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Halt gebenden Bezugspunktes, dieser keinerlei Anschluss an einen Kraftspender. 35 Eine bedingte Forderung hängt in der Luft, wenn man ihr die stützende Voraussetzung entzieht. Immerhin aber nur dann. Eine unbedingte Forderung hängt hingegen, so wie es bislang aussieht, allemal in der Luft. 36 Da sich die beschriebene Schwierigkeit einer ›Verbindlichkeits‹-Erklärung daraus ergibt, dass wir bisher nur über eine negative ›Unbedingtheits‹-Erklärung verfügen, wird man eine positive Explikation praktischer ›Unbedingtheit‹ brauchen: wenn Aussicht darauf bestehen soll, die Kraft eines unbedingten Gebotes zu erklären. – Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden beschriebenen Schwierigkeiten (und ihrer Auflösung) ist demnach ein spezieller Fall des Verhältnisses, in dem zwei der Leitfragen einer Theorie moralischer Forderungen zueinander stehen, die ich in der Einleitung unterschieden habe. Gemeint sind die Fragen (1.) nach den Charaktereigenschaften moralischer Vorschriften und (2.) nach dem ›Grund ihrer Verbindlichkeit‹. Seinerzeit, in der Einleitung, habe ich plausibel zu machen versucht, dass man sich eine Antwort auf die zweite Frage in erster Linie von einer Antwort auf die erste, also von einer ›Charakterstudie‹ jener Forderungen erwarten wird. Analog verhält es sich, wo es um das Verhältnis der ›Verbindlichkeit‹ einer als unbedingt charakterisierten Forderung zum ›Verständnis‹ jener Unbedingtheit selber geht, die nach kantianischer Lehrmeinung moralische Handlungsanweisungen auszeichnet: Gebraucht wird zunächst einmal ein positives Unbedingtheits-Verständnis. Kant sah dieses Problem in aller Deutlichkeit, das darin besteht, dass sich ein unbedingtes Gebot anscheinend »auf keine Voraussetzung stützen kann« (419). 36 »[…] ist ein hypothetischer Imperativ die bedingte Forderung einer Handlung […] [, und] ein kategorischer Imperativ eine unbedingte Forderung […,] wird diese Auffassung dem grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Arten von Forderungen nicht gerecht«, schreibt Günther Patzig. (Vgl. ders., a. a. O.: 110.) Denn »daraus würde folgen, daß bei erfüllten Voraussetzungen die Verbindlichkeit beider Imperative gleich dringend wäre und ein Verstoß gegen beide moralische Mißbilligung finden müßte – und das gilt nun offenkundig nicht.« Vgl. ders., a. a. O.: 108. – Man ist geneigt, Patzig Recht zu geben. Andererseits scheint sein Punkt vorauszusetzen, dass man die Verbindlichkeit eines kategorisch-unbedingten Imperativs versteht, die von einem hypothetischen Imperativ mit erfüllter Zweckbedingung (den Kant einen ›assertorischen‹ nennt: vgl. GMS: 415 f.) mit ersterem geteilt würde. Davon aber kann zunächst einmal keine Rede sein. Solange man über keine ›positive‹ Explikation des angeblich ›unbedingten‹ Charakters moralischer Forderungen verfügt, wird man den ›intuitiv‹ gesehenen Unterschied in der Verbindlichkeit zwischen moralisch-unbedingten und nicht-moralisch hypothetischen Handlungsvorschriften nicht zu fassen bekommen. 35

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Pflicht

Worin dieses bestehen könnte, wird erst im 5. Kapitel deutlich werden, in welchem in aller Ausführlichkeit von der Kant’schen Konzeption der ›Unbedingtheit‹ moralischer Forderungen zu handeln ist. 2.2.3 Pflicht Die kantische Ethik ist eine moralphilosophische Pflichtveranstaltung. »Pflicht« ist für Kant ein »erhabener großer Name […], vor dem alle Neigungen verstummen« 37 und verstummen müssen. Diese viel belächelte Apostrophe der Pflicht ist der ernst gemeinte Ausdruck eines Denkens, das eines jeden Menschen »Pflicht und Schuldigkeit« gegenüber dem »moralischen Gesetze« 38 ins Zentrum der Moral und der Moraltheorie gestellt hat. Ungünstig ausgestattet für die ›Eroberung des Glücks‹, können wir Menschen, Kant zufolge, nur auf Nummer Sicher gehen, indem wir uns wenigstens um die »Würdigkeit glücklich zu sein« 39 bemühen: durch pünktliche Pflichterfüllung. Es gehört zur kantischen Pflichtethik 40 , dass sie den ›moralischen Wert‹ menschlicher Handlungen davon abhängig macht, dass sie allein »aus Pflicht« geschehen und »ohne alle Neigung« (398). 41 Eine »Pflicht« könne »nur in kategorischen Imperativen, keineswegs aber in hypothetischen ausgedrückt werden« (425). Der oberste der kategorischen Imperative, also der Kategorische Imperativ, ist für Kant »das Prinzip aller Pflicht«. 42 Was aus diesem Prinzip (mittels seiner Anwendung auf Handlungsmaximen) abgeleitet wird, sind

Vgl. ders., KprV: 86. Vgl. ders., a. a. O.: 82. 39 Vgl. ders., a. a. O.: 110 – Hervorh. HK; vgl. auch den ›Gemeinspruch‹ : 278, Fn. **. 40 Kant hat »jede praktische Philosophie« als »Pflichtenlehre« verstanden. Vgl. ders., MdS: 375. – Auch für Habermas ist die Moral etwas, das »uns […] zunächst sagt, wozu wir verpflichtet sind«. Vgl. ders., »Zur Legitimation durch Menschenrechte«: 171. – Harry Frankfurt ist zwar in etlichen Punkten um kritische Distanz zu Kant bemüht (vgl. die Frankfurt-Darstellung im 3. Kapitel). Aber auch er definiert die Ethik mit Bezug auf Pflichten: »Die Ethik konzentriert sich auf das Problem, unsere Beziehung zu anderen Personen zu ordnen. Sie beschäftigt sich besonders mit dem Unterschied zwischen Richtig und Falsch und mit den Grundlagen und Grenzen moralischer Verpflichtungen.« Vgl. ders., »The importance of what we care about«: 80. 41 Vgl. zu Kants ›aus Pflicht‹-These ausführlich: H. Köhl, Kants Gesinnungsethik, 3. Kapitel. 42 Vgl. Kant, GMS: 425 – Hervorh. HK. 37 38

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für ihn allemal ›Pflichten‹. 43 Ein Gebot der Pflicht verlangt nach kantischer Auffassung »unbedingten Gehorsam«. 44 An zweien der eben zitierten Bestimmungen ist abzulesen, dass für eine kantisch verstandene Pflicht das Merkmal des Unbedingten konstitutiv ist. So definiert er denn auch: »Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein«. 45 Nur durch das Merkmal des Unbedingten vermag die Kantianische Konzeptualisierung eine moralische Verpflichtung von den Verbindlichkeiten der Klugheit oder der Geschicklichkeit zu unterscheiden. Die ›unqualifizierte‹ Notwendigkeit einer Handlung allein, und sei sie noch so ›objektiv‹, macht die geforderte Handlung nicht zur ›Pflicht‹. Eine solche Notwendigkeit wird, Kant zufolge, auch von hypothetischen Imperativen ausgedrückt (413 ff.). Ein Handlungsversäumnis ist bei ihnen keine Pflichtverletzung, sondern allenfalls ein Ärgernis oder eine Dummheit. Es ist erst das Kontrastmittel des ›Unbedingten‹, was nach kantischer Lehrmeinung ein praktisches Erfordernis eine »moralische Notwendigkeit« 46 oder eine »moralische Nötigung« 47 sein lässt und was es damit zu einem Verpflichtetsein macht. Für Kant bringt eine jede moralische Vorschrift eine Verpflichtung zum Ausdruck. Dies muss er deshalb sagen, weil zum einen sein Unterscheidungsmerkmal moralischer von nicht-moralischen Forderungen die ›unbedingte‹ Notwendigkeit ist, die er allein in ersteren ausgedrückt sieht; und weil er zum anderen ›Pflichten‹ (wie eben gesehen) als ›unbedingte‹ Handlungsnotwendigkeiten definiert hat. Die spezifische »Notwendigkeit der [moralisch gebotenen] Handlung« ist für ihn »praktische Nötigung d. i. Pflicht«. 48 Diese ›Pflichtversessenheit‹ der kantischen Ethik erfährt im 6. Kapitel meiner Schrift verdiente Kritik. 49 Kants Auffassung, dass moralische Forderungen allemal Verpflichtungen ausdrücken, wird von manchen heutigen Kantianern Vgl. GMS: 421–424. Vgl. ders., ›Gemeinspruch‹ : 279: »[…] das Pflichtgebot in seinem ganzen, unbedingten Gehorsam fordernden […] Ansehen«. 45 Vgl. ders., GMS: 425 – Hervorh. HK. 46 Vgl. ders., KprV: 81 – Hervorh. HK. 47 Vgl. ders., a. a. O.: 32. 48 Vgl. ders., GMS: 434 – Einf. HK. 49 Vgl. im 6. Kapitel der vorliegenden Untersuchung den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht, sowie die Darstellung verschiedener Kritiken an einer Pflichtethik in Köhl, »Vertrauen als zentraler moralischer Begriff?«. 43 44

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Prinzipien

bekräftigt. So meint etwa Habermas: »Sollsätze sind die zentralen Elemente der Sprache, in denen sich die Moral zu Wort meldet. Diese Sätze bringen Verpflichtungen zum Ausdruck.« 50 Für Tugendhat ist die »Klärung des ›muß‹ oder ›soll‹, das in den moralischen Urteilen enthalten ist, […] identisch mit der Klärung des eigentümlichen Verpflichtungscharakters der moralischen Normen«. Denn: »das Moralische«, oder »mindestens ein Teil davon ist offensichtlich in dem Verpflichtungscharakter enthalten, der im ›muß‹ zum Ausdruck kommt«. 51 Auch die seines Erachtens besondere Durchschlagskraft moralischer Forderungen meint Kant nur durch deren angeblichen Pflichtcharakter erklären zu können: »Der Begriff der Pflicht […] ist nicht allein […] für jedermann zum praktischen Gebrauch faßlicher […] als jedes von der Glückseligkeit hergenommene […] Motiv […]; sondern auch […] bei weitem kräftiger, eindringender und Erfolg versprechender als alle von dem letzteren eigennützigen Prinzip entlehnte Bewegungsgründe.« 52 Kant begründet dieses ›Kraftgefälle‹ mit dem ungewissen Ausgang aller Glücksbestrebungen, und stellt dem die Gewissheit gegenüber, mit der wir angeblich unsere Pflicht erkennen. 53 Auch Habermas behauptet eine »spezifisch bindende Kraft [moralischer …] Normen« und eine »über die Bindekraft der Klugheit hinausreichende Verbindlichkeit moralischer Verpflichtungen«. 54 2.2.4 Prinzipien Die kantische Moral ist eine Prinzipienethik. Dies zeigt sich unter anderem an seiner moralischen Begründungsvorstellung. Wie wir im 1. Kapitel gesehen haben, erlauben und erfordern moralische ForVgl. Habermas, ›Erläuterungen‹ : 143 – Hervorh. HK. Vgl. Tugendhat, VüE: 40 – Hervorh. HK. 52 Vgl. Kant, ›Gemeinspruch‹ : 286. 53 Vgl. Kant, ›Gemeinspruch‹ : 286 f., sowie GMS: 402. 54 Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 16 und 24 – Hervorh. HK. Horkheimer und Adorno mobilisieren gegen die kantianische Hoffnung auf eine besondere Durchsetzungskraft moralischer Vorschriften hobbesianische Skepsis: »Der Bürger, der aus dem kantischen Motiv der Achtung vor der bloßen Form des Gesetzes allein einen Gewinn sich entgehen ließe, wäre […] ein Narr.« Vgl. dies., Dialektik der Aufklärung: 92. Das »Motiv der Achtung vor der bloßen Form des Gesetzes«, von dem im Zitat die Rede ist, ist ko-extensional mit dem Motiv, aus Pflicht zu handeln. Aber nur ko-extensional. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Motive. Vgl. dazu Köhl, Kants Gesinnungsethik, 4. Kapitel: 124 ff. 50 51

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derungen eine Begründung. Die Vorstellung, wonach Moralvorschriften auf Gründe bezogen sind, wird in deren Kantianischer Konzeptualisierung präzisiert und dadurch verengt. Ihr zufolge besteht die Begründung moralischer Gebote ›im Prinzip‹ in der Anwendung moralischer Prinzipien. 55 Moralische Gründe sind ihr zufolge in erster Linie Prinzipien-Gründe. Für eine Prinzipienethik ›steckt‹ hinter einer jeden begründbaren moralischen Forderung, und hinter jedem begründeten moralischen Urteil, ein Prinzip. Moralische Prinzipien sind nach kantischer Lehrmeinung die Legitimationsbasis für speziellere Moralvorschriften. Während solche ›Gebote‹ durch die Anwendung von Prinzipien gerechtfertigt werden, sind moralische Grundsätze nur durch höhere Prinzipien, also mittels allgemeinerer Grundsätze zu begründen. Man rechnet in diesem Modell mit einer wohlgeordneten Prinzipienwelt, in Gestalt einer klaren Rang- und Befehlsordnung moralischer Grundsätze. Der Begründungstransfer zwischen den Rängen geschieht durch ein deduktives Räsonnement. Das oberste moralische Prinzip ist für Kant und die Seinen der ›Kategorische Imperativ‹ – oder ein ähnlicher ›Universalisierungsgrundsatz‹. Ein solches moralisches Oberprinzip dient auch als letzte Appellationsinstanz bei der Begründung konkreter moralischer Forderungen, es ist das moralische ›Rechtfertigungsprinzip‹ 56 . Das Problem für eine ethische Begründungskonzeption, der zufolge moralische Gebote durch moralische Prinzipien gerechtfertigt werden, und diese durch noch allgemeinere Prinzipien, liegt auf der Hand. Es droht ein Begründungsregress 57 : insoweit jedenfalls, wie alle gründespendenden Prinzipien ihrerseits als begründungsbedürftig erscheinen. Wie will man, im Rahmen einer solchen Konzeption, ein oberstes Prinzip begründen? Als Regress-Stopper könnte nach Lage der Dinge nur ein Ober-Prinzip taugen, das niederrangige Moralprinzipien und -gebote zu begründen ermöglichte – und das ein Bedürfnis nach seiner Begründung nicht aufkommen ließe. 58 Die Begründung einer moralischen Forderung geht bei Kant genau genommen durch die Anwendung moralischer Prinzipien auf eine Handlungsmaxime vonstatten, die (seines Erachtens) einer (geforderten) Handlung immer zugrunde liegt. 56 Vgl. Habermas, a. a. O. 57 Auch G. J. Warnock entwickelt dieses Problem, aber nur für stipulierte moralische Regeln. Das Problem besteht aber auch unabhängig von dieser Einschränkung. – Vgl. ders., The Object of Morality: 51 f. 58 Vgl. zum Folgenden im 6. Kapitel den Abschnitt 6.2: Prinzipienfixierung, sowie den 55

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Prinzipien

Ein oberstes Moralprinzip mit den erhofften Eigenschaften möchte ich ein Schneewind-Prinzip nennen. J. B. Schneewind selber spricht von einem »klassischen ersten Prinzip«. 59 Solch ein Grundsatz muss im folgenden Sinne »fundamental oder basal« sein: Andere Prinzipien […] dürfen ihre Gültigkeit von einem solchen ersten Prinzip herleiten, es selber aber muss ein Ursprungsquell für die Autorität niedriger angesiedelter Teile der Moral sein. Es darf hinsichtlich seiner bindenden Kraft nicht umgekehrt von anderen […] Prinzipien abhängen. Es muss eine vorgängige oder basale Gültigkeit oder Autorität […] besitzen, eine weder abgeleitete noch sonstwie abhängige Kraft. 60

Das kantische Sittengesetz ist, dem Anspruch und Vernehmen nach, ein solches Prinzip. Ließe sich plausibel machen, dass es die geweckten Erwartungen erfüllt und tatsächlich ein »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« 61 formuliert, stieße der Spaten hier auf Fels, wäre ein Weitergraben nach zusätzlichen Gründen unnötig. – So sieht es bei Kant selber aus. In der kantianisch inspirierten Diskursethik ist es der ›transzendentale‹ Status eines diskurstheoretisch interpretierten ›Universalisierungsprinzips‹ – als der angeblich unleugbaren Voraussetzung eines jeden vernünftigen Gesprächs –, das dem Begründungsregress ein Ende setzen soll. Von der Prinzipienorientiertheit der kantischen Ethik kann man einen Bogen schlagen zu deren vernunftethischem Charakter. 62 Als Brücke fungiert dabei jener kantische Vernunftbegriff, demzufolge die praktische Vernunft als ein »Vermögen der Prinzipien« aufzufassen ist. 63 Dieser Begriff, verbunden mit einer hierarchischen Ethikkonzeption, macht die kantische Ethik zu einer ›Vernunftmoral eines Einen Ersten Prinzips‹. Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten. 59 Vgl. Schneewind, »Moral Knowledge and Moral Principles«: 250. 60 Vgl. ders., a. a. O. Erst das Erfülltsein dieser Bedingung macht, Schneewind zufolge, ein Moralprinzip zu einem ›klassischen ersten Prinzip‹. Zuvor muss es bereits drei andere Eigenschaften haben, die es für Schneewind zunächst einmal (nur) zu einem »klassischen Moralprinzip« machen. Die drei gefragten Eigenschaften sind 1. seine relative Kontextfreiheit, und damit seine weitgefächerte und vielfältige Anwendbarkeit; 2. seine ausnahmslose Gültigkeit; 3. seine Substanzialität. Mit Letzterem ist gemeint, dass man aus einem solchen Prinzip konkrete moralische Schlussfolgerungen ziehen können muss. 61 Vgl. Kant, KprV, § 7, Überschrift: 30 – Hervorh. HK. 62 Vgl. dazu unten in diesem Kapitel den Abschnitt 2.2.6: Apriorische Vernunftgebote. 63 Vgl. Kant, KdrV: B 355 f. A

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Nicht nur für die Begründung moralischer Forderungen werden in der kantischen Ethik Prinzipien strapaziert. Auch für die Zuschreibung ›moralischen Wertes‹ hält sie einen Prinzipienbezug für erforderlich. Ein Handeln ist für Kant nur dann moralisch wertvoll, wenn es nicht nur gesetzmäßig, und d. h. prinzipiengemäß, sondern zuletzt ein Handeln aus Grundsätzen, nämlich »um des Gesetzes willen«, ist. 64 Moralische Prinzipien sind für Kantianer nicht nur (allgemeine) ›unbedingte‹ Gebote. 65 Sondern ihr ›unbedingter‹ Charakter ist auch nicht anders als durch moralische Prinzipien zu explizieren, genau genommen durch moralische Prinzipiengründe. Das mag hier zunächst als bloße These stehen. Deren Begründung wird im 5. Kapitel nachgereicht. Unter der problematischen Annahme, dass es so etwas wie ein moralspezifisches ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ gibt, liegt es für Kantianer nahe, auch bei dessen Explikation auf moralische Prinzipien zurückzugehen. Wenn man z. B. (wie Tugendhat) meint, man könne ein solches ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ nur mit Hilfe moralischer (Gefühls-) Reaktionen verstehen; und wenn diese Reaktionen als Feedback auf die Verletzung moralischer Prinzipien (Tugendhat: ›Normen‹) aufzufassen sind: Dann scheint auch dieses ›Sollen‹, als ein moralisches, nur mit Bezug auf Prinzipien verständlich zu sein. 66 Selbst die schlichte Verständlichkeit ›des moralischen Phänomens‹ sehen manche Kantianer von dessen Prinzipienbezug abhängen. Die ›moralische Verletzung‹ einer anderen Person ist für Habermas erst dadurch und nur deshalb moralisch bedeutsam, weil »in der Person des Betroffenen zugleich eine unpersönliche, jedenfalls überpersönliche […] Erwartung verletzt« wurde. Ihren »moralischen Charakter« verdanke eine solche Verletzung »dem […] Verstoß gegen eine zugrunde liegende normative Erwartung, die […] für alle Angehörigen einer sozialen Gruppe, im Falle streng moralischer Normen sogar für alle zurechnungsfähigen Aktoren überhaupt, Geltung hat«. 67 Das Unmoralische an der Verletzung eines anderen Lebewesens wäre demnach eine moralische Regelverletzung. Moralische Vgl. Kant, KprV: 71. »Betrachten wir den Fall moralischer Normen, die sich in der Form von unbedingten universellen Sollsätzen formulieren lassen«, fordert Habermas seine Leser auf. Vgl. ders., ›Diskursethik‹ : 70 – Hervorh. HK. 66 Vgl. Tugendhat, VüE, 2. Vorlesung. 67 Vgl. Habermas, a. a. O.: 58. 64 65

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Prinzipien

Verletzungen wären in erster Linie Verletzungen von Prinzipien. Die Verletzung eines Lebewesens wäre nur insofern eine moralische Verletzung, als dabei ein Prinzip verletzt wird. Sogar die moralischen Gefühlsreaktionen auf eine Verletzung sind für Habermas in erster Linie Reaktionen auf einen Regelverstoß. Mit dem »moralischen Kern« 68 solcher Gefühle meint er ihren Prinzipienbezug: »Gefühle der Schuld und der Verpflichtung weisen über den Partikularismus dessen, was einen Einzelnen in einer bestimmten Situation betrifft, hinaus. Wären die Gefühlsreaktionen, die sich in bestimmten Situationen gegen einzelne Personen richten, nicht mit jener unpersönlichen Art von Entrüstung verbunden, die sich gegen die Verletzung von generalisierten Verhaltenserwartungen oder Normen richtet, würden sie eines moralischen Charakters entbehren.« 69 Mit der ›Verletzung von generalisierten Verhaltenserwartungen oder Normen‹ ist hier die Verletzung eines normativen Prinzips gemeint. Die Schuldgefühle eines Übeltäters gelten, nach Habermasens Lesart, offenbar nur insofern dem moralisch Gekränkten, als dieser als ›Stellvertreter‹ für das eigentlich zu versichernde Prinzipiengut erscheint. Weil man ein Prinzip verletzt hat, würde man sich, demgemäß, schuldig fühlen. Nur abgeleiteterweise würde sich das moralische Gefühl auf das Opfer richten. Diese befremdliche Auffassung 70 kann man als ein spätes (man möchte meinen: fatales) Echo auf Kants These begreifen, wonach das moralische Gefühl der Achtung sich primär auf das moralische Gesetz richtet – und nur in der Konsequenz auch auf Personen (401, Fn.). Man kann verstehen, dass die übertriebene Liebesbeziehung, die Kant und die Seinen zu Prinzipien unterhalten, Empörung und WiVgl. ders., a. a. O.: 58. Vgl. ders., a. a. O.: 58 f., zweite und dritte Hervorh. HK. – Habermas zufolge ist das verletzte Moralprinzip jeweils eines, das »Geltung hat« und auf dessen Verletzung jemand nur moralisch reagieren kann, »wenn dieser erkennt«, dass damit ein Prinzip verletzt wurde (vgl. ders., a. a. O.: 58 – Hervorh. HK.). Habermas kann sich also die Beweislast für seine wohl doch gewagte Prinzipienunterstellung nicht durch die Annahme erleichtern, für die moralischen Akteure und Reakteure lägen diese Prinzipien bisweilen hinter einem ›veil of ignorance‹. 70 Im Rahmen seiner Diskussion von Schopenhauers Mitleidsethik wirft selbst Tugendhat, meistenteils ein Prinzipienethiker, die Frage auf: »Hat Schopenhauer nicht recht, daß wir nur diejenige Handlung als eine ›echt moralische‹ ansehen, die nicht aus einem Prinzip, sondern spontan aus der unmittelbaren Teilnahme erfolgt?« Vgl. ders., VüE: 184. 68 69

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derspruch auszulösen vermag. Hier unter anderem stößt sich der ethische Kantianismus mit tief sitzenden moralischen Intuitionen. Eine zeitgenössische Reaktion auf derart ›prinzipielle‹ Zumutungen sind Ansätze zu einer Ethik persönlicher Beziehungen. Diese stellen der ›herzlos‹ wirkenden kantianischen Prinzipienreiterei die moralischen Dimensionen des Familienlebens, von Liebespartnerschaften und Freundschaften entgegen, mithin das fürsorgliche Aufeinanderbezogensein von konkreten Menschen aus Fleisch und Blut. 71 2.2.5 Universalismus Nach kantianischer Auffassung haben moralische Gebote (und Prinzipien) ›universalistische Implikationen‹. Wir beziehen uns damit ›irgendwie‹ auf alle. ›In welcher Weise?‹, und ›wer sind alle?‹ 72 , lauten daraufhin die nahe liegenden Fragen. »Das moralische Universum«, mithin der Einzugsbereich moralischer Forderungen, »erstreckt sich auf alle natürlichen Personen«, befindet der bekannteste zeitgenössische Universalist, Jürgen Habermas. 73 Ein andermal bestimmt er den Referenzbereich moralischer Normen als die Gesamtheit zurechnungsfähiger Wesen. 74 Kant hat stattdessen von allen ›vernünftigen‹ Wesen gesprochen. Tier- und Naturethiker möchten solche ›speziezistischen‹ Positionen transzendieren. Dem Klärungsbedarf in diesem Punkt können sich universalistische Moralkonzeptionen nicht verschließen. Der Ausformulierung einer universalistischen Auffassung moralischer Forderungen steht ein weiteres, nicht minderes Problem im Wege. Die Rede vom dem ›moralischen Universalismus‹ ist unterVgl. dazu u. a. die von der Kohlberg-Kritikerin Carol Gilligan ausgehende feministische ›care ethics‹ (vgl. dies., Die andere Stimme) sowie die an Hegels früher Anerkennungsphilosophie orientierte Liebes-Analyse von Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe. Vgl. auch Axel Honneths Ansätze zu einer Anerkennungsethik, z. B. in: »Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung«. – Vgl. ebenso die Freundschaftsethik von Lawrence A. Blum, in: Friendship, Altruism, and Morality, sowie dessen Aufsatzsammlung Moral Perception and Particularity. – Auch das wieder aufgelebte Interesse an Moral Sense-Ethiken und an der Theorie moralischer Gefühle kann man als Reaktionsbildung auf den Prinzipien-Kantianismus verstehen. 72 Vgl. Tugendhat, »Wer sind alle?«, ein Aufsatz, in dem sich der Autor mit der Einbeziehung der Tiere ins moralische Universum abquält. Vgl. dazu unten, in diesem Kapitel-Abschnitt, die lange Tugendhat-Fn. 73 Vgl. Habermas, »Zur Legitimation durch Menschenrechte«: 172. 74 Vgl. Habermas, ›Diskursethik‹ : 58. 71

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komplex. Damit ist jetzt nicht gemeint, dass Philosophen wie Kant, Hare, Tugendhat, Apel oder Habermas in ihren Universalismus-Formulierungen voneinander abweichen und einzelne von ihnen zwischen verschiedenen Bestimmungen schwanken können. Vielmehr gibt es den Universalismus auch deshalb nicht, weil man verschiedene Formen oder Arten desselben unterscheiden kann und muss. Hat man diese unterschieden, steht man vor der Frage nach ihren Beziehungen zueinander, der Frage nach Abhängigkeiten zwischen ihnen, nach Prioritäten und dem jeweiligen moralphilosophischen Gewicht. Eine moralische Forderung ›erstreckt sich auf alle‹ in verschiedenen Hinsichten und als Inhaber verschiedener Positionen im moralischen Forderungsspiel. Die verschiedenen Formen des Universalismus ergeben sich aus den unterschiedlichen Rollen, welche die an diesem Spiel Beteiligten einnehmen. Mindestens die folgenden Funktionsstellen sind dabei zu besetzen: 1. die Rolle des Fordernden (Forderungsautors), 2. die Rolle von Forderungsadressaten, 3. die von Begründungsadressaten; 4. die Rolle von Zustimmungssubjekten, von denen die moralische Akzeptabilität des Geforderten abhängen mag, 5. die von Forderungsklienten. Hinsichtlich jeder dieser Rollen lässt sich eine Frage formulieren, auf die eine ›universalistische‹ Antwort möglich ist. Für jede der so generierten universalistischen Positionen stellt sich die Frage: Wer sind ›alle‹ ? – Im einzelnen: 1. Der Universalismus der Forderungsautoren gibt eine Antwort auf die im 1. Kapitel berührte Frage, wer alles dazu berechtigt ist, andere mit moralischen Forderungen zu konfrontieren. 2. Der Universalismus der Forderungsadressaten formuliert eine weit ausgreifende Antwort auf die Frage, von wem alles das moralisch Geforderte verlangt wird. Die angebliche ›Universalität‹ des moralischen Adressatenkreises hat Kant mit der Behauptung zum Ausdruck gebracht, dass moralische Gebote eine »allgemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur in unbeschränkte Achtung bringen« wollen. 75 Es ist dieser Universalismus der Forderungsadressaten, der zum Beispiel im Menschenrechte-Diskurs mit asiatischen Staaten zur Debatte steht. 3. Der Universalismus der Begründungsadressaten ist noch einmal zweigeteilt. Er gibt eine universalistische Antwort auf die Frage, wem gegenüber ein moralisch Fordernder seine Forderung ›meint be-

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gründen zu können‹ (3.1); oder er beantwortet die Frage, wem gegenüber er sie ›begründen (können) muss‹ (3.2). Beide Varianten des Begründungsuniversalismus beinhalten eine Verschärfung der Begründungsansprüche, die ich im 1. Kapitel mit moralischen Forderungen verbunden gesehen habe. Die erste Variante verschärft dabei die ›subjektive‹ Seite: Wer von sich erwartet, dass er eine moralische Forderung gegenüber allen begründen kann, den kann man einen selbstbewussten Begründungsuniversalisten nennen. Die zweite Variante des Begründungsuniversalismus verschärft die Anspruchshaltung der moralischen Gemeinschaftsmitglieder an einen moralisch Fordernden – und dessen epistemische Obliegenheiten ihnen gegenüber. Wer derart meint, ein Fordernder müsse seine Forderung gegenüber allen (Vernünftigen oder Diskursfähigen oder Betroffenen?) rechtfertigen können, darf als normativer Begründungsuniversalist bezeichnet werden. – Insofern es bei beiden Varianten dieses Universalismus jeweils um Ansprüche eines Forderungsautors an sich selbst oder um Forderungen an ihn geht, könnte man auch hier von Formen eines ›Autorenuniversalismus‹ sprechen. Den soeben an zweiter Stelle eingeführten ›normativen‹ Begründungsuniversalismus findet man ebenfalls von Kant vertreten. Ihm zufolge fordert man mit einer Moralvorschrift zu Handlungen auf, die in dem Sinne »gut« sein sollen, dass sie »aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind«, vorzuziehen sind (413). 76 Der an erster Stelle eingeführte ›selbstbewusste‹ Begründungsuniversalismus wird maßgeblich von Habermas vertreten. Ihm zufolge sind moralische Gebote und Normen allemal mit einem ›universellen Geltungsanspruch‹ verbunden. »Das transzendierende Moment allgemeiner Geltung sprengt alle Provinzialität«. Die ›Geltung‹ moralischer Normen expliziert Habermas als »beanspruchte Gültigkeit«, mithin als die Behauptung von deren Begründbarkeit. 77 4. Der Universalismus der Zustimmungssubjekte beantwortet die Frage, wovon, und das heißt hier: von wem alles die moralische Auch für Tugendhat »muß eine Norm«, »wenn sie eine moralische sein soll«, »wirklich allen gegenüber begründet sein«. Vgl. ders., ›Letitia‹ : 19. 77 Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: 375. Auch für Tugendhat gehört zu moralischen Forderungen ein universeller »Begründetheitsanspruch«, ein dabei beanspruchtes »Begründenkönnen gegenüber anderen, und d. h. dann letztlich: gegenüber beliebigen anderen. Das […] bildet die Grundlage der Rede von ›universellen Geltungsansprüchen‹«. Vgl. ders., »Überreden und Begründen«: 245 f. – Hervorh. HK. 76

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Akzeptabilität einer Forderung abhängt – und auf welche Weise. Lautet die Antwort auch hier: ›von allen‹ (vernünftigen oder zurechnungsfähigen oder betroffenen oder leidensfähigen Wesen?), dann ist sie universalistisch. Wird die moralische Akzeptabilität einer Forderung von der Zustimmung aller abhängig gemacht, haben wir jenen Zustimmungsuniversalismus, den Habermas als ›Formalismus‹ bezeichnet hat. 78 Kant hat diesen Universalismus der Zustimmungssubjekte, in einer Variante seines Kategorischen Imperativs, als die Forderung formuliert, man müsse »seine Maxime jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen […] Wesens […] nehmen« (438). Diskurstheoretisch reformuliert ist dies die Behauptung, dass nur solche Forderungen moralisch akzeptabel sind, welche »die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden können«. 79 5. Der Universalismus der Forderungsklienten macht ein generöses Angebot, und zwar als Antwort auf die Frage, wer alles moralische Rücksicht verdient und wem alles durch das moralisch Geforderte geholfen werden soll. Um diesen Klientenuniversalismus geht es zum Beispiel in der Tierethik und in der darüber hinausgehenden Naturethik. Um den Kreis ernst zu nehmender moralischer Schützlinge geht es ebenfalls bei der Frage, ob Flüchtlinge in der Bundesrepublik moralisch für voll genommen werden; ob ihnen also die verfassungsmäßig verbriefte Menschenwürde zugebilligt wird und ihnen die Grundrechte uneingeschränkt zustehen. Für jede der unterschiedenen Universalismusvarianten stellt sich die Frage, wie weit der ›universelle Bereich‹ gefasst wird. Die Antwort ›alle‹ ist so lange nichtssagend, wie sie nicht spezifiziert wird. ›Alle‹, das kann sinnvollerweise nur heißen: ›alle X‹. Dabei ist zu fragen, wie weit jeweils der Bereich des Ausdrucks ›alle‹ sinnvollerweise gefasst werden kann, und wie weit er gefasst werden sollte: Vgl. Habermas, ›Hegels Einwände‹ : 12. – Dieser Universalismus drückt nicht aus, was (angeblich) zu einer jeden moralischen (vs. nicht-moralischen) Forderung selber gehört (dass man meint, sie gegenüber allen begründen zu können / dass man meint, sie gegenüber allen begründen (können) zu müssen). Sondern er besagt, was von ihr zu fordern ist, damit sie als moralisch akzeptabel (vs. inakzeptabel) betrachtet werden kann. Diese Differenzierung separiert die unter 3. beschriebenen Varianten eines Begründungsuiniversalismus vom jetzt exponierten ›Zustimmungsuniversalismus‹, der auch ein ›Begründungsuniversalismus‹ ist. 79 Vgl. Habermas, a. a. O. 78

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im Horizont moralischer oder moraltheoretischer Desiderate. Die dafür erforderliche Stück-für-Stück-Untersuchung ist im Rahmen dieses Kapitel-Abschnitts nicht zu leisten. Ebensowenig ist hier eine erschöpfende Darstellung der Zusammenhänge zwischen den unterschiedenen Universalismus-Formen möglich. Allemal ist Vorsicht geboten bei dem Versuch, Schlüsse von einer zu einer anderen Form des Universalismus zu ziehen, mithin eine Auskunft über den fraglichen Bereich ›aller‹ auf andere Universalismus-Varianten zu übertragen: So muss man der Versuchung widerstehen, vom ›Universalismus der Forderungsadressaten‹, oder vom ›normativen Begründungsuniversalismus‹, derart eine Brücke zum ›Klienten‹-Universalismus zu schlagen, dass man vom Kreis der Begründungs- oder Forderungsadressaten auf den Umfang der moralischen Schutzgemeinschaft schließt. Kann doch eine Gemeinschaft von Menschen, die ein bestimmtes Verhalten voneinander fordern und die sich für ihr Verhalten gegenseitig begründungspflichtig sind, begründetermaßen entscheiden, auch oder sogar nur Nicht-Mitglieder in ihre Obhut zu nehmen. Man denke bloß an Tierschutzvereine. Genau so fragwürdig ist der hurtige Übergang vom ›Zustimmungs‹-Universalismus zum Umfang des moralischen Klientenstamms. 80 Tugendhat hat nicht zwischen verschiedenen Formen des Universalismus unterschieden, so wenig wie Kant und Habermas. Dies hat bei Tugendhat zur Folge, dass er unreflektiert von seinem universalistischen Kriterium für die moralische Akzeptabilität von Handlung(snorm)en übergeht zu einer These über den (Klienten-) Kreis derer, welche moralische Rücksichtnahme verdienen. (Vgl. ders., VüE, die 5. und die 9. Vorlesung, dort besonders: 187.) Er bewerkstelligt dies dadurch, dass er die moralische Akzeptabilität einer Forderung von dem Gutsein eines Menschen ›als Mensch‹ her bestimmt. Dieses, von Tugendhat ›moralisch‹ genannte Gutsein besteht für ihn im Gutsein als Kooperationspartner gegenüber allen anderen Kooperationspartnern, welches sich im Befolgen gemeinschaftlicher Normen manifestiere. Mit dem eben kursiv gesetzten Passus baut Tugendhat den Umfang des Universums moralischer Klienten in das Kriterium moralischen Gutseins mit ein. Von dem Referenzbereich des so gefassten moralischen Gutseins sind Tiere klarerweise ausgeschlossen. Sie sind keine, oder doch keine vollwertigen, Kooperationspartner. Ein zweites Manöver, durch das Tugendhat zu einer Restriktion des moralischen Klientenbereichs auf Menschen (und damit zum Ausschluss der Tiere als Vollmitglieder im Kreis moralischer Schützlinge) gelangt, ist seine problematische Festsetzung des ›Begriffs einer Moral‹. Diesem Begriff zufolge sind »moralische Normen, wenigstens in ihrem Kern, etwas Wechselseitiges« (vgl. ders., ›Letitia‹ : 85). Wechselseitig sind einerseits die Forderungen (in der Gemeinschaft moralischer Forderungsadressaten). Wech-

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Am ehesten möchte man einen direkten Zusammenhang annehmen zwischen normativem Begründungsuniversalismus und dem Universalismus der Forderungsadressaten. Nur von solchen Adressaten einer Forderung scheint man deren Befolgung verlangen zu können, denen gegenüber sie begründet werden kann und die eine Begründung erwarten dürfen. Man müsste demnach, unter universalistischen Annahmen, eine Forderung gegenüber allen begründen können, um von allen ihre Befolgung verlangen zu dürfen. Wer immer dabei ›alle‹ wären, es scheint sich um dieselben handeln zu müssen. Um etwa von allen Staaten die Einhaltung der UN-Menschenrechts-Konvention fordern zu dürfen, müsste man deren Inhalt gegenüber einem jeden Staat begründen können. Was als so selbstverständlich anmutet, ist es aber höchstens unter den Bedingungen einer ›modernen‹, ›aufgeklärten‹, ›demokratischen‹ Moral. Es ist nicht automatisch so, dass die Klasse der Forderungsadressaten nicht größer ist als die Gemeinschaft derjenigen, denen gegenüber eine Forderung begründet werden muss. Die Anbindung des Adressatenuniversalismus an die Erfordernisse des norselseitig ist auch die Haltung der ›Achtung‹ oder des ›Nicht-Instrumentalisierens‹, welche die Mitglieder der moralischen ›Adressaten‹- und ›Zustimmungs-Gemeinschaft‹ voneinander verlangen (vgl. VüE, 5. Vorlesung). Tiere können da nicht mithalten, weder was das Einnehmen einer solchen Achtungshaltung, noch was jene Gegenseitigkeit überhaupt angeht. Wer den Bereich des ›Moralischen‹, wie Tugendhat, so definiert, dass darunter nur das Verhalten zu reziprozitätsfähigen Lebewesen fällt, der muss Tiere als (vollwertige) moralische Klienten abschreiben und sie ›prinzipiell‹ als ›moralische Outlaws‹ behandeln, die bestenfalls auf menschliche (allemal supererogatorische) Gutmütigkeit hoffen dürfen. Die Kritik an Tugendhats Auffassung kann an dem oben im Haupttext in Erinnerung gerufenen Sachverhalt ansetzen, dass Übereinkünfte innerhalb einer Forderungs- und Begründungsgemeinschaft ›Pflichten‹ gegenüber Nicht-Mitgliedern begründen können. Darüber hinaus wirft Tugendhats Schlussfolgerung auf einen ›speziezistisch‹ eingeschränkten moralischen Klientenkreis auch ein kritisches Licht auf sein Kriterium moralischer Akzeptabilität und auf seinen ›Begriff einer Moral‹. Wenn man, anders als er, das moralische Gutsein von etwas Gefordertem als dessen Begründbarkeit durch anerkannte moralische Gründe auffasst und – anders als Tugendhat – als Bezugspunkt der Begründung nicht nur die Interessen möglicher Begründungs- oder Forderungsadressaten gelten lässt: dann folgt daraus seine Beschränkung des moralischen Klientenkreises nicht. Es bleibt dann, anders als bei Tugendhat, offen, ob Tiere und andere Wesen, die keine oder keine vollwertigen Kooperations- und Diskussionspartner, Forderungssubjekte und -adressaten sind, gleichwohl einen begründbaren Anspruch auf moralische Rücksichtnahme und Unterstützung haben. – Vgl. dazu auch die anders akzentuierte Tugendhat-Kritik von Angelika Krebs in »Moral und Gemeinschaft«, die dabei zu einem ähnlichen Ergebnis kommt. A

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mativen Begründungsuniversalismus ist vielmehr eine relativ junge, von elitären oder autoritären Bedürfnissen ständig gefährdete Errungenschaft der Aufklärungsmoral und des politischen Liberalismus. 81 Innerhalb des Begründungsuniversalismus spricht alles für eine Priorität der normativen Variante gegenüber der ›selbstbewussten‹ Version. Der selbstbewusste Begründungsuniversalismus ist, als ein bloßer Anspruchsuniversalismus, an und für sich ein moralisches Leichtgewicht. Dass jemand den ›Anspruch‹ erhebt, eine Forderung gegenüber allen begründen zu können, hat wohl zu bedeuten, dass er meint, eine solche Begründungsleistung erbringen zu können, dass er sich diese zutraut und dass er zu einer Begründungsbemühung bereit ist. 82 Es ist jedoch fraglich, ob solche Prätentionen moralisch besonders bedeutsam sind. Die nachweisliche Fähigkeit, eine Forderung gegenüber möglichst vielen Gesprächsteilnehmern zu begründen, hat moralisch sicherlich mehr zu bedeuten. Hingegen ist es für eine nicht-elitäre und nicht-autoritäre Moral zwingend, dass zu einer moralischen Forderung die weitere Forderung (anderer) an deren Autor gehört, das Geforderte zu begründen – oder wenigstens begründen zu können. Dem selbstgewissen Beanspruchen der eigenen Begründungskompetenz steht eine Begründungspflicht des Forderungsautors gegenüber. Diese Verpflichtung besteht gegenüber allen, die legitime Begründungserwartungen hegen. – Angesichts der dargelegten Priorität des normativen Begründungsuniversalismus gegenüber dem selbstbewussten ist es nicht ohne Pikanterie, dass der ›Anspruchsuniversalismus‹ von Habermas (der den normativen Begründungsuniversalismus anscheinend außer Acht gelassen hat) im Zentrum der zeitgenössischen Ethik-Diskussion steht. 83

Den beschriebenen Zusammenhang zwischen normativem Begründungsuniversalismus und Adressatenuniversalismus behauptet auch Tugendhat, freilich als einen a-historischen Zusammenhang, also ohne den nötigen Modernitäts-Index. Er schreibt: (i) »[…] daß nicht nur ich nicht, sondern auch kein anderer diese Normen übertreten darf [Adressatenuniversalismus], […] darin liegt (ii), daß die normative Praxis allen anderen gegenüber genauso begründet sein muß« [normativer Begründungsuniversalismus]. Vgl. ders., ›Letitia‹ : 19 – eingefügte Ziffern und eingefügter Klammerausdruck: HK. 82 Vgl. dazu meine Erläuterung des Ausdrucks ›Begründungsanspruch‹ im 1. Kapitel dieser Schrift, im Abschnitt 1.6: Begründungsaspekte moralischer Forderungen. 83 Dies gilt weitgehend auch für die auf Habermas fixierte Universalismus-Kritik von Rorty in ›Aussagen‹. 81

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Unausweichlichkeit

Was das Verhältnis ›des‹ moralischen Universalismus zu anderen Merkmalen der Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen anlangt, so kann, nach der vollzogenen Diversifikation des ersteren, von einem solchen Verhältnis nicht mehr sinnvoll die Rede sein. Kant sah ein wechselseitiges Implikationsverhältnis zwischen dem angeblich unbedingten Charakter moralischer Forderungen und deren ›universellem‹ Adressatenkreis: »Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein; sie muß also [sic!] für alle vernünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ zutreffen kann) gelten«. 84 Umgekehrt schließt Kant von der »Allgemeinheit, mit der sie [das sind: moralische Gesetze] für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen«, auf »die unbedingte Notwendigkeit, die ihnen dadurch [sic!] auferlegt wird«. 85 Den hier behaupteten Zusammenhang zwischen praktisch-moralischer Unbedingtheit und dem Adressatenuniversalismus kann man sich durch die folgende Überlegung klar machen: Wenn eine (›bedingte‹) Forderung von einem vorausgesetzten Zweck abhängt, dann schränkt dies ihren Adressatenkreis auf diejenigen ein, welche den betreffenden Zweck verfolgen. Das Entfallen des Zweckbezugs, in einer unbedingten Forderung, kann man deshalb als die Entschränkung ihres Adressatenkreises auffassen. In diesem Sinne scheinen ›unbedingte‹ Moralgebote ihre ›uneingeschränkte‹, mithin ›universelle‹ Befolgung zu verlangen. 86 2.2.6 Unausweichlichkeit Von der angeblichen ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Forderungen war bereits im 1. Kapitel die Rede. 87 Denn der Eindruck, dass man Moralvorschriften zu befolgen hat, ›komme, was da wolle‹, ist auch im moralischen Common sense verbreitet. Seinerzeit habe ich zwischen einer ›psychologisch verspürten‹ und einer ›epistemischen‹, sachlich begründeten Unausweichlichkeit unterschieden. 88 Kant Vgl. Kant, GMS: 425 – Hervorh. und Klammerausdruck HK. Vgl. ders., GMS: 442 – Hervorh. und Klammerausdrücke HK. 86 Es scheint bloß so: wie sich im 5. Kapitel bei der Entfaltung des kantischen ›Unbedingtheits‹-Konzepts zeigen wird. 87 Vgl. im 1. Kapitel den Abschnitt 1.1: Merkmale moralischer Forderungen: Unausweichlichkeit, kaptivierender Charakter, Durchsetzungsfähigkeit. 88 Das hier mit ›epistemischer Unausweichlichkeit‹ Gemeinte trifft Samuel Scheffler mit seiner Erläuterung der angeblichen ›overridingness‹ des Moralischen. Er referiert 84 85

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meinte in erster Linie die letztere. Er glaubte schlagende Gründe dafür zu haben, dass das moralisch Geforderte etwas ist, »was man sich zur Absicht seines Tuns und Lassens unnachlaßlich setzen soll«. 89 Nur von Forderungen, die als berechtigt gelten können, wird er gewollt haben, dass sie ihren Adressaten als unausweichlich erscheinen. Sah er doch moralische Handlungen als »durch Vernunft unnachlaßlich geboten« an. 90 ›Durch reine praktische Vernunft‹ : so hat man dies zu lesen. Denn es ist am Ende das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« 91 , das ein moralisches Handeln ›unnachlasslich gebietet‹. – Es ist dieser spezielle Vernunftbezug, der bei der ›kantischen‹ Unausweichlichkeit moralischer Gebote zu dem vor-kantischen Verständnis jener Unausweichlichkeit hinzukommt, das im 1. Kapitel Thema war. Der moral- und vernunftwidrige Freiheitsgebrauch erscheint aus dieser Sicht der Dinge als willkürlicher Trotz, als ein Mangel an vernünftiger Selbstbestimmung. Von hierher versteht sich der von Kantianern gewohnheitsmäßig erhobene Heteronomie-Vorwurf gegenüber allen Versuchen, »wider jene strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre […] Strenge, in Zweifel zu ziehen und sie womöglich unseren Wünschen und Neigungen angemessen zu machen«. 92 Solches ›Vernünfteln‹ ist für »the traditional view that morality is overriding, where that is understood to mean that it can never be rational knowingly to do what morality forbids«. Vgl. ders., Human Morality: 7. 89 Vgl. Kant, KprV: 5 – Hervorh. HK. Kant hebt den Ausdruck »soll« hervor. 90 Kant, GMS: 408 – Hervorh. HK. Vgl. Ralph C. S. Walker, »The Rational Imperative: Kant Against Hume«: 115. 91 Vgl. Kant, KprV, § 7, die Überschrift – Hervorh. HK. 92 Vgl. Kant, GMS: 405 – Hervorh. HK. – Philippa Foot schreibt: »[…] moral judgments […], they say [mit ›they‹ meint sie Kantianer], tell us what we have to do whatever our interests or desires, and by their inescapability they are distinguished from hypothetical imperatives«. (Vgl. dies., ›Hypothetical Imperatives‹ : 160, Hervorh. und Einf. HK.) In Erinnerung daran, dass auch nicht-moralische Forderungen, z. B. Benimm-Regeln, als ›unausweichlich‹ beschrieben werden können, antizipiert sie als kantianische Replik: »But morality is supposed to be inescapable in some special way«. Vgl. dies., a. a. O.: 162 – Hervorh. HK. Bernard Williams charakterisiert kantianische Moralkonzeptionen mit der Feststellung: »Moral obligation is inescapable.« »[…] once I am under the obligation, there is no escaping it«.Vgl. ders., ›Ethics‹ : 177 – Hervorh. HK. Wie im Abschnitt 2.2.3 dieses Kapitels dargestellt, werden für Kantianer von moralischen Forderungen allemal ›Pflichten‹ zum Ausdruck gebracht. Weshalb Williams’ Charakterisierung des kantianischen ›Moral‹-Systems die dazugehörige These von der Unausweichlichkeit moralischer Forderungen impliziert.

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Kant das Produkt einer ›natürlichen Dialektik‹, zu der wir bedauerlicherweise einen »Hang« haben (405). Die angenommene ›rationale Unausweichlichkeit‹ der moralisch geforderten Handlungen hat als Kehrseite die angebliche ›Unverletzlichkeit‹ der moralischen Forderungen selber, mithin das Gebot ihrer ausnahmslosen Befolgung. Kantisch konzipierte Moralvorschriften gelten, wenn sie gelten, ohne Ausnahme. 93 Von ihnen kann es, jedenfalls für ›die Rigoristen in der Moral‹ (Schiller), keine respektablen Ausnahmen geben. »Jede Regel hat eine Ausnahme«, meinte zwar, mit bekannter Bonhomie, ein anderer Preuße: Theodor Fontane. ›Nicht moralische Regeln‹, lautet darauf die Königsberger Replik. Eine berechtigte Ausnahme von einer Norm bedeutete für Kant, dass es einen ›Grund‹ geben würde gegen ein Vernunftgebot, mithin einen Grund gegen die Vernunft selber: ein rationales Unding. Die eben erwähnte ›natürliche Dialektik‹, zu der wir angeblich einen verhängnisvollen Hang haben, ist eine ›Dialektik der Ausnahme‹. Der Ausdruck ›Dialektik‹ ist dabei kein hegelianischer Kosename, er steht vielmehr für eine »Logik des Scheins«. 94 Ausnahmen von einer Moralvorschrift sind für Kantianer immer nur beklagenswerte Abweichungen von einer im voraus akzeptierten moralischen Linie. Durch sie wird die verletzte Regel nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt: »Wenn wir […] auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden […], sondern das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns (oder auch nur für dieses Mal) zum Vorteil unserer Neigung davon eine Ausnahme zu machen.« (424) Moralische Ausnahmen sind für Kantianer allemal moralische Ausnahmen. Sie sind innermoralische Abweichungen und deshalb in jedem Fall unmoralisch. Für berechtigte Ausnahmen aus nichtmoralischen Gründen zugunsten nicht-moralischer Anliegen ist in dieser Gedankenwelt kein Platz. Von dem Herrschaftsanspruch der kantianischen Moral ist nichts ausgenommen. Zwar resultiert, in folIn dem »Begriffe der Sittlichkeit« ist für Kant enthalten, »daß sein Gesetz […] nicht bloß unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen […] gelten müsse«. Vgl. GMS: 408. 94 Vgl. Kant, KdrV: B 86. – Vgl. zu dem Ausdruck ›Dialektik der Ausnahme‹ : HansGeorg Gadamer, »Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik«: 182. 93

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gendem Sinn, auch für Kantianer nicht jede erfolgreiche moralische Überlegung in einer Verpflichtung. Es gibt Handlungen, die weder verboten noch geboten, also ›erlaubt‹ sind. Das Erlaubte wird dabei jedoch nicht als Ausnahme von einer Verpflichtung, sondern von dieser her gedacht. Es ist das, was angesichts der bestehenden Pflichten zulässig ist. 95 Die kantische Ethik kennt kein moralisch ›indifferentes‹ Verhalten, keine Handlungen ›jenseits von Gut und Böse‹. 96 Die moralphilosophische Auffassung, der zufolge moralische Vorschriften einen Vorrang vor andersartigen Präskriptionen besitzen, wird in der angelsächsischen Literatur unter dem Stichwort ›overridingness‹ abgehandelt. Moralische Gebote hätten demnach Priorität, weil angeblich gilt: ›moral reasons are overriding‹. Es könnte demzufolge keine Erwägungen oder Forderungen geben, die den moralischen gleichrangig wären oder sie gar überbieten würden. Moralische Forderungen wären Trümpfe, die alle nicht-moralischen Spielkarten ausstechen. Wer die moralische Karte ausspielt, könnte nur mit einer höheren moralischen Karte übertrumpft werden. »Die Pflicht geht über alles«, wie es in einer Cechov-Novelle heißt. 97 Durch den Slogan »only an obligation can beat an obligation« hat Bernard Williams das kantianische Moralsystem charakterisiert. 98 Wenn die Pflicht ruft, haben Kant zufolge nicht nur die Grazien zu schweigen (an denen Schiller so viel lag 99 ), sondern auch alle anderen Handlungsanforderungen, ganz zu schweigen von ›natürlichen Neigungen‹. Auch Habermas versteht sich zu der unterordnenden Kraft moralischer Vorschriften. In diesem Sinne beschwört er den Vorrang moralischer Verbindlichkeit vor bloß ›ethischen‹ Verbindlichkeiten. Gegenüber Philosophen wie Williams und Charles Taylor beharrt er Moralische Schlussfolgerungen, denen zufolge eine bestimmte Handlung ›erlaubt‹ ist, »are governed by the idea of obligation: you ask whether you are under an obligation, and decide that you are not«. Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 175. Vgl. zu Kants ›moralischem Imperialismus‹ die Williams-Darstellung in Köhl, »Vertrauen als zentraler Moralbegriff?«: 124. 96 Vgl. für die Diskussion dieser Problematik Samuel Scheffler, Human Morality, das 2. Kapitel: »Morality’s Demands and their Limits: Competing Views«, sowie Williams, »Persons, Character and Morality«. 97 Vgl. Anton Cechov, »Die Frau ohne Vorurteile«. 98 Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 180. 99 Vgl. Schiller, »Über Anmut und Würde«: 216. Vgl. Kants Replik in der berühmten Fußnote seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: 23 f. – Vgl. auch Köhl, Kants Gesinnungsethik: 94 ff. 95

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auf dem »normativen Vorrang von Pflichten«. 100 Ein »absoluter Vorrang des Gerechten vor dem Guten« 101 erscheint ihm als zwingende Voraussetzung für ein Gerechtigkeitskonzept, das gegenüber unterschiedlichen Konzeptionen des so genannten ›guten Lebens‹ neutral ist. 102 Mit Berufung auf Ronald Dworkin macht er sich die »Forderung« zu Eigen, »daß in Kollisionsfällen Pflichten nur von Pflichten, Rechte nur durch Rechte ›übertrumpft‹ werden dürfen«. 103 Philosophen wie Williams und Harry Frankfurt machen für eine solche Konzeption der Unausweichlichkeit des moralisch Geforderten und seiner angeblich automatischen Vorrangigkeit ein Zusammenwerfen von Begriffen verantwortlich, die sie selber auseinander gehalten wissen möchten. Wenn Kantianer meinen, dass man allemal tun muss, wozu man verpflichtet ist, dann verwechseln sie ›Pflicht‹ (oder moralische Notwendigkeit 104 ) mit praktischer Notwendigkeit (simpliciter): meint Williams. 105 Frankfurt zufolge werfen Kantianer die Frage nach dem ›moralisch Richtigen‹ mit der Frage nach dem ›Wichtigsten‹ zusammen. 106 Dies müsste ihnen das bloße Nachdenken darüber unmöglich machen, ob die Moral für unser Leben wirklich ›so wichtig‹ ist und, vor allem, ob es in bestimmten Lebenssituationen nicht doch manchmal Wichtigeres gibt, als einer moralischen (An-) Forderung Genüge zu tun. Die Frage nach dem ›Wichtigsten‹ wird in der Tradition als die Frage nach dem ›höchsten Gut‹ gestellt. Die Art, auf die Kant sie beantwortet hat, charakterisiert wiederum seine ›moralische Voreingenommenheit‹. »Tugend« mache erst die »Würdigkeit glücklich zu sein« und sei als solche »die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit«. »[…] das Ganze, das vollendete Gute« habe man sich so zu denken, dass darin »doch Tugend immer als BeVgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 25. Vgl. ders., a. a. O.: 41 102 Vgl. ders., a. a. O.: 42. 103 Vgl. ders., a. a. O. 104 Im 6. Kapitel werde ich mit Williams gegen Kant argumentieren, dass man ›Pflicht‹ und ›moralische Notwendigkeit‹ nicht als dasselbe auffassen sollte. Vgl. dort den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 105 Williams diagnostiziert für das kantische Moralsystem, dass darin »inescapable« soviel bedeutet wie: »what I am obliged to do is what I must do«. Irrigerweise, wie Williams befindet. Vgl. ders., ›Ethics‹ : 178. – Der Ausdruck »must« steht in dem WilliamsZitat für praktische (nicht für ›moralische‹) Notwendigkeit’. 106 Vgl. Frankfurt, »The importance of what we care about«: 82. 100 101

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dingung das oberste ist«. 107 Kant kann sich also das höchste Gut nur als moralisch verdientes Glück vorstellen. Unter den Beziehungen, welche die angebliche ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Vorschriften zu anderen Charakteristika der Kantianischen Konzeptualisierung unterhält, sollen zwei erwähnt werden. Dass moralisch geforderte Handlungen ›alternativelos‹ sind, kann man als Implikation ihrer angeblichen Unbedingtheit ansehen. Wenn mit letzterer gemeint wäre, dass man derart Gebotenes ›auf jeden Fall‹, ›unter allen Umständen‹ auszuführen habe, dann wäre ein davon abweichendes Verhalten ›auf gar keinen Fall‹, ›unter gar keinen Umständen‹ zulässig: also ›unausweichlich‹. 108 – Im 5. Kapitel meiner Untersuchung wird sich freilich erweisen, dass mit dem eben in Anspruch genommenen ›Unbedingtheits‹-Verständnis der kantische Begriff einer ›unbedingten‹ Forderung nicht getroffen ist. Dort wird für die These argumentiert, dass aus der ›kantischen Unbedingtheit‹ eines Handlungsgebotes mitnichten geschlossen werden darf, dass etwas derart Gefordertes ›unter allen Umständen‹ getan werden muss. 109 Man könnte die von Kant behauptete ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Forderungen auch als Konsequenz aus dem apriorischen Charakter kantisch konzipierter Moralgebote ansehen, der im folgenden Kapitel-Abschnitt thematisiert wird. »Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit«, welch letztere von einer Regel »gar keine Ausnahme als möglich verstattet«, wollte Kant (zunächst für theoretische Erkenntnisse) als die beiden Merkmale apriorischer Einsichten erkannt haben. 110 Nachdem er von der »absolute[n] Notwendigkeit«, die moralische Gebote »bei sich führen«, auf deren apriorischen Status geschlossen hat (389), könnte er, in Erinnerung an sein zweites Merkmal des Apriorischen, auch die ›ausnahmslose Gültigkeit‹ moralischer Vorschriften für zwingend gehalten haben.

Vgl. Kant, KprV: 110 f. Tatsächlich heißt »unbedingt« für Günther Patzig: »ohne Möglichkeit von Ausflüchten und Alternativen«. Vgl. ders., »Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik«: 110. 109 Vgl. dazu im 5. Kapitel meiner Untersuchung den Abschnitt 5.9.: Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen. 110 Vgl. Kant, KdrV: B 4. 107 108

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2.2.7 Apriorische Vernunftgebote Moralische Forderungen werden, gemäß ihrer Kantianischen Konzeptualisierung, als Gebote der Vernunft verstanden. Das ranghöchste Moralgebot, also der Kategorische Imperativ, gilt seinem Entdecker als das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« und ist zugleich »ein Faktum der Vernunft«, ein Vernunftprodukt. 111 Im landläufigen Sinn ist es nicht allemal unvernünftig, unmoralisch zu handeln, und auch nicht immer vernünftig, moralisch zu sein. 112 Anders mag es sich verhalten, wenn man jenen Vernunftbegriff investiert, welcher für Kant »in moralischem Gebrauche der Vernunft« der maßgebliche ist. 113 Dessen Moralphilosophie steht unter der Kuratel einer Prinzipienvernunft. Darunter wird ein »Vermögen der Prinzipien« 114 verstanden, im praktischen, aber auch im theoretischen Verstande. 115 In der ›praktischen‹ Lesart ist die – praktische – Vernunft das »Vermögen, nach Prinzipien zu handeln«. 116 Da zur Anwendung von Prinzipien die »Ableitung der Handlungen« aus ersteren erforderlich ist, korrespondiert dem ›Prinzipienbegriff‹ der Vernunft ein ›formaler‹ Vernunftbegriff, im Sinne der Fähigkeit, deduktiv zu schließen, also praktische Syllogismen zu bilden (412). Natürlich ist die moralphilosophische Orientierung Kants an einer ›Prinzipienvernunft‹ einer vernünftigen Begründung bedürftig. 117 Die kantisch konzipierte Vernunft zeichnet sowohl für den Inhalt des Kategorischen Imperativs (resp. des ›moralischen Gesetzes‹) wie auch für die Form aller moralischen Imperative verantwortlich. Den Inhalt, sprich: die richtige Formulierung seines obersten Moralprinzips, möchte Kant aus der Vernunfteigenschaft der ›Allgemeinheit eines Gesetzes‹ herleiten. Von dieser schließt er auf die »all111 Vgl. Kant, KprV, § 7, die Überschrift, sowie dort die erste »Anmerkung« – Herv. HK. Ralph C. S. Walker schreibt: »What Kant holds is that the imperative of morality, the categorical imperative, […] is rational […] simply by being what pure practical reason dictates.« Vgl. ders., »The Rational Imperative: Kant Against Hume«: 113. 112 Vgl. Tugendhat, VüE: 42. 113 Vgl. Kant, KprV: 5 – Hervorh. HK. 114 Vgl. Kant, KdrV: B 356. 115 »Vernunft ist das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt«. Vgl. ders., KdrV: B 24 – Herv. HK. 116 Vgl. Kant, GMS: 412 – Hervorh. HK. 117 Vgl. zur Kritik an Kants Begründungsbemühungen im 6. Kapitel dieser Schrift den Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten.

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gemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen«, die von einem solchen Gesetz vorgeschrieben werden. 118 Mit der von mir so genannten ›Form‹ moralischer Gebote sollte deren ›kategorisch-unbedingter‹ Charakter gemeint sein. Auch diesen führt Kant auf ihren angeblichen Vernunftursprung zurück. 119 Damit thematisiere ich den Zusammenhang zwischen dem Vernunftcharakter und einem anderen, gewiss zentralen Aspekt kantisch konzipierter Moralgebote, nämlich die für sie beanspruchte Unbedingtheit: 120 »Wenn […] die Handlung […] notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen [ist], […] so ist er [d. i. der Imperativ] kategorisch«: behauptet Kant. 121 Für ihn sind moralische »Handlungen […] durch Vernunft unnachlaßlich geboten, weil diese Pflicht als 118 Vgl. Kant, GMS: 402 – Hervorh. HK. Vgl. Kants analoges Argument: 420, sowie die Argumentation in der KprV, §§ 2–7. Vgl. auch Köhl, »The Derivation of the Moral Law«. In diesem Aufsatz komme ich zu dem überraschenden Ergebnis, dass Kants Argumente in beiden GMS-Passagen verständlich und schlüssig sind. 119 »Der besondere Anspruch des moralischen ›soll‹ ergibt sich nach diesen Auffassungen [gemeint sind Kant-Apel-Habermas und Philosophen der Erlanger Schule] daraus, daß es nicht das hypothetische ›soll‹ zweckbezogener Vernunftnormen ist und daher nicht nur relativ zu jeweiligen Zwecken gilt, sondern daß es in der Vernunft oder vernünftigen Argumentation immer schon impliziert ist und wir daher nicht umhin können, seinen Anspruch anzuerkennen«: schreibt Ursula Wolf. Vgl. dies., Das Problem des moralischen Sollens: 5 – Hervorh. HK. Wolfs Kritik daran lautet: »Diese Erklärungen des moralischen ›soll‹ setzen […] einen starken Vernunftbegriff voraus, der sich nicht ausweisen läßt.« A. a. O. Wolf erläutert oder begründet diese Diagnose nicht weiter, sondern beruft sich auf Tugendhats »Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik« und seine früheste moralphilosophische Abhandlung »Sprache und Ethik«. In seinen späteren ethischen Arbeiten hat Tugendhat, was er mit einem ›starken‹ Vernunftbegriff meint, nicht unbedingt erhellend durch die Rede von einem ›absoluten‹ oder ›nicht-relativen‹ Vernunftbegriff erläutert: »[…] um von […] einem unbedingten Sollen sprechen zu können, glaubte er [Kant] seine reine Vernunft einführen zu müssen.« Vgl. ders., ›Letitia‹ : 10 – Einf. HK. In den VüE erklärt Tugendhat »Kants Idee einer nicht-relativen Vernunft« als den Versuch, »Gott zu naturalisieren«, was aber »nicht möglich« sei. Aus der Vernunftgeburt eines moralischen Sollens, mit seinem »nicht bedingten Sinn«, hört er »eine säkularisierte Stimme Gottes« sprechen – und findet eine solche Vorstellung »sinnwidrig«. Vgl. ders., VüE: 24 f. 120 Ralph Walker sieht einen Zusammenhang zwischen dem Vernunftcharakter kantisch konzipierter Moralgebote und dem moralischen (Adressaten-) Universalismus: »In calling it a rational imperative one thing he [Kant] means is that it is binding on all rational beeings, just in virtue of the fact that they are rational«. Vgl. ders., a. a. O.: 115 Einf. HK. 121 Vgl. Kant, GMS: 414 – Einf. HK.

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Pflicht überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt«. (408) ›Diese Pflicht‹ kommt, wie jede Pflicht, für Kant in kategorisch-unbedingten Geboten zum Ausdruck. Indem er den ›formalen‹ Charakter einer moralischen Forderung aus der ›Absolutheit‹ einer reinen praktischen Vernunft meint herleiten zu können, kann ihm eine solche Forderung selber als ein »absolutes Gebot« erscheinen (420). Durch diese vornehme Genealogie partizipiert sie an der ›Autorität der Vernunft‹. 122 Bei der kritischen Betrachtung des kantischen ›Unbedingheits‹-Konzepts, im 6. Kapitel dieser Untersuchung, werde ich zu zeigen versuchen, dass Kant für den Vernunfthintergrund, den er ›unbedingten‹ Moralvorschriften gegeben hat, einen starken, ›metaphysischen‹ Unbedingtheitssbegriff in Anspruch nimmt, der sich wohl kaum halten lässt. 123 Zum Glück hat er im 2. Abschnitt der Grundlegung die Unbedingtheit gewöhnlicher Moralgebote ›anspruchsloser‹ – und treffend – analysiert. Mit diesem harmloseren Unbedingtheitsbegriff kommt man aus, so möchte ich im 6. Kapitel zeigen, wenn man den ›unbedingten‹ Charakter mancher Moralvorschriften explizieren will. Der moralphilosophische Apriorismus, welcher zur kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen gehört, wird in der zeitgenössischen Ethik-Diskussion kaum mehr ernst genommen. Ihm zufolge ist das oberste Moralprinzip ein »synthetisch-praktischer Satz a priori« (420 124 ), an dessen nicht-empirischem Charakter auch die konkreteren moralischen Gebote teilhätten 125 . Der Kategorische Imperativ ist, als »ein Faktum der Vernunft«, »kein empiriAuch Martin Heidegger spricht von einer solchen »Vernunftautorität«. Vgl. ders., »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«: 204. Rorty interpretiert diese Stelle in: »Philosophy as Science, Metaphor, Politics«: 20. 123 Vgl. dazu im 6. Kapitel den Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten. 124 Das kantische Sittengesetz drückt ein ›Sollen‹ aus, »welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt«. Vgl. ders., a. a. O.: 454. 125 Kant denkt dabei an moralische Vorschriften wie »das Gebot: Du sollst nicht lügen […]; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze«. Vgl. GMS: 389. – »[…] wie sollen Gesetze [Plural!] der Bestimmung unseres Willens für Gesetze der Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt und nur als solche auch für den unsrigen gehalten werden, wenn sie bloß empirisch wären und nicht völlig a priori aus reiner, aber praktischer Vernunft ihren Ursprung nähmen?« Vgl. ders., GMS: 408. – Einf. HK. 122

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sches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft«. 126 Auch die Ethik im Ganzen ist nach kantischer Lesart eine nicht-empirische Theorie. 127 Der Begriff des ›Apriori‹ ist in der Erkenntnistheorie zu Hause. Die Unterscheidung des Empirischen vom Nicht-Empirischen soll, wie wir heute zu sagen geneigt sind, in erster Linie einen Unterschied in der Begründungsweise, und zwar von ›Aussagen‹, markieren. Da auch moralische Forderungen mit einer Begründungserwartung verbunden sind, aber nicht empirisch begründbar zu sein scheinen, liegt es gar zu nahe, bei ihnen eine nicht-empirische, mithin apriorische Begründungsmöglichkeit ins Auge zu fassen. »So schnell« geraten »wir in eine philosophische Verstiegenheit«, meint dazu Tugendhat. 128 Kants Gründe für den apriorischen Charakter moralischer Forderungen stützen sich auf die Merkmale, die er im erkenntnistheoretischen Zusammenhang nicht-empirischen Urteilen (oder ›Erkenntnissen‹) zugesprochen hat: »Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind […] sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori«. Ein »Urteil in strenger Allgemeinheit« ist eines, bei dem »gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird«. Diese strenge Allgemeinheit eines Urteils »zeigt […] auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich ein Vermögen des Erkenntnisses a priori« 129 : d. i. die reine theoretische Vernunft. Ebenso verweist, aus kantischer Sicht, bei moralischen Geboten deren beanspruchte Ausnahmslosigkeit 130 und somit die strenge »Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftigen Wesen ohne Unterschied gelten sollen«, auf ihren apriorischen Vernunftursprung (442). Die Aprioritätsmerkmale der Notwendigkeit und der strikten Allgemeinheit meint Kant am Pflichtcharakter moralischer Forderungen bzw. am Gesetzescharakter moralischer Normen ablesen zu 126 Kant, KprV: 31 – Hervorh. HK. Der Ausdruck ›rein‹ impliziert bei Kant ›Apriorität‹. Das Umgekehrte gilt nicht immer. Vgl. dazu die ›Einleitung‹ zur KdrV. 127 Vgl. die ›Vorrede‹ zu Kants Grundlegung, in der er für die Existenzberechtigung und Notwendigkeit einer nicht-empirischen Ethik argumentiert. 128 Vgl. Tugendhat: VüE: 15. – Im ›Vorwort‹ zu seinem Buch Probleme der Ethik hat es den Anschein, als habe sich der Autor selber auf den von ihm nun ridikülisierten Gedankenweg verstiegen: »Wenn sich das Gesollte nicht empirisch begründen läßt, wie dann? Die Antwort kann nur lauten: apriorisch.« A. a. O.: 4. 129 Kant, KdrV: B 4. 130 Vgl. den vorigen Abschnitt dieses Kapitels.

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Apriorische Vernunftgebote

können. Seines Erachtens leuchtet es »aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze« ein, »daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse […] [und] nicht […] bloß für Menschen gelte, [sondern auch] für andere vernünftige Wesen […]; dass mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen […] gesucht werden dürfe, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« (389, Einf. HK). 131 Dieses Argument wird man nur rekonstruieren können, wenn man zwei Begriffe von ›Notwendigkeit‹ auseinander hält. Da ist (1.) eine (unbedingte) praktische Notwendigkeit, d. i. die Notwendigkeit bestimmter Handlungen, wie sie von einem moralischen ›Gesetz‹ (bzw. der ›Idee einer Pflicht‹) ausgedrückt wird. Eine (2.) »absolute Notwendigkeit«, die ein solches ›Gesetz‹ »bei sich führen müsse« (389 – Hervorh. HK.), meint dessen ausnahmslose Gültigkeit. Letztere ergibt sich für Kant als Folgerung aus (1.): Wegen der unbedingten praktischen Notwendigkeit gesetzlich geforderter Handlungen sei ein solches Gesetz »ein notwendiges [= notwendigerweise ein – Einf. HK] Gesetz für alle vernünftigen Wesen« (425). M. a. W.: »Pflicht soll praktisch unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein [die 1. Notw.]; sie muss [2. Notw.] also für alle vernünftigen Wesen […] gelten« (425 – Hervorh. und Einf. HK), mithin unabhängig von der empirischen Menschennatur. Eine Kritik an Kants ethischem Apriorismus kann sich an dem zuletzt zitierten Passus orientieren, in dem von der ›unbedingten Notwendigkeit‹ Pflichten ausdrückender Gebote auf deren nicht-empirischen Status geschlossen wird. Eine Kritik am durchgängigen ›Notwendigkeits‹-Charakter einer Proposition trifft automatisch auch deren Anspruch auf ›Allgemeingültigkeit‹. Denn anders, als Kant zu glauben schien 132 , sind seine beiden Kriterien für Apriorität nicht voneinander unabhängig. Die ›Notwendigkeit, dass p‹, bedeutet, dass es ›nicht möglich ist, dass nicht p‹, dass es also keine Ausnahme von p geben kann. Wenn man demnach zeigen könnte, wie ich mich im 6. Kapitel zu zeigen anschicke, dass nicht alle Moralgebote ›Pflichten‹ ausdrü131 Moralisch geforderte Handlungen sind für Kant »durch Vernunft unnachlaßlich geboten […], weil diese Pflicht als Pflicht überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt«. Vgl. Kant, GMS 408 – erste Hervorh. HK. 132 Vgl. Kant, KdrV: B 3 f.

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cken und dass moralisches ›Verpflichtetsein‹ nicht immer das Bestehen einer praktischen ›Notwendigkeit‹ (also auch nicht einer ›unbedingten‹ Handlungsnotwendigkeit) bedeutet, würde dies mindestens die Nicht-Apriorität einiger Moralvorschriften zur Folge haben. Es wird nichts schaden, wenn man diesem Punkt eine Prise Saul Kripke beifügt, dem es gelungen zu sein scheint, die Existenz nicht-apriorischer Notwendigkeiten – und den verschiedenen theoretischen Status von ›Apriorität‹ und ›Notwendigkeit‹ – plausibel zu machen. 133 Die Kritik könnte damit fortfahren, die folgenden Sätze miteinander zu vergleichen: (1) Es ist notwendig, dass p (der Fall ist). (2) Es ist notwendig, dass p (der Fall) sei. (3) Es ist notwendig, dass S a tut. Einmal angenommen, dass die in (1) behauptete Notwendigkeit den apriorischen Status von ›p‹ implizieren würde, dann ist es doch alles andere als klar, dass sich dies auch für (2) behaupten lässt. Erst recht ist dies zweifelhaft für (3), ein Satz, in dem nicht, wie in (1) und in (2), die Notwendigkeit eines Sachverhaltes behauptet bzw. ›beschworen‹ wird, sondern die Notwendigkeit einer Handlung (die den laut (2) erwünschten Sachverhalt herbeiführen soll). Wenn moralische Gebote apriorische Sätze wären, dann ›synthetische‹. Darin ist Kant Recht zu geben. Denn dass sie, im Falle ihres ›Wahrseins‹, keine ›begrifflichen‹ (›analytischen‹) Wahrheiten sind, liegt auf der Hand. Die transzendentale Begründungsweise, die Kant für ›theoretische‹ synthetisch-apriorische Sätze ›erfunden‹ hat, besteht darin, dass man von diesen zeigt, dass sie ›Bedingungen der Möglichkeit‹ eines unbestreitbaren Faktums: nämlich ›der Erfahrung überhaupt‹, formulieren. Diese Begründungsvorstellung lässt sich auf den ›praktischen‹ Bereich höchstens übertragen für den Versuch, das Sittengesetz zu rechtfertigen. An dessen ›transzendentaler Deduktion‹ hat sich Kant im 3. Abschnitt der Grundlegung versucht – und sich dabei offenbar verhoben. Das Unternehmen scheint jedenfalls in der Kritik der praktischen Vernunft ad acta gelegt zu sein. Unterstellt, das Grundlegungs-Argument ließe sich gleichwohl überzeugend führen, dann wäre damit doch nur der ›synthetisch-apriorische‹ Status des obersten Moralgebotes plausibel gemacht – und nicht der apriorische Charakter eines jeden Moralgebotes.

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Vgl. Saul Kripke, Naming and Necessity.

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Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen

Es fragt sich, ob die Ausfüllung der entworfenen Argumentationsskizze gegen Kants ethischen Apriorismus die Mühe lohnte. Liegt doch dem Fehlschluss auf den apriorischen Status moralischer Präskriptionen ein leicht zu erkennender ›Kategorienfehler‹ zugrunde. Sätze, die eine unbedingte praktische Notwendigkeit zum Ausdruck bringen, sind nicht deshalb empirisch unbegründbar, weil sie Sätze apriori, sondern weil sie normative Sätze sind, und weil normative Sätze nicht (allein) durch konstatierende Sätze begründet werden können. Der Gegenbegriff zum Normativem ist das Deskriptive, nicht das Empirische: auch wenn empirische Sätze paradigmatische Fälle von deskriptiven sind. Von der Nicht-Deskriptivität eines ethischen Satzes führt aber kein gültiger Schluss auf seinen nicht-empirischen, mithin apriorischen Status. Die Ethik ist das Reich des Normativ-Evaluativen, sie ist weder (bloß) deskriptiv-empirisch noch apriorisch. Die Gegenüberstellung von Empirischem und Apriorischem ist höchstens in der Erkenntnistheorie am Platz, wo wir es allemal mit deskriptiven Sätzen zu tun haben. Aber auch dort wird ihr Nutzen (von Philosophen wie Quine, Davidson & Co.) bezweifelt. Kants ethischer Apriorismus ist ziemlich offenkundig ein Symptom von philosophischen Systemzwängen, denen der Systembildner systematisch erlegen war. Die gezwungen wirkenden Analogisierungen, die für Kants Theoriegebäude charakteristisch sind; sein Bedürfnis, zu jedem ›Hauptstück‹ beim theoretischen Vernunftgebrauch ein Gegenstück im praktischen Sektor aufzutun, hat sich als wenig überzeugend erwiesen. Jedenfalls auf moralphilosophischem Terrain ist ein Gewissheit sicherndes Apriori, ist ein ›Purismus der Vernunft‹ (Hamann) wohl nicht zu haben.

2.3 Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen Beim bloßen Nachvollziehen der kantianischen Lesart moralischer Vorschriften erhält man den Eindruck, dass es mit ihnen ungleich mehr auf sich hat, als es zunächst (in meinem 1. Kapitel) schien. Die von Kantianern vertretene Auffassung, wonach moralische Gebote etwas ganz Besonderes sind, konkretisierte sich in ihrer angeblichen Unbedingtheit, wie sie in kategorischen Imperativen zum Ausdruck kommen soll, sowie in ihrem durchgängigen Pflicht-Charakter. Als Vernunfterzeugnisse erheben kantisch konzipierte Moralgebote A

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Die Kantianische Konzeptualisierung

(prinzipiengestützt) den Anspruch auf nicht-empirische, universelle und ausnahmslose Geltung. Einige Beziehungen, welche die Bestandteile der Kantianischen Konzeptualisierung zueinander unterhalten, wurden in den vorausgegangenen Kapitel-Abschnitten erwähnt; die vollständige Darstellung dieses Beziehungsgeflechts wäre ein längeres Unternehmen. Ihr vermeinter Vernunftcharakter und ihre angebliche Unbedingtheit scheinen die wichtigsten Merkmale kantianisch beschriebener Moralvorschriften zu sein: Kant selber war offenbar davon überzeugt, dass sich aus dem ›Vernunftdesign‹, das er moralischen Forderungen gegeben hat, deren andere Charaktereigenschaften allesamt ergeben. Der ethische Apriorismus ist klarerweise ein Vernunftableger. Auch der angebliche (adressaten-) universalistische Geltungsanspruch moralischer Forderungen wird plausibel durch die Annahme eines allgemeinheitsorientierten Vernunftvermögens im Allgemeinbesitz. Kants prinzipienethische Begründungskonzeption hat dessen Prinzipienvernunft mit im Gepäck. Nicht zuletzt liegt sein Pflichtbegriff, d. i. die »Pflicht als Pflicht überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft«. 134 Da aber eine solche ›Verpflichtung aus Vernunft‹ für Kant nichts anderes gewesen ist als die unbedingte Notwendigkeit einer Handlung, ermöglichte die Vernunft auch den angeblich kategorisch-unbedingten Charakter moralischer Gebote. 135 Auch aus dem angenommenen unbedingten Forderungscharakter lassen sich, Kant zufolge, die anderen Merkmale kantianisch konzipierter Moralvorschriften herleiten. Er verweist angeblich auf einen apriorischen Vernunftursprung solcher Gebote. Diese werden kategorisch artikuliert, weil sie angeblich ›unbedingt‹ sind. Wie eben in Erinnerung gerufen, steht der kantische Pflichtbegriff für eine ›unbedingte‹ Handlungsnotwendigkeit. Der Zusammenhang zwischen beanspruchter (Adressaten-) Universalität und dem angeblich Kant, GMS: 408 – erste und dritte Hervorh. HK. Die Kette der Zweckbedingtheiten, mögen Kantianer denken, muss irgendwo an ein Ende kommen und kann nur an ein ›unbedingtes‹ Ende gelangen durch eine Instanz wie die Vernunft, welche kein Mittel zu weiteren Zwecken ist und sein kann. »Eine unbedingte oder kategorische Geltung erlangen moralische Verpflichtungen erst dadurch, daß sie sich aus Gesetzen herleiten, die den Willen, wenn er sich auf sie festlegt, von allen zufälligen Bestimmungen emanzipieren und gleichsam mit der praktischen Vernunft selbst verschmelzen.« Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 48 – Hervorh. HK. 134 135

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Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen

unbedingten Charakter moralischer Forderungen ergibt sich daraus, dass die Entlastung solcher Forderungen von einem Zweckbezug ihren Adressatenkreis zu entschränken scheint. Zuletzt (ver-) führt die unterstellte Unbedingtheit moralischer Vorschriften zur Annahme von deren Unausweichlichkeit. Ein Gebot, das ›bedingungslos‹ befolgt werden muss, scheint ausnahmslos und konkurrenzlos zu gelten. Die verbreitete Kritik am Vernunftcharakter moralischer Forderungen hat dazu geführt, dass diese Komponente der Kantianischen Konzeptualisierung für die meisten Gegenwartsphilosophen nicht mehr glaubwürdig ist. 136 Sollte diese geballte Vernunftkritik triftig sein, dann ist danach die angebliche ›Unbedingtheit‹ als zentrales Charakteristikum kantisch konzipierter Moralgebote anzusehen. Mit der Unbedingtheit einer moralischen Forderung scheint die Kantianische Konzeptualisierung im Ganzen zu stehen oder zu fallen. Von ihr müssen Kantianer deshalb zeigen können, dass sie ohne die Rückenstütze einer reinen praktischen Vernunft plausibel zu explizieren und aufrecht zu erhalten ist. Dieses möchte ich im 5. Kapitel und in Teilen des 6. Kapitels 137 plausibel machen. Danach stellt sich die Frage, ob sich die verbleibenden Merkmale der Kantianischen Konzeptualisierung (Prinzipienorientierung, Pflichtcharakter moralischer Gebote, moralischer Universalismus, epistemische Unausweichlichkeit) auf das entwickelte Unbedingtheits-Verständnis stützen lassen – und ob eine ›vernunftentleerte‹ Restkonzeption noch das kantianische ›Bedürfnis‹ nach der ›radikalen Andersheit‹ moralischer Vorschriften zu befriedigen vermag. Da in einer ›vernunftbereinigten‹ Schrumpfversion der Kantianischen Konzeptualisierung die angebliche Unbedingtheit moralischer Forderungen im Mittelpunkt steht, hat sich ein Gutteil der Kant-Kritik zu Recht auf diese Unbedingtheitskonzeption gestürzt. Ich werde im folgenden 3. Kapitel die maßgeblichen Kritiken am ›unbedingten‹ Charakter von Moralvorschriften Revue passieren lassen.

136 Meine eigene Kritik daran entfalte ich im 6. Kapitel, im Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten. 137 Vgl. im 6. Kapitel wiederum den Abschnitt 6.3. sowie den Abschnitt 6.4.: Ethischer Holismus.

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3 Der umstrittene Charakter moralischer Forderungen

Der Charakter moralischer Forderungen ist so umstritten wie das dritte Tor von Wembley. Tor oder nicht Tor, das war dort die Frage. Kategorisch oder hypothetisch, bedingt oder unbedingt, dies scheint hier die exklusive und vollständige Alternative zu sein. Für Kantianer (wie auch für manche Nicht-Kantianer) steht die Option fürs Unbedingte außer Frage. Sie sind davon überzeugt, dass alle und nur moralische Forderungen unbedingte Handlungsgebote sind. Aber offenbar haben sie nicht alle für diese Auffassung einzunehmen vermocht: Eine ganze Reihe von Philosophinnen und Philosophen sind zur Unbedingtheits-Auffassung moralischer Vorschriften auf Distanz gegangen. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass es sich bei der ›Unbedingtheit‹ (respektive ›Kategorizität‹) einer Forderung mitnichten um ein Kriterium – um eine notwendige und hinreichende Bedingung – für deren moralischen Charakter handelt. Dabei kann das Abrücken von dieser Idee sehr verschieden aussehen. Nachdem sie die angebliche Unbedingtheit moralischer Gebote als illusorisch entlarvt haben wollen, erscheinen solche Forderungen manchen Kritikern als derart charakterlos, dass sie ihnen Sinn und Bedeutung – und jede legitime Kraft – absprechen. Für andere ergibt sich aus ihrer Unbedingtheits-Kritik, dass moralische Gebote einen hypothetischbedingten Charakter besitzen. Wiederum andere ziehen das Unbedingtheitsmonopol moralischer Forderungen in Zweifel und möchten die Existenz nicht-moralischer Unbedingtheiten plausibel machen. Damit habe ich die Kant-kritischen und konstruktiven Beiträge der Philosoph(inn)en andeutungsweise charakterisiert, die im Folgenden ausführlich zu Wort kommen. Ihre, zum Teil ›klassischen‹ Beiträge besitzen, obwohl im ein oder anderen Fall schon ›angejahrt‹, dasjenige, worauf es uns allein ankommen sollte: philosophische Jugendfrische. Ihre Interventionen sind systematisch relevant und bis112

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Arthur Schopenhauer

weilen herzerwärmend radikal, sie bringen wichtige Kritikpunkte und gewichtige Gegenpositionen kraftvoll zur Sprache: Elisabeth Anscombe und lange vor ihr schon Arthur Schopenhauer haben die ›Bedeutungshaftigkeit‹ des sog. moralischen Sollens bestritten. Philippa Foot, Ernst Tugendhat und Richard Rorty attackieren, wie bereits Schopenhauer, den ›unbedingten‹ Charakter moralischer Gebote. Mit dem Namen von Foot verbindet sich eine Konzeption moralischer Forderungen als ›hypothetischer Imperative‹. Varianten dieser Auffassung werden auch von Tugendhat und Rorty vertreten. Bernard Williams, Harry Frankfurt und wiederum Rorty stellen das Unbedingtheits-Monopol von Moralvorschriften in Frage und setzen sich für die Existenzberechtigung nicht-moralischer unbedingter Forderungen ein. Würde sich, nach der detaillierten Schilderung dieser Anti-Königsberger Kanonade, der Eindruck einstellen, es sei dadurch eine tragende Säule des ethischen Kantianismus – die Unbedingtheitskonzeption moralischer Vorschriften – stark einsturzgefährdet: der Eindruck wäre erwünscht.

3.1 Arthur Schopenhauer Es liegt aus historischen, aber auch systematischen Gründen nahe, mit der Kant-Kritik dieses Kantianers zu beginnen. 1 Um den Weg frei zu machen für seine eigene ethische Mitleidskonzeption, geht Schopenhauer zunächst auf Distanz zu der Ethik, die ihm machtvoll vor Augen stand. 2 Für ihn, wie noch für uns, ist es Kants Ethik, »welche weggeräumt werden muß, ehe wir einen andern Weg einschlagen« können (155). Schopenhauer diagnostiziert zutreffend, dass man versucht sein kann, die Kant’sche Ausgestaltung der Moraltheo-

Wieso Schopenhauer, bei aller bemühten Absetzung von Kant, auch in der Ethik als ›Kantianer‹ tituliert werden kann, habe ich andernorts begründet: »Die Ethiken von Kant und Schopenhauer haben, so sehr sie sich im übrigen unterscheiden, dennoch eine gemeinsame Struktur.« Vgl. Köhl, »Die Theorie des moralischen Gefühls bei Kant und Schopenhauer«: 136. 2 Vgl. Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral (= ›Grundlage‹). Die folgende Darstellung orientiert sich an diesem Werk. Die in den Text eingefügten Seitenangaben beziehen sich innerhalb dieses Schopenhauer-Teils auf den VI. Band der Zürcher Ausgabe. Die Rechtschreibung in den Schopenhauer-Zitaten ist den heutigen Usancen behutsam angeglichen. 1

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rie für die »natürliche Gestalt« der Ethik überhaupt zu nehmen, mitsamt ihrem »Begriff der Pflicht«, »in diesem unbedingten Sinn genommen« (162). Schopenhauer will in der Moralphilosophie nicht nur von keinem »unbedingten Sollen«, sondern am liebsten »überhaupt ganz und gar nicht von Sollen reden«. 3 Er attackiert an der Ethik seiner Vorgänger ihre »legislatorisch-imperativische« Form (160). Für die »ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns« sei es nicht »wesentlich, in der Form des Gebietens und Gehorchens, des Gesetzes und der Pflicht aufgefaßt zu werden« (162). Kant wirft er vor, »diese imperative Form der Ethik, stillschweigend und unbesehns, von der theologischen Moral entlehnt« zu haben (165). Statt Vorschriften zu machen, solle die Ethik »sich begnügen […] mit der Erklärung und Deutung des Gegebenen, […] um zu einem Verständnis desselben zu gelangen« (160). 4 Die Kritik Schopenhauers am moralischen Sollen besteht in dem Versuch zu zeigen, dass ein ›unbedingtes‹ Sollen unverständlich sei. Dieses könne nur unter Voraussetzungen bedeutungsvoll sein, die seinen ›moralischen‹ Charakter dementieren. Zu diesem Ergebnis gelangt er über die folgenden Thesen: (1) »J e d e s Soll hat allen Sinn und Bedeutung schlechterdings nur in Beziehung auf angedrohte Strafe, oder verheißene Belohnung«, es ist »mithin […] hypothetisch und niemals […] kategorisch« (163). 5 »Werden […] jene Bedingungen weggedacht, so bleibt der Begriff des Sollens sinnleer« (ebd.). Der Begriff des Sollens sei »wesentlich relativ« (ebd.), »an eine Bedingung gebunden« (164). Wenn man, in moralischer Charakterisierungsabsicht, ihrem Wesen nach relative Forderungen »durch das Wort ›absolut‹ oder ›kategorisch‹« spezifiziere, sei dies »ein schlechter Notbehelf«, »wodurch […] eine Contradictio in adjecto entsteht« (165). 6 Wenn ein unbedingtes Sollen demnach ein Unding ist, kann ein verständliches moralisches Gebot

Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung: 344. Das will freilich – wie häufig bemerkt worden ist – nicht recht zusammenpassen mit der imperativischen Form von Schopenhauers Grundsatz der moralisch »geforderten [sic!] Handlungsweise« (198 f. – Hervorh. und Einf. HK.): »Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva« (199). 5 Vgl. 162 f. – gesperrte Hervorh. HK. 6 »[…] daher absolutes Sollen […] eine Contradictio in adjecto ist.« Vgl. 163. 3 4

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– falls es dergleichen überhaupt gibt – jedenfalls kein kategorischer Imperativ, keine unbedingte Forderung sein. 7 (2) Das moralische Sollen, »in diesem unbedingten Sinn genommen«, hat »seinen Ursprung in der theologischen Moral« (162). Schopenhauer erkennt »für die Einführung des Begriffes […] Soll in die Ethik keinen andern Ursprung an, als einen der Philosophie fremden, den mosaischen Dekalog« (161). Die Sanktion, die ihm ursprünglich Bedeutung verlieh, habe in göttlicher Vergeltung bestanden. Denn dieses Sollen »beruht […] auf der Voraussetzung der Abhängigkeit des Menschen von einem andern, ihm gebietenden und Belohnung oder Strafe ankündigenden Willen, und ist davon nicht zu trennen« (164). In einer theologischen Moral gelten die moralischen Gebote »als ausgesprochener Wille Gottes« (151), des »Allmächtigen und Allwissenden« (a. a. O.); durch dessen Sanktionsmacht sind sie bedeutsam und kraftvoll. Es gäbe kein moralphilosophisches Problem, »wenn nur derselbe« göttliche Wille »auf eine ganz authentische, keinem Zweifel Raum gestattende, sozusagen offizielle Weise verkündigt wäre. Aber diese Bedingung ist es, die sich nicht erfüllen läßt« (a. a. O.). Aber »[g]etrennt von den theologischen Voraussetzungen, aus denen« es »hervorgegangen« ist, verliere dieses Sollen »alle Bedeutung« (162). (3) Eine Handlung in Befolgung einer Vorschrift, zu deren normativem Sinn der Bezug auf eine Sanktion gehört, ist »zwar, nach Umständen, klug oder dumm, jedoch stets eigennützig, mithin ohne moralischen Wert« (163 – Hervorh. HK). 8 Diese dritte These räumt ein naheliegendes Missverständnis der ersten aus. Schopenhauer meint nicht, dass die »Forderungen der Moral« (154), wenn sie nicht unbedingt-kategorisch sind, deshalb hypothetische Imperative seien. Seine Position ist in diesem Punkt nicht die Auffassung von Foot. Vielmehr können, ihm zufolge, wirklich moralische Bekundungen überhaupt nicht normativ formuliert werden. Denn wenn erstens jedes ›Sollen‹ hypothetisch ist, und zwar durch seinen sinnkonstitutiven Sanktionsbezug; und wenn zweitens Dass ein moralisches Gebot auch keine bedingte Forderung, mithin kein hypothetischer Imperativ sein kann, besagt, im Fortgang des Haupttextes, Schopenhauers These (3). 8 »[…] die Erkenntnis, daß ein bloß durch angedrohte Strafe und verheißene Belohnung zu Wege gebrachtes moralisches Handeln, mehr dem Scheine, als der Wahrheit nach ein solches sein würde; weil es im Grunde auf Egoismus beruhte« (152). 7

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der Sanktionsbezug einer Forderung ihren moralischen Charakter ausschließt: dann können moralische Gebote keine hypothetischen Imperative sein. Kategorisch-unbedingte Forderungen können moralische ›Bekundungen‹ auch nicht sein, aus den unter (1) genannten Gründen. Folglich können sie, wenn die kategorisch/hypothetischUnterscheidung erschöpfend ist, gar nicht die Form von Forderungen haben. Woraus sich für Schopenhauer seine deskriptive Ethik-Konzeption ergibt. Aus diesen Aussagen Schopenhauers kann man – in Kant-kritischer Absicht – das folgende Dilemma konstruieren: Entweder hat dessen moralisches Sollen keinen Bezug auf eine Sanktion. Dann ist es ohne »Kraft und Bedeutung« (173). Oder das (angeblich) moralische Sollen ist auf eine Sanktion bezogen und hat von daher (wenigstens zu einem Teil) seine Bedeutung. Dann hat es sie von unbewiesenen theologischen Voraussetzungen her, und eine Handlung in Befolgung eines solchen bedingten, sanktionsgestützten Gebotes besitzt keinen moralischen Wert. Wenn aber eine bestimmte forderungsgemäße Handlung keinen moralischen Wert haben kann, dann ist die damit befolgte Forderung auch keine moralische. Mit der Stütze von Sanktionsbedingungen wäre eine Forderung demnach bedingt, bedeutungsvoll und nicht-moralisch. Ohne Sanktionsstütze wäre sie zwar vielleicht ›unbedingt‹, dafür aber »sinnleer« (163). Ein unbedingtes Sollen erscheint so als moralisch impotent. »Das bedingte Sollen andererseits kann […] kein ethischer Grundbegriff sein, weil alles, was mit Hinsicht auf Lohn oder Strafe geschieht, notwendig egoistisches Tun und als solches ohne rein moralischen Wert ist.« (164) 9

Auch Friedrich Nietzsche gehört natürlich zu den Philosophen, »die der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen«. Er meint die Rede von unbedingten Pflichten als bloß rhetorisches Hilfsmittel jener entlarven zu können, welche »die stärksten Worte und Klänge […] nötig haben«. Politiker und Prediger der verschiedensten Couleur würden sich als »Diener« »irgend eines letzten indiskutabeln und an sich erhabenen«, weil unbedingten »Gebotes […] ausgeben«. Darüber hinaus diene die vorgebliche Orientierung an »Prinzipien eines unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen und unterworfen zeigen darf«, dem Kaschieren und Sublimieren der tatsächlich vollzogenen und beschämenden Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft: 377 f. Rechtschreibung behutsam angepasst – HK.

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Elizabeth Anscombe

3.2 Elizabeth Anscombe In der zeitgenössischen Philosophie ist es Anscombe, die der Schopenhauer’schen Kritik an der Unbedingtheits-Konzeption moralischer Forderungen am nächsten gekommen ist. Auch sie meint theologische Voraussetzungen ›des moralischen Sollens‹ zu erkennen; auch sie diagnostiziert, nach deren Entfallen, dessen Sinnentleerung. Anscombe vertritt demnach, wie Schopenhauer (und wie Philippa Foot), eine Variante der »These vom Scheincharakter der besonderen Kraft des moralischen ›soll‹«. 10 Anscombe ist eine Radikale im öffentlichen Wahrheitsdienst. Sie geht so weit zu fordern, dass wir »die Begriffe der Pflicht (duty) und der Verpflichtung (obligation) – im Sinne der moralischen Pflicht und der moralischen Verpflichtung – über Bord werfen sollten […], ebenso […] den moralischen Sinn von ›sollte‹ (ought)«. 11 Diese Vorstellungen seien in einer obsoleten Ethik-Konzeption zu Hause – und nach deren Absterben nur noch schädlich (217). In ihrer Argumentation für diese radikale These geht Anscombe von einem »gewöhnlichen« Begriff des »Sollens« aus (240). In diesem funktionalen Sinn sollte man eine bestimmte Handlung ausführen, wenn sie für das Funktionieren einer Maschine oder für das Leben eines Organismus gut ist, an deren Funktionstüchtigkeit oder an dessen Gedeihen einem liegt (222). Diesem harmlosen ›Sollen‹ sei, unter dem Einfluss des Christentums (223), ein zusätzlicher, speziell »moralischer Sinn« zugewachsen (222), in dem es »mit einem eigentümlichen Gewicht ausgestattet« zu sein scheint (224). In diesem moralischen Sinn habe das gewöhnliche ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ die Bedeutung eines Verpflichtetseins oder einer Verbindlichkeit angenommen, wie sie im Recht zu Hause sei (223). Der Begriff einer moralischen Verpflichtung funktioniere nur im Kontext von Gesetzen (240). Durch die christliche »Gesetzeskonzeption der Ethik« (223) sei das ›Sollen‹ moralisch aufgeladen worden. Innerhalb dieser Konzeption würden die moralischen Gebote als die Gesetze eines göttlichen Gesetzgebers aufgefasst (224). »Natürlich ist eine solche Gesetzeskonzeption nicht ohne den Glauben an Gott als Gesetzgeber Vgl. Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens: 3. G. E. M. Anscombe, »Moderne Moralphilosophie«: 217. – Die in den Text einfügten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text. Die zitierten Sätze aus der deutschen Ausgabe wurden teilweise leicht geändert.

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möglich« (224 – Hervorh. HK). Mit dem Entfallen dieser theologischen Voraussetzung sei die Gesetzeskonzeption der Ethik ebenso hinfällig wie ihre Ausgeburt: das spezifisch ›moralische Sollen‹. Anscombe meint also, wie vor ihr schon Nietzsche, dass mit dem Tod Gottes die Moral im herkömmlichen Sinn ihr Fundament verloren habe. Ohne dieses Fundament sei der Begriff des moralischen ›Sollens‹ »von der Begriffsfamilie abgeschnitten […], der er entstammt« (239 f.); sei dieses ›Sollen‹ »ein bloßes Wort ohne einsehbaren Inhalt« geworden, das »keinen wirklichen Begriff mehr bezeichnet« (226) – mithin ein sprachlicher Ausdruck ohne wirkliche Bedeutung (227). 12 Wenn die Absolutheit des ›moralischen Sollens‹ nicht mehr gewesen ist als die säkularisierte Stimme eines absoluten Gottes, büßen moralische Forderungen mit dessen Autoritätsverfall auch ihre Autorität ein. Anscombe führt es auf die langwährende Vorherrschaft des Christentums zurück, dass der Begriff einer spezifisch moralischen Verbindlichkeit auch nach dem Wegfall seiner Voraussetzungen und bis heute ein munteres Nachleben hat (224). Durch die Dauer jener Dominanz seien solche spezifisch moralischen Begriffe »tief in unsere Sprache und in unser Denken eingebettet« (223). Sie blieben, »obwohl sie ihre Wurzel verloren haben« (224), nicht nur sprachmächtig. Das ihn umschließende Dickicht des Gewohnten wäre es demnach, was dafür gesorgt hat, dass der entwurzelte Baum der Pflichtmoral noch so lange aufrecht stehen konnte. Was von dem religiös grundierten moralischen Sollen fortlebt, nennt Anscombe »die Atmosphäre des Ausdrucks«: des sprachlichen Ausdrucks ›Sollen‹ (240 – Hervorh. HK). Das ›moralische Sollen‹ suggeriere deshalb, »nachdem es zu einem Wort von bloß noch mesmerischer Kraft geworden ist […], noch immer großes Gewicht […] und eignet sich dafür, eine starke psychologische Wirkung hervorzurufen« (226). Es gehöre zur überkommenen Aura moralischer Verpflichtungen, dass die spezifisch moralischen Ausdrücke weiterhin »mit einer besonderen Emphase und einem besonderen Gefühl« (224) und »mit einem charakteristischen feierlichen Nachdruck« verwendet würden (227). So sei die interessante Situation entstanden, »daß der Begriff der ›Verpflichtung‹ weiterbestand und das Wort ›sollen‹ mit jener eigentümlichen Kraft versehen« blieb, »die man Eine verwandte und doch deutlich andere Geschichte erzählt Alasdair MacIntyre in After Virtue.

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Philippa Foot

ihm in seinem ›moralischen‹ Sinn zuschreibt«: obwohl diese Begriffe nun »außerhalb des Gedankengebäudes« stünden, das allein sie »wirklich verständlich machte« (224). Als Therapie und Ausweg aus dieser merkwürdigen Lage empfiehlt Anscombe, »den Gedanken eines ›moralischen Sollens‹ fallen zu lassen und zum (angeblich) gewöhnlichen ›Sollen‹ zurückzukehren« (240). Wenn man sagen könnte, »das Gedeihen eines Menschen qua Mensch bestehe in seinem Gutsein (z. B. in Tugenden)« (240), und dieses oder jenes sei für sein Gedeihen erforderlich, dann würde sich daraus ergeben, dass ein Mensch die entsprechenden gedeihlichen Handlungen ausführen sollte. Diese ›aristotelische‹ Konzeption des Sollens würde aber, Anscombe zufolge, verlangen, dass man über eine überzeugende Auffassung von der menschlichen Natur und von menschlichem Handeln, von den Tugenden und vor allem von menschlichem Gedeihen verfügte (241). Es ist fraglich, ob wir darüber verfügen oder, wie (in ihrem Kontext) ›die Alten‹, noch einmal darüber verfügen werden. Theorien der menschlichen Natur scheinen so ›outdated‹ zu sein wie, für Anscombe, die angeblich theologischen Voraussetzungen des ›moralischen Sollens‹.

3.3 Philippa Foot In ihrem einflussreichen Aufsatz »Morality as a System of Hypothetical Imperatives« bestreitet Foot, dass moralische Forderungen »einen eigentümlichen und ehrwürdigen Status« besitzen. 13 Foots Vorstoß geht in zwei Richtungen, die sorgfältig voneinander zu unterscheiden sind. Im kritischen Teil ihrer Überlegungen möchte sie zeigen, dass sich der angeblich ›kategorische‹ (unbedingte) Charakter moralischer Forderungen nicht plausibel explizieren lässt. Deshalb können, ihr zufolge, »kategorische Imperative […] nicht diejenige Autorität oder bindende Kraft besitzen, welche für sie beansprucht wird«. 14 Im konstruktiven Teil ihres Aufsatzes macht Foot den Vorschlag, moralische Forderungen als ›hypothetische‹ Imperative aufzufassen. Vgl. Foot, ›Hypothetical Imperatives‹ : 172. Auf diesen Aufsatz beziehen sich in der Folge die Seitenzahlen, die in den Text der Darstellung eingefügt sind. 14 Vgl. dies., »A Reply to Professor Frankena«: 175. 13

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Die folgende Foot-Darstellung ist deshalb so ausführlich, und so gründlich belegt, weil diese Philosophin eine der wichtigsten Gegenpositionen zur Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen formuliert; eine Auffassung überdies, die leicht missverstanden wird. 15 Außerdem hat die kritische Beleuchtung von Foots Konzept, im 4. Kapitel dieser Untersuchung, und die dort erfolgende Übernahme des konstruktiven Teils ihrer Auffassung, großes Gewicht für die Formulierung der systematischen Gesamtposition, die ich in meiner Abhandlung herausarbeiten möchte. Im Unterschied zu Anscombe hält Foot »unseren gegenwärtigen […] Gebrauch des ›Sollens‹ in moralischen Kontexten« (172) nicht durchweg für sinnlos. Sie kann deshalb, anders als ihre Kollegin, einen eigenen Vorschlag zum Verständnis dieses Sollens machen, im Sinne »einer Moral hypothetischer Imperative« (170). Damit steht Foot auch im Gegensatz zu Schopenhauer. Dieser konnte moralische Forderungen nicht als ›hypothetische‹ Imperative verstehen, und hielt sie deshalb für sinnlos. Sah er doch jedes sinnvolle, für ihn allemal hypothetische Sollen auf Sanktionen bezogen: ein Bezogensein, das ihm den ›moralischen‹ Charakter irgend einer Forderung auszuschließen schien. Könnte man zeigen, wie ich im 4. Kapitel zeigen möchte, dass Schopenhauer in diesem Punkt irrt, wäre wenigstens für seine Anhänger der Weg frei, sich Foots Auffassung moralischer Forderungen anzuschließen. 16 Für das Verständnis des kritischen Aspektes von Foots Auffassung ist es wichtig, dass man mit ihr zwischen Gebrauch und Charakter eines Imperativs unterscheidet. Ein Imperativ kann hypothetisch verwendet werden, ohne hypothetisch zu sein (d. i. ohne einen hypothetischen Charakter zu haben), und umgekehrt. 17 Hypothetische Imperative sind für Foot dadurch definiert, dass sie von den Wünschen und Interessen ihrer Adressaten abhängen (158 f.). Die Vgl. z. B. die Debatte zwischen Foot und William Frankena. Letzterer kritisiert Foot in »The Philosopher’s Attack on Morality«, sowie in seiner Carus-Lecture II: »Is Morality a System of Ordinary Oughts?«. Foot kontert die Kritik in: »A Reply to Professor Frankena«, sowie in: »Williams Frankena’s Carus Lectures«. 16 Foots Position ist leicht vereinbar zu machen mit Schopenhauers mitleidsethischem Ansatz. Die Vermeidung von Leid und die Hilfe für Hilfsbedürftige kann man als moralische Oberzwecke auffassen, zu deren Realisierung bestimmte Handlungen geboten werden. Ein Mitleidsethiker wie Schopenhauer müsste allerdings, um Foots Auffassung teilen zu können, dafür seine deskriptive Ethik-Konzeption aufgeben. 17 Schon Kant war sich darüber im Klaren, dass Imperative andersartig zu scheinen vermögen, als sie tatsächlich sind. Vgl. ders., GMS: 419. 15

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intentionalen Gegenstände von Wünschen und Interessen kann man als ›Zwecke‹ bezeichnen. Hypothetische Imperative gebieten demnach Handlungen, von denen anzunehmen ist, dass sie geeignete Mittel zur Realisierung erwogener oder tatsächlicher Zwecksetzungen ihrer Adressaten darstellen. Im Sinne dieser Definition hypothetischer Imperative werden manche Imperative zumindest nicht-hypothetisch verwendet: So verhält es sich mit vielen moralischen Forderungen. Solche Moralvorschriften scheinen daher nicht von den Wünschen und Interessen ihrer Adressaten abzuhängen. 18 Das zeigt sich daran, dass sie, anders als hypothetische Imperative, nicht allemal hinfällig werden, wenn sich die Wünsche und Interessen ihrer Adressaten ändern (159 f.). 19 So stellt sich die Frage, ob dem nicht-hypothetischen Gebrauch solcher Imperative auch ein nicht-hypothetischer Charakter entspricht; ob also die ›nicht-hypothetische‹ Verwendung eines solchen Imperativs seinen ›kategorischen‹, mithin ›moralischen‹ Charakter vindiziert. Foot bestreitet dies mit dem Hinweis darauf, dass zum Beispiel auch Anstandsregeln auf dieselbe, nicht-hypothetische Weise verwendet werden – also ohne Bezugnahme auf die Wünsche und Interessen ihrer Adressaten (160). Die nicht-hypothetische Verwendung einer Forderung, als Kriterium für ihre Kategorizität genommen, würde also Aufforderungen zu ordentlichem Benehmen und moralische Gebote gleichermaßen zu kategorischen Imperativen machen. Auf diese Weise käme aber der »besondere kategorische Status« (161) moralischer Forderungen nicht heraus, und schon gar nicht die »besondere Würde und Notwendigkeit« (160), welche für gewöhnlich zum Nimbus eines ›kategorisch‹ genannten Imperativs gehören, nicht aber zur minderen Würde eines Anstandsgebotes. Auch andere Versuche, den kategorischen Forderungs-Charak»Common opinion agrees with Kant in insisting that a moral man must accept a rule of duty whatever his interests or desires.« Vgl. Foot, ›Hypothetical Imperatives‹ : 158. Im Gegensatz zu einem solchen Anschein von Desinteressiertheit sind hypothetische Imperative, Foot zufolge, »desire or interest-dependent«. Vgl. dies., »Williams Frankena’s Carus Lectures«: 305. 19 »The use of ›should‹ and ›ought‹ in moral contexts is, however, quite different. When we say that a man should do something and intend a moral judgement we do not have to back up what we say by considerations about his interest or his desires; if no such connection can be found the ›should‹ need not be withdrawn. […] Without such a connection the ›should‹ does not stand unsupported and in need of support; the support that it requires is of another kind.« Vgl. dies., ›Hypothetical Imperatives‹ : 159 f. 18

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ter, und das angeblich Moralspezifische daran, zu erhellen, werden von Foot zum Scheitern verurteilt. So kann man, zweitens, den Unterschied zwischen Regeln schicklichen Benehmens, einerseits, und Regeln des moralisch Verbindlichen, andererseits, durch ihre unterschiedliche Fähigkeit beschreiben wollen, Gründe für die Regelbefolgung zu liefern. Die Existenz einer Anstandsregel ist nicht für jedermann ein Grund, sich danach zu benehmen. Während dafür manche Zeitgenossen Zusatzgründe brauchen, scheinen »moralische Gesichtspunkte […] ein hinreichender Handlungsgrund« zu sein. 20 Nicht-hypothetisch verwendete Forderungen, denen man nicht »durch das Haben oder Nichthaben besonderer Interessen oder Wünsche entkommt« (162), laden zu der Vorstellung ein, sie würden »an sich selber« Handlungsgründe darstellen (161). 21 Wenn, mit anderen Worten, moralische Forderungen die Stütze von Interessengründen von vornherein nicht zu brauchen scheinen, durch deren Wegfallen auch sie entfallen könnten; und wenn andere Arten sie stützender Gründe nicht sichtbar sind: dann scheinen solche Forderungen selber Grund genug zu sein, sich danach zu verhalten. Sie würden sich demnach selber, aus eigener Kraft, autorisieren. Aber auch dieser Vorschlag scheint, wie schon der erste, nur die Frage wieder aufzuwerfen, die man mit ihm zu beantworten hoffte. Wenn der Unterschied zwischen andersartigen und moralischen Forderungen sich daran zeigen würde, dass sich die handlungsbestimmende Kraft der letzteren, als deren Alleinstellungsmerkmal, von selbst verstünde, dann erklärte diese angebliche Selbstautorisierung der Moralgebote leider gar nichts. Sie schüfe nur ein zusätzliches Erklärungsbedürfnis (161): Die Fähigkeit einer Forderung zur Selbstautorisierung, das wäre tatsächlich so etwas wie eine »magische Kraft« (167). Drittens erinnert Foot an die Versuche, moralischen Forderungen einen Vernunftanstrich zu geben, um sie dadurch von andersartigen Geboten abzuheben. Sei doch das Ignorieren ›moralischer‹ Erfordernisse von ganz anderem Kaliber als eine ›Na-und‹-Attitude gegenüber einer Anstandsregel. Die Versuche, diesem Unterschied dadurch Rechnung zu tragen, dass man Amoralisten eine VernünfVgl. dies., ›Hypothetical Imperatives‹ : 164 – Hervorh. HK. Foot nennt das eine angeblich »automatic reason-giving force« und erläutert: »it is supposed that moral considerations necessarily give reasons for acting to any man«. Vgl. dies., ›Hypothetical Imperatives‹ : 161.

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tigkeit abspricht, welche man Moralisten zuspricht, beruhen nach Foot samt und sonders auf illegitimen Annahmen. Die Handlungen eines Moralverächters seien nicht allemal irrational. Weder fehle es ihnen notwendigerweise an jener Vernunft, die es zur erfolgversprechenden Zweckanpassung des eigenen Handelns braucht. Noch sei das Benehmen moralischer Kostverächter ›inkonsistent‹ oder deshalb bar aller Vernunft, weil sie damit bei allen UniversalisierbarkeitsPrüfungen kläglich, wenn auch klaglos, durchfallen (161 f.). Und, so darf man Foots Überlegung zu Ende führen: Weitere Begriffe praktischer Rationalität, mittels derer man moralische Forderungen aus der Gesamtheit der Forderungen herausheben könnte, gibt es nicht. Die ›Bank von England‹ gibt auf Kants vorgeblich moralkonstitutiven Vernunftbegriff keinen Kredit (172 f.). Viertens kann Foot auch dem Versuch nichts Gutes abgewinnen, moralische Forderungen durch ihren normativen Charakter auszuzeichnen (162), oder, fünftens, durch die Notwendigkeit, welche das ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ in solchen Forderungen angeblich ausdrückt (163). Auch andersartige Forderungen sind normativ und können praktische Notwendigkeiten zum Ausdruck bringen. Mit beiden Antworten komme also nur die Frage nach dem Besonderen ›moralischer‹ Normativität und nach dem Eigentümlichen einer moralischen Notwendigkeit oder einer moralischen Bedeutung der Ausdrücke ›Sollen‹ oder ›Müssen‹ wieder auf die Tagesordnung (162 f.). Sechstens sei auch die sogenannte Unausweichlichkeit einer Forderung nicht moral-spezifisch. Wenn damit gemeint sein solle, dass eine Forderung bestimmte Handlungen vorschreibe, »was auch immer unsere Interessen und Wünsche sein mögen«; wenn wir der Forderung also nicht dadurch entkommen können, dass wir bestimmte Wünsche oder Interessen aufgeben oder erst gar nicht haben (160 22 ): dann wären, Foot zufolge, auch Anstandsgebote, oder Auf»No one, it is said, escapes the requirements of ethics by having or not having particular interests or desires.« Vgl. dies., a. a. O.: 162. – Schon Kant hatte hypothetische und kategorische Imperative durch die Verschiedenheit der Fluchtmöglichkeiten bzw. Ausflüchte unterschieden, die ihren Adressaten offenstehen oder verschlossen sind: »[…] weil, was bloß zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu tun notwendig ist, an sich als zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los sein können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen das unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegenteils frei läßt«. Vgl. ders., GMS: 420 – Hervorh. HK. 22

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forderungen, sich an eine Clubregel zu halten, ›unausweichlich‹ (162). 23 Foots Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen liegt auf der Hand. Das Scheitern aller durchgenommenen Explikationsversuche mache es »ungewiss, ob das Lehrstück vom kategorischen Imperativ auch nur sinnvoll ist«. Offenbar hätten moralische Forderungen »keinen höheren Anspruch darauf, kategorische Imperative zu sein, als Feststellungen darüber, was sich gehört« (164). »Warum nur sollte man darauf insistieren, dass es einen solchen [besonderen, eigentümlich moralischen] Sinn [von ›sollen‹ oder ›müssen‹] gibt, wenn es sich als so schwer erweist, zu sagen, worin er besteht?« (163 – Einf. HK). Der »emphatische Gebrauch des ›Sollens‹«, und allemal dessen kantianische Interpretation, beruhe auf einer »Täuschung« und rechtfertige deshalb nicht die Annahme einer besonderen »Autorität des moralischen Gesetzes« (167). Der gleichwohl nicht zu leugnenden Besonderheit moralischer Forderungen trägt Foot dadurch Rechnung, dass sie die Aufmerksamkeit auf einen ›nicht-kognitiven‹ Aspekt solcher Vorschriften lenkt. Die »relative Strenge unserer moralischen Erziehung« erzeuge das Gefühl der Unausweichlichkeit und die Vorstellung einer »›bindenden Kraft‹ der Moral«. Ein Gefühl, das man leicht für die Sache selber nehme (162). Die angebliche Unausweichlichkeit moralischer Forderungen würde demnach nur jene andere Unausweichlichkeit widerspiegeln, mit der viele von uns als Kind dem moralischen Oktroi autoritärer Erzieher unterworfen waren. Die so erzeugten besonderen Verpflichtungsgefühle lassen sich aber, Foot zufolge, nicht »zur Unterstützung des Lehrstücks vom kategorischen Imperativ herbeizitieren« (164). Im konstruktiven Teil ihres Aufsatzes wirbt Foot, dessen Titel gemäß, für eine Moral als ein System hypothetischer Imperative. 24 Die nicht-hypothetisch verwendeten Forderungen der Moral sind, Foot zufolge, ihrem wirklichen Charakter nach ›hypothetische‹ Im-

»Since no one says that the rules of etiquette are categorical imperatives the task must be to explain the additional inescapibility belonging to morality.« Vgl. Foot, ›Hypothetical Imperatives‹ : 172. 24 »Moral judgements are, I say, hypothetical imperatives in the sense that they give reasons for acting only in conjunction with interests and desires.« Vgl. dies., »A Reply to Prof. Frankena«: 177. 23

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perative. 25 Diese Konsequenz lag nahe, nachdem ihre Bemühungen um eine Explikation des angeblich ›kategorischen‹ Charakters moralischer Forderungen erfolglos geblieben waren. Was bedeutet es aber, moralische Forderungen als hypothetische Imperative aufzufassen? Es heißt, sie als Vorschriften anzusehen, die Handlungen als Mittel zum Erreichen moralischer Zwecke gebieten. Mit ›moralischen Zwecken‹ sind bei Foot solche Zielsetzungen gemeint, die sich aus moralischen Tugenden wie Großmut, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit oder Ehrlichkeit ergeben. 26 Wenn eine Handlung in diesem Sinne für einen guten Zweck geschieht, dann ist sie moralisch lobenswert, und die Forderung einer derart lobenswerten Handlung ist eine moralische. Solche Vorschriften schreiben ein Verhalten vor, das einem tugendhaften Zweck gemäß und zuletzt durch den tugendhaften Zweck motiviert ist (165). Der ohne eigennützigen Hintergedanken gehegte Wunsch, das Leid anderer zu lindern oder ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, geht auf solch einen moralischen Zweck, zu dessen Realisierung das Ausführen bestimmter Handlungen – mittels dann so zu nennender ›moralischer‹ Forderungen – verlangt werden kann. 27 Der Zweckbezug eines Imperativs und des Motivs zur Forderungsbefolgung müsste demnach den moralischen Charakter der beFoot fasst ihre damalige Position in einem späteren Text folgendermaßen zusammen. Nachdem sie zwischen hypothetischen Imperativen (HI) und dem nicht-hypothetischen Gebrauch (use) eines Imperativs (NHU) unterschieden hat, schreibt sie: »My argument has been that a non-hypothetical use of ›ought‹ does not determine whether or not we have a hypothetical imperative. NHU may coexist with HI; and I suggested that this is just what we find in the case of moral judgements as in pronouncements about what ought to be done on the grounds of a rule of etiquette.« Vgl. Foot, »Williams Frankena’s Carus Lectures«: 305. 26 »[…] a man may care about the suffering of others, having a sense of identification with them, and wanting to help if he can. […] If this is what he does care about, then he will be attached to the end proper to the virtue of charity«. Vgl. dies., ›Hypothetical Imperatives‹ : 165 – Hervorh. HK. 27 Ein moralischer Zweck, welcher hypothetische Imperative der Moral generiert, ist auch der zur Freundschaft gehörende Wille, Freunden in Not beizustehen. So formuliert Lawrence Blum (im Anschluss an Iris Murdoch) folgenden Imperativ für moralisch signifikante Freundschaftsdienste: »one ought to help the friend simply because the friend needs help and not as a way of shoring up the friendship or guarding against the loss of friendship.« Vgl. ders., »Iris Murdoch and the domain of the moral«: 12. Blum formuliert beiläufig so etwas wie ein Schema für die hypothetischen Imperative der Moral, indem er von einer moralisch handelnden Person verlangt: »She must act out of regard for the other’s good and act so as to promote that good.« Vgl. ders., a. a. O.: 13. 25

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treffenden Forderung nicht ausschließen. Es kommt ganz auf die Zwecke an! Von der Art des Zwecks hängt es ab, ob die Forderung eines Mittels zu diesem Zweck eine ›moralische‹ Forderung genannt werden kann. Die Forderung eines (ohne Hinterabsicht) auf moralische Zwecke ausgerichteten Handelns ist demnach eine moralische Forderung. Foots Art und Weise, moralische von andersartigen Forderungen zu unterscheiden, scheint also auf eine Unterscheidung zwischen verschiedenartigen Zweckorientierungen auf Seiten der Forderungsadressaten hinauszulaufen. Während etwa Klugheitsforderungen von den Zwecken abhängen, auf welche sich ›bloß‹ individuelle Bedürfnisse oder Interessen ihrer Adressaten richten, sind moralische Forderungen zwar von solchen Zweckbezügen unabhängig. Stattdessen sind es bei ihnen moralische Zwecke, welche durch moralisch-zweckmäße Handlungen ›bedient‹ werden. Dass jeder Mensch solche moralischen Zwecke habe und seiner vernünftigen Natur nach haben müsse, ist die kantische Lehrmeinung (166 f., 170). Für Foot kommt darin nur ein frommer Wunsch zum Ausdruck. Der Adressatenkreis ihrer moralischen Imperative ist folglich auf diejenigen beschränkt, die tugendhaft leben wollen und die entsprechenden moralischen Zwecke verfolgen: tatsächlich, und bloß kontingenterweise. Was derart kontingent ist, und mitnichten zur menschlichen ›Bestimmung‹ gehört, sei glücklicherweise weit verbreitet. 28 Damit tritt die Idee einer moralischen Gesellschaft ins Leben, als eine Art moralisches Zweck(e)bündnis. Gemeint ist die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht als zur Moral Zwangsverpflichtete, sondern »als Freiwillige verstünden, miteinander verbunden, um für Freiheit und Gerechtigkeit und gegen Inhumanität und Unterdrückung zu kämpfen« (167). Die moralischen Zwecke, um deretwillen moralische Forderungen erhoben werden, scheinen demnach gemeinsame Zwecke zu sein, »welche sich eine Anzahl von Leuten zu eigen gemacht hat, die sich in einem gemeinsamen Projekt engagieren« (159). Hier, bei Foot, deutet sich an, dass man mittels der Idee einer moralischen ›Gemeinschaft‹ vielleicht die besondere Kraft moralischer Forderungen verständlich machen kann. In ihrer Hart-Lecture von 1995 hat Foot radikale Selbstkritik an »In my view we must start from the fact that some people do care about such things, and even devote their lives to them; they may therefore talk about what should be done presupposing such common aims.« Vgl. Foot, ›Hypothetical Imperatives‹ : 170.

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ihrer früheren ›Moral hypothetischer Imperative‹ geübt. 29 Durch eine veränderte Auffassung moralischer Handlungsgründe eröffnet sie sich dort den Weg zu einer Konzeption nicht-hypothetischer Moralgebote und eine affirmative Lesart der ›Vernünftigkeit‹ der Moral. Diese Selbstkorrektur werde ich im 4. Kapitel, am Ende meiner Kritik an Foots früherem Vorschlag, ausführlicher darstellen und kritisch beleuchten.

3.4 Ernst Tugendhat Einerseits argumentiert Tugendhat gegen die Annahme, dass moralische Forderungen einen ›unbedingten‹ oder, wie er sagt, ›absoluten‹ Charakter besitzen. Andererseits entwickelt er Gründe für eine ›relative‹ Auffassung solcher Gebote, mithin dafür, dass es sich bei ihnen um ›hypothetische‹ Imperative handelt. Wie bei Foot sind die beiden Stränge seiner Argumentation voneinander unabhängig. Sollte sich also seine kritische Strategie als wenig überzeugend erweisen, könnten seine Erwägungen zugunsten einer ›Moral hypothetischer Imperative‹ dennoch triftig sein. Tugendhats Gründe gegen den ›absoluten‹ Charakter moralischer Direktiven sind Gründe gegen Kant. Nun kann man leider nicht sagen, dass er große Anstrengungen unternommen hätte, um herauszufinden, was Letzterer mit der ›Unbedingtheit‹ eines Moralgebots gemeint hat. So hat Tugendhat sich nicht die Mühe gemacht, den dafür einschlägigen und zentralen kantischen Passus, im 2. Abschnitt der Grundlegung (414 ff.), eingehend zu interpretieren. 30 Seine Kant-kritische Haltung resümiert er mit den folgenden Worten: […] so können wir jetzt feststellen, dass sein Versuch, dem Gedanken eines kategorischen Imperativs [also eines ›unbedingten‹ Moralgebotes] im Sinn eines Imperativs aus reiner (nicht-relativer) Vernunft, der schon an und für sich nicht recht verständlich war, einen bestimmten Inhalt zu geben, gescheitert ist, und gescheitert ist damit auch […] Kants Gedanke, die Moral absolut Vgl. Foot, »Beruht der moralische Subjektivismus auf einem Irrtum?« Diese Feststellung gilt auch für siebte von Tugendhats Vorlesungen über Ethik (= VüE), die dem 2. Abschnitt von Kants Grundlegung vorbehalten ist. Vgl. ders., a. a. O., vor allem 132 ff. – Die meines Erachtens entscheidenden und erhellenden Textstellen werden von Tugendhat überhaupt nicht behandelt. Vgl. dazu im 5. Kapitel dieser Untersuchung die Abschnitte 5.5. Der ›reasons approach‹ ; 5.6. Moralische Gründe für das unbedingt Erforderliche; sowie 5.7. Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen.

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(als eine Konsequenz der Idee einer reinen praktischen Vernunft) zu begründen. (137 f. – Einf. HK.) 31

Tugendhat kommt zu diesem Ergebnis, weil er die Vorstellung eines ›unbedingten‹ Sollens sofort mit dem Vernunft-Hintergrund der kantischen Ethik in Verbindung bringt und weil er mit der Idee eines ›kategorischen‹ Imperativs unmittelbar assoziiert, dass kantisch konzipierte Moralvorschriften ›Vernunftgebote‹ sind. Laut Tugendhat hat Kant »[m]it einem kategorischen Imperativ […] eine Vernunftregel ohne Bezugspunkt gemeint: es wäre dann rational, etwas zu tun, nicht mit Bezug auf einen bestimmten Zweck und auch nicht mit Bezug auf das Wohlergehen des Handelnden [d. i. des Adressaten der Regel] […], sondern einfachhin« (44 – Hervorh. und Einf.: HK). Tugendhats Kritik daran lautet: »Was ein Handeln sein soll, das an und für sich rational sein soll, ist nicht zu sehen. Diese Rede erscheint sinnwidrig.« (A. a. O.) 32 Die Vernunft, von der Tugendhat die Bedeutung von Kants kategorisch-absoluten Imperativen abhängen sieht, nennt er ihrerseits eine ›nicht-relative‹ oder ›absolute‹ (25, 44), oder einfach die ›fettgedruckte‹ Vernunft (45, 70 u. ö.). Merkwürdigerweise stützt er seine Versuche, den unbedingten Charakters kantischer Moralgebote verständlich zu machen, nicht auf jenen kantischen Vernunft-Begriff, demzufolge diese ein ›Vermögen der Prinzipien‹ ist 33 , also Prinzipiengründe für das moralisch Geforderte liefern kann – im Unterschied zu den zweckrationalen Gründen für hypothetische Klugheitsgebote. »Die Bedeutung, die Kant ihr [d. i. der ›grammatisch absoluten Verwendung des Wortes gut‹] gab, muß verworfen werden, weil eine absolute Begründung […] gegen den Sinn von Rationalität […] verstößt«. 34 Die Idee einer ›absoluten Begründung‹, von der schon in dem oben eingerückten Tugendhat-Zitat die Rede war 35 und die er Kant zuschreibt, interpretiert er als »die Idee des Begründetseins selbst« (24). Ob dies eine kantische Idee ist oder nicht vielmehr eine Die in der Folge in den Haupttext eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf Tugendhats VüE. 32 Meines Erachtens haben Kants kategorische Imperative durchaus einen ›Bezugspunkt‹, nämlich in moralischen Prinzipien bzw. in dem moralischen Prinzip, mit Bezug worauf sie begründet werden können. Vgl. dazu das 5. Kapitel der vorliegenden Schrift. 33 Vgl. Kant, KdrV: 356. 34 Vgl. Tugendhat, VüE: 53 f. – Hervorh. HK. 35 Vgl. auch ders., VüE: 24, 25, 28, 68 u. ö. 31

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Vorstellung, die ihm von seinem Interpreten ›untergeschoben‹ wird, ist sehr die Frage. Schwer von er Hand zu weisen ist freilich Tugendhats Schlussfolgerung: »Aus der Idee des Begründetseins als solcher kann […] überhaupt nichts Inhaltliches folgen« (24); sowie seine Feststellung, dass es »eine solche Vernunft nicht gibt« (70 36 ). Interessanter als Tugendhats Kant-Kritik ist sein konstruktiver Vorschlag. Zu den Gründen gegen die Annahme eines ›unbedingten‹ Charakters moralischer Forderungen kommen bei ihm Gründe für die ›Relativität‹ solcher Vorschriften. Aufgrund dessen fasst er, wie vor ihm Foot, moralische Forderungen als hypothetische Imperative auf. 37 Das gilt jedenfalls für den Tugendhat der Vorlesungen über Ethik von 1993. Dabei sind nicht nur seine Gründe für diese Auffassung andere als bei Foot. Sondern auch seine Beschreibung hypothetischer Moralgebote ist eine andere – und prima facie ganz erstaunliche. Begründet hat Tugendhat den hypothetischen Charakter moralischer Vorschriften mit der angeblich doppelten Relativität des moralischen ›Müssens‹ (60): Tugendhats erstes Argument für den relativen Charakter moralischer Forderungen verweist auf die von ihm behauptete bedeutungsmäßige Sanktionsbezogenheit eines jeden ›Müssens‹ – also auch eines moralischen (45 ff.). Dadurch seien Moralvorschriften – wie andere Forderungen auch – auf ein Ziel gerichtet, nämlich auf die Vermeidung von Sanktionen (46). Dieser Umstand sei es, der auch moralische Gebote zu hypothetischen Imperativen mache. Im Unterschied zu anderen Arten hypothetischer Imperative seien moralische Normen aber soziale Regeln. 38 Entsprechend fasst Tugendhat – in Übereinstimmung mit Durkheim und anderen soziologischen Gewährsleuten – die mit moralischen Regeln verknüpften Es könnte sein, dass Tugendhat bei seiner Rede von einer ›absoluten Begründung‹ das ›epistemische‹ Verhältnis zwischen Kants reiner praktischer Vernunft und dem Sittengesetz, als deren Produkt, im Sinn hatte. Vgl. dazu Kants ›Faktums‹-Lehre in der Analytik der KprV. Darüber handele ich im 6. Kapitel dieser Untersuchung, im Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten. 37 Vgl. Tugendhat, VüE: 46, Fn. 7. 38 Man kann füglich bezweifeln, dass ihr sozialer Charakter moralische Regeln gegenüber (anderen) hypothetischen Geboten auszeichnet. Wenn andere Menschen meine Verletzung eines Klugheitsgebotes dumm, ärgerlich oder lächerlich finden, dann handelt es sich auch dabei um soziale Reaktionen. Auch Klugheitsgebote können also soziale Normen sein. 36

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Sanktionen als soziale Reaktionen auf (45 ff.). Im Gegensatz zu externen sozialen Sanktionen, wie sie etwa zu Rechtsnormen gehören (46 f.), interpretiert Tugendhat die moralische Sanktion als »eine innere« (47). Mit solchen, »moralische Gebote konstituierenden […] ›interne[n]‹ Sanktionen« meint Tugendhat zum Beispiel moralischen »Tadel und Lob« oder moralische »Bewunderung und […] Verachtung«, oder Gefühlsreaktionen wie »Schuld, Zorn und Empörung«. 39 Der ›interne‹ Charakter solcher Reaktionen soll darin bestehen, dass sie »sich gar nicht unabhängig von der Regel definieren lassen«, auf deren Verletzung damit reagiert wird; und dass sie »den die Regel Verletzenden gar nicht treffen, wenn er die Regel nicht schon bejaht«. 40 Man kann sich den von Tugendhat gemeinten ›internen‹ Charakter moralischer (Gefühls-) Reaktionen weiter verdeutlichen, indem man drei Lesarten des Gegensatzes ›intern-extern‹, bezogen auf solche Reaktionen, unterscheidet. Erstens kann damit unterschieden werden, ob eine Sanktion ›von außen‹ oder ›von innen‹ kommt. 41 Zweitens kann mit einer ›internen‹ Sanktion eine gemeint sein, die zunächst ›außen‹ war (zum Beispiel die Kritik eines anderen an meinem Verhalten) und die dann internalisiert (also angeeignet und damit zur ›Selbstkritik‹) wurde. 42 In einem dritten Sinn setzen ›interne‹ Reaktionen voraus, dass zumindest der moralisch Reagierende ein ›moralisches Selbstverständnis‹ besitzt, wodurch ihn die Normverletzung ›im Innersten berührt‹. Wohingegen ›externe‹ Sanktionen, in diesem Sinn, kein solches Selbstverständnis voraussetzen. Wenn eine moralisch gemeinte Reaktion auf einen Menschen mit einem ›lack of moral sense‹ trifft, betrifft sie diesen nicht ›persönlich‹, sondern nur als einen gegebenenfalls unkomfortablen Umstand, dem er, wie anderem auch, Rechnung zu tragen hat. Vgl. ders., »Über die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen philosophischer und empirischer Forschung bei der Klärung der Bedeutung des moralischen Sollens«: 35. In späteren Arbeiten, wie den VüE, hat Tugendhat den nicht moralspezifischen Ausdruck ›Zorn‹ meistens durch den angemesseneren Ausdruck ›Groll‹ ersetzt. 40 Vgl. Tugendhat, Probleme der Ethik, ›Retraktationen‹ : 132. – Vgl. VüE: 59–61. Dort heißt es: »[…] nur wenn man […] zur Strafinstanz Ja sagen [kann], […] kann diese zu einer inneren Sanktion werden«. Vgl. a. a. O.: 61 – Einf. HK. 41 In diesem Sinne ist für John Stuart Mill der Ruf des Gewissens eine ›innere‹ Sanktion. Vgl. Mill, Utilitarianism, das 3. Kapitel. Im Sinne der so gefassten Unterscheidung trennt Peter Strawson ›reactive [= external] and self-reactive [= internal] feelings and attitudes‹ voneinander. Vgl. ders., »Freedom and Resentment«. 42 Vgl. hierzu Tugendhat, VüE: 60 ff. 39

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Wenn Tugendhat von ›internen‹ moralischen Sanktionen spricht, meint er dies in unserem dritten Sinn – oder er sollte es allein in diesem Sinne meinen. Der Kasus wird am deutlichsten, wenn man eine fremdadressierte Reaktion wie die Empörung betrachtet. Gemäß der ersten und zweiten Lesart unserer ›intern‹ ⁄›extern‹-Unterscheidung ist die Empörung eine ›externe‹ (oder zunächst eine externe) Reaktion, gemäß dem dritten Verständnis ist sie eine interne. 43 Sie hat nämlich auf Seiten des Empörten – als eines moralisch Engagierten – ein moralisches Selbstverständnis zur Voraussetzung. 44 Tugendhats Beschreibung hypothetischer Moralgebote ist mithin eine ganz andere als die von Foot gegebene. Diese hatte hypothetisch-moralische Forderungen als Handlungsgebote zur Verwirklichung moralischer Zwecke aufgefasst, die sich aus moralischen Tugenden ergeben sollten. Bei Tugendhat dagegen ist der Bezugspunkt eines hypothetisch-moralischen Imperativs eine angeblich moral-spezifische, interne Sanktion, und die moralischen Forderungen dienen der moralischen ›Sanktionsprophylaxe‹. Die These von der notwendigen Sanktionsbezogenheit einer jeden Forderung, wie sie Tugendhat verficht, ist uns bereits bei Schopenhauer begegnet. Während dieser Sanktionsbezug aber für Tugendhat einen Grund für den ›hypothetischen‹ Charakter moralischer Vorschriften darstellt, war dasselbe für Schopenhauer ein Grund, die Möglichkeit moralischer Forderungen überhaupt zu verwerfen. Die Erklärung dafür, dass für Tugendhat, anders für Schopenhauer, ein sanktionsbewehrtes moralisches Sollen oder Müssen nicht sinnlos ist, sondern die Kraft und Bedeutung hypothetischer Imperative besitzen kann: diese Erklärung liegt klarerweise in seiner Auffassung moralischer Sanktionen als interner Reaktionen. Dies ist ein Theorem, über das Schopenhauer nicht verfügte. – Der interne Charakter moralischer Reaktionen wird erneut im Mittelpunkt steDass für Tugendhat der ›interne‹ Charakter moralischer Reaktionen bedeutet, dass die moralische ›Empörung‹ eine interne Reaktion ist, macht er meines Wissens nur einmal explizit. Ein Individuum, das ein Gewissen hat und sich deshalb bei Gelegenheit eines macht, zählt sich, Tugendhat zufolge, »zu einer Totalität von Personen […], die mittels der inneren Sanktion von Empörung und Scham wechselseitig voneinander [moralisches Verhalten] fordern«. Vgl. ders., VüE: 60 – Hervorh. und Einf. HK. 44 Da es auch andere als moralische Selbstverständnisse gibt, kann man allerdings bezweifeln, dass der (in unserem dritten Sinn) ›interne‹ Charakter moralischer Reaktionen moralspezifisch ist – wie Tugendhat wohl meint. Das gilt erst recht für den zweiten Sinn: Man kann so ziemlich jede Reaktion anderer internalisieren. 43

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hen, wenn ich im 4. Kapitel dieser Untersuchung die von Tugendhat beschriebenen hypothetischen Moralgebote gegen Kritik verteidige. Tugendhats zweites Argument für die ›Relativität‹ des moralischen Sollens beruht auf seiner (mit der frühen Foot geteilten) Überzeugung, dass niemand auf dem Boden der Moral stehen muss. Kraft und Bedeutung moralischer Forderungen hingen demnach davon ab, ob Forderungsautoren und Forderungsadressaten sich moralisch verstehen, »sich als zugehörig zu[r] […] moralischen Welt ansehen«; ob sie m. a. W. zur sog. ›moralischen Gemeinschaft‹ dazugehören wollen (60). »Dem Müssen liegt also notwendigerweise ein (freilich so gut wie nie explizites und bewußtes) ›ich will‹ zugrunde.« (61) Diese Abhängigkeit moralischer Forderungen von einem Willen zur Moral ist also für Tugendhat ein weiterer Grund dafür, sie als ›hypothetische‹ Imperative anzusehen. Obwohl es für Tugendhat »kein absolutes Müssen gibt«, ergibt die von ihm behauptete doppelte Relativität moralischer Forderungen doch »ein Müssen besonderer Art, das durch die innere Sanktion der moralischen Gemeinschaft definiert wird, die jedoch ihrerseits nur greifen kann, wenn sie gewollt wird« (88). Wegen des angeblich spezifischen Charakters der Sanktionen, auf welche er moralische Forderungen bezogen sieht, liegt Tugendhat daran, die moralischen Normen innerhalb der Gesamtheit hypothetischer Imperative »als eine eigene Gattung von Regeln abzuheben« (46 – Hervorh. HK). Variatio delectat. In seinem Buch Probleme der Ethik von 1983 hatte Tugendhat noch gegen Philippa Foot und Ursula Wolf eingewandt, dass deren Auffassung moralischer Normen als hypothetischer Imperative moralische Normen »auf prudentielle Regeln […] reduziert«. Damit gingen, so Tugendhat damals, »alle intersubjektiven Konnotationen des ›muß‹ der sozialen Normen« verloren: »[…] es entfällt die Rede von einem Verpflichtetsein und von Schuld«, und es entfielen damit solche moralischen Reaktionen wie »Vorwurf, Tadel und Verachtung«. 45 Dass man diese Konnotationen eines deskriptiven Moralbegriffs, wie ihn auch Ethnologen zugrundelegten, zur Disposition stellen könne, fand der frühere Tugendhat mehr als zweifelhaft. In den späteren Vorlesungen über Ethik sieht es für ihn offenbar so aus, dass diese Konnotationen doch mit einer Moral hypothetischer Imperative vereinbar sind. Wie und aufgrund wovon? Dies 45

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Vgl. Tugendhat, Probleme der Ethik: 143 – Hervorh. HK.

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wird im folgenden Kapitel deutlich werden, wenn ich auf Tugendhat zurückkomme. In dem früheren Werk jedenfalls erblickte er in einer Moral hypothetischer Imperative eine revisionistische Konzeption, die besser nicht unter der (falschen) Flagge einer ›Moral‹ segeln sollte. 46 Tugendhats neuere Konzeption, in den Vorlesungen über Ethik, ist nun selber so ein Schiff, das Verdacht auf sich zieht und der Sorge Nahrung gibt, dass auf seinem abenteuerlichen Kurs moralische Normen ›auf prudentielle Regeln reduziert‹ werden. Diese Sorge ist allerdings unberechtigt: wie sich in meinem 4. Kapitel zeigen soll.

3.5 Richard Rorty Auch in der Ethik ist Rorty ein kraftvoller Kritiker des philosophischen Hauptstroms. 47 Eine Autorität wie J. B. Schneewind preist ihn für seine herzhafte Herausforderung des moralphilosophischen Kantianismus und der systematischen Moraltheorie überhaupt. 48 Es liegt ganz auf seiner pragmatistischen Generallinie, dass Rorty mit so etwas wie der Unbedingtheit einer moralischen Forderung auf Kriegsfuß steht. Rorty formuliert seinen Angriff aufs Unbedingte in Form einer Kritik an der ›Unterscheidung zwischen Moral und Klugheit‹. Dabei steht der Ausdruck ›Klugheit‹ für beide Arten von Kants ›hypothetischen Imperativen‹, also für jegliche Erfordernisse der Zweckmäßigkeit. Für Rorty ist die Unterscheidung von »Moral und Zweckmäßigkeit« das »obsolet« gewordene »Überbleibsel eines Vokabulars, das wir zu ersetzen versuchen sollten«. 49 Je nach Tageslaune ist Rortys Unwille gegenüber der Unterscheidung von Moralvorschriften und Klugheitsgeboten verschieden Vgl. ders., a. a. O.: 143 f. Ich beziehe mich hauptsächlich auf folgende Arbeiten Rortys zur Ethik: Contingency, irony, and solidarity (= ›Contingency‹); ders., »Freud and moral reflection« (= ›Freud‹); »Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche?« (= ›Aussagen‹); »Human Rights, Rationality, and Sentimentality« (= ›Human Rights‹); ders., »Hope in Place of Knowledge: A Version of Pragmatism« (= ›Hope‹), darin besonders die 3. Vorlesung: »Ethics Without Principles« (= EWP). 48 Vgl. Schneewind, The invention of autonomy: xviii. – Vgl. die ausführlichere Darstellung von Rortys Kant-Kritik im Einleitungs-Teil von Köhl, »Moral und Klugheit – Rortys Kritik an einer kantischen Unterscheidung«. 49 Vgl. Rorty, ›Contingency‹ : 44. 46 47

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stark. An geraden Tagen möchte er sie am liebsten verwerfen. Dieser erste, verbalradikale Rorty möchte, dass wir »die Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Klugheit beiseite lassen« 50 , weil sie »und der Ausdruck ›moralisch‹ selber nicht länger besonders nützlich sind« 51 : in einer nach-kantischen, am besten pragmatistischen Ethik. In solch ›grundsätzlicher‹ Stimmung unterstützt er die Einschätzung John Deweys, wonach es eine »sehr schlechte Idee war, Moral und Klugheit voneinander zu trennen«. 52 An ungeraden, also immerhin an den meisten Tagen, gibt Rorty sich gemäßigter und wünscht die Unterscheidung von Moral und Klugheit nur zum Teufel, wenn damit eine »scharfe« Grenzziehung zwischen unbedingten und bedingten Forderungen gemeint ist. 53 Damit attackiert er die angefochtene Unterscheidung nicht ›als solche‹ und überhaupt, also in jeder beliebigen Interpretation, sondern ihre dominante philosophische Lesart. Rortys Angriffsziel ist dann der kantische Begriff eines ›unbedingten‹ Moralgebots. Er nimmt Anstoß daran, dass »die Unterscheidung zwischen Moral und Klugheit […] traditionellerweise durch die Entgegensetzung von unbedingten […] und bedingten […] Verpflichtungen getroffen worden ist«. 54 Des radikaleren Rortys Argument für die Verabschiedung der Unterscheidung von Moral und Klugheit hebt an mit der »vertrauten anti-kantianischen Behauptung […], dass ›moralische Prinzipien‹ (der Kategorische Imperativ, das utilitaristische Prinzip, usf.) nur insofern eine Pointe haben, als sie stillschweigend Beziehungen zu einer ganzen Reihe von Institutionen, Praktiken und Vokabularien moralischen und politischen Räsonnements beinhalten. Sie sind […] Abkürzungen für solche Praktiken, aber keine Rechtfertigungen für sie«. 55 Sodann erinnert Rorty daran, dass nach kantianischer Vorstellung moralische Gebote durch ›Prinzipien‹ begründet werden, Klugheitsgebote dagegen durch ›Zweckmäßigkeits‹-Gründe. Die Konsequenz aus beiden Überlegungsschritten zieht er in Form einer Vgl. ders., ›Aussagen‹ : 975 – Hervorh. HK. Vgl. ders., ›Contingency‹ : 58. 52 Vgl. ders., »Gefangen zwischen Kant und Dewey«: 183. – Übersetzung anhand von Rortys Original-Manuskript überarbeitet: HK. 53 Vgl. ders., EWP: 75. 54 Vgl. ders., a. a. O.: 72 f. 55 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 58 f. – Hervorh. HK. »Philosophie ist nützlich, wenn es darum geht, die eigenen moralischen Einsichten in moralischen Prinzipien zusammenzufassen«. Vgl. ders., »Überreden ist gut«: 164. 50 51

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rhetorischen Frage: »Da die klassische Kantische Entgegensetzung von Moral und Klugheit genau als Gegensatz zwischen der Berufung auf ein Prinzip und der Berufung auf Zweckmäßigkeit formuliert war, hat es dann noch irgendeinen Sinn, an dem Ausdruck ›Moral‹ festzuhalten, nachdem wir den Begriff eines ›moralischen Prinzips‹ fallengelassen haben?« 56 Des moderaten Rortys Argument gegen den ›kantisch‹ verstandenen Unterschied zwischen ›Moral‹ und ›Klugheit‹ legt diesem – zu Recht – die Dichotomie von ›unbedingten‹ und ›bedingten‹ Forderungen zugrunde. Die letztere Unterscheidung brandmarkt er sodann als eine metaphysische: »Philosophen, die zwischen […] Moral und Klugheit scharf unterschieden haben, versuchten dadurch einen wichtigen graduellen Unterschied in einen metaphysischen Gattungsunterschied zu verwandeln« 57 – den nämlich zwischen ›Bedingtem‹ und ›Unbedingtem‹. Rortyanische Pragmatisten hegen freilich »Zweifel an der Annahme, dass irgend etwas unbedingt ist«. 58 Denn »die kantianische Vorstellung von ›unbedingter Verpflichtung‹, wie die Vorstellung von Unbedingtheit selbst« und die »Idee […] der unbedingten Notwendigkeit« 59 , »setzen die Existenz von etwas Nichtrelationalem voraus«. 60 Pragmatisten aber »bezweifeln, dass es etwas Nicht-Relationales gibt«. 61 Rorty behandelt also die kantische Distinktion von ›Moral‹ und ›Klugheit‹ als einen Fall der Unterscheidung zwischen ›Unbedingtheit‹ und ›Bedingtheit‹ (der entsprechenden Forderungen), und letztere Unterscheidung als einen Fall des Unterschiedes von ›NichtRelationalem‹ und ›Relationalem‹, von »Absolutismus und Relativismus« 62 . Etwas Nicht-Relationales aber gibt es für ihn nicht, weil »die Vgl. ders., a. a. O.: 59. Vgl. die kritische Replik auf dieses Argument im 6. Kapitel, 6.2.: Prinzipienfixierung. 57 Vgl. Rorty, EWP: 75. Ich orientiere mich in der Folge hauptsächlich an diesem Text. 58 Vgl. ders., EWP: 73. 59 Vgl. ders., ›Aussagen‹ : 986 f. 60 Vgl. ders., EWP: 82. Vollständiger zitiert heißt es an dieser Stelle: die Idee der »›Klärung unserer unbedingten moralischen Pflichten‹ […] setze die Existenz von etwas Nichtrelationalem voraus«. 61 Vgl. ders., a. a. O.: 73. 62 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 44. Rorty zufolge »beklagen Anti-Essentialisten wie ich […] die Unterscheidung von nichtrelationalen und relationalen Charakteristika […]. Denn unserer Ansicht nach gibt es so etwas wie eine intrinsische, nichtrelationale Eigenschaft nicht.« Vgl. Rorty, »The Pragmatist’s Progress: Umberto Eco on Interpretation«, in ›Philosophy‹ : 134 f. 56

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Sätze unserer Sprache nichts weiter leisten, als Dinge zu anderen Dingen in Beziehung zu setzen«. 63 Um die angeblich metaphysischen Implikationen einer solchen Unterscheidung zu vermeiden, »müssen Pragmatisten die Unterscheidung zwischen Moral und Klugheit […] derart umdeuten, dass sie dabei auf den Begriff der Unbedingtheit verzichten können«. 64 ›Umdeuten‹ beinhaltet beibehalten. In einer anderen als der ›kantianischen‹ Interpretation findet Rorty die Unterscheidung von Forderungen der Moral und der Klugheit nämlich ganz in Ordnung. »Wir können an der Unterscheidung von Moral und Klugheit festhalten, wenn wir sie uns […] als den Unterschied denken zwischen einem Appell an die Interessen unserer Gemeinschaft und dem Appell an unsere eigenen, möglicherweise konfligierenden, privaten Interessen.« 65 Demnach ist für Rorty auch moralisches Handeln nichts anderes als Interessenverfolgung. Mit dem Unterschied, dass es, anders als bei der individuellen Klugkeit, bei der ›moralischen Klugheit‹ um die Verfolgung der Interessen einer (ggf. erweiterungsoffenen) Gemeinschaft geht, deren Mitglied man ist. Eine ›Moral‹ verkörperte demnach die Klugheit des Kollektivs. Moralische Forderungen wären dann ›Ratschläge der kollektiven Klugheit‹. 66 Der individuellen Sorge um das eigene Wohl setzt, demzufolge, die Moral eine Orientierung am Gemeinwohl gegenüber. Die moralisch geforderten Handlungen würden um gemeinnütziger Zwecke willen gefordert. Die moralischen Zwecke sind für Rorty nicht nur gemeinnützige, sondern gemeinsame Zwecke der Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft. 67 Nach all dem ist klar, dass für Rorty, nicht anders als für Foot Vgl. ders., EWP: 73. Rorty argumentiert im 2. Teil von ›Hope‹ – überschrieben ›A World without Substances or Essences‹ – für die These, »dass es nichts über irgend etwas zu wissen gibt außer den Beziehungen, in denen es zu anderen Dingen steht«. Vgl. a. a. O.: 54. – Vgl. die kritische Würdigung dieses Arguments im 6. Kapitel meiner Untersuchung, Abschnitt 6.3. 64 Vgl. ders., EWP: 73. 65 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 59. 66 Mit letzterer Formulierung wird eine Formulierung Kants, je nach Standpunkt, missbraucht oder ›auf den neuesten Stand gebracht‹. Vgl. Rortys Konzeption von »creative misuses of language« in seinem Aufsatz »Feminism and Pragmatism«: 204. – Kant selber nannte die von ihm sog. »assertorischen« Imperative, welche Mittel zum individuellen Glück empfehlen, »Ratschläge der Klugheit«. Vgl. GMS: 416. 67 Vgl. dazu Rorty, ›Contingency‹, das 9. Kapitel: »Solidarity«. Vgl. zur Weiterentwicklung von Rortys Position unten das 6. Kapitel, den Abschnitt 6.6. 63

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und für Tugendhat, ›wohlverstandene‹ moralische Forderungen nur hypothetische Imperative sein können – auch wenn Rorty das nirgends mit diesen Worten sagt. 68 Wobei diese drei Philosophen ihre hypothetischen Moralgebote jeweils anders beschreiben und unterschiedliche Gründe für den hypothetischen Charakter moralischer Vorschriften anführen. Bei Rorty stehen den eigennützigen Zwecken individueller Klugheit auf Seiten der Moral z. B. »der Wunsch, freundlich zu sein«, oder der Wunsch, »die Demütigung anderer zu verhindern«, gegenüber. 69 Die moralischen und die individuell-prudentiellen Zwecke sind zwar häufig voneinander verschieden, und auch die zu diesen Zwecken erforderlichen Handlungen werden oft andere sein. Die Forderungen aber, welche die verschiedenen Handlungen zu verschiedenen Zwecken vorschreiben, besitzen denselben hypothetischen Charakter. Die Auszeichnung ›moralischer‹ Gebote erfolgt, innerhalb des Strukturmodells hypothetischer Imperative, durch die Benennung besonderer, nämlich moralischer, sozialer Zwecke. So wohl hat man Rortys ›positive‹ Auffassung moralischer Vorschriften zu verstehen. Rorty hat sich für seine Explikation von ›Moral‹ und ›Klugheit‹, als zweier Arten hypothetischer Imperative, auf Wilfried Sellars gestützt. Für diesen war die Moral eine Sache von ›we-intentions‹, im Gegensatz zu solchen Absichten, die in 1. Person Singular angemessen ausgedrückt werden. Man könnte sagen, dass die Unterscheidung von ›Ich-Intentionen‹ und den ›Wir-Intentionen‹ von Leuten, die einander als ›einen von uns‹ betrachten, der Unterscheidung von hypothetischen ›Klugheits‹-Geboten und hypothetischen ›Moral‹-Geboten zugrunde liegt. 70 Für Rorty ist die Reformulierung der Unterscheidung von Moral und Klugheit, in Termini zweier Arten von hypothetischen Imperativen, deshalb wichtig, weil er dadurch einen scheinbar prinzipiellen Unterschied zwischen angeblich unbedingten und bedingten Forderungen als einen bloß graduellen Unterschied zwischen gleichermaßen ›bedingten‹ Geboten re-interpretieren kann. 71 Mit dieser Rortys Berufung auf Dewey besagt nichts anderes, als dass moralische Forderungen für ihn und sein großes Vorbild hypothetische Imperative sind: »Für ihn [Dewey] waren alle Verpflichtungen situationsbezogen und bedingt.« Vgl. Rorty, ›Aussagen‹ : 987 – Hervorh. und Einf. HK. 69 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 91, 93. 70 Vgl. Rorty, ›Contingency‹ : 59, 190. 71 Rorty beruft sich auch hierfür auf Dewey: »Nach Deweys Darstellung ist die Unter68

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Strategie liegt er auf der pragmatistischen Generallinie, traditionelle philosophische ›Dichotomien‹ durch Begriffsspektren zu ersetzen. Im Lichte dieser Strategie sind moralische und prudentielle Forderungen lediglich zwei Farben im Farbenkreis des Bedingten. Moralische Forderungen sind dann nicht, wie für Kant, ›das ganz Andere‹. Schon gar nicht sind sie die Diktate einer unverfügbaren Autorität – und sei diese die ›Autorität der Vernunft‹ –, der man sich zu unterwerfen hat. Vielmehr wird die Moral von uns selber gemacht. Ihre Forderungen sind genauso Ausdruck unseres eigenen, obzwar gemeinsamen Willens, wie die Forderungen nach kluger Mittelwahl zum eigenen Besten sich aus unseren eigenen Glücksvorstellungen und den damit verbundenen eigenen Zwecksetzungen ergeben. Rorty kennt und anerkennt überraschenderweise auch unbedingte Forderungen. Offenbar drängt sich das Unbedingte so sehr auf, dass selbst ein Pragmatist wie Rorty nicht umhin kommt, dem Ausdruck ›unbedingt‹ irgend eine – natürlich möglichst unverfängliche – Verwendung zu geben. Es versteht sich von selbst, jedenfalls für den ›früheren‹ Rorty, dass es sich dabei keinesfalls um moralische Unbedingtheiten handeln kann. 72 Seine nicht-moralischen Unbedingtheiten lässt er aus der »Selbst-Identität« einer Person hervorgehen. 73 Unbedingte nicht-moralische Forderungen hat Rorty im Anschluss an Freud beschrieben. Dieser habe erkannt, dass »einige wesentliche idiosynkratische Kontingenzen in unserer Vergangenheit« »dazu dienen können, […] den Sinn eines Menschen für seine SelbstIdentität herauszukristallisieren«. 74 »Eine jede solche Konstellation kann eine unbedingte Forderung etablieren, in deren Dienst man sein Leben stellen kann – eine Forderung, die deshalb nicht weniger unbedingt ist, weil sie höchstens einer Person einsichtig sein mag.« 75 scheidung zwischen Klugheit und Moral […] eher eine graduelle Unterscheidung […] als eine Gattungsunterscheidung. Für Pragmatisten wie Dewey gibt es keinen Gattungsunterschied zwischen dem Nützlichen und dem Richtigen.« Vgl. Rorty, EWP: 73. 72 Hingegen konzediert der spätere Rorty, dass er unter der Überschrift ›Existenzielle Notwendigkeiten‹ auch unbedingte Moralgebote anerkennen sollte. Vgl. ders., »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«. 73 Vgl. Rorty, ›Contingency«: 37. – Eine damit eng verwandte Unbedingtheit wird uns wieder bei Bernard Williams und Harry Frankfurt begegnen. Vgl. die Darstellung beider im weiteren Verlauf dieses Kapitels. 74 Vgl. Rorty, ›Contingency‹ : 33, 37. 75 Vgl. ders., a. a. O.: 37 – Hervorh. HK. Ein Beispiel einer weniger ›spezifischen‹ unbe-

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Die Anerkennung nicht-moralischer Unbedingtheiten ermöglicht Rorty zwei weitere Kant-kritische Züge. Beim ersten geht es um den angeblichen Vorrang moralischer Gebote vor allen andersartigen Präskriptionen. Bei Kant sieht es so aus, als begründe die Unbedingtheit moralischer Forderungen einen solchen ›Mehrgeltungsanspruch‹. Wenn die Existenz nicht-moralischer und gleichwohl unbedingter Forderungen zugestanden wird, dann ist es aus mit dieser Vorrangsprätention – jedenfalls insoweit sie auf den unbedingten Charakter einer Forderung gestützt wird. Rorty veranschaulicht diesen Punkt wiederum mit Freud. Indem dieser eine neue Geschichte über Funktion(sweise) und Genese des Gewissens erzähle, lasse er dieses als nur ein Zentrum unter mehreren, gleichrangigen Persönlichkeitszentren erscheinen. Wenn aber die strengen Imperative des Über-Ichs keinen ›automatischen‹ Vorrang vor den Ansprüchen anderer psychischer Instanzen besäßen, ließe sich freier mit ihnen umgehen. Dadurch eröffne Freud, für Rorty ein ›Champion der Charakterbildung‹, neue Chancen für individuelle Selbsterweiterung. 76 dingten Forderung der psychologischen Art ist für Rorty Freuds Diktum: ›Wo Es war, soll Ich werden‹. Vgl. Rortys ›Freud‹ : 148. – Dass Rorty dort solche ›Imperative der Selbstaneignung‹ als Fälle einer »moralischen Verpflichtung« bezeichnet (a. a. O.: 145, 148), liegt an seinem, in provokativer Absicht eingeführten Begriff des ›Moralischen‹, dem bei Autoren wie Habermas der Begriff des ›Ethischen‹ entspricht. Die unter diesem Titel verhandelten Fragen kreisen um ein sog. ›gutes Leben‹. 76 Vgl. Rorty, a. a. O.: 151, 157. – Rorty versteht Freud nur ethisch-existenziell, so als habe dieser lediglich einen Beitrag zur ›ästhetischen‹ Lebensform (im Sinne Kierkegaards) liefern wollen. Zur ›Kultur‹, meint Rorty, habe Freud nichts zu sagen: »His domain is the portion of morality that cannot be identified with ›culture‹ ; it is the private life, the search for a character, the attempt of individuals to be reconciled with themselves«. Mit ›Kultur‹ meint Rorty dabei die ›öffentliche Moral‹, in der es u. a. um »human solidarity« und »the search for justice« geht. Vgl. Rortys ›Freud‹ : 153 f. Das Fragwürdige an dieser Freud-Einschätzung kann man sich im Anschluss an einen Einwurf Annette Baiers klar machen. Rorty findet: »love (and therefore courage and cowardice, sacrifice and selfishness) looks different after one has read Freud«. (Vgl. ders., »Freud, Morality and Hermeneutics«: 180 – Hervorh. HK.) Wieso, wendet Baier hiergegen sinngemäß ein, sage Rorty dies nur bezüglich der ›Liebe‹, und nicht ebenso über das ›moralische Gewissen‹ und über ›moralische Verpflichtungen‹ ? »The courage and sacrifice needed to obey conscience and deny desire are at least as transfigured by what Freud taught us«. (Vgl. Baier »The Moral Perils of Intimacy«: 98 – Hervorh. HK.) Rorty erfüllt Baiers Desiderat in ›Freud‹. Indem der Psychoanalytiker eine neue Theorie über die Funktion(sweise) und die Entstehung des Gewissens erzählt habe, die dieses als nur ein Persönlichkeitszentrum unter mehreren erscheinen lasse (vgl. Rorty, a. a. O.: 151), habe er neue Chancen der ›moralischen Selbsterweiterung‹ eröffnet. Diese Feststellung aber ist inkohärent mit Rortys ›Ästhetisierung‹ Freuds. Denn erstens A

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Ein zweiter Schachzug gegen Kant, der durch die Anerkennung außer-moralischer Unbedingtheiten möglich wird, ist die Entkoppelung des ›Unbedingten‹ vom ›Generellen‹ bzw. ›Universellen‹. Diese Entkoppelungsmöglichkeit ist eine Konsequenz der Einsicht, dass zufällige Einzelheiten in jemandes Biografie eine unbedingte Forderung begründen können, die deshalb nur für diese Person relevant sein mag. Rortys Freud zufolge kann jeder Aspekt einer Biographie »in einem individuellen Leben diejenige Rolle spielen, von der die Philosophen dachten, sie könne, oder sie sollte wenigstens, nur von solchem gespielt werden, das universell und uns allen gemeinsam ist«. 77 Durch solche partikularen Notwendigkeiten wird die Idee unterminiert, »dass wir uns alle denselben Imperativen, denselben unbedingten Anforderungen gegenübergestellt sehen«. 78 Die Einführung unbedingter Forderungen, die sich aus der lebensgeschichtlich gewachsenen Identität einer Person heraus ergeben, ist möglicherweise Rortys bestes Werkzeug, um die kantische Konzeption moralischer Vorschriften auszuhebeln. Mit der Existenzannahme nicht-moralischer Unbedingtheiten ist die exklusive Verquickung von ›Unbedingtheit‹ mit Moral perdu. Wenn es stimmt, dass es nicht-moralische Unbedingtheiten gibt; und wenn sich zeigen ließe, dass der dabei verwendete Unbedingtheitsbegriff strukturell der kantische ist (dieses möchte ich im 6. Kapitel plausibel machen): dann hätte man gegen Kant gezeigt, dass die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung kein Kriterium für ihren moralischen Charakter ist. Diesen Hebel kann Rorty an Kants ›moralischer Unbedingtheitskonzeption‹ ansetzen, ganz unabhängig davon, ob sein Einwand gegen die

geht ›Selbsterweiterung‹ nicht im ›Ästhetischen‹ auf: Das sieht Rorty selber, wenn er »the options offered by de Sade and Byron« exemplifiziert durch »sexual experimentation« und »political engagement«, und wenn er ein reicheres moralisches Vokabular zur Beschreibung menschlicher Charaktere gegen die ›Trockenheit‹ der kantianischen Sprache der Moral geltend macht (a. a. O.: 154 f.). Zweitens bereichert auch Freud dieses moralische Vokabular. Insofern dies kein ›privates‹, rein ›ästhetiches‹ Vokabular ist, bereichert er damit auch die ›Kultur‹ (im Sinne von Rortys ›öffentlicher Moral‹). Man kann, m. a. W., nicht gleichzeitig Freud als ›Champion der Charakterbildung‹ feiern und seinen Errungenschaften jede Bedeutung für die ›öffentliche‹ Moral absprechen. Denn der Adressat jener Charakterbildung ist zum Teil ein moralischer Charakter, in dem sich jemandes Haltung zu der Frage manifestiert, What We Owe to Each Other. Vgl. T. M. Scanlons gleichlautenden Buchtitel. 77 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 37. 78 Vgl. ders., a. a. O.: 35 – Hervorh. HK.

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angebliche ›Irrelationalität‹ des kantischen Unbedingten triftig ist oder nicht.

3.6 Harry Frankfurt Den kategorisch-unbedingten Charakter moralischer Forderungen attackiert Frankfurt nicht. Vielmehr versieht er Moralvorschriften mit nahezu allen Accessoires, die das Königsberger Ethikinstitut aufzubieten hat. So spricht er von den »unbedingten«, »unpersönlichen, apriorischen Erfordernissen der Pflicht«. 79 Was Frankfurt in Frage stellt, ist die exklusive Verbindung, welche die Kantianische Konzeptualisierung zwischen dem ›moralischen‹ und dem ›unbedingten‹ Charakter einer Forderung herstellt. Er möchte (wie Rorty) zeigen, dass es neben den moralischen noch andere Arten unbedingter Forderungen gibt. Falls ihm dies geglückt sein sollte, wäre die ›Unbedingtheit‹ nicht länger als moralspezifische Forderungseigenschaft zu betrachten. Sie wäre nicht dazu tauglich, moralische von andersartigen Geboten zu unterscheiden. Die unbedingten, aber nicht-moralischen Forderungen, die Frankfurt ins Feld führt, bringen von ihm so genannte Notwendigkeiten des Willens (»volitional necessities«) zum Ausdruck. 80 Mit einem Willen meint er die höchstrangigen bzw. grundlegenden voluntativen Ausrichtungen eines Menschen. Dessen Willensverfassung macht Frankfurt dafür verantwortlich, dass er bisweilen gar nicht umhin kann, sich um gewisse Angelegenheiten oder um bestimmte andere Menschen zu kümmern. Aus der »volitionalen Natur« 81 einer Person scheinen sich demnach Handlungsnotwendigkeiten – und korrespondierende Handlungsunfähigkeiten (dass sie bestimmte Dinge partout nicht tun kann) – zu ergeben: »Besonders mit Bezug auf diejenigen, die wir lieben, und mit Bezug auf unsere Ideale, sehen wir uns gerne Notwendigkeiten unterworfen, die weniger damit zu tun haben, dass wir den Prinzipien der Moral anhängen, als mit einer persönlicheren Art von Integrität oder Konsistenz. Diese Notwendigkeiten halten uns davon ab, dass wir an demjenigen Verrat begehen, an dem uns am meisten liegt und mit dem wir uns 79 80 81

Vgl. Frankfurt, »Autonomy, Necessity, and Love« (= ›Autonomy‹): 136, 130. Vgl. ders., »The importance of what we care about« (= ›Importance‹): 86, u. ö. Vgl. ders., ›Autonomy‹ : 132. A

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folglich am stärksten identifizieren. […] dasjenige, vor dessen Verletzung sie uns bewahren, sind nicht unsere Pflichten oder Obliegenheiten, sondern wir selbst.« 82 Der letzte Satz des Zitats enthält Frankfurts Absetzung seiner ›Notwendigkeiten des Willens‹ von moralischen Notwendigkeiten. Martin Luther ist ein öfters zitiertes Beispiel für Fälle einer gewollten Handlungsunfähigkeit, die zur Kehrseite eine praktische Notwendigkeit hat. Sein (moralisch neutral aufgefasstes) Diktum: ›Hier stehe ich. Ich kann nicht anders‹, beleuchtet die von Frankfurt gemeinte Identifikation mit einem Ideal oder einer Lebensaufgabe, die einen zu bestimmten Handlungsweisen oder Unterlassungen nötigt. Luther kann nicht nur nicht anders, er will auch gar nicht anders können. 83 Diese Erläuterung gibt der Rede von ›Notwendigkeiten des Willens‹ zusätzliche Prägnanz. Außerdem kann man damit dem nahelegenden Eindruck entgegentreten, dass jemandem, der sich so machtvoll zu einem Handeln ›genötigt‹ sieht, die Handlungsfreiheit abgehe. Im Gegenteil: Wer so, wie er handelt, handeln muss, weil alles andere seiner ›Identität‹, seinem ›Selbstverständnis‹ zuwider wäre, kann sich dabei als ganz besonders autonom erfahren. Denn es ist in solchen Fällen der ureigene Wille, aufgrund dessen man nicht anders handeln kann und deshalb so handeln muss. Jemand, der sich in eine volitionale Notwendigkeit fügt, kann dabei genau so autonom sein wie jemand, der sich einer moralischen Notwendigkeit unterwirft – oder widersetzt. Ein anderes, bereits angeklungenes, Beispiel für Frankfurts ›Notwendigkeiten des Willens‹ sind die von ihm so genannten Notwendigkeiten der Liebe. Bei deren Erläuterung hebt er den unbedingten Charakter volitionaler Notwendigkeiten ausdrücklich hervor. Unter ›Liebe‹ versteht Frankfurt weder ein Gefühl 84 noch jene ›praktische Liebe‹ 85 , welche manche Christen unter dem Namen der ›Nächstenliebe‹ zu praktizieren versuchen. Frankfurts ›Liebe‹ ist in erster Linie eine nicht-moralisch konzipierte ›Willenssache‹ : »Dass jemand für etwas Sorge trägt oder etwas liebt, hat weniger mit den Gefühlen zu Vgl. ders., ›Importance‹ : 91 – Hervorh. HK. Vgl. ders., ›Importance‹ : 86. 84 Vgl. ders., ›Autonomy‹ : 129. – Die von nun ab in den Haupttext ohne nähere Angaben eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Aufsatz. 85 Vgl. Kant, GMS: 399. 82 83

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tun, die bei ihm hervorgerufen werden […], als mit den mehr oder weniger festen motivationalen Strukturen, die seinen Präferenzen eine Struktur geben, ihn in seinem Verhalten leiten und diesem Grenzen setzen.« (129) Diese Erläuterung lässt deutlich erkennen, wieso es sich bei Liebesnotwendigkeiten um solche des Willens handelt. Die zitierten ›Motivationsstrukturen‹ sind nur ein anderes Wort für Frankfurts ›Willen‹. Folglich bringt auch die so verstandene Liebe gewisse volitionale Notwendigkeiten, also bestimmte Handlungserfordernisse (und Handlungsunfähigkeiten), mit sich. 86 Frankfurt unterscheidet die Notwendigkeiten der Liebe von den hypothetischen »Notwendigkeiten des Auf-Etwas-Ausseins und der Klugheit« und den kategorischen »Notwendigkeiten der Pflicht« (129), um dann zum einen die Gemeinsamkeit zwischen Liebesnotwendigkeiten und moralischen Notwendigkeiten zu betonen und zum anderen die Unterschiede zwischen ›hypothetischen‹ Handlungsdirektiven (einerseits) und den Liebes- und Moralverpflichtungen (andererseits) herauszuarbeiten. Im Gegensatz zum ›bedingten‹, ›kontingenten‹ und ›personenabhängigen‹ Charakter hypothetischer Imperative sieht er bei Liebes- und Moralgeboten einen gemeinsamen, kategorisch-unbedingten Forderungscharakter. »Die Ansprüche, die von […] Seiten unserer Kinder an uns gestellt werden, oder die hinsichtlich all dessen bestehen, was wir auf interesselose Weise und bedingungslos lieben, sind so unbedingt […] wie jene der Moral und der Vernunft.« 87 Die ›Unbedingtheit‹ von Liebesnotwendigkeiten erläutert Frankfurt durch die Unausweichlichkeit, die Kant moralischen Vorschriften vorbehalten hatte und welche, Frankfurt zufolge, auch die Forderungen der Liebe auszeichnet (135). 88 Beide Arten von Forderungen ergehen, ihm zufolge, unabhängig von Wünschen oder Be»What a person loves helps to determine the choices that he makes and the actions that he is eager or unwilling to perform.« Vgl. ders., ›Autonomy‹ : 129. 87 Vgl. ders., a. a. O.: 136 – Hervorh. HK. 88 Frankfurt bezieht sich dabei auf Kants Grundlegung. Kant erläutert dort die Ausweichmöglichkeit bei hypothetischen Imperativen und wieso, seines Erachtens, ein Ausweichmanöver bei kategorisch-moralischen Geboten nicht verstattet ist. Er meint, dass, »was bloß [gemäß einem hypothetischen Imperativ] zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu tun notwendig ist, an sich als zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los sein können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen das unbedingte [moralische] Gebot dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegenteils frei lässt, mithin allein diejenige Notwendigkeit bei sich führt, welche wir zum Gesetze verlangen.« Vgl. Kant, GMS: 420 – Einf. HK. 86

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dürfnissen, die zu haben oder nicht zu haben in unser Belieben gestellt wäre. Deshalb könne man diese Forderungen nicht loswerden, indem man solche Bedingungen fallen lasse. 89 Die Liebe stelle sich einfach ein, oder auch nicht; ihr Gegenstand werde nicht infolge einer Überlegung gewählt. Selbst dann aber, wenn wir mitbestimmen könnten, auf wen unsere Liebeswahl fällt, ergäben sich nach der Wahl unausweichliche Handlungsnotwendigkeiten (136). 90 Genau wie bei moralischen Forderungen gebe es auch bei Liebesforderungen keine ›Verhandlungsspielräume‹ : »wir dürfen unsere moralischen Verpflichtungen einfach nicht verletzen, und wir dürfen an dem, was wir lieben, keinen Verrat begehen« (130). Ein gleichwohl stattfindender Liebesverrat ist für Frankfurt auch immer ein Selbstverrat, der mangelnde Selbstachtung verrät: »Es ist unser basales Bedürfnis nach Selbstachtung, das sehr eng mit unserem Bedürfnis nach psychischer Einheit zusammenhängt, welches die Autorität begründet, die Forderungen der Liebe für uns besitzen.« (139) 91 Dieser Hinweis auf den Ursprung der Autorität, welche die Forderungen der Liebe für Liebende zu besitzen scheinen, erklärt auch ihre Kraft. Sie sind – diesen Gedanken legt Frankfurt jedenfalls nahe – deshalb so mächtig, weil sie auf das Bedürfnis zurückgehen, ein vitales Anliegen nicht durch Halbherzigkeiten zu verraten. Neben den Gemeinsamkeiten, die er zwischen den Notwendigkeiten der Liebe und moralischen Forderungen sieht, kennt Frankfurt natürlich auch Unterschiede. Die Forderungen der Liebe sind, im Gegensatz zu moralischen Forderungen (die Frankfurt ganz kantisch versteht), weder apriorisch noch vernunft-notwendig. Vielmehr sind sie, wie Klugheitsgebote und technische Gebrauchsanweisungen, von empirisch-kontingenten Voraussetzungen abhängig (130/136). 92 Die Wahl eines Liebes-›Objekts‹ hängt von zufälligen »The captivity of love cannot be entered or escaped just by choosing to do so.« Vgl. ders., ›Autonomy‹ : 136. »The fact that love and its commands are logically arbitrary does not mean, however, that they can be abandened or invalidated at will. We are certainly not free to decide ›at our liking‹ what to love or what love requires of us.« A. a. O. 90 »Like the […] mandates of duty, the imperatives of love too may be starkly uncompromising, providing no loopholes and offering no recourse«. Vgl. ders., a. a. O.: 130. 91 »The authority for the lover of the claims that are made upon him by his love is the authority of his own essential nature as a person. It is, in other words, the authority over him of the essential nature of his individual will.« Vgl. ders., a. a. O.: 138. 92 »It goes without saying that love is a contingent matter; unlike the dictates of the pure will, those of love are not supported by rational necessity.« Vgl. ders., a. a. O.: 136. 89

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Begebenheiten und Begegnungen in der Erfahrungswelt ab. 93 Das kann man wohl sagen. Der empirisch-kontingente Charakterzug einer Liebesforderung zerstört aber, Frankfurt zufolge, nicht die unbedingte Notwendigkeit, mit der zu tun ist, was um der Liebe willen als erforderlich erscheint. Wären Frankfurts Überlegungen triftig, dann wäre ihm dasselbe in der praktischen Philosophie gelungen, was Saul Kripke womöglich für den Bereich der theoretischen Philosophie geleistet hat. Letzterer wollte demonstrieren, dass die Begriffe der Notwendigkeit und der Apriorität nicht aus einem Guss sind. 94 Frankfurt versucht plausibel zu machen, dass der empirisch-kontingente Charakter gewisser Forderungen vereinbar ist mit ihrer unbedingten Notwendigkeit. Der von Kant für moralische Gebote behauptete apriorische Charakter und die damit verbundene apriorische Begründungsvorstellung, einerseits, sowie die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Forderung, andererseits, wären demnach ebenfalls nicht aus einem Stück. Nun sind Frankfurts ›Forderungen der Liebe‹ und die ›existenziellen‹ Notwendigkeiten, die man an Luthers Diktum exemplifizieren kann, nicht die einzigen Notwendigkeiten des Willens. Wie wir sahen, sieht Frankfurt solche Notwendigkeiten unter anderem aus der Hingabe an Ideale entspringen. Dies legt die Frage nahe, ob nicht auch moralische Forderungen volitionale Notwendigkeiten zum Ausdruck bringen können: dort nämlich, wo der Notwendigkeiten stiftende Wille moralische Ideale verfolgt und mithin ein moralischer Wille ist. Gegen diese Möglichkeit scheint zunächst nichts zu sprechen. Streift man überdies von Frankfurts Konzeption moralischer Notwendigkeiten (der Pflicht) die kantischen Konnotationen der Apriorität und der Vernunftgegebenheit ab, kann man vermutlich alle Moralvorschriften unter Frankfurts ›Notwendigkeiten des Willens‹ subsumieren. ›Unbedingte‹ Moralvorschriften würden dann Notwendigkeiten formulieren, die sich aus einem moralischen Willen, also aus einer moralischen Grundeinstellung ergäben. 95 »Love is irredeemably a matter of personal circumstance. There are no necessary truths or a priori principles by which it can be established what we are to love«. Vgl. ders., a. a. O. 94 Vgl. Saul Kripke, Naming and Necessity. 95 Vgl. dazu im 6. Kapitel den Abschnitt 6.7. – Ebenfalls im 6. Kapitel (6.1.) werde ich in Frage stellen, dass moralische Forderungen allemal Handlungsnotwendigkeiten formulieren und Verpflichtungen zum Ausdruck bringen. Für Frankfurt hingegen, darin ist er 93

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Wäre dem so, brächte dies Frankfurts Haupterrungenschaft nicht in Gefahr: Auch wenn einige oder alle moralische Forderungen ›Notwendigkeiten des Willens‹ wären, hätte er doch plausibel gemacht, dass es auch nicht-moralische Notwendigkeiten des Willens gibt, welche dieselbe ›Unbedingtheit‹ besitzen wie die moralischen. Die kantisch verstandenen moralischen Imperative wären demnach nicht mehr die einzigen mit dem Merkmal des ›Kategorisch-Unbedingten‹. Die Unbedingtheit einer Forderung wäre kein sicherer Hinweis mehr auf ihren moralischen Charakter. Die kantische Gleichung zwischen moralischen und unbedingten Handlungsvorschriften ginge nicht mehr auf.

3.7 Bernard Williams Für diesen, den vielleicht radikalsten Kritiker der kantischen Konzeption moralischer Gebote, hat »die angenommene Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen« vor allem »ein außergewöhnliches Maß an Verwirrung gestiftet«. 96 Mit dieser Dichotomie und der ihr zugrunde liegenden Unterscheidung zwischen unbedingten und bedingten Handlungsgeboten vermag man, Williams zufolge, den Unterschied zwischen moralischen und nichtmoralischen Vorschriften nicht zu explizieren. Zu diesem Zwecke aber hatte Kant die Unterscheidung von kategorisch-unbedingten und hypothetisch-bedingten Forderungen eingeführt. Die kantische Unterscheidung erfüllt diese Aufgabe deshalb nicht, weil es auch nicht-moralische Unbedingtheiten gibt. Darin stimmt Williams mit Frankfurt und Rorty überein. Die kantianische Moral hat, Williams zufolge, ein irriges Verständnis von unbedingter praktischer Notwendigkeit, »insofern sie diese für etwas eigentümlich Ethisches hält«. 97 Denn »[j]emand kann schlussfolgern, dass er oder sie etwas Bestimmtes unbedingt tun müsse, und zwar aus Gründen der Klugheit, des Selbstschutzes, aus ästhetischen oder künstlerischen Rücksichten, oder um der schieren Selbstbehauptung wilein treuer Kantianer, ist die Ethik allemal Pflichtethik: »Die Ethik konzentriert sich auf das Problem, unsere Beziehung zu anderen Personen zu ordnen. Sie beschäftigt sich besonders mit dem Unterschied zwischen Richtig und Falsch und mit den Grundlagen und Grenzen moralischer Verpflichtungen.« Vgl. Frankfurt, ›Importance‹ : 80. 96 Vgl. Williams, »Practical Necessity«: 125. 97 Vgl. ders., ›Ethics‹ : 196.

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len«. 98 Auch dieser Kritiker attackiert also das von Kant beanspruchte Unbedingtheitsmonopol ›moralischer‹ Forderungen. Williams veranschaulicht unbedingte, nicht-moralische Erfordernisse an den heroischen Notwendigkeiten, die in exemplarischen Fällen das Handeln antiker Heldengestalten bestimmt haben. 99 Homerische und sophokleische Helden bekunden mitunter, dass sie so handeln, wie sie handeln, weil sie so handeln müssen. »Mich führt mein Weg dorthin, wohin ich gehen muss«, lässt Aias das Theaterpublikum kurz vor seinem Selbstmord wissen. 100 Solche Notwendigkeiten, in (Selbstauf-) Forderungen formuliert, fallen durch das Raster der Unterscheidung von kategorisch-moralischen und hypothetisch-nichtmoralischen Imperativen. Denn solche Forderungen sind einerseits keine ›hypothetischen‹ Gebote, welche unumgängliche Schritte zur Verwirklichung individueller Wünsche verlangen würden. Vielmehr bringen sie eine unbedingte Handlungsnotwendigkeit zum Ausdruck. Andererseits aber ist diese Notwendigkeit keine moralische: wie sich aus den Handlungsweisen und aus den Handlungsgründen jener Helden ergibt. Dies legt die Auffassung nahe, dass ›heroische Notwendigkeiten‹ eine eigene Rubrik unbedingter und nicht-moralischer Forderungen exemplifizieren. Wenn es aber solche Forderungen gibt, verläuft die Unterscheidung von moralischen und nicht-moralischen Vorschriften nicht parallel zur Unterscheidung von kategorisch-unbedingten und hypothetisch-bedingten Imperativen. Die Unbedingtheit einer Forderung wäre dann, Kant zum Trotz, kein Spezifikum moralischer Gebote: ein Merkmal, an dem sie erkennbar und durch das sie von andersartigen Präskriptionen unterscheidbar wären. Die Notwendigkeit der in Erinnerung gerufenen antiken Heldentaten hat ihre Grundlage in der Identität jener Helden 101 : ihrem Sinn davon, wer sie selber sind und unter welchen Bedingungen sie folglich in Selbstachtung leben können – und unter welchen Bedingungen sie sich ein Weiterleben nicht vorstellen können. Diese Identität braucht klarerweise keine moralische zu sein. Neben der »Identität« einer Person, ihrem »Ethos« oder ihrer »individuellen Natur« sind für Williams die Lebenssinn stiftenden »Projekte« einer Person Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 188 – Hervorh. HK. Vgl. zu der folgenden Darstellung: Williams, Shame and Necessity: 75 f. 100 Vgl. Sophokles, Aias, 690. 101 Vgl. zum Folgenden: Williams, Shame and Necessity: 101–103. 98 99

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mögliche Bezugspunkte für solche, von Williams »intern« genannten, Notwendigkeiten. Man kann diese, in Absetzung von den moralischen, als ›ethisch-existenzielle‹ Notwendigkeiten bezeichnen. 102 Die Ideale einer Person und ihr Charakter sind weitere Instanzen, die bestimmte, sich daraus ergebende Handlung(sweis)en als unbedingt notwendig erscheinen lassen. 103 Was man auch ›Notwendigkeiten des Charakters‹ nennen könnte, sind Handlungen, die auszuführen man nicht umhin kann, weil man nun einmal gerade diesen Charakter hat. 104 Die entsprechenden (Selbstauf-) Forderungen sind, Williams zufolge, insofern Gebote der Scham, als das Versagen angesichts ihrer dieses Gefühl der Selbstwerteinbuße nach sich zieht. Diese Scham ist ihrerseits dort keine moralische, wo der Unbedingtheit stiftende Charakter(zug) ein nicht-moralischer ist. 105 Die von Williams zur Disposition gestellte Unterscheidung von moralisch-unbedingten und nichtmoralisch-bedingten Imperativen ist seines Erachtens konstitutiv 106 für ein ganz »spezielles System […] ethischen Denkens«, das er »die Moral« nennt. Dieses System entspricht weitgehend der ›Kantianischen Konzeptualisierung‹ moralischer Forderungen. Diese »eigenartige Einrichtung« 107 setzt Williams vom ›Ethischen‹ ab. Damit meint er eine offenere, nicht-kantianische Thematisierung jenes zwischenmenschlichen Bereichs, in dem sich Fragen der Rücksichtnahme aufeinander, von Hilfeleistungen, der Erfüllung von Zusagen usw. stellen. 108 Im Zentrum des ›Moral‹ genannten Systems sieht Williams, wie die Spinne im Netz, einen ›speziellen Begriff von moralischer VerVgl. dazu im 6. Kapitel den Abschnitt 6.6. Vgl. Williams., ›Ethics‹ : 223, Fn. 16. Hervorh. HK. 104 Vgl. ders., »Practical Necessity«: 129–31. 105 Solche Scham ist, obzwar eine nicht-moralische, keine ›Privatangelegenheit‹, sondern ein intersubjektives, soziales Phänomen. Sich schämen zu müssen bedeutet einen ›Gesichtsverlust‹ gegenüber anderen, vor deren Blick man nicht mehr bestehen zu können meint (weil man sein ›Ansehen‹ verloren hat) und denen man, ebenso wie sich selber im Spiegel, nicht mehr in die Augen sehen kann. 106 Vgl. zum Folgenden Williams., ›Ethics‹, 10. Kapitel; alle Zitate in diesem Absatz: 174 – Hervorh. HK. 107 Vgl. den Titel des 10. Kapitels von Williams’ ›Ethics‹ : ›Morality, the Peculiar Institution‹. 108 Vgl. hierzu das 1. Kapitel von ›Ethics‹, in dem Williams »some kinds of ethical concepts and considerations« unterscheidet (11). – Tugendhat hat in seinen VüE eine falsche Darstellung des Verhältnisses von Moral und Ethik bei Williams gegeben (VüE: 38): wie er inzwischen in einem Brief an mich eingeräumt hat. 102 103

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pflichtung‹ sitzen. 109 Dieser Pflichtbegriff ist folgerichtig ein zentrales Ziel von Williams’ ›Systemkritik‹ : […] die Moral […] hat (1.) ein falsches Verständnis von Verpflichtungen, insofern sie nicht sieht, dass diese nur einen Typus einer ethischen Erwägung darstellen. […] Sie hat (2.) ein falsches Verständnis von ethischer praktischer Notwendigkeit, insofern sie denkt, dass diese Verpflichtungen eigentümlich ist. 110

Bei der ersten These mag man an Fälle denken, in denen wir es in Ordnung finden, dass jemand ein Versprechen – der paradigmatische Fall einer (eingegangenen) Verpflichtung – bricht, um etwa in einer wichtigen Angelegenheit einem Kollegen zu helfen: ohne dass dazu eine (dem Einhalten des Versprechen womöglich übergeordnete) Verpflichtung bestünde. 111 Jedenfalls bei vergleichsweise ›unwichtigen‹ Versprechen gilt ein solches Verhalten als akzeptabel. Anerkannt ist damit aber der gelegentliche Vorrang anderer ethischer Gesichtspunkte vor der Erfüllung einer Verpflichtung. 112 Williams’ zweite These kann man anhand gewisser supererogatorischer Handlungen veranschaulichen, mit welchen uns nicht nur ›moralische Helden‹ und ›moralische Heilige‹ 113 beeindrucken. Es handelt sich dabei um Handlungen, die man, aus moralischen Gründen, unbedingt ausführen zu müssen glaubt, die man aber, anders als bei Verpflichtungen, nur sich selber abverlangen kann. 114 »[…] eine praktische Notwendigkeit, selbst wenn sie auf ethische Gründe gestützt ist, signalisiert nicht notwendigerweise das Bestehen einer Verpflichtung.« 115

109 Im Folgenden verwende ich die Ausdrücke ›Pflicht‹ und ›Verpflichtung‹ im selben Sinne. 110 Vgl. ders., Ethics: 196. Hervorh. und eingefügte Ziffern: HK. 111 Vgl. zu Williams’ Thesen (i) und (ii) die ausführliche Diskussion im 6. Kapitel, Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 112 Vgl. ders., ›Ethics‹ : 180 f. 113 Vgl. Susan Wolf, »Moral Saints«. 114 »Ethisch herausragende oder womöglich heroische Handlungen […] sind, insofern damit mehr getan wird, als wozu man verpflichtet ist, keine Verpflichtungen, und wir können normalerweise nicht dazu aufgefordert werden, sie auszuführen, und dafür getadelt werden, wenn wir sie nicht ausführen. Wer gleichwohl dergleichen tut, mag dabei das Gefühl haben, dass er so handeln muss, dass es für ihn keine Alternative gibt, und gleichzeitig erkennen, dass dasselbe von andern nicht gefordert werden kann.« Vgl. Willimas, ›Ethics‹ : 188 f. – Hervorh. HK. 115 Vgl. ders., ›Ethics‹ : 188; vgl. auch 178 f.

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Mit seiner ersten These stellt Williams die kantische Auffassung in Frage, wonach jede moralische Forderung eine Verpflichtung zum Ausdruck bringt. Er geht hier also mit seiner Kritik weiter als Frankfurt, der keinen Anstoß an dieser Position genommen hatte. Mit seiner zweiten These stellt Williams überdies den kantischen Pflichtbegriff zur Disposition: Wenn man, wie Williams, ethische Notwendigkeiten ›oberhalb der Pflicht‹ kennt, und diese praktischen Notwendigkeiten als ›unbedingte‹ (im Gegensatz zu ›relativen‹ Notwendigkeiten des Mitteleinsatzes) versteht 116 : dann wird man eine ›Pflicht‹ nicht länger als ›unbedingte Handlungsnotwendigkeit‹ 117 definieren können. Williams setzt moralische Pflichten nicht nur auf ihren Pflichtteil, sondern er konzipiert auch eine Alternative zum kantischen Pflichtbegriff. ›Obligation works to secure reliability‹, steht als eine Art Slogan über seinem Pflichtkonzept. 118 Wir etablieren, seiner Auffassung nach, dort ›Pflichten‹, wo es uns um die Sicherung basaler Lebensinteressen geht (Schutz vor Angriffen auf Leib und Leben, Hilfe in akuter Not, usw.). Das Kreieren von Verpflichtungen sei ein ›institutioneller‹ Versuch – das Recht ist ein anderer –, etwas dafür zu tun, dass wir uns auf die gegenseitige Achtung dieser Grundanliegen verlassen können. ›Unterhalb‹ der Ebene von Pflichten gibt es gewiss manches ethisch wünschenswerte Verhalten, das aber nicht wichtig genug ist, um in den Rang einer Verpflichtung erhoben zu werden (Freundlichkeit, Nettigkeit usw.). ›Oberhalb‹ der Pflichtschuldigkeit gibt es ethisch wertvolles Verhalten, das sinnvollerweise nicht zur Pflicht gemacht werden kann. 119 Denn es wäre widersinnig, von allen verpflichtend ein Verhalten zu fordern, das fast alle überfordern müsste. Wir können uns sinnvollerweise nicht darauf verlassen wollen, dass alle das Außergewöhnliche tun. Moralische Heldentaten fallen demnach aus dem Rahmen, innerhalb dessen Verpflichtungen ihren legitimen Ort haben. 120 Insofern ›moralische Helden‹, die, bei Vgl. ders., ›Ethics‹ : 188. Vgl. Kant, GMS: 425. – Eine ausführlichere Kritik des kantischen Pflichtkonzepts wird im 6. Kapitel (6.1., 6.6., 6.7.) durchgeführt. 118 Vgl. zum Folgenden Williams, ›Ethics‹ : 185–187. 119 Vgl. Susan Wolf, »Above and below the line of duty«. 120 Man kann nicht allen zumuten, sie also auch nicht dazu verpflichten, das mit supererogatischem Verhalten oft verbundene besondere Risiko auf sich zu nehmen. Dies ist so, obwohl es sich bei den Gütern, die durch sie ggf. bewahrt werden können, um 116 117

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Strafe des Identitätsverlusts und mithin unbedingt, meinen tun zu müssen, was außer ihnen selber keiner von ihnen verlangen wird, können sie dazu nicht verpflichtet sein. Die Entfaltung von Williams’ alternativem Pflichtbegriff macht so noch einmal deutlich, wieso die ›(unbedingte) ethische Notwendigkeit‹ einer Handlung und ein ›Verpflichtetsein‹ zu dieser Handlung wohl zwei paar Stiefel sind; weshalb man die bloße ›unbedingte ethische Notwendigkeit‹ einer Handlung nicht als Begriffsbestimmung der ›Pflicht‹ behandeln sollte. Geschweige denn, dass Kants ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ den Begriff einer ›Pflicht‹ zu definieren vermöchte. 121 Williams entwickelt auch einen eigenen Begriff der Unbedingtheit einer Forderung: ein Verständnis, das ihm die Annahme nicht-moralischer Unbedingtheiten erlaubt. 122 Der kantische Begriff einer ›unbedingten‹ – für Kant allemal moralischen – Forderung beinhalte deren Unabhängigkeit von jeglichen Zwecksetzungen ihrer Adressaten. Für Kant sei ein nicht-relatives praktisches Müssen »in dem Sinne unbedingt, dass es überhaupt nicht von Wünschen abhängig wäre«. Williams hält dies für eine »besonders radikale Interpretation« praktischer Unbedingtheit und stellt ihr eine eigene gegenüber: Dieser »vertrauten« Vorstellung nach würde sich eine unbedingte Forderung durchaus auf Zwecksetzungen ihrer Adressaten stützen, freilich nicht auf ›beliebige‹, die jemand haben, aber auch nicht haben kann. Den nicht-kontingenten Bezugspunkt einer unbedingten Handlungsvorschrift charakterisiert Williams als einen »wesentlichen« Wunsch ihres Adressaten, der in diesen Forderungen zum Ausdruck komme. Ein solcher Wunsch sei in dem Sinne »wesentlich«, dass er – im Gegensatz zu beliebigen Zwecksetzungen – »befriedigt werden muss«. 123 Williams versteht demnach das kantische Unbedingtheitskonzept als eine Überdramatisierung der gewöhnlichen Vorstellung,

menschliche Grundinteressen handeln mag – um dasjenige also, was (Williams zufolge) das Etablieren von Pflichten motiviert. 121 Diesen Punkt nehme ich im 6. Kapitel wieder auf, im Abschnitt 6.6.: ›Existenzielle Notwendigkeiten‹. 122 Vgl. hierzu den Anfangsteil meiner Williams-Darstellung sowie Köhl, »Praktische Notwendigkeiten und moralisches Verpflichtetsein. Mit Bernard Williams gegen die kantianische Moral«, Teil V. 123 Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen aus Williams, ›Ethics‹ : 189 – Hervorh. HK. A

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der zufolge man etwas unbedingt tun zu müssen glaubt, weil einem sehr viel daran liegt. Diese Radikalisierung der Kant’schen Unbedingtheitsvorstellung führt Williams zurück auf dessen ›metaphysische Anthropologie‹ : Für Kant konnte es eine auf diese radikale Weise unbedingte praktische Schlussfolgerung geben, weil er ein Bild von einem rationalen Selbst hatte, frei von Kausalität, und weil er über Handlungsgründe verfügte, die allein von einer rationalen Handlungsfähigkeit und von nichts (etwa einem Wunsch) abhingen, das der Handelnde auch hätte nicht haben können. 124

Diese Kant-Darstellung enthält nicht nur die negative Charakterierung moralischer Forderungen als un-bedingt durch beliebige Wünsche. Sie enthält auch eine positive Charakterisierung der kantischen ›Unbedingtheit‹ moralischer Forderungen, nämlich durch Gründe, die allein auf der Rationalität des geforderten Handelns basieren. Unnötig zu sagen, dass Williams der Annahme eines solchen rationalen Selbst, und der von ihm abhängenden Konzeption unbedingtheit-konstituierender moralischer Gründe, nichts abzugewinnen vermag. Wenn er Recht hätte, beruhte die Unbedingtheit von Kants moralischen Forderungen auf der Spaltung des Forderungsadressaten in einen Erdenbürger in der empirischen und einen Ehrenbürger in einer noumenalen Welt. Die von Rorty als ›metaphysisch‹ apostrophierte Unterscheidung zwischen Klugheit und Moral, zwischen bedingten und unbedingten Forderungen, zwischen dem Relationalen und dem Nicht-Relationalen: diese Unterscheidung wäre dann zurückzuführen auf eine metaphysische Differenz im kantischen ›Subjekt‹. So wäre es, gäbe es nicht ein harmloseres Verständnis der kantischen ›Unbedingtheit‹. Im 5. Kapitel dieser Abhandlung werde ich zu zeigen versuchen, dass man mit kantischen Mitteln eine ›positive‹ Explikation der Unbedingtheit moralischer Forderungen geben kann, ohne sein (Un-) Heil in einer Metaphysik des Forderungsadressaten suchen zu müssen.

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Vgl. ders., a. a. O.

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Schluss

3.8 Schluss Fassen wir nun das Beweismaterial zusammen, das die in diesem Kapitel zusammengetragenen Zeugenaussagen gegen die ›Kantianische Konzeptualisierung‹ moralischer Forderungen erbracht haben. Hauptsächlich richtete sich die Anklage gegen die angebliche ›Unbedingtheit‹ moralischer Vorschriften. Diese wurde moralischen Geboten entweder (und zwar aus unterschiedlichen Gründen) abgesprochen, oder das für sie beanspruchte Unbedingtheitsmonopol wurde ihnen bestritten. Wo die Kritiker(innen) eine eigene systematische Auffassung entwickelten, ergriffen sie eine der theoretischen Alternativen, die ich zu Beginn dieses Kapitels unterschieden habe: Während sich Schopenhauer und Anscombe mit einer Sinnlosigkeitserklärung des moralischen Sollens zufrieden gaben, entwickelten Foot, Tugendhat und Rorty verschiedene Konzeptionen einer Moral hypothetischer Imperative. Frankfurt hatte nichts gegen die Annahme kategorisch-unbedingter Forderungen, nur sollten sie nicht ›unbedingt‹ moralische sein müssen. Seinen unbedingten ›Notwendigkeiten des Willens‹ entsprachen bei Rorty dessen ›Notwendigkeiten der Selbst-Identität‹ und bei Williams seine ›Notwendigkeiten des Charakters‹. Diesen Philosophen zufolge haben solche konstitutionsbedingten Handlungsnotwendigkeiten denselben Anspruch auf Unbedingtheit wie Kants kategorisch-moralische Forderungen. Wenn es solche nicht-kantischen Unbedingtheiten tatsächlich gibt, wäre damit die traditionelle Ehe zwischen dem Unbedingten und dem Moralischen geschieden. Von den Ergebnissen, zu denen einige der dargestellten Philosoph(inn)en in ihren konstruktiven Beiträgen gekommen sind, wird man sich gewisse theoretische Liberalisierungsfolgen versprechen dürfen. Das kann man sich im Anschluss an die Positionen von Frankfurt und Williams klar machen. Angenommen, man könnte diese beiden, die sowohl nicht-moralische wie moralische Unbedingtheiten kennen, dafür gewinnen, sich überdies für die Existenzanahme ›hypothetischer‹ Moralgebote zu öffnen. Dann wäre damit eine ethische Position vorgezeichnet, die das moralisch Unbedingte, statt es zu verwerfen, mit den ›Anforderungen der Zweckmäßigkeit‹ versöhnte. Diese Position steht im Kontrast zu der rigideren Auffassung Rortys, der ›Moral‹ und ›Klugheit‹ unter dem Schirm des Zweckrationalen vereinen wollte, auf Kosten der moralischen Unbedingtheit. Dieser ›frühe‹ Rorty war aber unschwer mit in das auf LiberaliA

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sierungskurs gebrachte Frankfurt/Williams-Boot zu holen. Man brauchte ihn bloß davon zu überzeugen, dass die Beschreibung, die er von nicht-moralischen Unbedingtheiten gegeben hat, ihn dazu nötigt, auch moralische Unbedingtheiten anzuerkennen. 125 Noch aber besitzen wir keine befriedigende ›positive‹ Explikation der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung. Am ehesten ist bislang bei nicht-moralischen Unbedingtheiten deutlich geworden, worin ihre ›Unbedingtheit‹ besteht und wodurch sie möglich wird. Solange wir keine ausgearbeitete Unbedingtheits-Erklärung für ›moralische‹ Vorschriften besitzen, darf deren Annahme nicht als gesichert gelten. Diese Erklärung werde ich erst im 5. Kapitel geben und im 6. Kapitel, in modifizierter Form, verteidigen. Ungefährdeter erscheint beim jetzigen Stand der Dinge die Existenzannahme ›hypothetischer‹ Moralgebote. Die im gegenwärtigen Kapitel nachvollzogenen Vorstellungen von einem hypothetisch-bedingten Charakter (zumindest einiger) moralischer Vorschriften, wie sie von Foot, Tugendhat und Rorty entwickelt worden sind, können sich m. E. sehen lassen. Im folgenden 4. Kapitel versuche ich ihnen zusätzliches Ansehen zu verschaffen. Für Kantianer ergibt sich aus alledem eine ganz ungewohnte und unbequeme Sicht der Beweislastverteilung. Hypothetische Moralgebote scheint es zu geben; ob es auch kategorisch-unbedingte gibt, ist bis dato ungewiss. Ist vielleicht doch David Hume der bessere Steuermann in moralphilosophischen Gewässern?

125 Vgl. des ›späteren‹ Rortys »Existentielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«.

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4 Hypothetische Moralgebote

Die feste Burg des moralphilosophischen Kantianismus scheint zu wanken. Nach den im vorigen Kapitel aufgehäuften Bedenken darf man jedenfalls den Eindruck haben, dass mindestens das Unbedingtheitsmonopol moralischer Forderungen in Gefahr ist. Es ist sogar zweifelhaft geworden, ob es moralische Vorschriften mit einem ›unbedingten‹ Charakter überhaupt gibt. Gleichwohl ist die Lage nicht trostlos für die Vertreter der Kantianischen Konzeptualisierung. Denn einige der Kritiken, die gegen die Unbedingtheits-Konzeption moralischer Gebote vorgetragen wurden, lassen sich leicht zurückzuweisen. Diese Konterkritik ist eine der Aufgaben des gegenwärtigen Kapitels. Andere Kritikpunkte an der kantischen Unbedingtheitskonzeption Forderungen sind freilich nicht so einfach, oder gar nicht, von der Hand zu weisen. Von ihnen ist also zu lernen. 1 Einige Einwände setzten ein ganz bestimmtes ›Unbedingtheits‹-Verständnis voraus. Der Maßstab für dessen Triftigkeit kann nur eine überzeugende Rekonstruktion der kantischen Unbedingtheit sein. Dieser Rekonstruktionsaufgabe widme ich mich im nachfolgenden 5. Kapitel. Dabei soll sich zeigen, dass man manche Moralgebote durchaus, in einem plausiblen und kantischen Sinn, als ›unbedingte‹ Handlungsvorschriften auffassen kann. Daraufhin lassen sich, im 6. Kapitel, einige der im 3. Kapitel vorgeführten Einwände, die ein ›falsches‹ Unbedingtheitsverständnis voraussetzen (Kritiken von Rorty und Tugendhat), wenigstens partiell zurückweisen. Setzen wir uns also, im jetzigen Kapitel, zunächst mit jenen Einwänden auseinander, für deren Prüfung kein tiefer gehendes Verständnis des kantischen Unbedingten vonnöten ist. Dies sind einige der kritischen Vorhaltungen von Anscombe, Schopenhauer, TugendVgl. dazu im 6. Kapitel meiner Untersuchung vor allem die Abschnitte 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht, und 6.2.: Prinzipienfixierung.

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Hypothetische Moralgebote

hat und Foot. Die veränderte Reihenfolge, in der ich ihre Beiträge nun wieder aufnehme, soll zusätzliches Licht auf die systematischen Beziehungen zwischen ihren Positionen werfen. Der systematische Akzent des jetzigen Kapitels liegt jedoch auf dem Versuch, die konstruktive Seite an den Beiträgen von Foot und Tugendhat zu vertiefen. Ich möchte also plausibel machen, dass einiges für die Existenzannahme hypothetischer Moralgebote spricht.

4.1 Religiöse Voraussetzungen? Anscombe und Schopenhauer stimmten darin überein, dass ein spezifisch moralisches Sollen eine ›Gesetzeskonzeption der Ethik‹ voraussetzt – und den Glauben an eine gesetzgebende göttliche Autorität. Schopenhauer zufolge hat man sich diese Autorität zugleich als Sanktionsmacht zu denken. Deren strafende oder belohnende Reaktionen auf Gesetzesgehorsam oder Gehorsamsverweigerung gehörten für ihn mit zur Bedeutung des ›moralischen Sollens‹. Mit dem Entfallen religiöser Voraussetzungen schien ihm, genau wie Anscombe, dieses ›Sollen‹ unverständlich zu werden. Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend. Denn die religiöse Erklärung des moralischen Sollens ist nicht alternativlos. Selbst wenn sie zuträfe, könnten daneben auch noch andere Erklärungsansätze dieses Sollen verständlich machen. Gäbe es diese, wäre dadurch gewährleistet, dass moralische Forderungen auch nach ihrer religiösen Entwurzelung einen guten Sinn besäßen. 2 In diesem Sinne möchte ich zu begründen versuchen, dass ein ›höheres Wesen‹ (a) weder als moralische Sanktionsinstanz noch (b) als moralischer Gesetzgeber angenommen werden muss. (a) Lassen wir vorerst Schopenhauers Annahme unangetastet, wonach die Bedeutung eines moralischen Sollens von seinem Sanktionsbezug lebt. Dann muss jedenfalls die sanktionierende ›Macht‹ keine göttliche sein. Es gibt andere Mächte, die für den moralischen ›Justizvollzug‹ in Frage kommen. Man denke nur an die verinnerlichte Autorität der elterlichen Machtpersonen, oder ganz generell an den massiven sozialen Druck, der häufig mit moralischen Forderungen verbunden ist. Wir erinnern uns, dass Foot das besondere Gewicht moralischer Forderungen mit der Strenge der moralischen Er2

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Ähnlich argumentiert Ursula Wolf in Das Problem des moralischen Sollens: 5.

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Religiöse Voraussetzungen?

ziehung und den dadurch erzeugten Gefühlen in Verbindung gebracht hat. (b) Auch als moralischer Gesetzgeber ist kein Gott erforderlich, die moralischen Regeln müssen keine göttlichen Gesetze sein. Falls für die Verständlichkeit eines ›moralischen Sollens‹ wirklich die Anerkennung moralischer Gesetze und folglich eines Gesetzgebers konstitutiv sein sollte, dann können, unter den Bedingungen einer aufgeklärten Moral, an die Stelle religiös gestützter Moralgrundsätze ›profane‹ ›Gesetze‹ treten: also moralische Normen, die sich in säkularisierten moralischen Gemeinschaften herausbilden. Ein weiterer Einwand gegen die These von der post-religiösen Unverständlichkeit des ›moralischen Sollens‹ kann an eine Überlegung von Peter Winch anknüpfen. 3 Auch Ungläubige können das Gebot christlicher Nächstenliebe sehr wohl verstehen. Und sie können religiöse Vorschriften, in ihren eigenen Äußerungen, völlig korrekt verwenden. Sie können sich diese nur nicht zu Eigen machen. Es sei denn, sie sehen auch nicht-religiöse Grundlagen dafür. Goethes Faust variierend, können sogar Atheisten bekunden: ›Die Botschaft hör’ ich wohl, und ich versteh’ sie auch, mir fehlt allein der Glaube.‹ Wenn demnach das Wegfallen oder Fehlen von Glaubensprämissen das ›Sollen‹ moralischer Vorschriften nicht unverständlich macht, dann waren diese Prämissen auch in der religiösen Moral für das Verständnis moralischer Vorschriften nicht wesentlich. Und dann hat die Tatsache, dass diese Prämissen einer modernen Moral nicht zur Verfügung stehen, auch nicht die Konsequenz, dass deren Gebote keinen Sinn besitzen. Anscombe hatte die Annahme gemacht, dass das moralisch-religiöse Sollen allemal eine Verpflichtung zum Ausdruck bringe. 4 Weshalb, zusammen mit der religiösen Fundierung moralischer Forderungen, auch ›moralische Verpflichtungen‹ verloren gingen. Im Vgl. Winch, »Wer ist mein Nächster?« Vgl. Alasdair MacIntyres Anscombe-Darstellung in seiner »Introduction« zu Revisions: 7: »[…] this force is given to them by the fact that in such contexts these expressions are given the sense that they have when we assert that such-and-such is required by law or that the law is such that we are bound or obliged to do such-and-such«. Das muss man nicht plausibel finden. Während aber in diesem MacIntyre-Zitat immerhin nur von Gesetzen und nicht von religiösen Gesetzen die Rede ist, geht Anscombe in dem bei McIntyre folgenden Zitat von der Rede von Gesetzen direkt zur Rede von göttlichen Gesetzen über, und das ist ein non-sequitur: »To have a law conception of ethics is to hold that what is needed for conformity with the virtues […] is required by devine law.« Vgl. Anscombe, »Modern Moral Philosophy«: 30 – zweite Hervorh. HK. 3 4

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Hypothetische Moralgebote

vorigen Kapitel sahen wir Williams die Auffassung bestreiten, dass moralische Vorschriften in jedem Fall ›Pflichten‹ formulieren. Für den Fall, dass eine solche Pflicht-Implikation zu den Geboten der jüdisch-christlichen Moral gehören würde, könnten Williams-Anhänger sich also immer noch für die Annahme solcher Moralvorschriften engagieren, die Geringeres als Pflichten statuieren. Falls sich die Annahme des Verpflichtungscharakters moralischer Forderungen tatsächlich unter postreligiösen Bedingungen nicht aufrechterhalten ließe, müsste also auch dies nicht bedeuten, dass es keine moralischen Forderungen mehr geben könnte. Man hätte diese dann lediglich durch andere Merkmale (und nicht durch ihren Pflichtcharakter) von andersartigen Vorschriften zu unterscheiden.5 Ein nicht-religiöses ›moralisches Sollen‹ wäre durchaus, nur eben anders zu verstehen als ein religiös unterfüttertes. 6 Vielleicht lässt sich zudem Winchs Auffassung begründen, wonach das Verständnis religiös-moralischer Gebote sogar das Verstehen von vor-religiösen moralischen Notwendigkeiten voraussetzt. 7 Soeben habe ich, ›for the sake of the argument‹, diejenigen moralischen Forderungen ›geopfert‹, die Verpflichtungen zum Ausdruck bringen. Diese Konzession ist jedoch unnötig, wenn man, wie Williams dies getan hat, einen alternativen Pflichtbegriff etabliert, der ohne religiöse Prämissen auskommt. 8 – Dieses alles waren Argumente gegen die Anscombe/Schopenhauer-These von der postreligiösen Unverständlichkeit des ›moralischen Sollens‹.

4.2 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Entfaltung 9 Für Schopenhauer war jede moralische Forderung bedeutungsmäßig auf Sanktionen bezogen. In diesem Sinne hatte er behauptet, dass ein »[j]edes Sollen notwendig durch Strafe, oder Belohnung bedingt, mithin […] hypothetisch und niemals […] kategorisch«, d. i. ›unbeVgl. zu diesem Argument Wolf, Das Problem des moralischen Sollens: 4. Vgl. Winch, a. a. O.: 221. 7 Vgl. Winch, a. a. O.: 222 und 228. 8 Vgl. dazu die Williams-Darstellung im 3. Kapitel. 9 Dieser und die beiden folgenden Kapitelabschnitte enthalten eine Weiterentwicklung der Schopenhauer-Kritik, die der Verf. in seinem Aufsatz »Schopenhauers Kritik am moralischen Sollen« geübt hat. 5 6

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dingt‹, sei. 10 Mit der ›Bedingtheit‹ eines jeden ›Sollens‹ durch Sanktionen meinte er den Sachverhalt, dass die Bedeutung einer jeden Forderung durch ihren Sanktionsbezug (mit-) konstituiert werde. Jedes ›Sollen‹ ist für ihn insofern »wesentlich relativ«, als es »alle Bedeutung nur […] durch angedrohte Strafe, oder verheißene Belohnung«, besitze. 11 – Ich möchte diese Auffassung ›die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹ nennen. Dass seine Auffassung vom hypothetischen Charakter einer jeden sinnhaften Handlungsvorschrift Schopenhauer nicht dazu bewogen hat, moralische Gebote als eine Unterklasse ›hypothetischer‹ Imperative aufzufassen, hatte seinen Grund darin, dass er sich ein Handeln nach sanktionsbezogenen Imperativen nur als sanktionsmotiviert vorstellen konnte – und er eine sanktionsmotivierte Handlung als moralisch insignifikant betrachtete. Weshalb für ihn auch die Forderung einer solchen Handlung keine moralische sein konnte. Bevor ich, im folgenden Kapitelabschnitt, die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung kritisch beleuchte, sollten wir deutlicher vor Augen haben, was sie besagt. Man könnte diese Auffassung so verstehen, als betrachte sie erstrebte oder gefürchtete Sanktionen selber als dasjenige, worauf eine jede Forderung ausgerichtet ist. Dies wäre eine sehr unplausible Vorstellung. Denn trivialerweise fordern nicht alle Vorschriften dazu auf, eine Belohnung zu erhaschen oder vor Strafe auf der Hut zu sein. Zwar ist jeder Imperativ, der eine Handlung zu dem Zweck vorschreibt, eine Sanktion zu erlangen oder zu vermeiden, hypothetisch. Umgekehrt aber wird nicht jede Handlung, mit der jemand einen hypothetischen Imperativ befolgt oder befolgen soll, als Mittel zum Erlangen oder Vermeiden einer Sanktion gefordert. Außerdem kann das Erlangen erfreulicher und die Verhütung unerfreulicher Sanktionen kein direktes Forderungsziel sein. So ist zum Beispiel eine Belohnung für Forderungsgehorsam immer eine Belohnung dafür, dass man eine bestimmte, geforderte Handlung ausgeführt hat. Forderungen sind demnach primär auf geforderte Handlungen bezogen, die Belohnung für entsprechendes Handeln ist nur eine Nebenfolge forderungsgemäßen Verhaltens. Es gibt eine andere, plausiblere Lesart der ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹. Demnach gehörte der Bezug auf eine Sankti10 11

Vgl. Schopenhauer, ›Grundlage‹ : 163. Vgl. Schopenhauer, a. a. O. – Hervorh. HK. A

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on zur Bedeutung einer jeden Forderung dazu. Handlungsgebote wären mit Sanktionen derart verbunden, dass deren Empfängnis oder Verhütung vom Forderungsautor und/oder Forderungsadressaten stets mitbezweckt würde. Sie gehörten, als eine Art Annex, allemal zu dem Zweck dazu, der durch die geforderte Handlung direkt erreicht werden soll. In dieser Beschreibung sind zwei Klassen von Fällen verborgen. Tatsächlich gibt es Handlungsvorschriften, bei denen eine mitbezweckte Sanktion in dem Sinne der Hauptzweck ist, dass der direkte Zweck nur wegen der damit verbundenen Sanktionsaussichten angestrebt wird. Das direkt Bezweckte wird hier nur erstrebt, weil das mit ihm als Sanktion Verbundene auf direktem Wege nicht zu haben oder zu vermeiden ist. Jemand wird z. B. kaum freiwillig ein Himmelfahrtskommando übernehmen, wenn ihm dafür nicht eine fürstliche Belohnung winkt. In allen anderen Fällen, die unter die erwogene Beschreibung der ›Sanktionstheorie‹ fallen, liegt der Akzent einer Forderung nicht auf dem Erlangen oder Vermeiden von Sanktionen. Diese können jedoch als wesentlich für die Sinnhaftigkeit einer Vorschrift erscheinen, wenn jemand denkt, dass Forderungen ohne damit verbundene Sanktionsaussichten kraftlos, ja womöglich gar keine Forderungen wären. Hier wäre die Sanktion nicht das Primäre, und schon gar nicht das Einzige, worauf man mit einer Forderung oder mit gezeigtem Forderungsgehorsam aus sein würde. Die Sanktion wäre hier nicht der Hauptzweck, sondern notwendiger Begleitzweck einer Forderung. Die so verstandene Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung scheint am ehesten Plausibilität zu besitzen. Zwei Argumente scheinen für die so verstandene ›Sanktionstheorie‹ zu sprechen. Zum einen könnte man meinen, dass eine Forderung, qua Forderung, nur durch ihr Verbundensein mit Sanktionsaussichten von schwächeren Aufforderungen, wie zum Beispiel Bitten, zu unterscheiden sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass Handlungsgebote auch durch anderes als Sanktionen, etwa durch die (Art der) Gründe für die jeweils geforderten Handlungen, charakterisiert und von anderen Aufforderungen unterschieden werden können (für die, wie bei Bitten, gar keine Gründe erforderlich sein mögen). Wobei sich diese Gründe in keiner Weise auf Sanktionen beziehen müssen. Ein zweiter und stärkerer Grund dafür, Forderungen in der beschriebenen Weise mit Sanktionen verbunden zu sehen, besteht in der Überzeugung, dass andernfalls keine Folgebereitschaft ihrer 160

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Adressaten zu erwarten sei. Diese haben ohne Sanktionsaussichten, so ist man zu denken geneigt, kein Motiv, einer Forderung nachzukommen. Der Witz einer forderungsbegleitenden und bedeutungskonstitutiven Sanktion wäre demnach das Schaffen einer Motivation zu dem geforderten Verhalten. Der so verstandenen Sanktionstheorie zufolge besagte eine jede Forderung: »Du sollst …, und wenn du nicht willst, dann …«. In die erste Lücke gehört eine Beschreibung der geforderten Handlung, in die zweite eine Beschreibung der in Aussicht gestellten Sanktion. Zwischen den Lücken wird auf die ›Bereitwilligkeit‹ eines Forderungsadressaten Bezug genommen, auf sein Motiv: ›Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt‹. Vertreter einer solchen Sanktions-und-Motivationstheorie der Forderungsbedeutung erliegen leicht der Versuchung, überhaupt nur sanktionsorientierte Motive zum Forderungsgehorsam in Betracht zu ziehen. Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung schränkt also tendenziell den Bereich der Motive ein, die für Forderungsgehorsam zur Verfügung stehen. Wie umgekehrt die von jemandem anerkannten Handlungsgründe bestimmen können, welche Arten von Forderungen es für ihn geben kann. Ein solcher Reduktionismus hinsichtlich möglicher Handlungsgründe hatte zur Folge, dass es zum Beispiel für Foot 12 und Tugendhat nur hypothetische Moralgebote gibt, und für Schopenhauer gar keine. Damit hat uns diese systematische Betrachtung zur ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹ zurück zu Schopenhauer geführt. Tatsächlich geht seine Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung einher mit einer Sanktionstheorie der Forderungsbefolgung. Dass er ein »[j]edes Sollen« bedeutungsmäßig »durch Strafe, oder Belohnung bedingt« 13 sah, hat seinen Grund in der Annahme, dass der Wille des Forderungsadressaten nur »mit Hinsicht auf Lohn oder Strafe« 14 zu forderungsgemäßem Handeln »bestimmt« 15 werden könne. Tatsächlich hat Foot eine reduktionistische Vorstellung von Handlungsgründen für ihre frühe Konzeption einer ›Moral hypothetischer Imperative‹ verantwortlich gemacht. Vgl. dies., »Beruht der moralische Subjektivismus auf einem Irrtum?« Vgl. dazu im gegenwärtigen Kapitel den Abschnitt 4.7.: Vernunftethisches ›Roll-back‹. 13 Vgl. Schopenhauer, a. a. O. 14 Vgl. ders., a. a. O.: 164. 15 In diesem Sinne beruft sich Schopenhauer auf John Locke. Vgl. a. a. O.: 161. 12

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Folglich, so schließt er, sei »der Gehorsam gegen« »[e]ine gebietende Stimme« »stets eigennützig« 16 . Schopenhauers Fixierung auf Sanktionsaussichten führt also dazu, dass für ihn alle denkbaren Gründe der Forderungsbefolgung zu eigennützigen Motiven werden, mit denen man auf Belohnung oder Strafvermeidung aus ist. Ein Monopol eigennütziger Befolgungsmotive aber schließt, so Schopenhauers weitere These, die Möglichkeit moralischer Forderungen aus – sowie die Möglichkeit moralisch wertvoller Handlungen durch die Befolgung einer Forderung. 17

4.3 Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung: ihre Kritik Schopenhauers Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung muss sich, in seinem theoretischen Rahmen, allein bei hypothetischen Imperativen bewähren. Waren diese doch die einzigen sinnhaften Forderungen, die er gelten ließ. Zu prüfen ist demnach, ob zur Bedeutung von bedingten Handlungsgeboten allemal das Winken mit Sanktionen gehört und ob, ohne die Verbindung mit Sanktionsaussichten, solche Vorschriften sinn- und kraftlos wären. Im Folgenden argumentiere ich für drei Schopenhauer-kritische Thesen: Die erste besagt, dass nicht zu jeder bedingten Forderung bedeutungsmäßig eine Sanktion und ein sanktionsorientiertes Befolgungsmotiv gehört. Zweitens möchte ich plausibel machen, dass selbst bei sanktionsbewehrten Geboten – und auch für den Fall ihres bedeutungsmäßigen Verbundenseins mit Sanktionsmotiven – die Sanktion nicht immer das wirksame Befolgungsmotiv darstellt. Die dritte These wagt, in Anknüpfung an Tugendhat, die Behauptung, dass selbst dort, wo das Befolgungsmotiv eine Sanktion ist, dies den ›moralischen‹ Charakter einer Forderung nicht ausschließt. Die beiden ersten Thesen werden in diesem, die dritte These wird im nachfolgenden Kapitelabschnitt entfaltet. Genau genommen ist es nicht wahr, dass zu einem hypothetischen Sollen immer eine »angedrohte Strafe, oder verheißene BelohVgl. ders., a. a. O.: 163 – Hervorh. HK. »Eine gebietende Stimme […] ist es schlechterdings unmöglich, sich anders, als drohend, oder versprechend, zu denken; dann aber wird der Gehorsam gegen sie […] stets eigennützig, mithin ohne moralischen Wert sein.« Vgl. ders., a. a. O., sowie 164.

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nung« 18 , also eine Sanktion gehört. Wer zum Beispiel ein Klugheitsgebot missachtet, den erwartet, im wörtlichen Sinne, keine Strafe. Er ist dadurch ›gestraft genug‹, dass er seinen Zweck nicht erreicht. Wenn demnach Sanktionen nicht immer zu bedingten Geboten dazugehören, dann gehören sie erst recht nicht bedeutungsmäßig dazu. Es gehört dann auch nicht allemal der Bezug auf ein sanktionsorientiertes Motiv zur Forderungsbedeutung. Man könnte meinen, dass dieser rasche Argumentationserfolg zugunsten meiner ersten kritischen These nur aufgrund von Schopenhauers engem ›Sanktions‹-Begriff so leicht zu haben ist. So ist die Missachtung eines Klugheitsgebots zwar genau genommen nicht mit einer ›Strafe‹ verbunden, ggf. aber mit ›Nachteilen‹ oder ›Unannehmlichkeiten‹. Wer eine prudentielle Regel verletzt, weil er die angeratene Handlung nicht auszuführen versteht und deshalb, oder aus anderen Ursachen, seinen Zweck nicht erreicht, wird ob dessen gewöhnlich enttäuscht und ggf. von sich selber enttäuscht sein. Andere mögen sich über sein Fehlverhalten ärgern und ihn dumm oder lächerlich finden, usf. Gehört vielleicht die Erwartung solcher Folgen bedeutungsmäßig zu einem hypothetischen Imperativ dazu? Die Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung scheint jedenfalls plausibler zu werden, wenn man ›Sanktionen‹ als Folgen und Reaktionen auffasst, die mit der Ausführung einer hypothetisch geforderten Handlung und dem Erreichen des damit Bezweckten häufig verbunden sind. Wann versteht denn jemand einen hypothetischen Imperativ? Zum Verständnis gehört zunächst einmal, dass der ›Verständige‹ zu wissen meint, was dadurch von ihm verlangt wird; und dass er überdies weiß, dass es von ihm deshalb verlangt wird, weil damit ein weiterer Zweck erreicht werden soll. Weiß er damit nicht schon alles, was er wissen muss, um die Bedeutung einer bedingten Forderung zu erfassen? Muss er, dafür, noch zusätzlich glauben, dass die Forderungsbefolgung mit Annehmlichkeiten, und ihre Nichtbefolgung mit Unannehmlichkeiten, verbunden ist? Versteht er, wie die Sanktionstheorie meint, die Forderung nur dann, wenn diese Begleiterscheinungen für ihn ein Motiv zum Forderungsgehorsam sind? Man kann, gegen diese Suggestion, den Fall eines phlegmatischen Thronfolgers vorführen. Die Entmachtung der Königinmutter, die sein Mentor von ihm verlangt, verheißt für ihn nichts Angeneh18

Vgl. Schopenhauer, a. a. O.: 163. A

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mes. Er möchte nicht König sein. Die erforderliche Aktion ist ihm unangenehm. Sein Leben als Prinz fand er angenehm. Trotz alledem, er folgt dem Rat seines Mentors und stürzt die Königin. Er ist folgsam aus reiner Gewohnheit, es ist auch damit für ihn keine Befriedigung verbunden. Er handelt aus der Einsicht heraus, dass nur durch den Putsch das Königtum zu retten ist. Aber Einsichten zu haben, und nach ihnen zu handeln, ist für ihn mit keinem Wohlgefühl verbunden. Und die Aussicht auf die Abschaffung der Monarchie schreckt ihn nicht. Wenn diese traurige Gestalt überhaupt zu etwas gut ist, dann dazu, durch ihre Existenzmöglichkeit die ›Sanktionstheorie der Forderungbedeutung‹ in Frage zu stellen. Denn für unseren Phlegmatiker sind mit der Forderung, die Königin zu entmachten, weder Verheißungen noch Befürchtungen verbunden, und dennoch versteht er (zu seinem Leidwesen) die Forderung ohne Problem. Das heißt jedoch: Wenn Sanktionen, auch im weiten Sinn erwarteter ›Annehmlichkeiten‹ oder ›Unannehmlichkeiten‹, nicht zu einem jeden hypothetischen Imperativ gehören, dann gehören sie auch nicht zu dessen Bedeutung. Die ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹ war, wie wir sahen, zwecks ihrer Unterstützung, mit einer ›Sanktionstheorie der Forderungsbefolgung‹ verbunden. Ohne Sanktionsaussichten, so war dabei die Überlegung, hat man kein Motiv, einer Forderung zu gehorchen. Diese Motivationstheorie aber stützt jene Bedeutungstheorie in Wirklichkeit nicht. Sonst könnte man ein Klugheitsgebot nicht verstehen, ohne ein Motiv zu seiner Ausführung zu haben, das sich aus positiven Erwartungen speist. Man kann es ›ohne dies‹ verstehen, man ist nur gegebenenfalls nicht motiviert, es auszuführen. Dies könnte sogar bei der Mehrzahl aller Forderungen der Fall sein. Damit darf Schopenhauers ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹ als erledigt und die erste kritische These als begründet gelten, der zufolge das Verstehen einer Handlungsvorschrift nicht von ihrem Assoziiertsein mit Sanktion(smotiv)en abhängt. Nach dem Scheitern seiner ›Sanktionstheorie‹ darf man es wieder für möglich halten, dass ein ›moralisches Sollen‹ eine explizierbare Bedeutung haben kann: auch wenn die Explikation durch anderes als durch die Bezugnahme auf Sanktionen erfolgen müsste. 19 Indem SchopenOder durch die Bezugnahme auf sehr spezielle Sanktionen, wie Tugendhat meint. Diese Explikationsmöglichkeit setzt freilich voraus, dass man plausibel machen kann,

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hauer die Sinnhaftigkeit eines jeden ›Sollens‹ von seinem Sanktionsbezug abhängig machte und von daher auf den hypothetischen Charakter einer jeden sinnvollen Forderung schloss, schied die Möglichkeit kategorischer Imperative aus. Aber auch ›moralische Forderungen‹ musste er für unmöglich halten, weil ihm der Sanktionsbezug einer vorgeschriebenen Handlung mit dem ›moralischen‹ Charakter einer Vorschrift unvereinbar erschien. Nachdem sich die ›Sanktionstheorie‹ und die These vom hypothetischen Charakter eines jeden ›Sollens‹ erledigt hat, ist auch die Existenz kategorischunbedingter Moralgebote nicht mehr auszuschließen. Wenn man sich die ›Bedeutung‹ eines hypothetischen Imperativs unschwer durch die Gründe für das damit Geforderte klar machen kann – man soll M ausführen, weil man Z erstrebt und weil M ein effektives Mittel zur Realisierung von Z zu sein scheint –, dann ist auch nicht auszuschließen, dass sich ›kategorisch-moralische‹ Sollsätze durch eine eigene Klasse von Handlungsgründen charakterisieren lassen. 20 Nun hatte Schopenhauer, zur Unterstützung seiner ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹, eine ›Sanktionstheorie der Forderungsbefolgung‹ bemüht. Diese besagte, dass jemand nur durch die Aussicht auf Sanktionen zur Befolgung einer Vorschrift motiviert sein könne. Diese Auffassung besitzt eine gewisse Überzeugungskraft, und zwar unabhängig von der Unterstützerrolle, die sie bei Schopenhauer für die von mir ad acta gelegte ›Sanktionstheorie der Forderungsbedeutung‹ zu spielen hatte. Seine Anhänger könnten, eines Besseren belehrt, zugeben, dass man eine (bedingte) Forderung unabhängig von deren eventuellem Sanktionsbezug verstehen kann. Um sodann darauf zu insistieren, dass ohne die Aussicht auf Sanktionen niemand zu forderungsgemäßem Handeln bewegt werden könne. Hierauf war meine zweite kritische These gemünzt, der zufolge selbst bei sanktionsbewehrten Forderungen die Sanktion nicht immer das Befolgungsmotiv zu sein braucht. Auch dort, wo eine Forderung von einer Sanktionserwartung begleitet ist, folgt daraus nicht, dass eine semantische oder motivationale Beziehung eines moralischen Sollens zu solchen speziellen Sanktionen den ›moralischen‹ Charakter geforderter Handlungen, und der betreffenden Forderungen, nicht verunmöglicht. Vgl. dazu den folgenden KapitelAbschnitt. 20 Vgl. wiederum die Ansätze zu einer Forderungsanalyse in Termini von ›Gründen‹ im 5. Kapitel der vorliegenden Untersuchung. A

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dass der Adressat, der ihr folgt, dies allemal um der Sanktion willen tut. Denn man kann ein bedingtes Gebot allein deshalb befolgen, weil man an den damit verfolgten Zweck glaubt und von der Zweckdienlichkeit der gebotenen Handlung überzeugt ist: und ohne auf damit verbundene Sanktionen zu sehen oder es darauf abgesehen zu haben. Eine Forderung kann einfach ›von der Sache her‹ einleuchten und deshalb befolgt werden. Selbst dann, wenn (entgegen meiner ersten kritischen These) der Bezug auf Sanktionen zur Bedeutung einer Forderung gehören würde, müssten letztere nicht immer das Befolgungsmotiv sein. Vielmehr würde dies nur bedeuten, dass es zu jedem Gebot ein im Prinzip verfügbares sanktionsbezogenes Befolgungsmotiv gibt. Handlungswirksam mag aber ggf. ein anderes Motiv sein. Wenn Forderungen nicht allemal aus Sanktionsmotiven befolgt werden, die Schopenhauer zufolge immer »eigennützig« sind 21 , dann kann er nicht länger ausschließen, dass geforderte Handlungen manchmal aus ›uneigennützigen‹ Motiven geschehen. Dann aber besäßen sie, was für Schopenhauer ausgeschlossen war, moralischen Wert. 22 Selbst ein Handeln nach einer sanktionsbewehrten Vorschrift könnte einen moralischen Wert besitzen, wenn das Befolgungsmotiv nicht die Sanktion ist. – Dem ist, im nächsten Kapitelabschnitt, lediglich noch hinzuzufügen, dass moralisch wertvolle Handlungen sogar aus forderungsassoziierten Sanktionsmotiven heraus ausgeführt sein dürfen: wenn es sich dabei um besonders qualifizierte Sanktionen handelt. Dies ist die Position von Tugendhat. Wenn aber ein vorschriftsgemäßes Handeln auch aus ›uneigennützigen‹ Motiven erfolgen kann und damit geforderte Handlungen mit ›moralischem Wert‹ möglich sind: dann ist mit Schopenhauers argumentativen Mitteln auch die Möglichkeit von Forderungen nicht mehr auszuschließen, welche die Ausführung ›moralisch wertvoller‹ Vgl. Schopenhauer, ›Grundlage‹ : 163. Wohlgemerkt kannte auch Schopenhauer ›moralisch wertvolle‹ Handlungen. So erinnert er daran, »daß man oft gerecht handelt, einzig und allein damit dem Andern kein Unrecht geschehe«, und »daß mancher hilft und gibt, leistet und entsagt, ohne in seinem Herzen eine weitere Absicht zu haben, als daß dem Andern, dessen Not er sieht, geholfen werde«. Um dann fortzufahren: »Handlungen der besagten Art sind es […], denen man eigentlichen moralischen Wert zugesteht.« (A. a. O.: 243.) Für Schopenhauer handelt es sich dabei um Handlungen, die de facto zuletzt ›aus Mitleid‹ geschehen (a. a. O.: 248). Was er ausschließt, sind moralisch wertvolle Handlungen ›in Befolgung einer Forderung‹.

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Handlungen gebieten. Dies wären dann aber ›moralische Forderungen‹, die etwas deshalb gebieten, weil es bestimmte moralische Qualitäten besitzt: Qualitäten, die jemandem Grund genug sein können, einem Gebot zu folgen.

4.4 Sanktionierte hypothetische Moralgebote und der ›interne‹ Charakter moralischer Reaktionen Im vorigen Kapitelabschnitt habe ich gegen die Auffassung argumentiert, (a) dass Sanktionen die Bedeutung einer jeden Forderung (mit-) konstituieren, (b) dass nur Sanktionsanreize zu ihrer Befolgung führen können und (c) dass deshalb alle sinnhaften Gebote nur ›hypothetische‹ Imperative sein können. Bislang unangetastet blieb Schopenhauers Annahme, dass sanktionsmotivierte Handlungen keine moralischen Handlungen sein können, und die damit befolgte Forderung keine moralische Forderung sein kann. Diese Annahme wird von der dritten kritischen These bestritten, die ich zu Beginn des vorigen Kapitelabschnitts aufgestellt habe. Ihr zufolge schließt ein sanktionsmotivierter Forderungsgehorsam den ›moralischen‹ Charakter der befolgten Vorschrift nicht aus. Und zwar dann nicht, wenn es sich bei dem handlungswirksamen Motiv um eine ›besonders qualifizierte und moralspezifische Sanktion‹ handelt. Bei den Forderungen, die auf solche Sanktionsmotive abstellen, müsste es sich dann um hypothetische Moralgebote handeln. Damit ist die Position beschrieben, die Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik vertreten hat. 23 Für Tugendhat waren moralische Forderungen deshalb ›hypothetische‹ Imperative, weil er sie nicht nur (wie alle Forderungen) bedeutungsmäßig auf solche Sanktionen bezogen sah, sondern weil die von ihnen verlangten Handlungen zu dem Zweck gefordert würden, diese Sanktionen zu vermeiden. Ich konnte seine Position deshalb, etwas persiflierend, in der Beschreibung zusammenfassen, dass ihm zufolge die Ausführung einer Moralvorschrift der moralischen Schmerzprophylaxe dient. Die ›moralspezifische Sanktion‹, die solche hypothetischen Moralgebote möglich macht, besteht für Tugendhat in bestimmten moralischen Gefühlsreaktionen. Ihre ›besondere Qualifikation‹ besteht in

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Vgl. zum Folgenden meine Tugendhat-Darstellung im 3. Kapitel. A

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ihrem so genannten internen Charakter. Diesen habe ich im Tugendhat-Teil des 3. Kapitels expliziert. Nicht nur auf den ersten Blick vermag Tugendhats Auffassung zu befremden. Allemal provoziert sie den Einwand einer Verwechslung von Moral und Klugheit und, daran anknüpfend, einen geläufigen Heteronomie-Vorwurf. Für den Einwand, wir befänden uns mit Tugendhats präventiven hypothetischen Moralvorschriften im Reich der Klugheit, haben die Ankläger in Tugendhat selber einen gewichtigen Zeugen. Hatte dieser doch, in Probleme der Ethik, den Vertreterinnen einer Moral hypothetischer Imperative eine ›Reduktion‹ moralischer Normen »auf prudentielle Regeln« vorgehalten, wodurch »die Rede von einem Verpflichtetsein und von Schuld« entfallen würde, und ebenso moralische Reaktionen wie »Vorwurf, Tadel und Verachtung«. 24 In den späteren Vorlesungen über Ethik spricht Tugendhat von seinen hypothetisch aufgefassten Moralgeboten zwar nicht ausdrücklich als von Klugheitsregeln. Er subsumiert sie aber unter »hypothetische Vernunftregeln«, 25 deren »Bezugspunkt das Wohlergehen der Person« ist. 26 Darauf aber ist, nach gewöhnlichem philosophischen Verständnis, die ›Klugheit‹ aus. Andererseits aber sieht Tugendhat nun »mit dem Umstand, daß das« durch die Befolgung moralischer Forderungen »zu vermeidende Ziel eine soziale Sanktion ist, […] so wichtige zusätzliche Aspekte verbunden, daß es sinnvoll ist, sie als eine eigene Gattung von Regeln abzuheben«. 27 Der wichtigste dieser Aspekte ist der schon erwähnte interne Charakter der sozial-moralischen Sanktion. Offenbar hat sich Tugendhat zwischenzeitlich davon überzeugt, dass ›die Rede von Schuld‹ und moralische Reaktionen wie ›Vorwurf, Tadel und Verachtung‹ in einer Moral hypothetischer Imperative nicht verloren gehen müssen: und zwar wegen des ›internen‹ Charakters moralischer Sanktionen. Auch der (nicht bloß von Kantianern her) vertraute Heteronomie-Vorwurf ist durch den Hinweis auf diesen ›internen‹ Charakter moralischer Reaktionen abzuwehren. Tugendhat selber hat diesen Einwand nicht einmal erwähnt. Das passt dazu, dass die Darbietungs24 25 26 27

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Vgl. Tugendhat, Probleme der Ethik: 143. Vgl. ders., VüE: 46 – Hervorh. HK. Vgl. ders., VüE: 43. Vgl. ders., VüE: 46 – Hervorh. HK

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weise seiner Idee, moralische Forderungen als speziell sanktionierte hypothetische Imperative aufzufassen, die typischen Züge eines Adhoc-Vorschlags hat. 28 Der Text der Vorlesungen über Ethik stellt aber die Mittel bereit, um den Heteronomie-Vorwurf zurückzuweisen. Der Einwand besagt, dass ein forderungsgehorsames Handeln zum Zwecke der Vermeidung unangenehmer sozialer Reaktionen sich von Dingen motivieren lässt, die der ›Persönlichkeit‹ und dem ›eigenen Willen‹ des derart Handelnden ›äußerlich‹, mithin ›fremd‹ sind. Für die Vertreter dieses Einwandes wären Tugendhats angeblich ›interne‹ moralische Reaktionen in Wirklichkeit externe Sanktionen. 29 Deren Externalität scheint ihnen den ›moralischen‹ Charakter dadurch motivierter Handlungen und den ›moralischen‹ Charakter von Forderungen, zum Zwecke der Vermeidung solcher Sanktionen, zu dementieren. Um dieser Vorhaltung zu entgegnen, muss man den ›internen‹ Charakter einer moralspezifischen, sozialen Reaktion so explizieren, dass eine sanktionsmotivierte Forderungsbefolgung als vereinbar mit ihrem Autonomsein erscheint. Bereits im 1. Kapitel haben wir gesehen, dass moralische Reaktionen auf Seiten der Reagierenden ein moralisches Selbstverständnis voraussetzen. Da es sich dabei um ein praktisches Selbstverständnis handelt, ist damit ein Wille gemeint, moralisch zu sein. Die moraltypischen Reaktionen auf eigenes moralisches Wohl- oder Fehlverhalten sind insofern ›Verlängerungen‹ des

Vgl. in der zweiten von Tugendhats VüE den Schlussteil, vor allem 45 f. – Hörer der Berliner Vorlesung, die den VüE zugrunde liegt, wissen zu berichten, dass Tugendhat sich nur nach vielem Hin und Her zu dieser Position durchgerungen hat. 29 Vgl. zum Begriff einer ›externen‹ Sanktion die Tugendhat-Darstellung im 3. Kapitel. Es ist eine interessante Frage, ob ›moralische‹ Reaktionen überhaupt ›externe‹ Sanktionen sein können. Vermutlich schon. Allemal kann die Empörung anderer auch von einem Amoralisten (einem Menschen ohne ›moral sense‹) als unangenehm und nachteilig, mithin als externe Sanktion erfahren werden: auch wenn sie von ihm nicht als ›moralische‹ (wenn auch ggf. als moralisch gemeinte) Reaktion aufgenommen werden wird. Schwieriger zu beantworten scheint die Frage, ob auch eigene Schuld-, Schamoder Empörungsgefühle ›externe‹ Reaktionen sein können. Das wird nicht nur von dem präzisen Sinn abhängen, den man der ›intern-extern‹-Unterscheidung mit Bezug auf intersubjektive Reaktionen gibt (im 3. Kapitel habe ich drei Interpretationsmöglichkeiten voneinander unterschieden), und insbesondere vom Verständnis von ›Internalität‹. Sondern auch davon, ob sich plausible Beispiele beschreiben lassen. Wenn ein zunächst moralisch Sozialisierter später zum Amoralisten wird, kann er dennoch bisweilen von Schuldgefühlen geplagt werden, die ihm dann als ›irrational‹ und nicht als Teil ›seiner selbst‹ vorkommen werden. Dies wären wohl Fälle ›externer‹ Schuldgefühle. 28

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eigenen Willens zum Moralischsein. In meinen eigenen Schuldgefühlen begegne ich demnach genauso meinem eigenen Willen wie in der Zufriedenheit mit meinem moralischen Wohlverhalten. Halte ich mich an ein von mir inhaltlich gebilligtes Moralgebot, aus dem Motiv heraus, dadurch spätere Schuldgefühle zu vermeiden: dann orientiere ich mich damit also nicht an etwas mir und der Moral Fremdem, sondern an etwas, das ich selber will: nämlich die Befolgung jenes Gebots. Insofern ich aber in meinen eigenen moralischen Reaktionen ›meinem eigenen Willen zur Moral‹ begegne, ist ein Handeln um dieser Sanktionen willen das Gegenteil eines ›heteronomen‹ Verhaltens. Es ist vielmehr praktizierte persönliche Autonomie. Hypothetische Forderungen, um solcher Sanktionen willen zu handeln, sind demnach nicht nur moralkompatibel. Sondern sie dürfen ›moralische Forderungen‹ heißen. Auch ein Handeln, das darauf abzielt, empörte Reaktionen anderer zu vermeiden, kann autonom und moralisch sein, und die entsprechende Forderung eine moralische. Ein moralisches Selbstverständnis, so sahen wir bereits im 1. Kapitel dieser Untersuchung, ist das Bewusstsein eines Menschen, der sich einer Gemeinschaft moralisch orientierter Menschen zugehörig fühlt. 30 Ein Moralisch-seinwollen ist ein mit anderen geteiltes, ein gemeinsames So-sein-wollen. Deshalb kommt mir, in der empörten Reaktion anderer Gemeinschaftsmitglieder, mein eigener, mit ihnen geteilter, moralischer Wille entgegen. Gegen diesen habe ich mich gegebenenfalls vergangen, indem ich andere, und damit ›unsere‹ gemeinsamen Regeln, verletzt habe. Der Wille eines moralischen Gemeinschaftsmitglieds, der sich in seiner Empörung über die Regelverletzung eines anderen Mitglieds äußert, ist der Wille des Regelverletzers selber. Somit ist auch ein (hypothetisch gefordertes) Handeln, das darauf abzweckt, solche Empörung erst gar nicht auf mich zu ziehen, nicht ›heteronom‹, sondern ein Fall vollzogener moralischer Selbstbestimmung. Damit darf m. E. als erwiesen gelten, dass es hypothetische Moralgebote geben kann und gibt. Mindestens ein Typus von hypothetischen Moralvorschriften scheint damit etabliert zu sein. Diese For-

Vgl. dazu im 1. Kapitel meiner Untersuchung den Abschnitt 1.5: Moralische Gemeinschaft und moralisches Selbstverständnis.

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mulierung markiert freilich auch die Nische, in welcher Zweifel nisten. Die Art und Weise, in der Tugendhat seine Sache entwickelt hat, nötigt ihn zu der Ansicht, dass alle Moralvorschriften von dieser Art sind. Dass aber alle moralischen Direktiven darauf abzielen würden, moralische Sanktionen einzuheimsen oder zu vermeiden, ist kaum zu glauben. Mit dieser Auffassung könnte Tugendhat ein Opfer jenes Fehlschlusses geworden sein, den ich bereits Schopenhauer angekreidet habe. Von seiner Annahme aus, dass moralische Sanktionen die Bedeutung moralischer Forderungen (mit-) konstituieren und insofern immer ein (Sanktions-) Motiv zu ihrer Befolgung bereitsteht, wäre dann Tugendhat darauf verfallen, dass es andere Arten moralischer Handlungsmotive gar nicht gibt: und folglich nur sanktionsorientierte hypothetische Moralgebote des von ihm beschriebenen Typs. Wer Tugendhat hierin nicht folgen kann, für den eröffnet sich zum einen die Möglichkeit, auch anders konzipierte ›hypothetische‹ Moralvorschriften ins Auge fassen, wie z. B. Foot und Rorty sie beschrieben haben. Zum andern aber ist kaum zu leugnen, dass (gebotenes) moralisches Verhalten nicht immer dadurch motiviert ist, dass man damit weitere Zwecke verfolgt und insofern ›hypothetischen‹ Imperativen gehorcht. Wie schon einmal im jetzigen Kapitel zur Sprache gebracht, befolgen wir manchmal eine (moralische) Vorschrift zuletzt deshalb, weil wir von der Trefflichkeit ihres Inhalts überzeugt sind. Wie im 5. Kapitel deutlicher werden soll, lässt sich durch eine solche Beschreibung der unbedingte Charakter einer moralischen Forderung zur Sprache bringen. Somit eröffnet sich bereits an dieser Stelle meiner Untersuchung die theoretische Option, dass es neben (ggf. verschiedenartigen) ›hypothetischen‹ Moralgeboten auch ›unbedingte‹ Moralvorschriften geben könnte. Jedenfalls vermögen Schopenhauer und Tugendhat, mit ihren argumentativen Mitteln, diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Wenn wir uns nun noch einmal Tugendhats Beschreibung speziell sanktionierter hypothetischer Moralgebote vergegenwärtigen und zwei Schritte davon zurücktreten, dann kann sie einem, trotz ihrer Meriten, seltsam künstlich vorkommen. Warum sollte jemand moralisch handeln, um Reaktionen auf die Verletzung eines moralischen Gebotes zu vermeiden, von dessen Inhalt er überzeugt ist? Wenn solche moralischen Reaktionen Ausdruck seines eigenen moralischen Selbstverständnisses sind, das sich unter anderem in dieser Moralvorschrift konkretisiert, warum sollte ihn dann nicht der InA

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halt jener Vorschrift direkt motivieren? Das müssen merkwürdige Leute sein, die sich erst auf dem Umweg über das Vermeidenwollen moralischer Reaktionen auf ihren Willen besinnen, eine von ihnen gutgeheißene Regel zu befolgen! Leute hingegen, die sich den motivationalen Umweg über Sanktionen ersparen; Leute also, die einer moralischen Forderung gehorchen, weil das Geforderte in Übereinstimmung mit ihrem moralischen Selbstverständnis ist: solche Leute handeln nach einer unbedingten moralischen Forderung. Dies jedenfalls wird sich im 5. und 6. Kapitel zeigen. Die Sanktionsbezogenheit aller moralischen Forderungen war der eine von Tugendhats Gründen, ihnen einen ›hypothetischen‹ Charakter zuzuschreiben. Sein zweiter Grund dafür war ihre angebliche ›Relativität‹ auf eine vorauszusetzende ›Entscheidung‹ der moralischen Kommunikationsteilnehmer, überhaupt zum moralischen Universum dazugehören zu wollen. Die Abhängigkeit von diesem ›Grundbekenntnis‹ sollte moralische Vorschriften ebenfalls zu hypothetischen Imperativen machen. Während die erste, die Sanktionsbedingtheit moralischer Gebote, eine Charakteristik ist, von der man sich nicht nur ›vorstellen‹ kann, dass sie nur einigen Moralvorschriften zukommt, müsste die zweite, ›grundsätzliche‹ Relativierung sämtliche Moralgebote betreffen. Würde diese ›Relativität‹ tatsächlich statthaben, wäre damit die Existenzmöglichkeit ›unbedingter‹ Moralgebote ausgeschlossen. Dafür scheint die folgende Zusatzüberlegung zu sprechen. Auf die Frage, wie ein ›Wille zur Moral‹ zu begründen sei, liegt eine prudentielle Antwort nahe: Moralisch zu sein befördert unser individuelles oder kollektives Wohl. Dieser Bezug aufs Wohlergehen, zur Begründung dafür, dass wir überhaupt einen ›moralischen Standpunkt‹ einnehmen sollten, scheint aber den unbedingten Charakter von Forderungen auszuschließen, die von diesem Standpunkt aus erhoben werden. Es wäre dann die prudentielle Begründungsweise ›der Moral‹ ein beachtlicher Grund für den hypothetischen Charakter aller Moralvorschriften. Die Replik auf diese Überlegung muss ich vorerst zurückstellen. Sie kann erst gegeben werden, nachdem, im 5. Kapitel, klar geworden ist, was genau mit der ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Forderung gemeint ist. Danach erst kann ich, im 6. Kapitel, zu zeigen versuchen, dass Tugendhats zweite Relativierung des moralischen Sollen nicht besteht, und dass eine prudentielle Moralbegründung 172

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Foots Kritik am kategorischen Charakter moralischer Forderungen

mit dem ›unbedingten‹ Charakter (gewisser) moralischer Forderungen vereinbar ist. 31

4.5 Foots Kritik am kategorischen Charakter moralischer Forderungen: kritisch beleuchtet Philippa Foot hatte also wohl recht damit, dass es hypothetische Moralgebote gibt. Auch wenn sie dabei andere im Sinn hatte als Tugendhat, dessen auf die Vermeidung moralischer Sanktionen gerichtete Moralgebote ich zwar gelten ließ, die mir zuletzt aber reichlich konstruiert vorkommen wollten. Foots hypothetische Moralvorschriften verlangen, wie im 3. Kapitel dargestellt, die Ausführung von Handlungen, insofern diese als geeignete Mittel zum Erreichen moralischer Zwecke erscheinen. Tugendhats hypothetische Moralgebote fallen mit unter diese Beschreibung: falls sich die Vermeidung angemessen erscheinender moralischer Reaktionen plausiblerweise als ein moralischer Zweck auffassen lässt. Es dürfte sich bei ihnen jedoch um eine relativ mitgliederschwache Klasse in der Gesamtklasse zweckorientierter Moralvorschriften handeln. Mitgliederstärkere Teilklassen sind sicherlich diejenigen, die Foot und Rorty im Auge hatten. Bei Letzterem wurden moralische Imperative als Forderungen nach einem Handeln beschrieben, das den Zielen der Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft dient. 32 Bei Foots hypothetischen Moralgeboten handelt es sich hingegen um Vorschriften zur Verwirklichung bestimmter moralischer Zwecke, die sich für sie aus moralischen Tugenden ergeben. Auf ihre Konzeption werde ich im Folgenden genau und kritisch eingehen. Bei der Darstellung von Foot, im 3. Kapitel dieser Schrift, habe ich ihren konstruktiven Vorschlag einer ›Moral hypothetischer Imperative‹ von ihrer Kant-Kritik säuberlich getrennt. Letztere besagte, dass sich ein ›kategorischer‹, angeblich moralspezifischer Forderungs-Charakter als inexplikabel erweist. Jedenfalls die von ihr durchgenommenen Erklärungsversuche von ›Kategorizität‹ schienen allesamt unergiebig. Aussichtsreich scheinende Erklärungsansätze, Vgl. dazu im 6. Kapitel den Abschnitt 6.5.: Moralische Unbedingtheit, moralisches Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung. 32 Vgl. dazu meine Rorty-Darstellung im 3. Kapitel. 31

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wie die nicht-hypothetische Verwendungsweise moralischer Forderungen, oder deren angebliche Unausweichlichkeit, ließ Foot mit dem Argument abblitzen, dass dadurch moralische Gebote von Anstandsgeboten nicht zu unterscheiden seien. Nun sind aber Anstandsgebote und moralische Forderungen sicherlich etwas sehr Verschiedenes. Ein naheliegender Einwand gegen Foot besagt deshalb, sie habe sich nur für die Analogien und nicht für die Disanalogien interessiert, die zwischen ihnen bestehen. Man müsse den Unterschied zwischen den Geboten der Sitte und Geboten der Sittlichkeit herausarbeiten, um daraus das Eigentümliche moralischer Forderungen zu ersehen. Mit diesem Einwand verfehlte man jedoch Foots sachlichen Punkt, und man täte ihr damit Unrecht. Letzteres insofern, als sie Unterschieden zwischen Sitten und Moralvorschriften durchaus Rechnung trägt. So verlangen, Foot zufolge, Anstand (und Recht) Gefolgschaft, ohne dass die Gehorsamsmotive dafür eine Rolle spielten. Wohingegen es für die Befolgung einer Regel als einer moralischen auf die Handlungsmotive ankomme (164 33 ). Moralische Ziele erlaubten eine Hingabe, die bei Benimmregeln als kurios erscheint (166). Was als ›anständig‹ gilt, ist stark konventionell. Nicht so das Moralische. 34 Die weitgehende Konventionalität anständigen Benehmens hat wohl zur Folge, dass bei dem, was aus Anstandsgründen verlangt ist, eine existierende Regel die letzte Begründungsinstanz darstellt: »Auch wenn es einer Verbindung mit den Wünschen und Interessen des Handelnden ermangelt, steht dieses ›Sollen‹ nicht ›ungestützt und deshalb stützungsbedürftig‹ da; es bedarf aber nur des Rückhaltes durch eine Regel.« (160) Nach einem weiteren Grund (für die Regel) zu fragen, ist bei Benimmregeln für gewöhnlich deplaziert. Anders bei moralischen Vorschriften. 35 Die in den folgenden Text eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf Foots Aufsatz »Morality as a System of Hypothetical Imperatives«. 34 Vgl. dies., »A Reply to Prof. Frankena«: 176. 35 Entsprechend hat Tugendhat sich den Unterschied zwischen Sitten und moralischen Normen folgendermaßen zurechtgelegt. Wenn sich jemand ›unanständig‹ verhalte, sei »die Ablehnung [s]eines Verhaltens durch die Gruppe ein letztes. Daß man sich bei uns nicht so verhält (d. h. verhalten darf […]), gründet nur darin, daß dieses Verhalten von uns abgelehnt wird. Diese Ablehnung ist bereits die Begründung und erhebt nicht den Anspruch, noch ihrerseits begründet zu sein. Die Ablehnung bei der Verletzung einer moralischen Norm hingegen wird offenbar noch ihrerseits damit begründet, daß man ein solches Handeln für schlecht hält.« Im Unterschied dazu werde bei der ablehnenden Reaktion auf die Verletzung von Sitten der Begründungs-»Anspruch auf die Ablehnung 33

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Foots Kritik am kategorischen Charakter moralischer Forderungen

Der Sache nach verfehlt der beschriebene Einwand gegen Foot den Grund, aus dem sie sich auf das Gemeinsame von Abstandsregeln und Moralgeboten konzentriert hat: Für ihr Argument kommt es auf die beschriebenen Unterschiede zwischen Sitten und moralischen Regeln nicht an. Denn ihr geht es um die Frage, ob sich der angeblich kategorische Charakter einer Forderung so explizieren lässt, dass er für moralische Forderungen spezifisch ist. Dies aber kann, Foot zufolge, nicht gelingen. Seien sich doch hinsichtlich jener Forderungseigenschaften, auf die sich die Explikation eines ›kategorischen‹ Forderungscharakters am ehesten stützen ließe, Vorschriften des guten und eines moralisch guten Benehmens gleich. Sie werden, Foot zufolge, beide nicht-hypothetisch verwendet; sie gelten beide unabhängig von den Wünschen und Interessen ihrer Adressaten; sie sind beide in dem Sinne unausweichlich, dass man ihnen durch das Haben oder Nichthaben bestimmter Wünsche oder Interessen nicht entkommt. Für Foot sieht es demnach so aus, dass man durch diejenigen Eigenschaften, in denen sich moralische von Anstandsregeln unterscheiden, ›Kategorizität‹ nicht explizieren kann; und dass solche Forderungseigenschaften, mit Bezug auf die eine solche Erklärung am aussichtsreichsten erscheint, von Moralvorschriften und Anstandsgeboten geteilt werden. Wenn sich aber Sitten und Moralgebote in denjenigen Hinsichten gleich sind, auf die es für die Explikation des kategorischen Charakters einer Forderung ankommt: dann kann man durch eine Erklärung des ›kategorischen‹ den moralischen Charakter einer Forderung nicht an den Tag bringen. 36 Insoweit haben moralische Forderungen »keinen höheren Anspruch darauf, kategorische Imperative zu sein, als Feststellungen darüber, was sich gehört« (164). Ein anderer Einwand gegen Foot scheint gerechter und triftiger zu sein. Foots eigene Auffassung, wonach man die Moral als ein System hypothetischer Imperative auffassen sollte, impliziert die These, dass alle Moralvorschriften einen hypothetischen Charakter besitzen. der bestimmten Gruppe relativiert (›wir lehnen das ab‹)«. Vgl. Tugendhat, VüE: 47 f. Bei moralischen Forderungen scheint hingegen dieser ›Anspruch‹ die eigene Gruppe zu überschreiten. Vgl. dazu im 2. Kapitel der vorliegenden Untersuchung den Abschnitt 2.2.5: Universalismus. 36 Vgl. Foot, »A Reply to Prof. Frankena«: 176. A

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Diese Konsequenz lag für sie nahe, nachdem ihre Bemühungen um ein Verständnis der angeblich ›kategorischen‹ Natur moralischer Forderungen fehlgeschlagen waren. »Warum nur sollte man darauf insistieren, dass es einen solchen [besonderen, ›kategorischen‹, eigentümlich moralischen] Sinn [von ›sollen‹ oder ›müssen‹] gibt, wenn es sich als so schwer erweist, zu sagen, worin er besteht?« (163 – Einf. HK.) Streng genommen folgt aber aus dem Scheitern der von Foot durchgegangenen Explikationsversuche nicht, dass es keine zufriedenstellende Erläuterung eines ›kategorischen‹ Sollens geben kann. Ebensowenig folgt dann daraus, dass alle moralischen Forderungen hypothetisch sind – die Existenzmöglichkeit ›hypothetischer‹ Moralgebote einmal vorausgesetzt. Dass keine moralische Forderung ›kategorisch‹ ist, lässt sich mit Foots Mitteln so wenig beweisen, wie sich aus dem ›hypothetischen‹ Charakter einiger Moralvorschriften (falls man diesen plausibel machen kann) auf den hypothetischer Charakter aller schließen lässt. Vielmehr muss sie die Möglichkeit offenlassen, dass jemand mit einer neuen Idee daherkommt oder jemandem die Wiederbelebung einer alten gelingt; dass mithin weitere Anstrengungen und andere Ansätze zum Verständnis eines kategorisch-moralischen Sollens erfolgreich sein könnten. Sie muss diese Möglichkeiten deshalb offenlassen, weil sie über kein Argument verfügt, um sie ein für alle Mal auszuschließen. Diese Suggestion lässt sich konkretisieren. Erstaunlicherweise unternimmt Foot keinen Versuch, den in Frage stehenden ›kategorischen‹ Charakter moralischer Forderungen durch deren sogenannte Unbedingtheit zu analysieren. Sie erwähnt zwar, dass »moderne Philosophen Kant darin folgen, dass sie von dem ›unbedingten Erfordernis‹ sprechen, welches in moralischen Urteilen zum Ausdruck komme« (160). Um dann aber diese ›Unbedingtheit‹ rasch im Sinne der Unausweichlichkeit einer Forderung zu interpretieren, von der sie sich zu zeigen anschickt, dass diese nicht moralischspezifisch sei. Damit ist sie die ›Unbedingtheit‹ für den Rest ihres Aufsatzes los. Dabei hätte es von Kant her (auf den Foot sich ansonsten reichlich bezieht) nahe gelegen, sich am angeblich ›unbedingten‹ Charakter moralischer Forderungen zu orientieren. Hatte dieser doch den Unterschied zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen in erster Linie durch die Unterscheidung von unbedingten und bedingten Geboten erläutert. Mit der kritischen Behandlung der Unausweichlichkeit moralischer Forderungen ist deren angebliche Un176

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bedingtheit keineswegs mit abgetan. Gewiss steht beides für Kant in einem direkten Zusammenhang. 37 Aber dieser ist alles andere als zwingend, wie sich in meinem 5. Kapitel zeigen soll. 38

4.6 Für einen guten Zweck Zuletzt habe ich die Einwände kritisch beleuchtet, die Foot gegen einen kategorischen Charakter moralischer Forderungen vorgebracht hat. Wie gezeigt, musste sie dabei eine Lücke frei lassen, in die man mit einer plausiblen Analyse nicht-hypothetischer Moralgebote hineinstoßen kann. Aus dem Scheitern ihrer Kant-Kritik folgt aber nicht, dass auch ihr Versuch gescheitert wäre, die Existenz hypothetischer Moralvorschriften plausibel zu machen. Den Eindruck, dass ihr dies gelungen ist, möchte ich im Folgenden durch einige Zusatzüberlegungen untermauern. Wie kann man zu der Auffassung gelangen, dass moralische Gebote Handlungen fordern, die gut sind als Mittel zum Erreichen moralischer Zwecke? Wie man darauf kommen kann, lässt sich anhand einer Betrachtung veranschaulichen, die von der Standardformulierung eines hypothetischen Imperativs (›wenn du Z erreichen willst, tu a!‹) ausgeht. Diese Satzform hin und her wendend, kann man auf zweierlei Weise versuchen, die angeblich besondere ›Stärke‹ eines moralischen Gebots zum Ausdruck zu bringen. Man streicht entweder den ›hypothetischen Satzteil‹ durch – und ist dann mit Kant in der Verlegenheit, den Sinn und die Kraft eines Imperativs erklären zu müssen, der keinen offenkundigen, potenziell Kraft spendenden Bezugspunkt besitzt. Oder man bleibt im Rahmen der Standardform eines hypothetischen Imperativs und versucht, starke Zwecke auszuzeichnen: Zwecksetzungen, die vielleicht selber so ›unausweichlich‹ sind, wie dies von moralisch geforderten Handlungen behauptet worden ist. Manche derart qualifizierte Zwecke könnten moralische sein. Es ist dieser zweite Weg, den Foot eingeschlagen hat. Ein moralischer Zweck ist zum Beispiel der uneigennützig geVgl. im 2. Kapitel meiner Untersuchung die Abschnitte 2.2.6: Unausweichlichkeit, sowie 2.3.: Die Kantianische Konzeptualisierung: Zusammenhänge und Schlussfolgerungen. 38 Vgl. im 5. Kapitel den Abschnitt 5.9.: Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen. 37

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hegte Wunsch, das Leiden anderer zu lindern oder ihnen sonstwie zu helfen. Foot hat als Beispiele neuerdings »das Wohl anderer oder die Verteidigung ihrer Rechte« 39 genannt. Zweckgerichtete Moralgebote mögen dazu auffordern, etwas fürs Gemeinwohl zu tun (Rorty). Oder sie mögen in dem Aufruf bestehen, für einen ›wohltätigen Zweck‹ zu spenden. Besonders die Erinnerung an Spendenaufrufe – ›es ist für einen guten Zweck‹ – macht deutlich, dass es sich bei hypothetischen Moralgeboten nicht um ein philosophisches Konstrukt, sondern um den Bestandteil einer vertrauten moralischen Praxis handelt. In welchem Sinne handelt es sich bei ›moralischen Zwecken‹ um moralische, und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Handlungsaufforderung um eines Zweckes willen plausiblerweise als ›moralische Forderung‹ betrachtet werden kann? Erstens muss der Bezugszweck eines hypothetischen Moralgebotes vom Fordernden für ›moralisch‹ erachtet werden. Der Ausdruck ›moralisch‹ ist dabei im Sinne des ›moralisch Akzeptablen‹ und in diesem Sinne ›Guten‹ zu verstehen. Zweitens und zusätzlich muss die vermeinte moralische Güte des Bezugszwecks einer Forderung der Hauptgrund sein, aus dem eine für zweckdienlich erachtete Handlung gefordert oder ausgeführt wird. Ohne das Vorliegen dieses ›moralischen Grundes‹ kann eine hypothetische Forderung nicht als ›moralische‹ durchgehen. Drittens, und nicht zuletzt, muss die angenommene moralische Qualität des Bezugszwecks der letzte Grund dafür sein, dass die geforderte und für zweckmäßig erachtete Handlung befürwortet oder ausgeführt wird. Der moralische Zweck muss Endzweck einer bedingten Forderung sein, soll diese als ›moralische‹ Forderung gelten können. Foot hat das so ausgedrückt, dass eine moralisch geforderte Wohltat nicht Dank noch Ruhm, sondern »ganz einfach das Wohl« ihrer Empfänger im Auge hat (165). Moralisches Lob verdient jemand, der einer zweckbezogenen Forderung gehorcht, also nur dann, wenn er ohne eigennützigen ›Hintergedanken‹ handelt. Nur dann hat er die Forderung als Moralgebot aufgefasst. Während solche ›hinterhältigen‹ Befolgungsgründe für ein wohltätiges Handeln diesem einen moralischen ›Wert‹ vorenthalten und den moralischen Charakter der befolgten Forderung dementieren, stören nicht-moralische Nebengründe nicht unbedingt. 39

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Vgl. Foot, »Gutes Handeln«: 22.

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Wenn jemand neben seinem moralischen Hauptgrund auch noch andere, nicht-moralische Gründe für die Befolgung eines hypothetischen Moralgebots hat, dann kann man dies so verstehen, dass die betreffende Forderung für ihn eben nicht nur ein moralisches, sondern auch noch z. B. ein Klugheitsgebot ist. Was aber aufgrund der Staffelungsmöglichkeit von Gründen sein kann und für den ›moralischen‹ Charakter einer Forderung nicht sein darf, ist die weitere, nicht-moralische Unterfütterung eines am Moralzweck orientierten Befolgungsgrundes. Damit ist die ›Struktur‹ hypothetischer Moralgebote hoffentlich deutlicher geworden, und ebenso, in welchem Sinne sie als ›moralische‹ Forderungen gelten dürfen. Das Beste, was man zusätzlich für die Akzeptabilität ›Footscher Forderungen‹ tun kann, ist die Widerlegung naheliegender Einwände. Was spricht denn dagegen, dass es die beschriebenen hypothetisch-moralischen Imperative gibt? Es könnte jemand monieren, dass die von mir ein wenig ausgemalte Foot’sche Konstruktionszeichnung hypothetischer Moralvorschriften die Kenntnis bestimmter ›moralischer‹ Zwecke einfach voraussetze, zu deren Verwirklichung die Ausführung gewisser Handlungen verlangt wird. Diese Zwecke müssten aber ›moralisch akzeptabel‹ und in diesem Sinne als ›gut‹ ausgewiesen werden, damit von einem hypothetischen Moralgebot gesprochen werden dürfe. ›Auszuweisen‹ seien moralisch gute Zwecke aber nur durch eine Begründungsleistung, von welcher in Frage stehe, ob sie allein mit funktionalen Gründen zu erbringen sei, wie sie einem hypothetischen Imperativ allein angemessen sind. Auf Foot gemünzt, ist dieser Einwand fehl am Platz. Denn bei ihr sind moralische Zwecke insofern epistemisch unterfüttert, als sie sich, ihres Erachtens, aus moralischen Tugenden herleiten lassen. So wäre etwa der Plan eines Schuldenerlasses der westlichen Industrienationen gegenüber den armen Ländern der ›Dritten Welt‹, würde er der Tugend der Großzügigkeit entspringen, einem moralischen Zweck dienlich und durch seine ›Tugendhaftigkeit‹ gerechtfertigt. Die Tugenden ihrerseits kann Foot von sogenannten ›aristotelischen Notwendigkeiten‹ her zu begründen versuchen: ein Theoriestück von Elisabeth Anscombe, auf das ich im folgenden Kapitelabschnitt zurückkomme. Was aber, wenn eine solche tugendethische Fundierung moralischer Zwecksetzungen nicht zu überzeugen vermag? Die moraA

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lische Begründung von Zwecken ist prinzipiell kein größeres Problem als die moralische Begründung von Handlungsabsichten, auf welche es Foot zufolge für die moralische Handlungsbeurteilung ankommt: eine anti-konsequenzialistische Auffassung, für die sie sich auf Kant und Thomas von Aquin stützt. 40 Ist doch ein Zweck nichts anderes als der intentionale Gegenstand, auf den eine Handlung(sabsicht) gerichtet sein kann. Dass bei hypothetischen Moralgeboten eine Staffelung von Absichten nach dem Zweck-Mittel-Schema vorliegt und der moralische Zweck, wenn man so will, nur etwas ›indirekt‹ Erstrebtes ist, das durch die Umsetzung einer unmittelbaren Handlungsabsicht realisiert werden soll, bedeutet für die moralische Zweckbeurteilung keine zusätzliche Komplikation. Wie aber würde jene Zweckbegründung aussehen, wenn die tugendethische Begründungsmöglichkeit ausfiele? Da die Begründung durch weitere Zwecke entweder irgendwo ein willkürliches Ende finden oder in einen infiniten Regress führen müsste, kann es so aussehen, als kämen zur Legitimierung moralischer Zwecke nur solche Gründe in Frage, wie Kant sie m. E. für die Begründung von unbedingten Moralvorschriften im Sinn hatte. Diese sind, wie ich im 2. Kapitel andeutet habe und im 5. Kapitel ausführen werde, moralische Prinzipiengründe. Müsste eine solche Begründungsweise moralischer Zwecke nicht den ›hypothetischen‹ Charakter moralischer Gebote dementieren, welche Handlungen aufgrund ihrer Zweckdienlichkeit vorschreiben? Darauf ist zu antworten, dass der hypothetische Charakter einer moralischen Forderung gänzlich unabhängig davon festzustellen ist, wie man sich die Begründungsweise moralischer Zwecke vorzustellen hat. Selbst wenn eine tugendethische Fundierung scheiterte und nur die kantianische Begründungsvorstellung bliebe; ja selbst für den Fall, dass wir keine plausible Vorstellung von der moralischen Begründung von Zwecken hätten: tangierte dies den hypothetischen und moralischen Charakter der von mir beschriebenen, zweckorientierten Moralgebote nicht. Denn für das Verständnis einer hypothetischen Forderung als einer moralischen-versus–nichtmoralischen kommt es gar nicht darauf an, ob deren Bezugszweck moralisch akzeptabel, mithin als ›gut‹ begründet ist. Dafür reicht es völlig, wenn etwa der Forderungsautor oder der Forderungsadressat diesen Zweck plausiblerweise für moralisch akzeptabel halten können. 40

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Vgl. Foot, »Gutes Handeln«: 25.

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Es unterscheidet, mit anderen Worten, hypothetische Moralgebote von nicht-moralischen hypothetischen Imperativen hinreichend, dass letztere sich auf moralisch unqualifizierte Zwecksetzungen beziehen. Es ist für diese Unterscheidung nicht nötig, dass die am Forderungsgeschehen Beteiligten wissen, dass das mit der geforderten Handlung Bezweckte einem ›objektiven‹ moralischen Qualitätstest standhält. Es kommt für die Bestimmung des Forderungscharakters hypothetischer Moralgebote (wie jeder anderen Art von Forderung) nicht auf die ›objektiven‹ Gründe an, die es für das jeweils Geforderte geben mag. Sondern es kommt allein auf die (letzten) Gründe an, welche die am Forderungsgeschehen Beteiligten für das Geforderte tatsächlich haben bzw. vorbringen. Wenn jemand seine Forderung (ohne Hintergedanken) mit der Behauptung unterfüttert, dass das geforderte Handeln einem guten Zweck dient, dann ist diese Forderung für ihn eine (hypothetisch-) moralische, und sie kann von anderen als eine solche aufgenommen werden: im Gegensatz etwa zu nicht-moralischen hypothetischen Direktiven, die durch ein bestehendes Eigeninteresse begründet werden. Die Frage nach einem ›objektiven‹ Forderungscharakter, den eine Forderung unabhängig von den Gründen der am Forderungsgeschehen Beteiligten hätte, ist sinnlos. 41 Und die Frage des ›subjektiven‹ bzw. ›intersubjektiven‹ Charakters einer (hypothetisch-moralischen) Forderung ist unabhängig von der Frage, wie man die (moralische) Güte des damit Bezweckten feststellt. Ein häufig gehörter Einwand gegen die Möglichkeit hypothetischer Moralgebote mobilisiert den ethischen Gemeinplatz, ›dass der Zweck nicht die Mittel heiligt‹. 42 Natürlich (so könnte der Einwand beginDiese ›subjektivistische‹ Forderungsauffassung bedarf sicherlich der weiteren Plausibilisierung. Diese hätte im Rahmen der systematischen Theorie von (moralischen) Forderungen zu erfolgen, die ich in der Einleitung zu meiner Abhandlung in Aussicht gestellt habe. Verschieden qualifizierbare Forderungen sind demnach nicht quasi-natürliche Arten von Forderungen, die womöglich in einem eigen-artigen ›Sollen‹ (moralische Forderungen in einem ›moralischen Sollen‹) zum Ausdruck kommen. Sondern es gibt zunächst einmal nur Forderungen – Punkt. Und je nachdem, mit welcher Art von Erwägungen sie jeweils gestützt werden (mit moralischen, prudentiellen usw.), kann man sie, insoweit, als moralische oder prudentielle usw. qualifizieren. ›Genuine‹ Unterschiede gibt es allein zwischen jenen ›Erwägungen‹ (Gründen), von dort her können diese Unterschiede auf anderes (z. B. Forderungen) übertragen werden. – In diesem Sinne verstehe ich die Position, die Williams im 1. Kapitel von ›Ethics‹ angedeutet hat. 42 Der Büchmann verzeichnet nur den Satz »Der Zweck heiligt die Mittel«, »der oft als 41

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nen) sind auch moralisch geforderte Handlungen mögliche Mittel zu möglichen Zwecken. Und natürlich können auch moralisch erforderlich scheinende Handlungen deshalb gefordert werden, weil sie solche Mittel sind. Darüber hinaus können moralisch geforderte Handlungen auch Mittel zu guten Zwecken sein – und deshalb gefordert werden, weil sie Mittel zu guten (oder für gut gehaltenen) Zwecken sind. Letztere Forderungen aber (so lautet der kritische Punkt) seien deshalb keine moralischen. Denn eine angenommene Zweck-MittelBeziehung zwischen einem guten Zweck und einer (geforderten) Handlung, als Mittel zum Zweck, könne keinen moralischen Grund für diese Handlung abgeben. Die Annahme (so schließt der Einwand), es handele sich dabei um einen moralischen Grund, hieße anzunehmen, dass der Zweck die Mittel heilige. Den Gedanken, dass der (gute) Zweck die Mittel zu seiner Realisierung nicht heiligt, sprich: ›moralisch gut‹ macht, stelle ich nicht in Frage. Zu kritisieren ist aber der Gebrauch, den jemand von ihm macht, wenn er ihn gegen die Möglichkeit hypothetischer Moralvorschriften ausspielt. Denn diese Anwendung des Gedankens beruht auf einer Verwechslung zweier Verwendungsweisen des Ausdrucks ›moralisch‹. Mit dem ›Moralischen‹ kann einmal das moralisch Akzeptable (und in diesem Sinne Gute) gemeint sein oder der Bereich des Moralischen (im Unterschied zum Nicht-Moralischen), innerhalb dessen das moralisch ›Gute‹ einen der Pole bildet. 43 In der Tat ist das Mittel zu einem für moralisch ›gut‹ erachteten Zweck nicht immer gut. Genauso wenig ist ein solches Mittel immer dann und deshalb moralisch gut, wenn oder weil es wegen der (vermeinten) Bonität des Zwecks ergriffen wird. In der Tat wird moralische Güte nicht durch die Zweck-Mittel-Relation vom Zweck auf ein Mittel zum Zweck übertragen; sie muss vielmehr unabhängig davon und auf anderem Wege begründet werden. Dieses ist der gute Sinn davon, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt, mithin moralisch gut macht. Aber, so die Pointe meiner Replik, von moralischer Güte ist gar nicht die Rede, wenn wir eine Forderung als eine ›moralische‹ charakterisieren und sie von andersartigen Forderungen unterscheiden wollen. Im Sinne der Unterscheidung des ›Moralischen‹ vom ›Nicht-Moralischen‹ sind die von Foot beschriebenen hypothetischen Imperative Ausdruck der Jesuitenmoral dargestellt« werde, und führt ihn auf eine Stelle in Hobbes’ De cive zurück. Vgl. Büchmann, Geflügelte Worte. 43 Vgl. in der Einleitung meiner Untersuchung den Abschnitt: Begriffserläuterungen.

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Für einen guten Zweck

moralische Forderungen. – Was sollten sie sonst sein? Sie sind keine Forderungen der Klugheit, wegen ihres Bezugs auf moralische Zwecke. Sie sind keine Forderungen des Rechts, der guten Sitten oder der Schönheit, usf. Ein weiteres Bedenken gegen die gegebene Beschreibung hypothetischer Moralgebote betrifft die moralisch indifferente Charakterisierung der in ihrer Mittelfunktion geforderten Handlungen. Eben hat sich gezeigt, dass die hypothetische Forderungsstruktur moralverträglich, aber auch moralisch indifferent ist: indifferent gegenüber dem moralisch ›Akzeptablen‹ resp. ›Guten‹. Davor haben ich bereits die Vorstellung zurückgewiesen, dass der Zweck, auf den hin die hypothetisch gebotenen Handlungen ergriffen werden sollen, moralisch gut oder in seiner Güte ›objektiv begründet‹ sein müsse. Muss denn aber nicht wenigstens die hypothetisch geforderte Handlung moralisch ›gut‹ oder in ihrem Gutsein ›objektiv‹ begründet sein: damit von einer moralischen Forderung die Rede sein kann? Wird man denn die Forderung einer unmoralischen Handlung, und sei es als Mittel zum guten Zweck, ein ›moralisches‹ Gebot nennen wollen? Aber wie will man sie denn nennen? Die Forderung einer unmoralischen Handlung (und sei es als Mittel zu einem als gut betrachteten Zweck) kann man als eine ›unmoralische Forderung‹ bezeichnen. Aber sie ist keine nicht-moralische. Vielmehr verkörpert sie den negativen Pol innerhalb des Bereichs moralischer-versus–nichtmoralischer Forderungen. Ich bin aber in meiner Untersuchung darauf aus, diesen Moralbereich auszugrenzen, in seiner Unterschiedenheit zu anderen Forderungsbereichen. Im Sinne dieses Untersuchungsgegenstandes tangiert die bewusste Schlechtigkeit einer geforderten Handlung den ›moralischen‹ Charakter einer diesbezüglichen Forderung nicht. Auch die Forderung ›böser‹ Handlungen, gefordert zur Realisierung ›gut‹ scheinender Zwecke, ist insoweit eine ›moralische‹ Forderung, als ihr Bezugszweck plausiblerweise als ›moralischer‹ Zweck gelten kann – im Unterschied zu nicht-moralischen Zwecken. Und dies ist der entscheidende Punkt. In summa: Damit eine Forderung plausiblerweise als hypothetisches Moralgebot beschrieben werden kann, muss (i) weder die hypothetisch geforderte Handlung noch (ii) der als moralisch (vs. nichtmoralisch) betrachtete Zweck moralisch ›gut‹, sprich ›akzeptabel‹ sein. Letzterer muss nur von den relevanten Personen für gut gehalten werden. (iii) Wenn jemand eine hypothetische Forderung zuletzt deshalb befolgt, weil er ihre Ausführung für ein geeignetes Mittel A

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hält, um einen für gut erachteten Zweck zu realisieren: dann hat er die Forderung als eine moralische (vs. nicht-moralische) aufgefasst. Und darauf kommt es allein an.

4.7 Vernunftethisches ›Roll-back‹ Für einen weiteren Einwand gegen die Annahme hypothetischer Moralvorschriften kann man die spätere Foot in den Zeugenstand rufen. Zurückblickend meint sie über ihren alten Aufsatz, dass dessen »konstruktive Seite«, mithin ihre ›Moral als ein System hypothetischer Imperative‹, »furchtbar in die Irre ging«. 44 Eine solche Selbstkritik muss man ernst nehmen, auch wenn damit natürlich kein abschließendes Urteil gesprochen ist. Konstitutiv für ihre frühere Auffassung moralischer Forderungen sei eine neo-hume’sche Konzeption von Handlungsgründen gewesen, lautet Foot nachträgliche Diagnose. Dieser Konzeption zufolge müssen solche »Gründe in den Wünschen des Handelnden verankert sein«. 45 Damit war bei Foot eine ›Wunscherfüllungstheorie‹ verbunden gewesen, der zufolge Handlungen nur dann und nur deshalb ausgeführt werden, wenn oder weil der Akteur sie zur Realisierung eigener Wünsche geeignet findet (232, 245 f.). Wenn aber als Gründe für Handlungen nur Wünsche in Frage kommen, und Handlungen allein um deren Erfüllung willen ausgeführt werden: dann kann man vernünftigerweise auch nur solche Handlungen fordern, die vorausgesetzte Wünsche zu erfüllen versprechen. So war es nur konsequent, dass Foot alle sinnvollen Forderungen, und also auch alle sinnvollen Moralvorschriften, als hypothetische Imperative auffasste. Denn dergleichen Imperative verlangen allemal das Ergreifen von Mitteln zur Erfüllung eines (ggf. moralischen) ›Wunsches‹. Bei moralischen Forderungen war das für die jüngere Foot zunächst einmal der basale und gleichwohl optionale Vgl. Foot, »Gutes Handeln«: 22. So beschreibt Foot ihre alte Position retrospektiv in ihrer Hart-Lecture von 1995: »Beruht der moralische Subjektivismus auf einem Irrtum?«: 231 – Hervorh. HK. Die in den folgenden Haupttext eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf Foots HartLecture. – Die jüngere Foot schrieb in ihrer: »Reply to Francena«: »I believe that a reason for acting must relate the action directly or indirectly to something the agent wants or which it is in his interest to have«. Vgl. a. a. O.: 179. – Vgl. zu Foots neuer Position auch ihr Buch Natural Goodness.

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Wunsch gewesen, überhaupt zum moralischen Universum dazugehören zu wollen. Da sich moralisches Menschsein, für die jüngere wie die spätere Foot, in moralischen Tugenden konkretisiert(e), sah (und sieht sie) sie ›moralische Wünsche‹ auf moralische Zwecke gerichtet, die sich aus solchen Tugenden ergeben sollten. Moralische Forderungen fasste sie folglich als hypothetische Imperative zur Realisierung solcher ›Tugendzwecke‹ auf. So also sah Foot die Dinge zu Zeiten ihres klassischen Aufsatzes von 1972. 46 Inzwischen bedauert sie, dass sie sich seinerzeit, unter dem Einfluss Humes, nur wunschbezogene funktionale Handlungsgründe vorstellen konnte. 47 Deshalb hätten ihre Bemühungen scheitern müssen, einem ›kategorischen‹ Forderungs-Charakter einen Sinn abzugewinnen. Richtig: Man wird Kant nur verstehen können, wenn man auch andere als zweckrationale Handlungsgründe in Betracht zieht. Die andersartigen Handlungsgründe, denen Foot in ihrer HartLecture Geltung verschafft, sind »bestimmte Überlegungen« (234). Welche Überlegungen, welche Gründe? Auch diese Handlungsgründe führt Foot über die Betrachtung von Tugenden ein. Hier sind es »die Tugenden der Wohltätigkeit, des Muts und der Mäßigung« sowie der Gerechtigkeit. Foot möchte plausibel machen, »daß sich Gerechte dadurch auszeichnen, daß bestimmte Überlegungen für sie Gründe zum Handeln sind (und zwar Gründe mit einem bestimmtem Gewicht)«. Jemand besitze die Tugenden der Gerechtigkeit oder der Wohltätigkeit »deshalb, weil er bestimmte Überlegungen (hinsichtlich eines gegebenen Versprechens oder der Hilfsbedürftigkeit eines Nachbarn) als gewichtige und in vielen Situationen als zwingende Gründe zum Handeln anerkennt.« (A. a. O.) Der Klammerausdruck in dem zuletzt zitierten Satz konkretisiert die moralischen Überlegungen, welche die Gründe dafür liefern, dass jemand tugendhaft, hier also gerecht oder wohltätig, handelt. Diese Überlegungen fußen darauf, dass der zum Handeln AufgerufeSo sah Foot die Dinge auch noch in ihrem Postscriptum zu ihrer »Moral als ein System hypothetischer Imperative« aus dem Jahre 1977. Vgl. dort die Fußnote 15: 169 ff. 47 Anders als z. B. John McDowell spreche ich lieber von ›funktionalen‹ oder ›instrumentellen‹ oder ›zweckrationalen‹ Handlungsgründen als von ›hypothetischen«. Den Ausdruck ›hypothetisch‹ reserviere ich, entsprechend dem kantischen Sprachgebrauch, für Forderungen bzw. Imperative. McDowell spricht zum Beispiel über »the line […] to be drawn between hypothetical and non-hypothetical reasons for action«. Vgl. ders., »Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives?«: 24. 46

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ne einem andern ein Versprechen gegeben hat, bzw. in seiner Überzeugung, dass ein Nachbar Hilfe braucht. Die Gründe, die dabei zum Tragen kommen, bestehen in einem Überzeugtsein von moralisch bedeutsamen Sachverhalten. Sie sind keine Wünsche. Vielmehr beruht der Wunsch eines Gerechten, der »bestrebt [ist], seine Versprechen einzuhalten«, darauf, dass er »gewisse Grenzen dessen an[erkennt], was er tun darf« (a. a. O. – Einf. HK). Die Überzeugung ist hier das erste, nicht der Wunsch. 48 Die von ihr nun verworfene Hume’sche Theorie von Handlungsgründen zwinge einen zu der Annahme, dass »die Reihe von Warum-Fragen« (246) zur Erklärung von jemandes Verhalten nur durch die Bezugnahme auf etwas an ein Ende kommen kann, »das der Betreffende ›einfach will‹« (245). Dagegen wirft Foot nun die Frage auf, »warum nicht das Erkennen eines Handlungsgrunds die Reihe von Gründen beenden sollte. Das Erkennen eines Grunds gibt einem vernünftigen Menschen ein Ziel, und es beruht […] auf Tatsachen und Begriffen und nicht auf vorangehenden […] Zielen.« (246) Dieses Erkennen hat McDowell, von dem sich Foot bei ihrer Wandlung hat beeindrucken lassen, als ein spezifisch moralisches, situatives Wahrnehmungsvermögen aufgefasst. 49 Wie, gemäß dieser Auffassung moralischer Handlungsgründe, moralische Forderungen zu beschreiben sind, teilt Foot in ihrer HartLecture nicht ausdrücklich mit. Man kann aber ihrer Analyse tugendhaften Handelns, als eines Handelns aufgrund der Erkenntnis Insoweit befindet sich Foot inzwischen in Übereinstimmung mit McDowell, einem Kritiker ihrer »Moral als ein System hypothetischer Imperative«. McDowell fragt ganz generell hinsichtlich von Handlungserklärungen: »Why should it not be the case […] that the agent’s conception of the situation, properly understood, suffices to show us the favourable light in which his action appeared to him?« Dieses vorteilhafte Licht konnte, der kritisierten humeanischen Ansicht zufolge, nur von einem attraktiven Handlungswunsch gespendet werden. Angewendet auf die Erklärung moralischer Handlungen bedeutet McDowells Position, »that a conception of how things are might constitute, on its own, a reason for virtuous action.« Vgl. ders., a. a. O.: 16 f. McDowell bestreitet nicht »that behaviour that is in fact virtuous can in some cases be found unsurprisingly through being what one would expect anyway, given an acceptably ascribed desire which is independently intelligible. […] What is questionable is, whether there need always be an independently intelligible desire to whose fulfilment a virtuous action, if rational at all, can be seen as conducive.« Vgl. ders., a. a. O.: 19 f. 49 McDowell spricht von einer »perceptual capacity« »to see situations in a special light, as constituting reasons for action«. Durch eine besondere moralische Wahrnehmungsfähigkeit sehe man Situationsumstände »in the special way in which a virtuous person would see it«. Vgl. ders., a. a. O.: 21. 48

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moralisch signifikanter Sachverhalte, unschwer eine entsprechende Beschreibung moralischer Vorschriften ablesen. Demnach würden bei ihnen die sie charakterisierenden Handlungsgründe in Erkenntnissen von der Art bestehen, dass der Forderungsadressat jemandem (etwa aufgrund eines gegebenen Versprechens) etwas schuldet, oder dass ein anderer seine Hilfe braucht. Foot versäumt auch eine ausdrückliche Auskunft über den Charakter solcher Forderungen, bei denen die geforderten Handlungen durch moralische Situationseinschätzungen gestützt werden. Es ergibt sich freilich von selbst, dass es sich dabei nicht um hypothetische Imperative handeln kann. Ist doch der Grund für eine ›hypothetisch‹ geforderte Handlung deren vermeinte Eignung als Mittel zum vorausgesetzten Zweck. Demgegenüber werden die moralischen Forderungen der späteren Foot durch Erkenntnisse darüber begründet, was ein tugendgeleitetes Situationsverständnis zu tun erfordert. Dabei ist von ›Mitteln‹ und ›Zwecken‹ keine Rede. Die Revision ihrer Konzeption moralischer Handlungsgründe ist nicht die einzige gravierende Veränderung in Foots moralphilosophischem Denken. Das Hauptanliegen ihrer Hart-Lecture besteht darin zu zeigen, »dass moralisches Handeln ein Teil der praktischen Vernunft ist« (231 – Hervorh. HK). Ursprünglich hatte Foot der kantischen Verbindung von Moral und Vernunft herzlich misstraut. Nun redet sie ihr das Wort. Hatte sie früher die Erklärung des angeblich ›kategorischen‹ Charakters moralischer Forderungen aus deren angeblichem Vernunftcharakter verworfen, behauptet sie nun selber »die Vernünftigkeit des moralischen Handelns« (232) und stellt die ›Vernunft der Moral‹ neben die Vernünftigkeit des technischen bzw. prudentiellen Räsonnements: »Meinem Verständnis nach steht die Vernünftigkeit etwa der Wahrheitsliebe, des Einhaltens von Versprechen oder der Hilfsbereitschaft auf gleicher Ebene wie die der Selbsterhaltung und der umsichtigen und wohlinformierten Verfolgung anderer moralisch harmloser Ziele; alles sind Teile oder Aspekte der praktischen Vernunft.« (232 f.; vgl. 235, 241) Moralische Vorschriften sind für die spätere Foot nichts anderes als »Forderungen der Vernunft« (246). Auf die Vernunftteilhabe der Moral ist unsere Autorin durch eine Anleihe bei Anscombe gekommen. Moralisches Verhalten erscheint der neuen Foot nämlich insofern als vernünftig, als es Erfordernissen Rechnung trägt, die Anscombe als aristotelische NotwenA

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digkeiten apostrophiert hat (237 ff.). Für Letztere ist etwas in diesem Sinne ›notwendig‹, »wenn ohne es das Gute nicht erlangt werden kann«. 50 Das gemeinte Gute ist in Foots moralischem Kontext natürlich das Gute für den Menschen, das also, was für ihn, gemäß seiner individuellen und gattungsmäßigen Beschaffenheit, seinen »natürlichen Lebensbedingungen« und seiner sozialen »Lebensform«, notwendig ist (238). Man kann sich diese Denkfigur folgendermaßen klarmachen. So, wie ein Automotor ab und an Öl braucht, um nicht zu ›verrecken‹ 51 ; so, wie bestimmte Pflanzen Licht und Wasser benötigen, um nicht einzugehen, sondern florieren zu können (238): so ist es auch für das Leben und Gedeihen eines Menschen nötig, dass bestimmte seiner Bedürfnisse befriedigt werden. Es ist diese Verwendungsweise der Ausdrücke ›brauchen‹ oder ›benötigen‹, welche den ›aristotelischen‹ Sinn von ›Notwendigkeit‹ bestimmt. Die soziale Natur von Menschen bedeutet, dass sie für ein gedeihliches Zusammenleben aufeinander Rücksicht nehmen müssen; »daß wir […] aufeinander angewiesen« und von der »Zusammenarbeit« mit anderen abhängig sind (238). Deshalb gehört zu unserem Wohl auch das Wohl anderer, deshalb sind wir nicht nur auf das eigene, sondern auch auf das Wohl anderer gerichtet (a. a. O.). Angesichts dessen ist »für das menschliche Wesen das Verbreiten und Befolgen einer Moral etwas Notwendiges. Wir kommen ohne sie nicht aus.« (239) 52 Weshalb das fürs menschliche Wohlergehen Nötige auch Tugend umfasst, mithin Tugenden. So ergibt sich für Foot, dass »die moralischen Tugenden eine ›aristotelische Notwendigkeit‹ für die Menschen sind« (240). Die Tugendhaftigkeit von Menschen hängt freilich davon ab, »was sie tun« (238 – Hervorh. HK.). Was aber sollen sie tun? Die Einsicht in das in ihrem Fall ›aristotelisch Notwendige‹ »legt fest, »[…] it is the necessity that Aristotle spoke of, by which something is called necessary if without it good cannot be attained.« Vgl. Anscombe, »On Promising and its Justice, and Whether it Need be Respected in Foro Interno«: 18 f. »Aristotle […] says that in one sense of ›necessary‹ the necessary is that without which good cannot be or come to be.« Vgl. dies., a. a. O.: 15. »[…] this sort of necessity will be, or be connected with, the necessity which is usually called obligation.« Vgl. dies., a. a. O.: 14. 51 Vgl. Anscombe, »Modern Moral Philosophy«: 29. 52 Hervorh. HK. – »Elisabeth Anscombe stellt diese Abhängigkeit der Moral vom Leben unserer Spezies […] heraus. Sie verweist auf die Tatsachen des menschlichen Lebens, die es für die Menschen nötig machen, einander durch Institutionen wie Versprechen auf Handlungen festlegen zu können.« Vgl. Foot, »Beruht der moralische Subjektivismus auf einem Irrtum?«: 237. 50

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[…] was sie tun sollten« (238). Dieses ›Sollen‹ ist demnach das ›Sollen‹ moralischer Forderungen. Wenn man es in diesem Sinne als ›vernünftig‹ betrachtet, zu tun, was für das gemeinsame menschliche Wohlergehen als erforderlich erscheint, dann sind auch diesbezügliche moralische Forderungen Gebote der Vernunft. Wir können jetzt die Betrachtungen Foots über nicht-funktionale Handlungsgründe für moralische Handlungen und Forderungen; über die Tugenden als aristotelische Notwendigkeiten und über die Vernünftigkeit moralischer Handlungen und Forderungen zusammenführen. Demnach ergeben sich moralische Forderungen aus nicht-funktionalen Überlegungen, die sich auf aristotelische Notwendigkeiten für den Menschen stützen und insofern als vernünftig zu betrachten sind. Auf der Basis dieser neuen Einsichten übt Foot Selbstkritik an ihrem jüngeren Ich. Ihre vormalige Feindseligkeit gegen die Vernunft in der Moral tut ihr jetzt leid. Wobei die ›natürliche‹ Vernünftigkeit moralischen Handelns und Forderns, die sie nun propagiert, sich sicherlich aus einer anderen als der kantischen ›reinen praktischen Vernunft‹ ergibt. Gut und richtig findet sie immer noch »die Herausforderung«, die sie in ihrem alten Aufsatz formuliert hatte: »als ich fragte, warum es als vernünftig gelten sollte, die Moral zu befolgen, im Unterschied zu Duellregeln oder dummen Anstandsregeln«. Ihre damalige Antwort findet sie jedoch inzwischen »ziemlich katastrophal« (239). Die Katastrophe sieht sie darin, dass sie die Moral als eine Vereinsangelegenheit der »Freunde der Gerechtigkeit« (231) betrachtet habe. Die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft erschien ihr seinerzeit als bloße Option, nicht zwingender als andere auch. Daraus ist nun eine Zwangsmitgliedschaft von Moralabhängigen geworden, aufgrund von Gegebenheiten der menschlichen Natur 53, »welche die Begriffe guten oder schlechten Handelns bestimmt«. 54 Schien ihr früher für die moralische Grundausrichtung eines Menschen sein Wille zur Moral maßgebend, so ist nun an die Stelle einer moralischen ›Selbstwahl‹ die ›vernünftige‹ Anerkennung einer ›aristotelischen Notwendigkeit‹ getreten: eine ›natürliche Vernunftnotwendigkeit‹, moralisch zu sein. Die Skepsis gegen Foots neue, vernunftethische Konzeption lässt sich 53 54

Vgl. Foot, »Gutes Handeln«: 41, 42, 44. Vgl. dies., a. a. O.: 40. A

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in Form zweier Fragen formulieren: 1. Hat sie damit den spezifischen Charakter moralischer Forderungen erfasst, durch den diese sich von allen andersartigen Handlungsvorschriften unterscheiden? 2. Sind demnach alle Moralvorschriften ›Foot’sche Vernunftgebote‹ ? Ad 1.): Die Vernünftigkeit von Vorschriften, die uns von ›aristotelischen Notwendigkeiten‹ diktiert werden, scheint mir eine Eigenschaft zu sein, die nicht nur ›moralischen‹ Direktiven zukommt. Man kann hier mit der jüngeren Foot gegen die spätere argumentieren. Die Autorin der ›Moral hypothetischer Imperative‹ hatte gegen mehrere Versuche, einen ›kategorischen‹ Forderungs-Charakter zu explizieren, ins Feld geführt, man könne damit die Eigenart moralischer Gebote gegenüber Anstands- oder Clubregeln nicht herausbringen. Die Frage liegt nun nahe, ob es nicht gewichtigere gesellschaftliche Sitten gibt, die uns fordernd entgegentreten, und deren Existenz für den Menschen eine aristotelische Notwendigkeit ist. Menschen haben ästhetische Grundbedürfnisse. Im Grau und Grau einer Gefängniszelle verkümmern sie. Eine gewisse Wahrnehmungsvielfalt (und ein Minimum an Schönheit) in ihrer Umgebung ist also eine aristotelische Notwendigkeit. Usw. Wenn dem aber so ist, dann setzen solche Notwendigkeiten allesamt Forderungen in die Welt, die ihren Adressaten mit derselben Art von Vernünftigkeit imponieren wie die Foot’schen Vernunftgebote der Moral. Gesetzt also den Fall, man hielte Foots Versuch für gelungen, moralische Forderungen als Vernunftgebote auf der Basis ›natürlicher‹, aristotelischer Notwendigkeiten zu beschreiben: Dann gäbe es auch nicht-moralische Forderungen derselben Machart. Und es wäre Foot mit ihrem vernunftethischen Aristotelismus mitnichten gelungen, den spezifisch moralischen Charakter moralischer Forderung zu treffen. Ad 2.) Die zweite Frage an Foots neue Position lässt sich kürzer beantworten. Die jüngere Foot war der Auffassung gewesen, dass alle Moralvorschriften hypothetisch sind. Das aber, hatte ich eingewandt, folgt aus ihren Argumenten nicht. In ihrer Hart-Lecture versucht sie erst gar nicht zu zeigen, dass alle moralischen Gebote auf aristotelische Notwendigkeiten zurückgehen. Darüber, ob sie neben ihren ›natürlichen‹ Vernunftgeboten der Moral auch noch hypothetische Moralgebote zulassen möchte, schweigt sie sich aus. Jedenfalls verfügt sie über kein Argument, um die Existenz hypothetischer Moralvorschriften auszuschließen.

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Schluss

4.8 Schluss Am Ende dieses Kapitels stehen wir vor einer relativ komplexen theoretischen Konstellation. Nehmen wir an, dass es der späteren Philippa Foot geglückt sei, eine eigene Sorte nicht-hypothetischer Moralvorschriften zu beschreiben. Dann wäre jedenfalls klar, dass es sich dabei um andere als diejenigen handelt, die Kant als ›kategorische‹ Imperative zu beschreiben versuchte. Könnte man auch dessen ›unbedingte‹ Moralgebote einleuchtend explizieren, dann hätte eine Theorie moralischer Forderungen also mit mehreren Arten nicht-hypothetischer Moralvorschriften zu rechnen. Der früheren Foot, der Autorin einer ›Moral hypothetischer Imperative‹, ist es m. E. gelungen, die Existenz hypothetischer Moralgebote plausibel zu machen. Ich habe mich in diesem Kapitel darum bemüht, deren Existenzberechtigung durch Zusatzerwägungen zu unterfüttern. Demnach müssen wir uns darauf gefasst machen, dass es neben mehreren Arten nicht-hypothetischer Moralgebote auch hypothetische Moralvorschriften gibt. Auch letztere in mehreren Ausfertigungen: Ich erinnere an die Moralvorschriften, die Rorty als Gemeinschaftsforderungen beschrieben hat, sowie an Tugendhats moralische Normen zur Vermeidung moralischer Sanktionen. Wenn sich die Beschreibungen und das Existenzrecht sowohl hypothetischer wie nicht-hypothetischer Moralvorschriften verteidigen lassen, dann drängt sich die Diagnose einer Heterogenität moralischer Forderungen auf, die meiner Untersuchung den Untertitel gegeben hat. Am ehesten fraglich scheint im Augenblick, ob auch die Existenz derjenigen nicht-hypothetischen Imperative einleuchtend zu machen ist, die Kant als ›unbedingte‹ Moralgebote beschrieb. Ihre neue Klasse nicht-hypothetischer Moralgebote verdankt die spätere Foot der Beschreibung eines bestimmten Typus nicht-funktionaler Handlungsgründe. Stellt sich die Frage, ob sich Kants kategorische Imperative vielleicht durch andersartige nicht-funktionale Gründe für moralisch geforderte Handlungen plausibel einführen lassen. Dass dem so ist, soll sich im folgenden Kapitel zeigen.

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5 Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

An Kant kommt keiner vorbei, der sich an einer Charakterzeichnung moralischer Forderungen versucht. 1 Das Bild, das er sich von ihnen gemacht hat, hält uns immer noch gefangen. Er scheint damit also etwas getroffen zu haben, wenn schon nicht ›die ganze Wahrheit‹, so doch verbreitete ›Intuitionen‹. Wir zeitgenössischen Porträtisten moralischer Vorschriften kommen also um ein verständiges – wenn auch nicht ›unbedingt‹ einverständiges – Nachzeichnen der kategorisch-unbedingten Gestalt nicht herum, die sie dem Kennerblick des Königsbergers darboten. Eine beträchtliche Schar von Anhängern hat sich der kantischen Lehrmeinung mehr oder weniger bedenkenlos anvertraut. Eine kritische Analyse des angeblich ›kategorischen‹ Charakters moralischer Forderungen wird von ihnen für unnötig erachtet. 2 Die Existenzmöglichkeit hypothetischer Moralgebote wird selten ernst genommen. Aus kantianischer Sicht ist es mehr als zweifelhaft, ob ›Humeaner‹, mit ihrer ›armseligen‹ Ausstattung – bloß zweckrationale Handlungsgründe, bloß hypothetische Imperative, eine bloß instrumentelle Konzeption praktischer Vernunft, – sich überhaupt einen Begriff von ›moralischen‹ Forderungen machen können. Ungewöhnlich ist deshalb die Perspektive, aus der wir nun an die kantische Theorie moralischer Forderungen herantreten. Die Ergebnisse des vorigen Kapitels im Rücken, ist m. E. von der Existenz hypothetischer Moralgebote auszugehen. Dementsprechend sehe ich Nicht nur für die Charakterisierung moralischer Forderungen ist an Kant kein Vorbeikommen. Dasselbe gilt für etliche Aspekte seiner Ethik. So behauptet zum Beispiel J. B. Schneewind von Kants ›Erfindung‹ einer autonomen Moral: »It is more fully involved in current philosophical ethics than is the work of any other early modern thinker«. Vgl. ders., The invention of autonomy: 6. 2 Erinnert sei hier nur an die Sorglosigkeit, mit der sich z. B. Habermas der kantischen Rede von ›kategorischen‹, ›unbedingten‹ Geboten anvertraut. Vgl. dazu im 2. Kapitel, den Abschnitt 2.2.2: Unbedingt und kategorisch. 1

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Kategorische Imperative

Kant, mit seiner Auffassung von der kategorischen Wesensart aller Moralvorschriften, von vornherein auf der Verliererstraße. Gibt es, neben den hypothetischen Moralgeboten Tugendhats, Rortys und der frühen Philippa Foot, auch noch nicht-hypothetische Moralvorschriften im Sinne der späteren Foot, erscheint mir die vergrößerte Auswahl an Moralwerkzeugen begrüßenswert. Was mir hingegen in Frage zu stehen scheint, ist die Existenz weiterer Moralvorschriften, die im kantischen Sinne ›nicht-hypothetisch‹ sind. Deren Existenzmöglichkeit hängt davon ab, ob man den ›kategorischen‹ Charakter einer Forderung plausibel explizieren kann. Die hier eingenommene Untersuchungsperspektive bedeutet, mit anderen Worten, eine ›verrückte‹ Einschätzung der Beweislastverteilung: verrückt gegenüber der nicht nur hierzulande dominierenden Betrachtungsweise. Aus der Perspektive, die sich aus dem bisherigen Gang meiner Untersuchung ergibt, ist Kant der Herausgeforderte. Vom Zweifel befreit an der Existenz hypothetischer Moralgebote, die mit handfesten instrumentellen Gründen unterfüttert sind, sehe ich die Beweislast bei ihm resp. seinen Anhängern. Wer meinen möchte, dass es mehr gibt im Himmel und auf Erden – also auf Erden – als solide hypothetische Moralgebote; wer meint, dass es darüber hinaus auch noch moralisch-kategorische Handlungsvorschriften gibt: der hat die Bringschuld an Gründen.

5.1 Kategorische Imperative Im Rest dieses Kapitels mache ich den Versuch, den kategorischen Charakter wenigstens einiger Moralgebote deutlich herauszuarbeiten. In Kants Verständnis ist damit, zugleich mit dem Erkennungsmerkmal moralischer Forderungen, »das spezifische Unterscheidungszeichen des kategorischen vom hypothetischen Imperativ« gesucht. 3 Eine Unterscheidung ist immer eine Unterscheidung innerhalb ein und derselben Dimension oder ›hinsichtlich‹ einer bestimmten ›Hinsicht‹. Welches ist die Hinsicht, in welcher Kant kategorische und hypothetische Moralvorschriften unterschieden wissen wollte –

Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= GMS): 431 – Hervorh. HK. Die in der Folge in den Text dieses Kapitels eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk.

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

und wie unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht? Diese doppelte Frage wird uns, als eine Art Leitmotiv, durch dieses Kapitel begleiten. Der systematische Charakter (auch) der folgenden Erörterung bringt es mit sich, dass ich mich bei der Exposition des ›kategorischen‹ Forderungscharakters nicht an Kants Fersen hefte, mithin seine Analyse moralischer Gebote nicht seinen Texten entlang nachvollziehen werde. 4 Durch ein sachorientiertes Vorgehen sind auch die Angriffspunkte besser zu erkennen, die seine Theorie der Kritik darbietet. Die Eigenart einer sachorientierten Untersuchung hat zudem die sehr selektive Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zur Folge. Ein – im doppelten Sinne – ›erschöpfendes‹ Eingehen auf das Werk anderer Kant-Forscher würde zudem den angemessenen Umfang dieses Kapitels sprengen und im Rahmen einer systematisch ausgerichteten Arbeit deplaziert erscheinen. 5 Durch die Charakterisierung moralischer Forderungen als ›kategorische Imperative‹, und deren Unterscheidung von ›hypothetischen‹, hat Kant eine ziemliche Verwirrung gestiftet 6 – zum Glück nur unter philosophischen Facharbeitern. So verunsichert er seine Leser allein schon dadurch, dass er, ohne Erläuterung, sowohl von ›kategorischen Imperativen‹ im Plural als auch von dem ›kategorischen Imperativ‹ spricht. Letzterer ist natürlich auch ein kategorischer Imperativ. Als deren Klassen-Erster formuliert der (von nun an groß geschriebene) Kategorische Imperativ die oberste moralische Forderung und genießt deshalb das Privileg, seine Mitschüler anweisen und kritisieren zu dürfen. 7 Unser Thema ist freilich nicht die edle Kant führt seine Analyse kategorischer und hypothetischer Imperative vor allem in der GMS: 413–417, durch; sowie im § 1 der Kritik der praktischen Vernunft. 5 Das Selektionsprinzip bei der Bezugnahme auf Sekundärliteratur ist nicht das jugendliche Alter, sondern allein die Relevanz der berücksichtigten Beiträge. Die Auseinandersetzung damit hat die Funktion, meine eigene Lesart der kantischen Texte zu verdeutlichen, indem ich sie mit ernst zu nehmenden Alternativen konfrontiere. Die Ausführlichkeit, mit welcher ich dabei auf den ›klassisch‹ zu nennenden Aufsatz Günther Patzigs: »Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik«, eingehe, hat zwei Gründe: Zum einen repräsentiert dieser Artikel von 1966 in vielen Punkten immer noch den erreichten Stand der Kant-Interpretation. Zum andern kann ich einige meiner Thesen in Absetzung von Patzigs Auffassung besonders gut herausstellen. Letzteres gilt auch für die Auseinandersetzung mit Rüdiger Bittners Aufsatz »Hypothetische Imperative«. 6 Vgl. Williams’ Einschätzung in »Practical Necessity«: 125, zitiert zu Beginn meiner Williams-Darstellung im 3. Kapitel. 7 Kants Unterscheidung des Kategorischen Imperativs von den kategorischen Imperativen wird in der Literatur nicht immer gesehen. Patzig steht nicht allein mit der irrigen 4

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Physiognomie des Klassenprimus, sondern der gemeinsame Gesichtszug aller Schüler der Klasse kategorischer Moralvorschriften. Was diesen gemeinsam ist, lässt sich freilich, wie sich zeigen wird, nur sagen, indem man die besonderen Leistungen des Kategorischen Imperativs mit in Betracht zieht. Die naheliegende Auffassung, dass sich kategorische und hypothetische Imperative in ihrer Form unterscheiden, wirft die Frage auf, hinsichtlich welcher Art von Form sie verschieden sind. Die Hoffnung, wir hätten für die Differenzierung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen ein sprachliches, grammatikalisches Kriterium an der Hand, ist eine Illusion. Kant selber war bewusst, dass seine Unterscheidung von ›Imperativen‹ nicht einen Unterschied zwischen verschiedenartigen imperativischen Sätzen markiert. 8 Dies gilt denn auch in der Kant-Literatur als GemeinMeinung, dass Kant einen ›kategorischen Imperativ‹ nur im Singular kannte, dass er den Ausdruck ›kategorisch‹ also für den Kategorischen Imperativ reserviert hätte. Vgl. Patzig, a. a. O.: 101, 109 f. Zum Beweis des Gegenteils betrachte man z. B. die GMS: 425, wo Kant behauptet, dass eine »Pflicht […] nur in kategorischen Imperativen […] ausgedrückt werden könne«. – »[…] alle Imperativen der Pflicht«, die aus dem Kategorischen Imperativ »als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden können«, sind in formaler Hinsicht ›kategorische‹ Imperative (421). – »Die Imperativen«, gegeben, sie »bestimmen« den Willen nicht »bloß in Ansehung der Wirkung« der geforderten Handlung, sondern »sie bestimmen nur den Willen, er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht […,] würden […] kategorisch […] sein«, heißt es im § 1 der KprV: 20. – Trivialerweise ist immer dort, wo Kant ein Beispiel für einen kategorischen Imperativ bringt, einer von vielen gemeint. So heißt es von der moralischen Forderung: »du sollst nicht betrüglich versprechen«, dieser »Imperativ des Verbots sei […] kategorisch«. (419) Anders als Patzig vermerkt Friedo Ricken Kants »zweifache Verwendung des Ausdrucks ›kategorischer Imperativ‹«. Vgl. ders., Allgemeine Ethik: 92. – So auch R. P. Wolff. Dieser bemerkt, einerseits, dass Kant zwar häufiger von dem oder sogar von »›the only categorical imperative‹« spricht. »But I think it is clear from his definitions that any formula which commands a policy unconditionally qualifies as a categorical imperative.« Vgl. ders., The Autonomy of Reason: 127 – Hervorh. HK. 8 Erkennend, dass die sprachliche Benutzeroberfläche nicht zuverlässig verrät oder festlegt, ob ein Imperativ hypothetisch oder kategorisch ist, hat Kant festgestellt, »daß es durch kein Beispiel […] auszumachen sei, ob es überall irgend einen dergleichen [kategorischen] Imperativ gebe, sondern zu besorgen, daß alle, die kategorisch scheinen, doch versteckterweise hypothetisch sein mögen«. Vgl. 419 – Einf. HK. Dass Kant mit ›Imperativen‹ nicht grammatische Imperative meint, ergibt sich schon aus seiner Äußerung, dass sie allesamt »durch ein Sollen ausgedrückt« werden (413). Seine Erläuterung, dass ein Imperativ »die Formel« eines »Gebots« sei (a. a. O., Hervorh. HK.), wird man am besten so lesen, dass mit ›Imperativen‹ sämtliche sprachlichen Formulierungsmöglichkeiten eines Gebots gemeint sein sollen. – Vgl. dazu Allen Wood: A

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platz. 9 Es gibt hypothetisch, nämlich in ›Wenn-dann‹-Sätzen formulierte Imperative, die dennoch (nicht-hypothetische) Moralgebote formulieren. 10 Und es gibt kategorisch formulierte Imperative, die keine moralischen Forderungen, sondern eine Schrumpfform ›hypothetischer‹ Imperative sind, in denen der Zweck zum geforderten Mitteleinsatz lediglich ungenannt bleibt. Nicht zuletzt gibt es kate»An ›imperative‹ in his [i. e. Kant’s] sense is not restricted to any grammatical form but is any principle that governs a will’s rational self-constraint.« A. a. O.: 61 – Einf. HK. 9 So spricht Williams von dem »familiar point that ›Categorical‹ is not a grammatical category«. Vgl. ders., »History, morality, and the test of reflection«: 217. Patzigs Kant-Interpretation zufolge »hängt die Entscheidung über das Prädikat ›hypothetisch‹ bzw. ›kategorisch‹ nicht von der sprachlichen Formulierung der Imperative ab«. Man könne es, m. a. W., »der äußeren Form eines Gebots nicht ansehen […], ob es kategorisch oder hypothetisch ist«. Darüber hinaus zeigt Patzig: »Der Unterschied ist […] kein rein formaler«: »Das, was einen hypothetischen Imperativ zu einem hypothetischen macht, ist […] nicht, wie bei Urteilen, seine sprachliche oder logische Form.« A. a. O.: 109–111 – Hervorh. HK. Vgl. auch Schneewind, »Autonomy, obligation, and virtue: An overview of Kant’s moral philosophy«: 337, Fn. 23. Thomas Hill meint über »Kant’s account of the ideas of ought and duty«: »The technical terms in which Kant expresses these ideas do not merely mark grammatical distinctions.« Das klingt freilich nach der zu verwerfenden Auffassung, als stünden diese Termini, im kantischen Kontext, auch für grammatische Unterscheidungen. Vgl. ders., Dignity and Practical Reason, »Introduction«: 7 – Hervorh. im zweiten Zitat: HK. Auch Kants Diktum, wonach »alle Imperativen […] durch ein Sollen ausgedrückt« werden, bedeutet nicht, dass sie in ›Sollens-‹ (oder auch ›Müssens‹-) Sätzen formuliert sein müssten. Vgl. Hill, »Hypothetical Imperatives«: 27. Es bedeutet dies schon deshalb nicht, weil Kant etliche Beispiele für Imperative mit grammatischen Imperativen formuliert. Man wird Kant deshalb so zu verstehen haben, dass die gemeinten Imperative für ihn denselben Aufforderungs-Charakter besitzen wie solche Sollens-Sätze, mit deren Gebrauch ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird. 10 Die beiden Beispiele, die Patzig für Imperative bringt, die kategorisch sind, obwohl sie ihrer Formulierung nach hypothetisch zu sein scheinen (a. a. O.: 109), sind allerdings schlecht gewählt. Die Sätze »›Wenn jemand dir Geld geliehen hat, so zahle es nach Vereinbarung zurück!‹ ›Wenn du eine Familie hast, so sorge für ihren Unterhalt!‹« (a. a. O.), scheinen nicht einmal hypothetische Imperative zu sein. Denn in einem hypothetischen Imperativ, der als Wenn-Dann-Satz formuliert ist, bezieht sich der konditionale Teilsatz auf einen Zweck, der durch die im Dann-Satzteil geforderte Handlung erreicht werden soll. In Patzigs Beispielsätzen hingegen enthält der jeweilige Wenn-Satzteil keine Zweckangabe, sondern eine Situationsbeschreibung. Für das (tatsächliche oder scheinbare) Vorliegen eines hypothetischen Imperativs reicht es nicht, dass er unter irgendeiner Bedingung steht. Es muss sich um eine Zweckbedingung handeln. – Derselbe Lapsus bei der Exemplifizierung von hypothetisch scheinenden, aber kategorischen Imperativen unterläuft auch L. W. Beck, Frido Ricken und Konrad Cramer. Vgl. Beck, in: A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason: 88; vgl. Ricken: a. a. O.: 92, den Beispiel-Satz (1); vgl. Cramer, »Hypothetische Imperative?«: 160, den Beispielsatz: »›Wenn du ein Versprechen abgegeben hast, so halte es‹«.

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gorisch formulierte Imperative, die weder kategorisch-moralisch noch im Verborgenen hypothetisch sind. Man denke dabei an schlichte Bitten, militärische Befehle, staatliche Gesetze oder Verwaltungsvorschriften, an Spiel- oder Clubregeln oder an die Regeln der Etikette. 11 Solche, gewöhnlich kategorisch formulierten Aufforderungen sind im von Kant intendierten Sinne allein schon deshalb keine ›kategorischen‹ Imperative, weil sie für ihn keine ›Imperative‹ sind. Und sie sind für ihn keine Imperative, weil sie nicht zwingend mit der Erwartung verbunden sind, objektiv begründbar zu sein. Für Kant aber sind all die Imperative, die er in hypothetische und kategorische eingeteilt hat, in dem Sinne ›objektive Prinzipien‹, dass sie »objektiv d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen« bestimmen (413 – Hervorh. HK). 12 Dass es sich bei der kantischen Differenzierung von Imperativen um keine Differenz an der Sprachoberfläche handelt, ist aber nur eine negative Auskunft. Positiv zu sagen, in welcher Hinsicht sich hypothetische und kategorische Imperative unterscheiden, bereitet große Schwierigkeiten. In der Kant-Literatur gibt es in dieser Frage keinen Konsens. Die Entwicklung einer fundierten eigenen Position wird sich als ein aufwendiges Unterfangen erweisen. Die Schwierigkeit, die fragliche Unterscheidungsdimension zu bestimmen, kann man fürs erste umschiffen, indem man das Thema leicht verschiebt. Statt sich an dem Unterschied zwischen ›hypothetiAn der grammatischen Form eines Aufforderungssatzes kann man nicht nur nicht den hypothetisch-bedingten oder kategorisch-unbedingten Charakter der ausgedrückten Forderung ablesen. Am grammatischen Imperativsatz als solchem erkennt man nicht einmal, ob damit überhaupt eine Aufforderung ausgedrückt wird. Analoges gilt für die anderen grammatischen Modi. So wird z. B. mit einem Aussagesatz, der nach einer ›puren Feststellung‹ aussieht (z. B. ›Gänserupfen ist grausam‹), häufig ein Verbot ausgesprochen oder die Einführung eines Verbotes empfohlen. Vgl. dazu Donald Davidson, »Moods and Performances«: 110. 12 Patzig verwirft (1.) die Auffassung, »Kant habe alle möglichen Forderungen (und Befehle) mit seiner Einteilung ›hypothetisch‹-›kategorisch‹ erschöpfen wollen.« Vgl. ders., a. a. O.: 111, Fn. Patzig irrt aber, wenn er (2.) meint: »Kant hat offenbar nur solche Forderungen überhaupt in Betracht gezogen, die prima facie Anspruch darauf machen, moralische Forderungen zu sein.« (A. a. O.) Ad (1): Sicherlich wollte Kant, wie Patzig sieht, ›Gebote‹ (Forderungen) von schlichten Aufforderungen (Bitten, Befehlen usw.) unterscheiden und nur die ersteren mittels der kategorisch/hypothetisch-Distinktion sortieren. Ad (2): Unter einem ›Gebot‹ aber verstand er »[d]ie Vorstellung eines objektiven Prinzips«, das »objektiv d. i. aus Gründen [a. a. O.: 109] für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig« sein soll (413). Unter den Begriff solcher objektiven Prinzipien fallen für Kant jedoch sowohl kategorische wie auch hypothetische Imperative. 11

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schen und kategorischen Imperativen‹ festzubeißen, ist es fruchtbarer, sich an der Unterscheidung zwischen ›bedingten und unbedingten Geboten‹ zu orientieren, die Kant der ersteren zugrunde gelegt hat. Weil dem so ist, ist nach einer gelungenen Explikation des Unterschiedes zwischen ›bedingten‹ und ›unbedingten‹ Geboten eine zusätzliche Erläuterung der ›hypothetisch-kategorisch‹-Unterscheidung überflüssig: so überflüssig wie die zusätzliche Benennung dieser Gebote als ›hypothetische‹ bzw. ›kategorische‹ ›Imperative‹. Wohl nur aus Nachgiebigkeit gegenüber selbst erzeugten Systemzwängen konnten diese Bezeichnungen ihrem Erfinder nötig und triftig vorkommen. 13 Für die beschriebene Themenverlagerung spricht nicht nur der im Laufe dieses Kapitels daraus erwachsende Ertrag. Dafür sprechen im vorhinein die folgenden Gründe. Erstens sind die Ausdrücke ›kategorisch‹ und ›unbedingt‹, so wie Kant und seine Anhänger sie verwenden, in den meisten Kontexten austauschbar. Zweitens sind 13 Die technischen Ausdrücke für beide Forderungstypen entlehnt Kant von den Bezeichnungen zweier Urteilsformen der Relation. Vgl. KdrV: B 95. – Patzig hat die Analogien und Disanalogien zwischen kategorischen und hypothetischen Urteilen und den danach benannten Imperativen herausgearbeitet und dabei die Problematik der kantischen Übertragungspolitik offengelegt. Vgl. ders., a. a. O.: 106–110. Um Imperative ›hypothetisch‹ oder ›kategorisch‹ nennen zu können, habe Kant »sich auf eine Auffassung des hypothetischen Urteils stützen [müssen], die von […] [dessen] Standardauffassung abweicht« (110) – Einf. HK. Nach der Standardauffassung eines hypothetischen Urteils ›wenn p, dann q‹ behauptet dieses »bloß die Konsequenz von p und q«. Eine auf den hypothetischen Imperativ, bei dem lediglich der ›Dann‹-Satzteil imperativisch ist, übertragbare Interpretation des hypothetischen Urteils erhält man aber nur dann, wenn man es als die Behauptung liest: »q unter der Bedingung p‹. Aus dem Behaupten eines Bedingungsverhältnisses wird [so] ein bedingtes Behaupten.« (106 – Einf. HK) Dementsprechend wäre »ein hypothetischer Imperativ die bedingte Forderung einer Handlung, ein kategorischer Imperativ eine unbedingte Forderung. Jedoch wird diese Auffassung dem grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Arten von Forderungen nicht gerecht.« (110) Sie wird ihm deshalb nicht gerecht, weil dann bei einem hypothetischen Imperativ, bei erfüllter Bedingung, die durch den imperativischen Bestandteil ausgedrückte Forderung »ebenso verbindlich wäre […] wie ein kategorischer Imperativ, der sich […] [nur] […] durch das Fehlen solcher Voraussetzungen […] vom hypothetischen Imperativ unterscheiden« würde (107 – Einf. HK.). Nun nimmt Kant, und nicht nur Kant, aber an, dass kategorische Imperative, qua ›moralische‹, eine stärkere Verbindlichkeit als hypothetische Imperative besitzen. Daraus folgt dann aber, dass man, trotz der eben beschriebenen, forcierten Analogisierung von Urteilsformen und Imperativ-Arten, den relevanten Unterschied zwischen moralisch-kategorischen und hypothetischen Imperativen nicht herausbekommt, indem man sagt: »daß der hypothetische Imperativ seine Forderung nur unter Voraussetzungen geltend macht«, und der kategorische ohne solche Voraussetzungen. (108)

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Kants Erklärungen der behaupteten ›Kategorizität‹ moralischer Imperative genauso sehr – oder genau genommen – Erläuterungen des Unbedingtheits-Charakters der entsprechenden Gebote. Wir können uns also an seine Erläuterungen des ›kategorischen‹ Charakters einer Forderung halten, um seinen Begriff der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung zu erfassen. Dass, drittens, wie behauptet, bei Kant die sog. ›Unbedingtheit‹ einer Forderung dem kategorischen Charakter des sie ausdrückenden Imperativs zugrunde liegt, lässt sich folgendermaßen belegen. Für Kant ist »[d]as moralische Gesetz« – als das oberste moralische Gebot – »ein I m p e r a t i v, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist«. 14 Was hier für den Kategorischen Imperativ behauptet wird, soll sicherlich für alle kategorischen Imperative gelten. Die Unbedingtheit einer Forderung erklärte demnach den kategorischen Charakter des entsprechenden Imperativs, das Umgekehrte behauptet Kant nirgends. Die beschriebene Explikationsrichtung hat zur Kehrseite, dass ein ›kategorischer Imperativ‹ für Kant nur der sprachliche Ausdruck eines ›unbedingten Gebotes‹ ist – im Doppelsinne des Ausdrucks ›Ausdruck‹ : als sprachliche Einheit und als Expression. So Vgl. Kant, KprV, § 7, 2. Anmerkung: 32 – Kursiv-Hervorh. HK. Vgl. dazu auch Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom: »[…] if the principle applies universally and unconditionally to all agents independently of their empirical interests, then […] the corresponding imperative is categorical.« A. a. O.: 89 – Hervorh. HK. – Eine weitere Erläuterung des ›Kategorischen‹ durch seine Unbedingtheit gibt Kant z. B. in der GMS: 416, wobei er dort statt des Ausdrucks ›unbedingt‹ das Wörtchen ›absolut‹ benutzt: »[…] dagegen der kategorische Imperativ durch keine Bedingung eingeschränkt wird, […] als absolut-[…] notwendig«. – Vgl. auch die Explikationsreihenfolge in den folgenden beiden Kant-Zitaten: »[…] der sogenannte (1) moralische Imperativ, der als ein solcher (2) kategorisch und (3) unbedingt erscheint […]« (419 – eingefügte Ziffern: HK.) – »Der (1) moralische Imperativ verkündet durch seinen (2) kategorischen Ausspruch (das (3) unbedingte Sollen)«. Vgl. die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung: 379 – eingefügte Ziffern: HK. Der ›moralische‹ Charakter einer Forderung wird in beiden Zitaten zunächst durch deren ›Kategorizität‹, und diese ihrerseits durch die ›Unbedingtheit‹ der Forderung erläutert. – Vgl. ebenfalls Kants Einlassungen zur Autonomie-Formel des Kategorischen Imperativs: »Also würde das Prinzip eines jeden menschlichen Willens, a l s e i n e s d u r c h a l l e s e i n e M a x i m e n a l l g e m e i n g e s e t z g e b e n d e n W i l l e n s […], sich zum kategorischen Imperativ darin […] s c h i c k e n , daß es […] unter allen möglichen Imperativen allein u n b e d i n g t sein kann; oder […], indem wir den Satz umkehren: wenn es einen kategorischen Imperativ gibt […], so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstande haben könnte; denn alsdann nur ist das praktische Prinzip und der Imperativ, dem er gehorcht, unbedingt« (432 – Kants Hervorh. gesperrt, Kursiv-Hervorh. HK).

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heißt es einmal, wiederum über den Kategorischen Imperativ: »Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin als kategorisch praktischer Satz a priori vorgestellt«. 15 ›Kategorisch‹ ist demnach der praktische Satz, in welchem eine praktische Regel nur zum Ausdruck kommt. 16 ›Unbedingt‹ hingegen ist die praktisch-moralische Regel,

Vgl. Kant, KprV: 31 – Hervorh. HK. Vgl. dazu auch Kants Unterscheidung zwischen einem »Gebot« und der »Imperativ« geheißenen »Formel des Gebots«: 413 – letzte Hervorh. HK. 16 Angesichts der Möglichkeit, kategorische wie auch hypothetische Imperative sowohl kategorisch als auch hypothetisch zu formulieren, scheint Kant mit einem ›Satz‹ offenbar keine sprachliche Oberflächengestalt oder grammatikalische Einheit gemeint zu haben. Es passt zu dieser Auffassung, dass Kant einen ›Imperativ‹ die »Formel« eines Gebots nennt, und nicht dessen Formulierung – was immer dabei mit der ›Formel‹ gemeint sein mag. Vgl. die voranstehende Fn. Patzig hat Kants Verwendung des Ausdrucks ›Satz‹ bei theoretischen Sätzen untersucht. Demnach hat Kant zwar in der KdrV »die Ausdrücke ›Urteil‹ und ›Satz‹ promiscue und ohne Unterschied verwendet«, später aber in der Streitschrift gegen Eberhard »in dem Sinne einen Unterschied zwischen beiden Ausdrücken [gemacht], daß hinfort nur behauptete Urteile als Sätze gelten dürfen«. Damit stimme eine Einlassung Kants in der Jaesche-Logik überein, der zufolge nur assertorische Urteile ›Sätze‹ heißen können. Vgl. Patzig, a. a. O.: 102, Fn. – Einf. HK. Wie diese Beobachtungen, abgelesen an Kants Behandlungsweise theoretischer Sätze, dem Verständnis der kantischen Rede von ›praktischen Sätzen‹ – in Absetzung von ›Geboten‹ – aufhelfen können, ist allerdings nicht zu sehen. Dies macht die Verlegenheit nur deutlicher, in welche einen der Versuch stürzt, das von Kant mit ›Imperativen‹ Gemeinte zu verstehen. Die mangelnde Übertragbarkeit von Kants Behandlung theoretischer Sätze auf praktische Sätze liefert somit einen weiteren Grund dafür, den oben im Haupttext von mir angeratenen Themenwechsel zu vollziehen – und sich statt an Kants ›kategorischen Imperativen‹ an den damit ausgedrückten ›unbedingten Geboten‹ zu orientieren. Die Frage der Übertragbarkeit von Kants Erklärung des theoretischen Satzes auf praktische Sätze hat Patzig nicht thematisiert. Dass Kant, Patzig zufolge, im theoretischen Kontext »dasjenige ›Satz‹ nennt, was bei Frege ›Urteil‹ heißt«, ist zur Klärung dieser Frage keine Hilfe. Denn wenn bei Frege ein »›Urteil‹ die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens ist« (ders., a. a. O.), was wäre dann die Nutzanwendung dieser ›Satz‹-Interpretation für das Verständnis von Kants ›praktischen‹ Sätzen? Dürfte man z. B. annehmen, dass die von Frege gemeinte Anerkennung eines Gedankens eine aufgrund von Gründen sei, so würden diese Gründe sich wohl eher auf das Gebot beziehen (oder auf das ›Gedanken‹-Analogon des dadurch ›Gebotenen‹), als auf das ›Satz‹ genannte Gebilde, in welchem ein Gebot zum Ausdruck kommt. Vermutlich deshalb, weil die ›Unbedingtheit‹ eines Gebots, anders als der Ausdruck ›kategorisch‹, nicht unter die in Patzigs Aufsatztitel genannten »logischen Formen praktischer Sätze« fällt, hat dieser die Frage des Unterschiedes und des Verhältnisses zwischen der ›Unbedingtheit‹ von Geboten und dem ›kategorischen‹ Charakter moralisch-praktischer ›Sätze‹ nicht eigens thematisiert. 15

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die in einem kategorischen Imperativ bloß ausgedrückt wird. 17 Was hier für das oberste moralische Gebot behauptet wird, gilt sicherlich auch für weniger generelle Moralvorschriften. Das als ›unbedingt‹ Bezeichnete ist also für das ›kategorisch‹ Genannte die Basis. Den ›kategorischen‹ Charakter eines Handlungsgebots wird man erfasst haben, sobald man sich deren ›Unbedingtheit‹ klar gemacht hat. Es gilt demnach, »das unbedingte Sollen« 18 zu verstehen, das eine kantisch konzipierte Moralvorschrift zum Ausdruck bringt.

5.2 Unbedingt notwendig Die kantische Konzeption moralischer Forderungen versteht man, wenigstens in ihrem Kern, wenn es einem gelingt, seinen Begriff der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung zu erfassen. Ob »der sogenannte moralische Imperativ, der als ein solcher kategorisch und unbedingt erscheint« (419 – Hervorh. HK), tatsächlich eine kategorischunbedingte Vorschrift ist, hängt davon ab, welchen Sinn Kant der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung gegeben hat – oder welchen Sinn wir ihr, im Anschluss an ihn, zu geben vermögen. Im 2. Kapitel meiner Untersuchung blieb ich bei der Betrachtung kantischer Unbedingtheit absichtlich an der Oberfläche. Nun gilt es, dem Unbedingten ›auf den Grund‹ zu gehen. Kant zufolge bringt ein jedes »Gebot« die »praktische[…] Notwendigkeit einer […] Handlung« zum Ausdruck (413 f.). 19 Die Rede H. J. Paton irrt also wohl mit seiner Behauptung: »Kant scheint keinen Gebrauch von der Unterscheidung zwischen einem Gebot und einem Imperativ zu machen«. Vgl. ders., Der Kategorische Imperativ: 131. 18 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre: 397 – Herv. HK. 19 Kants Rede von der »praktische[n] Notwendigkeit einer […] Handlung« (Hervorh. HK.) ist entweder ›doppelt-gemoppelt‹. Oder er wollte damit die praktische Notwendigkeit einer Handlung von der theoretischen Notwendigkeit explizit unterscheiden, mit der sie aus der Erklärungsperspektive eines Psychologen oder Soziologen erfolgen mag. – Vielleicht, und damit zusammenhängend, verfolgte Kant mit der Betonung des praktischen Charakters der behaupteten Notwendigkeit geforderter Handlungen auch die Absicht, einem häufigen Missverständnis der ›Notwendigkeit einer Handlung‹ vorzubeugen, das die Replik evoziert: es gebe nichts, das irgend jemand tun müsse. Diese Replik missversteht Kant so, als sei die Notwendigkeit, die seiner These zufolge von einer Forderung ausgedrückt wird, keine praktische: und opponiert deshalb gegen die These. Diese Reaktion antizipierend vermöchte Kants Hinzufügung des Ausdrucks ›praktisch‹ zur behaupteten ›Notwendigkeit einer Handlung‹ die Assoziation einer ›zwangsläufigen‹ Ausführung einer geforderten Handlung von vornherein auszuräu17

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von einer ›praktischen Notwendigkeit‹ besagt dabei nichts anderes, als dass jemand etwas tun muss: ›praktisch‹ steht fürs Tun, ›Notwendigkeit‹ fürs Müssen. Diese praktische Notwendigkeit wird durch das Wörtchen ›unbedingt‹ (und den Ausdruck ›bedingt‹) modifiziert. Dieser Satz enthält, genau genommen, zwei Feststellungen: 1. Es ist eine praktische Notwendigkeit, die durch das Wörtchen ›unbedingt‹ (und den Ausdruck ›bedingt‹) modifiziert wird. 20 Beim »Imperativ der Sittlichkeit« (419) muss »die Notwendigkeit […] von […] zufällig dem Willen anklebenden Bedingungen unabhängig sein« 21 , darf »die objektiv-vorgestellte Notwendigkeit sich auf keine Voraussetzung stützen […], wie bei den hypothetischen Imperativen« (419 – Hervorh. HK). 2. Die in Rede stehende praktische Notwendigkeit wird durch die Ausdrücke ›unbedingt‹ (und ›bedingt‹) modifiziert. Diese Wörtchen fungieren als adverbiale Bestimmungen des Ausdrucks einer praktischen Notwendigkeit. Da letztere besagt, dass jemand etwas ›tun muss‹, ist Kants Unterscheidung einer »unbedingten […] Notwendigkeit« von einer »Notwendigkeit […] unter […] zufälliger Bedingung« (416 – Hervorh. HK.) die Unterscheidung zwischen Forderungen, denen zufolge etwas nur ›bedingt‹ oder aber ›unbedingt‹ getan werden muss. Der Sitz des praktisch ›Unbedingten‹ kommt demnach – in der kantischen Sprache der Moral wie in der Umgangssprache – am prägnantesten in der Formulierung zum Ausdruck, dass jemand etwas ›unbedingt tun muss‹. Das gegebenenfalls unbedingt Notwendige sind zumeist Handlungen, in andern Fällen handelt es sich um Unterlassungen. So men. Zur praktischen Notwendigkeit, welche eine Forderung ausdrücken mag, gehört es gerade, dass ihr Adressat auch anders handeln könnte. Es liegt an ihm, in seiner Freiheit, an seinem Willen, ob er einer Forderung nachkommt – oder nicht. 20 Zur Verdeutlichung: ›Notwendig‹ (zu tun) sind die Handlungen, die eine (moralische oder nicht-moralische) Forderung fordert. ›Unbedingt‹ (oder ›bedingt‹) ist diese Notwendigkeit. Da es sich dabei um eine praktische Notwendigkeit (etwas zu tun) handelt – im Gegensatz zu einer ›theoretischen‹, logischen, oder kausalen (usw.) Notwendigkeit (mit der etwas der Fall ist bzw. geschieht) –, modifiziert der Ausdruck ›unbedingt‹ (wie auch das Wörtchen ›bedingt‹) die praktische Notwendigkeit des durch eine Forderung Geforderten. Kant unterläuft es allerdings bisweilen, dass er einen Imperativ / eine Forderung selber als ›notwendig‹ beschreibt: »[…] dagegen der kategorische Imperativ […] als absolut […] notwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann« (416). »Der hypothetische Imperativ […] zur Beförderung der Glückseligkeit«: »Man darf ihn nicht bloß als notwendig zu einer […] bloß möglichen Absicht vortragen« (415). 21 Vgl. Kant, KprV: 20 – Hervorh. HK.

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bringt man etwa durch einen »Imperativ des Verbots«, wie er in dem Satz »du sollst nicht betrüglich versprechen« formuliert ist, »die Notwendigkeit dieser Unterlassung« zum Ausdruck (419). 22 Seltener besteht eine unbedingte Notwendigkeit, ›als Person‹ so oder so zu sein. Demnach bringt man mit einer sog. ›unbedingten Forderung‹ meistens zum Ausdruck, dass eine bestimmte Handlung unbedingt ausgeführt (oder unterlassen) werden muss. 23 Dieses, dass seines Erachtens eine moralisch geforderte Handlung ›unbedingt ausgeführt werden muss‹, konturiert auch Kants Pflichtbegriff 24 : »Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein« (425). Da nach seiner Auffassung eine jede moralische Forderung die unbedingte Notwendigkeit des Geforderten formuliert, bringen alle kantischen Moralgebote Pflichten zum Ausdruck. 25 – Diese These, samt dem kantischen Pflichtbegriff, werde ich im 6. Kapitel dieses Buches kritisieren. 26 Damit haben wir ein erstes Verständnis der kantischen These erreicht, der zufolge »der sogenannte moralische Imperativ […] als […] unbedingt erscheint« (419). Indem ich die ›Unbedingtheit‹ (oder ›Bedingtheit‹) einer Forderung als Modus der praktischen Notwendigkeit geforderter Handlungen interpretiert habe, ist auch die Frage nach der Hinsicht vorläufig beantwortet, in der sich Kants hypotheDie Berücksichtigung von Unterlassungen wird im weiteren Text aus sprachökonomischen Gründen unterlassen. 23 Auch für Ricken ist es die durch eine Forderung zum Ausdruck gebrachte praktische Notwendigkeit, die entweder bedingt und unbedingt ist. Ausdrücklich konstatiert er das für hypothetische Imperative: »Die praktische Notwendigkeit […] ist also bedingt durch ein Ziel des Handelnden« – eigentlich des Forderungsadressaten. »Die praktische Notwendigkeit der diesem Ziel dienlichen Mittel ist […] durch dieses Ziel bedingt.« Genau genommen sind freilich nicht diese Mittel praktisch notwendig, sondern das Ergreifen, der Einsatz der Mittel. Vgl. zu den Zitaten ders., a. a. O.: 91 f. – David Wiggins behauptet vom ›kategorischen‹ bzw. ›hypothetischen‹ Charakter einer Forderung, was ich von ihrem ›unbedingten‹ bzw. ›bedingten‹ Charakter behaupten möchte: dass mit diesen Wörtern eine fordernd ausgedrückte praktische Notwendigkeit qualifiziert wird: »[…] the labels ›hypothetical‹ and ›categorical‹ qualify only the necessity that the statement of requirement attributes to the doing of a given act«. Vgl. ders., »Categorical Requirements: Kant and Hume on the Idea of Duty«: 299. 24 Vgl. dazu im 2. Kapitel, den Abschnitt 2.2.3: Pflicht. 25 Kants These, »daß […] [eine] Pflicht […] nur in kategorischen Imperativen, keineswegs aber in hypothetischen ausdrückt werden könne« (425), gilt also auch umgekehrt: Seine kategorischen Imperative bringen allemal Pflichten zum Ausdruck. 26 Vgl. im 6. Kapitel den Abschnitt 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht. 22

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tische und kategorische Imperative unterscheiden. Diese Frage ist kaum zu beantworten, solange man sich an den Ausdrücken ›hypothetisch‹ und ›kategorisch‹ orientiert. Die Hinwendung zu ›unbedingten‹ und ›bedingten‹ ›Geboten‹ hat es ermöglicht, zwei Modi ein und derselben praktischen Notwendigkeit zu unterscheiden, denen gemäß eine geforderte Handlung entweder ›unbedingt‹ oder nur ›unter gewissen Bedingungen‹ erforderlich ist. Wie der ›unbedingte‹ Modus von kantischen Moralvorschriften genauer zu verstehen ist, wird sich bald zeigen. Dass mit den Ausdrücken ›unbedingt‹ und ›bedingt‹ die Notwendigkeit geforderter Handlungen modifiziert wird, erlaubt bereits jetzt das Ausmustern anderer Lesarten des praktisch Unbedingten. Mein vorläufiges Ergebnis beinhaltet zunächst einmal, dass genau genommen nicht Forderungen selber ›unbedingt‹ (oder ›bedingt‹) zu nennen sind. Vielmehr ist bei so genannten ›bedingten‹ oder ›unbedingten Forderungen‹ dies, dass ihnen zufolge jemand etwas Bestimmtes tun muss, von einer Bedingung abhängig – oder »ohne vorausgesetzte Bedingung« (420, Fn.). ›Unbedingt‹ oder ›bedingt‹ ist, recht verstanden, auch nicht die ›Gültigkeit‹ oder die ›Geltung‹ mancher Gebote oder Normen. 27 Auch das von einer Forderung Geforderte, also zumeist die geforderte Handlung, ist es demnach nicht, was von Kant als ›bedingt‹ oder ›unbedingt‹ charakterisiert wird. 28 Habermas ist der Auffassung, dass es »einen speziellen, mit Geboten und Normen verknüpften Geltungsanspruch« gibt. (Vgl. ders., ›Diskursethik‹ : 68 – Hervorh. HK.) Moralische Gebote bringen für ihn, wie für Kant, allemal Verpflichtungen zum Ausdruck. »Verpflichtungen [sind] […] mit einem unbedingten Geltungsanspruch verknüpft« (vgl. ders., ›Erläuterungen‹ : 136 – Hervorh. HK.). ›Ethischen‹ Imperativen, die im Selbstverständnis ihrer Autoren oder Adressaten verankert sind, gesteht er eine nur »bedingte Gültigkeit« zu (vgl. ders., ›Betrachtung‹ : 47). »Eine unbedingte oder kategorische Geltung« reserviert er demgegenüber für »moralische Verpflichtungen« (a. a. O.: 46). – »Daß kategorische Imperative unbedingt gelten«, meint auch Ricken: a. a. O.: 93. – Eine ›unbedingte Geltung‹ wird manchmal auch für Menschenrechte beansprucht: »Dem traditionellen Selbstverständnis nach gelten die Menschenrechte […] unbedingt.« Wohingegen »die Beachtung der ökonomischen Bedingungen von sozialen Menschenrechten eine […] bedingte Gültigkeit nahelegt.« Vgl. S. Gosepath / G. Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Einleitung (der Herausgeber): 20 f. – Hervorh. HK. 28 Rorty hat Kant m. E. so verstanden, als habe dieser die moralisch geforderten Handlungen als unbedingt aufgefasst. Seine Kritik am Kants Unbedingtheitskonzeption moralischer Forderungen fußt wohl auf dieser Unterstellung. Vgl. dazu die Rorty-Darstellung im 3. Kapitel dieses Buches, sowie die Kritik an Rorty im 6. Kapitel. 27

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Handlungen werden auch nicht ›bedingt‹ oder ›unbedingt‹ geboten. Die Unbedingheit eines Gebotes ist in unserem Kontext kein »Modus seines Gebietens« 29 , sondern ein Modus der praktischen Notwendigkeit der geforderten Handlung. Die durch die Ausdrücke ›unbedingt‹ und ›bedingt‹ unterschiedenen Arten von Forderungen Patzigs Ausdruck, a. a. O.: 103. Patzig zufolge ist bei Kant »der eigentliche Träger dieser Kennzeichnung [›hypothetisch‹ bzw. ›kategorisch‹] das Gebot, das ein Imperativ ausspricht.« Dies versteht Patzig so, dass für Kant z. B. »[d]ie Kategorizität [eigentlich: die Unbedingtheit – Einf. HK] des Imperativs […] ein Modus seines Gebietens« sei (a. a. O.). – Auch Cramer führt die Rede, wonach ein Imperativ entweder »›unbedingt‹ oder ›bedingt‹ gebietet.« Vgl. ders., a. a. O.: 160. Kant hat Anlass zu dieser Lesart gegeben, indem er bei der ersten Einführung der Ausdrücke ›hypothetisch‹ und ›kategorisch‹ formulierte: »Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch« (414 – Hervorh. HK). Das klingt jedenfalls so, als habe Kant »nicht an erster Stelle die Imperative, sondern wie sie gebieten, als hypothetisch oder kategorisch« bezeichnen wollen. Vgl. Bittner, »Hypothetische Imperative«: 223. Patzig hält die Verwendung der Ausdrücke« ›hypothetisch‹ und ›kategorisch‹, als Modi des Gebietens, für »unbedenklich« (a. a. O.). Die Frage der Kohärenz dieser Unbedenklichkeitserklärung mit der von Patzig im weiteren Verlauf seines Aufsatzes bevorzugten Erklärung der Unterscheidung hypothetischer und kategorischer Imperative will ich vorerst zurückstellen. Ganz unabhängig von diesem Kohärenzproblem ist die von Patzig erklärte Unbedenklichkeit selber bedenklich: wie der oben im Haupttext folgende Hinweis auf die moralische Indifferenz eines kategorisch-unbedingten ›Modus des Gebietens‹ zeigt. Bittner orientiert sich für seine kritische Behandlung der Kantischen Imperativ-Theorie allein an Kants Formulierung (414), wonach Imperative hypothetisch oder kategorisch ›gebieten‹, erklärt diese für unverständlich – und zieht daraus weitreichende Konsequenzen: »[…] was es heißen soll, bedingungsweise [oder unbedingt – Einf. HK] […] zu befehlen, ist nicht einzusehen.« (223) Dies, und sein Unbefriedigtsein von den Erklärungsbemühungen Cramers und Patzigs, reicht Bittner als Grund für sein »Ergebnis«: »Kants Unterscheidung hypothetischer und kategorischer Imperative weist sich nicht mit einem Kriterium aus. […] Der Unterschied hypothetischer und kategorischer Imperative fällt also dahin.« »Damit wird Kants Moralphilosophie, soweit sie eine Ethik des kategorischen Imperativs ist, unverständlich«. Vgl. auch Bittners spätere, sehr selbstbewusste Berufung auf seinen früheren Aufsatz »Hypothetische Imperative« in seinem Buch Moralisches Gesetz oder Autonomie, 147 f.: »Wie ich […] gezeigt habe, erweist sich die kantische Unterscheidung hypothetischer und kategorischer Imperative als unverständlich, und es ist kein Kriterium für sie gegeben worden.« (A. a. O.: 147.) Es gibt jedoch keinen guten Grund für Bittners ausschließliche, ja nicht einmal für eine vorrangige Orientierung an Kants wenigen Formulierungen, wonach die von ihm unterschiedenen Imperative auf verschiedene Art gebieten. Häufiger formuliert Kant einfach, dass ein Imperativ hypothetisch oder kategorisch ›ist‹. Noch auf der Seite mit dem von Bittner aufgespießten und gegen Kant ausgespielten Satz heißt es bei dem Angegriffenen: »Wenn […] die Handlung bloß wozu anders als Mittel gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, […] so ist er katego-

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

stehen nicht für unterschiedliche Arten des Forderns. Im Blick ist nicht ein Unterschied in der ›Vortragsart‹. Zwar gibt es die hier als Explicans ›unbedingter‹ Forderungen zurückgewiesene Rhetorik des Unbedingten durchaus. Man denke nur an die ›unbedingte‹, ›kategorische‹, ›apodiktische‹ oder auch ›strenge‹ Art, mit der MöchtegernAutoritäten ein ›Ende der Debatte‹ von ihren Parteigenossen oder ihren Kindern fordern. Aber dieser geläufige Umgangston des Unbedingten ist, trotz der Moralisierbarkeit von allem und jedem, als solcher moralisch indifferent und deshalb ›unverdächtig‹, den moralischen Charakter einer Forderung zu spezifizieren. 30 – ›Unbedingt‹ (oder ›bedingt‹) ist, im kantischen Sinne, auch nicht der Akt des Forderns, also eine datierbare ›Sprachepisode‹, die im Äußern oder Erheben einer Forderung besteht. 31 Obwohl, genau genommen, nicht Forderungen selber ›unbedingt‹ genannt werden können, werde ich weiterhin, aus sprachökonomischen Gründen, von ›unbedingten Forderungen‹ sprechen, wo die Forderung von ›Handlungen‹ gemeint ist, die unbedingt getan werden müssen. Der sprachlichen Bequemlichkeit halber rede ich bisweilen auch von ›unbedingt geforderten Handlungen‹, ohne damit anderes als Handlungen zu meinen, die, einer Forderung gemäß, als ›unbedingt notwendig‹ erscheinen.

5.3 Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten Was aber ist nun genau mit der ›Unbedingtheit‹ gemeint, die ich als Modus der Notwendigkeit einer geforderten Handlung klassifiziert habe? Was heißt es, dass jemand, einer Forderung zufolge, etwas unbedingt tun muss? Ist damit etwa gemeint, dass die gebotene Handlung ›unabhängig von allen Bedingungen‹, ›bedingungslos‹, weil risch.« (414 – Hervorh. von ›ist‹ : HK.) Nicht anders formuliert der demnach unfair Attackierte a. a. O.: 415 f., und auch sonst öfters. Zwar hat Bittner der Sache nach Recht damit, dass kategorische und hypothetische Imperative nicht durch die ›Art‹ des Gebietens zu unterscheiden sind (a. a. O.: 216). Er übersieht aber, genau wie Patzig, Cramer und R. P. Wolff, dass Kant beide Arten von Forderungen nicht dadurch, sondern durch einen Unterschied in der praktischen Notwendigkeit der geforderten Handlung unterschieden wissen wollte. 30 Vgl. dazu im 2. Kapitel meiner Schrift den Abschnitt 2.2.2: Unbedingt und kategorisch. 31 Ich verwende hier die Terminologie aus Peter F. Strawsons Aufsatz »Truth«, Teil I: Statements.

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»ohne vorausgesetzte Bedingung« (420, Anm.) und deshalb ›unter allen Bedingungen‹, getan werden muss? Die Rede von Forderungen, die Handlungen ›unbedingt‹ oder nur ›bedingt‹ auszuführen gebieten, legt eine Nominalanalyse in Termini von ›Bedingungen‹ nahe: also eine Bedingungsanalyse des Unbedingten und des Unterschiedes zwischen bedingten und unbedingten Geboten. Demgemäß verlangte eine bedingte Vorschrift eine bestimmte Handlung nur unter einer Bedingung (die erfüllt oder nicht erfüllt sein kann). Wohingegen eine un-bedingte, dem Anschein nach ›nicht-bedingte‹ Vorschrift – nach dem Entfallen einschränkender Bedingungen für die Erforderlichkeit des Geforderten – als eine von Bedingungen freie, von ihnen losgelöste, mithin ›absolute‹ Forderung aufzufassen wäre. Würde eine solche Forderung die geforderten Handlungen uneingeschränkt, für alle Fälle und alle Adressaten 32 , unter allen Umständen, unbesehen irgendwelcher Bedingungen verbindlich machen wollen? Die hier getroffene Unterscheidung zwischen ›bestimmten‹ Forderungsadressaten und ›allen‹ legt die Idee nahe, den Unterschied zwischen bedingten und unbedingten Forderungen durch den unterschiedlichen Umfang des jeweiligen Adressatenkreises zu erfassen: also durch den angeblichen Adressaten-Universalismus einer unbedingten Forderung, und den Adressaten-Partikularismus bedingter Gebote. (Vgl. zum ›Adressaten-Universalismus‹ im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.5: Universalismus.) Dieser Idee entspricht ein Vorschlag, den R. P. Wolff zur Unterscheidung hypothetischer und kategorischer Imperative unterbreitet hat. Wolff nennt den ›Wenn‹-Bestandteil einer als Wenn-Dann-Satz formulierten Forderung deren ›Präambel‹. Um dann mit der Erklärung fortzufahren: »[…] a command […] is binding upon or is valid for or addresses itself to only those rational agents who meet the conditions specified in the preamble to the command.« (Vgl. ders., The Autonomy of Reason: 129.) Ein hypothetischer Imperativ wäre demnach ein solcher, der nur jene Vernunftagenten anspricht, welche den Zweck teilen, zu dessen Verwirklichung eine Handlung geboten wird. Hingegen: »[…] the preamble to a categorical imperative specifies conditions which are necessarily met by all rational agents as such.« (A. a. O.: 130 – Hervorh. HK.) Der Einschränkung des Adressatenkreises bei bedingten Forderungen stünde dessen totale Entschränkung bei unbedingten Geboten gegenüber. Was bei letzteren die sprachliche Praxis nahelegt, die Adressaten gar nicht mehr ausdrücklich zu erwähnen. Wolffs Vorschlag nah verwandt ist die Erklärung, die Bittner von hypothetischen im Unterschied zu nicht-hypothetischen Imperativen gegeben hat. (Vgl. Bittner, »Hypothetische Imperative«: 211 – alle weiteren Bittner-Zitate entstammen diesem Aufsatz.) Bittners »Lösung« (214) gemäß nennt die »Bedingung«, unter der beim hypothetischen Imperativ eine Handlung erforderlich ist, »eine Eigenschaft«, nämlich ein »Wollen des Angeredeten«: »[…] wenn der Angeredete diese Eigenschaft besitzt, dann, aber auch nur dann richtet sich der […] ausgesprochene Befehl an ihn.« (215) Der Sache nach kann man natürlich, wie Wolff und Bittner dies tun, verschiedene Forderungen nach ihrem unterschiedlichen Adressatenkreis unterscheiden. Zwar hat Kant

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Eine solche Lesart des praktisch ›Unbedingten‹ wäre falsch. Sie ist allein schon deshalb verkehrt, weil die kantisch verstandene Unbedingtheit moralischer Forderungen allein deren Unabhängigkeit von Zweckbedingungen meint. Es handelt sich dabei um Zweckvoraussetzungen, die ein Forderungsadressat erfüllen kann oder nicht, also um dessen Zwecksetzungen. Eine ›bedingte‹ Forderung verlangt eine Handlung nur unter der Bedingung, dass jemand sich einen Zweck zu Eigen macht, den die gebotene Handlung zu verwirklichen verspricht.33 Demgegenüber erklärt, Kant zufolge, eine ›unbedingte‹ Forderung die vorgeschriebene Handlung »ohne Beziehung auf […] einen anderen Zweck […] als […] notwendig« (414). Diese Unabhängigkeit von Zweckbezügen ist damit vereinbar, dass die ›unbedingte‹ Erforderlichkeit einer Handlung von andersartigen, ›unzweckmäßigen‹ Bedingungen abhängig ist. So ist auch eine ›unbe-

diese Unterscheidungsmöglichkeit nicht in den Vordergrund gestellt; für ihn war der verschiedene Adressatenkreis bedingter und unbedingter Gebote wohl eher die Folge von deren primär anderswo zu ortender Verschiedenartigkeit. Aber weder Wolf noch Bittner beanspruchen mit ihrem Vorschlag, Kants Unterscheidungsart zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen zu treffen. Vielmehr machen beide ihren Vorschlag, weil sie Kants Unterscheidungsversuch(e) ungenügend finden. So wie sie Kant nun einmal verstehen. Zwar können Wolff und Bittner plausibel machen, dass man verschiedenartige Gebote durch ihren unterschiedlichen Adressatenkreis unterscheiden kann. Sie liefern aber keinen Grund dafür, dass unterschiedliche Forderungen sinnvollerweise nur nach dem Umfang ihrer Adressaten zu unterscheiden sind. Vor allem aber bleibt erneut festzuhalten, dass beide (so wenig wie Cramer, Patzig u. a. m.) Kants Auffassung gar nicht beachtet haben, wonach sich unterschiedliche Forderungen hinsichtlich der praktischen Notwendigkeit der geforderten Handlung unterscheiden. 33 Patzig schreibt: »Der hypothetische Imperativ ist […] eine bedingte Forderung«. Er »stellt eine Forderung an den Adressaten: handle so und so, tue dies und das – aber unter Voraussetzung dessen, daß du etwas anderes erreichen willst, dir zum Ziel wählst.« (A. a. O.: 107.) »[…] hypothetisch sind Imperative genau dann, wenn sie Forderungen aussprechen, von denen es sinnvoll ist, anzunehmen, daß sie nur im Hinblick auf […] Interessen und Wünsche des Adressaten ergehen.« (A. a. O.: 110.) Dass Patzig vom Bezugspunkt eines hypothetischen Imperativs lieber in Termini von ›Zielen‹, ›Interessen und Wünschen‹ ihrer Adressaten als von deren ›Zwecken‹ spricht, mag zur Folge gehabt haben, dass er in den zitierten Sätzen die für solche Imperative wesentliche Bestimmung zu erwähnen versäumt, dass Forderungsautoren und/oder -adressaten glauben müssen, dass eine Mittel-Zweck-Relation zwischen geforderter Handlung und dem damit erstrebten Ziel besteht. Vgl. dazu Wiggins, a. a. O., über hypothetische Forderungen: »The thing that is said to be required […] is required only by the persuit of an aim that someone could perfectly well, without disobedience to the requirement, disown or abandon.«

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Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten

dingt‹ gebotene Handlung gegebenenfalls nur unter bestimmten Situationsbedingungen erforderlich. 34 Noch die für das Vorliegen einer ›unbedingten‹ Forderung verlangte Unabhängigkeit von Zweckbedingungen ist aber zu viel verlangt. Auch nach Kants Auffassung. Vielmehr darf eine im anvisierten Sinne ›unbedingte‹ Forderung durchaus zweckbezogen sein, jedoch nur auf bestimmte Zwecke. Von diesen setzt Kant, wie wir sehen werden, ›andere‹ Zwecke ab, auf die eine unbedingt geforderte Handlung nicht, oder nur auf eine unwesentliche Weise, bezogen sein darf. Es muss sich bei der zulässigen Zweckbezogenheit eines unbedingten Gebotes um einen für seinen Unbedingtheits-Charakter unerheblichen Zweckbezug handeln. Wohingegen eine andere, weitergehende Zweckbedingtheit bei solchen Forderungen ausgeschlossen sein muss. Dieses intrikate ›Beziehungsangelegenheit‹ zwischen unbedingten Forderungen und den ihnen erlaubten und verbotenen Zweckbezügen gilt es nun zu klären. Durch einen Zweck ›bedingt‹, und insofern von ihm abhängig, ist eine jede, auch eine unbedingte Forderung dadurch und in der Weise, dass der Fordernde mit ihr auf etwas aus ist, mit ihr etwas erreichen möchte, etwas damit ›bezweckt‹. Dieses Bezweckte ist der intentionale Gegenstand des Forderns, ist, mit einem andern Wort, ein ›Zweck‹. 35 Dieser Zweck ist, mit Kant zu reden, eine ›mögliche Handlung‹ : »Alle Imperativen […] stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung […] vor.« (414) Alle Imperative, also auch die moralisch-unbedingten. So »unleugbar« Kant es fand, »daß alles Wollen [also auch ein moralisches] einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse« 36 , so selbstverständlich wird es ihm gewesen sein, denselben intentionalen Zweckgegenstand einer jeden Auch Ricken, der sich an Kants Rede von ›kategorischen Imperativen‹ und nicht an der Rede von ›unbedingten Geboten‹ orientiert hat, hält für »den Prädikator ›kategorisch‹« fest, dass dadurch »nicht jede Bedingung ausgeschlossen wird. […] Nicht ausgeschlossen werden […] Bedingungen, die wir als Umstände im weitesten Sinne bezeichnen […] können.« Vgl. ders., a. a. O.: 92. 35 Vgl. Kants Bestimmung eines ›Zwecks‹ als »Materie des Willens« in der Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Vorrede: 376. 36 Vgl. Kant, KprV: 34 – Hervorh. und Einfügung HK. Vgl. dazu den zweiten Satz des folgenden Zitates aus Woods Kant’s Ethical Thought: »A categorical imperative is a practical principle that constrains the will not relative to any end already given, but unconditionally and irrespective of any end. This does not mean that when a rational will follows such an imperative its actions lack an end (for Kant, no action can lack an end).« Vgl. ders., a. a. O.: 70. 34

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

Vorschrift zuzubilligen, die eine Handlung willentlich herbeizuführen fordert. 37 Ist doch eine Forderung, in 2. Person, das Gegenstück zu einer Willensäußerung, einer Absichtsbekundung in 1. Person. Mit anderen Worten ist eine jede, auch eine unbedingt geforderte Handlung ein Fall von (ggf. gefordertem) absichtlichem Verhalten; und mit jeder Absicht wird immer etwas beabsichtigt. Die Selbstverständlichkeit, mit der eine jede, auch eine unbedingte Forderung, auf eine bezweckte Handlung aus ist, wollte Kant wohl dadurch zum Ausdruck bringen, dass er in bedingten Forderungen die Notwendigkeit der geforderten Handlung von einem »anderen«, weiteren Zweck abhängig sein ließ (415 f.). Was impliziert, dass in Geboten ohne ›andere‹ Zweckbedingung gleichwohl eine Beziehung zu dem ›einen‹ Zweck besteht, auf den eine jede, auch eine unbedingte Forderung, gerichtet ist. Dieser Zweckbezug kann es also nicht sein, der, Kant zufolge, ›bedingten‹ Forderungen erlaubt und für sie kennzeichnend sein soll, ›unbedingten‹ Forderungen hingegen vorenthalten werden muss – und durch den sich diese Forderungen voneinander unterscheiden lassen. Auf einen weiteren Zweck aber dürften demnach ›unbedingt‹ geforderte Handlungen nicht bezogen sein? Meint Kant das? Und stimmte das, der Sache nach? Und was, zuvörderst, ist mit der Beziehung einer geforderten Handlung zu einem ›anderen‹, weiteren Zweck gemeint? Mit einer Beziehung, aufgrund deren eine ›unbedingt‹ geforderte Handlung insoweit nicht geboten sein darf, wie davon ihre Charakteristik als unbedingte betroffen wäre. Weitere, ›andere‹ Zwecke sind für Kant solche Handlungsziele, zu deren Erreichen eine selber bezweckte – und für sich allein bezweckbare – Handlung ausgeführt werden kann. 38 Diese Handlung, in ihR. P. Wolff hat diesen für Kant selbstverständlichen Punkt letzterem nicht zugebilligt und ihn für die Auffassung gerügt, dass der »kategorische Imperativ […] die Handlung ohne Beziehung auf […] irgend einen anderen Zweck, für sich als […] notwendig erklärt« (GMS: 415). Wolffs kritischer Kommentar: »Now this way of talking just doesn’t make any sense. […] a categorical imperative cannot ›directly command a certain conduct without making its condition some purpose to be reached by it,‹ for that is the same as saying that it commands an agent to engage in purposive action which has no purpose.« Vgl. Wolff, a. a. O.: 131. – Wolff sah offenbar nicht den Unterschied zwischen der (Kant ganz selbstverständlichen) ›banalen‹ Zweckbeziehung einer jeden, auch einer moralisch-unbedingten Forderung, und der von Kant problematisierten Beziehung einer Forderung auf ›andere‹, weitere Zwecke. 38 Vgl. zu diesem zweiten kantischen Zweckbegriff seine Bestimmung: »Zweck ist ein 37

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Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten

rer Funktion als zweckdienliches Werkzeug betrachtet, nennen wir ein Mittel zum (weiteren) Zweck. Das Verhältnis eines Mittels zum damit verfolgten Zweck bedeutet demnach eine Staffelung von Zwecken, deren einer dem anderen (kontextrelativ) untergeordnet wird. Den Brückenschlag zwischen dem ersten, ›unmittelbaren‹ Handlungszweck und dem ›anderen‹, mittleren oder End-Zweck, ermöglicht jener ›Stoff‹, der als ›Zement des Universums‹ dessen Zusammenhalt besorgt: Kausalität. 39 Dem praktischen Verhältnis von Mittel und Zweck liegt die jeweilige theoretische Überzeugung zugrunde, dass das Ereignis, welches im Ergreifen eines bestimmten Mittels besteht, unter ›stimmigen‹ Rahmenbedingungen ein anderes Ereignis herbeiführt, welches wir als das Erreichen eines Zwecks begrüßen (oder fürchten). Wenn eine bestimmte Handlung der Realisierung eines ›anderen‹ Zwecks zu dienen vermag, kann sie sinnvollerweise zu diesem Zweck gefordert werden. Verfolgt jemand den ›weiteren‹ Zweck, ist die um seinetwillen geforderte »Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will«, für Kant praktisch notwendig (414). Sie erscheint dann als notwendig »im Angesicht des erhofften Zwecks«. 40 Dies ist der Fall bei den von Kant so genannten ›hypothetischen Imperativen‹, unter welcher Bezeichnung er bedingte Forderungen thematisiert hat. Diese heißen ›bedingt‹, weil die Verfolgung eines ›weiteren‹ Zwecks bei ihnen die Bedingung dafür ist, dass der Forderungsadressat das probate Mittel ergreifen muss. Hingegen soll, Kant zufolge, die mit einer unbedingten Forderung bezweckte »Handlung […] für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, […] objektiv-notwendig« sein (a. a. O. – Hervorh. HK). Eine unbedingte Vorschrift ist für ihn eine solche, die das verlangte »Verhalten unmittelbar gebietet« (416 – Hervorh. HK). Die letztere Bestimmung lässt sich durch eine harmlose Paraphrase erhellen. Ein un-mittel-bar Gebotenes ist nicht mittel-bar, d. h. hier: ›nicht als Mittel‹ notwendig. 41 Weniger verständlich ist Gegenstand der Willkür […], durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung [»die als Mittel auf einen Zweck gerichtet« ist], diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird.« Vgl. Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung: 381. Der von mir eingefügte Satzteil steht bei Kant im nachfolgenden Satz. 39 Vgl. dazu John Mackie, The Cement of the Universe. 40 Vgl. Goethe, in seiner Rede »Zum Shakespeares-Tag«. 41 Bittner zufolge ist der »Hauptpunkt« gegen die Verständlichkeit von Kants Verständnis hypothetischer (und in der Folge auch kategorischer) Imperative dessen Explikation A

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Kants andere Einlassung, wonach eine ›unbedingt‹ geforderte Handlung ›für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, objektiv-notwendig‹ sei. 42 Eine erste Lesart dieser Formulierung kann durch das Wörtlein ›ohne‹ insinuiert werden und Kant als jemanden verstehen, der einer unbedingt gebotenen Handlung die ›Beziehung hypothetischer Imperative mittels der Zweck-Mittel-Relation. In dieser »Hauptfrage« behauptet Bittner, dass er nicht verstehe, »was es heißt, eine Handlung als Mittel zu einem Zweck zu gebieten. Natürlich ist nichts Schwieriges an dem Gebot einer Handlung, die tatsächlich Mittel zu einem gegebenen Zweck ist. Was es heißt, sie als ein Mittel zu gebieten, ist nicht klar.« (A. a. O.: 222.) Es ist auch nichts Schwieriges daran, zu entdecken, wie Bittner dem Gegenstand seines Kritikbedürfnisses den Stein erst unterschiebt, an dem er sodann Anstoß nimmt. Zwar zitiert er zunächst Kants Aussage, wonach hypothetische Imperative »die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will, zu gelangen« ›vorstellen‹ (vgl. 414 – Hervorh. HK.). Um Kant ans Leder zu können, ignoriert dessen Kritiker aber sogleich Kants Rede von ›praktischer Notwendigkeit‹ und ersetzt sie, in seinem nächsten Satz, durch eine Formulierung im Sinne jener problematischen Kant-Einlassung, wonach alle Imperative »entweder hypothetisch oder kategorisch« »gebieten« (414 – Hervorh. HK). So als hätte Kant geschrieben: »hypothetische Imperative gebieten eine Handlung als Mittel zu einem angestrebten Zweck« (Bittners Satz, 222 – Hervorh. HK). An welchen untergeschobenen Satz Bittner seine kritische Anmerkung knüpfen kann, was eine so oder so geartete Art des Gebietens sei, das verstehe ›man‹ nicht. Es ist wohl vielmehr so, daß Bittner der Unterschied zwischen der Rede, ›dass jemand etwas tun muss‹ – etwa weil es die (relationale) Eigenschaft besitzt, ein probates Mittel zum angepeilten Zweck zu sein –, und der anderen, im Alltag sehr wohl verständlichen Rede davon, dass etwas auf bestimmte ›Art‹ (z. B. streng’) geboten wird: dass Bittner diesen Unterschied nicht zu kennen scheint. Mithin ist Bittners »Hauptpunkt« gegen Kant durch eine Ungenauigkeit erschlichen. Und andere Explikationsversuche Kants als den zu Unrecht inkriminierten betrachtet dessen wenig wohlwollender Kritiker erst gar nicht. 42 Kants Spezifizierung der Notwendigkeit einer unbedingt geforderten Handlung, als »für sich selbst […] notwendig«, wird erst im 7. Abschnitt dieses Kapitels: Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen, expliziert. Bittner nimmt Kants Äußerung, der zufolge eine unbedingt gebotene Handlung ›für sich selbst notwendig‹ sei, als sei damit für Kant dasselbe gesagt wie damit, dass dieselbe Handlung ›objektiv notwendig‹ ist: »Weiter sei angenommen, daß die Bestimmungen ›für sich selbst notwendig‹ und ›objektiv notwendig‹ […] nicht mehr bedeuten, als daß im kategorischen Imperativ die Handlung nicht als Mittel zum Zweck geboten wird« (vgl. Bittner, a. a. O.: 222 – Hervorh. HK). Bittners Identifizierung beider ›Bestimmungen‹ geschieht zu Unrecht. Denn: Erstens hat Kant mit der Rede von forderungsgemäß ›für sich selbst notwendigen‹ Handlungen allein kategorische Imperative gekennzeichnet. Dagegen sind für ihn auch die von hypothetischen Imperativen geforderten Handlungen ›objektiv notwendig‹. Denn solche Imperative sind für Kant, nicht anders als die kategorischen, ›nötigende‹ ›objektive Prinzipien‹ (›Gebote‹). Deren Objektivität besteht darin, dass sie »sagen, daß

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auf einen anderen Zweck‹ verbietet. So gelesen, wäre Kants Auffassung jedenfalls falsch. Denn auch unbedingt geforderte Handlungen sind nicht nur mögliche Mittel zu diversen Zwecken. Sondern sie dürfen dies getrost auch sein; wo sie es sind, ist dies moralverträglich. Die Zweck-Mittel-Relation ist nämlich als solche moralisch neuetwas zu tun oder zu unterlassen gut [und nicht bloß angenehm] sein würde, […] aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind« (413 – Einf. HK). Dies sind Feststellungen, die Kant für alle Imperative trifft, nämlich bevor er (414) zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen unterscheidet. – Anders, und offenkundig falsch, meint Roger Scruton: »[…] obgleich hypothetische Imperative Geltung beanspruchen mögen, können sie niemals objektiv sein, da sie stets bedingt sind.« Vgl. ders., Kant: 95. Zweitens: Dass Bittner auf die eben kritisierte Gleichsetzung verfällt, mag mit daran liegen, dass er in seinem gleichmacherischen Satz die kantische Rede von der praktischen Notwendigkeit der geforderten Handlung, die bei kategorischen Imperativen ›für sich selbst‹ bestehen soll, im Sinne einer Art des Gebotenseins, nämlich des »nicht als Mittel geboten«-Seins, umdeutet. Vgl. dazu die vorige Fn. Hätte Bittner sich an Kants Rede von ›praktischer Notwendigkeit‹ gehalten, hätte er wohl eher bemerkt, daß Kant die ›Objektivität‹, mit der eine Handlung durch einen Imperativ notwendig gemacht, sprich: herbeigenötigt werden soll, allen Imperativen (Geboten) zusprechen wollte; denn eine ›objektive Notwendigkeit‹ drücken, Kant zufolge, alle Gebote aus. Während ›an sich selbst‹ notwendig für ihn nur kategorisch geforderte Handlungen sind. Drittens: Bittner mag Kants ›objektiv notwendige‹ Handlungen deshalb allein mit kategorischen Imperativen assoziiert haben, weil Kant bei der Charakterisierung hypothetischer Imperative einen ›subjektiven Faktor‹ geltend macht und so die Objektivität von deren Nötigungscharakter einzuschränken oder gar aufzuheben scheint. So formuliert er etwa: »Die Ratgebung enthält zwar Notwendigkeit, aber bloß unter subjektiver zufälliger Bedingung […]; dagegen der kategorische Imperativ durch keine Bedingung eingeschränkt wird, und als absolut-, obgleich praktisch-notwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann.« (416) Ähnliche terminologische Schwankungen finden sich im § 1 der KprV, wo es über hypothetische Imperative heißt: »Die Vernunft […] legt in diese ihre Vorschrift zwar auch Notwendigkeit […], aber diese ist subjektiv bedingt«. Wohingegen bei einem kategorischen Imperativ »die Regel nur alsdann objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige subjektive Bedingungen gilt« (KprV: 20 f.). Andererseits heißt es davor, im selben Paragraphen, von allen Imperativen, dass »ein I m p e r a t i v […] die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt«. »Die Imperativen gelten also objektiv« (a. a. O.: 20 – Kursiv-Hervorh. HK). Die subjektive Einschränkung, mit der das hypothetisch Gebotene notwendig ist, erläutert Kant mit den »pathologischen«, vom individuellen »Begehren« abhängigen Zweckbedingungen, unter denen hypothetische Imperative stehen. Das Vorliegen dieser »dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen«, dieses Anpeilen »einer begehrten Wirkung«, »dieses Begehren muß man ihm, dem Täter selbst, überlassen«. Deshalb ist die Notwendigkeit der gebotenen Handlung bei einem hypothetischen Imperativ »nur subjektiv bedingt, und man kann sie nicht in allen Subjekten in gleichem Grade voraussetzen« (KprV: 20). Der widersprüchliche Eindruck, den die zitierten Kant-Stellen, zusammengenommen, A

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tral, auch für Kant: »Ob der Zweck […] gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen.« (415) Die Zweck-Mittel-Relation ist folglich auch neutral gegenüber der Charakterisierung einer Forderung als bedingt oder als unbedingt. Eine unbedingt geforderte Handlung darf aber nicht nur Mittel zu ›weiteren‹ Zwecken sein. Sondern wir wollen gegebenenfalls, gerade bei unbedingt erforderlich erscheinenden Handlungen, dass sie sich auf den Lauf der Dinge ›auswirken‹. Erst recht wollen wir das, wo es sich – oder insofern es sich, Kant zufolge – bei einer unbedingten Forderung um eine moralische handelt. Die moralische Wirksamkeit wird im allgemeinen das Hauptziel sein, das man damit verfolgt, wenn man moralische Vorschriften macht. Mit ihnen wollen wir bei ihren Adressaten moralische Wirkungen, nämlich die Ausführung moralischer Handlungen erreichen. Die zweite, m. E. triftige Lesart der kantischen Aussage, dass eine unbedingt geforderte ›Handlung für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, notwendig‹ ist, entnimmt daraus die Auffassung: Es sei die Notwendigkeit der geforderten Handlung, die bei einer ›unbedingten‹ Forderung nicht von der ›Beziehung auf einen anderen Zweck‹ abhängen darf. Dass hier die geforderte Handlung ›ohne Beziehung auf einen anderen Zweck notwendig‹ sein soll, hieße dann, dass sie nicht durch diesen Zweck, nicht aufgrund der Verfolgung dieses Zwecks notwendig sein darf. 43 Ein zusätzlich zum unmachen, geht auf unterschiedliche Verwendungsweisen der Ausdrücke ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ zurück. Ohne diese gefährlichen Wörtlein lässt sich der Sachverhalt mühelos ohne den Geschmack des Widersprüchlichen formulieren. Alle Imperative (Gebote) erheben, Kant zufolge, den Anspruch, gegenüber allen ihren Adressaten begründbar zu sein, welche folglich, forderungsgemäß, alle die geforderten Handlungen ausführen müssen (praktische Notwendigkeit). Die durch hypothetische Imperative gebotenen Handlungen müssen nur von solchen Adressaten ausgeführt werden / müssen nur gegenüber solchen Adressaten begründet werden können, die einen Zweck verfolgen, zu dessen Verwirklichung eine Handlung gefordert wird. Verfolgt jemand den betreffenden Zweck, dann ist für ihn die Ausführung einer geforderten zweckdienlichen Handlung genauso notwendig, wie sie bei Forderungen notwendig ist, bei denen die geforderte Handlung (angeblich) unabhängig von bestimmten Zwecken, mithin bei beliebigen Zwecksetzungen ihrer Adressaten erforderlich ist. 43 Ricken nimmt für seine Kant-Darstellung des letzteren Formulierung, wonach eine kategorisch-unbedingt geforderte Handlung ›ohne Beziehung auf einen anderen Zweck […] notwendig‹ sein soll, fraglos auf. Demnach wäre bei einem kategorischen Imperativ »eine Handlung […], ohne Beziehung auf ein von ihr verschiedenes Ziel, praktisch notwendig« (vgl. Ricken, a. a. O.: 92 – Hervorh. HK.). Richtig (und in Übereinstimmung

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Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten

mittelbaren Handlungszweck vorausgesetzter Bezugszweck der geforderten Handlung darf bei ›unbedingten‹ Forderungen nicht die Bedingung dafür sein, dass die Handlung für notwendig erachtet wird. M. a. W. darf dieses, dass jemand forderungsgemäß etwas ›unbedingt‹ tun muss, nicht auf einer weiteren Zwecksetzung beruhen. 44 – Diese Lesart der kantischen Aussage ist der ersteren schon deshalb vorzuziehen, weil sie mit der These zusammenstimmt, dass die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung die Notwendigkeit des Geforderten modifiziert – und weil das ›Unbedingtsein‹ einer praktischen Notwendigkeit es ist, was Kant mit der Formulierung zu erklären sucht: dass eine derart geforderte Handlung ›ohne Beziehung auf einen anderen Zweck notwendig‹ ist. 45 mit anderen Einlassungen Rickens) ist hingegen, dass eine kategorisch geforderte Handlung nicht durch ihre Beziehung auf einen Zweck notwendig ist / nicht aufgrund ihres Zweckbezugs getan werden muss. 44 Wenn Kant also einen kategorisch-unbedingten Imperativ als einen erläutert, »der, ohne irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht [d. i. ein ›weiterer‹ Zweck – Einf. HK] als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet«: Dann müssen wir das als die Behauptung lesen, dass der Notwendigkeit des geforderten Verhaltens kein weiterer Zweck ›als Bedingung zum Grunde‹ liegen darf. Diese, meines Erachtens richtige Lesart findet sich auch bei Ricken. Bei kategorisch-unbedingten Geboten wird, ihm zufolge, die »praktische Notwendigkeit der Handlung bzw. Unterlassung […] nicht von den Zielen des Handelnden [eigentlich: des handeln sollenden Forderungsadressaten] als Bestimmungsgrund abhängig« gemacht. »Ausgeschlossen werden [bei kategorisch-unbedingten Geboten] inhaltliche Fiats des Handelnden als Bestimmungsgrund des Willens, auf dem die praktische Notwendigkeit der Handlung beruht.« (Vgl. ders., a. a. O.: 92 – Einf. HK.) Den Ausdruck ›Fiat‹ entlehnt Ricken aus Anthony Kennys Will, Freedom and Power. »Ein Fiat wird durch einen vorschreibenden Satz ausgedrückt«, der »sagt, was im weitesten Sinn dieser Wörter der Fall sein soll oder sein möge. […] Unter den Begriff des Fiat fallen […] Wünsche, Bedürfnisse, Aufforderungen, Bitten, Ziele, Zwecke, Absichten, deontische Aussagen.« Vgl. Ricken, a. a. O.: 56 f. – An Rickens Interpretation des kategorisch-unbedingten Charakters einer Forderung soll hier zunächst nur bekrittelt werden, dass er dabei von Kants unbestimmtem Ausdruck ›Bestimmungsgrund‹ Gebrauch macht, welchen Kant selber bei der Entwicklung seiner Imperativ-Theorie (414 ff.) zu vermeiden wusste. 45 Dass der unbedingte Charakter einer Forderung die Zweckunabhängigkeit der durch sie ausgedrückten Notwendigkeit erfordert, schließt nicht aus, dass eine unbedingt (und sei es moralisch-unbedingt) geforderte Handlung auch und gleichzeitig notwendig ist zum Erreichen eines Zwecks. Insofern sie auch deshalb gefordert wird, geschieht dies freilich infolge einer weiteren, bedingten Forderung. Dieselbe Handlung kann also gleichzeitig von verschiedenartigen Forderungen als notwendig hingestellt werden. Nur als Gegenstand einer unbedingten Forderung darf also eine geforderte Handlung in ihrer Notwendigkeit nicht von Zwecken abhängen. A

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

Die zuletzt entwickelte Lesart seiner Position lässt sich durch Formulierungen untermauern, mit denen Kant im Fall moralischunbedingter Forderungen die Abstraktion von weiteren Zwecksetzungen verlangt. Zum Beispiel: »[…] ein kategorischer Imperativ [bezieht sich] […] allein auf den Willen unangesehen dessen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird, und man kann von der letzteren abstrahieren«. 46 Dabei meint die Bezugnahme einer unbedingten Forderung ›allein auf den Willen‹ dasselbe wie Kants vorhin gestreifte Einlassung, dass die Handlung, welche der Forderungsadressat tun wollen soll, ›an sich selbst notwendig‹ ist. Was durch die »Kausalität« des ›herausgeforderten‹ Willens »ausgerichtet« werden kann – und wovon bei unbedingten Forderungen ›abstrahiert‹ werden muss –, ist die Wirksamkeit der geforderten Handlung als Vehikel der Verwirklichung einer weitergehenden Zwecksetzung. Damit bestätigt sich die Auffassung, dass Kant zufolge einem kategorischen Imperativ die Beziehung auf einen ›weiteren‹ Zweck durchaus erlaubt ist. Dieselbe Abstraktionsleistung wie mit dem eben erläuterten Satz aus der Kritik der praktischen Vernunft verlangt Kant einem ›kategorischen‹ Imperativ – bzw. dessen Autoren und Adressaten – auch in der Grundlegung ab: »Der letztere [kategorische Imperativ] muß […] von allem Gegenstande sofern abstrahieren, dass dieser gar keinen Einfluß auf den Willen habe« (442 – Einf. HK). Der ›Gegenstand‹ ist hier das mit einer weitergehenden Zwecksetzung Bezweckte, der ›Wille‹ ist wiederum der Wille zu der geforderten, unmittelbar zu bezweckenden Handlung. Dass kategorisch-unbedingte Forderungen ›von allem Gegenstande abstrahieren‹ müssen, impliziert die für Kant unproblematische Existenz weiterer Zwecksetzungen, zu deren Realisierung die geforderte Handlung ein Mittel sein kann und darf. Diese Zwecksetzungen dürfen bei einem ›unbedingten‹ Gebot nur keinen ›Einfluss‹ darauf haben, dass die geforderte Handlung als notwendig erachtet und deshalb gefordert wird: »ich soll so oder so handeln, ob ich gleich nichts anderes wollte« (442 – Einf. HK), also gerade so, als ob ich keine weitergehenden Zwecke verfolgte. Diese unbedingte Forderung eines ›Handelns-als-ob‹ ist aber vereinbar mit einer Mittel-Zweck-Relation, von welcher, zur Ermöglichung eines ›unbedingten‹ Forderungscharakters, lediglich abzusehen ist. Ich kann jetzt Kants Auffassung von der ›Unbedingtheit‹ einer 46

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Vgl. Kant, KprV: 21 – Einf. und Hervorh. HK.

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Die ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten

Forderung, soweit sie in Termini von ›Bedingungen‹ formulierbar ist, folgendermaßen zusammenfassen: Bei einem unbedingten Gebot ist von weitergehenden Zweckbezügen der geforderten Handlung insoweit abzusehen, als solche Zwecke nicht die Bedingung sein dürfen, aufgrund deren jene Handlung getan werden muss. Insofern es sich bei diesen ›Zweckbedingungen‹ um Zwecksetzungen der Forderungsadressaten handelt, muss also, genau genommen, bei einer unbedingten Forderung von den weitergehenden Zwecksetzungen ihrer Adressaten abstrahiert werden. Insofern die erklärte Unbedingtheit einer Forderung ein Modus der Notwendigkeit der geforderten Handlungen ist, muss bei unbedingten Forderungen beim Erwägen, ob diese notwendig sind, von den weiteren Zwecksetzungen der Forderungsadressaten abgesehen werden. Damit ist nun auch eine weitergehende Auskunft über die Hinsicht formulierbar, in welcher sich unbedingte von bedingten Forderungen unterscheiden. Zuletzt habe ich in dieser Frage gesagt, dass die unterschiedenen Gebote sich hinsichtlich des ›Modus der praktischen Notwendigkeit‹ unterscheiden, die sie Kant zufolge ausdrücken. Demnach erschienen die von ihnen geforderten Handlungen als entweder unbedingt oder nur unter bestimmten Bedingungen notwendig. Nach der zwischenzeitlich erfolgten Konkretisierung der gemeinten Bedingungen und charakteristischen Bedingungsverhältnisse kann ich die unterschiedlichen Modi praktischer Notwendigkeit, bei bedingten und unbedingten Handlungsvorschriften, präzisieren. Die relevante Modusverschiedenheit besteht allerdings, wie sich zeigte, nicht darin, dass ›bedingt‹ erforderliche Handlungen durch ihre Funktion als Mittel zu angestrebten Zielen zu spezifizieren wären – und ›unbedingt‹ erforderliche Handlungen nicht. Denn auch ›unbedingt‹ geforderte Handlungen erwiesen sich als ggf. erforderliche und erwünschte Mittel zu Zwecken. Wir kommen der Sache hingegen näher, wenn wir unser Augenmerk auf die angepeilten Zwecke richten, welche die Ausführung bedingt geforderter Handlungen notwendig machen – oder, bei unbedingten Geboten, nicht notwendig machen dürfen. Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit legt die Auffassung nahe, dass die Modusverschiedenheit bei unbedingten und bedingten Forderungen auf der unterschiedlichen Instanz beruht, aus der sich die Notwendigkeit der jeweils geforderten Handlungen ergibt. Bei bedingten Forderungen ist es die Zwecksetzung eines Forderungsadressaten, welche die darauf hin geforderte A

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

Handlung als notwendig erscheinen lässt. Hingegen darf bei unbedingten Forderungen die Urheberschaft für die Notwendigkeit der geforderten Handlungen nicht in solchen Zwecksetzungen liegen. Damit ist freilich nur eine negative Charakterisierung unbedingter Forderungen gegeben. Immerhin aber ist daraus zu ersehen, wie eine analoge, positive Charakterisierung dieser Gebote aussehen könnte. Man müsste auch für ›unbedingte‹ Forderungen eine Instanz angeben, welche die von ihnen unbedingt geforderten Handlungen notwendig macht. Der Übereinstimmung der geforderten Handlung mit der Zwecksetzung eines Forderungsadressaten, bei ›bedingten‹ Geboten, müsste bei ›unbedingten‹ Geboten die Übereinstimmung der geforderten Handlung mit einer anders gearteten Instanz entsprechen: eine Relation, welche die Handlung notwendig und a fortiori unbedingt notwendig machen würde. Diese Instanz, so wird sich zeigen, ist bei Kant ›das moralische Prinzip‹.

5.4 Kritik der Bedingungsanalyse Die soweit herausgearbeitete ›Bedingungsanalyse des Unbedingten‹ ist nicht befriedigend. Sie gibt uns nur eine ›negative‹ Erklärung des ›unbedingten‹ Charakters einer Forderung. Sie sagt uns nur, unter welchen Bedingungen die Ausführung einer unbedingt notwendigen Handlung nicht verlangt wird; von welchen Voraussetzungen die Erforderlichkeit des ›unbedingt‹ Geforderten nicht abhängt. Eine ›negative‹ Erklärung des ›Unbedingten‹ scheint die Bedingungsanalyse immerhin geben zu können. Aber auch dies scheint nur so, wie sich gleich zeigen wird. Offenkundiger ist, dass eine solche Analyse keine ›positive‹ Explikation der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung liefert – und nicht zu liefern vermag. Diese Thesen wollen begründet sein. Die meisten Kant-Interpreten haben sich erstaunlicherweise mit einer negativen Charakterisierung der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung zufrieden gegeben. 47 Sie haben damit das Potenzial der kanti47 Diese Feststellung gilt auch für den ansonsten so lehrreichen Aufsatz von Patzig. Bei kategorischen Imperativen wird, ihm zufolge, »auf keinerlei Interesse, auf keinen Wunsch, keine Absicht, kein Ziel Rücksicht genommen«. »Wo diese Rückbezogenheit auf Interessen und Wünsche des Adressaten nicht besteht, da sind die Imperative kategorisch« (a. a. O.: 110 – Herv. HK). Auch Bittner begnügt sich mit einer negativen Explikation des Charakters kategorischer Imperative: »Weiter sei angenommen, daß […] in kategorischen Imperativen die Hand-

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Kritik der Bedingungsanalyse

schen Theorie und der kantischen Texte nicht ausgeschöpft, mithin unterschätzt. Warum reicht, der Sache nach, eine ›negative‹ Erklärung nicht? Um die Notwendigkeit einer ›positiven‹ Unbedingtheits-Charakterisierung zu verdeutlichen, möchte ich zunächst die erklärungslung nicht als Mittel zu einem Zweck geboten wird; so daß kategorisch einfach diejenigen Imperative sind, die nicht hypothetisch sind.« (A. a. O.: 222 – Hervorh. HK.) Die Frage einer positiven Explikation ›kategorischer‹ Imperative wirft Bittner erst gar nicht auf. Das ist ihm wiederum nur dadurch möglich, dass er die Versuche Kants zu einer positiven Explikation stillschweigend übergeht. Ebensowenig bemüht sich Ricken um eine ›positive‹ Charakterisierung moralisch-unbedingter Imperative und begnügt sich mit ›negativen‹ Erklärungen. Während ihm zufolge bei hypothetischen Imperativen die »praktische Notwendigkeit der Handlung […] bedingt [ist] durch ein Ziel des Handelnden« (a. a. O.: 91 – Hervorh. und Einf. HK.): »Die praktische Notwendigkeit der diesem Ziel dienlichen Mittel ist daher durch die Entscheidung des Handelnden bedingt« (a. a. O.: 92 – Hervorh. HK.), sage ein »kategorischer Imperativ […], dass eine Handlung an sich, ohne Beziehung auf ein von ihr unterschiedenes Ziel, praktisch notwendig ist«. (A. a. O. – Hervorh. HK.) »Ausgeschlossen werden [bei kategorischen Imperativen] inhaltliche Fiats des Handelnden als Bestimmungsgrund des Willens, auf dem die praktische Notwendigkeit der Handlung beruht.« (A. a. O. – Einf. und Hervorh. HK.) Bei kategorischen Imperativen wird »[…] die objektive praktische Notwendigkeit der Handlung […] nicht von den Zielen des Handelnden als Bestimmungsgrund abhängig« gemacht (a. a. O.: 92 f. – Hervorh. HK). Wenn Ricken, wie zitiert, einmal sagt, »dass eine [kategorisch geforderte] Handlung an sich, ohne Beziehung auf ein von ihr unterschiedenes Ziel, praktisch notwendig ist« (a. a. O. – Einf. und Hervorh. HK), dann ist das zwar eine ›positive‹ Charakterisierung, die eine Formulierung Kants aufnimmt. Diese aber ist ohne eine weitergehende Analyse nichts wert. Außerdem sieht es so aus, als halte Ricken die dem Ausdruck ›an sich‹ folgende negative Charakterisierung (»ohne Beziehung auf ein von ihr unterschiedenes Ziel, praktisch notwendig«) für eine Explikation des ›An-sich-notwendig-Seins‹. – Vgl. zum Verständnis des ›An-sich-Gutseins‹ einer unbedingt geforderten Handlung im jetzigen Kapitel den Abschnitt 5.7: Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen. Auch Wood gibt sich mit einer ›negativen‹ Explikation moralisch-kategorischer Imperative zufrieden: »A categorical imperative is a practical principle that constrains the will not relative to any end already given, but unconditionally and irrespective of any end.« Vgl. ders., a. a. O.: 70 – Hervorh. HK. Vgl. ders., a. a. O.: 61. – So ist es nicht verwunderlich, dass auch Schönecker/Wood in ihrem Kant-Kommentar nur Kants negative Charakterisierungen kategorischer Imperative kennen: »ihre Geltung […] [ist] unabhängig von subjektiven Interessen und Neigungen […]; und tatsächlich sagt Kant […] nicht mehr als dies (dass der KI ›durch keine Bedingung eingeschränkt wird‹«. Vgl. Dieter Schönecker / Allen W. Wood: Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹ : 108 – Einf. HK. Vgl. dazu meine Rezension »Kants ›Grundlegung‹ : neu ediert, kommentiert, interpretiert«: 128. John Rawls gibt in A Theory of Justice zunächst eine ›negative‹ Charakterisierung kategorisch-unbedingter Imperative: »[…] by a categorical imperative Kant understands a principle of conduct that applies to a person in virtue of his nature as a free and equal A

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

bedürftige Verbindlichkeit moralischer Gebote in Erinnerung rufen. 48 Die deklarierte bloße Unabhängigkeit einer Handlungsnotwendigkeit von Bedingungen – nämlich von Zwecksetzungen des Forderungsadressaten – vermag nicht verständlich zu machen, aufgrund wovon dieser Adressat zur Ausführung der geforderten Handlung ›verbunden‹ sein sollte. Erst recht bei einer ›unbedingten‹ Forderung wird der Forderungsempfänger aber wissen wollen, welche Instanz das Geforderte für ihn verbindlich macht. Die benötigte ›Verbindlichkeitserklärung‹ kann aber nur durch eine positive Explikation jener ›Unbedingtheit‹ gegeben werden. Zudem vermag eine bloß negative Explikation des ›unbedingten‹ Charakters einer Forderung – als nicht-bedingtes Gebot – die moralische Signatur einer Forderung nicht zu erfassen: gleichgültig, ob unbedingte Forderungen allemal moralische sind, oder nicht. Eine negative Erklärung kann dies deshalb nicht, weil es noch andere als moralische Forderungen gibt, die unabhängig von den Zwecksetzungen ihrer Adressaten von diesen befolgt werden müssen. Man denke nur an gewisse obligatorische Züge beim ›Mensch-ärgere-dichnicht‹-Spiel. Wer sich erst einmal aufs Mitspielen eingelassen hat, hat sich damit einigen nicht-hypothetischen und mitnichten moralischen Spielregeln unterworfen. Ähnliches gilt für viele nicht-hypothetische Regeln des Straßen- oder Gesellschaftsverkehrs, die keine ›moralischen‹ Erfordernisse formulieren. Gebraucht wird also, will man den moralischen Charakter ›unbedingter‹ Moralgebote herausbringen, eine positive Erklärung von deren Unbedingtheit. Dass eine ›positive‹ Explikation des praktisch Unbedingten durch die vorgeführte Bedingungsanalyse nicht zu bekommen ist, hat einen banalen Grund. Eine solche Analyse müsste ja, als positives Komplement zu der bloß negativen Bestimmung, wonach unbedingte Gebote unabhängig von weiteren Zwecksetzungen ihrer Adressaten befolgt werden müssen, Zweckbedingungen für die Notwendigkeit von Handlungen angeben, die ex hypothesi unabhängig von rational being. The validity of the principle does not presuppose that one has a particular desire or aim. Whereas a hypothetical imperative by contrast does assume this: it directs us to take certain steps as effective means to achieve a specific end.« (253 – Hervorh. HK.) Seine ›positive‹ Bestimmung des kategorischen Charakters von GerechtigkeitsPrinzipien lautet: »To act from the principles of justice is to act from categorical imperatives in the sense that they apply to us whatever in particular our aims are.« (A. a. O.) 48 Vgl. zum Folgenden im 2. Kapitel den Schlussteil des Abschnitts 2.2.2: Unbedingt und kategorisch.

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Kritik der Bedingungsanalyse

solchen Bedingungen ausgeführt werden müssen. Der Versuch, den ›unbedingten‹ Charakter einer Forderung in Termini von ›Zweckbedingungen‹ zu erfassen, führt demnach in eine unbehebbare Erklärungsnot. Weitere Gründe gegen die Bedingungsanalyse weisen über diese hinaus und auf einen alternativen Erklärungsansatz unbedingter und bedingter Forderungen hin. 1. ist unklar, was mit dem ›Bedingtsein‹ (bzw. Nicht-›Bedingtsein‹) gemeint ist, mit dem die Bedingungsanalyse ihre These formuliert. 2. ergibt eine genauere Betrachtung der Bedingungen, durch welche die Bedingungsanalyse den jeweiligen Forderungscharakter zu erfassen versucht, dass sie selber auf eine Erklärung in Termini von Gründen hinausläuft. Ad 1.: Zwar scheint uns die Bedingungsanalyse zu verraten, wodurch eine Forderung im Fall bedingter Gebote bedingt ist und wodurch sie im Fall ›unbedingter‹ Forderungen nicht bedingt sein darf. (Es scheint nur so, wie sich unter 2. ergibt.) Sie lässt aber unbestimmt, in welchem Sinne dabei von einem ›Bedingtsein‹ die Rede ist. Eine kausale Bedingtheit bzw. Nicht-Bedingtheit kann nicht gemeint sein – nicht einmal bei einer ›bedingten‹ Forderung. Denn bei ihr liegt eine (angenommene) Kausalrelation dem Zweck-MittelVerhältnis lediglich zugrunde. Wenn die kausale Lesart des in Frage stehenden ›Bedingtseins‹ ausscheidet, dann kann es sich dabei eigentlich nur um ein epistemisches Bedingtsein handeln, also um die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Erforderlichseins verlangter Handlungen von verschiedenartigen Gründen. Dass eine geforderte Handlung ›unbedingt‹ auszuführen ist, müsste demnach heißen, dass sie nicht aus einer bestimmten Art von Gründen heraus getan werden darf – nämlich nicht aus zweckorientierten Gründen. Wohingegen ›bedingte‹ Forderungen durch zweckorientierte Gründe zu beschreiben wären, aufgrund deren bei ihnen das Geforderte getan werden muss. Der Begriff der ›Bedingtheit‹, mit dem die Bedingungsanalyse operiert, scheint also nur mit Hilfe des Begriffs von Handlungsgründen explizierbar zu sein. Ad 2.: Die (recht verstandene) Bedingungsanalyse läuft selber auf eine Erklärung in Termini von ›Gründen‹ hinaus. Darauf kommt man, wenn man die Frage aufwirft, worin genau die Bedingung besteht, durch deren Voraussetzung oder Fehlen die Bedingungsanalyse den Charakter bedingter oder unbedingter Gebote erfassen wollte. Diese Bedingung ist, genau genommen, nicht der erstrebte Zweck A

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

selber, zu dessen Erreichen die geforderte Handlung als Mittel geboten wird – oder das Fehlen einer solchen Zweckvoraussetzung. Die Bedingung besteht vielmehr, bei einer ›bedingten‹ Forderung, darin, dass man jenen Zweck erstrebt (und dass man das geforderte Mittel für zweckmäßig erachtet). Diese ›dass‹-Sätze aber artikulieren Handlungsgründe. So enthält, Kant zufolge, die »Ratgebung […] zwar Notwendigkeit, die aber bloß unter subjektiv zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann« (416 49 ). Diesem indirekten Fragesatz entspricht ein assertorischer ›weil‹-Satz, der einen Grund artikuliert: ›weil dieser Mensch jenes zu seiner Glückseligkeit zählt‹. Dementsprechend wäre die von einem ›unbedingten‹ Gebot ausgedrückte Notwendigkeit nicht dadurch ›bedingt‹, dass man einen Zweck erstrebt und dass man die gebotene Handlung für das probate Mittel zum Zweck hält. Mit anderen Worten: Weil jemand einen bestimmten Zweck verfolgt und weil er eine (geforderte) Handlung als das geeignete Mittel zum Zweck erachtet, muss er bei einer ›bedingten‹ Forderung die verlangte Handlung ausführen. Wohingegen ›unbedingte‹ Forderungen nicht deshalb auszuführen sind, weil sie von ihren Adressaten für zweckdienlich angesehen werden. Solche ›weil‹-Sätze aber formulieren Gründe für eine (bedingt) geforderte Handlung – oder sie formulieren Gründe, aus denen ›unbedingt‹ geforderte Handlungen nicht ausgeführt werden dürfen. Wenn demnach die ›Bedingungsanalyse‹ von Forderungen auf deren Explikation in Termini von ›Gründen‹ hinausläuft, dann ist sie nicht einmal ›bei sich zu Hause‹ erfolgreich, also bei der Beschreibung bedingter Gebote. Denn nicht die Abhängigkeit von Zweckbedingungen charakterisiert bedingte Vorschriften. Vielmehr hängt (auch) bei ihnen die Notwendigkeit des Geforderten davon ab, dass bestimmte epistemische Bedingungen auf Seiten der Forderungsadressaten erfüllt sind. Diese müssen deshalb forderungsgemäß handeln, weil sie von dem Erfülltsein jener Bedingungen überzeugt sind – also weil sie die relevanten Handlungsgründe haben. ›Unbedingte‹ Forderungen sind bisher – auch durch ihre Charakterisierung mit Hilfe von Gründen – nur ›negativ‹ charakterisiert worden: durch die Gründe, aus denen unbedingt erforderliche Handlungen nicht ausgeführt werden dürfen. Eine ›positive‹ Charakterisierung unbedingter Forderungen steht nach wie vor aus. Diese Cha49

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Hervorh. HK. Kant hebt den Ausdruck »Ratgebung« hervor.

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Der ›reasons approach‹

rakterisierung ist jedoch in Termini von Gründen unschwer zu geben. So hat denn auch Kant seine ›positive‹ Unbedingtheits-Explikation in Termini von Gründen gegeben. Diese beiden Behauptungen sind in den folgenden Kapitelabschnitten zu begründen.

5.5 Der ›reasons approach‹ ›Auf die Gründe kommt es an!‹ Dieser Satz könnte als ›Slogan‹ über dem reasons approach zur Unterscheidung verschiedenartiger Forderungen stehen. Man kann diesen Ansatz zur Charakterisierung von Handlungsvorschriften durch die Variation eines bekannten SellarsDiktums erläutern: ›Wir charakterisieren ein Gebot, indem wir es in den logischen Raum praktischer Gründe stellen.‹ 50 Die damit anvisierte Auffassung erfasst den Unterschied zwischen verschiedenartigen Forderungen durch die Verschiedenartigkeit der Gründe, aus denen Handlungen gut geheißen, deshalb gefordert werden und forderungsgemäß getan werden müssen. Dies gilt auch für den Unterschied zwischen ›bedingten‹ und ›unbedingten‹ Forderungen. Die Forderungsanalyse in Termini von Gründen kann man sich in der Manier eines Kochrezepts zurechtlegen: Man nehme (1.) die kantische Annahme, dass Forderungen die (bedingte oder unbedingte) praktische Notwendigkeit des damit Geforderten ausdrücken. Man füge dem (2.) die Interpretationsthese hinzu, wonach die Ausdrücke ›bedingt‹ und ›unbedingt‹ diese praktische Notwendigkeit ›modifizieren‹. Damit verbinde man (3.) die Überzeugung, dass es für die Charakterisierung unterschiedlicher Forderungen auf die Gründe für das jeweils Geforderte ankommt. Dann liegt (4.) als Schlussfolgerung auf der Hand, dass sich bedingte und unbedingte Forderungen durch die verschiedenartigen Gründe unterscheiden, aus denen das jeweils Geforderte getan werden muss. – Damit gibt dieser ›reasons approach‹ die vermutlich beste Antwort auf die Frage nach der Hinsicht, in der sich bedingte und unbedingte Handlungsvorschriften unterscheiden. Wilfried Sellars argumentiert für seinen sog. ›Psychologischen Nominalismus‹ mit der Behauptung, »that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.« Vgl. ders., Empiricism and the Philosophy of Mind, section 36: 76. 50

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

Dass eine solche Analyse in Termini von ›Gründen‹ einen plausiblen Ansatz darstellt, um die Eigenarten bedingter und unbedingter Vorschriften zu erfassen, zeigte sich bereits bei meiner Kritik an der ›Bedingungsanalyse‹. Dabei wurden die verschiedenartigen Gründe für bedingte und unbedingte Forderungen schon ansatzweise entwickelt. (Allerdings waren die Gründe für ›unbedingt‹ gebotene Handlungen bis dato nur ›negativ‹ formulierbar.) Indem ich nun Kants Ansätze zu einer gründeorientierten Explikation ›bedingter‹ und ›unbedingter‹ Gebote weiter entfalte, kann ich die Meriten eines ›reasons approach‹ noch deutlicher herausarbeiten. Bei Kant stehen die Bedingungsanalyse und der ›reasons approach‹ zur Erklärung des jeweiligen Forderungscharakters unreflektiert nebeneinander. Die m. E. bessere Hälfte seiner Erklärungsversuche weist ihn jedoch als Anhänger eines ›reasons approach‹ aus. Denn einige seiner Explikationen sind ausdrücklich in ›terms of reasons‹ formuliert. Und andere sind unschwer in Termini von Gründen reformulierbar. 51 1. Am eindeutigsten zu greifen ist Kants Charakterisierung unAls Vertreter eines solchen ›reasons approach‹ zur Charakterisierung verschiedenartiger Forderungen wird Kant auch von Thomas Hill präsentiert, in der ›Einleitung‹ seiner gesammelten Studien zu Kants Ethik: »To call a normative judgment an imperative is to claim that it is a rational requirement. The distinction between hypothetical and categorical imperatives, then, is based on the different sorts of reasons that support the judgement.« (Vgl. ders., Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory: 7.) Dies ist eine exakte Beschreibung der Konzeption, die ich in dieser Untersuchung Kant zuschreibe. Die Lektüre der relevanten Aufsätze in Hills Sammelband (Kapitel 1 und 7) zeigt jedoch, dass ihr Verfasser diese Konzeption nicht wirklich entfaltet: mit Ausnahme einer Passage in »Kants Theory of Practical Reason«. Dort charakterisiert er die ›praktische Notwendigkeit‹, die Kant zufolge von einem jeden Gebot zum Ausdruck gebracht wird, als »posed by ›compelling‹ reasons« (a. a. O.: 124). Im selben Sinne betont er die Abhängigkeit des (moralischen und andersartigen) ›Gutseins‹ einer Handlung oder einer Forderung von Gründen: »[…] Kant […] does not hold that an act is rational because it is (or promotes) good, but rather an act is counted as good (or good producing) because rational considerations [also Gründe – Einf. HK] favor it. What is good to do and what one ought to do are both determined by what reason [i. e. ›reasons‹ – Einf. HK] prescribe[s]« (a. a. O.). Hills Hauptinteresse aber gilt nicht der Charakterisierung verschiedenartiger Vorschriften durch verschiedenartige Gründe für das jeweils Vorgeschriebene. Dieses Interesse gilt vielmehr dem Aufweis, dass es – im Gegensatz zu anderen, humeanischen Auffassungen – über die unkontroversen zweckrationalen Vernunftgründe hinaus noch andere, prinzipienorientierte Vernunftgründe gibt: »[…] there is another sort of practical reasoning not captured by the pattern of [means-end] argument we have been consider51

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Der ›reasons approach‹

terschiedlicher Forderungen durch forderungsspezifische Gründe in seinen Versuchen, ein Schema für ›hypothetische‹ Imperative zu formulieren: »ich soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes will« (441). Ein hypothetischer »Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn oder weil man dieses Objekt will, soll man so oder so handeln« (444). 52 Solche ›weil‹- oder ›wenn‹-Nebensätze nennen allemal Gründe für das jeweils geforderte Verhalten. Kant nennt in beiden Zitaten nur einen von zwei Gründen für eine ›bedingt‹ gebotene Handlung. Der zweite Grund ergibt sich daing. Such reasoning is guided by principles which are acknowledged by every rational will with the property autonomy«. Vgl. Hill, a. a. O.: 132 – Einf. HK. Ob auch Patzig die Kantische Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen im Sinne eines ›reasons approach‹ erläutert, ist nicht deutlich erkennbar. Wie wir schon sahen, ist für ihn das Charakteristische eines Imperativs nicht dessen »sprachliche oder logische Form« (vgl. ders., a. a. O.: 110). »[D]er sachliche Unterschied, den Kant gemeint hat« (a. a. O.: 108), hänge vielmehr von »sachlichen Überlegungen« ab. Diese Überlegungen scheinen darin zu bestehen, dass man aus der Perspektive einer 3. Person bestimmte »Forderungen« daraufhin befragt, ob »es sinnvoll ist anzunehmen, dass sie [wie bei hypothetischen Imperativen] nur im Hinblick auf […] Interessen und Wünsche des Adressaten ergehen«, oder dass bei ihnen, qua kategorischen Imperativen, explizit oder implizit »auf keinerlei Interesse, auf keinen Wunsch, keine Absicht, kein Ziel [des Adressaten] Rücksicht genommen wird« (a. a. O.: 110 – Hervorh. und Klammereinfügungen HK). Bittners Unzufriedenheit mit Patzigs Explikation entzündete sich an dessen, von mir im vorigen Absatz hervorgehobenem, Ausdruck »im Hinblick auf«. (Vgl. Bittner, »Hypothetische Imperative«: 223.) Patzig hat gesprächsweise Sympathie dafür erkennen lassen, Bittners Desiderat nach mehr Klarheit in diesem Punkt mit Hilfe eines ›reasons approach‹ zu erfüllen. Wenn man sich fragt, in welcher Funktion sich (bei hypothetischen Imperativen) Interessen, Wünsche usw. dem ›Hinblick auf‹ sie darbieten, liegt die Antwort nahe: als Gründe (für das Geforderte). Patzigs »sachliche Überlegungen« bezüglich dessen, was bei einer vorliegenden Forderung an vorhandenen oder absenten Zweckbedingtheiten »anzunehmen« ist, würden sich demnach auf die zweckmäßigen oder ›unzweckmäßigen‹ (nicht-funktionalen) Gründe beziehen, die der jeweilige Forderungsadressat (oder auch der Forderungsautor) für das jeweils Geforderte hat. Wie immer man Patzigs Auffassung versteht, wonach der Charakter einer Forderung von »sachlichen Überlegungen« abhängt: Es stellt sich allemal die Frage, wie sie damit vereinbar ist, dass nach seiner Kant-Interpretation ein moralisches Gebot von einem nicht-moralischen durch den »Modus seines Gebietens« zu unterscheiden ist (vgl., a. a. O.: 103). Es ist kaum anzunehmen, dass Patzigs ›sachliche Überlegungen‹ zur Unterscheidung verschiedenartiger Forderungen sich auf einen ›Modus des Gebietens‹ beziehen. Erst recht dann, wenn man annimmt, dass jene ›sachlichen Überlegungen‹ Gründe für eine Forderung darstellen, ist es kaum plausibel, dass es sich bei diesen Gründen um Gründe für die Art und Weise des Forderns handelt. Diese Gründe sind vielmehr Gründe für das Geforderte – oder, Kant zufolge, Gründe für dessen praktische Notwendigkeit. 52 Vgl. ebenfalls 444: »[…] ich soll etwas tun, darum weil ich etwas anderes will«. A

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raus, dass ein hypothetischer Imperativ »sagt […], dass die [geforderte] Handlung zu irgendeiner möglichen oder wirklichen Absicht gut sei«. 53 Sie muss also nur ausgeführt werden, ›wenn oder weil‹ sie nach der Überzeugung des Forderungsadressaten dazu taugt, seinen Zweck zu realisieren. Der erste Grund weist hin auf eine Zweckanhänglichkeit des Forderungsadressaten, der zweite Grund behauptet die Zweckdienlichkeit der geforderten Handlung. Der Grund für die Befolgung einer bedingten Forderung ist demnach ein doppelter: Deren Empfänger muss die geforderte Handlung für notwendig erachten, weil er 1.) einen bestimmten Zweck verfolgt, und weil er 2.) meint, dass jene Handlung ein probates Mittel zu diesem Zweck darstellt. Beide Gründe zusammen spezifizieren den Charakter hypothetisch-bedingter Gebote. 54 Man kann diese Gründe für eine bedingte Forderung (z. B. für Gebrauchsanweisungen oder Klugheitsratschläge) zusammen als zweckbezogene oder funktionale Gründe bezeichnen. Es handelt sich dabei um Gründe, die sich auf Zwecksetzungen des Forderungsadressaten und auf einen Funktionszusammenhang zwischen Zwecken und Mitteln stützen – einen Zusammenhang, der seinerseits durch Kausalannahmen über die wahrscheinlichen Wirkungen des Mitteleinsatzes ermöglicht wird. 55 Denjenigen der beiden Gründe, welcher Vgl. 414 – Herv. und Einf. HK. Kant hebt »möglichen« und »wirklichen« hervor. Gerhard Seel hat darauf hingewiesen, dass Kant bisweilen »noch eine dritte Bedingung für die Geltung eines hypothetischen Imperativs« anführe, »nämlich, daß die gebotene Handlung in der Macht des Adressaten des Imperativs steht«. (Vgl. ders.: »Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze?«: 154.) Aus der Perspektive des Forderungsadressaten gäbe es also, m. a. W., als dritten Grund für die Ausführung des Geforderten die ›subjektive‹ Verfügung über das zweckdienliche Mittel – und ja wohl auch die ›subjektive‹ Überzeugung von dessen ›objektivem‹ Vorhandensein. Hill hat in seinem Aufsatz »The Hypothetical Imperative« eine ausführlichere Analyse bedingter Gebote gegeben. In »Kants Theory of Practical Reason« rekapituliert er sie folgendermaßen: »Kant’s idea of hypothetical imperatives is best understood […], when they are seen as ›oughts‹ which have their rational force entirely from their place in a complex rationale which has the following structure: (1) Any fully rational agent (necessarily) wills the necessary (and available) means to his ends. (2) So one ought to will the necessary (and available) means to ones ends. […] (3) M is a necessary (and available) means to E. (4) So if one wills E, one ought to will M. (5) P (a person) wills E. (6) So P ought to will M. […] The conclusion is ›hypothetical‹ in that its rational force is entirely dependent on the facts presupposed in the argument and, further, because one can rationally escape the conclusion by choosing to give up an end to which one was committed. In effect, the rational requirement is always an option: take the means or abandon your end.« (A. a. O.: 126 f.) 55 Christine Korsgaard präzisiert Kants Position folgendermaßen: »Kant […] adds that 53 54

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Der ›reasons approach‹

die Tauglichkeit eines Mittels zur Zweckverwirklichung behauptet, kann man einen instrumentellen Grund nennen. Er heißt so, weil die geforderte Handlung dabei als Instrument betrachtet wird, ›mittels‹ dessen ein Zweck des Forderungsadressaten realisierbar zu sein scheint. Solche instrumentellen Gründe behaupten die Eignung oder die Ratsamkeit der ›instrumentalisierten‹ Handlung zum Erreichen eines angestrebten Zwecks. Beide Gründe für eine bedingte Forderung sind Bestandteile eines zweckrationalen Räsonnements: Die Chancen einer Zweckerfüllung hängen ab von der Triftigkeit einer zweckorientierten Mittelabwägung. 2. Beide Gründe für ein bedingtes Handlungsgebot sind einer Passage der Grundlegung abzulesen, in welcher es dem Verfasser um die Erklärung des Nötigungspotenzials hypothetischer Imperative geht: Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objekts als meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnder Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zweck schon aus dem Begriff des Wollens dieses Zwecks heraus. […] daß, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz (417 – Hervorh. HK).

Die beiden Gründe, durch welche hier ein hypothetischer Imperativ charakterisiert wird, treten deutlich hervor, wenn man den ersten Satz des Zitats folgendermaßen auseinanderlegt und als Imperativ formuliert. Aus Kants Aussage, dass ›wer den Zweck will, vernünftigerweise auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel will‹, wird dann: ›Da du den Zweck willst und da die Ausführung von H das dazu unentbehrlich notwendige Mittel ist: musst du H ausführen!‹

we do need some synthetic propositions – some causal laws – to arrive at these imperatives, but not for grounding the act of the will, only for determining what the means to the end are.« Vgl. Korsgaards »The Normativity of Instrumental Reason«: 235 – Hervorh. HK. Dass wir für einen hypothetischen Imperativ immer ein Kausalgesetz – also nicht nur spezielle Kausalzusammenhänge – kennen müssen, ist freilich zu bezweifeln. Der einschlägigen Davidson-Position zufolge impliziert die Annahme eines Kausalzusammenhangs in einem spezifischen Fall zwar die generelle Annahme, dass es ein entsprechendes Gesetz gibt – aber nicht dessen Kenntnis. A

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Das Nötigungspotenzial eines hypothetisch-bedingten Gebotes beruht auf einem inferenziellen, nämlich deduktiven 56 Zusammenhang zwischen zwei Wollensinstanzen (bzw. zwischen den entsprechenden Sätzen). Diese Instanzen habe ich im Zitat kursiv gesetzt. Die erste Instanz ist das Wollen 57 des ›zu bewirkenden‹ Zwecks, die zweite Instanz ist das Wollen der geforderten Handlung. Der ›deduktive‹ 58 Zusammenhang, von dem ich eben gesprochen habe, beruht Es hätte wohl völlig gereicht, hätte Kant darauf hingewiesen, dass man durch eine Spielart des deduktiven Schließens zu der Einsicht kommen kann, ein bestimmtes Mittel zu einem vorgegebenen Zweck ergreifen zu sollen. Das ›Enthaltensein‹ oder ›Mitgedachtsein‹ eines Mittelwollens in einem Zweckwollen, von dem Kant spricht, entspricht nämlich den begrifflichen Relationen innerhalb der ersten beiden Sätze eines Syllogismus vom Modus ›Barbara‹. Wenn gilt: (1) Alle M sind P, und (2) alle S sind M, dann gilt auch: (C) Alle S sind P. Und zwar deshalb, weil die Extension von S in der Extension von M enthalten ist. Die Vorstellung vom ›Enthaltensein‹ eines (Prädikat-) Begriffs in einem andern (Subjekt-) Begriff ist auch konstitutiv für Kants Explikation ›analytischer‹ Urteile. (Vgl. die KdrV: B 10–14.) Weil er meinte, das oben im Haupttext beschriebene Verhältnis zweier Wollensinstanzen als das Verhältnis zweiter Begriffe des Wollens reformulieren zu dürfen – »der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zweck schon aus dem Begriff des Wollens dieses Zwecks heraus« – konnte Kant auf die Idee verfallen, dass hypothetische Imperative ›analytisch-praktische‹ Sätze seien. Vgl. ders. 417 – Hervorh. HK. 57 Korsgaard findet es wichtig zu betonen, dass jemandes Zweck »be something other than ›what I actually, just now, desire‹« (vgl. dies., a. a. O.: 234 – Hervorh. HK). Der Zweck-Bezug hypothetischer Imperative sei ein Wollen, eine ›volition‹, im Gegensatz zu einem bloßen Wünschen, Begehren, einer Neigung, einem Bedürfnis. Dem kann man folgen. Eine Zwecksetzung liegt erst vor, wenn jemand sich ein Bedürfnis zu Eigen gemacht hat. Mehr als zweifelhaft aber ist Korsgaards weitergehende Behauptung: »Volition consists in adopting a maxim of acting on some incentive or other.« (A. a. O. – Hervorh. HK.) Kants ›Maximen‹ sind subjektive Handlungsgrundsätze. Dass aber jede ›Adoption‹ einer Neigung impliziert, dass der Betreffende eine entsprechende Maxime besitzt bzw. bildet, ist, wenigstens der Sache nach, kaum plausibel. Vgl. Köhl, Kants Gesinnungsethik, 2. Kapitel: ›Maximen‹. 58 Kant zufolge handelt es sich dabei um einen ›analytischen‹ Zusammenhang (417 ff.). Man tut vermutlich gut daran, seine Auffassung vom ›analytischen‹ Charakter hypothetischer Imperative nicht gar zu ernst zu nehmen. Ist sie doch wohl dem Wirken unübersehbarer ›Systemzwänge‹ in Kants Werk zuzuschreiben. Wo letzterer die ›Identität‹ einer Struktur zu erkennen meinte, wird man dann eine bloße Analogie sehen: »Ähnlich wie, nach Kants Lehre, im analytischen Urteil der Prädikatsbegriff schon im Subjektsbegriff enthalten […] ist, so enthält das Interesse, von dem im Vordersatz [eines als Wenn-Dann-Satzes formulierten hypothetischen Imperativs] die Rede ist, schon das Interesse an der Erfüllung der im Nachsatz genannten Forderung.« (Vgl. Patzig, a. a. O.: 113 – Hervorh. und Einf. HK.) Man wird dann, in der gelassenen Manier eines ›sophisticated common sense‹, sagen: »Was Kant meinte, als er hypothetische Imperative analytisch nannte, das ist ja ziemlich leicht zu sagen: so wie der Subjektsbegriff eines Satzes 56

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auf dem hierarchischen Verhältnis, in dem beide Wollensinstanzen zueinander stehen. Die übergeordnete Instanz ist das Wollen des ›zu bewirkenden‹ Zwecks, in welchem Wollen (Kant zufolge) das Wollen der geforderten Handlung – als Mittel zum Zweck – vernünftigerweise mit ›eingeschlossen‹ ist. 59 Das unterzuordnende Wollen der geforderten ›Mittel-Handlung‹ ergibt sich allerdings nicht allemal aus dem übergeordneten Zweck-Wollen. Die Annahme, dass die Adressaten hypothetischer Imperative die als richtig erkannten Mittel zum Zweck tatsächlich immer ergreifen wollten, wäre lebensfremd, mithin empirisch falsch. 60 Das war auch Kant klar. Deshalb hat er betont, dass sich ein ›Mittel-Wollen‹ nur dann aus dem übergeordneten ›Zweck-Wollen‹ ergibt, wenn der Adressat eines hypothetischen Imperativs vernünftig ist: »sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat»(417). Diese Vernünftigkeit hat in diesem Fall die Bedeutung von Konsequentsein. Wenn jemand ›konsequent‹ ist, mithin seiner Einsicht in eine bestehende Wollenshierarchie folgt, dann ergreift er allemal die erforderlichen und verfügbaren Mittel zum Zweck. 3. Zuletzt war nur von ›hypothetischen‹ Imperativen die Rede. Wo Kant diese von kategorischen Imperativen unterscheidet, geschieht dies nicht explizit in Termini von Gründen. Seine Erklärungen sind aber unschwer ›in terms od reasons‹ reformulierbar. So gelangt er zu einer ersten Unterscheidungsweise durch eine Diffeden Prädikatsbegriff logisch einschließen oder implizieren kann, so schließt der Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu realisieren, den Wunsch ein, auch die Mittel zu verwirklichen, die allein zu diesem Ziel führen können.« (Vgl. ders., a. a. O.: 115.) Sobald man die These vom analytischen Status hypothetischer Imperative sehr ernst nimmt und ganz genau prüft, kommt man zu dem wenig überraschenden Ergebnis, »daß hypothetische Imperative keine analytischen Sätze sind und daß Kants Versuch seine These zu begründen, scheitert« (vgl. Seel, a. a. O.: 148 – Hervorh. HK). Die Probleme, die sich bei dem Versuch einer genauen Übertragung der Eigenschaften ›analytischer‹ Urteile auf die Imperative gleichen Namens ergeben, deuten dann wohl darauf hin, dass bei letzteren »eine andere – übertragene – Bedeutung von ›analytisch‹ vorliegen muß«. (Vgl. Patzig, a. a. O.: 113.) 59 »[…] daß […] ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist«: 417; »der Imperativ [gebietet] […] das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will«: 419. 60 Diese Feststellung ist so banal, dass man sich wundert, wenn man in einer Einführung in Kants Philosophie den Satz liest: »Die Geltung aller […] [hypothetischen] Imperative lässt sich [folgendermaßen] begründen: ›Wer auch immer den Zweck wählt, wählt die Mittel‹.« Vgl. Scruton, Kant: 95 – Einf. H. K. A

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renzierung der ›praktischen Notwendigkeit‹, die (ihm zufolge) eine jede Forderung zum Ausdruck bringt. Demnach stellen hypothetische Imperative »die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor«. Wohingegen ein kategorisch-unbedingtes Gebot »eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte« (414 – Hervorh. HK). Die ›praktische Notwendigkeit einer Handlung‹ habe ich früher in diesem Kapitel in die umgangssprachliche Redeweise übersetzt, dass jemand etwas ›tun muss‹. Ersetzt man nun in den zitierten Sätzen den substantivischen Ausdruck durch den ›zivileren‹, dann ist die Formulierung kaum zu umgehen, dass bei ›hypothetischen‹ Imperativen die geforderte Handlung deshalb ausgeführt werden muss, weil sie ein »Mittel zu etwas anderem, was man will«, zu sein scheint. Entsprechend dürfte eine kategorischunbedingt gebotene Handlung nicht deshalb ausgeführt werden, weil sie in einer »Beziehung auf einen anderen Zweck« zu stehen scheint. Solche ›deshalb-weil‹ Sätze aber formulieren Handlungsgründe. Die eben gegebene Beschreibung des charakteristischen Grundes für einen kategorischen Imperativ ist solange nur ›negativ‹, wie Kants Rede unaufgeklärt bleibt, wonach unbedingt geforderte Handlungen ›für sich selbst notwendig‹ sind. Abgesehen von diesem vorläufigen Manko erscheint die vorgenommene Übertragung von Kants Explikation in die Terminologie von ›Gründen‹ als völlig natürlich. Entsprechend selbstverständlich ergibt sich als Kants Auffassung, dass Unterschiede in der ›praktischen Notwendigkeit‹ geforderter Handlungen durch die verschiedenartigen Gründe zum Ausdruck gebracht werden können, aus denen diese Handlungen jeweils ausgeführt werden müssen – bzw. nicht ausgeführt werden dürfen (wenn es sich dabei um ›unbedingte‹ Forderungen handeln soll).

5.6 Moralische Gründe für etwas unbedingt Erforderliches Über die charakteristischen Gründe für ›unbedingte‹ Moralgebote wurde bisher nur ›Negatives‹ berichtet. Diese Gründe dürfen jedenfalls keine funktionalen Gründe sein. Von solchen Gründen ist bei unbedingten Handlungsvorschriften genauso zu ›abstrahieren‹ wie, der ›Bedingungsanalyse‹ zufolge, von handlungsbestimmenden Zwecksetzungen. Der für unbedingte Forderungen charakteristische 230

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Grund müsste demnach ein nicht–funktionaler Grund sein. Was aber sind ›nicht-funktionale‹ Handlungsgründe? Auch diese Redeweise liefert nur eine negative Charakteristik unbedingter Gebote. Denn auch sie spezifiziert lediglich, mit welcher Art von Gründen eine unbedingte Forderung nicht gestützt werden darf. Was wir brauchen, ist eine positive Charakterisierung eines speziellen Handlungsgrundes: der vorliegen muss, damit eine durch ihn begründete Forderung als ›unbedingt‹ qualifiziert zu werden verdient. Falls es eine Pluralität solcher Gründe gibt, dann müssen wir auf eine Art ›Positivliste‹ nicht-funktionaler Gründe aus sein. Von dieser Liste müssten die Gründe für ein Gebot stammen, damit es als unbedingte Vorschrift gelten kann. Da für Kant alle denkbaren unbedingten Handlungsdirektiven zugleich moralische waren, sind die von ihm ›positiv‹ charakterisierten Gründe für unbedingte Forderungen allemal moralische: Gründe für moralische Forderungen. Seine positive Charakterisierung der ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Forderung kann man gut an seiner Formulierung jenes Grundes ablesen, aus dem er einer »verdienstlichen Pflicht gegen andere« (430) das Wort redet: So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, […] bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen als allgemeinem Gesetz begriffen werden kann. (441 – Hervorh. HK.)

Der charakteristische Grund für eine moralisch-unbedingt gebotene Handlung wäre demnach die Verallgemeinerbarkeit dieser Handlung – oder der entsprechenden Handlungsmaxime. 61 Es ist diese Verallgemeinerbarkeit, die das oberste Prinzip der kantischen Ethik, der Kategorische Imperativ, von Handlungen verlangt (421). Die Behauptung der Verallgemeinerbarkeit einer Handlung ist für Kant ein moralischer Grund, ja der moralische Grund. Aus diesem Grund heraus müssen ›moralisch-unbedingte‹ Gebote befolgt werden, wenn sie diese Charakterisierung verdienen sollen. Dadurch sollen sie zugleich von allen andersartigen Forderungen unterschieden sein. Wo das Prädikat ›verallgemeinerbar‹ einer Handlung von jemandem zugesprochen wird, fasst er eine diesbezügliche Forderung als eine moMaximen formulieren auf grundsätzliche Weise jemandes Absicht, in Situationen eines bestimmten Typs eine Handlung einer bestimmten Art auszuführen. Vgl. Köhl, Kants Gesinnungsethik, 2. Kapitel. – Um bequemer formulieren zu können, rede ich im Weiteren gewöhnlich nur von verallgemeinerbaren ›Handlungen‹ und lasse ›Maximen‹ beiseite.

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ralische (vs. nicht-moralische) auf. Wenn dieses Prädikat auf eine Handlung überdies zutrifft, ist sie, Kant zufolge, moralisch akzeptabel oder moralkonform. ›Gegenständlicher‹ gesprochen bestünde demnach der Grund für eine moralisch-unbedingte Forderung in der Annahme, dass der geforderten Handlung die nicht-funktionale Eigenschaft zukommt, ›verallgemeinerbar‹ zu sein. 62 Diese Eigenschaft der Verallgemeinerbarkeit einer (gebotenen) Handlung ist für Kant die moralische Eigenschaft schlechthin. Wird eine Forderung erhoben oder befolgt, weil ihr Autor bzw. ihr Adressat meint, dass die geforderte Handlung diese Eigenschaft besitzt, dann handelt es sich dabei um eine moralische (vs. nicht-moralische) Forderung. Ist diese Meinung wohlbegründet, dann ist das von ihr Geforderte – und a fortiori die Forderung selber – moralisch akzeptabel. Der moralische Grund, der für Kant eine unbedingte Forderung spezifiziert, lässt sich auch daran ablesen, wie er sich die Begründung konkreter Pflichten vorstellt – mithin die Begründung moralischer Gebote, in denen solche Pflichten zum Ausdruck kommen (421 ff.). Es geht ihm dabei darum zu zeigen, wie »alle Imperativen der Pflicht« »aus diesem einigen Imperativ«, nämlich dem Kategorische Imperativ, »als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden können« (421). Sein auf Beispiele angewandtes Verfahren der »Ableitung« »von […] Pflichten« »aus dem einigen angeführten Prinzip« fasst Kant in dem Satz zusammen: »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde. Dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.« (424) Um dann zu präzisieren: »Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz 63 gedacht werden kann«: sie sind also nicht verallgemeinerbar. »Bei anAn dieser Redeweise ist nichts problematisch ›Ontologisches‹. Da wir durch den Ausdruck ›verallgemeinerbar‹ etwas von Handlung(smaxim)en prädizieren, und da wir beim Prädizieren einem Gegenstand eine ›Eigenschaft‹ zusprechen, spricht nichts dagegen, ›Verallgemeinerbarkeit‹ als eine (angeblich ›moralische‹) Eigenschaft aufzufassen. – Dies ist ein Gegenstück zu einer Aussage Donald Davidsons über ›Wahrheit‹ : »When we say an utterance or a belief is true, we predicate truth of that utterance or belief, so I can see no harm in holding that truth is a property: some beliefs and utterances have it and some do not.« Vgl. ders., »Is truth a goal of inquiry? – Discussion with Rorty«: 17. 63 Ich übergehe die Besonderheiten der ›Naturgesetz-Formel‹ des Kategorisches Imperativs, wonach das moralische Gesetz ›wie‹ ein Naturgesetz (einer allgemein möglichen Praxis) betrachtet werden sollte. 62

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deren ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.« (A. a. O.) Im letzteren Fall wäre die zu prüfende Maxime zwar ›widerspruchsfrei‹ verallgemeinerbar, sie wäre aber in dem Sinne nicht verallgemeinerbar, dass ihre Verallgemeinerung keine allgemeine Akzeptanz zu finden vermöchte. Die Verallgemeinerbarkeit der vorgeschrieben Handlungen ist aber für Kant nicht nur der Prüfstein ihrer moralischen Akzeptabilität. Das Begründungskriterium der ›Verallgemeinerbarkeit‹ nennt auch den moralspezifischen Grund, aus dem heraus eine verlangte Handlung gefordert oder befolgt werden muss, damit die Forderung der Handlung als moralisch-unbedingte Forderung gelten kann. Nicht anders als bei hypothetischen Imperativen legt Kant offenbar auch der Begründung moralisch-unbedingter Gebote ein deduktives Modell zugrunde. Die Begründung kategorischer Imperative erfolgt durch ihre ›Ableitung‹ aus dem Kategorischen Imperativ. Auch hier ergibt sich die Möglichkeit eines deduktiven Räsonnements aus dem Verhältnis zweier Willensinstanzen zueinander. Da der Kategorische Imperativ lediglich die imperativische Form eines ›objektiven Gesetzes des Guten‹ (414) darstellt und seinerseits das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« 64 formuliert, unter welchem ein ›vollkommen guter Wille‹ stehen würde 65 : so beruht die Begründung spezieller Moralgebote durch die Anwendung des Kategorischen Imperativs auf dem Verhältnis eines Gesetzes vernünftigen Wollens zu dem Wollen der geforderten Handlung. 66 Der Grund für eine moralisch-unbedingt erforderliche Handlung ist, Kant zufolge, ein moralisch-vernünftiges Wollen, das dem Wollen der geforderten Handlung übergeordnet ist. Weshalb letzteres Wollen aus ersterem ›deduziert‹ werden kann. 67 Vgl. Kant, KprV: § 7, die Überschrift. Vgl. ders.: »Ein vollkommen guter Wille würde […] unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen […].« (414) 66 Vgl. ders., a. a. O.: »Daher sind Imperative nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit […], z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken.« 67 Vgl. dazu Köhl, Kants Gesinnungsethik: 58, wo der Verf. das moralische Vernunftwollen, welches Kant im ›Moralischen Gesetz‹ verkörpert sieht, im Anschluss an Harry Frankfurt als ein Wollen 2. Stufe charakterisiert hat, das bei der moralischen Handlungsbeurteilung auf ein Wollen 1. Stufe angewendet wird – welches seinerseits in Ma64 65

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Dieses kantische Begründungsmodell für moralisch-unbedingte Forderungen besitzt eine Plausibität, die über es selber hinausreicht. Es behält auch dann seine Triftigkeit, wenn man nicht nachvollziehen mag, dass Kant die Stelle des ›übergeordneten‹ moralischen Wollens mit einem vernünftigen Wollen besetzt hat. Die Begründung eines – moralischen oder nicht-moralischen – Sollens muss an einen übergeordneten Willen des Forderungsadressaten appellieren können, wenn man damit erreichen will, dass letzterer ggf. gegen andere Willensausrichtungen das Gesollte tun will und tut. 68 Der Kategorische Imperativ, der Handlungen ihre Verallgemeinerbarkeit vorschreibt, ist für Kant das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« (KprV § 7). Insofern ist er das oberste moralische Prinzip. Da dieses Prinzip den »Kanon der moralischen Beurteilung« (424), mithin der moralischen ›Begründung‹ darstellen soll, kann man auch sagen, dass der spezifisch moralische ›Grund‹ für Kant in der angenommenen Übereinstimmung einer (geforderten) Handlung mit dem moralischen Prinzip besteht. So betrachtet wären moralische Gründe Übereinstimmungsgründe. Sie wären nichtfunktionale 69 Gründe der Übereinstimmung einer (geforderten) Handlung mit dem obersten Moralprinzip. ximen verkörpert sein kann. Vgl. Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of a Person«. 68 Auch Tugendhat sieht, »daß ein absolutes ›ich muß‹, das nicht von einem wie immer impliziten ›ich will‹ abgestützt ist, […] ein Unding ist« (VüE: 62). »Dem Müssen liegt also notwendigerweise ein (freilich so gut wie nie explizites und bewußtes) ›ich will‹ zugrunde.« (61) »Wie soll man, daß etwas [z. B. eine geforderte Handlung – Einf. HK] vorziehenswert ist, anders begründen können als relativ zu einem Wollen, also zu etwas, was seinerseits ein (ausgezeichnetes) Vorziehen ist?« (51) – Tugendhat meint freilich, diesen Punkt gegen Kant wenden zu müssen (u. a.: 51). Er sieht nicht, dass die praktische Vernunft, die er als mögliche Quelle unbedingter Moralgebote verwirft, für Kant ein vernünftiges Wollen verkörpert. Würde Tugendhat sich davon überzeugen lassen, dass die Struktur der kantischen Begründungsidee für Forderungen – also die Struktur zweier hierarchisch geordneter Wollensinstanzen – seiner eigenen durchaus entspricht, bliebe es ihm natürlich immer noch unbenommen, den kantischen Vernunftbegriff zu attackieren. 69 Dass es sich bei den ›prinzipiellen‹ Übereinstimmungsgründen, welche Kant zufolge moralisch-unbedingte Gebote charakterisieren, um ›nicht-funktionale‹ Gründe handelt, ist aus zwei Gründen wert, hervorgehoben zu werden. Erstens könnte man auch nichtmoralische funktionale Gründe für eine Forderung als Gründe beschreiben, die das Geforderte deshalb empfehlen, weil seine Wahl qua Mittel mit einem angestrebten Zweck ›übereinstimmt‹. Kant redet selber einmal so, wenn er einen talentierten Taugenichts sich selber fragen lässt, »ob außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Ver-

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Damit ist nun eine Formulierung gefunden, die eine ›positive‹ Charakterisierung unbedingter Forderungen ermöglicht – immer noch unter der kantischen Voraussetzung, dass unbedingte Vorschriften zugleich moralische sind: Unbedingte Moralgebote wären demnach durch einen Grund charakterisiert, der die Übereinstimmung einer geforderten Handlung mit dem moralischen Oberprinzip behauptet. Diese Explikation des Unbedingtheitscharakters moralischer Gebote, zusammen mit der Explikation bedingter Forderungen in Termini von funktionalen Handlungsgründen, gibt »der klassischen kantischen Gegenüberstellung von Moral und Klugheit als Gegensatz zwischen der Berufung auf ein Prinzip und der Berufung auf Zweckmäßigkeit« 70 einen plausiblen Sinn. 71 Eine Pluralität positiv charakterisierter moralischer Gründe ergibt sich innerhalb der kantischen Konzeption moralischer Gebote dadurch, dass nicht allein die Übereinstimmung mit dem moralischen Prinzip, also dem Kategorischen Imperativ, einen Grund für etwas moralisch-unbedingt Gefordertes abgibt. Auch die Überein-

wahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme?« (Vgl. GMS: 423 – Hervorh. HK.) Wer sowohl funktionale wie nicht-funktionale Gründe mit etwas ›übereinstimmen‹ lassen will, muss dann, statt funktionale gegen Übereinstimmungsbeziehungen auszuspielen, verschiedene Arten von Übereinstimmungsgründen voneinander unterscheiden. Zweitens habe ich im 4. Kapitel behauptet, dass es auch ›funktionale‹ moralische Übereinstimmungsgründe gibt: Gründe, wonach eine geforderte Handlung (zuletzt) deshalb auszuführen ist, weil sie mit einem moralischen Zweck übereinstimmt. Diese aber sind keine Prinzipiengründe. 70 Vgl. Rorty, ›Contingency‹ : 59. – Rorty attackiert freilich die von ihm so beschriebene kantische Auffassung, dass man durch die Unterscheidung von Prinzipiengründen und Zweckmäßigkeitsgründen den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen explizieren könne. Ich werde ihm darin im 6. Kapitel Recht geben. Vgl. dort den Abschnitt 6.2.: Prinzipienfixierung. 71 Wood meint – in unseren ›reasons talk‹ übersetzt –, dass auch Gründe für eine hypothetisch geforderte Handlungen manchmal Prinzipiengründe sind: »When you act on a hypothetical imperative, you do not keep to your chosen end and your rational plan in pursuit of it only because there happens at the moment to be a resurgence of the original desire that occasioned your setting the end. Often you do it instead because you have acknowledged a universal practical principle that is binding universally on anyone who adopts the end you have set yourself.« (Vgl. ders., a. a. O.: 72.) Wenn Wood damit Recht hätte, dann könnten Kantianer den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen nicht länger allein durch die Unterscheidung von Prinzipiengründen und Zweckmäßigkeitsgründen explizieren wollen. Sie müssten dann vielmehr zwischen zwei verschiedenen Arten von Prinzipiengründen unterscheiden. A

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stimmung unbedingt geforderter Handlungen mit minderrangigen Moralprinzipien liefert solche Gründe. Eine Pluralität moralischer Gründe ergibt sich, im kantischen Rahmen, auch durch die unterschiedlichen Fassungen seines Kategorischen Imperativs. 72 So mag man, in Anlehnung an Kants Zweckan-sich-Formel, einen moralischen ›Obergrund‹ darin sehen, dass jemandes Handlung das Selbstbestimmungsrecht der von ihr Betroffenen achtet – und deshalb deren Zustimmung finden kann. 73 Als weiteren moralischen Grund für eine geforderte Handlung kann man deren Übereinstimmung mit dem moralischen »Ideal« eines »Reichs der Zwecke« betrachten, also mit der Idealvorstellung einer moralischen Gemeinschaft. 74

5.7 Gefordert: ›an sich‹ gute Handlungen Die Eigenart von Forderungen lässt sich also durch das Nennen der forderungsspezifischen Gründe für das jeweils Geforderte erläutern. Die Gründe, die eine moralisch-›unbedingte‹ Forderung spezifizieren, bestehen in der angenommenen Übereinstimmung einer geforderten Handlung mit einem oder dem moralischen Prinzip – bzw. einer Variante desselben. Dies ist das, immer noch vorläufige, Ergebnis meiner Bemühungen, die kantische Konzeption unbedingter Handlungsvorschriften zu erfassen. Meine ›vorläufig endgültige‹ Auskunft enthält erst der nächste Kapitelabschnitt. Für das Bisherige war ich von der kantischen Lehrmeinung ausgegangen, dass sich kategorisch-moralische Imperative von hypothetischen Imperativen durch die Art der praktischen Notwendigkeit

Jemanden als ›Zweck an sich‹ zu behandeln, besagt, Kant zufolge, dass der Betroffene »in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen« kann (429 f.). – Kant war bekanntlich der Auffassung, dass die Varianten seines Kategorischen Imperativs lediglich verschiedene Formulierungen ein und desselben Grundsatzes seien (436). Es fällt freilich schwer, ihm diese Behauptung zu glauben. Eine schier heldenhafte Anstrengung, die kantische These plausibel aussehen zu lassen, unternimmt Thomas Pogge, in »The Categorical Imperative«. 73 Vgl. dazu Köhl, »Die beschränkte Leistungsfähigkeit unbedingter Moralprinzipien«: 323. 74 Kant definiert als »ein Reich der Zwecke« »eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze« und nennt dieses Reich »nur ein Ideal« (433). 72

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unterscheiden, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Die bis hierher durchgeführte ›Unbedingtheits‹-Analyse soll nun bestätigt und vertieft werden, indem ich eine weitere Charakterisierung kategorischer Imperative durch ihren Schöpfer unter die Lupe nehme. Kant differenziert zusätzlich, zwischen ihnen und hypothetischen Imperativen, mittels zweier Begriffe des ›Guten‹. Gemeint ist damit die unterschiedliche Weise, in der jene Handlungen gut sein können, die von moralisch-unbedingten bzw. von bedingten Forderungen vorgeschrieben werden. Die von kategorischen Imperativen verlangten Handlungen werden von Kant »als an sich gut vorgestellt«, wohingegen hypothetisch gebotene Handlungen »bloß wozu anders als Mittel gut« sind (414). Diese Charakterisierung hypothetischer Forderungen versteht man ohne weiteres. Aber was soll es bedeuten, dass eine (geforderte) Handlung ›an sich‹ (›intrinsisch‹) gut ist, mithin einen »inneren Wert« (397) besitzt? Die Antwort auf diese Frage soll erneut die Fruchtbarkeit eines ›reasons approach‹ zur Charakterisierung verschiedenartiger Forderungen unter Beweis stellen. a) ›An sich‹ gute Handlungen: gesollt und gewollt Es verdient zunächst festgehalten zu werden, dass für Kant die geforderten ›an sich‹ guten Handlungen auch allemal moralisch gut sind. 75 Der Charakterisierung des moralisch Gesollten als ›an sich‹ gut entspricht bei ihm die gleichlautende Bezeichnung eines moralischen Wollens: »Der gute Wille ist […] allein durch das Wollen, d. i. an sich gut« (394 – Hervorh. HK). Diese Entsprechung versteht sich von selbst. Ist doch eine ›an sich‹ gute Handlung, die als eine solche gewollt wird, etwas, das (bei moralisch unvollkommenen Wesen) auf diese Weise gewollt werden soll. Umgekehrt ist etwas Gutes, das ›an sich‹ getan werden soll, darauf aus – und für seine Verwirklichung darauf angewiesen –, dass der Adressat der entsprechenden Forderung das Gesollte ›an und für sich‹ tun will. Damit eine Explikation des ›An-sich-Gutseins‹ einer geforderten Handlung meine (positive) Explikation des ›unbedingten‹ 75 Diese Gleichsetzung von intrinsischem und moralischem ›Gutsein‹ kann man ebenso in Frage stellen wie Kants, im 6. Kapitel kritisierte, Auffassung, dass unbedingte ›Forderungen‹ allemal »Gebote […] der Sittlichkeit« sind. Vgl. ders.: 416 – Hervorh. HK. Kant hebt den Ausdruck ›Gebote‹ hervor.

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Forderungscharakters zu untermauern vermag, hat man sich die Zusammenhänge und den Unterschied zwischen beiden Charakterisierungen klar zu machen. b) ›An sich‹ gewollt – ›unbedingt‹ gefordert: Der Unterschied Die Ausdrücke ›an sich gut‹ und ›unbedingt‹ werden von Kant nicht auf dasselbe gemünzt. ›An sich gut‹ ist die unbedingt geforderte Handlung – bzw. das Wollen dieser Handlung. Als ›unbedingt‹ wird hingegen nicht eine geforderte Handlung selber, sondern deren praktische Notwendigkeit charakterisiert. Dies kann man sich deutlich machen anhand einer Reformulierung der kantischen These, wonach ein Imperativ »kategorisch« ist, wenn die von ihm geforderte Handlung »als an sich gut vorgestellt« wird (414). Ersetzt man darin, erstens, die Rede vom ›Kategorischen‹ durch die Rede vom ›Unbedingten‹ und interpretiert dann, zweitens, das ›Unbedingte‹ als Modus der praktischen Notwendigkeit einer geforderten Handlung: dann kann man sagen, dass eine Handlung, die ›unbedingt getan werden muss‹, ›an sich gut‹ ist. Aus dieser Formulierung ist deutlich zu ersehen, dass das ›An-sich-Gutsein‹ die gebotene Handlung qualifiziert, während der Ausdruck ›unbedingt‹ den Sachverhalt modifiziert, dass diese Handlung ausgeführt werden muss. 76 c) ›An sich‹ gewollt – ›unbedingt‹ gefordert: Zusammenhänge (i) Ein Zusammenhang zwischen der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung und der ›intrinsischen Güte‹ der geforderten Handlung besteht darin, dass Kant mit beiden Charakterisierungen in seiner Erklärung des moralischen Forderungscharakters jeweils einen Schritt weiter geht. Ein kategorisch-moralischer Imperativ gilt ihm im ersten Kant gebraucht bisweilen auch den Ausdruck ›unbedingt gut‹ und verwandte Ausdrücke. Diese sind Synonyme für das ›An-sich-Gute‹ und qualifizieren ein Wollen oder eine Handlung. Z. B. spricht Kant von »dem Begriffe eines unbedingt guten Willens«, der »schlechterdings gut« sei (437 – Hervorh. im ersten Zitat: HK). Ein andermal heißt es, dass ein ›kategorischer Imprativ‹ »das Wesentlich-Gute« einer Handlung »betrifft« (416). Und Kant beschwört »das höchste und unbedingte Gute«, das nur »im Willen eines vernünftigen Wesen […] angetroffen werden kann« (401 – Hervorh. HK). – Hingegen ist der Ausdruck ›unbedingt‹, wenn er auf Forderungen angewendet wird, nicht auf die geforderte Handlung (oder auf den Willen zu dieser Handlung), sondern auf deren Notwendigkeit zu beziehen.

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Schritt als ›unbedingtes Gebot‹. Und ein Gebot, mithin die von ihm ausgedrückte Notwendigkeit, ist dann ›unbedingt‹, wenn die damit geforderte Handlung ›an sich gut‹ ist. Dieses Verhältnis von ›unbedingtem‹ Gebot und ›intrinsischem‹ Gutsein der gebotenen Handlung kann man auch in Termini von Gründen beschreiben: Eine gebotene Handlung muss ›unbedingt‹ ausgeführt werden, weil sie ›an sich gut‹ ist. Insofern das Wörtchen ›gut‹ als allgemeinstes Wertprädikat fungiert, spiegelt sich im vorigen Satz der generelle Sachverhalt, dass Forderungen durch Wertaussagen begründet werden können. Dem entspricht der speziellere Sachverhalt, dass man ›bedingte‹ Forderungen durch die Feststellung eines ›Funktionswertes‹ der geforderten Handlung begründen kann (sie ist ›gut für …‹) und ›unbedingte‹ Forderungen durch die Behauptung von deren ›innerem‹ Wert. Die entsprechende Feststellung in Termini von ›Aussagen‹ lautet, dass bedingte Forderungen durch funktionale Wertaussagen (›x zu tun ist gut für y‹) begründet werden, und unbedingte Forderungen durch absolute Wertaussagen (›x zu tun ist gut –‹). 77 Anders akzentuiert bedeutet diese Feststellung, dass ›unbedingte‹ Forderungen durch ›absolute‹ Wertaussagen über die unbedingt erforderlichen Handlungen begründet werden. Dieses Ergebnis entspricht meiner Antwort auf die Frage, wie Forderungen überhaupt begründet werden können. 78 (ii) Der beschriebene epistemische Zusammenhang zwischen ›unbedingten Forderungen‹ und ›absoluten Wertaussagen‹ spiegelt sich in einer Explikationsanalogie. Dass moralisch geforderte Handlungen ›an sich gut‹ sind, wird von Kant parallel zur Erklärung der ›unbedingten Notwendigkeit‹ dieser Handlungen erläutert. Die Entfaltung dieses Analogie wird sowohl eine Bestätigung für meine (positive) Explikation des unbedingten Forderungscharakters liefern, wie auch eine Bestätigung des reasons approach zur Charakterisierung dieser und anderer Handlungsvorschriften.

Mit meiner Rede von ›absoluten‹ Wertaussagen lehne ich mich an Tugendhats Redeweise von der ›(grammatisch) absoluten‹ Verwendung des Ausdrucks ›gut‹ an – freilich ohne damit dessen These zu unterstützen, dass man darin ein ›grammatisches Kriterium‹ für moralische Wertaussagen an der Hand habe. Vgl. ders., VüE: 37, 53, 59, 105. 78 Ich habe diese Frage in der Einleitung zu diesem Buch aufgeworfen und sie im 1. Kapitel wieder aufgenommen. Vgl. in der Einleitung den 5. Abschnitt und im 1. Kapitel den Abschnitt 1.6: Begründungsaspekte moralischer Forderungen. 77

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Um die behauptete Explikationsanalogie erkennen zu können, muss man Kants Erläuterungen zum ›An-sich-Gutsein‹ einer Handlung betrachten, die von einem kategorischen Imperativ gefordert wird: […] wird sie [d. i. die geforderte Handlung] als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er [d. i. der Imperativ] kategorisch. (414 – zweite Hervorh. und Einf. HK.) Endlich gibt es einen Imperativ, der […] ein gewisses Verhalten […] unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ ist kategorisch. Er betrifft […] die Form und das Prinzip, woraus sie [d. i. die geforderte Handlung] selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung […]. Dieser Imperativ mag der der Sittlichkeit heißen. (416 – zweite und dritte Hervorh. und Einf. HK.)

Das zweite Zitat nimmt aus dem ersten die Rede von einem ›Prinzip des Willens‹ auf, in Form der Rede von einem ›Prinzip der Handlung‹, und gibt die Qualifizierung des kategorisch Geforderten als ›an sich‹ gut mit der Formulierung »das Wesentlich-Gute derselben« (Handlung) wieder. Blendet man beide Zitate zusammen, dann erhält man, als die kantische Explikation des ›An-sich‹-Gutseins einer kategorisch-moralisch gebotenen Handlung: Eine Handlung ist ›an sich gut‹ durch »die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt«. Um diese Bestimmung verstehen zu können, bedarf es einer genaueren Interpretation des zweiten Zitats (416). Deren Ergebnis wird auch das erste Zitat (414) verständlich machen. Dass ein kategorischer Imperativ, der »ein gewisses Verhalten« »unmittelbar gebietet«, »die Form und das Prinzip« dieses Verhaltens ›betrifft‹ (416), wird wohl besagen, dass er verlangt, dass die geforderten Handlungen eine bestimmte ›Form‹ haben und aus einem bestimmten ›Prinzip‹ heraus erfolgen: wenn es sich bei ihnen um ›moralische‹ Handlungen handeln soll. Kants Rede von der »Form« einer geforderten Handlung (ebd.) hat ein Analogon in der ›Form des Wollens‹, welche einen ›an sich‹ guten Willen ausmacht: Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also […] bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als […] die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen […]. (444)

Die ›Form des Wollens‹, die einen Willen zu einem ›an sich‹ guten macht, ist aber nichts anderes als die Form des Wollens jener ›an sich‹ 240

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guten Handlungen, die ein ›kategorisch-unbedingtes Gebot‹ auszuführen verlangt (416). 79 Auch das herangezogene Zitat (444) spricht (wie die Zitate 414 und 416) von einem »Prinzip«, das einen »schlechterdings«, will sagen: ›an sich‹ guten Willen regiert. Dieses ›Prinzip‹ formuliert offenbar, welche ›Form‹ ein guter Wille haben muss – und fordert wohl zugleich, qua Imperativ, dass er diese Form haben soll. Zugleich erfahren wir in dem Zitat 444, worin diese moralische Form eines guten Willens besteht. Es handelt sich dabei um »die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen«, also um die »Form […] der Allgemeinheit« (436), mithin um die Verallgemeinerbarkeit eines solchen Wollens. Angesichts dieser ›Inhaltsangabe‹ der moralischen Willensform kann es nicht überraschen, dass das »formelle Prinzip« (400) eines ›an sich‹ guten Willens »ein kategorischer Imperativ sein muß« (444), d. h. hier: der Kategorische Imperativ. Wir können also festhalten: Eine moralisch-unbedingt geforderte Handlung ist in dem Sinne ›an sich‹ gut, dass sie gut ist aufgrund ihrer ›moralischen Form‹, also durch die Verallgemeinerbarkeit, welche derart geforderten Handlungen vom ›Prinzip der Kantischen Ethik‹ 80 vorgeschrieben wird. Auf der Basis des eben Entwickelten lässt sich auch das Zitat 414 verstehen: Weil eine kategorisch geforderte Handlung dadurch ›an sich‹ gut ist, dass sie mit dem ›Gesetz‹ übereinstimmt, das ein vollkommen vernunftgemäßer Wille ›notwendigerweise‹ befolgt, kann man auch sagen: dass eine solche Handlung, durch ihr – via Prinzipen-Übereinstimmung interpretiertes – ›An-sich‹-Gutsein das ›Prinzip‹ eines vollkommen vernünftigen Willens ist. Ebenso lässt sich Francois Schroeter hat vorgeschlagen, »Materie und Form als den grundlegenden Dualismus zu betrachten, auf dem Kants Moralphilosophie beruht. […] Die Gegenüberstellung von Materie und Form betrifft die Bestimmungsgründe des Willens.« Diese von Schroeter sog. »grundlegende Unterscheidung« eröffne einem Willen »zwei Bestimmungsmöglichkeiten: entweder die reine allgemeine Form des Gesetzes […]; der Bestimmungsgrund ist dann formaler Natur; oder das Begehren eines Objektes […]; der Bestimmungsgrund ist dann materialer Natur.« Vgl. ders, »Kants Theorie der formalen Bestimmung des Willens«: 390. – Man kann die Sinnhaftigkeit des Unternehmens bezweifeln, »den grundlegenden Dualismus« in Kants Moralphilosophie ›dingfest‹ zu machen. Man lernt vermutlich mehr, wenn man die diversen Dichotomien in ihrem Zusammenhang thematisiert, welche die kantische Ethik tragen. 80 »Das Prinzip der Kantischen Ethik« lautet der Titel eines frühen Aufsatzes von Dieter Henrich. 79

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jetzt auch verstehen, in welchem Sinne ein »kategorische[r] Imperativ« einer sein »würde, welcher eine Handlung als für sich selbst […] notwendig vorstellte« (414 – Hervorh. HK). 81 Diese Formulierung hatte ich im Kapitelabschnitt über die ›Bedingungsanalyse des Unbedingten‹ ausdrücklich uninterpretiert gelassen. Nun lässt sich mühelos reformulieren, dass eine ›unbedingt‹ geforderte und deshalb ›für sich selbst notwendige‹ Handlung aufgrund ihrer ›Form‹ getan werden muss – also wegen ihrer Verallgemeinerbarkeit. d) ›Unbedingte‹ Forderungen und ›an sich‹ gute Handlungen Aufgrund des entfalteten Zusammenhangs zwischen der ›Form‹ einer moralisch geforderten Handlung und der ›Form‹ eines guten Willens können wir nun die vorhin behauptete Analogie zwischen Kants Explikation des ›unbedingten‹ Charakters einer Forderung und dem ›An-sich‹-Gutsein der dadurch geforderten Handlung erkennen. Eine ›an sich‹ gute Handlung hat dieselbe ›Form der Allgemeinheit‹, die ›unbedingte‹ Forderungen von einer Handlung verlangen. Sie besitzt, m. a. W., die ›formale Eigenschaft‹, verallgemeinerbar zu sein, die zu haben ein kantisch konzipiertes Moralgebot einer jeden Handlung verordnet. Diese Handlungseigenschaft verlangt zuvörderst das oberste aller Moralgebote, der Kategorische Imperativ. 82 Dieses ›Prinzip‹, von dem Kant in den erörterten Zitaten mehrfach gesprochen hat, wird folgerichtig von allen spezielleren Moralvorschriften verlangen, dass auch sie den von ihnen geforderten Handlungen jene Verallgemeinerbarkeit abverlangen. e) ›In terms of reasons‹ Das Ergebnis meiner Explikation ›an sich‹ guter Handlungen, wie sie von Kants moralisch-unbedingten Geboten verlangt werden, lässt sich auch in Termini von Gründen ausdrücken. Dadurch wird das Cramer scheint sich an dieser Formulierung zu orientieren, wenn er meint, dass »unbedingte Gebote […] als solche aufzufassen [seien], die Handlungen um ihrer selbst willen gebieten«. Vgl. ders., a. a. O.: 159 – Einf. HK. Dies aber kann Kant kaum gemeint haben. Denn er möchte mit seiner Rede von ›für sich selbst notwendigen‹ Handlungen dieselben moralisch qualifizieren. Die aristotelische Denkfigur eines ›Handelns um seiner selbst willen‹ ist aber nicht moralspezifisch. 82 »Es [d. i. das moralische Gesetz] ist […] eine Regel, die […] den Willen in Ansehung der Form seiner Maximen […] bestimmt«. Vgl. Kant, KprV: 31 – Einf. HK. 81

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Analogische dieser Explikation zu der im vorigen Abschnitt durchgeführten ›Unbedingtheits‹-Analyse noch deutlicher. Eine moralisch-unbedingt geforderte Handlung, so lässt sich nun sagen, ist ›an sich‹ gut, wenn sie auf ›Grund‹ dessen gut ist, dass das Wollen der betreffenden Handlung die ›Form der Allgemeinheit‹ besitzt. 83 Wenn eine solche Handlung gut ist, dann ist sie deshalb gut, weil sie verallgemeinerbar ist. Ihre Verallgemeinerbarkeit ist also der Grund dafür, dass sie ›an sich‹ gut ist. Da diese Verallgemeinerbarkeit Handlungen durch den Kategorischen Imperativ vorgeschrieben wird, kann man auch sagen, dass das ›An-sich‹-Gutsein einer Handlung auf ihrer Übereinstimmung mit dem ›Prinzip der Kantischen Ethik‹ beruht. Diese Übereinstimmung ist dann der Grund, aus dem ein solches Handeln ›an sich‹ gut ist. 84 ›An sich‹ gute Handlungen sind also durch Gründe der Übereinstimmung mit einem oder dem moralischen Prinzip charakterisiert. Im Gegensatz zu Handlungen, die ›gut für‹ das Erreichen eines Zweckes sind und zu diesem Zweck gefordert werden – und die mit funktionalen Gründen gestützt werden. Die Analogie dieser ›reasons‹-Analyse des ›An-sich‹-Gutseins geforderter Handlungen mit meiner (positiven) Explikation der Unbedingtheit einer Forderung ›in terms of reasons‹ liegt auf der Hand. Eine Forderung, so hatte ich im vorigen Kapitelabschnitt gesagt, ist dann ein ›unbedingtes‹ Gebot, wenn der Grund für die geforderte Handlung darin besteht, dass man sie für verallgemeinerbar hält. Da diese Verallgemeinerbarkeit vom obersten Prinzip der kantischen Ethik vorgeschrieben wird, hatte ich dort auch sagen können, dass der ›Grund‹, der ein ›unbedingtes‹ Gebot zu einem solchen macht, in der 83 Analog schreibt Ricken über ein – im Sinne von Kants moralisiertem Vernunftbegriff – ›vernünftiges‹ Handeln: »Der Handelnde handelt vernünftig, wenn die Form der Allgemeinheit der Grund ist, weshalb eine Maxime seinen Willen bestimmt.« Vgl. ders., a. a. O.: 91. 84 In Kants Gesinnungsethik habe ich Kants Rede von einem »an sich guten Willen« als die unabgeleitete, »nicht-inferentielle Güte« eines Wollens interpretiert. Vgl. a. a. O.: 19, 28. Dies war deshalb falsch, weil die Tatsache, dass ein Gutsein überhaupt von einem anderen Gutsein abgeleitet ist, nicht ausschließt, dass es an sich gut ist. Denn ein Wollen (oder Handeln) kann auch dann ›an sich‹ gut sein, wenn sein Gutsein von einem Wollen (oder Handeln) abgeleitet ist, das selber ›an sich‹ gut ist. Man muss also sagen, dass die intrinsische Güte eines Wollens (oder Handelns) vom Gutsein ganz bestimmter Dinge nicht abgeleitet sein darf: nämlich vom Gutsein eines (nicht-moralischen) Zwecks. Sein Gutsein darf, m. a. W., nicht begründungsmäßig abhängen von funktionalen, nicht-moralischen Wertaussagen.

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Übereinstimmung der geforderten Handlung mit jenem Prinzip besteht.

5.8 Gefordert: ›Moralität‹ Ein letzter Schritt in der Analyse des unbedingten Charakters einer Forderung steht noch aus. ›Auf die Gründe kommt es an!‹, unter diesem Slogan stand der vorige Schritt meiner Forderungsanalyse. Das Eigentümliche eines ›unbedingten‹ Gebotes hat man demnach erfasst, wenn man den charakteristischen Grund oder die charakteristischen Gründe kennt, aus dem / aus denen uns ein Handeln derart aufgetragen wird. Der von ihm ausgezeichnete Grund für moralischunbedingte Forderungen war für Kant deren ›Verallgemeinerbarkeit‹, mithin die Übereinstimmung der geforderten Handlung mit dem moralischen Oberprinzip, das deren Verallgemeinerbarkeit gebietet. Dieser Analyse ist nun ein letzter Schritt hinzuzufügen. ›Auf die letzten Gründe kommt es an‹, wenn man den Charakter einer Handlungsvorschrift erfassen will. Für kantisch konzipierte Moralgebote ist es charakteristisch, dass der letzte Grund, aus dem das ›unbedingt‹ geforderte Verhalten zu geschehen hat, selber ein moralischer Grund sein muss. Moralisch gefordert ist nicht nur moralkonformes, sondern ein in letzter Instanz moralisch motiviertes Handeln. Verlangt ist hier nicht bloß die »Legalität der Handlungen«, sondern die »Moralität der Gesinnung«. 85 Dieses kantische Leitmotiv: seine Unterscheidung von bloß ›moralgemäßem‹ und ›wahrhaft moralischem‹, ›moralisch wertvollem‹ 86 Handeln, ist nicht etwa bloß ein Sahnehäubchen auf der bisherigen Aufbereitung moralisch-unbedingter Forderungen. Vielmehr setzt die Betonung letzter Handlungsgründe den unverzichtbaren Punkt unter das Ausrufungszeichen kantisch konzipierter Imperative. Diese Behauptung gilt es nun plausibel zu machen. Warum kommt es für die Charakterfeststellung einer Forderung auf den – relativ zur geforderten Handlung – letzten Grund an, aus dem sie ausgeführt wird? Handlungsgründe können gestaffelt sein. So kann ein kantianisch geschulter Zeitgenosse einen Gutteil der ihm So formuliert Schopenhauer die kantische Unterscheidung in ›Grundlage‹ : 241. Vgl. zu Kants Rede vom »echten moralischen Wert« einer Handlung: 398 – Hervorh. HK.

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Gefordert: ›Moralität‹

erforderlich dünkenden Handlungen wegen deren ›Verallgemeinerbarkeit‹ ausführen – mit der prudentiellen ›Hinterabsicht‹, sich damit bei der Zielgruppe bekennender Kantianer beliebt zu machen. Der letzte Grund für derlei Verhalten ist die soziale Anerkennung, die man dadurch zu erlangen hofft. Es handelte sich dabei um einen Klugheitsgrund, das befolgte Gebot würde dabei als ein ›Gebot der Klugheit‹ begriffen. Die bezweckte ›moralische‹ Eigenschaft des zur Schau gestellten ›moralischen‹ Verhaltens ist hier nur deshalb ein Grund für dieses Verhalten, weil es – aufgrund dieser Eigenschaft – einem weiteren, eigeninteressierten Zweck dienstbar ist. Moralisch begriffen wird eine Forderung demnach nur, wenn jemandes letzter Befürwortungs- oder Ausführungsgrund für die geforderte Handlung selber ein moralischer Grund ist. In Kants moraltheoretischem Universum ist demnach die Forderung, eine Handlung wegen ihrer ›Verallgemeinerbarkeit‹ auszuführen, nur dann eine moralische Forderung, wenn ihre Verallgemeinerbarkeit den letzten Grund für ihre Empfehlung oder Befolgung darstellt. Natürlich kann es moralfremde Zusatzempfehlungen für verallgemeinerbare oder sonstwie moralisch qualifizierte Handlungen geben. Der Adressat einer moralischen Forderung darf dafür offen sein, warum auch nicht, und daraus Zusatzgründe für sein gebotsmäßiges Verhalten beziehen. Solche zusätzlichen Gründe müssen den moralischen Charakter einer Forderung nicht tangieren – obwohl Kant dies wohl anders gesehen hätte. Aber der Grund, eine moralisch geforderte Handlung wegen ihrer moralischen Qualitäten auszuführen, darf nicht von solchen weiteren, nicht-moralischen Gründen abhängen. Diese dürfen nicht das dominierende Motiv sein, aus dem eine moralisch geforderte Handlung befürwortet oder befolgt wird: soll es sich dabei um eine moralische Forderung handeln. Analoges gilt natürlich für prudentielle und andere nicht-moralische Forderungen, und für hypothetische Moralgebote. Auch bei ihnen wird der Forderungscharakter durch die letzten Gründe festgelegt, aus welchen die am Forderungsspiel Beteiligten das jeweils Geforderte gut heißen oder ausführen. Aber nicht nur spezielle Moralgebote fordern die Ausführung von Handlungen, die in letzter Instanz moralisch motiviert sind. Auch von Kants oberstem Moralgebot muss man wohl annehmen, dass es nicht nur moralkonformes Verhalten verlangt, sondern ein letztinstanzliches Handeln aus »dem moralischen Grunde der Pflicht« (407). Insofern sich der Kategorische Imperativ normativ A

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auf Handlungsmaximen bezieht, verlangt er in der Weise zu handeln, dass das subjektive »Prinzip der Handlung […] seinen Bewegungsgrund« nicht von der »erwarteten Wirkung« entlehnt (401), sondern von einem genuin moralischen Motiv. Das moralische Gesetz ist für Kant eine ›Vorschrift‹, sich Maximen zuletzt um ihrer ›Form‹ willen – also wegen ihrer Verallgemeinerbarkeit – zu Eigen zu machen. 87 Es fordert also die ›Moralität‹ von Maximen. Die Textbasis für die These, dass kantisch konzipierte Moralgebote die Moralität der geforderten Handlungen verlangen, ist zugegebenermaßen nicht gerade breit. Der Stellensucher muss sich deshalb nicht schämen, erneut einen Satz einzurücken, an dem er oben bereits den charakteristischen Grund für eine moralisch-unbedingte Forderung abgelesen hat: So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, […] bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen als allgemeinem Gesetz begriffen werden kann. (441 – Hervorh. HK.)

Dass man ›bloß deswegen‹ nach einer bestimmten Maxime handeln soll, weil sie – im Gegensatz zur gegenteiligen – verallgemeinerbar ist, lese ich als die These: dass ihre Verallgemeinerbarkeit so nicht der einzige, so doch der entscheidende und letzte Grund sein muss, sie sich zu Eigen zu machen und nach ihr zu handeln. Im Sinne moralisch gebotener ›Letztmotivierung‹ lese ich auch Kants Einlassung, wonach bei einem kategorischen Imperativ »der Wille […] ohne andere Triebfeder bloß durchs Gesetz bestimmt werde« (419 – Hervorh. HK). – Nicht zuletzt stützt sich meine Interpretation auf die bereits abgeschöpfte Textquelle, aus der die Nachricht über ›Form und Prinzip‹ moralisch gebotener Handlungen stammt (416). Ihr verdanken wir auch den Hinweis auf den erforderlichen ›Gesinnungs‹-Hintergrund einer kategorisch-moralisch verlangten Handlung: Er [d. i. ein kategorischer Imperativ] betrifft […] die Form und das Prinzip, woraus sie [d. i. die geforderte Handlung] selbst folgt, und das WesentlichGute derselben besteht in der Gesinnung […]. (416 – Hervorh. und Einf. HK.)

»Es [d. i. das moralische Gesetz] ist aber nicht eine Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll, dadurch eine begehrte Wirkung möglich ist [wie bei hypothetischen Imperativen] […], sondern eine Regel, die bloß den Willen in Ansehung der Form seiner Maximen […] bestimmt«. Vgl. Kant, KprV: 31 – Hervorh. und Einf. HK.

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Gefordert: ›Moralität‹

Das im Zitat hervorgehobene Wörtchen ›Gesinnung‹ wird von Kant oft und gerne benutzt. Der Ausdruck steht für die Ebene der letzten Handlungsgründe einer Person. Wenn demnach eine moralisch-kategorische Forderung – auch und zuletzt – auf die Gesinnung ihres Adressaten zielt, dann gehört zu ihr die Aufforderung, zuletzt aus bestimmten, mithin aus moralischen Gründen zu handeln. Gebote, die als moralische gelten sollen, verlangen somit nicht nur bestimmte Handlungen; und nicht nur bestimmte Gründe für diese Handlungen. Sie verlangen vielmehr eine bestimmte praktische Grundorientierung des Handelnden. Statt von ihrer ›Gesinnung‹ kann man vom Selbstverständnis einer Person sprechen. Das gemeinte Selbstverständnis ist ein praktisches, das die voluntative Grundausrichtung eines Menschen formuliert. Wenn jemandem moralisches Handeln ›selbstverständlich‹ ist, dann hat er ein moralisches Selbstverständnis. Die moralische Qualität einer Handlung ist ihm dann ›Grund genug‹, sie auszuführen. Auch wenn er noch andere Gründe dafür hat sie auszuführen, wird seine Überzeugung von ihrer moralischen Handlungsqualität sein letzter Handlungsgrund sein. Das moralische Selbstverständnis einer Person ist ein moralisches Wollen, das sich in genuin moralisch motivierten Handlungen konkretisiert. Ein reflektiertes moralisches Selbstverständnis beinhaltet die bewusste Grundentscheidung, ein moralischer Mensch sein zu wollen. Kants Theorie moralischer Forderungen scheint demnach auf die Behauptung hinauszulaufen, dass der Charakter solcher Forderungen von Gründen abhängt, die im moralischen Selbstverständnis ihrer Autoren oder Adressaten wurzeln. Sie drücken das moralische Selbstverständnis der Forderungsautoren aus. Zugleich fordern sie ihre Adressaten dazu auf, aus einem moralischen Selbstverständnis heraus zu handeln. Die letztere These kann man sich plausibel machen, indem man die Frage aufwirft, warum uns an der Kenntnis von jemandes Gesinnung liegt. Wir wollen, in moralischen Dingen, dass andere nicht nur sporadisch, sondern regelmäßig und zuverlässig rücksichtsvoll und hilfsbereit sind, usf. Wir werden deshalb auch wollen, dass sie ›standing motives‹, also zuverlässig mobilisierbare Gründe für moralisch wünschenswertes Verhalten haben. Solche Motive können am Ende nur Handlungsgründe sein, die im Selbstverständnis einer Person verankert sind. Weil wir diese motivationale Verankerung moralischen Verhaltens im Selbstverständnis von Personen wünschen, A

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fordern wir mit moralischen Forderungen auch, dass ihre Adressaten zuletzt und ganz ›selbstverständlich‹ aus moralischen Gründen handeln. Diese Überlegung kann man noch untermauern, indem man sich in Erinnerung ruft, dass uns bei anderen, wie bei uns selber, nicht nur die einzelne Handlung und deren moralischer Charakter interessiert. Uns interessiert auch der moralische – oder eben nichtmoralische – Charakter einer Person im Ganzen. Wir wollen wissen, was wir selber und was die anderen für Menschen sind. Davon, und nicht nur von einzelnen Handlungen machen wir abhängig, ob wir jemanden zum Freund oder Lebenspartner haben wollen, oder ob wir uns selber für geeignet halten, so wichtige Lebensrollen zu spielen. Die Antworten auf unsere diesbezüglichen Fragen lesen wir – nicht allein, aber vielleicht doch im wesentlichen – an den Gründen ab, die Personen für ihr Verhalten haben. Und an ihren letzten Gründen, also an ihrem praktischen Selbstverständnis: soweit dieses für uns erkennbar ist. Weil uns so vital daran liegt, zu wissen, was wir selber und was andere für Menschen sind, deshalb fordern wir auch bestimmte Weisen des Menschseins, von uns und von andern. Die wahrscheinlich dringlichste Forderung richtet sich dabei darauf, dass zu jemandes Selbstkonstruktion ein moralischer Wille gehören möge. Demzufolge würde Kants ›gesinnungsethische‹ Konzeption moralischer Vorschriften am Ende auf die These hinauslaufen, dass wir uns damit nicht nur gegenseitig zu einzelnen moralischen Handlungen, sondern auch dazu auffordern, einen moralischen Charakter zu haben oder ihn auszubilden; dass wir uns damit gegenseitig dazu auffordern, gute Menschen zu sein oder uns wenigstens darum zu bemühen, welche zu werden. Diese Forderung wird natürlich selten explizit erhoben. Moralische Forderungen betreffen meistens konkrete Handlungen oder Unterlassungen, und darüber hinaus bestimmte Handlungsweisen. Folgt man Kant, dann müsste man aber von diesen konkreteren Forderungen annehmen dürfen, dass darin die grundsätzliche Aufforderung zu einer moralischen Existenz ›mitschwingt‹.

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Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen

5.9 Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen Zeitgenössischen Moralphilosophen will es gerne so scheinen, »daß […] die Idee, daß das moralische Sollen (oder Müssen) einen nicht bedingten Sinn hat […,] sinnlos ist«. Tugendhat, den ich soeben zitiert habe, kommt deshalb ein solches unbedingtes ›Sollen‹ wie »eine säkularisierte Stimme Gottes« vor. »Gott zu naturalisieren«, so meint er, sei aber »nicht möglich«. 88 Kant-Kritiker wie Tugendhat sprechen moralischen Forderungen einen ›unbedingten‹ Charakter deshalb ab, weil sie eine jede Handlungsvorschrift von Bedingungen abhängen sehen, die ihre anscheinende Unbedingtheit ›relativieren‹. 89 Es kommt aber, wie ich in diesem Kapitel deutlich zu machen versucht habe, für den ›unbedingten‹ Charakter einer Forderung nicht darauf an, dass sie von allen Bedingungen unabhängig ist. Es ist nur eine ganz bestimmte Abhängigkeit, in der solche Forderungen nicht stehen dürfen. Sie dürfen (zuletzt) nicht von funktionalen Gründen abhängen. Über diese ›negative‹ Bestimmung des unbedingten Forderungscharakters hinaus ist es mir hoffentlich gelungen, dem praktisch Unbedingten einen plausiblen ›positiven‹ Sinn zu geben – den nämlich, den Kant ihm (meiner Interpretation zufolge) verliehen hat. Der unbedingte Charakter kantischer Moralgebote ließ sich durch moralspezifische Gründe für das damit Geforderte explizieren. Es handelte sich dabei um Gründe der Übereinstimmung des Geforderten mit moralischen Prinzipien oder mit dem moralischen Prinzip. Zuletzt hat sich gezeigt, dass Moralvorschriften dadurch charakterisierbar sind, dass sie ein Handeln verlangen, das zuletzt aus moralischen Gründen erfolgt: aus Gründen, die sich aus einem moralischen Selbstverständnis ergeben. In der beschriebenen ›Abhängigkeit‹ des unbedingten Charakters gewisser Vorschriften von spezifischen Gründen eine Gefahr für den guten Sinn zu sehen, in dem es sich bei ihnen um ›unbedingte‹ Forderungen handelt, wäre sicherlich verfehlt. Der Bezug auf Vgl. Tugendhat, VüE: 24 f. – Hervorh. HK. Vgl. dazu die Tugendhat-Darstellung im 3. Kapitel meiner Untersuchung. 89 Vgl. dazu die Tugendhat-Passagen im 3. und 4. Kapitel, sowie im 6. Kapitel den Abschnitt 6.5.: Moralische Unbedingtheit, moralisches Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung. 88

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Kants Verständnis der Unbedingtheit moralischer Forderungen

Gründe gehört zu einer jeden Forderung, also auch zu einer unbedingten. Die an Kant orientierten Überlegungen dieses Kapitels waren, wenn man so will, auch ein Beitrag zu einer ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹. Um den Charakter gewisser Handlungsvorschriften erfassen zu können, muss man annehmen, dass es noch andere als nur funktionale Handlungsgründe gibt. Wie wir sahen, gibt es sie, in Form nicht-funktionaler, prinzipienorientierter Übereinstimmungsgründe. Mit der umfassenderen ›Vernunft‹, die damit gegen ihre instrumentelle Schrumpfversion geltend gemacht wird, muss aber kein anspruchsvoller, kantischer Vernunftbegriff gemeint sein. Es reicht für die Kritik einer funktionalistisch verengten Vernunftkonzeption, wenn man ›Vernunft‹ im Sinne der Fähigkeit versteht, seine Zwecksetzungen, Handlungen und Forderungen begründen zu können – und wenn man auf einer Pluralität verschiedenartiger, darunter auch nicht-instrumenteller, prinzipienorientierter Handlungsgründe beharrt. An dieser Stelle liegt es nahe, auf die Kantianische Konzeptualisierung moralischer Forderungen im Ganzen zurückzukommen, so wie ich sie im 2. Kapitel entfaltet habe. Kantisch konzipierte Moralvorschriften hatte ich dort summarisch als ›unbedingte Vernunftgebote‹ erfasst. Da mir, wie vielen anderen Skeptikern, der (apriorische) Vernunft-Charakter solcher Direktiven als zweifelhaft erschien90 , verblieb als Träger kantianischer Hoffnungen deren angebliche ›Unbedingtheit‹. Die Frage, ob sich die verbleibenden Bestandteile der Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen aus ihrer ›Unbedingtheit‹ ergeben, musste ich im 2. Kapitel auf sich beruhen lassen: so lange, bis der Begriff einer ›unbedingten‹ Forderung aufgeklärt war. Nachdem ich im jetzigen Kapitel den von Kant mit dem Ausdruck ›unbedingt‹ anvisierten Forderungscharakter analysiert habe, kann ich hier nun (wenigstens zum Teil) die ausstehende Antwort geben. Als Merkmale kantisch konzipierter Moralgebote wurden im Um in diesem Punkt nicht nur ein allgemeines Vorurteil mitzuvollziehen, werde ich im 6. Kapitel ein eigenständiges Argument gegen Kants rationalistische Konzeption moralischer Vorschriften entwickeln. Vgl. dort den Abschnitt 6.3.: Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten. – Den ethischen Apriorismus habe ich bereits im 2. Kapitel kritisiert. Vgl. dort den Abschnitt 2.7. Apriorische Vernunftgebote.

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Resümee. Die Kantianische Konzeptualisierung, wieder aufgenommen

2. Kapitel, neben dem angeblichen Vernunftcharakter und neben der ›Unbedingtheit‹, ihre radikale Andersheit, ihr Pflicht-Charakter, ihr Rückhalt in Prinzipien, ihre universalistischen Implikationen und ihre (rationale) Unausweichlichkeit aufgeführt. Besonders aus der ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Gebote schien sich ein berechtigter Vorrangsanspruch moralischer Forderungen zu ergeben. Die ›radikale Andersheit‹ von Moralgeboten ist bereits durch mein 4. Kapitel in Frage gestellt: durch den hoffentlich gelungenen Versuch, den Existenzanspruch ›hypothetischer‹ Moralvorschriften plausibel zu machen. Ihr Anspruch auf radikale Alterität ist erst recht dahin, falls es mir im folgenden 6. Kapitel zu zeigen gelingt, dass es auch nicht-moralische Forderungen gibt, die in strukturell demselben Sinn ›unbedingt‹ sind wie kantische Moralgebote. Erst im 6. Kapitel behandele ich auch die Fragen, ob moralische Forderungen immer ›Pflichten‹ zum Ausdruck bringen und ob sie allemal auf ›Prinzipien‹ gestützt sind – und ob sich beides aus ihrer ›Unbedingtheit‹ herleiten lässt. 91 Bleibt für jetzt ein Blick zurück auf den moralischen ›Universalismus‹ und auf die sog. ›Unausweichlichkeit‹ moralischer Forderungen, mithin ihren Anspruch auf ›ausnahmsloses‹ Befolgtwerden sowie die damit verbundene Vorrangsprätention (›overridingness‹). Beim Universalismus, hatte sich im 2. Kapitel ergeben, muss man mehrere Varianten unterscheiden.92 Hinsichtlich des ›Universalismus der Forderungsadressaten‹ konnte es scheinen, dass er sich aus dem ›unbedingten‹ Charakter moralischer Gebote ergibt: Das Fallenlassen des Zweckbezuges, der für ›bedingte‹ Gebote charakteristisch ist, scheint den Adressatenkreis einer Forderung zu entschränken. Wie sich im jetzigen Kapitel gezeigt hat, kann von einer ›Zwecklosigkeit‹ moralisch geforderter Handlung nur in dem Sinne die Rede kann, dass der letzte Grund, aus dem sie befürwortet oder ausgeführt werden, nicht die Verfolgung eines ›weiteren‹ Zweckes sein darf. Aus dieser, meiner ›negativen‹ Unbedingtheits-Bestimmung ergibt sich der Adressaten-Universalismus aber nicht. Noch weniger folgt er aus meiner ›positiven‹ Unbedingtheitserklärung. Denn daraus, dass moralisch-unbedingte Forderungen durch Gründe der Übereinstimmung des Geforderten mit moralischen Prinzipien Vgl. im 6. Kapitel die Abschnitte 6.1.: Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht, sowie 6.2.: Prinzipienfixierung. 92 Vgl. im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.5: Universalismus. 91

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zu unterfüttern sind, folgt keineswegs die Universalität ihres Adressatenkreises. Dasselbe gilt für die beiden Formen des ›Begründungsuniversalismus‹ und für den sog. ›Zustimmungsuniversalismus‹. Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen den prinzipienorientierten Übereinstimmungsgründen, durch die ich unbedingte Moralgebote charakterisiert habe, und den Behauptungen, a) dass man mit solchen Geboten eine universelle Begründungskompetenz für sich in Anspruch nimmt, b) dass man sie gegenüber allen begründen können muss, oder c) dass ihre Validität von der (qualifizierten) Zustimmung aller abhängt. Auch ein bestimmter Bereich moralischer Schützlinge, mithin der sog. ›Klientenuniversalismus‹, ergibt sich in keiner Weise aus dem erarbeiteten Unbedingtheitskonzept. Vom ›Autoren-Universalismus‹ ganz zu schweigen. Nicht besser steht es für die angebliche ›Unausweichlichkeit‹ des moralisch Geforderten. Von der Feststellung, dass unbedingtheitskonstitutive Gründe für eine geforderte Handlung prinzipiengestützte Gründe der Übereinstimmung dieser Handlung mit moralischen Prinzipien sind, führt kein direkter Weg zu der Auffassung, dass die entsprechende Forderung ausnahmslos befolgt werden muss. Ebensowenig folgt aus der so verstandenen ›Unbedingtheit‹ die Priorität oder Superiorität des moralisch Unbedingten: weder gegenüber ›hypothetischen‹ Moralgeboten noch gegenüber nicht-moralischen Forderungen. Falls moralische Forderungen gleichwohl einen Vorrang vor anderen besitzen sollten, ergibt sich dieser jedenfalls nicht aus ihrer ›Unbedingtheit‹. Wenn die anderen Charakteristika der Kantianischen Konzeptualisierung moralischer Forderungen von deren UnbedingtheitsMerkmal unabhängig sind, dann ist dies gut so. Denn für den Fall, dass sie entscheidender Kritik ausgesetzt sind, bleibt davon der ›unbedingte‹ Charakter solcher Gebote unberührt.

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Die kantische Konzeption unbedingter Moralgebote enthält bewahrenswerte Einsichten. Diese habe ich im vorigen Kapitel herauszuarbeiten versucht. Kant vermag plausibel zu machen, dass Forderungen – moralische und nicht-moralische – durch das Angeben von Gründen für das jeweils Geforderte angemessen beschrieben werden können. Ich habe diese Auffassung einen ›reasons approach‹ zur Charakterisierung von Handlungsvorschriften genannt. Es ist Kant überdies gelungen, eine sinnvolle Explikation jener ›Unbedingtheit‹ zu geben, die ihm das Unterscheidungsmerkmal moralischer von nicht-moralischen Geboten zu sein schien. Den ›unbedingten‹ Charakter einer Forderung hat er durch moralische Prinzipiengründe erklärt, also durch nicht-funktionale Gründe der Übereinstimmung einer geforderten Handlung mit einem bzw. dem moralischen Prinzip. Da man unschwer Beispiele für moralische Vorschriften beibringen kann, die in diesem Sinne ›unbedingt‹ sind, scheint damit ein Monopolanspruch für hypothetische Moralgebote aus der Welt zu sein. Nicht zuletzt hat Kant erkannt, dass moralische Forderungen, genau genommen die Gründe für das damit Geforderte, im Selbstverständnis der am moralischen Forderungsgeschehen Beteiligten verankert sind. Diese Errungenschaften der kantischen Theorie moralischer Forderungen sollen durch die Kritik nicht zugeschüttet werden, die sie in anderen Punkten nachgerade provoziert. Ihrer kritischen Prüfung ist deshalb das jetzige und abschließende Kapitel meiner Untersuchung gewidmet. 1. Zwar ist es Kant gelungen, das Existenzrecht nicht-hypothetischer Moralgebote zu behaupten. Bereits im 4. Kapitel hat sich jedoch gezeigt, dass mindestens manche Moralvorschriften auf plausible Weise als ›hypothetische‹ Imperative charakterisiert werden können. Folglich erfasst Kant nur eine Sorte moralischer Präskriptionen. Falls es der späteren Philippa Foot gelungen sein sollte, einen ›neuen‹ Typus moralischer Vernunftgebote zu beschreiben (vgl. im A

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4. Kapitel den Abschnitt 4.7), dann sind Kants kategorisch-unbedingte Forderungen überdies nur ein Typus nicht-hypothetischer Moralvorschriften. Die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung scheint also keine notwendige Bedingung für ihren moralischen Charakter zu sein. Sie ist also auch kein ›Kriterium‹ – keine hinreichende und notwendige Bedingung – für die Auszeichnung von moralischen gegenüber nicht-moralischen Geboten. 2. Die Existenzannahme sowohl unbedingter wie auch hypothetisch-bedingter Moralvorschriften begründet die These vom heterogenen Charakter moralischer Forderungen. Diese Heterogenität lenkt den Blick auf eine gewöhnlich als selbstverständlich erscheinende, aber falsche Voraussetzung: eine Homogenitätsprämisse mit Bezug auf den Begriff des Moralischen. (Vgl. den Kapitelabschnitt 6.9.) 3. Man wird sich unausweichlich fragen, ob die ›Unbedingtheit‹ eines Gebotes, wenn sie schon keine ›notwendige‹ Bedingung für dessen moralischen Charakter ist, wenigstens eine hinreichende Bedingung für das Vorliegen moralischer Forderungen darstellt; ob also wenigstens alle ›unbedingten‹ Forderungen Moralvorschriften sind. Wie ich zeigen möchte, ist auch dies nicht der Fall. Denn es gibt nicht-moralische Vorschriften, die in strukturell demselben Sinne wie kantische Moralgebote ›unbedingte‹ Forderungen sind. Es handelt sich dabei um Forderungen, die existenzielle Handlungserfordernisse formulieren, in denen das Selbstverständnis einer Person zum Ausdruck kommt. Auch unbedingte Moralgebote sind in diesem Sinne ›existenzielle‹ Forderungen. Aber nicht alle Forderungen dieser Art sind moralische – weil es auch nicht-moralische Selbstkonzeptionen gibt. (6.6) 4. Die Annahme nicht-moralischer Unbedingtheiten stellt auch den kantischen Begriff der Pflicht in Frage, demzufolge eine moralische ›Verpflichtung‹ die ›unbedingte Notwendigkeit einer Handlung‹ ist. Tatsächlich wird sich zeigen, dass Kant über keine haltbare Explikation eines Pflichtbegriffs verfügt. (6.1, 6.6, 6.7) 5. Die Klasse von Vorschriften, die im bislang explizierten Sinne ›unbedingt‹ sind, wäre demnach größer als die Klasse kantischer Moralgebote. Man kann darüber hinaus fragen, ob seine Unbedingtheitserklärung wenigstens in dem Sinne umfassend ist, dass sie immerhin alle ›unbedingten‹ Moralgebote erfasst. Es wird sich zeigen, dass der unbedingte Charakter eines obersten Moralprinzips, wie der Kategorischer Imperativ eines ist, durch die bislang gegebene Unbe254

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dingtheitsanalyse nicht expliziert werden kann. Kant bringt denn auch für sein oberstes Moralgebot einen zweiten, stärkeren, metaphysischen Unbedingtheitsbegriff ins Spiel – der berechtigte Kritik auf sich zieht. (6.3) 6. Zum Glück lässt sich das im 5. Kapitel entfaltete ›harmlose‹ Unbedingtheitskonzept auch ohne Kants zweiten, metaphysischen Unbedingtheitsbegriff aufrechterhalten. Jedoch nur, wenn man die ›unproblematische‹ Unbedingtheit von Moralgeboten im Kontext eines holistischen Ethikmodell reformuliert – also das hierarchische Theoriemodell aufgibt, dem die kantische Ethik verpflichtet ist. (6.4) 7. Eine kritische Prüfung kantisch konzipierter Moralvorschriften wird auch seine Prinzipienfixierung bei der Erklärung des ›unbedingten‹ Forderungscharakters in Frage stellen. Diese Erklärung ist nur plausibel, wenn man das Relatum der Übereinstimmungsgründe, durch welche der ›unbedingte‹ Charakter einer Forderung erläutert wurde, flexibler beschreibt. Denn es gibt andere moralische ›Standards‹ als Prinzipien, mit Bezug auf die ein unbedingtheitsrelevanter Handlungsgrund, und mithin der unbedingte Forderungscharakter, expliziert werden kann. (6.2) Gibt es neben moralischen auch nichtmoralische Forderungen, die im analysierten Sinne ›unbedingt‹ sind, dann ist auch deren Unbedingtheit nicht allein mit Berufung auf (nicht-moralische) ›Prinzipien‹ zu erläutern. (6.6) 8. Auch dort, wo es nicht um die Erläuterung eines ›unbedingten Forderungscharakters‹ geht, erweist sich die Prinzipienfixierung der kantischen Ethik als fragwürdig. Der Versuch, den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Geboten ohne die Unterscheidung von ›unbedingten‹ und ›bedingten‹ Geboten direkt durch die Unterscheidung von Prinzipiengründen und Zweckmäßigkeitsgründen zu explizieren, ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie eine auf Prinzipiengründe verengte Konzeption moralischer Begründung. Gegen dieses prinzipienfixierte Begründungsmodell ist an die Mannigfaltigkeit moralischer Begründungsinstrumente zu erinnern. (6.2) 9. Im vorigen Kapitel wurde an die kantische Lehrmeinung erinnert, der zufolge der Grund, der die Unbedingtheit moralischer Forderungen explizieren soll, in der Behauptung der Verallgemeinerbarkeit der damit geforderten Handlungen besteht. Man kann bezweifeln, dass diese Verallgemeinerbarkeit tatsächlich das ›angemessene‹ moralische Superprädikat ist. Und man kann erwägen, es durch das ein oder andere Prädikat derselben Allgemeinheit zu ersetzen, A

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oder durch eine Pluralität solcher (oder konkreterer) moralischer Prädikate. Mithin steht Kants Kategorischer Imperativ, der Handlungen diese Eigenschaft der Verallgemeinerbarkeit vorschreibt, in seiner Funktion als oberstes, oder als einziges oberstes Prinzip zur Debatte. 1 Diese Fragen werden im Folgenden nur gestreift (6.2). Zu beantworten wären sie nur im Rahmen einer systematisch ausgearbeiteten Theorie moralischer Gründe. 10. Überdies stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein ›oberstes‹ Moralprinzip geben muss, gibt oder überhaupt geben kann. Die vorhin zur Rettung der kantischen Unbedingtheitserklärung ins Spiel gebrachte ›holistische‹ Ethikkonzeption scheint dies in Frage zu stellen. Ich werde jedoch zu zeigen versuchen, dass auch in einer holistisch konzipierten Ethik Platz für ein ›oberstes‹, und für ein ›unbedingtes‹ oberstes Prinzip sein kann. (6.4) 11. Bei der Analyse von Kants unbedingten Moralgeboten habe ich diese an ein moralisches ›Selbstverständnis‹ von Forderungsautoren und -adressaten gebunden. Dies legt den Einwand nahe, dass eine solche ›Selbst‹-Bezüglichkeit selbstgefällig sei und deshalb den ›moralischen‹ Charakter der so beschriebenen Forderungen verderbe. Dieser Einwand lässt sich durch eine Präzisierung meiner bisherigen Unbedingtheitserklärung zurückweisen (6.8). Dies geschieht auch mit dem weiteren Bedenken, wonach beim moralischen Fordern ein ›Wille zur Moral‹ vorauszusetzen sei: was den ›unbedingten‹ Charakter moralischer Vorschriften genauso zunichte mache wie eine ›prudentielle‹ Moralbegründung. Dies war von Tugendhat behauptet worden – und wird von mir abgestritten. (6.5) 12. Nicht einmal den Ausgangspunkt von Kants Analyse moralischer (und nicht-moralischer) Handlungsvorschriften muss man überzeugend finden. Ich werde bestreiten, dass eine jede Forderung eine praktische Notwendigkeit ausdrückt und ›moralische‹ Gebote allemal eine (moralische) Handlungsnotwendigkeit formulieren. Ebenso falsch ist m. E. die kantische Auffassung, dass alle moralischen Forderungen ›Pflichten‹ zum Ausdruck bringen. (6.1) 13. Einige der kritischen wie auch konstruktiven Beiträge zur Unbedingtheits-Diskussion, die im 3. Kapitel zur Darstellung kamen, glaubte ich zurückstellen zu sollen: bis der kantische Begriff einer ›unbedingten‹ Forderung hinreichend geklärt sein würde. Es 1 Vgl. Charles Larmore, Patterns of Moral Complexity, Kapitel VI; sowie Günther Patzig, »Ein Plädoyer für utilitaristische Grundsätze in der Ethik«.

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Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht

handelte sich dabei um Überlegungen von Harry Frankfurt, Bernard Williams und Richard Rorty. Sie können nun wieder aufgenommen und gewürdigt werden (6.1, 6.2, 6.3): insbesondere ihre Versuche, die Existenz nicht-moralischer Unbedingtheiten plausibel zu machen (6.7). Wir nehmen mit diesem Kapitel ›Abschied vom Unbedingten‹. Und zwar hauptsächlich in dem Sinne, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen, es sei die Unbedingtheit eines Gebotes ein Kriterium für seinen moralischen Charakter und damit ein Unterscheidungsmerkmal moralischer von andersartigen Handlungsvorschriften. Dass dem nicht so ist, ergibt sich aus den Überlegungen des 4. Kapitels und aus den Argumenten, die ich im jetzigen, abschließenden Kapitel vortragen werde.

6.1 Moralische Notwendigkeit, Unbedingtheit und Pflicht 2 Drückt eine Forderung immer eine praktische ›Notwendigkeit‹ aus? Bringen moralische Forderungen immer eine moralische ›Notwendigkeit‹ und zugleich ›Verpflichtungen‹ zum Ausdruck? 3 Für Kantianer ist eine affirmative Antwort auf diese Fragen selbstverständlich. Im Folgenden wird sich jedoch zeigen, dass Forderungen auch etwas weniger Dramatisches als eine Notwendigkeit ausdrücken können. Vor allem aber werden wir sehen, dass auch moralische Forderungen nicht immer ein Tun-Müssen zum Ausdruck bringen und dass das tatsächliche Bestehen einer moralischen ›Notwendigkeit‹ nicht automatisch ein Verpflichtetsein bedeutet. Folglich formulieren moralische Forderungen nicht immer Pflichten. 4 Vgl. zum Folgenden die ausführlichere Abhandlung des Themas in Köhl, »Praktische Notwendigkeiten und moralisches Verpflichtetsein«. 3 Die Ausdrücke ›Verpflichtung‹ und ›Pflicht‹ behandele ich in diesem Kapitel als gegeneinander austauschbar. Kontexte, in denen sich deren Verwendungsweise nicht deckt, sind für die folgenden Überlegungen ohne Belang. Außerdem sind hier mit ›Pflichten‹ bzw. ›Verpflichtungen‹ immer nur moralische gemeint. 4 Diese Auffassung wird auch Konsequenzen haben für eine Konzeption moralischer Verbindlichkeit, die zu den Desideraten einer systematischen Theorie moralischer Forderungen gehört (vgl. in der Einleitung zu diesem Buch den Abschnitt 5.: Ausblick auf eine systematische Theorie moralischer Forderungen). Man wird wohl annehmen müssen, dass verschiedene Moralgebote in unterschiedlichem Grade verbindlich sind oder dass bei manchen gar nicht von einer ›Verbindlichkeit‹ geredet werden sollte. 2

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Für Kant waren ›Gebote‹ begründungsfähige Handlungsaufforderungen. 5 Gründe für (forderbare) Handlungen werden in praktischen Überlegungen erwogen. Das Ergebnis, zu dem eine solche Erwägung gegebenenfalls führt, mündet häufig, wenn auch nicht immer 6, in eine Handlungsaufforderung. 7 Umgekehrt aber gilt für alle (Auf-) Forderungen, dass sie als Schlussfolgerungen aus praktischen Überlegungen darstellbar sind. Solche praktischen Schlussfolgerungen, gleichgültig ob sie technische, prudentielle, produktionsästhetische, rechtliche oder moralische Direktiven ausdrücken, können im allgemeinen mit Hilfe eines ›Sollens‹ oder ›Müssens‹ formuliert werden. Versteht man das ›Sollen‹ im Sinn eines ›Sollte‹, dann scheint sich dieses ›Sollte‹ zum ›Müssen‹ wie ›das Beste‹ zum ›Einzigen‹ zu verhalten. Diese sprachliche Beobachtung stammt von Bernard Williams. 8 Wenn man sie treffend findet und das Tun-›Müssen‹ des ›einzig‹ in Frage Kommenden dessen ›praktische Notwendigkeit‹ nennt 9 , dann ergibt sich Vgl. Kant, GMS: 413. – Kant spricht a. a. O. von ›objektiven Gründen‹ und unterscheidet sie von »subjektiven Ursachen« (Hervorh. HK). Es reicht demnach, wenn man, wie ich dies oben im Haupttext tue, von ›Gründen‹ simpliciter spricht, um kantische ›Gebote‹ zu charakterisieren. Kants Begriff eines ›Gebots‹ ist jedoch insofern anspruchsvoller als der oben in meinem Haupttext in Anspruch genommene, als es sich bei seinen ›objektiven Gründen‹ um solche handelt, »die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind« (a. a. O. – Hervorh. HK). 6 Manche praktische Schlussfolgerung besteht lediglich darin, dass einer Handlung ihre (moralische, prudentielle oder ästhetische usw.) Unbedenklichkeit bescheint wird. – Williams hat darauf hingewiesen, dass auch für Kant eine moralische Schlussfolgerung aus einer praktischen Überlegung nicht immer eine Verpflichtung zum Ausdruck bringt. Es gibt auch für ihn praktische Überlegungen, die darauf hinauslaufen, dass ein bestimmtes Verhalten erlaubt ist. Aber, meint Williams, bei Kant stehe eine solche Überlegung, und eine solche Schlussfolgerung, »unter der Regentschaft der Pflichtvorstellung«. Um herauszufinden, ob etwas erlaubt ist, »fragst du dich, ob du unter einer Verpflichtung stehst, und du entscheidest, dass dies nicht der Fall ist.« Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 175 – Hervorh. HK. 7 Vgl. Bernard Williams, ›Ethics‹ : 175 f.; ders., »Practical Necessity«: 124. 8 Vgl. ders., »Practical Necessity«: 125. 9 Williams findet eine solche Erklärung praktischer Notwendigkeit ›langweilig‹. Sie gibt seines Erachtens nur eine langweilige Antwort auf die Frage, was ein ›Müssen‹ von einem ›Sollen‹ unterscheidet. Vgl. »Practical Necessity«: 126. Für die Belange meiner Kant-Kritik ist die gegebene Erklärung ›praktischer Notwendigkeit‹ jedoch spannend genug. Einen anspruchsvolleren Sinn von ›praktischer Notwendigkeit‹ beschreibt Williams in Termini der ›höchsten deliberativen Priorität‹ plus der ›größten Wichtigkeit‹ einer erforderlichen Handlung. Vgl. ders., ›Ethics‹ : 187 f. Ein noch anspruchsvollerer Sinn von ›praktischer Notwendigkeit‹ kommt, Williams zu5

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zwanglos, dass Forderungen mitnichten immer eine Handlungsnotwendigkeit zum Ausdruck bringen. So offerieren zum Beispiel Gebrauchsanweisungen manchmal mehrere Handlungsmöglichkeiten, darunter oft eine Option mit deutlichen Vorzügen, die (als die ›beste‹) deshalb ergriffen werden sollte; die zu ergreifen mithin ratsam ist. Technische Regeln drücken nur dann eine Handlungsnotwendigkeit aus, wenn nur ein einziges Mittel zum Zweck sinnvollerweise in Frage kommt. 10 Auch das ›Sollen‹ eines Klugheitsgebotes fordert gewöhnlich nur den Einsatz ratsamer Mittel zum individuellen Wohl. Die ›Sprache der Notwendigkeit‹ ist bei dieser Art von Forderungen eher unangebracht. 11 In Klugheitsdingen ist der Gestus der ›Notwendigkeit‹ eher für missionssichere Sektierer charakteristisch – und für Politiker. Ist es doch bequemer, eine politische Entscheidung als den ›einzig gangbaren Weg‹, mithin als notwendig zu deklarieren, als die sinnvollen Handlungsoptionen (und die Gründe pro und contra) öffentlich darzulegen und das Publikum davon zu überzeugen, dass der daraufhin vorgeschlagene Weg ›der beste‹ ist und deshalb eingeschlagen werden sollte. Drücken nicht immerhin moralische Forderungen als solche folge, bei einer Handlungsalternative ins Spiel, die deshalb als ›einzige‹ in Frage kommt, weil die theoretischen Alternativen in dem Sinne nur ›theoretische‹ Alternativen sind, dass es dem Handelnden ›völlig unmöglich‹ erscheint, eine von ihnen zu ergreifen: angesichts der Art von Person, die er ist. Dass dem Handelnden in solchen Fällen ›nur eines zu tun bleibt‹, welches deshalb praktisch notwendig ist, hat hier einen ›starken persönlichen Hintergrund‹. Vgl. ders., a. a. O.: 127. 10 Diese Beschreibung soll die beiden Arten von Fällen umfassen, in denen entweder nur ein zweckmäßiges Mittel verfügbar ist oder in denen ein verfügbares Mittel allen anderen deutlich überlegen zu sein scheint. Auch Williams hat bestritten, dass in jedem Fall ein hypothetischer Imperativ eine praktische Notwendigkeit zum Ausdruck bringt: Es sei falsch, »dass das Sollen, das ›hypothetisch‹ von den Absichten des Handelnden abhängt, ein Mittel benennt, das dafür notwendig ist, dass der Handelnde sein Ziel erreicht. Was charakteristischerweise darin zum Ausdruck kommt, wenn man jemandem sagt, dass er X tun sollte, wenn er Y erreichen möchte, ist dies, dass X das beste oder das vorzuziehende Mittel zum Erreichen von Y ist; wenn es das einzige Mittel ist, mit dem man Y erreichen kann, dann muss er es ergreifen, wenn er Y erreichen will.« Vgl. ders., »Practical Necessity«: 125 – Hervorh. von ›notwendig‹, ›beste‹ und ›einzige‹ : HK. 11 Hingegen meint Kant: Auch »Ratgebung enthält […] Notwendigkeit«, wenn auch »bloß unter subjektiver zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle«. Vgl. ders., GMS: 416. Aber eben, Ratgebung drückt für ihn eine Notwendigkeit aus. Diese wird von Kant, als ›bedingte‹, nur qualifiziert, nicht dementiert. A

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eine praktisch-moralische Notwendigkeit aus? Es kann in einer Handlungssituation auch mehrere moralisch akzeptable Optionen gehen, und eine davon kann – mit Gründen, aber ohne ›zwingenden‹ Grund – als die moralisch beste erscheinen, die deshalb ergriffen werden sollte. Es wäre künstlich oder dogmatisch, die Ausführung der sich derart empfehlenden Option zur moralischen Handlungsnotwendigkeit zu stilisieren. Eine (moralisch-) praktische Notwendigkeit drückt eine moralische Forderung nur dort aus, wo bloß eine moralisch vertretbare Handlung in Frage kommt 12 – sei es, weil es keine moralisch akzeptable Alternative gibt oder weil für alle Alternativen deutlich schwächere Gründe sprechen. 13 Das in allen anderen Fällen moralisch vorzuziehende Verhalten kann man ›moralisch ratsam‹ nennen. Mit dem ›Sollte‹ einer zurückhaltend formulierten moralischen Forderung gibt man einen ›moralischen Rat‹ – nicht mehr und nicht weniger. 14 Der kantische Versuch, alle mit Gründen – und erst recht alle aus ›moralischen‹ Gründen – Vgl. dazu Rortys Abwehrhaltung gegenüber der moralischen und moralphilosophischen »Intuition«, »dass es in jeder Situation immer etwas gibt, welches ›Das Moralisch Einzig Richtige‹ ist, was man zu tun hat«. Vgl. die ›Introduction‹ zu seinem Aufsatzband Consequences of Pragmatism: xlv, Fn. 25. 13 Für mein Argument reicht der dargestellte Begriff ›moralischer Notwendigkeit‹. Es gibt allerdings noch einen ›spannenderen‹ Sinn, in dem von ›moralischen Notwendigkeiten‹ (bzw. von moralischen ›Unmöglichkeiten‹) gesprochen werden kann: »Unter den Beschränkungen, Erfordernissen und Unmöglichkeiten, die ein Handelnder für sich anerkennt, sind diejenigen, die aufgrund spezifisch moralischer Gründe bestehen. Insbesondere enthält die Klasse derjenigen Dinge, die er nicht tun kann, komme […] was mag, all jenes, das er anderen Menschen nicht antun kann«. Vgl. Williams, ›Practical Necessity«: 127 – Hervorh. HK. Eine moralische Notwendigkeit in diesem starken Sinne ergibt sich, wenn jede Alternative zu einer bestimmten, moralisch qualifizierten Handlung für den Handelnden eine moralische Unmöglichkeit darstellt, also, moralisch gesehen, für ihn ein Unding sind. 14 Bei Tugendhats Versuch, die Bedeutungsnuancen zwischen ›müssen‹ und ›sollen‹ herauszuarbeiten, gibt es ein interessantes ›Flimmern‹ zwischen ›sollen‹ und ›sollte‹. Als Beispiele für das im Vergleich zum ›Müssen‹ schwächere ›Sollen‹, »das Ausnahmen zuläßt«, nennt er Sätze, die gar kein ›Sollen‹, sondern ein ›sollte‹ enthalten: »›Es sollte morgen regnen‹ ist ein Beispiel [im Bereich theoretischer Sätze], oder im Praktischen: ›du mußt nicht jetzt aufbrechen, aber du solltest, es ist empfehlenswert‹.« Vgl. ders., VüE: 36 – Klammer-Einf. HK. – Hätte Tugendhat seine Aufmerksamkeit nicht nur der Differenz zwischen ›sollen‹ und ›müssen‹, sondern auch jener zwischen ›sollen‹ und ›sollte‹ geschenkt, hätte auch für ihn, im Bereich des Moralischen, die Idee eines moralischen Rates (»es ist empfehlenswert«) nahegelegen. So aber ist für ihn »[d]ie Klärung des [moralischen] ›muß‹ oder ›soll‹ [hier setzt er beides wieder gleich] identisch mit der Klärung des eigentümlichen Verpflichtungscharakters der moralischen Normen« (a. a. O.: 40 – Hervorh. und Klammereinf.: HK). 12

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geforderten Handlungen vom Nimbus der Notwendigkeit profitieren zu lassen, bedeutet demnach einen beklagenswerten Distinktionsverlust bei der Beschreibung moralischer und nicht-moralischer Überlegungen und Entscheidungen. Der soeben eingeführte Begriff eines moralischen Ratschlags wäre für Kant natürlich ein begriffliches Unding gewesen. Die Vorstellung der »Ratgebung« hat er exklusiv mit dem Begriff der ›Klugheit‹ verknüpft. 15 Auf der kantischen Begriffsfolie betrachtet ist der Begriff eines ›moralischen Rates‹ also ein – hoffentlich nützlicher – Missbrauch der Sprache. 16 Die Einführung des Begriffs eines ›moralischen Rates‹ in den Korpus der kantianischen Moralphilosophie würde eine m. E. erfreuliche Auflockerung von deren Notwendigkeitsfixierung bewirken. Die Auffassung vom Notwendigkeitscharakter aller moralischen Forderungen wird dadurch begünstigt, dass kantianische Moralphilosophen, aber nicht nur sie, dem zurückhaltenden ›Sollte‹ keine Beachtung geschenkt und die Ausdrücke ›Müssen‹ und ›Sollen‹ als bedeutungsgleich behandelt haben. 17 Bei Kant selber ist dieser Sachverhalt besonders deutlich zu erkennen. Da für ihn »[a]lle Imperativen […] die praktische Notwendigkeit einer […] Handlung«, mithin ein praktisches Müssen zum Ausdruck bringen; und da, ihm zufolge, »[a]lle Imperativen […] durch ein Sollen ausgedrückt« werden: hat für ihn ein praktisches ›Sollen‹ ganz offenkundig dieselbe Kraft und Bedeutung wie ein praktisches ›Müssen‹. 18 Und alles moralisch bloß Ratsame, mithin Empfehlenswerte, wird zur moralischen Notwendigkeit erhoben. 19 Vgl. Kant, GMS: 416. Rorty spricht in diesem Sinne von ›kreativem Sprachmissbrauch‹ und von einer ›neuen Sprache‹, die erforderlich sein kann, um gedankliche Verkrustungen aufzubrechen. Nur durch sprachliche Innovationen ist es ggf. möglich, Dinge zur Sprache zu springen, die durch das Raster einer dominierenden Begrifflichkeit fallen. Dadurch kann der logische Raum so erweitert werden, dass Dinge sagbar werden, die zuvor unsagbar waren – oder als ›unsäglich‹ galten. Vgl. ders., »Feminism and Pragmatism«: 204. 17 Ein Großteil der analytischen Ethik ist in diesem Punkt (und nicht nur in diesem) sehr kantianisch. 18 Vgl. Kant, GMS: 413 f. – zweite Hervorh. HK. 19 Die ›natürliche‹ Sprache scheint sich gegen dieses begriffliche Manöver zu sträuben. In manchen Fällen erscheint uns ein ›Sollen‹ als zu schwach, um eine moralische Forderung auszudrücken: »Daß ein Großteil der Philosophie, insbesondere Kant, für die moralischen Normen das Wort ›Sollen‹ verwendet, ist nicht glücklich. Man soll nicht nur sein Versprechen halten, man muß es.« Vgl. Tugendhat, VüE: 36. 15 16

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Das bislang Erreichte lässt sich, soweit es den ›Moralkomplex‹ betrifft, folgendermaßen zusammenfassen: Moralische Forderungen drücken nur manchmal eine Handlungs-Notwendigkeit und ansonsten die moralische Ratsamkeit der geforderten Handlungen aus. Daraus lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen für die Antwort auf die andere eingangs aufgeworfene Frage: ob Moralvorschriften allemal Verpflichtungen formulieren. Wenn moralische Forderungen nicht einmal immer eine praktische ›Notwendigkeit‹ ausdrücken, dann bringen sie, a fortiori, auch nicht jedesmal eine Pflicht zum Ausdruck. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man, wie Kant, das Bestehen einer Verpflichtung als die ›unbedingte Notwendigkeit‹ einer Handlung versteht. 20 Moralisch Gefordertes, das überhaupt nicht getan werden muss, muss auch und erst recht nicht unbedingt getan werden. 21 Mit diesem Ergebnis soll natürlich nicht bestritten werden, dass es moralische Forderungen gibt, die eine Verpflichtung ausdrücken, und dass unter den ›moralischen Notwendigkeiten‹, die manchmal von einem Moralgebot ausgedrückt werden, auch solche mit ›Pflicht‹-Charakter sind. Dies wird man unabhängig davon sagen wollen, ob man den Pflichtbegriff wie Kant fasst oder anders. Indem bestritten wird, dass jede moralische Forderung eine Handlungsnotwendigkeit und eine Verpflichtung ausdrückt, wird betont: dass man den Begriff einer ›moralischen Forderung‹, den Begriff einer ›moralischen Notwendigkeit‹ und den Begriff einer ›Pflicht‹ sorgfältig auseinanderhalten muss. Denn diese Begriffe haben eine unterschiedliche Extension. In diesem ersten Abschnitt des gegenwärtigen Kapitels haben wir uns von Anfang auf einem Terrain bewegt, das Bernard Williams gründlich umgepflügt hat. 22 Er hat dabei die Begriffe einer ›moralischen Notwendigkeit‹ und einer ›Verpflichtung‹ so herausgearbeitet, dass von beiden Seiten her klar wird, dass das Bestehen einer ›Verpflichtung‹ keine moralische ›Notwendigkeit‹ beinhaltet, und vice versa, Vgl. Kant, GMS: 425. Der hier vorgetragene Einwand trifft auch Tugendhat. Ihm zufolge drücken moralische Forderungen, obzwar seines Erachtens ›hypothetische Imperative‹, allemal ein massives ›Müssen‹ aus: moralische Notwendigkeiten, und das heißt für ihn allemal Verpflichtungen. Vgl. seine VüE: 40 f., 44. 22 Vgl. zum Rest dieses Kapitelabschnitts die Williams-Darstellung im 3. Kapitel der vorliegenden Untersuchung. 20 21

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eine moralische ›Notwendigkeit‹ nicht immer auf ein ›Verpflichtsein‹ hinausläuft. 23 Zum ersten: Es besteht keine moralische Notwendigkeit, allemal auszuführen, wozu man moralisch verpflichtet ist. Es gibt Fälle, in denen man sich mit guten moralischen Gründen einer Verpflichtung enthoben glauben darf, zugunsten einer moralischen Alternative ohne Pflichtcharakter. Indem uns Williams solche Fälle in Erinnerung ruft, setzt er die Pflicht auf ihren Pflichtteil. Zum Beispiel: Ein Versprechen zu geben bedeutet auf paradigmatische Weise das Eingehen einer Handlungsverpflichtung. Nun gibt es aber Versprechen, die für ›Geber‹ und ›Abnehmer‹ kein besonderes Gewicht haben. Kollidiert die Einhaltung eines solchen, relativ unwichtigen Versprechens damit, dass ich, aus Solidarität mit einem plötzlich erkrankten Kollegen, für ihn bei einer Prüfung meine einspringen zu sollen (ohne dazu verpflichtet zu sein) und dies tue: dann kann man dies moralisch in Ordnung finden. Also scheinen andere moralische Gesichtspunkte jener Verpflichtung vorgehen zu können. Das Bestehen einer Verpflichtung bedeutet demnach nicht immer eine ›praktische‹, und auch nicht immer eine ›moralische‹ Notwendigkeit. In solchen Fällen hat mein kollegiales Verhalten für mich eine höhere ›deliberative Priorität‹ 24 , mithin ein größeres epistemisches Gewicht als die aus jenem Versprechen herrührende Verpflichtung. »[…] eine Verpflichtung muss bei einem Konflikt zwischen verschiedenen moralischen Erwägungen nicht notwendigerweise den Sieg davontragen«. 25 Dies gilt auch dann, wenn die anstelle der Pflichterfüllung gewählte moralische Option selber weder den Charakter einer Verpflichtung hat (wie in unserem Beispiel) noch auch nur eine ›moralische Notwendigkeit‹ verkörpert. Von einer ›praktischen Notwendigkeit‹ möchte Williams erst sprechen, wenn eine Handlungsoption, die für jemanden ›höchste deliberative Priorität‹ besitzt, zusätzlich von ›größter Wichtigkeit‹ ist. 26 In diesem Falle erst hätte »[…] an einer moralischen Notwendigkeit ist nichts Besonderes […], das zu so etwas wie einer Verpflichtung in einer besonderen Beziehung stünde«. Vgl. Williams, »Practical Necessity«: 127. 24 Vgl. ders., ›Ethics‹ : 183. 25 Vgl. ders., a. a. O.: 180. 26 »Wenn die Schlussfolgerung aus einer Überlegung etwas verkörpert, das höchste deliberative Priorität hat und zugleich von größter Wichtigkeit ist (jedenfalls für den Handelnden), dann kann sie die besondere Form der Schlussfolgerung annehmen, dass man etwas Bestimmtes nicht nur tun sollte, sondern tun muss, und dass man nichts anderes 23

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meine kollegiale Hilfsaktion den Charakter einer praktischen, und hier moralischen, Notwendigkeit. – Besäße meine kollegiale Vertretungsbereitschaft den Rang einer moralischen ›Notwendigkeit‹, würde sie dann zugleich und allemal eine Verpflichtung bedeuten? Bevor ich auf diese Frage eingehe, ziehe ich aus der bisherigen Überlegung eine Schlussfolgerung für den, vielmehr gegen den kantischen Pflichtbegriff. Wenn das Bestehen einer ›Verpflichtung‹ nicht allemal eine (moralisch-) praktische Handlungsnotwendigkeit bedeutet, dann bedeutet sie auch nicht immer eine ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹. Als eine solche aber hatte Kant ›Pflicht‹ definiert. Zum zweiten: Für Kant war eine ›moralische Notwendigkeit‹ immer auch eine ›Verpflichtung‹. 27 Dass dem nicht so ist, versucht Williams an Fällen ›supererogatorischen‹, moralisch bewundernswerten Handelns deutlich zu machen. 28 Am klarsten ist der Kasus bei ›moralischen Heldentaten‹ 29 . Wer unter Einsatz des eigenen Letun kann. Man kann dies eine Schlussfolgerung auf eine praktische Notwendigkeit nennen.« Vgl. ders., a. a. O.: 187 f. – Hervorh. HK. Auch für Harry Frankfurt ist der Begriff der ›Wichtigkeit‹ (›importance‹) sehr wichtig. Er behauptet, »dass die Frage nach dem Wichtigsten von der Frage nach dem moralisch Richtigen unterscheidbar ist«: und dass bisweilen das Moralische das Unwichtigere ist. Vgl. ders., ›Importance‹ : 82. 27 »[…] so heißt die Notwendigkeit der Handlung nach jenem Prinzip [d. i. dem Kategorischen Imperativ] praktische Nötigung d. i. Pflicht.« »Die praktische Notwendigkeit, nach diesem Prinzip zu handeln, d. i. Pflicht«. Vgl. Kant, GMS 434 – Klammereinf. HK. Vgl. auch ders., KprV: 32. 28 »Die Vorstellung einer praktischen Notwendigkeit […] hat, als ein Bestandteil davon, Eingang gefunden in die [kantianisch verstandene] Idee einer moralischen Verpflichtung […]. Gleichwohl signalisiert eine praktische Notwendigkeit, selbst wenn sie auf ethische Gründe gestützt ist, nicht notwendigerweise das Bestehen einer Verpflichtung. Die Handlungsrichtung, die ein Akteur einschlagen ›muss‹, braucht weder mit bestimmten Erwartungen anderer verknüpft zu sein, noch mit Tadel im Fall seines Fehlverhaltens. Ethisch herausragende oder womöglich heroische Handlungen […] sind, insofern damit mehr getan wird, als wozu man verpflichtet ist, keine Verpflichtungen, und wir können normalerweise nicht dazu aufgefordert werden, sie auszuführen, und dafür getadelt werden, wenn wir sie nicht ausführen.« Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 188 – Einf. HK. Man muss den ersten Satz dieses Zitates, angesichts von Williams’ Argument, wohl so verstehen, dass er damit meint: Die Idee der praktischen Notwendigkeit ist unguterweise in den kantischen Pflichtbegriff so eingegangen, dass bei Kant die Begriffe einer ›moralischen‹ Notwendigkeit und einer Verpflichtung ununterscheidbar geworden sind. 29 Diese sind von gewissen Taten mancher homerischer und sophokleischer Helden zu unterscheiden, die wohl nicht moralisch zu qualifizieren sind. Letztere illustrieren eher den Punkt, dass es unbedingte Handlungsnotwendigkeiten geben kann, bei denen es sich nicht um ›moralische‹ handelt. Vgl. dazu die Williams-Darstellung im 3. Kapitel sowie, im gegenwärtigen Kapitel, den Williams-Teil im Abschnitt 6.7.

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bens einen Ertrinkenden zu retten versucht, tut damit gewöhnlich, was er aus seiner moralischen Haltung heraus glaubt tun zu müssen. Er unterwirft sich damit einer, aus seiner Sicht bestehenden, moralischen ›Notwendigkeit‹. Gleichwohl ist unser ›moralischer Held‹ kein kantianischer Held der Pflichterfüllung. Denn seine Tat ist keine, deren Ausführung er von allen anderen verlangen dürfte – und die wir von ihm oder von anderen, unter ähnlichen Umständen, verlangen könnten. Deshalb dürften wir ihn für deren Unterlassung (falls ihn plötzlich der Mut verlassen hätte) auch nicht moralisch tadeln und ihm keine moralischen Vorwürfe machen, und er selber bräuchte sich dafür nicht schuldig zu fühlen. Zu einer Verpflichtung gehört es aber offenbar, dass das betreffende Verhalten von allen (in einer vergleichbaren Situation) verlangt werden kann. Und bei einer Pflichtverfehlung sind bestimmte moralische Reaktionen und Eigenreaktionen, wie Vorwürfe oder Schuldgefühle, angebracht. – Demnach wäre eine moralische Notwendigkeit nicht eo ipso eine Verpflichtung. Dass eine Verpflichtung besteht, stellt einen anderen Typus moralischer Erforderlichkeit dar. 30 Man könnte hier Kant durch die folgenden Einwände in Schutz nehmen wollen. Erstens, könnte man zu erwägen geben, bestehe im Fall unseres Lebensretters nicht ›wirklich‹ eine moralische Handlungsnotwendigkeit. Dieser ›sehe‹ lediglich ›für sich‹ eine demnach bloß ›subjektiv empfundene‹ Handlungserforderlichkeit. Für ihn bestehe deshalb keine Verpflichtung, weil sein Handeln nicht ›objektiv notwendig‹ sei. Mit einer ›objektiven‹ moralischen Notwendigkeit sei aber eine ›Verpflichtung‹ gegeben. Zweitens könnte man aus der mangelnden ›Universalisierbarkeit‹ 31 einer solchen Lebensrettungsaktion ersehen, dass es sich bei der empfundenen Handlungsnotwendigkeit um keine moralische handele. – Für diesen zweiten Einwand scheint überdies das folgende Detail aus meiner Fallbeschreibung zu »[…] die Moral […] hat ein falsches Verständnis von ethischer praktischer Notwendigkeit, insofern sie denkt, dass diese Verpflichtungen eigentümlich ist.« Vgl. Williams, ›Ethics‹ : 196. Er verwendet hier den Ausdruck ›ethisch‹ so, wie in der ganzen vorliegenden Untersuchung das Wort ›moralisch‹ verwendet wird, und er reserviert den Ausdruck ›Moral‹ für eine kantianische Ethikkonzeption. 31 ›Universalisierbarkeit‹ ist hier im Sinne von R. M. Hare zu verstehen, mithin als eine ›Konsistenzanforderung‹, wonach, wenn einer unter bestimmten Umständen etwas Bestimmtes tun muss, dies (unter vergleichbaren Bedingungen) auch jeder andere muss. Vgl. ders., The Language of Morals. 30

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sprechen: Unser Held (sagte ich) hätte sich nicht schuldig fühlen müssen, wäre er durch eine plötzliche Mutlosigkeit von einem Rettungsversuch abgehalten worden. Sind aber Schuldgefühle nicht das Angemessene, wenn jemand das moralisch Notwendige unterlässt? Eine Erwiderung auf diese Einwände kann sich an die Frage halten, welche Arten moralischer Gefühlsreaktionen an welche moralischen Präskriptionen geknüpft sind. 32 Für den moralischen Charakter der Handlungsnotwendigkeit, die unser Lebensretter sieht (und damit gegen den zweiten Einwand) spricht, dass er im Falle seiner Mutlosigkeit eine Scham empfunden hätte, die als moralische Scham zu qualifizieren ist. Denn es handelte sich dabei um die Reaktion auf ein Verhalten, das der moralischen Einstellung des verhinderten Retters widerspricht. Er würde sich als ›moralischer Versager‹ fühlen und sich deshalb schämen. Findet man es plausibel, dass mit einem solchen Versagen zwar moralische ›Scham‹ verbunden sein kann, aber kein Gefühl der ›Schuld‹ verbunden sein muss – anders als bei einer Pflichtverletzung –: dann scheint es zumindest ›subjektive‹ praktische Notwendigkeiten geben zu können, die moralische sind, ohne ›Verpflichtungen‹ zum Ausdruck zu bringen. Aber handelt es sich bei der moralischen Notwendigkeit, welcher unser Lebensretter unterliegt, wirklich nur um eine ›subjektive‹ ? Gegen den zuerst erhobenen Einwand lässt sich geltend machen, dass seine Schamreaktion, falls ihn der Mut verlassen hätte, mit ›ziemlich viel‹ Objektivität einhergeht. Wir Außenstehende könnten, in Kenntnis seines moralischen Selbstverständnisses, seine Scham nicht nur verstehen. Sondern wir könnten auch finden, dass er sich zu Recht schämt. ›Er hätte ins Wasser springen müssen‹ ; ›einer wie er ›muss‹ in so einer Situation springen‹ : können wir ›in so einem Fall‹, also nicht nur über diesen, berechtigterweise sagen. Dies aber sind Feststellungen einer angenommenen moralischen Handlungsnotwendigkeit auf Seiten des verhinderten Lebensretters, die aus einer objektiven Perspektive getroffen werden. – Da auch aus dieser Außenperspektive nicht von einem ›Pflichtversäumnis‹ unseres Helden die Rede sein kann, sind solche ›objektiven‹ Feststellungen einer Handlungsnotwendigkeit Evidenzen für die Behauptung, dass eine moralische Notwendigkeit nicht eo ipso ein Verpflichtetsein bedeutet. Vgl. zum folgenden Williams, ›Ethics‹, 189; 223, Fn. 15, sowie vor allem in seinem Buch Shame and Necessity das 4. Kapitel.

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Der Eindruck, dass es mehr braucht für eine moralische ›Notwendigkeit‹ als die intersubjektiv bestätigbare Handlungsnotwendigkeit aus einem moralischen Selbstverständnis heraus, drängt sich weniger auf, wenn wir, statt substantivisch von einer ›moralischen Notwendigkeit‹, davon sprechen, dass unser ›Held‹ entsprechend ›handeln muss‹ (gegeben sein Selbstverständnis, die Situation, usw.). Bei der substantivischen Zuschreibung einer ›praktisch-moralischen Notwendigkeit‹ assoziiert man die Redeweise, dass eine solche Notwendigkeit ›besteht‹. Worin man leicht (aber zu Unrecht) einen ›stärkeren‹ Objektivitätsanspruch mitklingen hört. Diesem zufolge wäre für das ›objektive‹ Begründetsein einer zu Recht als notwendig angesehenen Handlung verlangt, dass sie nicht nur gegenüber jedermann begründbar zu sein hätte, sondern auch von jedermann verlangt werden könnte. Tatsächlich ›besteht‹ im Fall unseres Lebensretters eine Notwendigkeit, und sie besteht auch ›zu Recht‹ : wenn sie sich in nachvollziehbarer Weise aus seinem Selbstverständnis ergibt. Aber sie besteht nur für ihn, und höchstens noch für wenige Andere, die sein ›supererogatorisches Selbstverständnis‹ teilen (das aber niemand mit ihm teilen muss). 33 Müsste jedermann tun, was unser Held tut, dann (und nur dann) stünde jener ›stärkere‹ Objektivitätsanspruch im Raum, der wohl zu einer Verpflichtung gehört. Die einfachste Antwort auf den Zweifel daran, dass die Ausführung einer moralischen Heldentat eine moralische Notwendigkeit sein kann, besteht im Hinweis auf solche Erfordernisse, hinsichtlich deren niemand bezweifelt, dass es sich dabei um praktische Notwendigkeiten handeln kann. Ich meine damit Erfordernisse, wie sie von manchen hypothetisch-technischen Imperativen ausgedrückt werden. Die Handlungsnotwendigkeit, welche diese gegebenenfalls ausdrücken, besteht auch nur für bestimmte Personen, die sich einen gewissen Zweck zu eigen machen, zu dessen Verwirklichung ein solDieselbe ›objektive Notwendigkeit‹ reklamiert im übrigen Kant für seine Klugheitsgebote. Alle Gebote, auch ›Ratschläge der Klugheit‹, sind für Kant ›objektive Prinzipien‹, im Sinne der damit verbundenen Erwartung ihrer ›objektiven Begründbarkeit‹ (vgl. GMS: 413). Diese Objektivität ist nicht davon berührt, dass er ›Imperative der Klugheit‹ von ›subjektiven‹ (im Sinn von ›individuellen‹) Glücksvorstellungen abhängen sieht. Hat jemand eine ausgeprägte Glücksvorstellung, dann lässt sich ihm mit ›objektiven‹ Gründen raten, was er (Kant zufolge) tun muss (vgl. GMS: 416). – Kant hätte demnach selber einen Begriff von ›praktischer Notwendigkeit‹, der demjenigen Begriff ›moralischer Notwendigkeit‹ korrespondiert, den ich (mit Williams) gegen Kants Pflichtbegriff ausspiele. 33

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cher Imperativ das Ergreifen eines bestimmten Mittels als nötig hinstellt. Analog setzt eine ›supererogatorische Notwendigkeit‹ ein bestimmtes moralisches Selbstverständnis voraus, das auch nicht jeder haben muss. Mithin ist die praktische Notwendigkeit, die in Fällen der banalsten Zweckverfolgung bestehen kann, um nichts ›objektiver‹ als eine Handlungsnotwendigkeit, die ggf. auf der Basis eines optionalen moralischen Selbstverständnisses besteht. Wer für eine praktische Notwendigkeit mehr an ›Objektivität‹ fordert, den verlangt es offenbar nach einer ›absoluten‹, im Sinne einer ›irrelativ‹ bestehenden Notwendigkeit, also nach einem Unding. Zuletzt habe ich untersucht, ob das Vorliegen einer ›moralischen Notwendigkeit‹ gleichbedeutend mit dem Bestehen einer ›Verpflichtung‹ ist. Mit negativem Ausgang. Wie sähe die Sache aus, wenn wir statt von einer ›moralischen Notwendigkeit‹ (einer Handlungsnotwendigkeit aus moralischen Gründen) von deren kantischer Explikation als einer ›unbedingten praktischen Notwendigkeit‹ ausgingen? Bedeutet das Vorliegen einer derart qualifizierten Handlungsnotwendigkeit immer, dass die für notwendig erachtete Handlung eine Verpflichtung darstellt? Wie es gemäß Kants ›Pflicht‹-Definition zu sein hätte. 34 Die vorhin gegebene Beschreibung unseres Lebensretters spricht dafür, dass die für ihn bestehende Handlungsnotwendigkeit eine ›unbedingte‹ Notwendigkeit war. 35 Wer sich ›spontan‹ zu einer Vgl. Kant, GMS: 425. Ein Kantianer könnte gegen das zuletzt vorgeführte Argument einwenden, dass der von mir investierte Begriff einer ›praktisch-moralischen Notwendigkeit‹ – im Sinne einer praktischen Notwendigkeit aus moralischen Gründen – zu schwach sei: wenn dieser Begriff kein Verpflichtetsein bedeute. Man müsse, wie Kant, eine ›moralische Notwendigkeit‹ als ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ auffassen, und eine solche bringe allemal eine ›Pflicht‹ zum Ausdruck. Vgl. Kant, KprV: 32. – Vgl. auch die folgende Fn. 35 Nicht nur das Beispiel unseres Lebensretters macht die Annahme einer ›unbedingten‹ Notwendigkeit plausibel. Auch ›begrifflich‹ betrachtet ist die praktisch-moralische Notwendigkeit, die ich bei der bisherigen Behandlung einer moralischen Heldentat investiert habe, allemal eine ›unbedingte‹ Notwendigkeit. Für Williams ist dies allein schon deshalb so, weil es sich dabei nicht um eine »relative« praktische Notwendigkeit handelt: eine Notwendigkeit ›relativ‹ auf eine optionale Zweckvoraussetzung (vgl. ders., ›Ethics‹ : 188). Ich hingegen musste für das bislang geführte Argument (praktisch-moralische Notwendigkeit impliziert nicht Pflicht) den ›unbedingten‹ Charakter jener Notwendigkeit nicht hervorheben. Denn bei meinem Argument lag der Akzent darauf, dass eine moralische Notwendigkeit keine Verpflichtung bedeutet, die Qualifikation dieser Notwendigkeit war für das Argument ohne Bedeutung. Wir kennen freilich (wovon Wil34

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solchen Rettungsaktion entschließt, wird dabei gewöhnlich keine weiteren Zwecke im Sinn haben (eigenen Vorteil, Ruhm und Ansehen). Damit ist das negative Unbedingtheitskriterium erfüllt. 36 Da unser Held ganz offenbar aus einer moralischen ›Gesinnung‹ heraus handelt (in der ›Prinzipien‹ vermutet werden dürfen, mit denen er sein Handeln in Einklang halten will), ist auch die positive Charakterisierung ›unbedingter‹ moralischer Notwendigkeiten erfüllt. 37 Gleichwohl besteht für unseren Helden keine ›Verpflichtung‹. Demnach besitzt auch eine ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ nicht immer den Charakter einer ›Verpflichtung‹. Da Kant das Bestehen einer ›Pflicht‹ als die ›unbedingte Notwendigkeit einer Handlung‹ definiert hat, ist damit auch sein Pflichtbegriff hinfällig. Ich kann nun die Ergebnisse dieses Kapitelabschnitts zusammentragen. Forderungen – auch moralische Forderungen – formulieren nicht immer eine praktische Notwendigkeit, bisweilen haben sie bloß den Charakter eines Ratschlags. Da auch moralische Forderungen nicht immer eine moralische ›Notwendigkeit‹ ausdrücken, können sie nicht allemal eine unbedingte Notwendigkeit zum Ausdruck bringen. Sie formulieren also auch nicht immer kantisch verstandene ›Pflichten‹. Das Bestehen einer Verpflichtung bedeutet nicht immer eine praktisch-moralische Notwendigkeit und a fortiori auch keine unbedingte praktische Notwendigkeit. Die kantische Definition einer Pflicht, als ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹, ist demnach falsch. – In einem späteren Abschnitt des jetzigen Kapitels (6.6) werden wir überdies sehen, dass die ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ einer Handlung moralisch indifferent ist. Und zwar deshalb, weil es auch nicht-moralische Handlungsunbedingtheiten gibt.

liams nicht spricht) auch ›relative‹ moralische Notwendigkeiten, wie sie von (manchen) hypothetischen Moralgeboten ausgedrückt werden (vgl. das 4. Kapitel meiner Untersuchung). Dass diese nicht immer Verpflichtungen formulieren, wird man (zumal von kantianischer Seite) liebend gerne zugestehen. Überraschender ist die Einsicht, wenn es sich denn um eine solche handelt, dass es nicht prinzipiell auszuschließen ist, dass ›hypothetische‹ Moralgebote manchmal ›Pflichten‹ formulieren. 36 Vgl. im 5. Kapitel die Abschnitte 5.4.: Kritik der Bedingungsanalyse, und 5.5.: Der ›reasons approach‹. 37 Vgl. dazu die ›positive‹ Unbedingtheits-Explikation im 5. Kapitel dieser Untersuchung, im Abschnitt 5.6.: Moralische Gründe für etwas unbedingt Erforderliches. A

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6.2 Prinzipienfixierung Die kantische Ethik hat eine Schwäche für Prinzipien. Bereits im 2. Kapitel, bei der Entfaltung der ›Kantianischen Konzeptualisierung‹ moralischer Forderungen, haben wir gesehen, dass darin moralische Gründe im wesentlichen Prinzipiengründe sind. Inzwischen hat sich, im 5. Kapitel, gezeigt, dass auch die kantische Explikation des ›unbedingten‹ Charakters einer moralischen Forderung in Termini von Prinzipiengründen erfolgt. Damit waren Gründe gemeint, die die Übereinstimmung einer geforderten Handlung mit einem oder dem moralischen Prinzip konstatieren. Diese prinzipienorientierte Konzeption unbedingtheitstiftender Forderungsgründe ist zu eng. Es bleiben dadurch weitere Ressourcen für die Entfaltung des unbedingten Charakters gewisser Moralgebote ausgeblendet. Man kann nicht nur ›Prinzipielles‹ zugunsten einer unbedingten Moralvorschrift vorbringen. Die nicht-funktionalen Übereinstimmungsgründe, durch die ich die ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Forderung erläutert haben, können sich auch auf andere moralische ›Standards‹ stützen. Mit diesen ›anderen‹ Standards, als alternativen Bezugspunkten für nicht-funktionale moralische Übereinstimmungsgründe, sind z. B. moralische Vorbilder, Wertvorstellungen, Ideale, oder Tugenden 38 gemeint, oder das, was ich das moralische Selbstverständnis einer Person genannt habe. Was ›Vorbilder‹ anbelangt, so kann eine moralische Begründung darin bestehen, »dass man in Betracht zieht, was irgendeine ideale oder bewunderte Person wohl tun würde«. 39 Zu den gemeinten ›Wertvorstellungen‹ kann man Kants Idee von Personen als ›Zwecken an sich‹ zählen, die nicht bloß einen ›Wert‹, sondern »Würde d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert« besitzen. 40 Ein Beispiel für die Korrespondenz mit einem ›Ideal‹, die einen Auch Tugendhat zufolge rekurrieren moralische Gründe manchmal auf Tugenden, und nicht immer auf Prinzipien (›Regeln‹). »Ich sage jemandem z. B. ›so kannst du dich nicht benehmen‹. ›Warum nicht?‹, fragt er zurück. ›Weil das‹, so kann die Antwort lauten, ›unliebenswürdig wäre‹, und es kann durchaus der Fall sein, daß man nur das sagen und keine Regel angeben kann. Die Antwort ›weil das unliebenswürdig wäre‹ verweist auf eine Seinsweise bzw. eine Charaktereigenschaft […,] in dem tradierten […] Sprachgebrauch Tugenden genannt […,], für die nicht bestimmte Handlungsregeln [= normative Prinzipien] anzugeben sind.« Vgl. ders., VüE: 41 – Klammereinf. HK. Vgl. auch VüE, die 11. Vorlesung, über ›Tugenden‹. 39 Vgl. Schneewind, »Moral Knowledge and Moral Principles«: 251. 40 Vgl. Kant, GMS: 436. 38

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Prinzipienfixierung

moralischen Grund für eine geforderte Handlung abzugeben vermag, ist deren Übereinstimmung mit Kants Vorstellung von einem ›Reich der Zwecke‹ 41 , oder mit einer anderen Vision einer ›guten‹ Gesellschaft. Man sollte demnach die Gründe für unbedingte Moralgebote nicht länger als ›Prinzipiengründe‹ charakterisieren, sondern als ›Gründe der Übereinstimmung mit einem moralischen Standard‹. Die kantische Explikation eines unbedingten Forderungscharakters moralischer Forderungen ist nur haltbar, wenn man die Beschränkung auf Prinzipiengründe aufhebt. Das Ergebnis der vorigen Absätze kann man auch in Termini moralischer Eigenschaften formulieren. Die moralische Eigenschaft, die Kants oberste Begründungsinstanz – der Kategorische Imperativ – von moralisch-unbedingt erforderlichen Handlungen verlangt, ist deren ›Verallgemeinerbarkeit‹. Dass man eine Handlung verallgemeinern kann, ist m. a. W. der oberste, allemal verfügbare moralische Grund, den das höchste kantische Moralprinzip formuliert. Wenn dieses Prinzip nicht die einzige allgemeinste Berufungsinstanz für moralische Gründe darstellt, sondern an seine Seite andere moralische Standards treten, dann ist die ›Verallgemeinerbarkeit‹ nicht länger die allein moralisch-machende Handlungseigenschaft. Dass eine bestimmte Handlung mit der Tugend der Gerechtigkeit oder der Tapferkeit übereinstimmt – also gerecht bzw. tapfer ist –, ist ggf. ebenso ein moralischer Befürwortungsgrund wie die Tatsache, dass damit andere als Zwecke-an-sich behandelt oder als gleichberechtigte Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft geachtet werden. Sobald neben dem moralischen Prinzip (mit seinem Verallgemeinerbarkeitspostulat) und niederrangigen moralische Prinzipien (die konkretere moralische Eigenschaften verlangen) auch nicht-prinzipielle Gesichtspunkte in den Blick kommen, als nicht-funktionale Bezugspunkte moralisch geforderter Handlungen: wird der Raum für eine Fülle mehr oder weniger konkreter Moralprädikate geöffnet, durch deren Zuschreibung nicht-funktionale moralische Gründe formuliert werden können. Es sind dies alles moralische Gründe, die den ›unbedingten‹ Charakter der betreffenden Forderungen ermöglichen. Die Fixierung auf Prinzipiengründe ist nicht allein bei der Erklärung eines ›unbedingten‹ Forderungscharakters von geringem Nutzen. Auch der Versuch, in Absehung von diesem ›Unbedingtheits‹-Kon41

Vgl. Kant, GMS: 433. A

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text, den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Handlungsvorschriften direkt durch die Unterscheidung von Prinzipien- und Zweckmäßigkeitsgründen zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt. Denn einerseits gibt es, bei hypothetischen Moralgeboten, auch moralische Zweckmäßigkeitsgründe. Andererseits gibt es auch nicht-moralische Prinzipien, mit denen man nicht-moralische (zum Teil sogar ›unbedingte‹) Erfordernisse begründen kann. 42 Rortys kantkritischer These ist also Recht zu geben, dass der ›Gegensatz zwischen der Berufung auf ein Prinzip und der Berufung auf Zweckmäßigkeit‹ nicht dazu taugt, ›die klassische kantische Entgegensetzung von Moral und Klugheit‹, von moralischen und nichtmoralischen Forderungen, zu explizieren. 43 Recht hat er mit der These, nicht aber mit dem Argument, das er dafür gibt. Nicht zwingend ist außerdem die radikale Schlussfolgerung, die er aus seinem Argument gezogen hat: der zufolge man zusammen mit dem Begriff eines moralischen ›Prinzips‹ auch den Begriff der ›Moral‹ – und mithin die Unterscheidung von ›Moral‹ und ›Klugheit‹ – fallenlassen sollte. Rorty hatte folgendermaßen argumentiert: Weil »die klassische kantische Entgegensetzung von Moral und Klugheit […] als Gegensatz zwischen der Berufung auf ein Prinzip und der Berufung auf Zweckmäßigkeit formuliert war« und weil »›moralische Prinzipien‹ […] nur insofern eine Pointe haben, als sie stillschweigend Beziehungen zu einer ganzen Reihe von Institutionen, Praktiken und Vokabularien des moralischen und politischen Räsonnements beinhalten«: deshalb sei der »Begriff eines ›moralischen Prinzips‹« sinnlos geworden und sollte deshalb »fallengelassen« werden. 44 – Aber muss denn wirklich, lässt sich hier einwenden, wer Rortys ›hegelianischer‹ Prinzipieninterpretation zustimmt und damit moralische Prinzipien vom erhabenen Richterstuhl der Reinen Vernunft herunter- und in den Kontext sozialer Praktiken zurückholt, ›den Begriff eines moralischen Prinzips fallenlassen‹ ? Bleiben nicht auch ›re-sozialisierte‹ Moralprinzipien immer noch Prinzipien? Plausibler ist wohl die Einschätzung, dass moralische Prinzipien durch ihre soziale Resituierung lediglich einen anderen, weniger unabhängigen Stellenwert bekommen. Auch Rawls, auf dessen Konzept eines ›Überlegungsgleichgewichts‹ sich Rorty gerne beruft, ›ver42 43 44

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Vgl. dazu ausführlich den Abschnitt 6.6.: Existenzielle Notwendigkeiten. Vgl. die Rorty-Darstellung im 3. Kapitel dieser Schrift. Vgl. Rorty, Contingency: 58 f.

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Prinzipienfixierung

abschiedet‹ ja moralische Prinzipien nicht, nachdem er eingesehen zu haben glaubt, dass sie keine unabhängigen Begründungsinstanzen darstellen. 45 Gewiss lässt sich mit Hegels Segen sagen, dass moralische Prinzipien, trotz des ›Scheins‹ ihrer Selbständigkeit, der sozialen, sich historisch wandelnden Realität nicht enthoben, sondern unablösbar mit ihr verwoben sind. Weshalb man solche Prinzipien auch nicht ›abstrakt‹, mit ›eitlem Sollen‹, jener Praxis gegenüberstellen und auf einem Vernunfthochsitz platzieren kann. Dieses zu sagen ist aber doch etwas anderes, als auf solche Prinzipien zu verzichten. Sieht man also moralische Prinzipien aufgrund von Rortys Argument nicht fallen, dann hat man damit den Begriff der ›Moral‹ und die Dichotomie von ›Moral‹ und ›Klugheit‹ vor Rorty in Sicherheit gebracht – wenn auch nicht deren Explikation in Termini von Prinzipien- versus Zweckmäßigkeitsgründen. Auch außerhalb der beiden schon behandelten Kontexte bedeutet eine moralphilosophische Prinzipienfixierung das Einnehmen einer Scheuklappenperspektive auf die Realität moralischen Begründens. 46 J. B. Schneewind hat dies eindrücklich herausgearbeitet: 47 Die moraltheoretische Konzentration auf Prinzipien, und damit aufs Allgemeine und Grundsätzliche, verbindet sich aufs Natürlichste mit der Überzeugung, dass in der Ethik allein ein deduktives Räsonnement am Platze ist: ein Argumentieren, bei dem konkrete Handlungen, Handlungsbeurteilungen, Vorsätze und Vorschriften aus Prinzipien abgeleitet werden; weniger allgemeine Prinzipien aus allgemeineren – und diese zuletzt aus einem allgemeinsten Oberprinzip (250, 253, 256). Zumindest ein oberstes Moralprinzip scheint dann »vollkommen kontextfrei« gültig sein zu müssen. Es müsste »dazu befähigt sein, in jeder Art von Situation angewendet werden

Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 20 f., 46 ff. – Genausowenig wie Rawls verabschiedet Quine die Vorstellung von Naturgesetzen oder logischen Gesetzen, bloß weil sein Holismus impliziert, daß auch sie nur – im Prinzip aufknüpfbare – Knoten in einem web of belief sind, das ein Gewebe weitgehend wechselseitiger Abhängigkeiten ist. Vgl. ders., »Two Dogmas of Empiricism«, den Schlussteil. 46 Die folgenden Erwägungen knüpfen an den ›Prinzipien‹-Abschnitt 2.2.4 des 2. Kapitels an. 47 Vgl. zum folgenden Schneewind, »Moral Knowledge and Moral Principles«. Die in den folgenden Haupttext eingefügten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieses Aufsatzes. 45

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zu können« (252). Diese Auffassung mündet in die Annahme einer kontextfrei gültigen Hierarchie moralischer Propositionen (253). Schneewind versteht es plausibel zu machen, dass alle Bestandteile dieser Auffassung optional sind. Sie können mithin durch andere, weniger problematische ersetzt werden. Er erinnert uns an die Vielzahl vertrauter moralischer Argumentationsmittel, die durch die Fixierung auf Prinzipiengründe leicht in Vergessenheit geraten. Einigen von ihnen versucht er dadurch zusätzliche Reputation zu verschaffen, dass er sie mit Begründungsprozeduren in den so genannten ›harten‹ Wissenschaftsdisziplinen analogisiert. Er argumentiert damit gegen die epistemische Unabhängigkeit moralischer Prinzipien und vor allem gegen die epistemische Autarkie eines obersten Moralprinzips. Natürlich kommt beim moralischen Argumentieren auch das deduktive Begründungsmodell zum Tragen. Wer zur Begründung eines Verhaltens ein Prinzip anführt, gibt damit häufig einen guten Handlungsgrund. Oft gibt er damit das beste zur Zeit verfügbare Argument (251). Aber solche Prinzipiengründe erschöpfen das Arsenal moralischer Begründungswerkzeuge bei weitem nicht: Wir ziehen zur moralischen Begründung häufig Analogien heran, wir argumentieren mit Beispielen und dem guten Beispiel, das jemand durch sein Verhalten gegeben hat. Wir berufen uns, wie im amerikanischen Recht, auf Präzendenzfälle und überhaupt auf unsere Erfahrung mit menschlichem Verhalten in vergleichbaren Entscheidungssituationen (251). Um Situationserfordernissen flexibel Rechnung zu tragen, halten wir zu verschiedenen Zeiten und gegenüber unterschiedlichen Gesprächspartnern andere moralische Begründungen für angemessen (254). Wir begründen nicht nur einzelne Handlungen und Urteile durch moralische Prinzipien, sondern umgekehrt auch Prinzipien durch konkretere Handlungsbeurteilungen und -vorschriften, die wir für richtig halten. In verschiedenartigen Situationen und als Antwort auf unterschiedliche Probleme tun wir manchmal das eine und bisweilen das andere (254 f.). »Wenn aber allgemeine Prinzipien manchmal von partikularen moralischen Urteilen abhängen, und partikulare Urteile manchmal von generellen Prinzipien, dann gibt es im Reich moralischer Erkenntnis keine personenirrelative, notwendige Ordnung von Abhängigkeiten.« (254) Weil wir uns zur Begründung von Prinzipien bisweilen auf Einzelfallbeurteilungen stützen, können Schneewind und Rorty plausiblerweise sagen, dass ›brauchbare‹ Prinzipien konkretere moralische 274

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Einschätzungen ›zusammenfassen‹. 48 Moralische Prinzipien können die generelle Artikulation von weniger allgemeinen moralischen Überzeugungen sein, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Personenkreis außer Frage stehen (260). Dadurch bringen sie Ordnung und Einheit in die Mannigfaltigkeit unseres moralischen Lebens und in die vielfältigen Erfordernisse moralischen Urteilens, Entscheidens und Handelns. Sie verleihen »großen Segmenten des Lebens Gestalt und Kohärenz« (258). Moralische Prinzipien sind aber nicht, wie Rorty meint, bloße Zusammenfassungen moralischer Einzelfallbeurteilungen 49 : »Abkürzungen für […] [moralische] Praktiken, aber keine Rechtfertigungen«. 50 Warum sollten Prinzipien, die moralische Praktiken zusammenfassen, nicht auch eine Begründungsfunktion – u. a. für solche Praktiken – haben können? Auch der von Rorty geschätzte rawlsianische Vorschlag, moralische Begründungen als die Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts, zwischen Prinzipien und konkreteren moralischen Urteilen, zu beschreiben, impliziert ja lediglich, dass Prinzipien keine unabhängigen Begründungsinstanzen sind. Er bedeutet nicht, dass sie gar keine Begründungsfunktion haben können. 51 Würden Prinzipien nur Zusammenfassungen weniger genereller moralischer ›Intuitionen‹ sein, könnte eine Neu-Justierung jenes Überlegungsgleichgewichts nur durch neue ›Intuitionen‹ erforderlich werden und lediglich die Reformulierung oder Neuformierung von Prinzipien erforderlich machen. Es geschieht aber auch, dass wir unsere konkreten moralischen Urteile und unsere Sicht moralischer SiVgl. Rorty, ›Contingency‹ : 59. »We think that the most philosophy can hope to do is to summarize our culturally influenced intuitions about the right thing to do in various situations. The summary is effected by formulating a generalization from which these intuitions can be deduced, with the help of noncontroversial lemmas. That generalization is not supposed to ground our intuitions, but rather to summarize them.« Vgl. Rorty, ›Human Rights‹ : 171. 49 »[…] dass Moralprinzipien nicht mehr leisten können, als eine Menge unserer vorherigen Überlegungen zusammenzufassen – oder uns an einige unserer vorherigen Intuitionen und Praktiken zu erinnern.« Vgl. Rorty, »Gefangen zwischen Kant und Dewey«: 186. In diesem Zitat, wie in weiteren Zitaten aus diesem Text, ist die Übersetzung (aufgrund des Vergleichs mit Rortys unveröffentlichtem englischem Original-Manuskript) bisweilen leicht abgeändert. 50 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 59 f. 51 »Diese Prinzipien [der Gerechtigkeit] können zu den Prämissen eines Arguments gehören, das auf entsprechende Urteile hinausläuft.« Vgl. Rawls, a. a. O.: 46 – Einf. HK. 48

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tuationserfordernisse aufgrund der Anwendung eines Prinzips auf diese Fälle ändern. 52 Die Methode des Überlegungsgleichgewichts bedeutet ein Ausbalancieren unseres moralischen Überzeugungsund Forderungsgefüges nach beiden Seiten hin. Auch Schneewind hat beschrieben, wie ein moralisches Prinzip mehr als eine Zusammenfassung weniger allgemeiner moralischer ›Daten‹ sein kann und deshalb eine Begründungsrolle zu spielen vermag. Manchmal »mag ich meine Meinung über eine besondere Klasse von Fällen unter dem Einfluss eines Prinzips ändern, das ich immer schon akzeptiert habe« (254). Das kommt vor. Es kann aber nur vorkommen, wenn es sich dabei um die Anwendung jenes Prinzips auf Fälle handelt, die bei der Formierung des Prinzips keine Rolle gespielt haben. Eine solche projektive Prinzipienanwendung kann klarerweise den Status einer Begründung haben. Schneewind analogisiert diese Projektionsleistung von Moralprinzipien mit der prognostischen Kraft von Naturgesetzen: Moralische Prinzipien funktionieren in mancher Hinsicht nicht anders als Gesetzesformulierungen, wie sie von Wissenschaftlern gegeben werden. Es gibt, zu einer bestimmten Zeit, eine Reihe spezifischer Urteile, Regeln und Ideale, deren Richtigkeit wir ohne Zögern zustimmen. Die Formulierung moralischer Prinzipien dient dazu, diese Überzeugungen zu verallgemeinern und zu systematisieren […]. Sie greifen diejenigen Aspekte unserer weniger generellen Überzeugungen heraus, die nicht an spezifische Umstände gebunden sind und die mutmaßlich in einer Vielzahl anderer Situationen konstant bleiben. […] Und dies wiederum ermöglicht es uns, eine kritische und explizite Projektion unserer Überzeugungen auf neue Arten von Problemen und neue Kombinationen von Situationsumständen durchzuführen. […] [Dieses Verfahren ist] analog […] der Formulierung eines Naturgesetzes, das eine Klasse wohletablierter Daten abdecken soll, und seiner Verwendung für Voraussagen darüber, was sich bei einer Neukombination kausaler Faktoren ergeben wird. (256 f. – Herv. und Einf. HK.)

Moralische Prinzipien können demnach als Verallgemeinerungen von bzw. Extrapolationen aus weniger allgemeinen Prinzipien, Geboten, Wertüberzeugungen und moralischen Erfahrungen angesehen werden. Darin ähneln sie jenen empirischen Generalisierungen, aufgrund deren man Naturgesetze zu formulieren versucht. Sie besitzen »Wenn einer Person eine intuitiv einleuchtende Darstellung ihres Sinns für Gerechtigkeit vorgelegt wird […], mag es gut sein, dass sie ihre Urteile so revidiert, dass sie mit ihren Prinzipien übereinstimmen«. Vgl. Rawls, a. a. O.: 48.

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von daher dieselbe epistemische Autorität wie solche empirischen Generalisierungen resp. Gesetze. Schneewind bemüht weitere Analogien zwischen Verfahren ethischer und wissenschaftlicher Theorienbildung. Nicht anders als bei wissenschaftlichen Gesetzesformulierungen stehen auch moralische Prinzipien zur Disposition, wenn sich Gegenevidenzen häufen. Falls wir in nennenswert vielen Fällen, die unter ein bislang anerkanntes Moralprinzip fallen, unabhängig davon zu einem davon abweichenden Urteil gelangen, werden wir dazu neigen, das Prinzip aufzugeben. (259 f.) Natürlich gibt es weitere Anlässe für Prinzipienrevisionen, die von Reformulierungen bis hin zur Verabschiedung eines Prinzips gehen können. So kann einem aufgehen, dass zwei oder mehrere Prinzipien, die man bislang für richtig hielt, nicht miteinander vereinbar sind. Es gibt dann etliche, aus der Wissenschaftstheorie geläufige Möglichkeiten, den eigenen Prinzipienhaushalt in Ordnung zu bringen. Gegen die Unabhängigkeit moralischer Prinzipien spricht zusätzlich ein moraltheoretisches Analogon zu einem wissenschaftstheoretischen Gemeinplatz: die sog. ›Theoriegeladenheit‹ von ›Beobachtungssätzen‹. 53 Viele Beschreibungen alltäglicher Handlungen und sozialer Beziehungen haben moralische Implikationen. Ihre Verwendung bedeutet häufig die implizite Anerkennung bestimmter allgemeiner Moralvorschriften. (257) Diese Abhängigkeit von Prinzipien lässt deren explizite Anwendung, zu Begründungszwecken, auf die so beschriebenen Handlungen und Beziehungen als zirkulär erscheinen. Wir wollen gerne annehmen, dass es sich dabei um einen harmlosen Zirkel handelt. Störend, wenn nicht verstörend, muss das Eingeständnis solcher Zirkularitäten jedoch für die Anhänger eines strikt deduktiven ethischen Begründungsmodells sein. Eine letzte Analogie, die Schneewind zwischen der Ethik und anderen wissenschaftlichen Theorien zieht – und die den Status von Prinzipien berührt –, betrifft die Frage, was beide Arten von Unternehmungen ›rational‹ oder ›wissenschaftlich‹ sein lässt: Man kann argumentieren, dass dasjenige, aufgrund dessen die Moral wissenschaftlich ist, weder ein basales Prinzip noch überhaupt Prinzipien sind, auf denen sie aufruht, noch dies, dass sie sich auf spezielle Wissenschaften verlässt oder auf die Prämissen, von denen das moralische Räsonnement seinen Ausgang nimmt. Vielmehr ist es die allgemeine Struktur ihrer Inhalte und 53

Vgl. zu diesem Punkt den Einleitungs-Teil des 2. Kapitels. A

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ihrer Methoden. Moralische Überzeugungen sind in derselben Weise der Systematisierung, Kritik, Revision und Neu-Systematisierung zugänglich wie Tatsachenüberzeugungen. (256)

Diese Beschreibung erinnert an ein Sellars-Diktum, dem zufolge eine »Wissenschaft nicht deshalb rational ist, weil sie ein Fundament besitzt, sondern weil sie ein sich selber korrigierendes Unternehmen ist, das eine jede Behauptung in Frage stellen kann, wenn auch nicht alle gleichzeitig«. 54 Entsprechendes lässt sich für die Ethik behaupten. Auch sie verfügt über Prozeduren kontrollierter Selbstkorrektur. Deshalb darf sie getrost den Anspruch erheben, ›rational‹ und ›wissenschaftlich‹ zu verfahren. Die Ethik kann aber diesen Anspruch nicht deshalb erheben, weil sie auf einem festen Prinzipienfundament aufbauen würde. Denn dies ist nicht der Fall. Als ein solches festes ›Fundament‹ sollte der kantianischen Ethik ihr oberstes Moralprinzip dienen. Einen solchen Grundsatz habe ich im 2. Kapitel dieses Buches ein Schneewind–Prinzip genannt (2.2.4). Damit war ein ›erster‹ Moralgrundsatz gemeint, der minderrangigen Prinzipien Autorität verleiht, ohne seine eigene Autorität anderen Prinzipien zu verdanken (250). Von einem Schneewind-Prinzip gilt das Meiste von dem erst recht, was ich im Vorigen ganz allgemein gegen Prinzipien ins Feld geführt habe. Auch ein angeblich ›basales‹ Prinzip steht nämlich in epistemischen Abhängigkeitsverhältnissen zu spezifischeren moralischen Propositionen (252). Das kann man sich auch kaum anders vorstellen: angesichts dessen, dass jede moralische Vorschrift begründet werden können muss und es kein ›höheres‹ Prinzip mehr gibt, durch das man ein ›höchstes‹ begründen könnte (255). – ›Das kann man sich kaum anders vorstellen‹, sagte ich eben. Kant konnte. Der metaphysische Dreh, mit dem er sein oberstes Moralprinzip zu unterfüttern versucht hat, ist Thema des nächsten Kapitelabschnitts (6.3). Gewiss ist die Anwendung eines oberstes Moralprinzips nicht der Standardfall einer moralischen Begründung. Vielleicht ist sie nur die ultima ratio – wir werden gleich sehen, dass Schneewind und Rorty zu dieser Auffassung neigen. Ja selbst die sinnvolle Anwendbarkeit eines obersten Prinzips in beliebigen Kontexten und auf alle vorkommenden Fälle ist fraglich. Spezifischere moralische 54

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Vgl. Wilfried Sellars, Science, Perception and Reality: 170.

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Gründe leisten jedenfalls gewöhnlich mehr. Der generelle Gesichtspunkt, den ein abstraktes Spitzenprinzip ins Spiel bringt, liefert in der Regel ein gar zu ›dünnes‹ Argument; konkretere Gründe sind gewöhnlich substantieller. 55 Ein oberstes Prinzip mag deshalb nur in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll einsetzbar sein. Dass es in diesen Kontexten als oberste Appellationsinstanz fungieren kann, besagt nichts über seine Funktionstüchtigkeit in allen anderen. Dass ein solcher Grundsatz in einer Rolle – etwa als Konfliktlöser zwischen anderen, einander widerstreitenden Prinzipien; bei der Lösung bestimmter Probleme, in einer bestimmten Epoche und Gemeinschaft – sich epistemische Meriten verdient, bedeutet nicht, dass er ein universell mobilisierbares ›Einsatzkommando‹ darstellen würde. (252 f.) Er könnte auch nur ein Notfallkommando sein, eine Art »moralischer Ambulanz«, die »nicht für den alltäglichen Gebrach« bestimmt ist und »nur in Notfällen« Vorfahrt hat (253): […] in Notfällen – etwa in Situationen, in denen wir Grund sehen, einige unserer bislang unproblematisierten moralischen Gemeinplätze zu kritisieren; oder in denen wir mit radikal neuen Problemen konfrontiert sind; oder wo wir mit Leuten zu tun haben und auf sie einwirken, deren Moral und Kultur uns unvertraut sind –: in solchen Situationen mögen die kantischen Formulierungen [des Kategorischer Imperativs] genau das sein, was wir brauchen. 56

»Nur in Notfällen«, meint Schneewind. Kein Rorty-Kenner wird sich darüber wundern, dass er diese bescheidene Funktionsbeschreibung moralischer Spitzenprinzipien begeistert zitiert hat. 57 In der Frage, welches moralische Oberprinzip ›in Notfällen‹ anzurufen sei, sind sich Schneewind und Rorty jedoch uneinig. »Utilitaristen werden natürlich denken, dass ihr eigenes Prinzip besser ist«: besser als der Kategorische Imperativ. »Ich stimme darin nicht mit ihnen überein«, bekennt Schneewind. »[…] gleichwohl besitzen beide Arten von Prinzipien die unbegrenzte Allgemeinheit, die sie geeignet sein lässt, uns bei der Herbeiführung einer durch Gründe erreichten Übereinstimmung behilflich zu sein: in jenen besonderen Arten von Überlegungssituationen, in denen unsere ›dickeren‹ oder spezifischeren Gründe uns den Dienst versagen.« 58 Vgl. Schneewind, »Vom Nutzen der Moralphilosophie – Rorty zum Trotz«: 864. Vgl. Schneewind, »Korsgaard and the Unconditional in Morality«: 46 f. – Einf. HK. Vgl. ders., »Vom Nutzen der Moralphilosophie – Rorty zum Trotz«: 864 f. 57 Vgl. Rorty, »Gefangen zwischen Kant und Dewey«: 185. 58 Vgl. Schneewind, a. a. O.: 47. 55 56

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Der saloppere Rorty ist bei der Wahl grundsätzlicher moralischer Begründungsmittel weniger wählerisch als sein mehr ›kantianischer‹ Bruder im pragmatistischen Geiste. Selber ein erklärter Utilitarist, greift er sich den zuletzt zitierten Schneewind-Satz über die vergleichbaren Meriten des kantischen und utilitaristischen Moralprinzips heraus und optiert für eines von beiden, je nach Bedarf. Er meint also, »dass auch das utiltiaristische Prinzip hilfreich sein könnte« und dass »niemand allzulange zögern sollte, welche Ambulanz er in Notfällen ruft«. 59 Sicherlich ist bei der Wahl zwischen moralischen Notfalldiensten keine Zeit zu verlieren mit einem ausgeklügelten Räsonnement. Jedenfalls dann nicht, wenn der Notfall eingetreten ist. Aber im vorhinein, möchte man meinen, könnte es doch sehr sinnvoll sein, sich über solche Dienstleister genau zu informieren und ihre Qualitäten gegeneinander abzuwägen, auf die man im Notfall angewiesen ist. Wird man doch lieber den besten als den erstbesten Rettungsdienst in Anspruch nehmen.

6.3 Die scheinbare Unvollständigkeit der Unbedingtheitsexplikation und ein zweiter Begriff des Unbedingten Ihre Fixierung auf Prinzipien, als Bezugspunkte moralischer Gründe, ist nicht die einzige Schwäche der kantischen ›Unbedingtheits‹-Analyse, so wie ich sie im 5. Kapitel entfaltet habe. Es besteht außerdem Grund zu der Annahme, dass die bislang gegebene Unbedingtheitserklärung in dem Sinne nicht umfassend ist, dass sie nicht den Charakter aller Moralgebote zu erfassen vermag, die man gegebenenfalls als ›unbedingte‹ auffassen möchte. Jedenfalls die Unbedingtheit eines obersten Moralprinzips scheint durch nicht-funktionale, prinzipienbezogene Übereinstimmungsgründe nicht erklärbar zu sein. Warum nicht? Die bisherige Unbedingtheitserklärung wurde für unbedingte Moralgebote gegeben. Aus ihr ergibt sich zwanglos, wie die Unbedingtheit niederrangiger Moralprinzipien zu verstehen ist: Diese sind in dem Sinne ›unbedingt‹, dass die von ihnen verlangten Handlungen wegen ihrer Übereinstimmung mit einem höherrangigen Prinzip auszuführen sind. Eine solche Explikationsmöglichkeit be59

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Vgl. Rorty, a. a. O.: 185.

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steht jedoch für ein höchstes Prinzips nicht. Denn es gibt kein noch höheres Prinzip, auf das man sich für die Erläuterung seiner Unbedingtheit berufen könnte. – Da die Bezugnahme auf Prinzipien, in meiner Unbedingtheitserklärung, eine begründende war, bedeutet dies auch für die Begründung eines höchsten Prinzips, dass sie nicht mit Bezug auf ein noch höheres Prinzip erfolgen kann. 60 Der Weg aus dieser Sackgasse führt schnell auf metaphysische Abwege. Dies gilt jedenfalls für die Lösung, die Kant parat hält. Er versucht zu eigen, dass sein Sittengesetz, qua oberster Moralgrundsatz, ein Schneewind-Prinzip ist. 61 ›Schneewind-Prinzipien‹, wir erinnern uns, waren als oberste Grundsätze konzipiert, deren Autorität weder von der Autorität anderer, minderrangiger Moralprinzipien noch – trivialerweise – von einem noch höheren Prinzip abgeleitet ist. Fasst man solche ›ersten‹ Moralgrundsätze als ›unbedingte‹ 62 Prinzipien auf, dann muss ihre ›Unbedingtheit‹, da sie weder durch ein höheres noch durch niedrigere Prinzipien explizierbar ist, mit Bezug auf etwas ›Höheres‹ expliziert werden, das selber kein Prinzip ist. Unbedingte Schneewind-Prinzipien sind demnach in einem anderen Sinne ›unbedingt‹ als minderrangige Moralvorschriften. 63 Was aber kommt als nicht-prinzipieller, über alle Prinzipien ›erhabener‹ Bezugspunkt für die Explikation eines zweiten Unbedingtheitsbegriffs in Frage? Höher als ein höchstes Moralprinzip – mag Kant gedacht haben – ist höchstens dessen Schöpfer. Als Stifter des Vgl. zu dieser Begründungsproblematik Rortys Darstellung des moralphilosophischen Fundamentalismus in ›Human Rights‹ : 171 f. 61 Vgl. zum Begriff eines ›Schneewind-Prinzips‹ im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.4: Prinzipien, sowie im jetzigen Kapitel den vorigen Abschnitt 6.2. Schneewind selber hat zu begründen versucht, dass es solche Prinzipien weder geben muss, noch gibt, noch geben kann. Vgl. seinen Aufsatz »Moral Knowledge and Moral Principles«. 62 Man kann ›Schneewind-Prinzipien‹ kaum anders denn als ›unbedingte‹ Moralgrundsätze auffassen. Schneewind selber hat sich, a. a. O., um den unbedingten Charakter gewisser moralischer Gebote und Prinzipien nicht gekümmert – und sich folglich auch nicht an einer Explikation von deren ›Unbedingtheit‹ versucht. Vgl. aber seinen späteren Aufsatz »Korsgaard and the unconditional in morality«. 63 Die im 5. Kapitel erläuterte Unbedingtheit ist, auch wenn man sie auf (minderrangige) Prinzipien überträgt, nur eine Handlungsunbedingtheit: die unbedingte Erforderlichkeit (ggf. prinzipiell) vorgeschriebener Handlungen. Die Unbedingtheit ›erster‹ Moralprinzipien wäre hingegen die Unbedingtheit dieser Prinzipien selber. Von dieser ›echten‹ Prinzipienunbedingtheit handelt Kant, wenn er z. B. die »praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs« selber behauptet; oder wenn er den Kategorischen Imperativ ein »unbedingtes praktisches Gesetz« nennt und von »seiner absoluten Notwendigkeit« spricht. Vgl. GMS: 463 – Hervorh. HK. 60

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obersten moralischen ›Gesetzes‹ betrachtete er die Reine Praktische Vernunft, die hier »unmittelbar« und »ursprünglich gesetzgebend« sei. 64 Diese Vernunft »sucht [nicht nur] rastlos das Unbedingt-Notwendige«, 65 sondern sie findet es in sich selber und setzt es aus sich heraus. Demzufolge führt Kant die ›andere‹ Unbedingtheit des moralischen Gesetzes auf dessen Verankerung in jener Vernunft zurück, deren »Grundgesetz« 66 es angeblich formuliert: Als »unbedingtes praktisches Gesetz« hat das Sittengesetz, »seiner absoluten Notwendigkeit nach« 67 , »Sitz und Ursprung« »völlig a priori in der Vernunft«. 68 In welcher ›Reinigkeit seines Ursprungs die Würde liege, uns zum obersten praktischen Prinzip zu dienen‹. 69 Aufgrund ihrer ›Vernunftverbundenheit‹ kann man die ›andere‹ Unbedingtheit des Sittengesetzes auch eine ›starke‹ Unbedingtheit nennen. Diese, und die besondere Autorität eines ›ersten‹ 70 Moralprinzips, beruhten demnach auf der ›Autorität der Vernunft‹, also darauf, dass es vernunftfähigen Wesen durch ihre Vernunft als Gesetz ihres Handelns »gegeben« 71 wird. In diesem Sinne ist die ›Gabe‹ des Sittengesetzes ein Faktum der Vernunft, mithin das Produkt einer »unbedingte[n] Kausalität« 72 ›aus Freiheit‹. Als von anderen »Datis der Vernunft« 73 unabgeleitetes und sowieso »sinnlich unbedingte[s]« 74 , ›erstes Datum‹ 75 verkörpert das moralische Gesetz ein ›unwidersprechliches‹ 76 , nicht-inferenzielles praktisches Wissen. Vgl. Kant, KprV: 31. Vgl. ders., GMS: 463 – Klammer-Einf. HK. 66 Vgl. ders., KprV, § 7, die Überschrift. 67 Vgl. ders., GMS: 463 – Hervorh. HK. 68 Vgl. ders., a. a. O.: 411. 69 Kant schreibt im Plural, »daß in dieser Reinigkeit ihres [d. i. aller »sittlichen Begriffe«] Ursprungs eben ihre Würde liege, uns zu obersten praktischen Prinzipien zu dienen«. Vgl. a. a. O. – Einf. HK. Die Formulierung »Reinigkeit seines Ursprungs«, nämlich des Ursprungs des »obersten praktischen Gesetz[es]«, findet sich auch in der KprV: 91. 70 »[…] weil praktische reine Vernunft notwendig von Grundsätzen anfangen muß, die also aller Wissenschaft als erste Data zum Grunde gelegt werden müssen und nicht allererst aus ihr entspringen können.« Vgl. ders., KprV: 91 – Hervorh. HK. 71 Vgl. ders., a. a. O.: 31. 72 Vgl. ders., a. a. O.: 105 – Hervorh. HK. 73 »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann«. Vgl. ders., a. a. O.: 31. 74 Vgl. ders., a. a. O.: 104 – Hervorh. HK. 75 Vgl. ders., a. a. O.: 91. 76 Vgl. ders., a. a. O.: 105. 64 65

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Soweit Kant, wie der Verfasser der vorliegenden Schrift ihn versteht. Man könnte freilich auch, statt dem kantischen Moralgesetz einen zweiten Unbedingtheitsbegriff zuzuschreiben, sich mit einem solchen Begriff begnügen wollen. Eine solche Interpretationsstrategie müsste den im 5. Kapitel entwickelten und in 6.2 weiterentwickelten ›harmlosen‹ Unbedingtheitsbegriff für defizient und die dort gegebene Analyse des kantischen Unbedingtheitskonzepts für eine Verharmlosung halten. Sind denn – so lässt sich für diese Interpretationsalternative argumentieren – für Kant nicht auch einfache moralische Forderungen Vernunftgebote, also mit jenem ›Vernunftrückhalt‹ versehen, den ich eben dem ›starken‹ Unbedingtheitsbegriff vorbehalten habe? Führt denn nicht, Kant zufolge, »der praktische Gebrauch der Vernunft […] auf absolute Notwendigkeit […] der Gesetze [Plural!] der Handlungen eines vernünftigen Wesens als eines solchen«? 77 Und ist es, schließlich, nicht ein ernst zu nehmendes Faktum, dass Kant selber die Unterscheidung zweier Unbedingtheitsbegriffe nirgends explizit getroffen hat? Viel mehr als diese Gründe (und vereinzelte Zitate) spricht nicht für diese Interpretationsalternative. Gegen sie spricht einiges – zumal alles, was für meine Unterscheidung zweier Unbedingtheitsbegriffe vorgebracht werden kann. Gewiss tragen bei Kant auch einfache moralische Vorschriften und minderrangie Moralprinzipien ein ›Vernunftabzeichen‹. Dies aber verdienen sie sich nur indirekt, durch ihre (per Maximen-Prüfung zu zeigende) Ableitbarkeit aus dem einen Kategorischen Imperativ, der allein von seinem Schöpfer als direktes Vernunftprodukt aufgefasst wurde. – Für die Annahme zweier kantischer Unbedingtheitsbegriffe und gegen die Annahme eines einzigen sprechen überdies die folgenden Erwägungen: Der im 5. Kapitel nachgezeichnete harmlose Unbedingtheitsbegriff, den ich durch Gründe der Übereinstimmung des moralisch Geforderten mit moralischen Prinzipien oder dem moralischen Prinzip analysiert habe, wird von Kant im einschlägigen 2. Abschnitt der Grundlegung unabhängig von jedem Vernunfthintergrund exponiert. In diesem Text (414–417), auf den ich meine Interpretation hauptsächlich gestützt habe, scheint er eine in sich geschlossene und vollständige Darstellung der Charakterbesonderheiten moralisch-kategorischer Imperative darbieten zu wollen. 78 Erst beim Weiterschreiten 77 78

Vgl. ders., GMS: 463 – Klammer-Einf. HK. Für diese Auffassung spricht darüber hinaus, dass Kant nach der in mehrfacher HinA

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von der Analyse kategorisch-unbedingter Imperative (Plural) zur Unbedingtheit des Kategorischen Imperativs – das »höchste und unbedingte praktische Gesetz« – unternimmt Kant den Versuch, »das [praktisch] Unbedingte zum Bedingten zu finden«: in der intelligiblen Freiheit einer Reinen Praktischen Vernunft. 79 Der dafür in Anspruch genommene Unbedingtheitsbegriff ist aber sicherlich ein anderer als der eines Begründetseins unbedingter Gebote durch deren Übereinstimmung mit moralischen Prinzipien oder dem moralischen Prinzip. In systematischer Hinsicht besteht der Vorteil einer Unterscheidung zweier kantischer Unbedingtheitsbegriffe darin, dass der erste, als ›harmlos‹ bezeichnete Begriff alles andere als harmlos ist. Nicht nur kommt er ohne anspruchsvollen Vernunfthintergrund aus und ist also ohne die metaphysischen Konnotationen des stärkeren Begriffs explizierbar: Wenn letzterer fällt, fällt ersterer nicht automatisch mit. Sondern er benötigt auch keinen anderen Halt, wenn man die kantische Vernunftstütze verschmäht. Er ist selbstgenügsam und sachlich haltbar. Zwar ist er dies nur nach einer weiteren Modifikation (vgl. 6.6) und unter einer Zusatzbedingung (vgl. 6.4). Diese Einschränkungen berühren aber, wie wir sehen werden, nicht die Bedeutung einer Forderungsunbedingtheit, die durch nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe für etwas Erforderliches definiert ist. Wie sich zeigen wird, ist das modifizierte ›harmlose‹ Unbedingtheitskonzept auch ›umfassend‹. Es vermag die ›Unbedingtheit‹ aller Moralgebote, auch allgemeinster und gegebenenfalls oberster Prinzipien, zu erfassen. (6.4) Tatsächlich müssen ›wir‹ froh sein, wenn wir auf einen zweiten, stärkeren Unbedingtsbegriff nicht angewiesen sind. (Das Wörtchen ›wir‹ sicht getroffenen Unterscheidung kategorisch-moralischer von hypothetischen Imperativen explizit zu einer neuen Fragestellung übergeht: »Nun entsteht die Frage, wie sind alle diese [bis dahin so und so charakterisierten] Imperative möglich?« (417 – Hervorh. und Einf. HK.) Kant geht damit, nach einer letzten Spezifizierung kategorischer und hypothetischer Imperative hinsichtlich der »Ungleichheit der Nötigung des Willens« (416) durch die unterschiedlichen Imperative, zu der Frage nach ihrem Nötigungspotenzial über. Die Antwort auf diese Frage verschiebt er zwar, was die kategorisch-unbedingten Moralgebote angeht, explizit (419 f.) auf den 3. Abschnitt der Grundlegung. Es ist aber nicht die Rede davon, dass er auch die ›endgültige‹ Charakterbestimmung kategorisch-unbedingter Moralvorschriften verschieben würde. Also wird er wohl gemeint haben, zuvor schon eine erschöpfende Explikation des kategorisch-unbedingten Charakters moralischer Forderungen gegeben zu haben. 79 Vgl. Kant, KprV: 104-106; Hervorh. und Klammer-Einf.: HK.

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schließt hier auch Kantianer ein.) Denn gegen diesen Begriff gibt es gravierende Einwände. Auf die ›starke‹ Unbedingtheit eines obersten Moralprinzips scheint z. B. die kritische Diagnose anwendbar zu sein, die Rorty vom kantischen Unbedingten gegeben hat. 80 Sein Befund lautete, bei seinem zweiten Schachzug gegen die Unterscheidung von ›Moral‹ und ›Klugheit‹, auf ›metaphysische Irrelationalität‹. 81 Der kantianischen Explikation dieser Unterscheidung durch die Distinktion von ›unbedingten‹ und ›bedingten‹ Handlungsgeboten sah Rorty den ›metaphysischen‹ Unterschied zwischen ›Irrelationalem‹ und ›Relationalem‹ zugrunde liegen. Die kantische ›Unbedingtheit‹, seines Erachtens ein Fall des ›Irrelationalen‹, erschien ihm deshalb als ein metaphysischer Begriff. Dieser Einwand muss zunächst und so lange als verfehlt erscheinen, wie man die im 5. Kapitel gegebene Unbedingtheitserklärung für hinreichend hält. Denn ihr zufolge ist ein unbedingtes Moralgebot, sprich: die Erforderlichkeit des damit Geforderten, insofern relational, als die zur Unbedingtheitserklärung bemühten Handlungsgründe eine Beziehung herstellen zwischen den ›unbedingt‹ geforderten Handlungen und moralischen Standards. Die Unterscheidung zwischen ›Klugheit‹ und ›Moral‹ wäre demnach eine Unterscheidung mittels zweier Arten von Gründen, die beide eine Relation herstellen. Das eine Mal handelt es sich um ›funktionale‹ Gründe für den Einsatz eines Mittels zum Zweck, das andere Mal um nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe mit moralischen Standards. 82 Insofern ist auch die ›harmlose‹ kantische Unbedingtheit relational. Vgl. die Rorty-Darstellung im 3. Kapitel. Rorty hatte sich für einen ersten Zug gegen diese Unterscheidung mit einer hegelianischen Interpretation moralischer Prinzipien munitioniert. Auf dieser Grundlage meinte er, mit radikaler Verwerfungsgeste, die Unterscheidung von Moral und Klugheit als solche von der philosophischen Agenda streichen zu können. Diesen stürmischen Rorty habe ich im vorigen Abschnitt (6.2.) zurückzuhalten versucht. 82 Rortys globaler Irrelativitätseinwand gegen das kantische Unbedingte geht vermutlich auf seine Missidentifikation des logischen Ortes zurück, an dem der Ausdruck ›unbedingt‹ in der kantischen Sprache der Moral beheimatet ist. Dieser Ausdruck modifiziert dort die Notwendigkeit moralisch geforderter Handlungen. (Vgl. meine Unbedingtheitsanalyse im 5. Kapitel, Abschnitt 5.2.: Unbedingt erforderlich.) Demgegenüber scheint Rorty die Ausdrücke ›unbedingt‹ und ›bedingt‹ auf die geforderten Handlungen zu beziehen. Nur wenn man dies annimmt, ist seine Behauptung bezüglich jeglicher Moral- bzw. Klugheitsgebote überhaupt verständlich, dass deren Unterschied zusammen mit der Unterscheidung des ›Unbedingten‹ vom ›Bedingten‹ auch die Unterscheidung des ›Nicht-Relationalen‹ vom ›Relationalen‹ zugrundeliege. Vgl. dazu Köhl, 80 81

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Vielleicht aber hat Rorty seinen ›Irrelationalitäts‹-Einwand nur ungenau platziert und zu undifferenziert vorgetragen: insofern er nicht zwischen der Unbedingtheit moralischer Gebote und minderer Prinzipien, einerseits, und der Unbedingtheit eines obersten Moralgrundsatzes, andererseits, unterschieden hat. Bezogen auf die kantische Konzeption eines obersten Moralprinzips hat er mit seiner Kritik Recht. Denn bei diesem haben wir es tatsächlich mit einer ›irrelationalen Unbedingtheit‹ zu tun: es soll offenbar in dem Sinne ›unbedingt‹ sein, dass seine Autorität nicht von Inferenzen abhängt. Es wäre demnach epistemisch irrelativ. Seine Gesetzesautorität soll allein auf seinem Hervorgebrachtsein von einer Vernunftautorität beruhen, deren Legitimität außer Frage zu stehen scheint. Diese Vernunftursache ist ihrerseits nicht verursacht, also eine irrelative, »sinnlich unbedingte« »Kausalität« 83 . Gemünzt auf die Unbedingtheit aller kantischen Moralvorschriften scheint Rortys Irrelativitäts-Vorwurf verfehlt zu sein, schrieb ich zwei Absätze zuvor. Nachdem ich inzwischen seiner Kritik an der Unbedingtheit von Kants oberstem Moralprinzip Recht gegeben habe, könnte es aber sein, dass auch sein genereller Irrelativitäts-Vorwurf trifft. Ist es doch nur zu wahrscheinlich, dass von der ›metaphysischen Unbedingtheit‹ des obersten kantischen Prinzip eine ansteckende Wirkung auf die ›Unbedingtheit‹ konkreterer Moralvorschriften ausgeht. Denn die Gründe, durch welche der ›unbedingte‹ Charakter moralischer Gebote und minderer Prinzipien expliziert wurde, sollen sich ja, Kant zufolge, auf jenes metaphysisch ›gezeichnete‹ Grundprinzip beziehen. Wäre aufgrund dessen nun auch die im vorigen Kapitel gegebene ›Unbedingtheits‹-Analyse für Moralgebote nachträglich in Frage gestellt? Wenn Rorty nachträglich Recht zu geben ist, dass auch gewöhnliche kantische Moralgebote an der metaphysischen Unbedingtheit von dessen oberstem Moralprinzip teilhaben, dann hat er damit Recht gegen Kant. Aber nur gegen Kant. Denn sobald man dessen zweiten, starken Unbedingtheitsbegriff verabschiedet und Moralvorschriften, die in unserem ›schlichten‹ Sinne ›unbedingt‹ sind, in einem holistischen Rahmen analysiert (vgl. 6.4): dann scheint ihre Unbedingtheit so unanfechtbar zu sein wie die Unter»Moral und Klugheit. Rortys Kritik an einer kantischen Unterscheidung«, Teil V, sowie meine Replik auf Rortys »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«, im Abschnitt 6.9. des gegenwärtigen Kapitels. 83 Vgl. Kant, KprV: 104.

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scheidung unbedingter von bedingten Forderungen: mittels verschiedenartiger Handlungsgründe. Weitere Einwände gegen die kantische Konstruktion einer ›starken‹ Unbedingtheit seines ›ersten‹ Moralprinzips kann man an der unterstellten Vernunft-Gegebenheit dieses Prinzips festmachen, die jene Unbedingtheit ermöglichen soll. Diese Bedenken richten sich, nacheinander, gegen beide Bestandteile dieser Vorstellung: also sowohl gegen die angenommene Gegebenheit des Moralischen Gesetzes durch die Reine Praktische Vernunft (a), wie auch gegen dessen vorgebliche Gegebenheit durch jene Vernunft (b). (a) Gegebensein Mein erster Einwand gegen die Vernunftgegebenheit des kantischen Sittengesetzes ist ein moralphilosophisches Analogon zu der erkenntnistheoretischen Kritik am ›Mythos des (sinnlich) Gegebenen‹. Dort richtet sich die Kritik gegen die Annahme jener ›privilegierten Vorstellungen‹, mit denen Empiristen der Erkenntnis ein ›sicheres Fundament‹ geben wollten. Ein kantisch konzipiertes oberstes Moralprinzip ist, wie wir sahen, dadurch im starken Sinne ›unbedingt‹, dass sein Schöpfer es als ›Faktum‹, als ›Machwerk‹ der Vernunft auffasst. Von dieser hohen Warte aus wird es den Untertanen im Reich der Zwecke als Gesetz ›gegeben‹ und zur Befolgung aufgegeben. Die Vermutung liegt nahe, dass Kant es u. a. deshalb so unterfüttert hat, um seine Autorität vom ›Nimbus der Gegebenheit‹ profitieren zu lassen. Dieser beruht auf der Idee, dass man einer Überzeugung oder einer Forderung dadurch besondere Legitimität sichern könne, dass man sie als veranlasst oder uns auferlegt sieht von einer unangreifbaren Autorität. Nimmt man die kausale Terminologie ernst, in der die Idee der ›Gegebenheit‹ des Sittengesetzes vorgetragen wird (›Ursprung‹, ›Faktum‹, ›gegeben‹, ›Datum‹, ›unbedingte Kausalität‹), dann scheint hier, nicht anders als beim ›sinnlich‹ Gegebenen, die Vorstellung wirksam zu sein: man könne einer Einsicht oder einer Handlungsvorschrift durch ihre Kausalrelation zu einem besonders würdevollen Urheber einen privilegierten ›Geltungsanspruch‹ verschaffen. Anvisiert ist damit ein epistemischer Status, der mehr ›hermacht‹, als durch die Stützung von Überzeugungen und Geboten durch ›bloß‹ weitere Überzeugungen und Gebote zu leisten ist. Im Bereich der empirischen Erkenntnis ist es ihre ›sinnliche Gegebenheit‹, die solche ÜberA

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zeugungen zu epistemischen Grundsteinen nobilitieren soll, die uns von der ›Welt‹ unweigerlich ›aufgedrängt‹ werden; die die Welt deshalb zuverlässig ›re-präsentieren‹, weil diese sich in ihnen ›direkt präsentiert‹ ; und die deshalb, so die Idee, an der ›Autorität der Wirklichkeit‹ partizipieren. Kants kausale Redeweisen vom ›Sittengesetz‹ als ›Faktum‹ der Vernunft und von seinem Legitimität verheißenden Vernunft-›Urprung‹ nähren die Vermutung, dass die ›Vernunftgegebenheit‹ dieses Gesetzes ein moralphilosophisches Analogon zur Idee eines ›sinnlich Gegebenen‹ ist. Wäre dem so, dann sähe sich Kants Konzeption einer starken Unbedingtheit strukturell denselben Einwänden ausgesetzt, die Philosophen wie Sellars, Davidson und Rorty gegen den ›Mythos des sinnlich Gegebenen‹ vorgebracht haben. 84 Rortys Einwand gegen die kantische Konzeption eines ›irrelational‹ Unbedingten ließe sich dann durch die moralphilosophische Variante der Kritik am epistemologischen ›Mythos des Gegebenen‹ ergänzen. Eine solche Kritik läuft allemal darauf hinaus, dass sich die starke Unbedingtheit eines obersten Moralprinzips nicht verteidigen lässt. Wieso ist die ›Vernunftgegebenheit‹ des kantischen Sittengesetzes in analoger Weise wie die Annahme eines gegebenen ›Erkenntniselementes‹ ein ›Mythos‹ ? Die Beziehung des moralischen Gesetzes zu der Vernunft, die es uns ›geben‹ und dadurch seine starke Unbedingtheit kreieren soll, ist entweder ein Begründungsverhältnis oder ein kausales: Eine bloß kausale Relation ist epistemisch neutral. Sie kann höchstens für die Erklärung des Zustandekommens, nicht aber für die Begründung von etwas Verursachtem (einer Überzeugung oder des Sittengesetzes) von Bedeutung sein. 85 Verursachtsein als solches 84 Vgl. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, besonders Chap. VIII: ›Does Empirical Knowledge Have a Foundation?‹ ; Davidson, »A Coherence Theory of Truth and Knowledge«; Rorty, »The World Well Lost«, »Strawson’s Objectivity Argument« sowie Philosophy and the Mirror of Nature, Chap. 4: ›Privileged Representations‹. 85 Der Hinweis auf Ursachen dient bestenfalls der Erklärung des Zustandekommens eines ›Faktums‹, aber nicht seiner Rechtfertigung qua ›Faktum‹. Die im vorigen Satz verwendeten Redeweisen verweisen auf eine Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ›Faktum‹, der zwischen einem kausalen und einem epistemischen Sinn schillert. Kausal verstanden ist ein Faktum etwas Gemachtes, Hervorgebrachtes, Hergestelltes: ein Produkt. Epistemisch interpretiert ist ein Faktum eine Tatsache; etwas, das der Fall ist; etwas mit der Konnotation von Wahrheit und Begründetsein. Kant hat sich offenbar – willentlich oder nicht, aber allemal illegitimerweise – diese Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ›Faktum‹ zunutze gemacht.

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legitimiert ein Verursachtes nicht, egal, worum es sich bei der Ursache handelt. Was allenfalls etwas Verursachtes legitimieren kann, sind epistemisch qualifizierende Behauptungen über seinen Verursacher plus zulässige Schlussfolgerungen von seinen epistemischen Qualitäten auf die Qualitäten des Verursachten.86 Auch Falschheiten und unmoralische Überzeugungen und Forderungen sind ja schließlich verursacht, bisweilen von höchster Stelle. So kann also auch dem kantischen Sittengesetz durch sein bloßes Verursachtsein, und sei es durch eine Vernunftursache, keine starke Unbedingtheit und eine darauf gegründete, herausgehobene Autorität zuwachsen. 87 Es bräuchte dafür, zusätzlich zum Verursachtsein, den Ausweis der epistemisch-moralischen Dignität jener Vernunftursache selber. Konstruiert man, in Anerkennung dessen, die Beziehung zwischen Vernunft und Sittengesetz als eine epistemisch-inferenzielle 88 So kann man im Fall einer empirischen Erkenntnis ggf. sagen, dass ein wahrgenommener Gegenstand uns dazu veranlasst, etwas von ihm zu glauben. Diese ›Veranlassung‹ ist eine kausale, keine epistemische Relation. Eine Begründung der veranlassten Meinung kann nicht im Hinweis auf ihr Veranlasstsein durch jenen Gegenstand bestehen. Sie kann nur durch die Mobilisierung anderer Meinungen über den (als existent angenommenen) Gegenstand der zu begründenden Meinung erfolgen – von dem wir zugleich meinen mögen (eine weitere Meinung), dass er der Veranlasser dieser Meinung(sbildung) ist. 87 Bisweilen wird das Verhältnis zwischen moralischem Gesetz, als angeblichem ›Faktum der Vernunft‹, und der gesetz-›gebenden‹ Vernunft so beschrieben, dass in jenem die Vernunft ›zum Ausdruck‹ komme. »Nur ein Gesetz, das der Vernunft durch die Vernunft gegeben wird, könnte a priori von der reinen Vernunft erkannt werden und für die reine Vernunft ein Faktum sein. Das moralische Gesetz drückt […] die Autonomie der Vernunft aus.« Vgl. L. W. Beck, A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason: 169 – Hervorh. HK. Die Redeweise, wonach in einem Vernunft-›Gegebenen‹ dessen ›Big Spender‹ zum Ausdruck komme, scheint mir ein ähnlich fragwürdiges epistemisch-kausales Zwitterding zu sein wie die Rede von der ›Gegebenheit‹ des Gesetzes selber. 88 Man verstößt damit allerdings gegen Kants erklärte Auffassung, wonach man das moralische Gesetz als ein ›erstes Datum‹ »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann«. Vgl. ders., KprV: 91, 31. Dem hat Tugendhat Rechnung getragen. Er präsentiert Kants »Begründung des Moralischen« als eine »absolute Begründung« durch den »Rekurs auf eine (fettgedruckt verstandene) Vernunft«. (Vgl. Tugendhat, VüE: 70.) Mit dieser ›fettgedruckt verstandenen Vernunft‹ meint Tugendhat »die Idee des Begründetseins selbst« (24 u. ö.), und nicht, wie es bei Kant eigentlich naheliegt, die Vernunft als »Vermögen der Prinzipien« (Metaphysik der Sitten: 214. Vgl. dazu die Tugendhat-Darstellung im 3. Kapitel meiner Untersuchung.) Dieser Rekurs auf die Vernunft geschehe aber bei Kant nicht in »Form eines Rückgangs auf eine höhere Prämisse«, »sondern das Vernunftgebot ist für ihn einfach vorgegeben«. »Durch den genialen Schachzug, die Moral im Vernünftigsein als solchem festzumachen, hat Kant selbst dann, wenn das Vernünftigseinwollen noch als 86

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und behandelt die Vernunft als eine propositional verfasste Prämisse (welchen Wortlauts?), aus der sich auf das Gesetz schließen lassen soll: dann stellt sich die Frage, wo die Vernunft jene epistemisch-moralische Autorität her hat, die sie ans Sittengesetz weitergeben könnte. Entweder autorisiert diese Vernunft sich selber – was ein epistemisches Unding ist. Oder ihre Autorität ist, wie Kant es sah, aus ›Produkteigenschaften‹ des Sittengesetzes erschlossen, die auf seinen Vernunftursprung hinweisen; oder aus den Eigenschaften von Handlungen, die ihm gemäß sind. 89 Dann aber ist die erwogene Konstruktion des Verhältnisses von Vernunft und Gesetz zirkulär. 90 Die Annahme der Vernunftgegebenheit des moralischen Gesetzes, die dessen starke Unbedingtheit begründen sollte, beruht m. a. W. auf der Konfusion zweier Fragen: einerseits der Frage nach der ›Quelle‹ oder dem ›Ursprung‹ eines anerkannten ›Phänomens‹ (das ›Faktum‹ des Sittengesetzes), und andererseits der Frage nach einer Rechtfertigung für dessen Annahme. Fragen der ersteren Art verlangen nach einer Erklärung dafür, dass etwas Bestimmtes vorliegt, durch die Angabe von Ursachen für sein Vorliegen. Fragen der zweiten Art erwarten eine Rechtfertigung der Annahme von dessen Vorliegen durch die Angabe von Gründen für diese Annahme. ›BePrämisse aufgefasst wird, die Gefahr eines Regresses vermieden.« (Vgl. Tugendhat, VüE: 70 – Hervorh. HK.) Zweifel an der Genialität dieses Schachzugs kann man an den in Tugendhats Darstellung enthaltenen Ausdrücken ›vorgegeben‹ und ›festmachen‹ festmachen. Der epistemische Stellenwert einer ›Vorgegebenheit‹ ist so unklar bzw. schillernd wie der einer ›Gegebenheit‹. Dass X an Y (das Sittengesetz an der Vernunft) ›festgemacht‹ ist, ist epistemisch betrachtet nicht aufschlussreicher als die Rede davon, dass X von Y ›gemacht‹, mithin durch Y ›gegeben‹ ist. Auch die Rede vom ›Festmachen‹ ist ein epistemisch-kausaler Zwitter. Schließlich würde Kant durch die ihm von Tugendhat angediente »[v]ersteckterweise« »vorausgesetzt[e]« voluntative Prämisse« »›[w]enn du vernünftig sein willst …‹« die »Gefahr eines Regresses« zwar vermeiden können, aber nur um den Preis des Unbegründetseins jenes ›Willens, vernünftig zu sein‹. Es ist kein Widerspruch, dieses Vernünftig-sein-wollen in Frage zu stellen. Jedenfalls dann nicht, wenn dabei mit ›Vernünftigsein‹ ein ›Handeln nach Prinzipien‹ gemeint ist. Die Frage, ob es vernünftig1 (= wohlbegründet) ist, im Sinne einer ›Prinzipienvernunft‹ vernünftig2 sein zu wollen, ist eine sinnvolle (ich möchte meinen: sehr ›vernünftige‹) Frage. 89 »[…] daß man […] gleichsam durch ein Faktum beweisen könne: dass gewisse [autonome, dem Sittengesetz gemäße] Handlungen eine solche Kausalität (die intellektuelle, sinnlich unbedingte) voraussetzen«. Vgl. Kant, KprV: 104 – Einfügung in eckigen Klammern: HK. 90 Die Lehre vom Faktum der Vernunft ist demnach keine Begründung des Sittengesetzes, sondern höchstens eine Begründung des Vernunftcharakters seiner Urheberin: anhand gewisser Eigenschaften – vorgeblich Vernunfteigenschaften – des Gesetzes.

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gründungen‹ betreffen die Anerkennungswürdigkeit eines Sachverhaltes, ›Erklärungen‹ von dessen Zustandekommen enthalten hingegen keine epistemischen Bewertung desselben. Darum sind sie auch keine Hilfe für die Sicherung normativer Ansprüche: die zu ihrer Stützung ›epistemischer‹ Bewertungen bedürfen. Folglich ist auch der Rückgang auf eine angebliche Vernunftursache, welcher höchstens eine Erklärungsfunktion haben kann, für die Rechtfertigung des normativ verfassten Sittengesetzes ohne jede Bedeutung. 91 Rorty wendet den hier vorgeführten Gedankengang gegen Christine Korsgaards Suche nach den ›Quellen der Normativität‹, in dies., The Sources of Normativity. Vgl. Rorty »Gefangen zwischen Kant und Dewey«: 189. Pragmatisten wie Rorty »klassifizieren Ideen nach ihrer relativen Nützlichkeit statt nach ihren Quellen«. Vgl. ders., EWP: 84. Dies gilt auch für die Idee des moralischen Gesetzes. Dessen Autorität – wenn es denn eine hat – beruht nach pragmatistischer Auffassung nicht auf seinem Ursprung (ob in der Vernunft oder andernorts), sondern in dem Nutzen, den wir von seiner Annahme haben, z. B. bei dem Versuch, möglichst viele moralische ›Intuitionen‹ zusammenzufassen, oder bei der moralischen Handlungsbeurteilung. Die kantische, von manchen seiner Liebhaber gerne geteilte Illusion, dass (moralische) Quellenkunde eine Begründung des Herausgequollenen leisten kann, mag durch Kants – Dieter Henrich zufolge: juristischen – ›Deduktions‹-Begriff begünstigt worden sein. »Es ist bekannt«, schreibt Henrich, freilich ohne Beleg, »dass er sich dabei [d. i. bei seinen ›transzendentalen‹ Deduktionen] auf die besondere Verwendung bezogen hat, in der das Wort ›Deduktion‹ […] in der juristischen Sprache stand.« Die juristische ›questio juris‹ sei immer eine solche, »die auf Rechtstitel des Besitzes [von etwas] geht.« Um sie zu beantworten, sei »der Nachweis zu führen, dass ein Anspruch oder Beseitz rechtens zustande gekommen ist, daß er sich aus legitimer Erwerbung, gültigem Vertrag oder dass er sich aus Abstammung herleitet.« Entsprechend beziehe sich, Kant zufolge, auch eine »transzendentale Herleitung […] auf den Ursprung einer Erkenntnis. Indem ihr Ursprung einsichtig wird, läßt sich der Anspruch auf eine Erkenntnis rechtfertigen. […] In diesem Sinne ist die Antwort auf eine quaestio juris des Erkennens eine Deduktion aus dem Ursprung einer Erkenntnis als Bedingung ihrer Möglichkeit.« Vgl. Henrich, »Die Deduktion des Sittengesetzes«: 77 f. – Klammereinf. und Hervorh. der beiden zuletzt zitierten Sätze: HK. – Analoges soll auch für die »Deduktion des obersten Prinzips der Moralität« gelten. Vgl. Kant, GMS: 463. Diese von Henrich beschriebene und Kant wohl zu Recht zugeschriebene DeduktionsVorstellung durch einen Ursprungsnachweis lässt sich analog zu meinem Argument, oben im Haupttext, kritisieren. Woher ein Besitztum stammt, besagt als solches gar nichts darüber, ob ich es legitimerweise in Besitz habe. Woher es stammt und wie es in meinen Besitz gekommen ist, ist eine rein kausale Geschichte. Legitimitätsrelevant wird eine Erwerbsgeschichte nur durch den normativen Rahmen, in den sie ggf. gestellt werden kann; also durch rechtliche Festlegungen, welche Besitzansprüche bestimmter Personen mit der Herkunft einer Sache zusammenbringen. Die Begründung dieser Ansprüche erfolgt mit Bezug auf jene normativen Regeln, und nicht durch den bloßen Hinweis auf die Erwerbsgeschichte. Eine ›Deduktion aus dem Ursprung‹ ist demnach ein hölzer-

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(b) ›Vernunftgewirkt‹ Philosophen, die nach den ›Quellen‹ oder ›Ursprüngen‹ philosophisch signifikanter, aufklärungs- oder legitimationsbedürftig erscheinender Phänomene suchen, hoffen diese nicht selten in ›Leistungen des Subjekts‹ zu finden. Die Bevorzugung dieser Suchrichtung ist gewöhnlich mit einer Vermögenspsychologie verbunden, zu der die unterschiedliche Wertschätzung verschiedener ›Vermögen‹ gehört. Dabei stand die menschliche Vernunft schon immer hoch im Kurs. Wer die Berufung auf einen gesetzgebenden göttlichen Willen, als moralische Legitimationsinstanz, in Misskredit gebracht sieht, neigt leicht dazu, die Vernunft an dessen Stelle treten zu lassen. Die aus der Obhut religiöser oder anderer traditioneller Autoritäten entlassene Moral wird flugs der Obhut einer ›Vernunftautorität‹ überantwortetet. 92 Die hierfür benötigte ›praktische‹ Vernunft hat Kant als ein »Vermögen der Prinzipien« 93 beschrieben, genauer: des ›Vermögens‹, ein moralisches Oberprinzip hervorzubringen, welches das menschliche Verhalten dirigieren sollte. – Damit bin ich, nachdem ich zunächst unter (a) die kantische Vorstellung der ›Vernunftgegebenenheit‹ des Kantischen Moralgesetzes betrachtet und kritisiert habe, bei dessen Idee der ›Vernunftgegebenenheit‹ des Sittengesetzes angelangt. Man könnte sich immerhin von der Auszeichnung der praktischen Vernunft als ein »besonders geartetes« 94 , »oberes Begehrungsvermögen« 95 ein Entkommen vor der bisherigen Argumentation gegen die Idee einer ›Vernunftgegebenheit‹ des Sittengesetzes versprechen. Auch wenn zugestanden ist, dass für die Begründung des moralischen Gesetzes dessen bloßes, seinen Eigenschaften abgelesenes ›Verursachtsein‹ durch die Vernunft nichts beiträgt, könnte sich ja vielleicht doch – jenseits dieser Kausalgeschichte – die besondere Dignität jener Ursache auf deren ›moralische Wirkung‹ epistemisch übertragen lassen. Dies wäre aber höchstens dann zu erwarten, wenn Kants praktische Vernunft selber propositional verfasst sein nes Eisen. Die ›Bedingung der Möglichkeit‹ einer Erkenntnis, oder eines angeblichen Vernunft-›Faktums‹ wie des Sittengesetzes, kann sinnvollerweise nur als kausale Bedingung verstanden werden, auf die wir referieren, um zu erklären, wie wir in deren Besitz gekommen sind. 92 Vgl. Tugendhat, VüE, die 1. Vorlesung. 93 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten: 214 – die Stelle wird unten im Haupttext zitiert. Vgl. auch die Kritik der reinen Vernunft: B 356. 94 Vgl. Kant, GMS: 427. 95 Vgl. ders., KprV: 22.

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würde und aus einer solchen ›Vernunft‹-Proposition der propositionale Gehalt des Sittengesetzes abgeleitet werden könnte. Von propositionalen Vernunftinhalten, die noch ›hinter‹ dem moralischen Gesetz stünden und es epistemisch stützen könnten, ist aber bei Kant nichts zu lesen. Wäre davon die Rede, stellte sich die Frage nach deren Begründung. Da aber von all dem bei Kant nichts zu finden ist, macht es für die Idee der ›Gegebenheit‹ des Sittengesetzes durch ein Vermögen keinen Unterschied, dass es sich dabei um ein Vernunftvermögen handeln soll. Nun spricht Kant zwar nicht von propositionalen Gehalten der Vernunft selber, aus denen das Sittengesetz vielleicht ableitbar wäre. Eine alternative Konstruktion könnte dieses Prinzip jedoch in der Vernunft ›ansiedeln‹ wollen. Es passt zu dieser Idee, dass ich Kant oben mit der Formulierung zitieren konnte, »dass alle sittlichen Begriffe« – und sicher das moralische Gesetz – »völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben«. 96 ›Sitz und Ursprung‹, das dürfte, genau genommen, nicht beides gleichzeitig der Fall sein können. Nachdem ich den ›Ursprungs‹-Gedanken verworfen habe, scheint die Vorstellung immerhin bedenkenswert, dass das Sittengesetz in der Vernunft seinen ›Sitz‹ hat – als deren »Grundgesetz«. 97 Gegen die Idee eines ›Vernunftsitzes‹ des Sittengesetzes kann man mit Kant gegen Kant argumentieren: durch ein Analogon zu seinem Argument gegen eine religiöse Moralbegründung. Mit einer solchen Begründung – durch den Hinweis auf Inhalte eines göttlichen Willens – könnte die Moral höchstens dann legitimiert werden, wenn man zuvor den Gottesbegriff moralisch bereinigt hätte (gehören zum »Begriff seines Willens« doch auch »Ehr- und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheifers verbunden«): und des verbleibenden Gottes Willensäußerungen moralisch überprüft hätte. Das letztere Desiderat lässt aber die Gründung der Moral auf einen göttlichen Willen als zirkulär erscheinen. Denn da wir »seine Vollkommenheit […] von unseren Begriffen, unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten können«, ist die Berufung auf die Tätigkeit eines göttlichen Willens zur Moralbegründung »ein grober Zirkel im Erklären«. 98 Kurz: Göttliche Vorschriften sind nicht deshalb gut, weil sie göttliche 96 97 98

Vgl. ders., a. a. O.: 411. Kant selber hebt »a priori« und »Sitz und Ursprung« hervor. Vgl. ders., KprV, § 7, die Überschrift. Vgl. zu den voranstehenden Zitaten: ders., GMS: 443 – Hervorh. HK. A

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sind, sondern sie sind dann gut, wenn sie unseren moralischen Maßstäben entsprechen – die also anders als mit Bezug auf Gott gerechtfertigt werden müssen. Soweit Kant gegen »den theologischen Begriff, sie [d. i. die Sittlichkeit] von einem göttlichen […] Willen abzuleiten«. 99 Ganz analog lässt sich gegen die Idee der Vernunft als moralischem Gesetzesinhaber sagen, dass man aus der Vernunft an moralisch signifikanten Implikationen nur herausziehen könnte, was man zuvor in den Vernunftbegriff hineingelegt hätte. Angesichts dessen mutet auch die Berufung auf eine Prinzipienvernunft – hier eine Vernunft eines ›ersten‹ praktischen Prinzips – zur Legitimierung des moralischen Prinzips als zirkulär an. Die kantische Vernunftkonzeption der Moral ist erst recht dann in Frage gestellt, wenn es eine plausible und unmetaphysische Möglichkeit gibt, um die ›Unbedingtheit‹ auch eines ›obersten‹ Moralprinzips zu erklären. Ein solches Konzept möchte ich im folgenden Kapitelabschnitt entwickeln.

6.4 Ethischer Holismus Die Einführung eines zweiten Unbedingtheitsbegriffs konnte als erforderlich erscheinen, weil es so aussah, als sei die ›Unbedingtheit‹ eines obersten Moralprinzips durch die im 5. Kapitel gegebene Unbedingtheitsanalyse nicht zu explizieren. Wenn man, wie dort geschehen, die Unbedingtheit eines Moralgebots durch die Übereinstimmung der dadurch geforderten Handlungen mit einem moralischen Prinzip erklärt; und die Unbedingtheit eines solchen Prinzips durch die Übereinstimmung der von ihm geforderten Handlungen mit einem höheren Prinzip: dann muss diese Erklärungsstrategie bei dem Versuch, die Unbedingtheit eines höchsten Prinzip zu explizieren, scheitern. Ein unbedingtes moralisches Oberprinzip schien deshalb in einem anderen Sinne ›unbedingt‹ sein zu müssen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Annahme jener ›starken‹ Unbedingtheit, mit der Kant sein Sittengesetz auszuzeichnen versuchte, gravierenden Einwänden ausgesetzt ist. Diese Unbedingtheit, im Sinne der ›Vernunftgegebenheit‹ eines obersten Moralprinzips, 99

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Vgl. ders., a. a. O. – Hervorh. und Klammer-Einfügung: HK.

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Ethischer Holismus

ist nicht zu haben. Das ist aber nicht weiter schlimm. Es ist deshalb unschädlich, weil diese starke Unbedingtheit in Wirklichkeit nicht gebraucht wird. Die Annahme eines ›unbedingten‹, von anderen moralischen Präskritionen unabhängigen Schneewind-Prinzips ist überflüssig, wenn man von einer fundamentalistischen zu einer holistischen Ethikkonzeption übergeht. Innerhalb einer holistischen Ethik reicht die im 5. Kapitel gegebene Unbedingtheitserklärung grundsätzlich aus, und zwar für alle unbedingten Moralgebote, also auch für ein oberstes Moralprinzip. Dafür muss man diese Erklärung allerdings ein weiteres Mal modifizieren. Zur kantischen Unbedingtheitskonzeption gehört, als ethisches Theoriemodell, ein ›Fundamentalismus von oben‹. Konstitutiv dafür ist ein moraltheoretisches Hierarchiemodell. Dieses besteht, zum einen, in der Unterstellung einer ›natürlichen Ordnung‹ 100 moralischer Propositionen und Präskriptionen. Diese Annahme ist, zweitens, mit einer deduktiven Begründungsvorstellung verbunden. Letzterer zufolge können moralische Gebote nur durch Prinzipien, und Prinzipien nur durch höhere Prinzipien begründet werden. Eine solche Begründungsvorstellung produziert für ein höchstes Moralprinzip ein Begründungsproblem sowie das beschriebene Explikationsproblem hinsichtlich seiner angenommenen ›Unbedingtheit‹. Zunächst zum Begründungsproblem: Ein Paradebeispiel für eine fundamentalistische Begründungskonzeption in der der Ethik scheint Ernst Tugendhat abzugeben, wenn er in seinen Vorlesungen über Ethik schreibt: »Während empirische Urteile und empirische Theorien […] nur ›von unten‹, […] aus der Erfahrung zu begründen sind, können moralische Urteile bzw. eine Moral im ganzen nur […] ›von oben‹, von einem obersten Prinzip her begründet werden.« 101 Weil Tugendhat eine Begründung moralischer Prinzipien »von unten« für »ausgeschlossen« hält 102 , vermag er in der Herstellung eines ›Überlegungsgleichgewichts‹ zwischen moralischen Einzel100 Zum ethischen wie zum erkenntnistheoretischen Fundamentalismus gehört die Annahme, dass Präskriptionen bzw. Propositionen in »natürlichen epistemologischen Beziehungen« zueinander stehen. Vgl. Michael Williams, Unnatural Doubts: Epistemological Realism and the Basis of Scepticism: 116. 101 Vgl. Tugendhat, VüE: 23 f. Vgl. dazu ders., ›Letitia‹ : 15. – Für den Tugendhat der VüE umfassen moralische ›Urteile‹ auch moralische Gebote. 102 Vgl. Tugendhat, VüE: 24.

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urteilen und Prinzipien (Rawls) keine Methode zur Begründung von Prinzipien zu erkennen. Denn bei der Herstellung eines solchen Äquilibriums hätten niederrangige Propositionen Einfluss auf die Etablierung und Beibehaltung von Prinzipien; es hätten sich nicht einfach bloß konkretere Propositionen nach Prinzipien zu richten, vielmehr müssten Prinzipien ihrerseits mit konkreteren Propositionen ausbalanciert werden. Weil Tugendhat derlei nicht als Prinzipienbegründung verstehen kann, unterstellt er Rawls die »Auffassung, dass die Frage nach der Begründung unserer moralischen Prinzipien keinen Sinn hat«. Wer glaube, »daß das Geschäft der Moralphilosophie nur darin besteht, die eigenen moralischen ›Intuitionen‹ zu reflektieren und zu ordnen, indem man sie unter ein Prinzip bringt«, lasse dieses Prinzip »in der Luft stehen«. 103 Für überzeugte Fundamentalisten ist eine holistische Ethikkonzeption natürlich ein Luftschloss. Diese vermeintlich ›windige‹ Begründungsvorstellung ist jedoch eine attraktive Alternative, sobald sich das Hierarchie-Modell, von dem der ethische Fundamentalismus lebt, seinerseits in Luft auflöst. Die Annahme, dass moralische Prinzipien nur durch höhere Prinzipien begründet werden können, ist nämlich hinfällig, wenn man sich von der oben (in 6.2) im Anschluss an Rorty und Schneewind entfalteten Auffassung moralischer Prinzipien beeindrucken lässt. Ihr zufolge kann ein solches Prinzip ›von unten‹ begründet werden, indem man von ihm zeigt, dass es in fruchtbarer Weise minderrangige moralische Prinzipien, Gebote und Beurteilungen zusammenfasst. Für Philosophen wie Rawls, Rorty und Schneewind ist es eine plausible Begründungsmöglichkeit für ein moralisches Prinzip, wenn sich damit weniger allgemeine Prinzipien, moralische Gebote und Überzeugungen »ordnen« lassen (Tugendhats Ausdruck). Für Rawls z. B. ist ein ethisches Räsonnement, das »Prinzipien liefert, die unseren wohlerwogenen Urteilen entsprechen«, durchaus eine Begründung dieser Prinzipien. »Es gibt eine ganz bestimmte, wenn auch begrenzte Klasse von Tatsachen, an denen ins Auge gefasste Prinzipien geprüft werden können, nämlich unsere wohlerwogenen Urteile im Überlegungsgleichgewicht.« 104 Dass eine Argumentation ›von unten‹ eine Prüfungs-, also eine Begründungsmöglichkeit für moralische Prinzipien ist, kann man sich folgendermaßen klar machen. Bisweilen führt ein akzeptiertes 103 104

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Vgl. ders., VüE: 25. Vgl. Rawls, A Theory of Justice: 20; 51 – Hervorh. HK.

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Ethischer Holismus

Prinzip bei seiner Anwendung auf moralische Problemfälle zu abstoßenden Schlussfolgerungen. Man denke dabei z. B. an Prinzipien, die die Tötung missgebildeter Kleinkinder oder das Schächten unbetäubter Tiere erlauben. Dass uns solche Schlussfolgerungen aus einem Prinzip als ›abstoßend‹ erscheinen, bedeutet, dass unsere spontanen (gegebenenfalls durchaus, wenn auch nicht durch jenes Prinzip begründeten) Überzeugungen davon drastisch abweichen. Eine solche Diskrepanz wird man gewöhnlich als einen Grund dafür betrachten, ein Prinzip mit solch inakzeptablen Konsequenzen in Frage zu stellen. Wenn aber, so kann man nun argumentieren, konkrete moralische Urteile Prinzipien in Frage stellen können, dann muss man auch zulassen, dass sie in anderen Fällen Bestätigungsinstanzen für Prinzipien sind – und mithin eine Begründungsfunktion haben können. 105 Nicht zuletzt können moralische Prinzipien auch durch generelle Wertaussagen begründet werden. In diesem Sinne hat Kant ›objektiven praktischen Gesetzen‹ – darunter moralische Prinzipien – Aussagen zugrunde gelegt, die »sagen, daß etwas zu tun […] gut sein würde«: Aussagen, die er mit der Erwartung verbunden sah, intersubjektiv begründbar zu sein. 106 Moralische Prinzipien können also sowohl ›von oben‹ wie ›von unten‹ wie auch ›von der Seite‹ – durch Wertaussagen – begründet werden. Weil dem so ist, können auch oberste Prinzipien von unten (oder seitlich) begründet werden. 107 Es bedarf also zu ihrer Begrün105 Zu dem Eindruck, dass es sich bei Tugendhat um einen ethischen Fundamentalisten handelt, passt seine Auffassung philosophischer Kritik als ›Wurzelbehandlung‹ : »Wir können einen philosophischen Gedankengang nur an seiner Wurzel kritisieren, nicht durch Hinweis auf seine unerfreulichen Konsequenzen.« (Vgl. ders., VüE: 63.) »Es ist immer mißlich, einen Gedanken in der Weise zu kritisieren, daß er angeblich unplausible Folgen hat.« (Vgl. ders., ›Letitia‹ : 21.) Solch ein philosophischer Gedanke(ngang) ist z. B. ein Argument, das von einem bislang anerkannten moralischen Prinzip zu abstoßenden Schlussfolgerungen führt. Für holistisch gesonnene Philosophen sind solche ›unerfreulichen Konsequenzen‹ ein Grund, den betreffenden Gedankengang, inklusive des dabei angewendeten Prinzips, in Frage zu stellen. Kaum vorstellbar, dass nicht auch Tugendhat in solchen Fällen ein ›Teilzeit-Rawlsianer‹ sein sollte. – Vgl. dazu Rorty, »Erwiderung auf Matthias Kettner«: 231. 106 Vgl. Kant, GMS: 413. 107 Tugendhat hat eine weitere Möglichkeit ins Spiel gebracht, moralische Oberprinzipien bzw. Moralkonzeptionen, die von ihnen auf den Punkt gebracht werden, ›von der Seite her‹ zu begründen: indem man sie mit anderen Konzeptionen und deren prinzipieller Pointe konfrontiert und Plausibilitätsgründe pro und contra abwägt. Vgl. ders., VüE: 26, u. ö. Dieses Begründungskonzept ist auch dann interessant, wenn man, anders als Tugendhat, eine Begründung oberster Moralprinzipien ›von unten‹ für möglich hält.

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dung nicht der Konstruktion einer Vernunftaufhängung oder dergleichen: »noch dazu mit Hilfe eines sonderlichen Begriffs von Vernunft«. 108 Auf diese Weise ist das Begründungsproblem für ein oberstes Moralprinzip lösbar, welches im Rahmen eines fundamentalistischen Hierarchiemodell entweder als unlösbar erscheinen muss oder fragwürdigste metaphysische Stützungsmaßnahmen zu erfordern scheint. Auf ähnliche Weise wie mit dem Begründungsproblem bei einem obersten Moralprinzips kann man mit dem Problem der ›Unbedingtheits‹-Explikation für ein solches Prinzip verfahren. Dies ist deshalb möglich, weil diese Explikation in Termini von ›Gründen‹ zu geben ist. Im holistischen Rahmen lässt sich die ›Unbedingtheit‹ eines obersten Prinzips durch nicht-funktionale Gründe explizieren, welche die Übereinstimmung der ›von höchster Stelle‹ geforderten Handlungen mit anderen, weniger hochrangigen Prinzipien behaupten. Die Bezugspunkte solcher Gründe müssen freilich nicht ›unbedingt‹ Prinzipien sein. Es kann sich dabei auch um andere ›Standards‹ handeln, um moralische Ideale, Vorbilder, Tugenden usw. (vgl. 6.2) Man soll dann z. B. die von einem unbedingten Spitzenprinzip geforderten Handlungen (auch) deshalb ausführen, weil sie zu einem Ideal passen, das man verfolgt. Eine solche ›Passung‹ liefert einen nichtfunktionalen Übereinstimmungsgrund, der dem damit begründeten Prinzip einen unbedingten Charakter verleiht. Nicht zuletzt können für die ›Unbedingtheits-Erklärung‹ eines obersten Moralprinzips auch Gründe herhalten, welche die Übereinstimmung des von ihm Geforderten mit dem Inhalt konkreter Moralgebote oder moralischer Einschätzungen feststellen. Für minderrangige Moralprinzipien gilt Entsprechendes. Auch deren ›Unbedingtheit‹ ist, in einem holistischen Rahmen, nicht nur durch die Bezugnahme auf höhere Prinzipien oder auf ein oberstes Prinzip explizierbar. Eine Erklärung ihres Unbedingtheitscharakters Dass Tugendhat auf diese, ganze Theorie-Alternativen gegeneinander abwägende Begründungskonzeption verfällt, hängt damit zusammen, dass er nicht zu sehen vermag, wie ohne religiöse Glaubensinvestitionen (und wohl auch mit ihnen) ein oberstes Moralprinzip linear (also für ihn: von noch weiter oben) begründet werden kann. (Vgl. VüE: 24–26.) Dadurch, dass Tugendhat diese Auffassung vertritt, relativiert sich der oben vermittelte Eindruck, dass es sich bei ihm um einen ethischen Fundamentalisten handelt. 108 Vgl. Tugendhat, VüE: 198.

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kann sich auch auf noch niedrigere Prinzipien beziehen. Und sie braucht sich gar nicht auf Prinzipien zu beziehen, sondern kann durch die Angabe nicht-funktionaler Übereinstimmungsbeziehungen zu einfachen moralischen Geboten und Überzeugungen erfolgen. Die bisherige Exposition dessen, wie im ethischen Holismus moralische Begründungen aussehen und welche Möglichkeiten der ›Unbedingtheits‹-Explikation es in diesem Rahmen gibt, hat eine Reihe hierarchisierender Redeweisen enthalten. Die Rede war von ›einfachen‹ Moralgeboten, von ›höheren‹ und ›niedrigeren‹ Moralprinzipien und einem ›obersten‹ Prinzip. Im ethischen Fundamentalismus ist die vertikale Anordnung moralischer Präskriptionen die ›natürliche‹. Ist sie einem holistischen Theoriemodell nicht ›wesensfremd‹ ? Entspricht diesem nicht eher die Vorstellung eines Kreises 109 oder, besser noch, eines dreidimensionalen, netzartigen, durch viele bewegliche Gelenkstellen höchst flexiblen, Kunstgebildes, das, wie das Weltall, ein ›Oben‹ und ›Unten‹ nicht kennt? 110 Selbstverständlich kann eine holistisch konzipierte Ethik nichthierarchisch aufgebaut sein. Aber sie kann ihre Versatzstücke auch hierarchisch anordnen. Natürlich braucht eine holistische Moralkonzeption kein ›oberstes‹ Prinzip zu kennen. Aber sie kann ein Prinzip als ein oberstes auszeichnen. Es liegt an uns, als den Konstrukteuren einer Ethik, ob wir es nützlich finden, deren Bestandteile so oder besser anders anzuordnen. Während es im Fundamentalismus eine quasi ›natürliche‹ Ordnung von Präskriptionen und Gründen gibt – nach den Gesichtspunkten von Allgemeinheit und Grundsätzlichkeit –, gibt es im Holismus kein natürliches ›Unten‹ und ›Oben‹. Deshalb kann eine holistisch konzipierte Ethik sich flexibel auf die jeweiligen Begründungserfordernisse einstellen und ihre Begründungsressourcen entsprechend anordnen. Jedenfalls für pragmatistische Holisten ist eine solche Ordnung situations- und problembezogen – mithin zweckgebunden und transitorisch. Das Ziel einer so konzipierten Ethik kann sinnvollerweise nicht der Entwurf eines feststehenden, a-temporal gültigen Orientierungsrahmens für menschliches Handeln sein. Eher hat man sich, ihr zufolge, die ethische Theorie als einen plastischen Anpassungsmechanismus zu denken, der in wech-

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Vgl. Quine, »Two Dogmas of Empiricism«, den Schlussteil. Man denke dabei z. B. an manche der ›Strukturen‹ von Leonardo Mosso. A

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selnden Situationen und Problemlagen in unterschiedlicher Weise zum Einsatz gebracht werden kann. Wenn es uns nützlich zu sein scheint, unsere Ethik hierarchisch aufzubauen, kann zu ihr also ein (i) allgemeinstes (ii) unbedingtes (iii) oberstes Prinzip gehören. Ad (i): Der Sinn, in dem dabei von Unbedingtheit die Rede ist, wurde bereits aufgeklärt. Für jede moralische Proposition, also auch für ein oberstes Prinzip, ergibt sich eine ›Unbedingtheitsmöglichkeit‹ durch seine nicht-funktionalen Übereinstimmungsinferenzen zu (anderen) moralischen Standards. Dabei zählen im Holismus als ›Standards‹ nicht nur Prinzipien, Ideale usw., die leicht den falschen Eindruck erwecken, festzustehen. Vielmehr sind alle Bestandteile einer ethischen Konzeption, die für den Augenblick außer Frage stehen, in dem Sinne Begründungsstandards, dass sie mögliche Bezugspunkte für unbedingtheitstiftende Gründe sein können. Um den Anschein einer prinzipiellen Auszeichnung bestimmter Standards (Prinzipien, Ideale usw.) von vornherein zu vermeiden, wird man deshalb den ›Unbedingtheits‹-Charakter eines speziellen oder prinzipiellen Moralgebots am besten so neutral wie möglich formulieren: Ihr ›unbedingter‹ Charakter kommt durch ihre nicht-funktionalen Übereinstimmungsbeziehungen zu anderen Versatzstücken des moralischen Patchworks zustande. Ad (ii): Dass es im Rahmen eines ethischen Holismus mehr oder weniger ›allgemeine‹, und also auch ein allgemeinstes Prinzip geben kann, bedarf keiner Begründung. Welches Prinzip, in einer gegebenen Problemsituation, als allgemeinste verfügbare Appellationsinstanz für moralische Gründe betrachtet wird, dürfte freilich variieren. ›Allgemeinstheit‹ ist keine intrinsische Eigenschaft. Ad (iii): Je nachdem, wie man die Versatzstücke einer Ethik anordnet, kann es auch im holistischen Rahmen ein oberstes Prinzip geben. Nur in einem Sinne ist dies ausgeschlossen. Holistisch gesonnene Philosophen können keine praktischen Präskriptionen anerkennen, die die Rolle einer ein für alle Mal feststehenden, allemal mobilisierbaren, epistemisch privilegierten Appellationsinstanz spielen sollen. Ob man eine Ethik hierarchisch aufbaut oder nicht – mit einem Prinzip an der Spitze, oder nicht –, ist also nicht die entscheidende Frage. Wenn man dies tut, dann kommt es vor allem darauf an, wie man den Stellenwert und die Autoritätsbasis eines ›obersten‹ Prinzips beschreibt. Jedenfalls für Pragmatisten hat ein anerkennungswürdiges höchstes Prinzip seine ›Spitzenstellung‹ nur relativ 300

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auf einen bestimmten Stand der Theorieentwicklung – und relativ auf konkrete moralische Problemsituationen, von denen aus sich die verfügbaren Begründungsressourcen in eine (gegebenenfalls hierarchische) Ordnung bringen lassen. Seine Autorität hat ein moralisches Oberprinzip aufgrund der inferenziellen Beziehungen, die es zum gesamten Inventar der ethischen Theorie unterhält, welcher es ›vorsteht‹. Dies ist die Essenz des ethischen Holismus, als der pragmatistischen Alternative zum kantianischen Fundamentalismus. Auch ein holistisch gesonnener Pragmatist wie Schneewind kennt ›oberste‹, oder wie er sagt: grundlegende Prinzipien: Unsere moralischen Prinzipien müssen […] eine angemessene Handlungsanleitung für zukünftige Entscheidungen sein. Zusätzlich müssen sie in der Lage sein, in einer potenziell unbegrenzten Gemeinschaft moralischer Akteure für Übereinstimmung zu sorgen. […] Vor allem aber hat ja das Trachten nach moralischer Erkenntnis nicht erst gestern begonnen. Die moralischen Prinzipien, welche die meisten von uns anerkennen, hatten im Laufe der Zeit eine beträchtliche Anzahl von Tests […] zu überstehen. Aufgrund dessen gibt es ziemlich viele Evidenzen dafür, dass sie zur Handlungsanleitung taugen […]. Wenn wir sagen, wir wüssten, dass einige von ihnen richtig sind, […] drücken wir damit auch unsere Entscheidung aus, zumindest für hier und jetzt, an diesen Prinzipien festzuhalten, trotz der Einwände gegen sie und der Schwierigkeiten, die wir mit ihnen haben. […] Die Prinzipien, hinsichtlich deren wir in dieser Weise entscheiden, sie beizubehalten, sind diejenigen, die wir als grundlegend erachten. Es gehört zu der Theorie klassischer erster Prinzipien, dass sie diese Art von Entscheidung fälschlicherweise für die Entdeckung hält, dass bestimmte Prinzipien aufgrund ihrer inneren Natur grundlegend sind. 111

Pragmatisten wie Schneewind verfolgen die Strategie, theoretische ›Grundsatzfragen‹ in praktische Fragen umzudeuten. 112 In diesem Sinne ist es gut pragmatistisch, dass für ihn der Vorrang eines ›grundlegenden‹ Prinzips auf einer Entscheidung beruht – und nicht auf dessen ›theoretisch‹ konstatierbaren Eigentümlichkeiten. Wir treffen, ihm zufolge, eine solche Entscheidung im Lichte der Erfahrungen, die wir mit der handlungsleitenden Funktion eines Prinzips machen und gemacht haben. Ein Prinzip, das eine herausgehobene Position übernehmen soll, muss sich in der Vergangenheit in seiner Leitungsfunktion bewährt haben. Seine Eignung zum ›basalen‹ Prin111 Vgl. Schneewind, »Moral Knowledge and Moral Principles«: 261 f. – alle Hervorh., außer der ersten: HK. 112 Vgl. z. B. Rudolf Carnap, »Empiricism, Semantics, and Ontology«.

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zip, und seine Autorität, beruht auf erwiesener Funktionstüchtigkeit. Aufgrund des so erbrachten Qualifikationsnachweises kann man solche Prinzipien auch im holistischen Theorierahmen jene besondere Rolle beim moralischen Begründen spielen lassen, die ihnen im fundamentalistischen Gegenmodell automatisch ›zukam‹. Indem Schneewind auf die Erfahrungsgrundlagen bei der Wahl grundlegender Prinzipien hinweist und sich gegen die Vorstellung verwahrt, »dass bestimmte Prinzipien aufgrund ihrer inneren Natur grundlegend sind«, macht er deutlich, dass basale Grundsätze nicht aus apriorischen, sondern aus ›bloß‹ pragmatischen Gründen auserkoren werden. Deshalb haben sie diesen Status, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht für immer und ewig. Die von Schneewind formulierte Stellenbeschreibung für ein grundlegendes Moralprinzip macht deutlich, dass im holistischen Modell ›basale‹ bzw. ›oberste‹ Prinzipien nicht allemal auch die allgemeinsten Grundsätze sein müssen. Seine Darstellung der Entscheidungsgrundlagen bei der Prinzipienrekrutierung macht aber auch deutlich, wieso ›allgemeinste oberste‹ Prinzipien, auch im holistischen Rahmen, ganz besondere Autorität besitzen können – wenn auch immer nur auf Abruf, nicht anders als auf Zeit gewählte demokratische Würdenträger. Denn solche Prinzipien besitzen ihr ›epistemisches Gewicht‹ aufgrund der umfassenden Integrationsleistung, die sie vollbringen. Sie fassen nicht nur unsere Vorstellungen von einer wünschenswerten moralischen Praxis zusammen und formulieren dadurch allgemeinste Verhaltensrichtlinien. Sondern sie können dies, weil sich in ihnen auf allgemeinste Weise moralische Erfahrung – und mitunter auch moraltheoretisches Wissen – sedimentiert hat. Meine bisherigen Bemühungen, den ›unbedingten‹ Charakter moralischer Forderungen aufzuklären, möchte ich im Folgenden zusammenfassen. (Dabei ist das bislang Erreichte immer noch ein Zwischenergebnis. Die bis hierher gegebene Unbedingtheitserklärung muss im übernächsten Kapitelabschnitt noch einmal modifiziert, nämlich ent-moralisiert werden.) Der kantischen Theorie moralischer Imperative habe ich, im 5. Kapitel meines Buches, eine erste Bestimmung des Unbedingtheitscharakters einer Forderung abgelesen. Demnach sind unbedingte Moralgebote durch nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe zu charakterisieren. Es handelte sich dabei, präziser gefasst, um 302

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Gründe, die die Erforderlichkeit der gebotenen Handlungen von deren Übereinstimmung mit einem oder dem moralischen Prinzip abhängig machen. Im Laufe des jetzigen Kapitels habe ich zunächst diese Beschränkung auf Prinzipien aufgehoben (6.2). Eine liberalisierte Beschreibung des Bezugspunktes moralischer Gründe machte es möglich, auch Forderungen als ›unbedingt‹ gelten zu lassen, die durch ihre Übereinstimmung mit nicht-prinzipiellen moralischen ›Standards‹ (Idealen, Tugenden usw.) begründet werden. Zuletzt habe ich den Begriff eines moralischen ›Standards‹ aufgeweicht. So konnte ich den ›unbedingten‹ Charakter einer moralischen Forderung dadurch erläutern, dass die damit geforderten Handlungen durch Übereinstimmungsgründe gestützt werden, die sie zu anderen Versatzstücken des moralischen Patchworks in nicht-funktionale Beziehungen bringen. Mein ›aufgeweichter‹ Unbedingtheitsbegriff mag Kantianern der strengen Provenienz als Verharmlosung oder Trivialisierung vorkommen. Die Einbettung einer moralischen Forderung in ein Netz nicht-funktionaler Inferenzen wird ihnen zu wenig sein, um deren Unbedingtheitscharakteristik in Ehren halten zu können. Anders und anspruchsvoller ist aber die ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Forderung nicht zu haben. Und ist die resultierende Unbedingtheitskonzeption wirklich so ›harmlos‹ ? Immerhin rettet sie einen Typus nicht-funktional begründeter Forderungen und verweist damit die instrumentelle Vernunft in ihre Grenzen. Von meiner modifizierten Unbedingtheitskonzeption ließ sich überdies plausibel machen, dass sie zur Charakterisierung aller unbedingten Moralvorschriften, auch eines obersten Prinzips, tauglich ist. Man braucht also keinen zweiten, stärkeren, metaphysischen Unbedingtheitsbegriff für ein höchstes Moralprinzip. Dieses Ergebnis war allerdings nur zu einem Preis zu haben, den Kantianer ungern entrichten werden. Der modifizierte kantianische Unbedingtheitsbegriff ist nur dann für alle unbedingten Moralgebote, inklusive eines höchsten Prinzips, gültig, wenn man ihn in einen Kant-fremden Theorierahmen stellt: wenn man also den moralphilosophischen Fundamentalismus zugunsten eines Holismus aufgibt. Nicht zuletzt geht mit einer holistischen Ethikkonzeption auch eine Lockerung der moralischen Begründungsvorstellung einher. Insofern eine ›hierarchische‹ Theoriestruktur im Holismus optional ist und dieser kein natürliches ›Unten‹ und ›Oben‹ kennt, gibt es darin nicht mehr ›das moralische Räsonnement‹, welches Kant nach dem A

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Modell ›deduktiven Schließens‹ zugeschnitten hatte. Holisten kennen daneben eine ganze Reihe anderer Begründungsverfahren, die für Kohärenz unter den Bestandteilen eines plastischen Ganzen ethischer Propositionen sorgen sollen.

6.5 Moralische Unbedingtheit, moralisches Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung Mit einer kantianischen Erklärung der Unbedingtheit einer moralischen Forderung kann man den Charakter aller unbedingten Moralgebote explizieren – wenn man diese Erklärung ein wenig modifiziert und sie in einen holistischen Rahmen stellt. Für diese These habe ich im vorigen Kapitelabschnitt argumentiert. Sie soll im folgenden überprüft werden, indem ich meine Unbedingtheitsexplikation mit einem Einwand Tugendhats konfrontiere, der im 3. Kapitel dargestellt, im 4. Kapitel wieder aufgenommen und dort zur Wiedervorlage im jetzigen Kapitel zurückgestellt wurde. Tugendhats Einwand zufolge 113 wird der dem Anschein nach ›unbedingte‹ Charakter moralischer Forderungen dadurch relativiert und als Schein entlarvt, dass solche Forderungen ein Moralisch-seinwollen ihrer Adressaten voraussetzen. Mit dem Moralisch-sein-wollen eines Menschen ist sein Bekenntnis zu einer moralisch akzentuierten ›praktischen Identität‹ gemeint. Ein solches moralisches Selbstverständnis zu haben, bedeutet, in Tugendhats Worten, »daß das Individuum sich […] als Mitglied der [moralischen] Gemeinschaft verstehen will. Dieses ›ich will‹ […] impliziert […], dass es dieses So-Sein als Mitglied der Gemeinschaft […] in seine Identität aufnimmt«. 114 Die Relativierung moralischer Vorschriften, die Tugendhat darin sieht, dass dem ›ich muss‹ oder ›ich soll(te)‹ einer moVgl. zum Folgenden im 3. und 4. Kapitel die Tugendhat-Abschnitte 3.4. und 4.4. Vgl. Tugendhat. VüE: 60 – Einf. HK. Vgl. auch Rorty, der seinen ›alten‹ Vorschlag, die Moral im Gefolge von Sellars in Termini von ›we-intentions‹ zu beschreiben (vgl. ›Contingency‹ : 59, 190), inzwischen folgendermaßen präzisiert hat: »[…] das Wichtige an ›Wir-Intentionen‹ ist nicht bloß dies, dass sie von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt werden, sondern dass unsere Mitgliedschaft in jener besonderen Gemeinschaft essentiell ist für unsere praktische Identität.« Vgl. ders., »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«: 462. – Zitate aus diesem Aufsatz habe ich mit Rortys unveröffentlichtem englischem Originaltext verglichen und aufgrund dessen bisweilen geändert oder neu übersetzt. 113 114

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ralischen Forderung »ein Ich-will voraufgeht« 115 , ist für ihn ein (zweiter) Grund dafür gewesen, solche Gebote als ›hypothetische Imperative‹ aufzufassen. Für Tugendhat scheint die Annahme eines ›Willens zur Moral‹ vor allem eine semantische und/oder motivationale Notwendigkeit zu sein. Sie erscheint ihm erforderlich, wenn moralische Forderungen Sinn und Kraft haben sollen. – Verlangt man überdies eine Begründung dafür, warum man überhaupt einen moralischen Standpunkt einnehmen sollte, dann scheint eine – nicht-zirkuläre – Antwort einen solchen Standpunkt von außermoralischen Gesichtspunkten abhängig machen zu müssen. Darin kann man nicht nur eine Gefahr für den ›moralischen‹ Charakter des damit Begründeten erblicken. Eine solche Relativität des Moralstandpunktes scheint auch den ›unbedingten‹ Charakter der Forderungen zu tangieren, die von jenem Standpunkt aus erhoben werden. Da eine solche Moralbegründung die Ratsamkeit eines moralischen Selbstverständnisses plausibel zu machen versucht, hat man sie eine prudentielle genannt. Der Bezugspunkt einer solchen Begründung ist das Glück oder das Wohlergehen der Begründungsadressaten. Deshalb ist jene Art der Begründung – gemäß einer inzwischen verbreiteten Unterscheidung von ›Moral‹ und ›Ethik‹ 116 – auch eine ethische Moralbegründung genannt worden. Wer sich an einer solchen Begründung versucht, »stellt seine praktische Überlegung unter die ethische Fragestellung: welche Art von Leben er führen sollte, wer er ist und sein will, was im ganzen und auf lange Sicht ›gut‹ für ihn ist«. 117 Für den eben zitierten Habermas ist offenbar nichts unverzichtbarer, aber auch nichts unbedenklicher, als das ›unbedingte‹ Sollen kantischer Moralgebote. 118 Auf diesem Hintergrund bedeutet für ihn eine epistemische Abhängigkeit des Moralisch-sein-wollens von einer positiven Antwort auf ›die ethische Fragestellung‹ eine Art ›Skandal der praktischen Philosophie‹. Verdirbt doch, seines Erachtens, eine Ausrichtung an diesem Begründungstypus nicht nur den

115 Vgl. Tugendhat, VüE, a. a. O. – »Es ist […] systematisch zwingend, daß […] das Müssen auf einem Wollen aufruht.« Vgl. ders., ›Letitia‹ : 11. 116 Vgl. zum Beispiel Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft«. 117 Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 34. 118 Vgl. die Habermas-Zitate im 2. Kapitel dieser Schrift, Abschnitt 2.2.2.

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moralisch-›unbedingten‹ Forderungscharakter, sondern auch den ›moralischen‹ Charakter der Akteure: Soweit sich ein Aktor durch Gründe ethischer Art davon überzeugen läßt, daß er moralische vormoralischen Lebensumständen vorziehen sollte, relativiert er den verpflichtenden Sinn der moralischen Rücksichtnahme auf andere, dessen kategorische Geltung er unter diesen Umständen anerkennen müßte. […] [Durch] [e]ine ethische Begründung […] verlieren die Gründe, die innerhalb des moralischen Sprachspiels allein zählen, durch eine Relationierung zum selbstbezogenen Interesse am Sprachspiel als solchem ihren illokutionären Sinn – eben Gründe für moralische, und das heißt: unbedingte Forderungen zu sein. Aus begrifflichen Gründen kann der kategorische Sinn moralischer Verpflichtungen nur so lange intakt bleiben, wie den Adressaten die Möglichkeit verwehrt ist, auch nur virtuell jenen Schritt hinter die moralische Gemeinschaft zurückzutreten, der nötig ist, um aus dem Abstand und aus der Perspektive der ersten Person die Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft überhaupt abzuwägen. Ebensowenig führt umgekehrt von der ethischen Reflexion ein Weg zur Begründung der Moral. [Eine] ethische Begründung, die das moralische Sprachspiel im ganzen konditioniert, [verändert] zugleich den Charakter der in ihm möglichen Züge. Denn ein moralisches Handeln ›aus Achtung vor dem Gesetz‹ ist unvereinbar mit dem ethischen Vorbehalt, jederzeit zu prüfen, ob sich auch die Praxis im ganzen aus der Perspektive des je eigenen Lebensentwurfs lohnt. 119

Habermas und Tugendhat scheinen demnach übereinstimmend zu glauben, dass ein ›Wille zur Moral‹ und eine ›prudentielle Begründung‹ dieses Willens den Sinn und die Kraft moralischer Präskriptio119 Vgl. Habermas, ›Betrachtung‹ : 35 f. – Hervorh. und Einf.: HK. Es war der zuletzt zitierte Passus, und insbesondere das darin hervorgehobene Wörtchen ›jederzeit‹, was mich oben im Haupttext die Vermutung aussprechen ließ, dass, Habermas zufolge, ein Offensein für eine ethische Moralbegründung auch den moralischen Charakter der betreffenden Person verdirbt. Der kraftvolle Verteidiger des Aufklärungsdenkens (vgl. Der philosophische Diskurs der Moderne) scheint zu befürchten, dass eine ethische Moralbegründung die dadurch (angeblich) moralisch entfesselten Glückssucher zu einem postmodernen Tänzeln von einem (moralischen) zum andern (›ästhetischen‹) Spielbein einlädt. Was auch immer die ›logische‹ Konsequenz einer solchen Moralbegründung sein mag, so unterschätzt Habermas wohl doch die fortdauernde Attraktivität der moralischen Standardtänze, will sagen die Beharrungskraft eingeprägter moralischer Lebenseinstellungen. – Vgl. auch, zum Verhältnis des Ethischen zum Moralischen, Habermasens gegen Bernard Williams gerichtete Argumentation, a. a. O.: 41 f. Unter einem ›absoluten‹ »Vorrang des Gerechten vor dem Guten« (41), also der kantischen Moral unbedingter Gebote vor aristotelischen Glücksbetrachtungen, tut es Habermas einfach nicht.

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nen relativieren und somit die ›Unbedingtheit‹ moralischer Vorschriften ausschließen. Beide Philosophen ziehen daraus allerdings unterschiedliche Schlussfolgerungen. ›Um so schlimmer für eine solche Moralbegründung‹, findet Habermas – unwillig, wie er ist, den ›unbedingten‹ Sinn eines jeden moralischen Sollens in Frage zu stellen. ›Na und‹, meint Tugendhat, der sich in diesem Punkt mühsam von Kant befreit hat, ›dann sind Moralvorschriften eben hypothetische Imperative‹. Aber stimmt denn die Auffassung, die beide Philosophen eint und aus der sie nur verschiedene Konsequenzen ziehen? Bedeutet denn wirklich eine prudentielle Moralbegründung, dass man den ›unbedingten‹ Charakter moralischer Gebote über Bord zu werfen hat? Da ich mit Tugendhat darin übereinstimme, dass es keine ernst zu nehmende Alternative zu einer solchen Moralbegründung gibt – schon gar nicht in Gestalt einer transzendentalpragmatischen Reflexionsfigur, wie Habermas sie propagiert –, müsste die von beiden behauptete Unvereinbarkeit einer solchen Begründung mit einem ›unbedingten‹ moralischen Forderungscharakter bedeuten, dass meine bisherige Unbedingtheitsanalyse für die Katz’ gewesen ist. Es würde keine unbedingten Moralgebote geben. Alle moralischen Forderungen wären, wie Tugendhat meint, ›hypothetische‹ Imperative. Ob ein Wille, überhaupt moralisch zu sein, den Charakter moralischer Gebote derart ›relativiert‹, dass es sich bei ihnen unmöglich um ›unbedingte‹ Forderungen handeln kann, hängt zum einen davon ab, wie man diesen Willen genau situiert, und zum anderen natürlich davon, wie man die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung versteht. Das im 5. Kapitel erarbeitete Unbedingtheitsverständnis vorausgesetzt, wird der unbedingte Charakter einer moralischen Forderung weder durch einen Willen zur Moral noch durch eine ›ethische‹ Moralbegründung in Frage gestellt. Diese Vereinbarkeitsthesen gilt es nun plausibel zu machen. Dass eine moralisch geforderte Handlung ›unbedingt‹ getan werden muss, habe ich durch spezielle moralische Gründe expliziert, die für die unbedingte Erforderlichkeit einer solchen Handlung vorliegen müssen. Demnach muss, bei einer moralisch-unbedingten Forderung, der letzte Befürwortungsgrund für die geforderte Handlung darin bestehen, dass sie eine bestimmte moralische Eigenschaft hat (z. B. großzügig oder gerecht zu sein). Die Ebene solcher letzten Gründe habe ich seinerzeit mit dem ›Selbstverständnis‹, hier also A

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mit dem moralischen Selbstverständnis einer Person gleichgesetzt. Dabei handelt es sich um ein praktisches Selbstverständnis, also um die Vorstellung einer Person davon, wer sie sein will. Wer demnach moralisch qualifizierte Handlungen deshalb und zuletzt deshalb ausführen will, weil sie solche moralischen Qualitäten besitzen, der will offenbar ein moralischer Mensch sein, der besitzt ein moralisches Selbstverständnis. 120 Daraus scheint nun zu folgen, dass ein ›Wille zur Moral‹ nichts ist, was zusätzlich zu moralischen Vorschriften hinzutreten könnte oder müsste. Der ›Wille zur Moral‹ ist moralischen Geboten nicht äußerlich, sondern inhärent. Er gehört zu ihrem Charakter als moralische. 121 Tugendhats Idee, dass durch einen (erforderlichen) Willen zur Moral der Charakter moralischer Forderungen – also vermeintlich ›unbedingter‹ Moralgebote – ›relativiert‹ würde, ist deshalb verfehlt. Wer diesen Willen nicht hat, für den sind die Forderungen, denen er nachkommt oder nachzukommen gedenkt, gar keine moralischen. Man darf vermuten, dass Tugendhat deshalb zu seiner Auffassung gelangte, weil er – wie auch Habermas – bei der Charakterbestimmung moralischer Forderungen der kantischen Unterscheidung zwischen der ›Moralität‹ und der ›Legalität‹ einer (geforderten) Handlung nicht das ihr gebührende systematische Gewicht gegeben hat. Außerdem macht sich bei Beiden nachteilig bemerkbar, dass sie sich nicht um ein ›tieferes‹ Verständnis des kantischen ›Unbedingten‹ bemüht haben: Tugendhat deshalb nicht, weil es ihm aussichtslos schien, diesem einen guten Sinn abzugewinnen; Habermas nicht, weil die Unbedingtheit moralischer Gebote sich für ihn von selbst versteht. So konnte sich in beider Diagnose, dass moralische Forderungen – for better or worse – durch einen Willen zur Moral oder durch eine ethische Moralbegründung ›relativiert‹ würden und da120 Dabei ist der Sachverhalt, dass zur Charakterisierung moralisch-unbedingter Gebote die Spezifizierung eines letzten Befürwortungs- oder Handlungsgrundes gehört, nichts, was für moralisch-unbedingte Forderungen spezifisch wäre. Auch hypothetische Forderungen können nur dann moralische sein, wenn der letzte Befürwortungsgrund für das Geforderte dessen Mittelfunktion zu einem als ›moralisch‹ erachteten Zweck ist. Auch bei hypothetisch geforderten, moralkonformen Handlungen muss man die Unterscheidung zwischen ihrer ›Moralität‹ und ihrer bloßen ›Legalität‹ treffen können. Vgl. dazu im 4. Kapitel meiner Untersuchung den Abschnitt 4.6.: Für einen guten Zweck. 121 So hat in alten Berliner Zeiten mein Freund Hans-Ulrich Thalmann gegen meine damaligen Auffassungen argumentiert.

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Moral. Unbedingtheit, moral. Selbstverständnis und prudentielle Moralbegründung

durch ihre scheinbare oder offenkundige Unbedingtheit einbüßen müssten, ein ›irrelationales‹ Unbedingtheitsverständnis einschleichen. Denn nur wer ein nicht-relationales Verständnis des Unbedingten besitzt, kann sinnvollerweise von dessen ›Relationierung‹ so reden, dass er dadurch den ›unbedingten‹ Forderungscharakter in Gefahr sieht. Es handelt sich, bei Tugendhat wie bei Habermas, offenbar um dasselbe ›irrelationale‹ Verständnis des ›Unbedingten‹, das Rorty den kantischen Moralgeboten untergelegt hat. Demgegenüber hatte sich im 5. Kapitel gezeigt, dass auch Kants unbedingte Moralvorschriften insofern als ›relational‹ zu betrachten sind, als man sie durch Gründe der Übereinstimmung mit moralischen Standards angemessen spezifizieren kann. Bislang habe ich gegen die Auffassung argumentiert, dass die Abhängigkeit moralischer Forderungen von einer Entscheidung der Moralsubjekte (zum moralischen Universum gehören zu wollen) einen ›unbedingten‹ Charakter solcher Forderungen unmöglich mache. Eine solche Abhängigkeit besteht insofern nicht, als ein ›angemessenes‹ Verständnis moralischer Forderungen die Bezugnahme auf letzte moralische Handlungsgründe impliziert, mithin ein moralisches Selbstverständnis und damit ein Entschiedensein zur Moral. Es bleibt die weitere Frage zu erörtern, ob eine ›ethische‹ Begründung eines solchen moralischen Basiswillens – also eine Demonstration der Ratsamkeit eines moralischen Selbstverständnisses im Hinblick auf das Wohlergehen der moralischen Forderungsadressaten – den unbedingten Charakter jener Forderungen ausschließt. Die hier alles entscheidende Frage lautet, ob sich an der ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Forderung, so wie ich sie expliziert habe, durch die epistemische Abhängigkeit eines moralischen Grundwollens von einem außer-moralischen Gesichtspunkt etwas ändern würde. Würde sich dadurch, dass der Moralbezirk im Ganzen einem moralexternen Zweck dient, etwas daran ändern, dass innerhalb dieses Bezirks moralisch geforderte Handlungen in dem Sinne als ›unbedingt‹ erforderlich erscheinen können, dass sie zuletzt um der moralischen Eigenschaften dieser Handlungen willen ausgeführt werden können und auszuführen sind? Nein, lautet die Antwort, dadurch ändert sich daran nichts. Jedenfalls muss sich dadurch nichts ändern – weder im Sinne einer psychologischen noch im Sinne einer ›logisch-semantischen‹ Notwendigkeit. Denn auch dann bleibt der letzte subjektive BefolgungsA

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grund, welcher die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung ermöglicht, die nicht-funktionale Übereinstimmung des Geforderten mit einem moralischen Standard. Auch dann ist es noch so, dass die geforderte Handlung nicht als Mittel zu einem Zweck gefordert wird. Das letzte, nicht-funktionale Handlungsmotiv mutiert nicht zu einem funktionalen, weil der Handelnde einsieht, dass es für ihn klug ist, moralisch zu sein. Der letzte Grund, eine bestimmte moralisch geforderte Handlung auszuführen, braucht, nach dem Nachweis der epistemischen Abhängigkeit des Moralbewusstseins von einem äußeren Zweck, keineswegs die Verfolgung dieses Zwecks zu sein. Die von inner-moralischen Forderungen als unbedingt erforderlich verlangten Handlungen werden also durch einen externen Zweckbezug der Moral nicht zu nicht-moralischen hypothetischen Imperativen. M. a. W. ist die Frage durchaus sinnvoll, ob man zum eigenen Besten einer Gemeinschaft angehören will, deren Mitglieder in dem Sinne moralisch-unbedingte Forderungen aneinander richten, dass sie voneinander erwarten, Handlungen zuletzt aus moralischen Gründen auszuführen. Ein ›Ja‹ auf diese Frage hebt die Unbedingtheit jener Forderungen nicht auf. Vielmehr wird damit bekräftigt, dass man es gut und richtig findet, in diesem Sinne ›unbedingte‹ moralische Forderungen aneinander zu richten. 122 Die erwiesene Glücksförderlichkeit eines moralischen Selbstverständnisses muss also nicht bedeuten, dass die von einem solchen Selbstbild inspirierten Handlungen allesamt auf das individuelle Glück der Akteure ausgerichtet sind und die bis dato als ›unbedingt‹ betrachteten Moralvorschriften individuelle Glücksimperative würden. Das sieht man daran, dass auch Menschen, die von der Glücksförderlichkeit eines moralischen Selbstverständnisses überzeugt sind, im konkreten Fall ein Handeln aus moralischen Gründen befürworten können, von dem sie wissen, dass es ihre eigenen Glückschancen mindert. Falls die voranstehende, mit Gegenintuitionen vollgepackte Retourkutsche gegen Habermasens Befürchtungen ihr Ziel erreicht, dann war seine Sorge fehl am Platze, es müsste eine ethische Moralbegründung der ›Unbedingtheit‹ jeglicher Moralgebote den Garaus machen. Die ›wohlverstandene‹ Unbedingtheit einzelner moralischer 122 Mit diesem »präferentiell begründeten Schritt [zur Moral] lassen wir uns auf Verhaltensmuster ein, die in keiner Weise auf präferentiell begründete Orientierungen rückführbar sind«. Vgl. Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks: 203 – Einf. HK. Habermas hat diesen Satz zwar zitiert (vgl. ›Betrachtung‹ : 35, Fn. 28), aber ohne sich davon beeindrucken zu lassen.

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Forderungen braucht von einer glücksorientierten Moralbegründung nicht beeinträchtigt zu werden.

6.6 Existenzielle Notwendigkeiten Eine weitere Zwischenbilanz zum Stand der Untersuchung sollte zunächst an den Ausgangspunkt erinnern. Kantisch konzipierte Moralgebote sind ›unbedingte‹ Forderungen, die Unbedingtheit einer Forderung war für Kant das Kriterium für ihren moralischen Charakter. Diese Auffassung habe ich bereits im 2. Kapitel herausgearbeitet. Das 5. Kapitel sollte dann klären, was genau unter der ›Unbedingtheit‹ einer moralischen Vorschrift zu verstehen ist. Unbedingte Moralgebote wurden dort als Forderungen expliziert, bei denen die Befürwortungsgründe für das Geforderte dessen nicht-funktionale Übereinstimmung mit einem oder dem moralischen Prinzip feststellen. Diese Unbedingtheitserklärung habe ich im jetzigen Kapitel bereits in zweierlei Hinsicht modifiziert. Zum einen wurde die Prinzipienfixierung bei der Beschreibung unbedingtheitstiftender Gründe zugunsten anderer moralischer Standards (Ideale, Wertvorstellungen, Tugenden usw.) aufgehoben. Zum anderen habe ich, um Kants ›metaphysische‹ Unbedingtheitserklärung für sein oberstes Moralgebot überflüssig zu machen, die Unbedingtheitserklärung des 5. Kapitel in einen holistischen Rahmen gestellt. Zuletzt wurde ein Angriff auf die Existenzmöglichkeit unbedingter Moralvorschriften abgewehrt. Dass moralische Gebote einen basalen Willen zur Moral voraussetzen – nein: beinhalten –, und dass dieser Wille gegebenenfalls nur prudentiell zu begründen ist, tangiert den unbedingten Charakter mancher Moralgebote nicht. Mancher. Denn bereits im 4. Kapitel habe ich eingeräumt, dass andere Moralvorschriften als hypothetisch-bedingte Forderungen aufzufassen sind. Damit war bereits klar, dass Kant und die Seinen sich irren, wenn sie die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung für deren moralische Signatur halten. Wenn es hypothetische Moralgebote gibt, dann ist die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung schon deshalb kein Kriterium für deren moralischen Charakter, weil sie keine notwendige Bedingung für deren Auszeichnung als ›moralische‹ darstellt. Bleibt zu fragen, ob jene Unbedingtheit immerhin nur ›moralische‹ Gebote (eine Art moralischer Gebote) auszeichnet – und damit immerhin eine hinreichende Bedingung für das Vorliegen einer MoA

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ralvorschrift abgibt. Eine negative Antwort auf diese Frage würde bedeuten, dass der ›unbedingte‹ Charakter einer Forderung nichts Moralspezifisches an sich hat. Tatsächlich gibt es Handlungsvorschriften, die in strukturell demselben Sinne wie unbedingte Moralgebote als ›unbedingt‹ charakterisiert werden können – und die gleichwohl keine moralischen Forderungen sind. Meiner Analyse unbedingter Moralgebote zufolge wurde deren Unbedingtheit dadurch ermöglicht, dass der letzte Grund für die dadurch geforderten Handlungen deren nicht-funktionale Übereinstimmung mit einem moralischen Standard feststellt. Nun gibt es aber nicht nur ›moralische‹ Standards, mit denen eine geforderte Handlung übereinstimmen kann. Entsprechend gibt es nicht-funktionale und zugleich nicht-moralische Gründe dafür, eine Handlung wegen ihrer Übereinstimmung mit einem nichtfunktionalen Standard auszuführen. Wo solche Gründe die letzten Gründe sind, die ein am Forderungsgeschehen Beteiligter für das Geforderte hat, da ist die so begründete Forderung für ihn eine ›unbedingte‹. Es gibt also nicht-moralische unbedingte Forderungen. Demnach sind Kants ›kategorische Imperative‹ nicht allesamt moralische Gebote. Wie an der Herleitung dieses Ergebnisses abzulesen ist, gibt es solche ›nicht-moralischen Unbedingtheiten‹ deshalb, weil nicht nur das moralisch Erforderliche zuletzt aus nicht-funktionalen Übereinstimmungsgründen gefordert werden kann. Solche Gründe sind also, entgegen der kantischen Lehrmeinung, nicht allemal moralische Gründe. Es gibt verschiedene – moralische und nicht-moralische – Arten nicht-funktionaler Übereinstimmungsgründe und a fortiori unbedingter Forderungen. Die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung ist also tatsächlich nicht moralspezifisch und auch deshalb kein Kriterium für ihren ›moralischen‹ Charakter. Durch die Anerkennung von unbedingten, aber nicht-moralischen Handlungsvorschriften wird das Unbedingtheitsmonopol gesprengt, welches Kant und seine Anhänger für ›moralische‹ Forderungen beansprucht haben. Da ihre ›Unbedingtheit‹ weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für den moralischen Charakter einer Handlungsvorschrift ist, ist diese moralisch indifferent – und deshalb kein taugliches Begriffswerkzeug, um moralische von nicht-moralischen Forderungen zu unterscheiden. Die Ent-moralisierung des Unbedingten, die sich aus diesen 312

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Überlegungen ergibt, macht eine erneute Reformulierung meiner ›Unbedingtheitserklärung‹ erforderlich. Die bisherige Einschränkung auf moralische Bezugspunkte für jene nicht-funktionalen Übereinstimmungsgründe, welche die Unbedingtheit einer Forderung ermöglichen, kann nun entfallen. Unbedingtheit stiftende Gründe sind demnach letzte nicht-funktionale Gründe der Übereinstimmung mit moralischen oder nicht-moralischen Standards – mit temporär feststehenden moralischen oder nicht-moralischen Versatzstücken eines personalen ›Patchworks‹. Die Ent-moralisierung des ›Unbedingten‹ geht einher mit einer ›De-moralisierung‹ des kantischen Pflichtbegriffs – oder sie bedeutet dessen erneute ›Falsifikation‹. Wenn eine ›Pflicht‹ als die ›unbedingte Notwendigkeit‹ einer Handlung definiert ist (GMS 425), und es gibt nicht-moralisch Unbedingtes, dann ist damit keine moralische Pflicht definiert worden. Sondern bestenfalls ein moralisch neutraler Pflichtbegriff, der auch das ›gewissenhafte‹ Versehen der Obliegenheiten eines Auftragskillers mit umfasst. Eine naheliegende Reparaturoperation am kantischen Pflichtbegriff ist zum Scheitern verurteilt. Man könnte das ›Moralische‹ in die Rede von einer ›unbedingten praktischen Notwendigkeit‹ mit hineinzunehmen versuchen und unter einer (dann ›moralischen‹) ›Verpflichtung‹ die ›unbedingte moralische Notwendigkeit‹ einer Handlung verstehen wollen. Mit dieser Gleichsetzung läge man jedoch über Kreuz mit einer Einsicht, die ich oben von Bernard Williams übernommen habe (vgl. 6.1). Kann man doch gewisse Fälle supererogatorischen Handelns so beschreiben, dass ein moralischer ›Held‹ etwas ins Werk setzt, das ihm, aus moralischen Gründen, als ›unbedingt notwendig‹ erscheint, zu dem gleichwohl niemand, auch er nicht, verpflichtet sein kann. – So oder so scheint ein Pflichtbegriff, der auf der Vorstellung einer ›unbedingten‹ Handlungserforderlichkeit aufbaut, nicht hinzuhauen. Dies ist eine Ermutigung für alle, die sich, wie Williams, an der Konstruktion eines alternativen Pflichtkonzepts versuchen. 123 Vorhin habe ich den ›unbedingten‹ Charakter einer Forderung durch die letzten Gründe beschrieben, aus denen jemand die derart charakterisierten Handlungen auszuführen hat. Auf der Ebene ihrer letzten 123

Vgl. zu dessen Pflichtbegriff die Williams-Darstellung im 3. Kapitel. A

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›moralischen‹ Handlungsgründe habe ich, im 5. Kapitel meiner Untersuchung, das moralische Selbstverständnis einer Person angesiedelt. 124 Deshalb kann ich jetzt den Grund für die Existenzmöglichkeit nicht-moralischer Unbedingtheiten – und die entsprechenden Forderungen selber – auch in Termini von ›nicht-moralischen Selbstverständnissen‹ der am Forderungsgeschehen Beteiligten beschreiben: 125 Unbedingte Forderungen sind durch die letzten nicht-funktionalen Gründe der Übereinstimmung der dadurch geforderten Handlungen mit einem ›praktischen Standard‹ charakterisiert. Weil diese Gründe ›letzte nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe‹ sind, kommt in ihnen ein ›praktischen Selbstverständnis‹ der Forderungsadressaten oder -autoren zum Ausdruck. Ich rede jetzt von ›einem praktischen Selbstverständnis‹ statt, wie vorher, von ›dem moralischen‹. Und ich spreche von ›einem praktischen Selbstverständnis‹, statt wie bislang von ›dem moralischen Selbstverständnis‹ einer Person: weil es bei jedem Menschen eine Pluralität von Selbstverständnissen (Berliner, Philosoph, Dirty Harry, usf.) gibt. Es kann demzufolge unbedingte nicht-moralische Forderungen deshalb geben, weil Menschen neben einem moralischen Selbstverständnis noch andere ›praktische Identitäten‹ besitzen. 126 Dementsprechend gibt es Vgl. im 5. Kapitel den Abschnitt 5.8.: ›Gefordert: Moralität‹. Mit einem nicht-moralischen Selbstverständnis einer Person ist hier, wie sich gleich zeigen wird, kein unmoralisches oder amoralisches Selbstbild gemeint. 126 Christine Korsgaard verwendet anstelle meiner Rede von einem ›praktischen Selbstverständnis‹ den Terminus ›praktische Identität‹. Auch sie kennt eine Pluralität praktischer Selbstverständnisse: »Practical identity is a complex matter and for the average person there will be a jumble of such conceptions. You are a human being, a woman or a man, an adherent of a certain religion, a member of an ethnic group, a member of a certain profession, someone’s lover or friend, and so on.« Vgl. dies., The Sources of Normativity: 101. Dass auch ich, wie Korsgaard, manchmal von der ›praktischen Identität‹ einer Person spreche, bedeutet nicht, dass ich alle ihre Auffassungen darüber teile. Sie schreibt zum Beispiel: »[…] all of these [practical] identities give rise to reasons and obligations. Your reasons express your identity, your nature; your obligations spring from what that identity forbids.« (A. a. O. – Einf. HK.) Zunächst einmal kommt man kaum umhin, Korsgaards Rede von der ›Natur‹ eines Menschen anstößig zu finden. Darüber hinaus ist ihr entgegenzuhalten, dass nicht ein jeder Handlungsgrund, sondern nur die letzten Handlungsgründe einer Person ggf. so eng mit ihrer Identität verknüpft sind. Zum dritten kommt es ihr, der orthodoxen Anhängerin einer kantischen Pflichtethik, gar nicht in den Sinn, dass sich aus jemandes Identität auch weniger dramatische Dinge ergeben könnten als immer nur Pflichten, Pflichten, Pflichten. Relativ unproblematisch kann man es finden, wenn Korsgaard über den Begriff einer ›praktischen Identität‹ meint: »It is better understood as a description under which you 124 125

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auch nicht-moralische letzte Handlungsgründe, in denen nicht-moralischen Selbstverständnisse zum Ausdruck kommen, und entsprechende nicht-moralische unbedingte Erfordernisse. Die ›unbedingten‹ Handlungsvorschriften, die sich aus dem praktischen Selbstverständnis einer Person ergeben, will ich als existenzielle Forderungen bezeichnen. Diese bringen ›existenzielle Erfordernisse‹ und manchmal ›existenzielle Notwendigkeiten‹ zum Ausdruck. 127 Um den Anschluss an die sonstige Literatur zu wahren, rede ich im Folgenden häufig nur von existenziellen ›Notwendigkeiten‹ und bitte die Leser, im Sinn zu haben, dass es weniger dramatische Forderungsmodalitäten gibt (vgl. 6.1). Mit meiner Rede von existenziellen Forderungen, Erfordernissen und Notwendigkeiten suche ich Anschluss an einen existenzphilosophischen Wortfind your life to be worth living and your actions to be worth undertaking.« (A. a. O.) Daran ist höchstens auszusetzen, dass nicht alle unsere praktischen Identitäten uns so wichtig sind, dass für uns davon anhängt, ob wir unser Leben des Lebens wert finden. Öfters in ihrem Buch gibt Korsgaard jedoch eine viel stärkere, wie ich meine: unangemessen starke Definition von ›praktischer Identität‹. Vgl. dazu die nächste KorsgaardFußnote. Auch Korsgaard hat – wie ich, nach der Etablierung nicht-moralischer Unbedingtheiten – einen entmoralisierten Begriff ›unbedingter‹ Forderungen, oder, wie sie sagt: ›unbedingter Verpflichtungen‹. Darin ist sie ganz un-kantisch, ist doch für ihr Idol die Unbedingtheit einer Forderung etwas Moralspezifisches gewesen ist. Bei Korsgaard ergibt sich ihr moralisch neutraler Unbedingtheitsbegriff daraus, dass sie eine Pluralität von praktischen Identitäten anerkennt und, ihres Erachtens, aus den wichtigeren dieser Identitäten (also auch aus nicht-moralischen) unbedingte Verpflichtungen folgen: »When an action cannot be performed without loss of some fundamental part of one’s identity […] then the obligation not to do it is unconditional«. »Obligation is always unconditional«, das soll auch für nicht-moralische Verpflichtungen gelten. (Vgl. a. a. O.: 102 f.) Um moralische Verpflichtungen auszuzeichnen, kann sich Korsgaard also nicht des Unbedingtheitsbegriffs bedienen. Statt dessen nimmt sie Zuflucht zu der Vorstellung, dass es neben vielen ›kontingenten‹ Identitäten einer Person auch ein praktisches Selbstverständnis gebe, das ›unausweichlich‹ (»inescapable«) sei, nämlich das Selbstverständnis eines Menschen als Mensch und Mitmensch in einem kantischen ›Reich der Zwecke‹ : »moral identity is necessary« (vgl. a. a. O.: 120–122). 127 Den Terminus ›existenzielle Notwendigkeiten‹, als Oberbegriff für alle ›unbedingten‹ Notwendigkeiten, verdanke ich Richard Rorty. Vgl. dessen »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«. In meinem Aufsatz »Moral und Klugheit. Rortys Kritik an einer kantischen Unterscheidung«, auf den sich Rortys Erwiderung bezieht, hatte ich noch die im folgenden Haupttext sog. ›ethischen‹ Notwendigkeiten unter dem Namen von ›existenziellen‹ neben moralische (und ästhetische) gestellt, ohne über einen Oberbegriff für die verschiedenen Arten unbedingter Notwendigkeiten zu verfügen, die in der Folge oben im Haupttext unterschieden werden. A

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gebrauch. Indem solche Forderungen und die von ihnen formulierten Notwendigkeiten sich aus einem personalen Selbstverständnis ergeben – und ein solches zum Ausdruck bringen –, kristallisiert sich invielen von ihnen, wie jemand seine eigene ›Existenz‹ sieht. 128 Häufig sind existenzielle Forderungen selbstbezüglich: Vorhaltungen, gerichtet an die eigene Adresse. Man verlangt damit von sich selber ein bestimmtes Handeln, angesichts dessen, wer und wie man selber, im Ganzen oder in Teilbereichen seiner Existenz, sein möchte. Solche Forderungen können aber auch fremdadressiert sein, etwa in der Form eines ›existenziellen Rates‹ an ein Gegenüber: ›Jemand wie du, mit deinem Selbstverständnis, muss ja doch wohl in dieser Situation die Brocken hinschmeißen‹. Aber auch ein externer Beobachter kann, in einer Art ›existenziellen‹ Betrachtung, über einen ihm persönlich Unbekannten befinden: ›Er soll doch ja die Marlene Dietrich-Fußnote im Text lassen. Jemand mit seinem Selbstbild darf doch keine Konzessionen an humorlose Leser zu machen.‹ Es gibt so viele Arten existenzieller Forderungen und sich daraus ergebender existenzieller Notwendigkeiten, wie es personale Selbstverständnisse geben kann. Greifen wir, aus der Mannigfaltigkeit existenzieller Erfordernisse, drei heraus. Es handelt sich dabei um 128 ›Existenzielle Forderungen‹ heißen also nicht deshalb so, weil das damit Geforderte für die blanke Existenz oder Fortexistenz ihrer Adressaten erforderlich wäre, für deren physische Subsistenz oder ihr psychisches Überleben. So aber versteht Korsgaard, in manchen ihrer Beschreibungen, die ›praktische Identität‹ eines Menschen. Demnach wäre eine solche Identität etwas, dem zuwider zu handeln eine so gravierende Verletzung seiner ›Integrität‹ bedeutete, mithin einen Verrat seiner selbst darstellen würde, dass man es in solchen Fällen besser fände, tot zu sein, als ›so etwas‹ getan zu haben. (Vgl. dies., a. a. O.: 17 f., 102.) Dass eine solche Identitätsbeschädigung auf den ›psychischen Tod‹ einer Person hinausläuft, vermag ja wohl kaum für alle Identitäten einzuleuchten, die Korsgaard aufgezählt hat (vgl. die vorige Korsgaard-Fn.). Zwar ist es hinsichtlich einer jeden praktischen Identität einer Person möglich, sie so ernst und wichtig zu nehmen, dass man lieber sterben möchte als sie zu verletzen: »[…] ein Zahnarzt, ein Tischler, ein Buchhalter oder ein Philosophieprofessor können sich unter dieselbe unbedingte Forderung, Vollkommenes zu leisten, gestellt fühlen wie ein Maler oder Dichter. Viele solche Leute können allen Ernstes zu sich selber sagen, dass sie lieber sterben würden als ihr Arbeitsethos zu verraten, ihr Bedürfnis, gute Arbeit zu leisten.« Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«: 461 – Hervorh. HK. Aber den Begriff einer ›praktischen Identität‹ so zu definieren, dass sie allemal etwas ist, dem man um keinen Preis zuwiderhandeln möchte, ist eine typisch philosophische Überdramatisierung.

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ethische und ästhetische – und natürlich auch um moralische Unbedingtheiten. 1. Dass hier in einer Reihe neben ethischen und ästhetischen Forderungen unbedingte Moralgebote wieder auftauchen, darf nicht überraschen. War doch zunächst an ihnen die strukturelle Verfassung ›unbedingter‹ Handlungsdirektiven abzulesen. Meine Erklärung unbedingter Moralgebote enthielt – bei der Beschreibung der unbedingtheitstiftenden letzten Handlungsgründe – die Bezugnahme auf ein moralisches Selbstverständnis der am Forderungsgeschehen beteiligten Personen. Indem ich vom Moralspezifischen dieser Konzeption abstrahierte, gewann ich meinen Begriff existenzieller Forderungen, die sich aus dem ein oder anderen Selbstverständnis einer Person ergeben. Dabei kann eines dieser Selbstverständnisse natürlich auch ein moralisches sein. Mithin bringen alle unbedingten Moralvorschriften existenzielle Erfordernisse zum Ausdruck. 129 2. Unbedingte ethische Notwendigkeiten ergeben sich aus dem ›Ethos‹ einer Person – soweit dieses nicht auf ein moralisches Ethos eingeschränkt ist. 130 Sie resultieren aus dem Selbstverständnis einer Person als dieser Person. Ein solches Selbstverständnis enthält die Antworten eines Menschen auf praktische Fragen, die ihn in seiner Ganzheit betreffen. Der Begriff, den wir uns in praktischer Absicht von uns selber machen, beherbergt ggf. unsere Auskunft darüber, was für ein Mensch wir sein und was für einen Charakter wir haben möchten; was wir aus uns und aus unserem Leben zu machen gedenken. 131 Die Forderungen, die sich aus einem ›ethischen‹ Selbstverständnis ergeben, sind unbedingte Handlungsaufforderungen. Denn sie zielen nicht auf den Mitteleinsatz zu einem Zweck, sondern wir halten uns mit ihnen dazu an, unseren eigenen Lebensstandards gemäß 129 Rorty hat also Recht daran getan, die neuerdings von ihm anerkannten unbedingten Moralgebote unter die existenziellen Forderungen zu subsumieren. Vgl. ders., »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«. – Vgl. auch im Kapitelabschnitt 6.7. den Rorty-Teil. 130 Wo jemand – nennen wir ihn einen ›radikalen Kantianer‹ – sich durch und durch moralisch verstünde, würde sein ›ethisches‹ Selbstverständnis mit seinem ›moralischen‹ zusammenfallen. Die von ihm gesehenen ethisch-existenziellen Handlungsnotwendigkeiten wären dann allesamt moralische Unbedingtheiten. 131 Es kann zu einem praktischen Selbstverständnis auch ein Meta-Selbstverständnis gehören (oder es kann sich dabei um ein solches handeln), durch das jemand bestimmt, welche seiner vielen praktischen Identitäten ihm die wichtigste und deshalb die vorrangige ist.

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zu leben. Ethische Forderungen wollen die Stimmigkeit zwischen den eigenen Grundorientierungen und unseren konkreten Lebensvollzügen sichern. Wir dringen mit ihnen ggf. darauf, dass sich die Details unserer Lebensführung in eine Gesamtvorstellung von unserem Leben einfügen. Die ethischen Gründe, welche die dadurch gestützten ethischen Vorschriften zu ›unbedingten‹ Geboten machen, sind nicht-funktionale Gründe, die das Zusammenpassen der für erforderlich gehaltenen Handlungen mit dem Selbst- und Lebensentwurf einer Person feststellen. Die Beschreibungen, die ich soeben von einem aufs Ganze einer Person und ihres Lebens gehenden ethischen Selbstverständnis gegeben habe, legen bestimmte Charakterisierungen der daraus resultierenden Erforderlichkeiten nahe. Ethische Unbedingtheiten sind in dem Sinne ›konstitutionelle Notwendigkeiten‹, als sie sich aus der persönlichen Konstitution eines Menschen ergeben. Insoweit es sich dabei um eine ›Selbstkonstitution‹ handelt, sind sie ›Notwendigkeiten der individuellen Selbstbestimmung‹. Insofern sich voluntative Grundorientierungen in einem persönlichen ›Charakter‹ verfestigen, kann man ethische Unbedingtheiten auch als ›Notwendigkeiten des Charakters‹ bezeichnen. 132 Die Kehrseite solcher ›Notwendigkeiten‹ sind gewisse ›Unfähigkeiten des Charakters‹. 133 Damit sind Handlungen gemeint, die mit jemandes Selbstkonzeption dermaßen unverträglich sind, dass er zu ihnen einfach nicht fähig ist; Dinge, gegen die sich ›alles in einem sträubt‹, die man unter keinen Umständen zu tun bereit ist, die man nur um den Preis der Selbstaufgabe fertig brächte. 134 Ein treffendes Beispiel für eine ethisch-existenzielle Notwendigkeit – und die korrespondierende Unfähigkeit – ist die Standpünktlichkeit Martin Luthers, der tut, was er tun muss, und deshalb dasteht, und nicht anders kann. 135 Vgl. dazu und zum Folgenden die Williams-Darstellung im 3. Kapitel. Vgl. Williams, »Practical Necessity«: 129 ff. Vgl. ders., »Moral incapacity«. 134 Auf solche Fälle passen Korsgaards dramatische Beschreibungen einer ›praktischen Identität‹. Es handelt sich bei diesen ethischen Notwendigkeiten bzw. Unfähigkeiten aber nur um solche, die sich aus einer Unterart praktischer Identitäten ergeben. 135 Vgl. dazu die Williams-Darstellung und die Darstellung Harry Frankfurts im 3. Kapitel. – Indem ich Luthers Ausspruch: ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders‹, unter den ›ethischen‹ Unbedingtheiten ansiedle, behandele ich ihn als Expression einer ethischexistenziellen Notwendigkeit. Mag sein, dass er ihn moralisch gemeint hat. Aber solch ein Satz ist in dem Sinne nicht moralspezifisch, dass so auch eine Person reden kann, die kein moralisches Selbstverständnis besitzt oder die damit einer ihrer anderen Identitä132 133

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Existenzielle Notwendigkeiten bei Frankfurt, Rorty und Williams

3. Unbedingte ästhetische Forderungen lassen bestimmte künstlerische Handlungen als notwendig erscheinen, damit gewissen ästhetischen Prinzipien, oder Standards künstlerischer Vollkommenheit, Genüge getan ist. Wo es einem Maler zuletzt um die Einlösung eines ästhetischen Ideals geht, das Bestandteil seines ›künstlerischen Selbstverständnisses‹ ist: da gehorcht er einer unbedingten ästhetisch-existenziellen Forderung. Solche Forderungen, und zwar nicht nur musikalische, können ›Notwendigkeiten der Komposition‹ zum Ausdruck bringen. Diese dringen ggf. auf Stimmigkeit, also darauf, dass ein bestimmter oder ein jeder Aspekt eines Werkes in dessen Gesamtkonzeption passt. Bisweilen verlangen ›kompositorische Notwendigkeiten‹ den konsequenten Einsatz gewisser strukturbildender Elemente. Man denke dabei an die Leitmotivik in etlichen Erzählwerken Thomas Manns – selten so penetrant eingesetzt wie im »Tonio Kröger« –, die er der Kompositionsweise Richard Wagners abgelauscht haben will. Das Wiederauftreten eines ›blonden Hans‹, oder das wiederholte ›lässige Türschletzen‹ einer heißen Katze, in einer auf ›sieben‹ Jahre ausgedehnten Novelle, wird diesem ›raunenden Beschwörer des Imperfekts‹ gewiss als eine unbedingte artistische Notwendigkeit vorgekommen sein.

6.7 Existenzielle Notwendigkeiten bei Frankfurt, Rorty und Williams Aufgrund des zuletzt Entwickelten bin ich nun in der Lage, die konstruktiven Anstöße wieder aufzunehmen und zu würdigen, die Harry Frankfurt, Richard Rorty und Bernard Williams für eine Konzeption ten Ausdruck geben will. – Ein weiteres Beispiel für ein ethisches Selbstverständnis hat Marlene Dietrich gegeben. Frau Dietrich war, in ihrer Teil(zeit)identität als Künstlerin Fröhlich, ›von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, ja das war ihre Welt, und sonst gar nichts‹. Die Verhaltensnotwendigkeiten (»ich kann halt lieben nur«) und die Folgen (»Männer umschwärm’n mich wie Motten um das Licht, wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nichts«), die sich aus der praktischen Identität einer ›feschen Lola‹ ergeben, schreibt sie auf das Konto ihrer ›ethischen Unfähigkeiten‹ und plädiert deshalb für sich auf ›unschuldig‹ : »I can’t help it!« Frau Dietrich führt damit auch gleich eine naheliegende Missbrauchsmöglichkeit dieser Art existenzieller Notwendigkeiten vor, nämlich als Generalexkulpation. Vgl. zum letzteren Punkt, mithin zur Frage der Verantwortlichkeit für praktisch notwendige Handlungen: Williams, »Practical Necessity«: 130. A

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›existenzieller Erfordernisse‹ gegeben haben. 136 Alle drei Philosophen haben ›unbedingte‹ nicht-moralische Forderungen beschrieben und sich für deren Existenzrecht eingesetzt. Damit haben sie zugleich gegen ein Unbedingtheitsmonopol ›moralischer‹ Vorschriften protestiert. Frankfurt und Williams wollten unter den unbedingten Notwendigkeiten auch moralische zulassen. Rorty hat, zunächst 137 , moralischen Forderungen einen unbedingten Charakter abgestritten. Frankfurt hat gut daran getan, unbedingten nicht-moralischen Handlungsvorschriften ein weites Operationsfeld einzuräumen. Er hat gut daran getan, falls meine Überlegungen zugunsten der Annahme nicht-moralischer Unbedingtheiten triftig gewesen sind. Dann gebührt ihm das Verdienst, gezeigt zu haben, »dass moralische Verpflichtungen [im Sinne ›unbedingter‹ moralischer Notwendigkeiten] nur von ziemlich begrenzter Bedeutung sind«. 138 Seine Notwendigkeiten des Willens drücken in dem Sinne ›unbedingte‹ Erfordernisse aus, dass sie sich aus dem (ein oder anderen) Selbstverständnis einer Person ergeben. Die Standpünktlichkeit Luthers, wie sie in dem bekannten Diktum zum Ausdruck kam, war für Frankfurt ein Beispiel für eine solche ›volitionale Notwendigkeit‹. Ich habe stattdessen von ›existenziellen‹ Notwendigkeiten gesprochen, und in Fällen wie dem von Luther präzisierend von ›ethischen‹. Auch Frankfurts ›Notwendigkeiten der Liebe‹ lassen sich problemlos als ›unbedingte‹ Erforderlichkeiten auffassen, gemäß der von mir gegebenen Unbedingtheitserklärung. Leider hat Frankfurt seine unbedingten Notwendigkeiten des ›Willens‹ den unbedingten ›moralischen‹ Notwendigkeiten gegenübergestellt. Wie sich bei meinen Überlegungen zeigte, kann man aber auch unbedingte Moralgebote durchaus als ›Forderungen des Willens‹, nämlich eines moralischen Willens, auffassen. Moralische Erfordernisse sind ein Fall von ›existenziellen‹ Notwendigkeiten, die sich aus einem ›moralischen‹ Selbstverständnis der am moralischen ›Spiel‹ Beteiligten ergeben. Daran, dass Frankfurt in Opposition zueinander bringt, was meines Erachtens unter ein gemeinsames Dach gehört, ist seine ganz 136 Vgl. die Darstellung der Auffassungen von Frankfurt, Rorty und Williams im 3. Kapitel meiner Untersuchung. 137 Vgl. Rortys revidierte Auffassung in: »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«. 138 Vgl. Frankfurt, ›Autonomy‹ : 140 – Einf. HK.

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und gar kantische Konzeption moralischer Forderungen schuld. Er spricht, um diese zu charakterisieren, von den »unbedingten«, »unpersönlichen, apriorischen Erfordernissen der Pflicht«. 139 Dabei versteht er die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung im Sinne der ›Bedingungsanalyse‹ des Unbedingten, die ich im 5. Kapitel dargestellt und kritisiert habe. Mithin gilt ihm eine Forderung als ›unbedingt‹, wenn sie unabhängig von optionalen Willensbedingungen ist, deren Entfallen auch die betreffende Forderung hinfällig machen würde. Eine volitionale Abhängigkeit ›moralischer‹ Direktiven, etwa von dem Vorhandensein eines ›moralischen Selbstverständnisses‹ auf Seiten der Forderungsadressaten, hat er nicht in Betracht gezogen. Durch eine solche Abhängigkeit hätte er wohl den Pflichtcharakter des Moralischen in Gefahr gesehen. Formulieren moralische Vorschriften doch – für den orthodoxen Kantianer, der Frankfurt in diesem Punkt ist – allemal Verpflichtungen mit einem apriorischen Vernunftcharakter. Eine Ausstattung, an die bei Frankfurts ›volitionalen Notwendigkeiten‹ nicht zu denken ist. Anders als Frankfurt konnte ich den Begriff existenzieller Forderungen, inklusive unbedingter Moralgebote, so entfalten, dass deren Unbedingtheitscharakter durch ihre ›Abhängigkeit‹ von einem moralischen oder nicht-moralischen Selbstverständnis ermöglicht wird. Was schließlich den für Frankfurt selbstverständlichen Pflicht-Charakter moralischer Erfordernisse angeht, habe ich mich von Williams eines Besseren belehren lassen. 140 Auch Rorty gebührt das Verdienst, eine Sorte nicht-moralischer Handlungsdirektiven als ›unbedingte‹ plausibel gemacht zu haben. Er ließ diese aus dem »Sinn eines Menschen für seine Selbst-Identität« 141 hervorgehen und illustrierte sie an freudianischen Beispielen. Neuerdings beschreibt Rorty solche Unbedingtheiten mit Hilfe von Korsgaards Begriff einer ›praktischen Identität‹ und nennt sie »existenzielle Notwendigkeiten«: Köhl hat Recht […], dass ich der Unbedingtheit, wenn sie sozusagen relativiert wird auf Personen oder Gemeinschaften oder auf beides, unter der Überschrift seiner ›existenziellen Notwendigkeiten‹ einen Platz einräumen kann. 142 139 140 141 142

Vgl. Frankfurt, a. a. O.: 136, 130. Vgl. im gegenwärtigen Kapitel den Abschnitt 6.1. Vgl. Rorty, ›Contingency‹ : 37. Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«: 459. A

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Das klingt so, als sei dem Verfasser von Contingency, Irony, and Solidarity gar nicht voll bewusst gewesen, dass er darin bereits von ›nicht-moralischen Unbedingtheiten‹ geredet hat. Allein von unbedingten Moralgeboten wollte Rorty seinerzeit nichts wissen. In seiner Replik auf die Kritik, die ich in »Moral und Klugheit« 143 an ihm geübt habe, räumt er nun auch die Möglichkeit unbedingter Moralgebote ein: Wenn eine existentielle Forderung als eine definiert wird, deren Verletzung den Verlust […] der eigenen praktischen Identität zur Folge hat, dann ist das Beste, was wir tun können, dass wir ästhetische und moralische Forderungen als zwei Arten auffassen, die zur Gattung des ›Existentiellen‹ gehören. 144

In Contingency, Irony, and Solidarity hatte Rorty einen Vorschlag gemacht 145 , entlehnt von Hegel via Sellars, dass die Unterscheidung von Moral und Klugheit parallel zu der Unterscheidung zwischen den Interessen des ›Wir‹ einer Gemeinschaft und unseren individuellen, privaten Interessen zu betrachten ist. 146

Die Moral wäre demnach, mit Sellars zu reden, eine Angelegenheit von ›Wir-Intentionen‹. 147 Nun ergänzt Rorty diese Auffassung, indem er sie mit Korsgaards Begriff einer ›praktischen Identität‹ verbindet: Versucht man zu isolieren, was die Moral auszeichnet, dann ist das Wichtige an ›Wir-Intentionen‹ nicht nur, dass sie mit anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden, sondern dass unsere Mitgliedschaft in jener besonderen Gemeinschaft wesentlich ist für unsere praktische Identität. 148

Dieser Beschreibung entspricht der Begriff einer ›moralischen Gemeinschaft‹, deren Mitglieder auf der Basis eines gemeinsamen und auf die Gemeinschaft bezogenen Selbstverständnisses gemeinsame ›soziale‹ Interessen verfolgen. Die moralischen Forderungen, die die Mitglieder jener Gemeinschaft aneinander richten, bringen dieses 143 Vgl. Köhl, »Moral und Klugheit. Rortys Kritik an einer kantischen Unterscheidung«. 144 Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«: 461 – Hervorh. HK. 145 Vgl. die Rorty-Darstellung im 3. Kapitel. 146 Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«: 462. 147 Vgl. ders., ›Contingency‹ : 59, 190. Vgl. Sellars, Science and Metaphysics, Kapitel 6 und 7. 148 Vgl. Rorty, »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit«: a. a. O.

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Selbstverständnis zum Ausdruck und müssen damit übereinstimmen. Sie sind also ›existenzielle Erfordernisse‹. Rortys Neubestimmung der Moral ist also in Übereinstimmung mit seiner neuen Auffassung, dass Moralvorschriften ›existenzielle Notwendigkeiten‹ ausdrücken. Nun sind aber ›existenzielle Moralgebote‹ unbedingte Forderungen. Weshalb sich die Frage stellt, ob Rorty, für den früher alle Moralvorschriften hypothetische Imperative gewesen waren, in seiner neuen Konzeption noch Platz für hypothetische Moralgebote hat. Auch Williams vertritt eine ›existenzialistische‹ Auffassung unbedingter Forderungen. Dazu gelangt er, indem er die ›Unbedingtheit‹ bestimmter Forderungen darauf zurückführt, dass in ihnen ›wesentliche Wünsche‹, also voluntative Grundorientierungen eines Menschen zum Ausdruck kommen. Solche Wünsche sieht er im Selbstverständnis oder Charakter einer Person beheimatet. Wo eine Person ein moralisches Selbstverständnis besitzt, sind die sich daraus ergebenden existenziellen Forderungen moralische. Aus weiteren Selbstverständnissen, die eine Person haben mag, resultieren nichtmoralische Arten von ›existenziellen Notwendigkeiten‹. Soweit die vorweggenommene Essenz von Williams‹ Überlegungen, die ich nun etwas detaillierter betrachten will. Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass Williams – unter den Teilnehmern an der von mir inszenierten Unbedingtheits-Debatte – neben Kant und Frankfurt der Einzige ist, der den Ort des ›Unbedingten‹ in der Sprache der Moral ›richtig‹ identifiziert hat: nämlich als eine Modifikation praktischer Notwendigkeit: »Wir haben es hier […] mit einem ›Müssen‹ zu tun, das unbedingt ist und immer durchschlägt« (188 149 ). Williams unterscheidet davon ein relatives Müssen, bei dem sich die Handlungsnotwendigkeit aus einer zweckrationalen Beziehung des als erforderlich Betrachteten zu einem kontingenten Ziel ergibt: »einem Ziel, das selber in keiner Weise ein ›Muss‹ darstellt« (a. a. O.). Diese Explikation ›hypothetischer‹ Forderungen durch Ziele, die ein Forderungsadressat haben kann, aber in 149 Die in den Williams-Teil dieses Kapitel-Abschnitts eingefügten Ziffern beziehen sich auf dessen ›Ethics‹. – Williams charakterisiert dieses ›Müssen‹ als eines »that is unconditional and goes all the way down« (a. a. O.). Statt ›goes all the way down‹ zu übersetzen mit: ›das […] immer durchschlägt‹, könnte man auch sagen, dass jenes absolute Müssen ›seine Kraft immerzu entfaltet‹ – im Gegensatz zu einem »relativen Müssen« (a. a. O.), dessen Kraftentfaltung von optionalen Bedingungen abhängt.

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keiner Weise zu haben braucht, lässt die Idee aufkommen, ein ›unbedingtes‹ Handlungserfordernis nicht als die gänzliche Unabhängigkeit von Zwecken aufzufassen, sondern als Ausdruck einer ›ausgezeichneten‹ Zwecksetzung. Letztere beschreibt Williams als ein ›Begehren‹ (»desire«: 189), das selber in dem Sinne als ›notwendig‹ anzusehen ist, »dass es dem Handelnden nicht bloß passieren kann, dass er es hat« (189 150 ), dass es ihm vielmehr »wesentlich ist und deshalb befriedigt werden muss« (a. a. O. – Herv. HK). Es ist die ›Essenzialität‹ eines solchen Begehrens, welche dieses als Bezugspunkt einer ›unbedingten‹ Forderung geeignet sein lässt. Die Heimat solcher essenzieller Begehren ist das Bewusstsein eines Menschen, »dass er jemand ist« (a. a. O. 151 ), dem bestimmte Dinge besonders am Herzen liegen. Die Kehrseite von solchen, in der Persönlichkeit 152 eines Menschen verankerten ›Engagements‹ sind Dinge, die ein Mensch, aufgrund seines Charakters, ›absolut‹ nicht tun kann: »charakterliche Unfähigkeiten«. ›Essenzielle‹ Begehren begründen, m. a. W., essenzielle Notwendigkeiten. So hätte Williams sie nennen können, ich habe von ›existenziellen‹ Notwendigkeiten gesprochen. Die Handlungsnotwendigkeiten, die von existenziellen Forderungen zum Ausdruck gebracht werden, können deshalb unbedingt genannt werden, weil bestimmte basale ›Willensvorgaben‹ einen kaum disponiblen Rahmen für das ganze Handeln einer Person darstellen. Durch diesen ›existenziellen‹ Hintergrund haben solche Forderungen ein besonderes Gewicht; ein größeres Gewicht, als sie allein aufgrund dessen haben könnten, dass das von ihnen verlangte Handeln aus einer praktischen Abwägung als die siegreiche Option hervorgegangen sein mag. Die letztere Überlegung bildet Williams’ Antwort auf die von ihm selber aufgeworfene Frage, »wie eine Schlussfolgerung, mit der wir zum Ausdruck bringen, was wir tun müssen bzw. nicht tun können, sich von einer Schlussfolgerung unterscheidet, mit der wir nur zum Ausdruck bringen, was zu tun wir allen Grund haben; und ins(Nicht-) Hervorh. von ›passieren‹ : HK. Die Formulierung »dass er jemand ist« (189) verwendet Williams, um das Bewusstsein jenes ›moralischen Helden‹ zu beschreiben, den ich im Abschnitt (6.1.) an einem Lebensretter exemplifiziert habe. 152 Praktische Notwendigkeiten können bisweilen »äußerst persönlich« sein. Vgl. Williams, »Practical Necessity«: 131, Fn. 5. Williams zitiert dort den sophokleischen Ajax mit dessen Worten vor seinem Selbstmord: »Denn ich enteile sonder Frist, wohin ich muss« (Übersetzung von K. W. F. Solger, 1808). 150 151

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besondere, wieso die erstere Schlussfolgerung stärker sein kann als die letztere, wie es zu sein scheint« (188). Die Antwort liegt seines Erachtens darin, dass das eigene Selbstverständnis einem manchmal ›keine andere Wahl‹ lässt, als so zu handeln, wie man folglich handeln muss. Man ist es sich, in solchen Fällen, einfach schuldig, das zu tun, was aufgrund einer konstitutiven Willensdisposition von einem verlangt ist. Wer so etwas sagt – zu sich oder anderen gegenüber –, der sagt damit offenkundig etwas anderes als dies, dass er das tue, wofür das Meiste spricht. Es geht dabei um mehr, oder um etwas anderes, als lediglich um das größere argumentative Gewicht der zu wählenden Handlungsalternative. 153 Der Weg, auf dem Williams zu seiner Konzeption ›unbedingter‹ Forderungen gelangt ist, kann als problematisch erscheinen. Denn er erkennt bei Kant nur dessen ›negative‹ Charakterisierung ›unbedingter‹ Notwendigkeiten. Demnach wäre etwas »in dem Sinne unbedingt, dass es überhaupt nicht von einem Begehren abhinge« (198 – Hervorh. HK). Was Williams bei Kant nicht erkennt, ist dessen ›positive‹ Unbedingtheitserklärung: durch nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe mit moralischen Standards. Deshalb geht er direkt auf den metaphysischen Hintergrund der kantischen Unbedingtheitskonzeption zu und erblickt dort das »Bild eines rationalen Selbst, frei von Kausalität« (189). Williams scheint also Kants unbedingten Forderungen denselben ›irrelationalen‹ Unbedingtheitsbegriff zuzuschreiben wie der Rorty des ›Contingency‹-Buchs. Es ist die Folie dieses fragwürdigen Kant-Verständnisses, auf der Williams sein eigenes, existenzialistisches Unbedingtheitskonzept entwickelt hat. Der ggf. falsche Weg, auf dem jemand zu einer Einsicht kommt, ist aber nicht das Wichtigste. Die Hauptsache ist doch wohl, ob es sich dabei tatsächlich um eine Einsicht handelt. Die unbedingtheitstiftende Kraft eines personalen Selbstverständnisses, die Williams (wie Frankfurt und Rorty) zu erkennen meint, scheint mir eine veritable Einsicht zu sein. Diese Auffassung, wonach sich der ›unbedingte‹ Charakter mancher Forderungen daraus ergibt, dass in ihnen die wesentlichen Willensausrichtungen eines Menschen zum Ausdruck kommen, führt auch bei Williams zwanglos zu der Annahme, dass es nicht nur unbedingte moralische Handlungsnotwendigkeiten gibt. Denn 153

Vgl. ders., a. a. O.: 126 f. A

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die wesentlichen Begehren eines Menschen, deren Inbegriff ein praktisches Selbstverständnis ist, müssen nicht allein oder sie müssen überhaupt nicht moralische sein. In diesem Sinne kommt auch Williams zu der Überzeugung, dass die Vorstellung einer ›unbedingten praktischen Notwendigkeit‹ in keiner Weise moralspezifisch ist. Jemand mag schlussfolgern, dass er oder sie etwas Bestimmtes unbedingt tun muss, sei dies nun aus Klugheitsgründen, aus Gründen des Selbstschutzes, aus ästhetischen oder künstlerischen Rücksichten, oder um der schieren Selbstbehauptung willen. […] Der fundamentale Punkt besteht darin, dass eine Schlussfolgerung, die eine praktische Notwendigkeit ausdrückt, eine Schlussfolgerung von derselben Art ist, ob sie sich nun auf ethische 154 Gründe stützt oder nicht. (188 – Hervorh. HK.)

Williams sieht also Kant damit im Unrecht, dass »er die[se] unbedingte praktische Notwendigkeit so konstruiert hat, als sei sie der Moral eigentümlich« (189). Dies ist sie nicht. Denn es gibt noch andere als moralische Forderungen, die in strukturell demselben Sinne unbedingte, ›existenzielle‹ Handlungsvorschriften sind. Mit der Annahme nicht-moralischer existenzieller Forderungen hält Williams ein weiteres, mächtiges Argument gegen den kantischen Pflicht-Begriff bereit. Ich habe schon mehrfach in diesem Kapitel gegen diesen Begriff argumentiert. Bereits im Abschnitt (6.1) hat sich gezeigt, dass das Bestehen einer ›Verpflichtung‹ nicht allemal eine praktisch-moralische Notwendigkeit bedeutet. Also besagt sie schon gar nicht in jedem Fall eine ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ : als welche Kant eine ›Pflicht‹ definiert hatte. Anhand gewisser moralischer Heldentaten ließ sich (ebenfalls in 6.1) demonstrieren, dass diese zwar als Fälle einer ›unbedingten moralischen Notwendigkeit‹ zu beschreiben sind, gleichwohl aber keinen ›Pflicht‹-Charakter besitzen. Die im vorigen Kapitelabschnitt eingeführten existenziellen Notwendigkeiten liefern ein weiteres Argument gegen den Begriff einer ›Pflicht‹, die als ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹ gefasst wird: Unbedingte praktische Notwendigkeiten formulieren deshalb nicht immer Verpflichtungen, weil sie gar nicht immer moralische Notwendigkeiten zum Ausdruck bringen.

154 Williams spricht hier wiederum in dem Sinne von ›ethischen‹ Gründen, in dem ich von ›moralischen‹ Gründen, ›moralischen‹ Forderungen usw. gesprochen habe; denn er möchte den Ausdruck ›moralisch‹ für die Charakterisierung seines kantianischen Gegners reservieren.

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Unbedingte Moralgebote, moral. Selbstverständnis, moral. Selbstgefälligkeit

6.8 Unbedingte Moralgebote, moralisches Selbstverständnis, moralische Selbstgefälligkeit Die Auffassung unbedingter Handlungsvorschriften als ›existenzielle‹ Forderungen wirft für unbedingte Moralgebote ein Problem auf: jedenfalls ›unter einer bestimmten Beschreibung‹ dieser Auffassung. Meine Unbedingtheitsanalyse für jegliche existenzielle Forderungen hat auf ein ›Selbstverständnis‹ der am Forderungsgeschehen Beteiligten Bezug genommen. War doch die Unbedingtheit einer Handlungsvorschrift durch die subjektiv letzten Befürwortungsgründe für das jeweils Geforderte expliziert worden, die auf der Ebene eines personalen Selbstverständnisses angesiedelt waren. Ein solches Selbstverständnis sollte in den letzten Handlungsgründen eines Menschen ›zum Ausdruck kommen‹ 155 . Dies ist aus der Perspektive eines solchen Selbstverständnisses gesprochen – und unproblematisch. Das angedeutete Problem für die Auffassung existenzieller Moralgebote kann entstehen, wenn man das Verhältnis zwischen einem Selbstverständnis und den letzten Handlungsgründen, in denen es zum Ausdruck kommt, aus der Perspektive jener Gründe beschreibt. Dann liegt die Ansicht nahe, dass diese Gründe sich auf jenes Selbstverständnis beziehen, und zwar derart, dass sie die Übereinstimmung geforderter Handlungen mit dem Selbstverständnis einer Person konstatieren. Ein personales Selbstverständnis würde nach dieser Vorstellung einen ›obersten Standard‹ darstellen; die nicht-funktionalen Gründe der Übereinstimmung mit diesem Standard würden eine Erklärung für den unbedingten Charakter der begründeten Forderungen liefern. Diese Vorstellung, die bei nicht-moralischen existenziellen Forderungen unproblematisch zu sein scheint 156 , kann bei unbedingten Moralgeboten als problematisch erscheinen. Denn durch die Bezug155 Auch Williams hatte sich dieser Redeweise bedient. Genau genommen besteht dieses ›Ausdrucksverhältnis‹ aber bei Williams und bei mir zwischen Verschiedenem. Bei ihm ist es eine ›unbedingte praktische Notwendigkeit‹, in der ein im Selbstverständnis einer Person angesiedeltes ›wesentliches Begehren‹ seinen Ausdruck findet (vgl. 6.7.). Ich hingegen sage von den letzten Handlungsgründen einer Person, dass sich in ihnen ein personales Selbstverständnis ausdrückt. 156 Warum sollte man nicht sagen können, dass jemandes letzter Grund, ›unbedingt‹ üben zu müssen, während alle Welt den Sonntag genießt, darin bestehen mag, dass er es sich angesichts seiner Ambitionen, mithin seines Selbstverständnisses als Musiker, schuldig zu sein glaubt, täglich zu üben?

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nahme von jemandes letzten Handlungsgründen auf sein ›moralisches Selbst‹ scheint der moralische Charakter einer so begründeten Forderung (und der geforderten Handlung) gefährdet zu sein. – Günther Patzig hat ein damit verwandtes Bedenken gegen bestimmte Auffassungen zur Frage der moralischen Motivation vorgetragen: »Eine […] Reflexion auf das ›Selbstbild‹ [›dass ich gern ein anständiger Mensch sein möchte‹] zum moralischen Hauptmotiv zu machen«, erscheint Patzig als »allzu narzistisch«. 157 ›Narzistisches‹ und ›moralisch‹ motiviertes Verhalten scheinen aber einander auszuschließen. Geht es doch in Standardfällen moralischen Verhaltens zuletzt um den Anderen, dem wir Rücksichtnahme oder Hilfe schuldig zu sein glauben, und nicht um »das liebe Selbst« 158 , und sei dies noch so sehr moralisch eingefärbt. Kurz: ›Moralisches‹ Verhalten ist altruistisch und nicht selbstbezogen, selbstzentriert, selbstverliebt, selbstsüchtig, ›selbstisch‹. 159 Folgt man dieser Argumentation, dann ist ein moralisches Selbstverständnis eine dubiose moralische Motivationsquelle. – Einwände à la Patzig sorgen auch in der Utilitarismus-Debatte, unter dem Titel einer ›moralischen Selbstgefälligkeit‹ mancher, angeblich moralisch motivierter Akteure, für Beunruhigung. 160 Ein solcher Narzismus-Einwand in punkto ›moralischer Motivation‹ lässt sich analog gegen eine Explikation des unbedingten Charakters einer Moralvorschrift vorbringen, die ein moralisches Selbstverständnis zum Bezugspunkt jener nicht-funktionalen Übereinstimmungsgründe macht, welche die Unbedingtheit einer solchen Forderung ermöglichen. Der Einwand besagt dann, dass eine Forderung, die zuletzt damit begründet wird, dass die geforderte Handlung mit dem moralischen Selbstverständnis von Forderungsautor oder -adressat übereinstimmt, keine moralische Forderung ist. Bei einer voluntativen Letztorientierung am eigenen moralischen Selbstbild ist nicht ›unbedingt‹ der unbedingte Charakter einer HandlungsvorVgl. Patzig, »Moralische Motivation«: 50 – Hervorh. und Einf. HK. Vgl. Kant, GMS: 407. 159 Patzig hat seinen Narzismus-Vorwurf (a. a. O.) gegen Ursula Wolfs Problem des moralischen Sollens erhoben. In Göttinger Lehrkörperkolloquien durfte sich aber auch der Verf. als Ziel dieses Einwandes erleben, der Patzig u. a. gegen einen späten Abschnitt von Kants Gesinnungsethik angebracht zu sein schien (vgl. dort, im 4. Kapitel, den Abschnitt ›Selbstachtung als Quelle moralischer Motivation‹ : 147 ff.). Mit dem gegenwärtigen Kapitel-Abschnitt mache ich u. a. den Versuch, Patzig eine seit langem ausstehende Antwort zu geben. 160 Vgl. Williams, »Utilitarianism and moral self-indulgence«. 157 158

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schrift gefährdet 161 : wohl aber ihr moralischer. Wenn es sich dabei um eine ›unbedingte‹ Forderung handelt, dann um eine existenzielle Forderung von der nicht-moralischen Art. So weit die kritische Vorhaltung. Dieser Einwand zwingt mich zu einer Präzisierung der Art und Weise, in der eine Analyse der ›Unbedingtheit‹ einer Moralvorschrift sich auf ein moralisches Selbstverständnis beziehen darf – und wie nicht. Man kann dem Vorwurf einer ›moralisch unverträglichen Selbstbezogenheit‹, gegen meine Unbedingtheitsanalyse vorgebracht, folgendermaßen begegnen: Erstens kann man abstreiten, dass sich die letzten Gründe, mit denen ich den unbedingten Charakter einer moralischen Forderung expliziert habe, überhaupt auf ein moralisches Selbstverständnis beziehen, und dagegenhalten, dass sie dieses lediglich ›zum Ausdruck bringen‹. Wo es so aussieht, als bezögen sich diese Gründe auf ein moralisches Selbstbild, beziehen sie sich in Wirklichkeit auf etwas anderes. Worauf sie sich beziehen, ergibt sich daraus, was es genau genommen heißt, ein ›moralisches Selbstverständnis‹ zu besitzen. Es bedeutet, dass jemand (von ihm) für moralkonform erachtete Handlungen zuletzt deshalb ausführt, weil sie (seines Erachtens) bestimmte moralische Eigenschaften haben: weil sie gerecht, rücksichtsvoll oder hilfreich usw. sind. Wo demnach die Übereinstimmung mit seinem moralischen Selbstbild jemandes letzter Handlungsgrund zu sein scheint, da handelt er in Wirklichkeit um der angenommenen moralischen ›Qualität‹ seines Handelns willen. Die begründende Bezugnahme auf unser moralisches ›Selbst‹ bedeutet eine Letztorientierung unserer Handlungsgründe am Wohl oder an den Zwecksetzungen anderer. Eine solche Bezugnahme ist also mitnichten eigenliebig oder selbstgefällig. Eine zweite Replik kommt auf einem Umweg zum selben Ergebnis. Der Umweg besteht darin, dass die Rede von praktischen ›Standards‹ wieder aufgenommen wird, die ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels eingeführt habe. Solche Standards (Prinzipien, Ideale, 161 Auch der ›unbedingte‹ Forderungscharakter ist dann in Frage gestellt, wenn der Forderungsadressat einen weiteren Grund dafür hat, dass er seinem Selbstbild entsprechend handeln will. Dabei kann es sich durchaus um den (scheinbar) ›moralischen‹ und etwas verqueren Grund handeln, durch ein dem eigenen moralischen Selbstverständnis entsprechendes Handeln jener »Zufriedenheit« teilhaftig zu werden, die ein solches Handeln zur Folge hat. Ich komme am Ende des gegenwärtigen Kapitel-Abschnitts auf diesen Fall zurück.

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Wertvorstellungen usw.) waren, meiner Unbedingtheitsanalyse zufolge, die Bezugspunkte jener nicht-moralischen Übereinstimmungsgründe für eine geforderte Handlung, welche die Unbedingtheit existenzieller (moralischer oder nicht-moralischer) Forderungen ermöglichen sollten. Meine ›Schutzbehauptung‹ gegen den Vorwurf der ›moralischen Selbstgefälligkeit‹ lautet jetzt, dass sich die letzten Gründe für eine moralisch geforderte Handlung auf moralische Standards beziehen – und nicht auf ein moralisches ›Selbstverständnis‹. Wobei diese Standards in einem solchen Selbstverständnis ›beheimatet‹ sein mögen. In dieser Weise aufgenommen, ist jener Einwand eine Anregung, sich das Verhältnis eines moralischen ›Selbstverständnisses‹ zu moralischen ›Standards‹ klar zu machen. Eben habe ich formuliert, dass moralische Standards in einem moralischen Selbstverständnis beheimat sein mögen. Was heißt es, sie dort anzusiedeln? Es bedeutet zunächst einmal, dass die Rede von einem ›moralischen Selbstverständnis‹ ein begriffliches ›Dach‹ für die moralischen Standards einer Person ist: etwas, das ihre moralischen Prinzipien, Ideale usw. überwölbt und ›zusammenfasst‹. Dieses Dach hängt, für sich genommen, in der Luft. Die Rede von einem (moralischen) ›Selbstverständnis‹ ist als solche wenig gehaltvoll – und vermag deshalb auch nicht, wie eingangs in diesem Kapitelabschnitts angenommen, als ein ›oberster Standard‹ zu fungieren. Wenn jemand nur weiß, dass er ein moralischer Mensch sein will, dann weiß er nur sehr unbestimmt, wie er handeln soll. Ein solches Selbstverständnis bedarf also der Konkretisierung: durch bestimmte Standards. Ein moralisches Selbstverständnis zu haben und ihm gemäß zu handeln, kann deshalb nur bedeuten, dass man seine Handlungen zuletzt wegen ihrer Übereinstimmung mit moralischen Standards ausführen will. 162 Diese moralischen Standards nun wiederum – moralische Prinzipien, Ideale, Wertvorstellungen usw. – schreiben Handlungen vor (oder legen sie wertend nahe), die für gewöhnlich auf das Wohl und Wehe oder auf die Rechte Anderer bezogen sind und mitnichten auf das Wohlgefallen an sich selber. So ist am Ende die unbedingtheitstiftende Übereinstimmung einer geforderten Handlung mit einem moralischen Standard die Übereinstimmung bestimmter moralischer Eigenschaften der geforderten Handlung mit jenen Hand162 Die voranstehende Analyse gilt auch für das Verhältnis eines nicht-moralischen Selbstverständnisses zu nicht-moralischen Standards.

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lungseigenschaften, die von einem solchen Standard ausgezeichnet werden. Und wiederum ist nicht zu sehen, warum eine so begründete Forderung, und die dadurch begründete Handlung, als ›selbstgefällig‹ betrachtet werden sollte; und wieso man Grund haben sollte, ihren moralischen (vs. nicht-moralischen) Charakter anzuzweifeln. – Wenn die Bezugnahme auf ein moralisches Selbstverständnis zur Begründung einer moralisch-unbedingten Forderung also allemal bedeutet, dass der letzte Grund für eine geforderte Handlung sich auf deren moralische Eigenschaften bezieht: wie hat man sich dann eine Bezugnahme auf ein moralisches ›Selbst‹ zu denken, die den Vorwurf der ›moralischen Selbstgefälligkeit‹ rechtfertigt? Wie sind moralisch ›selbstgefällige‹ Handlungen und Forderungen zu beschreiben? Wenn die erklärte Absicht, in Übereinstimmung mit seinem moralischen Selbstverständnis handeln zu wollen, generell bedeutet, dass man eine (geforderte) Handlung um ihrer moralischen Eigenschaften willen zu tun gedenkt, dann muss dies auch für den speziellen Fall selbstgerechten Handelns gelten. Die spezifische Differenz besteht in folgendem: Während bei einer ›einwandfrei‹ moralischen Forderung diese moralischen Eigenschaften der ›letzte Bezugspunkt‹ des Forderungsautors oder -adressaten sind, hat ein Selbstgefälliger diese Eigenschaften nur als zweitletzten Bezugspunkt seiner Handlungsgründe im Auge. Es kommt also für die Unterscheidung einer moralisch signifikanten und unbedenklichen von einer selbstgefälligen Bezugnahme auf ein moralisches Selbst auf die letzten Bezugspunkte der jeweils letzten Gründe für das Geforderte an. Worauf beziehen sich die letzten Handlungsgründe eines Selbstgefälligen zuletzt? Er hat dafür, Handlungen um ihrer Übereinstimmung mit seinem vermeinten moralischen Selbstbild willen – sprich: um der moralischen Eigenschaften einer (geforderten) Handlung willen – zu tun, einen weiteren Grund. Dieser (Hinter-) Grund besteht darin, dass er sich darin gefallen will, jemand zu sein, der sich moralisch versteht und deshalb moralisch qualifizierte Handlungen ausführt. 163 Er möchte, in letzter Instanz, in den Genuss 163 Der Selbstgefällige wendet sich quasi, nachdem er sich auf die moralischen Eigenschaften seines Handelns bezogen und sich damit dem Wohl und Wehe anderer Menschen zugewandt hat, auf sich selbst zurück. In diesem Sinne spricht Williams von einem »reflexiven Interesse«, das ein Selbstgefälliger an sich selber nimmt, wo er auf Andere oder Anderes bezogen sein sollte. Vgl. ders., »Utilitarianism and moral self-indulgence«: 45. – Meine Analyse moralischer Selbstgefälligkeit ist durchgängig mit der

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seiner selbst als eines moralischen Menschen kommen, mithin sich im Glanze einer moralischen Gesinnung sonnen. Der Selbstgefällige instrumentalisiert ein sich angemaßtes moralisches Selbstverständnis zu selbstischen Zwecken. Die zuletzt hervorgehobene Formulierung wirft die Frage auf, und beantwortet sie zugleich, ob der ›moralisch‹ Selbstgefällige überhaupt ein moralisches Selbstverständnis besitzt. Wenn ein Selbstverständnis auf der Ebene der letzten Handlungsgründe einer Person angesiedelt wird und ein moralisches Selbstverständnis darin besteht, dass man (geforderte) Handlungen zuletzt um ihrer moralischen Eigenschaften willen ausführt: dann hat ein Selbstgefälliger kein moralisch qualifiziertes Selbstverständnis. Forderungen (an sich und an andere), mit denen man auf ein moralisch orientiertes Handeln deshalb abzielt, weil man sich darauf etwas einbilden und etwas damit hermachen zu können glaubt, sind zwar nicht unbedingt unmoralisch, aber sie sind nicht-moralische Forderungen. Insofern die letzten Gründe für ein gefordertes Handeln darauf gerichtet sind, eine moralische Orientierung zu instrumentalisieren, handelt es sich bei den betreffenden Forderungen auch nicht um ›unbedingte‹, sondern um nicht-moralische hypothetische Gebote: um Imperative einer falsch verstandenen Klugheit, die sich selbst zerstört. 164 Denn dasjenige, in dessen Genuss man durch ein solches Handeln kommen möchte – die eigene Moralität – wird dadurch torpediert. So gesehen kann es ›moralische Selbstgefälligkeit‹ gar nicht geben. Selbstgefälliges Moralisch-sein-wollen hat durch diesen selbstdestruktiven Zug eine Analogie zu der Absicht, auf direktem Wege ›moralische Zufriedenheit‹ zu erlangen. Tatsächlich verschafft uns ein Handeln in Übereinstimmung mit unserem moralischen Selbstverständnis eine ›Befriedigung der besonderen Art‹. Diese Befriedigung stellt sich aber nur infolge dessen ein, dass wir zunächst eine für moralkonform gehaltene Handlung ausgeführt haben, und zwar zuvon Williams durchgeführten vereinbar. Vgl. ders., a. a. O., vor allem: 44–48. Die Unterschiede beider Analysen rühren daher, dass ich, anders als Williams, das Phänomen moralischer Selbstgefälligkeit im Kontext einer Analyse des ›unbedingten‹ Forderungscharakters thematisiert habe. Daher kommt es auch, dass ich das Phänomen in Termini letzter Handlungsgründe und des letzten Bezugspunktes solcher Gründe analysiere, und Williams nicht. 164 Kant hätte die ›moralische‹ Motivation eines Selbstgefälligen sicherlich unter das »Prinzip der Glückseligkeit« subsumiert. Vgl. ders., GMS: 442. Er hätte Selbstgefällige in jedem Fall als Menschen betrachtet, die »alles doch auf Verlangen nach eigener Glückseligkeit aussetzen«. Vgl. ders., KprV: 38.

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Resümee

letzt wegen ihrer moralischen Qualität. 165 Da sie diese Voraussetzung hat, kann man diese Zufriedenheit nicht direkt anstreben. Sie ist ›ihrem Wesen nach‹ eine Nebenwirkung: eine ›wesentliche Nebenfolge‹. 166 Wer diese Befriedigung dennoch direkt zu erreichen versucht, wird ihrer nicht teilhaftig. Die Zufriedenheit, die jemandem bei einer direkten Intention auf seine moralische Zufriedenheit im Erfolgsfalle zuteil werden kann, ist keine ›moralische‹. Sein Trachten birgt dieselbe Art von Selbstzerstörungstendenz in sich wie die Motivation des ›moralisch‹ Selbstgefälligen. Ein solches Bestreben vereitelt das Erreichen des damit Erstrebten: nicht anders als bei einem Liebenden, der Gegenliebe erzwingen will. – Versteht man das Aussein auf eine moralische Befriedigung, nach getaner moralischer Arbeit, als ein Trachten nach Zufriedenheit mit sich selbst, dann ist dieses moralische Strebertum sogar eins mit der so genannten ›moralischen‹ Selbstgefälligkeit.

6.9 Resümee: Die Heterogenität moralischer Forderungen und der Abschied vom Unbedingten Der unbedingte Charakter einer Forderung ist keine moralspezifische Auszeichnung. Die Unbedingtheit einer moralischen Forderung spezifiziert also nicht ›das Moralische‹ an ihr. Was immer moralischen Geboten eigentümlich sein mag: es ist dies nicht ein ›unbedingter‹ Forderungscharakter. Denn es gibt ›existenzielle‹ Handlungsvorschriften, die in strukturell demselben Sinne ›unbedingt‹ sind wie manche Moralgebote – aber moralisch belanglos. Das ist das Hauptergebnis dieses 6. Kapitels meiner Untersuchung. Immerhin aber gibt es Handlungsvorschriften, die sich in einem plausiblen Sinn als ›unbedingte‹ beschreiben lassen: moralische – und andere. Für die Explikation dieses Unbedingtheitsbegriff konnte ich mich auf Kant stützen: auf seinen Versuch, den kategorischen Charakter eines Imperativs in Termini von Handlungsgründen zu erläutern. Den im 5. Kapitel gewonnen Begriff einer kantischen Unbe165 »Nun muß man doch […] das Ansehen des moralischen Gesetzes und den unmittelbaren Wert, den die Befolgung desselben der Person in ihren eigenen Augen gibt, vorher schätzen, um jene Zufriedenheit in dem Bewußtsein seiner Angemessenheit zu derselben […] zu fühlen.« Vgl. Kant, KprV: 38 – Hervorh. HK. 166 Vgl. zum Konzept ›wesentlicher Nebenfolgen‹ Jon Elster, »States That Are Essentially By-Products«, sowie Avishai Margalit, Politik der Würde: 19 f.

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dingtheit habe ich im jetzigen Kapitel mehrfach modifiziert. Denn seine Unbedingtheitserklärung ist nur haltbar, wenn man sie von ihrer Prinzipienfixierung befreit, sie ent-moralisiert und sie in einen holistischen Rahmen stellt. Nachdem der Charakter unbedingter Moralgebote durchsichtig gemacht worden ist, kann man die Vertreter einer Moral ›hypothetischer‹ Imperative in die Schranken weisen. Mit dem Monopolanspruch, den sie für hypothetisch-bedingte Moralgebote erheben, übertreiben sie gewaltig. Gleichwohl gibt es solche ›bedingten‹ Moralvorschriften. Wer verlangt, eine Handlung zuletzt wegen ihrer Dienlichkeit zum Erreichen eines für moralisch erachteten Zweckes auszuführen, stellt damit eine moralische (vs. nicht-moralische) Forderung auf. Dies war das Hauptresultat meines 4. Kapitels. Die Unterscheidung von unbedingten und bedingten Vorschriften ist demnach nicht geeignet, den Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen zu explizieren. Deshalb reichen, wenn wir Forderungsarten sortieren wollen, die beiden Kästen nicht, in denen Kant moralisch-unbedingte im Unterschied zu nichtmoralisch-hypothetischen Handlungsgeboten abgelegt hat. Wir benötigen stattdessen vier Kästchen. Unter den moralischen Geboten sind die hypothetisch-bedingten von den kategorisch-unbedingten zu trennen; bei den nicht-moralischen sind die hypothetisch-bedingten Imperative ›profaner‹ Zweckverfolgung von solchen existenziellunbedingten Vorschriften zu unterscheiden, die moralisch indifferent sind. Die Einordnung in diese vier Kästchen erfolgt gemäß der Unterscheidung von Handlungsgründen: von vier Arten von Gründen für das jeweils Geforderte. Nicht-funktionale Übereinstimmungsgründe mit moralischen bzw. nicht-moralischen Standards charakterisieren moralische bzw. andere existenzielle Erfordernisse. Zweckmäßigkeitsgründe zugunsten moralischer bzw. nicht-moralischer Zielsetzungen charakterisieren hypothetische Moralgebote bzw. nicht-moralische ›Klugheits‹-Gebote. Diese Sicht der Dinge bedeutet eine m. E. erfreuliche De-Dramatisierung der Unterscheidung von ›Moral‹ und ›Klugheit‹ (Rorty), zwischen moralischen und nicht-moralischen Handlungsvorschriften. Wir können diese Unterscheidung zwar nicht, wie Kant gemeint hat, durch die Distinktion von ›kategorischen‹ und ›hypothetischen‹ Imperativen, oder von ›unbedingten‹ und ›bedingten‹ Geboten, erklären. Und wir können dies auch nicht allein dadurch bewerkstelligen, 334

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dass wir zwischen nicht-funktionalen Übereinstimmungsgründen (einerseits) und funktionalen Gründen (andererseits) unterscheiden. Aber wir müssen die Unterscheidung von Moral und Klugheit deshalb nicht auf den Müllhaufen der Philosophiegeschichte werfen: wie es Rorty bisweilen vorgeschwebt hat. Den Unterschied zwischen Moral und Klugheit kann man erklären, indem man verschiedene Arten moralischer wie auch nicht-moralischer Forderungen voneinander unterscheidet – und sie durch die verschiedenartigen Gründe für das jeweils Geforderte charakterisiert. Durch dieses Untersuchungsergebnis kann man auf eine gemeinsame Prämisse aufmerksam werden, die von den Vertretern der gegensätzlichen Konzeptualisierungen moralischer Forderungen stillschweigend gemacht, mithin für selbstverständlich erachtet wird. Diese Prämisse wird also sowohl von Kant(ianern) wie von den Vertretern einer Moral hypothetischer Imperative geteilt. Es handelt sich dabei um eine Homogenitätsannahme, der zufolge alle moralischen Forderungen einen gemeinsamen Charakter besitzen (müssen), mithin eine einheitliche Klasse bilden. Ausbuchstabiert in Termini der Unterscheidung zwischen kategorisch-unbedingten und hypothetisch-bedingten Handlungsvorschriften, besagt diese Homogenitätsprämisse: dass alle moralischen Forderungen entweder hypothetisch oder kategorisch, entweder bedingt oder unbedingt sind. Wie wir gesehen haben, ist diese Auffassung falsch. Einige Moralgebote sind unbedingt, und andere bedingt. Was sich gezeigt hat, ist die Heterogenität moralischer Forderungen. Der Abschied vom Unbedingten, den ich auf den letzten Seiten dieses Buches ›feiern‹ möchte, ist zunächst einmal ein Abschiednehmen von der Vorstellung, wir hätten mit der ›Unbedingtheit‹ ein Kriterium für den moralischen Charakter einer Forderung an der Hand. Diese Vorstellung hat ihre Schuldigkeit getan – und sich als Illusion erwiesen. Die Moral ist nicht das Königreich des Unbedingten, sie hat auch Anteil an der Sphäre des Bedingten. Zum Einzugsbereich des Unbedingten gehören überdies Dinge, die jenseits von Gut und Böse als ›unbedingt‹ erforderlich erscheinen. Nach dem Abgang des Unbedingten von der Hauptbühne der Moralphilosophie steht auch der Ausdruck ›unbedingt‹ zur Disposition. Zwar ist dem Begriff einer ›unbedingten‹ Forderung im Laufe meiner Untersuchung ein plausibler Sinn zugewachsen – so hoffe ich wenigstens. Die Rhetorik des ›Unbedingten‹ hat sich aber als wenig A

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nützlich erwiesen, den damit anvisierten Charakterzug mancher Handlungsgebote zu spezifizieren. Vielmehr hat sich der Ausdruck ›unbedingt‹ als relativ uninformativ und als irreführend erwiesen. Deshalb ist es ein Glück, dass er überdies überflüssig ist. So jedenfalls werde ich im Rest dieses Kapitels argumentieren. (i) Uninformativ ist der Ausdruck ›unbedingt‹, angewandt auf die Erforderlichkeit einer Handlung, aus mindestens drei Gründen. Erstens ist damit nichts darüber ausgesagt, von welcher Art die Bedingungen sind, von denen das als ›unbedingt‹ Qualifizierte unabhängig sein soll. Schlimmer noch. Durch den Ausdruck ›unbedingt‹ wird der irrige Eindruck einer Unabhängigkeit von jeglichen Bedingungen erweckt. Zweitens ist der Ausdruck ›unbedingt‹, als Bezeichnung einer bestimmten Forderungsqualität, deshalb relativ uninformativ, weil er die Unbedingtheits-Explikation, wie sie in diesem Buche steht, nicht zusammenfasst. Die ›Unbedingtheit‹ einer Forderung habe ich durch Gründe erklärt, welche die nicht-funktionale Übereinstimmung des Geforderten mit einem praktischen Standard feststellen. Liest man den vorigen Satz von rechts, wird man kaum glauben können, dass der Ausdruck ›unbedingt‹ eine plausible und pointierte Abkürzung für die darin gegebene Unbedingtheitserklärung ist. Drittens muss die Rede von der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung es zunächst einmal als rätselhaft erscheinen lassen, was jemanden dazu motivieren könnte, etwas als ›unbedingt‹ erforderlich Hingestelltes auszuführen. (Vgl. im 2. Kapitel den Abschnitt 2.2.2.) (ii) Der Ausdruck ›unbedingt‹, zur Charakterisierung von Handlungsvorschriften benutzt, ist nicht nur uninformativ, sondern irreführend. Man kann dadurch auf gleich mehrere Irrwege geschickt werden. Erstens verleitet das Wörtchen ›unbedingt‹ (wie vorhin bereits angedeutet) zu der Auffassung, es sei das als ›unbedingt‹ Qualifizierte unabhängig von allen Bedingungen. M. a. W. suggeriert die Rede von ›unbedingten‹ Forderungen die Triftigkeit einer ›Bedingungsanalyse des Unbedingten‹. Einer solchen Analyse zufolge verlangte eine bedingte Vorschrift eine Handlung nur unter einer Bedingung, die erfüllt oder nicht erfüllt sein kann. Wohingegen eine un-bedingte, dem Anschein nach ›nicht-bedingte‹ Vorschrift ›bedingungslos‹ erginge und zu befolgen wäre. Von diesem ersten Irrweg ist es nicht weit zu einem zweiten. Die Vorstellung, es sei etwas unbedingt Erforderliches unabhängig von allem und jedem, suggeriert die Irrelationalität des ›unbedingt‹ Erfor336

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derlichen. Der Eindruck der Irrelationalität eines als erforderlich Hingestellten motiviert in der Folge einen (unnötigen) Metaphysikverdacht à la Rorty gegen die Akzeptabilität ›unbedingter‹ Handlungsvorschriften. Wie wir im 5. Kapitel dieser Untersuchung gesehen haben, sind sog. ›unbedingte‹ Forderungen aber nur in dem Sinne un-bedingt, dass sie unabhängig von funktionalen Gründen für das damit Geforderte auszuführen sind. Sie können in manch anderer Hinsicht ›bedingt‹ sein, ohne dass der gemeinte ›unbedingte‹ Forderungscharakter tangiert würde. Allein die Erforderlichkeit der gebotenen Handlungen ist bei einer so genannten ›unbedingten‹ Forderung unbedingt, und zwar unabhängig von Zweckmäßigkeitsgründen. Drittens erschwert die Rede von ›unbedingten Forderungen‹ die Allokation des Ausdrucks ›unbedingt‹ und führt dadurch auf Abwege. Nicht Forderungen selber sind genau genommen ›unbedingt‹ (oder ›bedingt‹). Es ist die Notwendigkeit, mit der eine geforderte Handlung auszuführen ist, die als ›unbedingt‹ oder bloß ›bedingt‹ qualifiziert werden kann. ›Unbedingt‹ oder ›bedingt‹ ist auch nicht die geforderte Handlung. 167 Das gegenteilige Verständnis (ver-) führt 167 Diese Lesart des ›Unbedingten‹ habe ich Rorty in meinem Aufsatz »Moral und Klugheit« angekreidet. – Rorty hat meine bereits dort vertretene These, wonach die Unbedingtheit einer Forderung genau genommen die praktische Notwendigkeit der geforderten Handlung modifiziert, kräftig missverstanden. In seiner Erwiderung auf meinen Aufsatz schreibt er: »Köhls Unterscheidung zwischen der Unbedingtheit einer Handlung und derjenigen einer Forderung ist sehr hilfreich. Aber ich denke nicht, dass man Kant mit Hilfe der zweiten Unbedingtheit geben kann, was er haben möchte. Denn die Unbedingtheit einer Forderung besagt soviel wie, dass sich der Spaten des Fordernden zurückbiegt. Dies ist eine empirische Angelegenheit, eine Frage dessen, wann jemandem die Argumentsmittel ausgehen. […] diese Unfähigkeit, weiter zu argumentieren, lässt sich für Kants Absichten nicht dienstbar machen.« Vgl. ders., »Existenzielle Notwendigkeit und kantische Unbedingtheit. Eine Erwiderung auf Harald Köhl«: 459. Die Unterscheidung, die ich in meinem Aufsatz betont habe und in der vorliegenden Schrift wiederum herausgestrichen habe, ist nicht (wie Rorty meint) die zwischen der ›Unbedingtheit einer Handlung‹ und der ›Unbedingtheit einer Forderung‹. Vielmehr schiebe ich diese beiden Lesarten des ›Unbedingten‹ beiseite zugunsten der Auffassung, dass es die Notwendigkeit, das Tunmüssen einer geforderten Handlung ist, die von Kant (sinnvollerweise und in Übereinstimmung mit einem vertrauten Sprachgebrauch) als ›unbedingt‹ (oder nur ›bedingt‹) qualifiziert wird. Deshalb trifft mich Rortys Lob, ich hätte eine »hilfreiche« Unterscheidung zwischen der ›Unbedingtheit einer Handlung‹ und der ›Unbedingtheit einer Forderung‹ getroffen, nur peripher. Wofür sollte jene Unterscheidung denn hilfreich sein, möchte man in Rortys pragmatistischer Manier zurückfragen. Ich weiß es nicht, und er sagt es nicht. Problematisch ist auch Rortys eigene Lesart der ›Unbedingtheit einer Forderung‹, für

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leicht zu einer unnötigen und deplatzierten metaphysischen Situierung des praktisch Unbedingten. Es provoziert Missverständnisse und dadurch unnötige anti-metaphysische Kraftaufwendungen, wie Rortys Beispiel zeigt. Der Begriff des ›Unbedingten‹ ist eine mächtige und gefährliche philosophische »Intuitionenpumpe« 168 , eine reichhaltige Quelle metaphysischer Versuchungen, auch in der Ethik. Vielleicht können wir solchen Versuchungen besser widerstehen, wenn wir das Wörtchen ›unbedingt‹ aus unserem (moral)philosophischen Vokabular streichen. (iii) Insofern die ›Unbedingtheits‹-Charakteristik einer Handlungsvorschrift uninformativ und irreführend ist, können wir von Glück sagen, dass sie überflüssig zu sein scheint. Ein sprachlicher Ausdruck ist dann überflüssig, wenn man ganz gut ohne ihn auskommt; und er ist besonders überflüssig, wenn man ohne ihn besser zu Rande kommt mit der Aufgabe, einen als schwierig erscheinenden Sachverhalt zu artikulieren. Wir können alles, was wir über bestimmte Arten moralischer oder nicht-moralischer Forderungen sagen wollen, ohne den Ausdruck ›unbedingt‹ zur Sprache bringen – und triftiger und weniger irreführend als mit ihm. Wenn ein Handlungsgebot durch ›nicht-funktionale Gründe der Übereinstimmung des Gebotenen mit einem (moralischen oder nicht-moralischen) Standard‹ spezifiziert wird, dann ist dies eine präzise (und hoffentlich plausible) Beschreibung jenes Charakterzuges gewisser Forderungen, den manche Philosophen mit dem Wörtlein ›unbedingt‹ zu treffen hofften. Eine triftige Abkürzung dieser Beschreibung durch ein einziges Wort steht uns wohl nicht zu Gebote. Man mag wünschen, es würde so ein Wort geben. Nötig aber ist es nicht. Jedenfalls muss die er auf den ›Autor der Spatenmetapher‹ rekurriert. Ein Pragmatist wie der gemeinte Wittgenstein hätte Rorty sicherlich darauf hingewiesen, dass es sich (erst recht angesichts der vielfältigen Verwendungsweise des Ausdrucks ›unbedingt‹) bei Rortys ›Behauptung‹ höchstens um einen Vorschlag zur Situierung des ›Unbedingten‹ handeln könne. Ein sprachlicher Ausdruck hat, Wittgenstein zufolge, die Bedeutung, die wir ihm dadurch geben, dass wir ihm einen Gebrauch in der Sprache verschaffen. Der Ausdruck ›unbedingt‹ hat es besonders nötig, dass wir seine Verwendung präzise bestimmen, indem wir ihn plausibel in den Sprachgebrauch einführen. Natürlich kann man auch Forderungen selber ›unbedingt‹ nennen: wenn man dieser Redeweise eine Funktion in der Sprache gibt. Rortys ›Vorschlag‹ ist eine Möglichkeit, wie sich von ›unbedingten Forderungen‹ sprechen lässt. Ich favorisiere, wie im 5. Kapitel erläutert, eine andere. Demnach wäre die Rede von einer ›unbedingten Forderung‹ eine Abkürzung für eine Forderung, derzufolge ihre Adressaten etwas ›unbedingt tun müssen‹. 168 Vgl. Daniel Dennett, Elbow Room: 12, u. ö.

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man die bislang so genannten ›unbedingten‹ Forderungen nicht unbedingt ›unbedingte‹ nennen. Ohne das Wörtchen ›unbedingt‹ werden wir natürlich auch nicht mehr zwischen unbedingten und bedingten Forderungen unterscheiden. Da man diese Unterscheidung durch unterschiedliche Handlungsgründe erläutern konnte, werden wir unterschiedliche Forderungen jetzt direkt durch die jeweils charakteristischen Befürwortungs- bzw. Ausführungsgründe für die geforderten Handlungen spezifizieren. And now the end is near. Den Abschied von meinem ›Abschied‹ begehe ich am liebsten mit Wittgenstein. Von ihm haben wir gelernt, sprachliche Ausdrücke als Werkzeuge zu betrachten. Sie sollen eine Funktion erfüllen. Zumal wer ›problematische‹ Ausdrücke benutzt, muss sich deshalb fragen lassen, ob sie die ihnen zugedachte Funktion tatsächlich und ob sie sie gut erfüllen; ob sie nützlich oder eher schädlich sind für das Erreichen der Zwecke, für die sie eingesetzt werden. Das gilt verschärft für Philosophen und für die üblichen Verdächtigen unter den zentralen philosophischen Wörtern. Die Rede von der ›Unbedingtheit‹ einer Forderung hat sich bei dem Versuch, bestimmte – vornehmlich moralische – Handlungsvorschriften auszuzeichnen, nicht bewährt. Weshalb wir dieses Werkzeug aus dem Verkehr ziehen sollten. Unbedingt.

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In dieser Liste ist nur die wissenschaftliche Literatur verzeichnet, auf die im Buchtext Bezug genommen wird. Es unterbleiben also Angaben zu Texten der schönen Literatur, die im Buch bisweilen zitiert wird. In diesem Literaturverzeichnis ist ›ZfphF‹ die Abkürzung für die Zeitschrift für philosophische Forschung, das Kürzel ›DZPhil‹ steht für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie.

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Harald Köhl

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A

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Literatur –, Making sense of humanity and other philosophical papers 1982–1993, Cambridge 1995. –, »Moral incapacity«, in: ders., Making sense of humanity. –, »Internal reasons and the obscurity of blame«, in: ders., Making sense of humanity. Williams, M., Unnatural Doubts: Epistemological Realism and the Basis of Scepticism, Oxford 1991. Winch, P., »Wer ist mein Nächster?«, in: ders., Versuchen zu verstehen, Frankfurt/M. 1987. Wingert, L., Gemeinsinn und Moral, Frankfurt 1993. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984. Wolf, S., »Above and Below the Line of Duty«, in: Philosophical Topics XIV (1986). Wolf, U., Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984. –, »Zur Struktur der Frage nach dem guten Leben«, in: Steinfath, H. (Hrsg.), Was ist ein gutes Leben?, Frankfurt/M. 1998. Wolff, R. P., The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals, New York 1973. Wood, A. W., Kant’s Ethical Thought, Cambridge (Mass.) 1999. Wright, G. H. v., The Varieties of Goodness, London 1963.

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Personenregister 1

Adorno, Th. W. 85 Allen, W. 79 Allison, H. E. 199 Anscombe, G. E. M. 26, 39, 47, 113, 117– 119, 117, 120, 153, 155, 157, 158, 179, 187 f., 188 Austin, J. L. 71 Baier, A., 139 Beck, L. W. 196, 289 Birnbacher, D. 22 f., 23 Bittner, R. 194, 205 f., 207 f., 211–213, 218 f., 225 Blum, L. A. 90, 125 Böhme, G. 70 Büchmann, G. 182 Carnap, R. 301 Cechov, A. 100, 100 Cramer, K. 196, 205 f., 242 Darwall, S. 39 Davidson, D. 35, 35, 197, 232, 288, 288 Dennett, D. 69, 338 Derrida, J. 41, 45, 48 Dewey, J. 137, 137 Dietrich, M. 316, 319 Durkheim, E. 16, 20, 32, 39, 42, 43, 49, 67, 129 Dworkin, R. 101 Elster, J. 333

Fontane, Th. 99 Foot, Ph. 26, 38, 39, 49, 98, 113, 117, 119–127, 119–127, 129, 131, 132, 136, 153 f., 156, 161, 173–180, 174 f., 184– 191, 184 f., 188 f., 193, 253 Frankena, W. 120 Frankfurt, H. G. 26, 28, 83, 101, 101, 113, 138, 141–146, 141–146, 150, 153 f., 233 f., 257, 264, 318, 319–321, 319– 321, 323, 325 Frege, G. 31 Freud, S., 19, 138, 139f. Frisch, M. 78 Gadamer, H.-G. 99 Gibbard, A. 39 Gilligan, C. Goethe, J. W. 70, 211 Gosepath, S. 204 Grimm, Gebr. 36 Habermas, J. 19, 20, 39, 42–45, 43, 48, 50, 59, 63, 67, 77 f., 77 f., 83, 85, 85 f., 88– 90, 88–90, 92 f., 92 f., 96, 96, 100, 100, 110, 139, 192, 204, 305–307, 305–307, 310, 310 Hanson, N. R. 69 Hare, R. M. 70, 265 Hegel, G. W. F. 34, 90, 322 Heidegger, M. 105 Henrich, D. 241, 291 f. Hill, Th. 196, 224 f., 226 Hobbes, Th. 182

Kursiv gesetzte Ziffern beziehen sich auf den Fußnoten-Text der betreffenden Seite. – In diesem Register fehlen Seitenangaben zu Kant. Bei einem Allgegenwärtigen sind Ortsnachweise witzlos.

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Personenregister Homer 147, 265 Honneth, A. 34, 90 Horkheimer, M. 85 Hume, D. 154

235, 257, 260, 261, 272 f., 272, 275, 275, 278–280, 279f., 281, 285–287, 285 f., 288, 288, 291, 296, 297, 304f., 315, 316 f., 319–323, 321–323, 325, 334, 337 f., 337 f.

Kafka, F. 51 Kästner, E. 16, 16 Kenny, A. 215 Köhl, H. 54, 60, 72, 83, 84, 100, 104, 113, 133, 151, 228, 231, 233f., 236, 243, 257, 285, 315f., 321, 322, 328, 337f. Kohlberg, L. 37, 90 Korsgaard, Ch. 226f., 228, 291, 314f., 218 Krebs, A. 95 Kripke, S. 108, 145, 145 Larmore, Ch. 256 Locke, J. 161 Lohmann, G. 294 Luther, M. 142, 145, 318, 318 MacIntyre, A. 46, 118, 157 Mackie, J. L. 211 Mann, Th. 319 McDowell, J. 185 f. Mill, J. S. 130 Mosso, L. 299 Murdoch, I. 125 Nietzsche, F. 116 Nunner-Winkler, G. 36 Paton, H. J. 201 Patzig, G. 76f., 82, 102, 194–198, 200, 205f., 208, 218, 225, 228f., 256, 328, 328 Pogge, Th. 236 Quine, W. V. O. 69, 273, 299 Railton, P. 39 Rawls, J. 219 f., 273, 273, 275 f., 275, 276, 296 f., 296 Ricken, F. 195, 196, 203, 204, 209, 214f., 219, 242 Rorty, R. 14, 26, 28, 43, 53, 55, 58, 60, 60, 69, 70, 96, 105, 133–141, 133–140, 146, 152, 153 f., 155, 173, 178, 191, 193, 204,

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Scanlon, T. M. 140 Scheffler, S. 74, 97, 100 Schiller, F. 99, 100, 100 Schneewind, J. B. 14, 28, 45, 87, 87, 133, 133, 192, 196, 270, 273–280, 273, 279 f., 281, 281, 296, 301 f., 301 Schönecker, D. 219 Schopenhauer, A. 26, 89, 113–116, 113– 115, 117, 120, 120, 131, 153, 155, 156, 158 f., 158 f., 161 f., 161–163, 164–166, 166, 171, 244 Schroeter, F. 241 Scruton, R. 229 Seel, G. 226, 229 Seel, M. 310 Seidl, C. 79 Sellars, W. 53, 69, 137, 223, 223, 278, 278, 288, 288, 304, 322 Sophokles 147, 265, 324 Strawson, P. F. 50, 66, 66, 130, 206 Taylor, Ch. 77, 100 Thalmann, H.-U. 308 Thomas, Hl. 180 Tugendhat, E. 14, 20, 21, 22, 22, 23, 26, 31, 31, 32, 32, 43, 43, 44, 46, 48 f., 50, 53, 54, 59, 59, 60, 61, 62, 63, 63, 64f., 67, 78, 78, 85, 85, 88, 88, 89, 90, 92, 94, 96, 103, 104, 106, 113, 127–133, 127– 133, 136, 149, 153 f., 155 f., 161, 162, 164, 166, 167–173, 167–169, 174, 193, 234, 239, 249, 256, 260, 261, 262 ff., 262–269, 270, 289f., 292, 295 f., 296– 298, 304 f., 304 f., 307–309 Walker, R. C. S. 98, 103, 104 Wallace, R. J. 50 Warnock, G. J. 86 Wiggins, D. 203, 208 Williams, B. 26, 28, 38, 45, 48, 54, 68, 98, 100 f., 100, 101, 113, 138, 146–153, 146–152, 158, 158, 181, 194, 196, 257,

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https://doi.org/10.5771/9783495997581 .

Personenregister 258, 258 f., 306, 313, 313, 318–320, 319, 323–327, 324–326, 329, 332 Williams, M. 295 Winch, P. 157 f., 157 f. Wingert, L. 50 Wittgenstein, L. 36, 65, 338, 339

Wolf, S. 149, 150 Wolf, U. 47, 48, 104, 117, 132, 156, 328 Wolff, R. P. 195, 206, 207 f., 210 Wood, A. W. 195f., 209, 219, 235 Wright, G. H. v. 46

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